Konjunkturen der (De-)Kolonialisierung: Indigene Gemeinschaften, Hacienda und Staat in den ecuadorianischen Anden von der Kolonialzeit bis heute 9783839433706

In Saquisilí, the cyclic nature of the geopolitics of colonialism in Ecuador is reflected in multiple conflicting forms,

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Konjunkturen der (De-)Kolonialisierung: Indigene Gemeinschaften, Hacienda und Staat in den ecuadorianischen Anden von der Kolonialzeit bis heute
 9783839433706

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Trialektik der Kolonialität: Temporalitäten, Räume, Politiken
Koloniale Matrix der Macht
Konjunkturen der De-Kolonialisierung
Ver-Rückung – Fissuren und Brüche
Geopolitik des Wissens und historische Forschung
Positionen und Ansätze zur Dekolonialisierung des Wissens
Ansätze für die historische Forschung
Auto-ethnographische Texte
Quellen über Andere
Oral History
Das Problem der eigenen Perspektive
Beschreibung der Forschungsregion Saquisilí
I KOLONIALE LANDNAHME UND DIE ENTSTEHUNG DER GEOPOLITIK DER KOLONIALITÄT
Koloniale Landnahme
Prä-koloniale politische Konjunkturen
Politische Konflikte um Kolonialisierung
Visuelle politische Kommunikation
Konsolidierung, Kooptation und Krise des Kazikentums
Politische Instituierung der Geopolitik der Kolonialität
Tribut und Bevölkerungskontrolle
Encomienda
Abschöpfung indigener Arbeitskraft und koloniale Politik der Verortung
Mita
Yanacunaje
Concertaje
Koloniale Dispositive: Obraje und Hacienda
Koloniale Konjunktur der Expansion der Hacienda
Die Hacienda Tilipulo und der Marqués de Miraflores
Genealogie der Hacienda der Jesuiten
Das Majorat des Marqués’ de Maenza
Indigene Kämpfe gegen Kolonialität
Aufstände im andinen Zeitalter der Revolution
Anti-kolonialer Aufstand – San Phelipe 1777
Kaziken an der Schnittstelle
Lohnkämpfe in der Obraje Guaytacama
Konflikte um Arbeit in der Pulverfabrik
Klagen gegen kirchliche Willkür
Gegen die Expansion der Hacienda
Migrantische Fluchtlinien
Expansion von Kolonialität und konfliktive Schnittstellen kolonialer Staatlichkeit
II VON INDIGENER SPRACHLOSIGKEIT IM HACIENDADISPOSITIV ZUR POLITISIERTEN SCHNITTSTELLE POST-KOLONIALER STAATLICHKEIT
Der neo-koloniale Hacienda-Staat
Eine konfliktive Schnittstelle: Haciendas der Zentraluniversität
Die Hacienda-Universität
Schenkung in der Krise
Die Etablierung des Rentier-Modells
Krise des Rentier-Modells
Quasi-souveräne Macht an der Schnittstelle
post-kolonialer Staatlichkeit
Arbeitsverhältnisse und moralische Ordnung
Misshandlungen und Gewalt
Eine sozialistische Konjunktur politischer Dekolonialisierung
Kampf um Arbeitsrechte
Kampf um Land
Direkte Aktion – »La Toma de Guangaje«
Dekolonialisierung und politische Kommunikation zwischen Klasse und Ethnizität
Die Hacienda als Heterotopie
Neue Akteure an der Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit
Agrarreform
Die »vereinzelten« Haciendas
Landkonflikte in den 1990er Jahren
III INDIGENE GEMEINSCHAFTEN UND STAATSFORMATION. RÄUMLICHE PRAKTIKEN UND REPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN MIMESIS UND ALTERITÄT
Indigene Staatsfreunde
Comunas – Zwischen staatlicher Kontrolle und indigener Autonomie
Politische Kommunikation an der Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit
Semantiken von Bildung und Staatsbürgerschaft
Semantiken von Entwicklung
Semantiken des Rechtlichen
Semantiken der Nation
Performanz von Staatlichkeit und die Grenzen der Kolonialisierung des Alltagslebens
Indigene Bewegung: Eine erneuerte Konjunktur der Dekolonialisierung
Diffusion indigener Organisation
Gegen die koloniale Geopolitik: Indigene in der Stadt
Dekolonialisierung der Köpfe: Interkulturelle und bilinguale Bildung
Entwicklung: Vom Paternalismus zum Neo-Indigenismus
Territoriale Mimese
Dekolonialisierung des politischen Feldes
Politische Partizipation: Die politische Bewegung Pachakutik
Indigene Bürgermeister
Politische Macht im Lokalen
Aufstände: Politikum und Konjunktur der Dekolonialisierung
Dekoloniale Zeitenwende: Die indigenen Aufstände von 1990 und 1992
Land und Wasser: Der Aufstand von 1994
Gegen Bucaram: Interethnische Allianzen
An der Macht und gegen die Macht
Dekolonialisierung geopolitischer Imaginarien
Das Ende von Kolonialität oder Kolonialität ohne Ende
Quellen- und Literaturverzeichnis

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Olaf Kaltmeier Konjunkturen der (De-)Kolonialisierung

Postcolonial Studies | Band 25

Olaf Kaltmeier, geb. 1970, ist Professor für Iberoamerikanische Geschichte und Direktor des Center for InterAmerican Studies (CIAS) an der Universität Bielefeld. Er wurde 2009 mit dem »Premio Isabel Tobar Guarderas« für die beste sozialwissenschaftliche Veröffentlichung in Ecuador ausgezeichnet.

Olaf Kaltmeier

Konjunkturen der (De-)Kolonialisierung Indigene Gemeinschaften, Hacienda und Staat in den ecuadorianischen Anden von der Kolonialzeit bis heute

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Olaf Kaltmeier, Saquisilí, 2006 Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3370-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3370-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung | 13 Trialektik der Kolonialität: Temporalitäten, Räume, Politiken | 21

Koloniale Matrix der Macht | 29 Konjunkturen der De-Kolonialisierung | 36 Ver-Rückung – Fissuren und Brüche | 42

Geopolitik des Wissens und historische Forschung | 49

Positionen und Ansätze zur Dekolonialisierung des Wissens | 50 Ansätze für die historische Forschung | 54 Auto-ethnographische Texte | 55 Quellen über Andere | 57 Oral History | 60 Das Problem der eigenen Perspektive | 65 Beschreibung der Forschungsregion Saquisilí | 68

I

KOLONIALE LANDNAHME UND DIE ENTSTEHUNG DER G EOPOLITIK DER K OLONIALITÄT

Koloniale Landnahme | 75

Prä-koloniale politische Konjunkturen | 78 Politische Konflikte um Kolonialisierung | 80 Visuelle politische Kommunikation | 81 Konsolidierung, Kooptation und Krise des Kazikentums | 89 Politische Instituierung der Geopolitik der Kolonialität | 93

Tribut und Bevölkerungskontrolle | 94 Encomienda | 98 Abschöpfung indigener Arbeitskraft und koloniale Politik der Verortung | 99 Mita | 100 Yanacunaje | 103 Concertaje | 103 Koloniale Dispositive: Obraje und Hacienda | 104 Koloniale Konjunktur der Expansion der Hacienda | 107 Die Hacienda Tilipulo und der Marqués de Miraflores | 109 Genealogie der Hacienda der Jesuiten | 111 Das Majorat des Marqués’ de Maenza | 113

Indigene Kämpfe gegen Kolonialität | 117

Aufstände im andinen Zeitalter der Revolution | 118 Anti-kolonialer Aufstand – San Phelipe 1777 | 119 Kaziken an der Schnittstelle | 123 Lohnkämpfe in der Obraje Guaytacama | 124 Konflikte um Arbeit in der Pulverfabrik | 126 Klagen gegen kirchliche Willkür | 127 Gegen die Expansion der Hacienda | 128 Migrantische Fluchtlinien | 129 Expansion von Kolonialität und konfliktive Schnittstellen kolonialer Staatlichkeit | 133

II V ON INDIGENER SPRACHLOSIGKEIT IM HACIENDADISPOSITIV ZUR POLITISIERTEN S CHNITTSTELLE POST - KOLONIALER STAATLICHKEIT Der neo-koloniale Hacienda-Staat | 139 Eine konfliktive Schnittstelle: Haciendas der Zentraluniversität | 149

Die Hacienda-Universität | 159 Schenkung in der Krise | 160 Die Etablierung des Rentier-Modells | 162 Krise des Rentier-Modells | 169 Quasi-souveräne Macht an der Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit | 176 Arbeitsverhältnisse und moralische Ordnung | 181 Misshandlungen und Gewalt | 184

Eine sozialistische Konjunktur politischer Dekolonialisierung | 189

Kampf um Arbeitsrechte | 195 Kampf um Land | 199 Direkte Aktion – »La Toma de Guangaje« | 207

Dekolonialisierung und politische Kommunikation zwischen Klasse und Ethnizität | 213 Die Hacienda als Heterotopie | 221

Neue Akteure an der Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit | 224 Agrarreform | 230 Die »vereinzelten« Haciendas | 236 Landkonflikte in den 1990er Jahren | 238

III I NDIGENE G EMEINSCHAFTEN UND STAATSFORMATION. RÄUMLICHE P RAKTIKEN UND REPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN MIMESIS UND ALTERITÄT Indigene Staatsfreunde | 245

Comunas – Zwischen staatlicher Kontrolle und indigener Autonomie | 251 Politische Kommunikation an der Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit | 255 Semantiken von Bildung und Staatsbürgerschaft | 257 Semantiken von Entwicklung | 258 Semantiken des Rechtlichen | 262 Semantiken der Nation | 268 Performanz von Staatlichkeit und die Grenzen der Kolonialisierung des Alltagslebens | 271 Indigene Bewegung: Eine erneuerte Konjunktur der Dekolonialisierung | 275

Diffusion indigener Organisation | 279 Gegen die koloniale Geopolitik: Indigene in der Stadt | 288 Dekolonialisierung der Köpfe: Interkulturelle und bilinguale Bildung | 290 Entwicklung: Vom Paternalismus zum Neo-Indigenismus | 294 Territoriale Mimese | 297 Dekolonialisierung des politischen Feldes | 303

Politische Partizipation: Die politische Bewegung Pachakutik | 308 Indigene Bürgermeister | 312 Politische Macht im Lokalen | 320 Aufstände: Politikum und Konjunktur der Dekolonialisierung | 325 Dekoloniale Zeitenwende: Die indigenen Aufstände von 1990 und 1992 | 328 Land und Wasser: Der Aufstand von 1994 | 333 Gegen Bucaram: Interethnische Allianzen | 336 An der Macht und gegen die Macht | 337 Dekolonialisierung geopolitischer Imaginarien | 341 Das Ende von Kolonialität oder Kolonialität ohne Ende | 349 Quellen- und Literaturverzeichnis | 365

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Der Kanton Saquisilí in der Provinz Cotopaxi | 70 Das Wappen von Don Sancho Hacho de Velasco | 84 Karte des corregimiento Latacunga in der späten Kolonialzeit | 95 Territorium der Jatarishun | 306 Die Nation in der indigenen Gemeinschaft | 345 Indigener Aufstand | 347 Tributpflichtige Bevölkerung im ecuadorianischen Andenhochland | 94 Tributpflichtige Bevölkerung im corregimiento Latacunga 1591-1717 | 96 Ethnische und soziale Zusammensetzung der Bevölkerung im orregimiento Latacunga, 1778-1784 | 97 Tab. 4: Tributpflichtige Bevölkerung in der Gobernación Quijos, 1559-160 | 130 Tab. 5: Anzahl und Größe der übergebenen Huasipungos der Haciendas Yanaurco, La Provincia und Salamalag Grande | 233 Tab. 6: Comunas im Kanton Saquisilí | 254

Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3:

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AIEC

Asociación de Indígenas Evangélicos de Cotopaxi: Vereinigung evangelischer Indigener von Cotopaxi CC Akten der Comuna CEDHU Comisión Ecuménica de Derechos Humanos: Ökumenische Kommission für Menschenrechte CEDOC Confederación Ecuatoriana de Obreros Católicos: Ecuadorianische Konföderation katholischer Arbeiter CEDOCUT Confedración Ecuatoriana de Organisaciones Clasistas Unitarias de Trabajadores: Ecuadorianische Konföderation vereinter Klassenorganisationen der Arbeiter CEPIS Centro de Educación Popular e Investigación Social: Zentrum für Volksbildung und Sozialforschung CONAICE Confederación de Nacionalidades y Pueblos Indígenas de la Costa Ecuatoriana: Konföderation der indigenen Völker und Nationalitäten der ecuadorianischen Küste CONAIE Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador: Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors CODENPE (auch CONDENPE) Consejo de Desarrollo de las Nacionalidades y Pueblos del Ecuador: Rat zur Entwicklung der Nationalitäten und Völker Ecuadors CONFENIAE Confederación de Nacionalidades Indígenas de la Amazonía Ecuatoriana: Konföderation der indigenen Nationalitäten des ecuadorianischen Amazoniens. CTE Confederación de Trabajadores del Ecuador: Arbeiterkonföderation Ecuadors. DINEIB Dirección Nacional de Educación Intercultural Bilingüe: Nationale Direktion für interkulturelle, bilinguale Bildung DRI Desarrollo Rural Integral: Integrale ländliche Entwicklung DRI-TTP Desarrollo Rural Integral – Toacazo, Tanicuchí- Pastocalle: Integrale ländliche Entwicklung – Toacazo, Tanicuchí- Pastocalle ECUARUNARI Ecuador Runacunapac Riccharumui: Konföderation der Völker der Kichwa-Nationalität Ecuadors FADI Frente Amplio de Izquierda: Breite Linksfront FEI Federación Ecuatoriana de Indios: Ecuadorianische Konföderation der Indios FEINE Federación Ecuatoriana de Indígenas Evangélicos: Ecuadorianische Konföderation evangelischer Indigener

FENOCIN

Federación nacional de organizaciones campesinas, indígenas y negras: Nationale Konföderation von Bauern-, Indigenen-, und Schwarzenorganisationen FEUE Federación de estudiantes universitarios del Ecuador: Föderation der Studierenden Ecuadors GTZ Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (Deutschland) IERAC Instituto Ecuatoriano de Reforma Agraria y Colonización: Ecuadorianisches Institut für Agrarreform und Kolonialisierung INDA Instituto Nacional de Desarrollo Agrario: Nationales Institut für landwirtschaftliche Entwicklung ISI Importsubstituierende Industrialisierung MAS Movimiento al Socialismo: Bewegung zum Sozialismus (Bolivien) MAG Ministerio de Agricultura y Ganadería: Ministerium für Ackerbau und Viehzucht MIC Movimiento Indígena de Cotopaxi: Indigene Bewegung von Cotopaxi MICC Movimiento Indígena y Campesina de Cotopaxi: Indigene und Bauernbewegung von Cotopaxi MIR Movimiento de Izquierda Revolucionaria: Bewegung der revolutionären Linken MPD Movimiento Popular Democrático: Demokratische Volksbewe gung MUPP-NP Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik – Nuevo País: Bewegung der plurinationalen Einheit Pachakutik – Neues Land NGO Nichtregierungsorganisation OSG Organisación de Segundo Grado: Organisation zweiten Grades PACHAKUTIK Siehe: MUPP-NP PCE Partido Comunista del Ecuador: Kommunistische Partei Ecuadors PCMLE Partido Comunista Marxista Leninista del Ecuador: Marxistischleninistische Kommunistische Partei Ecuadors PRODEPINE Proyecto de Desarrollo de los Pueblos Indígenas y Negros del Ecuador: Entwicklungsprojekt für die indigenen und schwarzen Völker Ecuadors PSE Partido Socialista del Ecuador: Sozialistische Partei Ecuadors PSP Partido Socialista Popular: Sozialistische Volkspartei SEIC Sistema de Escuelas Indígenas de Cotopaxi: System indigener Schulen Cotopaxis TLC Tratado de Libre Comercio: Freihandelsabkommen

THOA UC UNOCANC

Taller de Historia Oral Andina: Werkstatt für andine Oral History Universidad Central del Ecuador: Zentraluniversität von Ecuador Unión de Organizaciones Campesinas del Norte de Cotopaxi: Vereinigung der nördlichen Bauernorganisationen von Cotopaxi

Einleitung

Am 28. Mai 1990 besetzte eine Gruppe von rund dreißig indigenen Bauern, darunter zehn aus dem Andenhochland rund um die Kleinstadt Saquisilí, die Kirche Santo Domingo in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito. Mit diesem Politikum wurde die politische Agenda in Ecuador insofern verrückt, als dass die sogenannte ›indigene Frage‹ und die immer stärker von indigenen Bewegungen aufgebrachte Forderung nach einer umfassenden Dekolonialisierung in das Zentrum der politischen Debatte rückten. Diese konjunkturelle Bedeutung indigener Mobilisierungen an der Wende zum 21. Jahrhundert, die die politischen Auseinandersetzungen vor allem in der Andenregion seit nunmehr 25 Jahren prägen, ist Ausdruck eines Grundkonflikts in den Amerikas. Entsprechend verweisen die Mobilisierungen zum Teil explizit auf die bis heute fortdauernde, ungebrochene Bedeutung von Kolonialität, die in der Eroberung und Kolonisation des amerikanischen Kontinents durch westeuropäische – im Andenraum vor allem spanische – Mächte ihren Ursprung hat. Über die hiermit etablierten ökonomischen Dependenz- und Ausbeutungsbeziehungen wurden auch koloniale Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt etabliert und in diesem Zusammenhang der ›Indianer‹ als Sammelkategorie für die unterschiedlichsten indigenen Völker und Nationen durch den Blick des europäischen Kolonisators geschaffen. Diese durch die koloniale Klassifikation geschaffene Gruppe, die in vielen Ländern Lateinamerikas wie auch in Ecuador die Bevölkerungsmehrheit darstellte, wurde aus der politischen Gründung der lateinamerikanischen Gesellschaft ausgeschlossen, was letztlich Legitimationsprobleme nach sich zog, die durch multiple Regierungstechniken und Herrschaftsapparate unter Kontrolle gehalten wurden. Dies galt sowohl für den kolonialen Staat als auch für die nachfolgende postkoloniale Republik. Die auf Kolonialität basierende, weitreichende kulturelle, politische, soziale und ökonomische Exklusion der indigenen Bevölkerung hat in den heutigen Gesellschaften Lateinamerikas ganz konkrete materielle Auswirkungen, so galten 1998 in Ecuador noch fast 90% der indigenen Bevölkerung als arm. Für die einzelnen historischen Epochen und Abschnitte stellen Analysen der Beziehungsgeflechte zwischen Staat, indigenen Gemeinschaften und anderen ge-

14 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG

sellschaftlichen Akteuren in den letzten Jahren ein bevorzugtes Forschungsfeld der lateinamerikanischen Geschichtswissenschaft dar. Besonders in kolonialgeschichtlichen Arbeiten ist seit den 1970er Jahren auch die Handlungsmacht der indigenen Bevölkerung in den Blick gekommen. 1 Dem gegenüber gilt das post-koloniale Ecuador des 19. Jahrhunderts in Hinblick auf die angesprochenen Beziehungen trotz wegweisender Arbeiten noch immer als relativ unerforscht. 2 Gleiches gilt für das beginnende 20.Jahrhundert. Entsprechend bemerkte Xavier Albó: »the first half of the twentieth century shows a deafening silence on the part of scholars, as if nonwhite Ecuador no longer existed« (Albó 1999: 867) So steht beispielsweise noch immer eine vollständige Monographie über die kommunistische Gewerkschaft Federación Ecuatoriana de Indios (FEI) aus, die schon in den 1940er Jahren Klassenkampf und ethnische Anerkennung miteinander verband. 3 Schier unübersichtlich

1 Ecuador sind hier die sozial- und ethnohistorischen Ansätze von Segundo Moreno Für Yañez (1978), Udo Oberem (1977, 1981a, 1981b, 1993), Christiana Borchart (1998), Robson Tyrer (1976) und Oswaldo Albornoz (1971) zu nennen. In den letzten Jahren sind weitere Arbeiten entstanden, die neue Aspekte – wie die demographische Entwicklung (Alchon 1991, Newson 1995), die Dynamik des Kolonialsystems (Andrien 1995), Migration als Widerstandsstrategie (Powers 1995), oder die konkrete Regionen wie Sigchos und allgemein Cotopaxi (Quishpe 1999, Lavallé 2002), Cuenca (Poloni-Simard 2000) oder Cayambe (Ramón 1987) in den Blick nehmen. 2 Für einen Überblick siehe Larson 2004, Maiguashca 1994, Büschges 2008, Mücke 2008 sowie Quintero und Silva (1989). Neue Arbeiten beschäftigen sich politikgeschichtlich mit einzelnen Präsidenten im 19. Jahrhundert, so vor allem der katholisch-konservativen Regierung unter Gabriel García Moreno (Williams 2007 und Henderson 2008). In jüngerer Zeit hat auch die liberale Revolution von 1895 das Forschungsinteresse auf sich gezogen. Mercedes Prieto beschäftigt sich mit der Deutung des Indigenen im liberalen Diskurs (Prieto 2004), während in anderen Arbeiten lokale Aushandlungen zwischen Staat und indigenen Gemeinschaften im Zentrum stehen. (Baud 2008) Als richtungsweisend für das post-koloniale Ecuador gelten hier immer noch die Arbeiten von Andrés Guerrero zum Funktionswandel der Bevölkerungsverwaltung der Indigenen (2003) nach der Unabhängigkeit. Spezieller auf die Aushandlungen um Indigenität gehen – länderübergreifend im Andenraum – vor allem Larson (2004) sowie die drei auf Ecuador bezogenen Beiträge in »Los Andes en la encrucijada« (Bonilla 1991), sowie jüngst die Beiträge in »Poder y Etnicidad en los Andes« (Bustos, Büschges und Kaltmeier 2007) ein. Zur Auseinandersetzung mit der Hacienda in Ecuador sind die sozialgeschichtlichen und poststrukturalistischen Arbeiten von Andrés Guerrero (1984, 1991), Mark Thurner (1993) sowie eine neuere Regionalstudie zu Chimborazo (Lyons 2006) zu nennen. 3 Mit einschlägigen Arbeiten zu diesem Feld ist vor allem der Historiker Marc Becker hervorgetreten (Becker 1998, 2007b, 2008, 2011a), während Valeria Coronel (2011) den

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sind hingegen die Arbeiten zu den neueren indigenen Mobilisierungen seit den 1990er Jahren, die allerdings zumeist Veränderungen im nationalen Raum im Blick haben. 4 Während also Forschungsarbeiten, die mittels synchroner Schnitte spezifische Aspekte von Kolonialität untersuchen, durchaus je nach Epoche mehr oder minder präsent sind, so gibt es kaum Arbeiten, die die historische Tiefendimension und die konjunkturellen Veränderungen erfassen. Deshalb zielt diese Arbeit darauf, die Kontinuität von Kolonialität in Ecuador epochenübergreifend, im historischen Wandel von der Kolonialzeit bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts zu erfassen und dabei bedeutsame Konjunkturen der Kolonialisierung und Dekolonialisierung herauszuarbeiten. Forschungsstrategisch stellt sich hierbei die Frage, wie ein solch breites und komplexes Forschungsfeld für die empirische Arbeit handhabbar gemacht werden kann. Hierzu gehe ich von der von Edward Soja in Anschluss an die Arbeiten von Henri Lefebvre vorgeschlagenen Prämisse der »Trialektik des Seins« aus. Demnach sind es die drei Dimensionen Temporalität, Räumlichkeit und Soziales, die das gesellschaftliche Sein bestimmen. In dem einleitenden Theoriekapitel dieser Arbeit zur »Trialektik der Kolonialität« wird die räumlich-zeitliche Dimension ausgeführt und in Hinblick auf das Politische eingeführt. Dabei wird das von vielen strukturell orientierten Denkern vorgetragene Modell einer »tiefenstrukturellen« Matrix von Kolonialität durch dynamisierende Elemente wie Konjunkturen von Kolonialisierung und Dekolonialisierung sowie die Möglichkeit des Auftretens kontingenter, verrückender Ereignisse komplementiert. Das kritische Potential von Kolonialität wird im Folgenden selbst-reflexiv auf die Wissensproduktion selber angewendet. Der Tatsache, dass jede Produktion von Wissen mit Macht verbunden und in der herrschenden Geopolitik des Wissens verortet ist, kann sich auch diese Arbeit nicht entziehen. Allerdings werden hier Perspektiven einer Dekolonialisierung des Wissens für die geschichtswissenschaftliche Forschung diskutiert, die in den empirischen Kapiteln dieser Arbeit auch eine experimentelle Anwendung findet.

Einfluss subalterner – vor allem indigener Akteure – auf die Staatsformation von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts untersucht hat. Die Hacienda im frühen 20. Jahrhundert wurde vor allem von Trujillo (1986) analysiert, während die Agrarreform in älteren zeitgenössischen Arbeiten diskutiert wurde (Barsky 1984, Guerrero 1984, Crespi 1968). 4 Zu nennen sind Selverston-Scher 2001, Crncic 2012, Wolff 2004, Porras Velasco 2005, Zamosc 2005, Guerrero und Ospina 2003, Bustos, Büschges und Kaltmeier 2007, Ospina, Kaltmeier und Büschges 2009. Kritisch ist die Verbindung von Neoliberalismus und Ethnizität (Ibarra 1987, Kaltmeier 2008, Bane 2011, Bretón 2001a, 2001b) betrachtet worden; aktuell werden Fragen der Plurinationalität, des Buen Vivir und der Dekolonialität debatiert (Santos 2010, Acosta und Martínez 2009a, 2009b, 2010, Walsh 2007, Altmann 2013).

16 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG

Über die theoretische Orientierung hinaus lässt sich die oben angeführte Trialektik auch für die Konzeption von Forschungsprojekten verwenden. Forschungsstrategisch gewendet hieße dies, dass diese drei Dimensionen Stellschrauben darstellen, an denen gedreht werden kann, um bestimmte Dimensionen näher fokussieren zu können. Ausgehend von dieser Überlegung wurde in Hinblick auf die Dimension der Temporalität ein breiter Ausschnitt gewählt, wonach über die punktuellen Ereignisse hinaus Konjunkturen mittlerer Dauer und die Kontinuitäten und Erneuerungen von Kolonialität erfasst werden können. In den Blick kommt damit ein Zeitraum, der sich vom kolonialen Bruch im 16. Jahrhundert und die nachfolgende Etablierung des spanischen Kolonialsystems über die post-kolonialen Republik des 19. Jahrhunderts bis hin zum plurinational definierten Ecuador an der Schwelle zum 21. Jahrhundert erstreckt. Dieser Zeitraum entspringt einerseits dem Forschungsinteresse an Kolonialität und trägt somit dem in den letzten Jahren beobachtbaren erneutem Interesse an »the colonial legacy« in den Amerikas – und allgemeiner – dem »problem of persistence« in der lateinamerikanischen Geschichte Rechnung (Larson 2004, Thurner 1997, Adelman 1999, Thurner und Guerrero 2003). Während diese Fragen in den 1970er Jahren zumeist vor der Folie sozioökonomisch orientierter dependenztheoretischer Ansätze betrachtet wurden (vgl. Stein und Stein 1970 für die Geschichtswissenschaft und Eduardo Galeano (1973) für eine populärwissenschaftliche Bearbeitung), so stehen die neueren Arbeiten ganz im Zeichen des Cultural Turn der lateinamerikanischen Geschichtswissenschaft und greifen Fragen der »political culture« (Jacobsen und Aljovín 2005, Mücke 2008, Irurozqui 2012, Büschges, Kaltmeier und Thies 2011) auf. Dabei gibt es deutliche Anknüpfungspunkte an die lateinamerikanische Variante der Postcolonial Studies wie sie unter anderem von Aníbal Quijano, Walter Mignolo, Enrique Dussel, Fernando Coronil und Arturo Escobar vertreten wird. Andererseits deckt sich das Interesse an Kolonialität aber auch mit dem Zeithorizont der indigenen Bewegung selber, die ihre Kämpfe in einen geschichtlichen Referenzrahmen stellt, der mit der Conquista ihren Anfang nimmt. (CONAIE 1989, Taxo 1993) Die zweite Stellschraube, mittels derer das Forschungsfeld eingegrenzt werden kann, ist der räumliche Fokus. Um das hier anvisierte Projekt einer tiefen diachronen Perspektive durchführen zu können, wurde entsprechend ein enger räumlicher Fokus auf den im Andenhochland gelegenen Kanton Saquisilí gewählt. Damit ist der räumliche Fokus zwar nicht ganz so eng wie der in den mikro-historischen Arbeiten gewählte Zugriff, der sich teilweise auf einzelne Personen oder Haushalte konzentriert. Entsprechend kann eine Region als eine geographisch-räumliche Einheit mittlerer Größe begriffen werden, die sich durch politische, kulturelle, sozioökonomische und naturräumliche Kriterien von anderen umgebenen Räumen abgrenzen lässt. (Diercke 1992: 134, Haggett 1991) Dabei soll die Region jedoch nicht im Sinne absoluter Raumkonzepte als eng umgrenzter und abgeschlossener Container begriffen werden. Vielmehr soll sie als Verflechtungsraum verstanden

E INLEITUNG | 17

werden, der sich sowohl durch intra-regionale Verflechtungen als auch durch regionen übergreifende Verflechtungen auszeichnet. In diesem Sinne hat sich auch die Historikerin Angelika Epple mit ihrem Ansatz einer lokal begründeten und verankerten Globalgeschichte für einen gegenüber der herkömmlichen Regionalgeschichte neu gefassten Betriff der Regionen ausgesprochen, die sie als »Interaktionsräume, die sich durch die Dichte von Verkehr und Migration, Kommunikation und Handel konstituieren.« (2013: 57) begreift. Diese Faktoren erlauben es, von einem »integrierten Raumzusammenhang«, also von einer »begrenzten Identität« zu sprechen. Solche räumlichen Ansätze entziehen sich sowohl der Dichotomie von global/lokal (Epple 2013: 7) als auch der räumlichen Schichtung im Sinne des SpatialScales-Ansatzes. Stattdessen wäre nach den translokalen Verschränkungen zu fragen (Freitag 2005), die im Rahmen dieser Arbeit vor allem an den Schnittstellen politischer Kommunikation analysiert werden. Darüber hinaus wird akteurszentriert beachtet, welche Interaktionshorizonte von den Akteuren adressiert werden. Eine solche Herangehensweise ist – wie die Historikerin Florencia Mallon herausstreicht – zentral, um die vorherrschenden Nationalgeschichten zu korrigieren: »Only by uncovering the elements of alternative nationalisms and popular political practice buried within the remaining »official stories« – at the community, regional, and national levels – can we begin to understand the complex and conflictive processes through which rural folk, and their urban allies and antagonists, perceived and dealt with the painful political, cultural, and social questions surrounding the construction of a nation.« (Mallon 1992: 90)

Doch jenseits dieser ›Korrekturfunktion‹ – die auch von den indischen Subaltern Studies betont wurde – gegenüber der herrschenden Nationalgeschichte, die immer auch eine Geschichte der Herrschenden war, soll hier der Eigensinn des Regionalen betont werden. Denn auch die Vorstellung der Korrektur reproduziert eine geschichtswissenschaftliche Hierarchie nach der die Nationalgeschichte der Regionalund Lokalgeschichte übergeordnet ist. Dem entgegen kann mit Verweis auf die politische Anthropologie von Staatlichkeit aber betont werden, dass diese räumliche Hierarchie gerade vom Staat selber produziert wird. (Ferguson 2007) In diesem Sinne kann durchaus von einem Eigensinn der Region gesprochen werden, der nicht unter die Nationalgeschichte subsumiert werden kann, sondern zu einer Dezentrierung und Dekonstruktion der Imagination eines homogenen Nationalstaates, der dem weberianischen Diktum von einheitlicher Bevölkerung, Territorialität und legitimem Gewaltmonopol des Staates folgen würde. Staatliche Instanzen werden damit zu einem – aber eben nicht zum einzigen – Referenzpunkt in einem komplexen Verflechtungszusammenhang. Kolonialität ist ein vielschichtiges Phänomen, das in alle gesellschaftlichen Felder und Beziehungen hineinreicht. In dieser Arbeit sollen vor allem die politischen Aspekte von Kolonialität herausgearbeitet werden. Im Anschluss an die im Biele-

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felder SFB 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte« angestoßene Neuformulierung der Politikgeschichte stehen nicht primär parteipolitische Aushandlungen im Kontext staatlicher Institutionen – allen voran dem Parlament – im Zentrum des Interesses, sondern eine Vielzahl von Räumen, Diskursen und Praktiken, in denen die Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgehandelt werden. Mit der Ver-Rückung von der nationalen Ebene hegemonialer Geschichtsschreibung hin zur regionalen Ebene ist in dieser Arbeit auch ein Perspektivwechsel auf subalterne Akteure – hier vor allem indigenen Bauern – verbunden. Vor allem die indigene Bewegung der 1990er Jahre hat mit der Forcierung von Plurikulturalität bis hin zur Plurinationalität zu einer Dekolonialisierung der ecuadorianischen Gesellschaft beigetragen. Da Geschichte nicht als feststehender Kanon begriffen werden kann, sondern immer wieder neu aus der Gegenwart angeeignet wird, stellt sich die Frage, wie analog zu diesen Prozessen auch eine Dezentrierung und Dekonstruktion von Eurozentrismus und kreolischer Nation in der Geschichtsschreibung vorangetrieben und damit Geschichte vervielfältigt und demokratisiert werden kann. Denn in der hegemonialen Nationalgeschichte waren die Indigenen als Träger von Geschichte nicht präsent. Entsprechend kann mit Foucault festgehalten werden: »Und dem Postulat, dass die Geschichte der Großen a fortiori die Geschichte der Kleinen wie dass die Geschichte der Starken die Geschichte der Schwachen mitliefert, wird nun ein Prinzip der Heterogenität entgegengesetzt: Die Geschichte der einen ist nicht die Geschichte der anderen.« (Foucault 1999: 81) Das Prinzip der Heterogenität bedeutet nun freilich nicht, dass nun verschiedene jeweils fragmentarische Geschichten nebeneinander gestellt werden sollen. Vielmehr geht es darum, die Geschichten in ihrem Verflechtungszusammenhängen darzustellen. Die im Andenhochland der Provinz Cotopaxi gelegene Region um Saquisilí wurde ausgewählt, da sie in verschiedenen historischen Phasen als ein paradigmatischer Fall für die Beziehungen zwischen Staat, indigenen Gemeinschaften und anderen gesellschaftlichen Instanzen wie der Hacienda gelten kann. In dem ersten empirischen Teil der Arbeit werden die Dynamik der kolonialen Landnahme und die Entstehung einer Geopolitik der Kolonialität sowie die Logik der indigenen Kämpfe in Saquisilí herausgearbeitet. In der frühen Kolonialzeit zeichnete sich die Region durch die starke Präsenz indigener, inka-stämmiger Kaziken – wie Don Sancho Hacho – aus, die eine reichhaltige politische Kommunikation mit den kolonialstaatlichen Institutionen führten. Zudem entwickelte sich die Region bereits Mitte des 16. Jahrhunderts zu einem zentralen Wirtschaftszentrum der Audiencia de Quito, das auf der Koppelung von Textilmanufakturen – obrajes – und Schafhaltung beruhte. Aus diesen Clustern bildeten sich in der Krise der Textilmanufaktur großflächige Haciendas heraus, die sich zunehmend indigenes Land aneigneten, die Kazikentümer verdrängten und indigene Arbeitskraft abschöpften. Die zentrale Stellung der Region lässt sich allein daran ablesen, dass mit dem

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Marqués de Maenza und dem Marqués de Miraflores zwei der einflussreichsten Adelsfamilien Quitos mit Großgrundbesitz in Saquisilí vertreten waren. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit dem post-kolonialen Ecuador des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In dieser Phase ist das in der Kolonialzeit etablierte Hacienda-Dispositiv prägend für die politischen Beziehungen in der Region, die auch einer der zentralen Machträume des Hacienda-Staates des 19. Jahrhunderts darstellte. Während landesweit mit der liberalen Revolution von 1895 unter Eloy Alfaro erste Risse im Hacienda-Staat entstanden, führten in Saquisilí erst die indigen-bäuerlichen Mobilisierungsprozesse ab den 1930er Jahren, die den Kampf gegen das Hacienda-Regime initiierten, zu einer Konjunktur der Dekolonialisierung. In der Region um Saquisilí 5 sind neben der bereits gut erforschten Region Cayambe (Becker und Tutillo 2009) und Chimborazo die frühesten und nachhaltigsten sozialistisch und kommunistisch-orientierten Organisationsprozesse indigener Bauern zu beobachten. Diese Organisationsprozesse sind für diese Region bisher kaum erfasst worden. Beispielhaft kann in Saquisilí auch der Prozess der Agrarreform der 1960er und 1970er nachgezeichnet werden, der hier von der Besonderheit gekennzeichnet war, dass sich das Gros der Haciendas im Besitz der Zentraluniversität befanden. Eine Sonderstellung nahm Saquisilí dann im Kontext der indigenen Mobilisierungen der 1990er Jahre ein, die mit den Erhebungen von 1990, 1992, 1994, 1996, 2002 und 2006 ihre sichtbarsten Ausdrücke fanden und die im Kanton Saquisilí von der indigenen Organisation Jatarishun koordiniert wurden. Die mit diesen Ereignissen einsetzende Konjunktur der Dekolonialisierung ist Gegenstand des dritten Teils dieser Arbeit. Relativ gängig war bei der Entstehung dieses neuen Mobilisationszyklus’ – so auch in Saquisilí – die Zusammenarbeit mit befreiungstheologischen Kreisen. Im Vergleich zu anderen Regionen war allerdings die Teilnahme von indigenen Bauern aus Saquisilí bei den Aufständen und bei der Organisation der Provinzorganisation Movimiento Indígena y Campesina de Cotopaxi (MICC) besonders massiv. In diesem Zusammenhang gelang es der indigenen Bewegung in Saquisilí auch – als einer der ersten überhaupt – 1996 einen indigenen Bürgermeister zu stellen und so die Lokalpolitik zu demokratisieren und zu dekolonialisieren. Insofern stellt sich am Ende dieser Arbeit die Frage, ob die rezenten politischen Umbrüche in Ecuador, wie sie u.a. in der plurinationalen Neudefinition der Nation in der Verfassung von 2008 zum Ausdruck kommen, eine so massive Konjunktur der Dekolonialisierung in Gang gesetzt haben, dass von einem Ende von Kolonialität die Rede sein könnte.

5 Für eine gegenwartsorientierte, sozialanthropologische Regionalstudie zu Saquisilí vgl. Bane 2011, für eine Oral History zu Saquisilí vgl. Kaltmeier 2008 und für eine unlängst erschienene Studie zum angrenzenden Toacazo siehe Bretón 2012.

Trialektik der Kolonialität: Temporalitäten, Räume, Politiken

Das von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano eingeführte Konzept der Kolonialität der Macht verweist auf die Fortdauer kolonialer gesellschaftlicher Strukturen trotz eines im 19. Jahrhundert vollzogenen Prozesses der staatlichen Dekolonialisierung. Es stellt somit einen Versuch dar, die Persistenz der aus der kolonialen Situation heraus entstandenen sozialen und politisch-kulturellen Strukturen zu erklären. Insofern gibt es hier eine gedankliche Analogie zu den politischökonomischen Theorien struktureller Dependenz, die die vermeintliche ›Unterentwicklung‹ auf die ungleiche Einbettung in das kapitalistische Weltsystem zurückführen. Diese Überlegung verweist bereits darauf, dass es sich bei dem Konzept von Kolonialität keineswegs um eine historische Epoche handelt, sondern um ein komplexes Gefüge, das zeitliche, räumliche und soziale Dimensionen umfasst. An die Arbeiten von Henri Lefebvre (1992) und Edward Soja (2003: 271) anschließend, wird in der folgenden Konkretisierung von Kolonialität von einer Trialektik gesellschaftlichen Seins ausgegangen, bei der die Wechselwirkungen von Raum, Zeit und Sozialem im Mittelpunkt stehen. Mit der Heraushebung der räumlichen Dimension in der Zeit trägt diese Arbeit auch dem rezenten Spatial Turn in der Geschichtswissenschaft Rechnung. (Osterhammel 1998, Schlögel 2006, Baker 2003, Kaltmeier 2012a) Dies erscheint notwendig, da Reinhart Koselleck zu Recht auf die RaumAngst der Geschichtswissenschaft verwiesen hat: »Vor die formale Alternative Zeit oder Raum gestellt, optierte die überwiegende Mehrheit aller Historiker für eine theoretisch nur schwach begründete Dominanz der Zeit.« (Koselleck 2003: 80) Doch sollen hier Raum und Zeit nun nicht gegeneinander ausgespielt werden. Denn die Beziehung von Raum und Zeit ist nicht als ein mathematisch aufrechenbares Nullsummenspiel von Weniger und Mehr, wobei mehr Raum weniger Zeit und umgekehrt – bedeuten würde. Entsprechend wurde von phänomenologischer Perspektive auf die leibliche Verankerung im Hier (Raum) und Jetzt (Zeit) hingewiesen. (Waldenfels 2009) Vielmehr geht es darum, das Beziehungsverhältnis von Raum und Zeit neu zu denken. Dafür bietet sich – wie im Folgenden ausgeführt wird – das Konzept Kolonialität insofern besonders an, da dieses in hohem Maße gleichzeitig

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zeitlich und räumlich konnotiert ist. Zeit und Raum realisieren sich in einem dynamischen sozialen Gefüge, wobei in dieser Arbeit vor allem die konfliktiven Aushandlungen und Kämpfe im Feld des Politischen von Interesse sind. In diesem dreidimensionalen Denkmodell hat die soziale Produktion von Raum die gleiche Bedeutung wie die Analyse von Gesellschaftsformen und Geschichte. Um also Raum, Zeit und das Politische als integrale Elemente von Kolonialität in ihrer wechselseitigen Verflechtung betrachten zu können, sind die herkömmlichen Konzeptionalisierungen zu revidieren. Im Folgenden wird dazu eine post-kolonial inspirierte Interpretation von Zeit, Raum und dem Politischen präsentiert. Ziel dieser Überlegungen ist es, im Anschluss an die bestehende Diskussion ein komplexes und dynamisches Verständnis von Kolonialität zu entwickeln, das der verflochtenen Trialektik von Raum, Zeit und dem Sozialen gerecht wird, und das über die strukturelle Ebene der kolonialen Matrix hinaus es auch vermag, Konjunkturen der De-Kolonialisierung sowie Ereignisse und Brüche in den Blick zu bekommen. Post-koloniale Ansätze haben die auf den Leitkonzepten von Entwicklung und Fortschritt basierenden Geschichtsmodelle der Moderne grundsätzlich in Frage gestellt und in Hinblick auf die machtpolitischen Implikationen dekonstruiert. (Escobar 1995) An die Stelle universaler Modelle temporaler Abfolge, die den vermeintlich unterentwickelten Gesellschaften den Anspruch auf Gleichzeitigkeit verweigern (Fabian 1983), treten nun relationale Ansätze, die gerade das Ineinandergreifen unterschiedlicher Temporalitäten und Zeitschichten fokussieren. Konstitutiv für post-koloniale Ansätze ist dabei, dass die Fortdauer kolonialer Tiefenstrukturen auch nach dem formalen Prozess der Dekolonialisierung in den Mittelpunkt der Analysen gerückt wird (vgl. Prakash 1995; Hall 1996). Dabei ergeben sich – zum Teil explizite – Anschlüsse an die geschichtstheoretischen Konzepte der Zeitebenen von Fernand Braudel (2001) oder der Zeitschichten von Reinhart Koselleck (2003). Während eine solche Betrachtung von Kolonialität als Temporalität »langer Dauer« neue Forschungsperspektiven jenseits modernisierungstheoretischer Ansätze eröffnet, so gibt es doch auch bei dieser Verwendung Fallstricke, die es zu umgehen gilt. Eine erste Gefahr besteht darin, dass Kolonialität soweit erweitert wird, dass das Konzept zu einem empty signifier wird. Zwar besteht in der postkolonialen Debatte ein weitreichender Konsens darüber, dass post-kolonial – oder hier Kolonialität – keineswegs eine historische Etappe bezeichnet, sondern vielmehr als Denkansatz oder Temporalität »langer Dauer« zu begreifen ist; dennoch ist gerade aus historischer Sicht der Bezug zu Kolonialismus und Post-Kolonialismus als spezifische historische Phase zu klären. 1 Zugespitzt ließe sich folgendes Problem

1 Zu bedenken ist, dass der Begriff Kolonialismus in unterschiedlichen Regionen jeweils unterschiedliche Dynamiken bezeichnet. In Lateinamerika umfasst die Kolonialzeit die historische Periode von der Eroberung bis zur Unabhängigkeit und der Formierung post-

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formulieren: Obwohl post-koloniale Ansätze darauf abzielen, die eurozentrische Geschichtsschreibung zu dezentrieren, besteht paradoxerweise mit dem konstitutiven Bezug auf Kolonialität die Gefahr der Rezentrierung von Geschichte auf die europäische Expansion. Dem kann nur entgegengewirkt werden, wenn es – wie von den Subaltern Studies oder von indigenen Ansätzen vorgeschlagen – gelingt, die vielfach fragmentierten und unterdrückten indigenen und subalternen Perspektiven auf Geschichte herauszuarbeiten, die gerade von der Kolonialität des Wissens unterdrückt wurden. Überdies müssen sich post-koloniale Ansätze mit der Gefahr des historischen Determinismus auseinandersetzen. Mit einem auf lange Dauer angelegten Konzept von Kolonialität würden sozialer Wandel und revolutionäre Brüche aus dem Blick geraten, womit die gerade vielfach thematisierte Agency von subalternen Akteuren konterkariert werden würde. Die wichtige Erkenntnis der Persistenz kolonialer Tiefenstrukturen sollte nicht dahin führen, alle Abhängigkeits-, Ausbeutungs-, Unterdrückungsverhältnisse und Repräsentationsregime von diesen abzuleiten, wie dies vor allem – wohl auch zunehmend – in dem Ansatz von Walter Mignolo (2012) zu finden ist. Zu Recht haben mehrere Autoren auf die Bedeutung von NeoKolonialismus und Neo-Imperialismus hingewiesen. In dieser Arbeit habe ich versucht, auch diese anderen asymmetrischen Verhältnisse aufzugreifen und diese dann aber, durchaus im Sinne des Intersektionsansatzes, in Verhältnis zu Kolonialität zu setzen. Ein weiteres Problem betrifft den Stellenwert des Strukturellen. Poststrukturalistische Ansätze haben zu Recht starre und deterministische Strukturkonzepte kritisiert und dekonstruiert. Insofern ist Kolonialität nicht als geologische, starre Schicht zu betrachten, sondern als eine auf lange Dauer gründende Temporalität, über die es gelingt, »Kontinuität im Wandel« (Frank 1969) zu begreifen. In post-kolonialen Gesellschaften kann Kolonialität somit verstanden werden als die fortdauernde und immer wieder neu artikulierte Wirkung kolonialer Werte, Diskurse, Praktiken und Institutionalisierungen. Entsprechend hat Mary Louise Pratt (2008: 461) argumentiert, dass das »koloniale Erbe« nicht fest steht, sondern kontinuierlich »through

kolonialer Republiken zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In Indien bezieht sich die Kolonialzeit auf die Periode von 1757 bis 1949 und reicht von dem Einfluss der British East India Company bis zur direkten territorialen Kontrolle durch das British Empire. In Afrika setzten erste Kulturkontakte im Rahmen der europäischen Expansion Ende des 15. Jahrhunderts vor allem mit dem Sklavenhandel ein, während die koloniale und imperiale Kontrolle in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in der Berliner Konferenz von 1884/85 ihren Höhepunkt findet. (vgl. Kaltmeier, Lindner und Mailaparambil 2011) Zur Problematik des cross-cultural transfer von Kolonialität in Bezug auf den Maghreb vgl. Mignolo 2000.

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continuing permutations of its signifying powers, administrative practices, and forms of violence« erneuert wird. Strukturelle Temporalität kann somit keine ruhende Grundlage sein, von der andere Temporalitäten abgeleitet werden können. Vielmehr kann auch sie von der Kontingenz der Ereignisse durchbrochen oder von mittleren Dynamiken überlagert und durchdrungen werden. Um die Gefahr der Überbewertung der langen Dauer Rechnung zu tragen, führe ich im Folgenden die Temporalitäten der Konjunkturen von De-Kolonialisierung und der ereignishaften Ver-Rückung ein. Kolonialität wird somit beständig durch neue Konjunkturen und Ereignisse überlagert, verändert und erneuert. Durch diese vielfachen Überlagerungen und durch die Agency von Subalternen entstehen immer Uneindeutigkeiten, Ungleichzeitigkeiten und Zwischenräume, die politisch-kulturelle Positionierungen auch jenseits des vereinfachten Antagonismus von Kolonisator und Kolonialisiertem möglich machen. Koloniale Differenz hat somit keinen ausschließlich trennenden Charakter – wie dies vor allem von Walter Mignolo betont wird -–, sondern sie schafft einen neuen, asymmetrischen Verflechtungszusammenhang, in dem gerade in den Kontaktzonen Neues entstehen kann. In der neuen Kolonialgeschichte der Amerikas ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass die vermeintlich engen ethnischen Klassifikationssysteme immer auch – seien es auch noch so begrenzte – Möglichkeiten zu widerständigen Formen der Überschreitung und Konversion in sich bargen. Im derridaschen Sinne wäre also eher von einer kolonialen »différance« zu sprechen, die sowohl durch Differenz aber auch durch permanente Veränderung geprägt ist. So wie hiermit herkömmliche lineare und teleologische moderne Zeitvorstellungen revidiert werden, sind auch die herkömmlichen starren und von ContainerDenken geprägten Raumkonzepte hinter sich zu lassen. Hierzu bietet sich der Rückgriff auf die post-strukturalistische Geographie, wie sie in den Arbeiten von Edward Soja oder Doreen Massey angelegt ist, an. 2 Diese wendet sich gegen einen Raum-Zeit-Dualismus nachdem Raum die Attribute von Passivität, Homogenität und Starrheit zugewiesen werden, während Zeit als aktiv, dynamisch und wandelbar begriffen wird. Ein essentialistisches Verhältnis von Raum ist in der Regel Ausgangspunkt für weitere essentialisierende Äquivalenzketten: So gehört zu einem gegebenen Raum eine einheitliche Kultur, Identität, Bevölkerung, die im nationalstaatlichen Verständnis zudem der Zentralmacht einer Regierung unterliegen. Im politischen Kommunikationsraum ist dieser Diskurs durchaus von Bedeutung, wenn Gruppen ein Territorium für sich – und eben keinen anderen neben sich – beanspruchen, mit den Verweisen auf ursprüngliche Herkunft, frühere Besiedelung oder bessere Raumnutzung. (Schetter und Weissert 2007: 382)

2 Die folgenden Ausführungen zu Politik und Raum stellen eine Erweiterung meiner Überlegungen aus dem Buch »Politische Räume jenseits von Staat und Nation« (2012: 7-26) dar.

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Neben dieser essentialisierenden Verwendung von Raum in der politischen Kommunikation ist für Massey vor allem die Übersetzung von räumlichen Differenzen in zeitliche Aufschiebungen problematisch. (Massey 2005) Exemplarisch steht hierfür der Entwicklungsdiskurs mit dem damit verbundenen Arsenal entwicklungspolitischer Interventionen. Räumliche Disparitäten werden hier zu ungleichen Entwicklungen, die mit dem Fortschritt gesellschaftlicher Modernisierung an den Maßstab der bereits ›entwickelten‹ Gesellschaften angepasst werden. Damit erlangt eine räumlich-zeitlich partikulare Erfahrung, nämlich die der kapitalistischen Entwicklung des Westens, universelle Gültigkeit. Die Möglichkeit anderer, alternativer Entwicklungspfade wird negiert. Der periphere Raum steht allein für Mangel, welcher im Laufe zeitlicher Entwicklung entlang vorgegebener Bahnen überwunden werden kann. Mit diesem Denkmodell verliert Raum als Erklärungskategorie an Bedeutung, da gesellschaftliche und politische Veränderungen nunmehr in zeitlichen Begriffen gefasst werden. Entgegen diesem herkömmlichen Verständnis von Raum können folgende Aspekte für eine räumliche Neuausrichtung der Geschichte des Politischen festgehalten werden. 3 Erstens wird Raum durch Interaktionen, sowohl zwischen Menschen als auch mit der Umwelt, konstituiert. Raum ist eine relationale Konfiguration, die in einem steten Prozess des Werdens begriffen ist. Praxeologische Raumtheorien, wie die Raumsoziologie Martina Löws, haben hier spacing, das Anordnen von Artefakten im Raum, und Syntheseleistungen, die Zusammenfügung von räumlichen Ensembles zu Raumbildern, als zentrale Raumpraktiken eingeführt. (Löw 2001) Zweitens ist Raum als Bereich von Vielfältigkeit zu begreifen. Wenn er durch Wechselbeziehungen gebildet wird, muss er auf Pluralität basieren. Raum wird somit aus vielfältigen Perspektiven konstituiert, wobei die Akteure einen jeweils kulturell-politisch, sozial und räumlich unterschiedlichen locus of enunciation einnehmen. Diese ergeben sich nicht nur durch die geopolitische Verortung, sondern gerade auch durch die Überlappung von Feldern sozialer Praxis, die durch unterschiedliche Normen und Handlungslogiken gekennzeichnet sind. Somit sind im Raum verschiedene, oft auch widerstreitende Erzählungen, Imaginationen und Temporalitäten kopräsent. Kurz: »Raum und Vielfältigkeit konstituieren sich stets gegenseitig« (Massey 2003: 23). Drittens ist Konflikt damit im Raum angelegt. Erinnerungsorte, tempo-spatial fixes von Kapital, materielle Raumaneignungen und geographical imaginations machen deutlich, wie bestimmte Gruppen das Politische in Raum einschreiben. Eine besondere Konflikthaftigkeit ergibt sich dadurch, dass der materielle, physischgeographische Raum auf die Erdoberfläche beschränkt ist. Über diese Raummarkierungen von Gruppen ist aber gerade auch darauf hinzuweisen, dass (Gruppen-)Iden-

3 Die folgenden Punkte sind inspiriert von Massey 2003 und 2005.

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titäten über Antagonismen im Raum produziert werden. Entsprechend heben Carl Schmitt sowie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe die Konstitution von Identitäten durch politische Antagonismen hervor; Fredrik Barth hat auf die konstituierende Wirkung der Grenze bei der Konstruktion des Eigenen und des Anderen hingewiesen und Edward Said erklärt die Konstitution des Westens durch den Diskurs der Abgrenzung von einem imaginierten Orient, während Mignolo auf die Konstruktion des Westens infolge der Eroberung der Amerikas hinweist. (Mignolo 2009) Doch müssen diese imaginären Politiken der Verortung nicht nur entlang von binären Konstruktionen nach dem Motto »Wir« und die »Anderen« verlaufen. Bereits der Soziologe Georg Simmel (1992 [1908]) hat in diesem Zusammenhang Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Figur des Fremden verwiesen. Dieser entzieht sich einer einfachen Fremd/Feind-Konstruktion und bleibt ambivalent. Gerade diese Form des Unklassifizierbaren ruft, worauf neuerdings Zygmunt Bauman (1995) hingewiesen hat, oftmals ordnende Gewalt hervor, die über raumpolitische Strategien, die vor allem auf territoriale und funktionale Trennung, die vom »Staat als Gärtner« durchgeführt wird, ausgelegt sind. Viertens ist Raum offen und kein abgeschlossener Behälter. Es kann eine Überlagerung von Räumen geben, und auch an einem Ort können sich im Sinne eines global sense of place unterschiedliche Interaktionshorizonte überlagern. Raum ist also nicht als statische Einheit zu fassen, sondern als Werden. Dadurch können, durch Verschiebungen – bei Laclau und Mouffe dislocations – neue Gegensätze, aber auch neue Artikulationen und Verflechtungen entstehen. Es gibt immer ein Moment der Emergenz, bei dem ein Politikum von einem Raum in einen anderen gelangen und dort auftreten kann. Durch diese spatiale Offenheit sind auch politische Entwicklungspfade und damit Geschichte an sich offen und plural. Fünftens ist damit zu einem neuen Verhältnis von Raum und Geschichte zu kommen. Historiographie ist in der Moderne von einem linearen Diskurs von Fortschritt und Entwicklung gekennzeichnet. Dies hat Auswirkungen auf die Anerkennung politisch-kultureller Differenz. Der Anthropologe Johannes Fabian hat in dem modernen Umgang mit dem Anderen ein »denial of coevalness« (Fabian 1983) ausgemacht, nachdem dem Anderen die Anerkennung der Gleichzeitigkeit verweigert, und er auf einer unterentwickelten Vorstufe des eigenen Zivilisationsprozesses verortet wird. Politisch übersetzt sich diese Verweigerung von Gleichzeitigkeit in einen Krieg gegen Differenz und Ambivalenz, der, wie Zygmunt Bauman (1995) herausstreicht, besonders vom Nationalstaat geführt wird. Die Anerkennung von Plurilokalität, Plurikulturalität und Ambivalenz impliziert eine Neuausrichtung der räumlich-zeitlichen Koordinaten von Geschichtsschreibung. Diese ist weder in den Formen einer in sich abgeschlossenen Meta-Geschichte zu leisten, noch in lokalen Regionalgeschichten. Stattdessen geht es, so Sebastian Conrad und Shalini Randeria, um eine »geteilte Geschichte«, die im doppelten Wortsinn als eine gemeinsam geteilte Geschichte – shared history – und als eine Geschichte von Machtasymmet-

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rien und sozialer Ungleichheit als divided history begriffen werden kann. (Conrad und Randeria 2002: 17) Diese geteilte Geschichte ist insofern räumlich zu denken, als dass sie in einem geteilten Raum stattfindet, in dem diverse epistemologische Standpunkte, Zentrum-Peripherie-Beziehungen und lokal-räumliche Erfahrungshorizonte miteinander verknüpft und verkettet sind. Dieser konzeptionellen räumlichen Dezentralisierung und Deterritorialisierung entspricht auch eine soziale. Dies zeigt sich gerade auch in dem Feld des Politischen. Dementsprechend geht es nun nicht vornehmlich darum, das Politische zu umgrenzen und in einem Raum – dem Nationalstaat – oder System politischer Repräsentation einzugehen. Entgegen der herkömmlichen Engführung der Politikgeschichte auf den Nationalstaat ist es vor allem die Neue Bielefelder Geschichte des Politischen, die eine Neubegründung eines weiten Begriffs des Politischen anstrebt, der nicht extern und abstrakt gesetzt wird, sondern geradezu sozialanthropologisch nach den raum- und zeitspezifischen Deutungen und Symbolisierungen des Politischen fragt. 4 Hier ist das Politische nicht gegeben, sondern wird in Akten politischer Kommunikation hergestellt. »Politisch ist Kommunikation dann, wenn sie (a) Breitenwirkung, Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit besitzt, beansprucht oder zuerkannt erhält, (b) Regeln des Zusammenlebens, Machtverhältnisse oder Grenzen des Sag- und Machbaren thematisiert und (c) auf vorgestellte überindividuelle Einheiten Bezug nimmt oder sie implizit voraussetzt.« (SFB 584: 2009) Insofern handelt es sich, so Heinz-Gerhard Haupt, um einen performativen Begriff des Politischen:

4 In der Politikgeschichte, der politischen Soziologie, der politischen Philosophie, der politischen Anthropologie und der Politikwissenschaft wird der Begriff der Politik und des Politischen aktuell neu diskutiert. Dabei haben die gegenwärtigen Dekonstruktionen von Politik unterschiedliche Reichweiten. Politische Philosophen französischer Provenienz wie Jean-Luc Nancy, Alain Badiou, Jacques Rancière und Claude Lefort sprechen sich für einen post-fundamentalistischen Politikbegriff aus, der aber als »essence de politique« (Lacoue-Labarthe und Nancy 1981: 12) vom Einfluss des Sozialen und Ökonomischen isoliert betrachtet werden kann. Auch Slavoj Žižek weist auf die Doppelstruktur des Politischen hin: »Diepolitische Dimension ist also auf doppelte Weise eingeschrieben: Sie ist ein Moment des sozialen Ganzen, eine unter seinen Sub-Systemen, und gerade das Terrain, in dem sich das Schicksal des Ganzen entscheidet«. (Žižek 1994: 205-206) Der systemtheoretisch orientierte Soziologe Armin Nassehi macht ebenfalls eine Antinomie des Politischen aus, da das Politische als ausdifferenzierter Teil von Gesellschaft gleichzeitig für das sichtbare Ganze einer Gesellschaft steht. Er versucht, dieses Problem mit einer kontingenten Lokalisierung des Politischen zu lösen, nach der einerseits eine Begrenzung des Politischen – hier klingt die Idee eines politischen Funktionssystem an – und andererseits eine politikferne Beschreibung von Gesellschaft notwendig sei. (2003: 137) Für einen deutschsprachigen Debattenüberblick vgl. Bedorf und Röttgers 2010 sowie Marchart 2010.

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»Der Bielefelder Forschungsverbund bestimmt das Politische nicht aus dem Gegensatz von Bedingungen und Kern, symbolischer und richtiger Politik. Vielmehr geht er davon aus, dass Medien und Diskurse den Raum des Politischen konstituieren, seine Grenzen fixieren und Mechanismen prägen.« (Haupt 2005: 310) 5 Die oben ausgeführte Definition des Politischen eignet sich in besonderem Masse dazu, eine Vielfalt von Konflikten und Kämpfen zu erfassen. Sie ermöglicht einen Blick auf die Infra- und Mikropolitiken und Subversionen. Der Sozialanthropologe James Scott arbeitete heraus, dass auch vermeintlich unterdrückte und marginalisierte Akteure abseits der politischen Arenen – sozusagen im »hidden transcript« – »infra-politics« betreiben, die ein ganzes Arsenal an Praktiken wie langsames Arbeiten, Sabotage, Diebstahl etc. umfassen. (Scott 1990) Dieser offene Begriff des Politischen setzt sich einerseits von einer Fixierung auf die Politik von Regierungen, Parlamenten und Parteien ab, die in der Moderne mit dem Staat verbunden werden. Andererseits durchzieht er transversal das Gesellschaftliche und weitere Felder sozialer Praxis, ohne aber den Anspruch auf die Repräsentation des Ganzen zu beanspruchen. 6 Dem hier skizzierten Verständnis des Politischen geht es nun gerade nicht darum, die Essenz des Politischen zu bestimmen, sondern die Erscheinungs- und Wirkungsformen des Politischen, das vom vorgestellten Zentrum der Macht entrückt ist, im gesellschaftlichen Kontext in Raum und Zeit zu bestimmen. In diesem Sinne kann das Politische als das von »Antagonismen durchzogene Feld« (Laclau und Mouffe 2000: 193) begriffen werden, in dem Kämpfe um die Konstruktion des Sozialen ausgetragen werden. Dies entspricht dem im Kontext der Subaltern und Postcolonial Studies entworfenen Anliegen der geopolitischen Dezentrierung der Nation, wie es beispielhaft in dem Werk des indischen Theoretikers Partha Chatterjee (1999) zum Ausdruck kommt. Mit dem Blick auf die »Nation and its Fragments« geht es darum, »to trace in their mutually conditioned historicities the specific forms that have appeared, on the one hand, in the domain defined by the hegemonic project of nationalist modernity, and on the other, in the numerous fragmented resistances to the normalizing project« (Chatterjee 1999: 13). Mit diesem relationalen Ansatz kommen die Beiträge subalterner Gruppen – Frauen, (Klein-)Bauern, Indigene – für die »everyday forms of state-formation« (Gilbert und Nugent 1994) in den Blick. Eine Konzentration auf einen Raum des Politischen, wie dies in staatsfixierten oder aber auch systemtheoretischen Politikbegriffen angelegt ist, erscheint hierbei

5 Für die deutschsprachigen Debatte um eine Neue Politikgeschichte vgl. Weidner 2012. 6 Dieses Vorgehen entspricht einem breiten Cultural Turn in den Sozial- und Geschichtswissenschaften, wie er auch in dem Konzept der Politischen Kultur zum Ausdruck kommt (vgl. für die Geschichtswissenschaft Stollberg-Rilinger 2005, und für die lateinamerikanischen Bewegungsforschung Alvarez et al. 1996 sowie Kaltmeier et al. 2004).

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wenig zielführend. Stattdessen ist von einer Pluralität von Räumen des Politischen auszugehen, wie sie auch von Michel Maffesoli in dem an den Prozessen der »Ethnisierung des Politischen« (Büschges und Pfaff-Czarnecka 2007) in Lateinamerika orientierten Vorwort zu Die Transfiguration des Politischen angeführt wird. Der »Monotheismus« staatlicher Politik wird hier zu Gunsten pluraler und fragmentierter Räume des Politischen, in denen sich eigenständige kollektive Identitäten ausbilden, zurückgewiesen. (Maffesoli 2005)

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Mit dem Konzept der »Kolonialität der Macht« hat Aníbal Quijano (2000, 2008) darauf hingewiesen, dass die von Immanuel Wallerstein analysierte Emergenz des kapitalistischen Weltsystems im »langen 16. Jahrhundert« nicht nur ökonomische und geopolitische Bedeutung hatte, sondern auch eine politisch-kulturelle Matrix schuf. 7 Jene besteht darin, dass kulturelle Unterschiede in Werte, die zudem einen universellen Anspruch erheben, transformiert werden. Zu nennen sind hier die Antagonismen von gläubig versus ungläubig, modern versus traditionell, fortschrittlich versus rückschrittlich, weiß versus schwarz, Zivilisation versus Barbarei. Auf diese Weise wird ein auf Rassismus basierendes kulturelles Klassifikationssystem etabliert, welches ganz materielle und sozialstrukturelle Auswirkungen nach sich zieht, da es die ethnisierte Arbeitsteilung im Weltsystem strukturiert. Im Sinne Walter Mignolos ist diese »Kolonialität der Macht« somit Ausdruck der kolonialen Differenz. Darüber hinaus soll Kolonialität im Sinne Fernand Braudels als historische Tiefenebene des »longue durée« begriffen werden, die die lateinamerikanischen Gesellschaften von Anbeginn der Conquista – symbolisch markiert durch die Landnahme Christoph Kolumbus’ auf der karibischen Antilleninsel Antigua am 12. Oktober 1492 – bis heute prägt. Auf der Grundlage von Quijano können folgende Operationen der »Kolonialität der Macht« herausgearbeitet werden (Mignolo 2000: 17, Castro-Klaren 2008: 133), die funktional für die Ausbeutung von Arbeitskraft und Aneignung von Land sind: Als erstes wird die gesamte Bevölkerung der Erde auf der Grundlage kultureller

7 Damit wird in der gesamten westlichen Hemisphäre ein Kolonisationsprozess europäischer Mächte eröffnet, der als eines der längsten und tiefgreifendsten Kolonisationsprojekte in der Weltgeschichte verstanden werden kann. Die Konstitution Amerikas als geokulturelle Einheit ist somit ein Ergebnis des europäischen Expansions- und Eroberungsprozesses, der gleichermaßen konstitutiv für Konstruktion des Westens (vgl. O’Gorman 1961; Rabasa 1993; Mignolo 2000, 2005; Rinke und Lehmkuhl 2008) und den Aufstiegs des kapitalistischen Weltsystems (vgl. Wallerstein 1974, 1991; Quijano und Wallerstein 1992) war.

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Differenzen neu klassifiziert, wobei Europa den allgemeingültigen Maßstab darstellt, an dem die anderen Kulturen oder Gesellschaften gemessen werden. Über die Klassifikation hinaus geht es hier im zentral um die Kontrolle der Subjektivitäten. Historisch – so können wir ergänzen – ist hier relevant, dass damit einzig Europa über eine emische Geschichte verfügt, während die anderen Gesellschaften als »Völker ohne Geschichte« (Wolf 1982) begriffen werden, die sich in die eurozentrischen Kategorien westlicher Geschichtsschreibung einschreiben müssen. Damit ist zweitens die Herausbildung einer spezifischen epistemologischen Perspektive verbunden, durch die neues Wissen generiert wird. Drittens ist die Ausbildung von spezifischen Institutionen zu nennen, die die oben genannten Klassifikationen in der sozialen, kulturellen und politischen Realität umsetzen und beständig erneuern. Zudenken ist an staatliche Institutionen, Universitäten und Schulen, Gerichte, die Kirche, aber auch nicht-staatliche Dispositive wie die Hacienda oder seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend auch an Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Viertens hat Quijano darauf verwiesen, dass den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen entsprechend der Kolonialität bestimmte Räume und Orte zugewiesen werden. Dies betrifft sowohl die basale Politik der Verortung im geographischen Raum als auch die Zuweisung funktionaler Orte in Wirtschaft, Politik und Kultur, was wiederum Rückwirkungen auf die Verortung innerhalb der Sozialstruktur nach sich zieht. In weiteren Arbeiten ist vor allem von Edgardo Lander, Mitglied der Gruppe Modernidad/Colonialidad noch die Dimension der Kontrolle und Inwertsetzung von Natur ergänzt worden. (Lander und Past 2002, Mignolo 2012: 143) Mit diesem tiefenstrukturellen Konzept von Kolonialität werden herkömmliche Zäsuren – wie die Unabhängigkeitskämpfe der lateinamerikanischen Kolonien gegen das spanische Imperium – in ihrer Bedeutung relativiert. Zwar geht mit der Unabhängigkeit zweifelsohne die spanische Kolonialherrschaft zu Ende und es kommen neue Konzepte von Republikanismus und Nation auf. Doch berühren diese – worauf bereits der peruanische Denker José Carlos Mariátegui (1975) zu Beginn des 20. Jahrhunderts hingewiesen hatte – kaum die grundlegenden Tiefenstrukturen von Kolonialität. Somit kam es paradoxerweise gerade in den post-kolonialen Staaten Lateinamerikas zu einer Vertiefung von Kolonialität. Wie bereits angedeutet wurde, hat Aníbal Quijano darauf verwiesen, dass den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen entsprechend der Kolonialität bestimmte Räume und Orte zugewiesen werden. Die koloniale Differenz setzt mit der Landnahme ein. Ein zentraler Aspekt ist hier die ontologische Dimension kolonialer Landnahme, da jeder geographische Ort, an dem sich Merian und Meridian kreuzen, nur einmal vorhanden ist. Zwar kann es an diesem Ort überlappende Nutzungsformen und geographische Imaginationen geben, doch führt die Singularität jedes Ortes der Erdoberfläche doch zu einer Verknappung, die gerade durch exklusive Eigentumsrechte bürgerlicher Prägung verstärkt wird.

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Innerhalb des Kolonialen ist allein schon etymologisch der Raum angelegt. Schließlich ist das Wort entlehnt aus dem lateinischen colonia, einer Ableitung von colonus, Bebauer oder Ansiedler. Ursprung dieser Nomen ist das Verb colere, was ursprünglich »bebauen« im Sinn von »Land bestellen« bedeutet. (Kluge 1999: 463) Zudem wird etymologisch auch der von Quijano eingebrachte Bezug auf kulturelle Klassifikation deutlich, leitet sich doch auch Kultur aus dem gleichen Verb colere her. (Kluge 1999: 492) Die hier zum Ausdruck kommende Definitionsmacht beruht, worauf Osterhammel und Jansen (2009: 19-20) nachdrücklich verwiesen haben, auf einer religiös oder kulturell begründeten Überzeugung der kulturellen Höherwertigkeit, die zudem mit einem expansiven Sendungsbewusstsein versehen war. Im Zuge der kolonialen Landnahme etablierte sich im Andenraum eine neue Raumordnung, die die Historikerin Florencia Mallon für Peru in Hinblick auf die bevölkerungsgeographische Verteilung wie folgt auf den Punkt bringt: »Indian highland, white and mestizo coast; white and mestizo cities, Indian countryside.« (Mallon 1992: 37) Diese bipolar ethnisierte Landschaft beruht auf der eingangs bereits geschilderten Zweiteilung des kolonialen politischen Systems in eine república de indios und eine república de españoles. Die hier erfolgte koloniale Politik der Verortung von Bevölkerungsgruppen reguliert maßgeblich deren politische Partizipationschancen. Darüber hinaus geht mit dieser Verortung die Herstellung regionaler Disparitäten einher, die bestimmten Regionen einen abhängigen, peripheren Status zuweist und aus denen Mehrwert in die Zentren abfließt. Diese räumliche Tiefenstrukturierung wurde auch nach der Unabhängigkeit in der bereits geschilderten Variante des internen Kolonialismus erneuert. (Stavenhagen 1965) In Homologie zu dieser geographischen Politik der Verortung findet auch eine Verortung in der Sozialstruktur statt, die auf der Grundlage des kolonialen ethnischen Klassifikationsschemas erfolgte. Die Vorstellung der grundlegenden ethnisch-rassistischen Differenz als gesellschaftlichen Grundkonflikt wird für das 17. Jahrhundert in Europa auch von Foucault geteilt, allerdings ohne dass dieser die globalgeschichtliche Situation von Kolonialität in Betracht ziehen würde. Foucault argumentierte, wie der kriegerische Diskurs im 17. Jahrhundert eine präzisere Form annimmt, »Der Krieg, der sich solchermaßen unterhalb von Ordnung und Frieden abspielt, der Krieg, der unsere Gesellschaft durchzieht und zweiteilt, ist im Grunde ein Krieg der Rassen.« (Foucault 1999: 73) Er wird festgemacht und ausgeweitet an Hand von Elementen wie: »ethnischen Differenzen, Sprachdifferenzen, Unterschieden an Stärke, Kraft, Energie und Gewaltsamkeit, Wildheit und Barbarei; Eroberung und Unterwerfung einer Rasse durch eine andere. Der Gesellschaftskörper artikuliert sich im Grunde über zwei Rassen« (Foucault 1999: 73). Dieser Diskurs hat zwar – laut Foucault –in Europa Umschriften erfahren, u.a. eine klassenkämpferische, aber in den Gesellschaften des Andenraum stehen die Mitglieder ländlicher indigen-bäuerlicher Gemeinschaften als Subsistenzbauern oder informeller Sektor seit der Unabhängigkeit auf der untersten Stufe der Sozialstruktur (Abram und Feldt

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2004, Psacharopoulos und Patrinos 1994, Boris 2008), sodass von einer Kopplung ethnischer und klassenspezifischer Diskriminierung und kollektiver Identitätsbildung in Form einer »Ethno-class« (van den Berghe und Primov 1977: 253) gesprochen werden kann. Über diese Zuweisung geographischer, politischer, ökonomischer und sozialer Orte hinaus erfolgt auch eine Verortung in geographische Imaginarien. So wurden die Indigenen in der Konstruktion von Kollektiven nicht nur exkludiert, sondern auch – beispielweise als Forschungshemmnis tituliert – zum Negativbild der hegemonialen Identitätsbildungsprozesse gemacht. Dabei wirkt die Raumordnung der Kolonialität auch wieder auf die Gesellschaft zurück, was der Soziologie Pierre Bourdieu als »Naturalisierungseffekt« begreift. Er argumentiert: »In einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum, der nicht hierarchisiert ist und nicht die Hierarchien und sozialen Distanzen zum Ausdruck bringt, (mehr oder minder) entstellt und verschleiert durch den Naturalisierungseffekt, den die dauerhafte Einschreibung der sozialen Realitäten in die physische Welt hervorruft: Aus sozialer Logik geschaffene Unterschiede können dergestalt den Schein vermitteln, aus der Natur der Dinge hervorzugehen.« (Bourdieu 1991: 26-27)

Insofern vollzieht sich über die kolonial angeeigneten und über koloniale Politiken der Ent- und Verortung zugewiesenen Räume eine subtile Form symbolischer Gewalt, die kaum als solche wahrgenommen wird. In Hinblick auf die kolonialen Raumpolitiken ist festzuhalten, dass Landnahme und neue Verortung zumeist auch mit Vertreibung und Enteignung verbunden ist, wie Karl Marx es in Hinblick auf die kapitalistische Moderne in dem Kapitel über die »sogenannte ursprüngliche Akkumulation« im ersten Band des Kapitals herausgearbeitet hat. Über die Modi der Landnahme hinaus ist hier aus ethno-historischer Perspektive der Hinweis wichtig, dass der von den Spaniern im Andenraum eroberte Raum keinesfalls als ein leerer, unbeschriebener Raum begriffen werden kann, sondern dass er durch das hoch-komplexe räumliche System des Inkareiches und andine Raumlogiken strukturiert war. (Kaltmeier 1999: 76-82) Die Bedeutung von Raum im Imaginarium der prä-kolumbischen Andenbewohner war so hoch, dass die Ethnohistorikerin Karen Spalding auf der Grundlage ihrer Lokalstudie zum peruanischen Huarochirí festhielt »the relationship between human groups and their environment in the Andes is basic to any understanding of the patterns of Andean society.« (Spalding 1984: 9) Der bolivianische Anthropologe Javier Medina begreift die Andenkulturen – im Gegensatz zur zeitzentrierten westlichen Moderne – als raumzentrierte Zivilisationen. (Medina 1994: 28-30) Im Zentrum stehen dabei die landwirtschaftliche Nutzung und die Adaption an die durch die thermische und hygrische Höhenstufung geprägten Naturräume. Dies kommt vor allem in der von John Murra aufgestellten Theorie der »vertikalen Kontrolle einer maximalen An-

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zahl ökologischer Stockwerke« zum Ausdruck, die in eine archipelartige Raumnutzungsstruktur mündet. 8 Zudem gibt es im Andenraum eine hohe kulturelle und religiöse Bindung an das Land. Der Anthropologe Joseph Bastien beschreibt, wie im bolivianischen Andenraum der lebensweltliche Raum in Analogie zum individuellen Körper wahrgenommen wird, sodass es einen permanenten Fluss von Energie und materiellen Dingen zwischen Mensch und Erde gibt. (Bastien 1985) Gleichermaßen wird der gesamte umgebene Raum als beseelt wahrgenommen, wobei einzelne Berge, Quellen oder Bergpässe als besonders heilige Stätten gelten, die von apus, Berggottheiten, bewohnt werden. Die Pachamama, Mutter Erde, gilt als ursprüngliche Landeignerin, die als Quelle von Fruchtbarkeit den landwirtschaftlichen Ertrag liefert, dafür aber Gegengaben der andinen Bauern erwartet. Elemente dieser Raumstruktur konnten sich auch trotz der kolonialen Landnahme erhalten, so dass die in der Kolonialität anstehende Raumordnung als Ergebnis sich vielfältiger und sich wandelnder Überlagerungen und Verflechtungen zu begreifen ist. Die Durchsetzung von Räumen der Kolonialität trifft somit auf widerstreitende Raumnutzungs- und Raumdeutungsmodelle und hat mit Widerstand zurechnen, dessen räumliche Dimensionen erst kürzlich wieder in den Blick geraten sind. (Kaltmeier 2004, Routledge 1993) Jenseits dieser permanenten Infragestellung der kolonialen Matrix stellt sich aber auch über die Dimension der Verräumlichung hinaus die Frage, wie sich die beständige Erneuerung der Matrix der Kolonialität vollzieht. Reinhart Koselleck hat darauf hingewiesen, dass Strukturen nicht einfach da sind, sondern dass sie ihre Stabilität nur dann beibehalten, wenn sie permanent reproduziert werden und über Wiederholungsroutinen auf Dauer gestellt werden. (Koselleck 2000: 13-15) Hier kommt über die habitualisierten Alltagsroutinen vor allem den Institutionen und Organisationen eine entscheidende herrschaftsstabilisierende Rolle zu (Türk 1995), die sich dem einzelnen Handelnden wiederum als »zweite Natur« objektiviert darstellen. Dies gilt auch für den Bereich des Politischen. Der strukturelle Aspekt des Politischen besteht darin, dass jedem Subjekt – im doppelten Sinne des Wortes – ein Ort innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges zugewiesen wird, der überindividuell anerkannt wird und der die politischen Denkund Handlungsmöglichkeiten formt. Dabei interessiert hier besonders, wie eine historisch, kulturell und räumlich kontingente Form des Politischen auf Dauer gestellt

8 John Murra stellte die Theorie 1972 auf. Eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit dem Diskussionsstand findet sich u.a. in Condarco und Murra 1987 sowie in Murra, Wachtel und Revel 1986. Eine weitere Revision des Modells betrieb Buren 1996. In Ecuador wurde die Arbeiten Murras ethnohistorisch aufgegriffen von Oberem (1981b: 4572).

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wird. Dies erfolgt, allgemein gesprochen dadurch, dass sich entlang der Politik der Verortung Institutionen und Organisationen sowie gesellschaftliche Imaginarien ausbilden, die durch die Etablierung von Routinen und Habitualisierungen zu einer Verfestigung der zugewiesenen Positionen führen. Dies hat wiederum Rückwirkungen auf das Politische, da die Institutionen Normalität produzieren und damit zur »Naturalisierung« von zugewiesenen Positionen führen. Dies gilt in besonderem Maße gerade auch für die durch die Conquista etablierte Geopolitik der Kolonialität. Als Folge der Conquista ist in diesem Zusammenhang im Andenraum zunächst auf den seit der Kolonialzeit grundlegend zweigeteilten politischen Raum zu verweisen, der sich zunächst unter der politischen Struktur der »zwei Republiken« – einer spanisch-kreolischen und einer indigenen – vollzog und in der post-kolonialen Phase der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Form einer zwei-geteilten Republik und der Fortführung des Hacienda-Dispositivs fortsetzte. Die postfundamentalistische politische Philosophie hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Gründung demokratischer politischer Gemeinschaften aus einer Leerstelle heraus erfolgt, die unbegründbar ist. Während im spanischen Kolonialreich die Begründung politischer Macht religiös untermauert war und direkt – im Sinne der »zwei Körper des Königs« (Ernst Kantorowicz) auf den König zulief, so war es in den post-kolonialen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhundert der »body of nobody« (Coronil 1997), der diese Leerstelle kontingent ausfüllte. Die Schwäche dieser Begründung wird jedoch – jenseits der politisch-philosophischen postfundamentalen Ansätze – allein schon dadurch offenkundig, dass 1830 in Ecuador nur 0,3 % der Bevölkerung das Wahlrecht besaßen. Die Verstetigung und Verfestigung des Politischen wird durch Institutionen abgesichert. In diesem Zusammenhang ist an erster Stelle der Staat zu nennen. Doch soll der Begriff der Institution hier nicht im Sinne einer festgefügten, unwandelbaren Einheit, die als souveränes Kollektivsubjekt handelt, missverstanden werden. In Anschluss an die neue politische Anthropologie des Staates soll darauf verwiesen werden, dass der Staat sich über diskursive und nicht-diskursive Praktiken beständig neu realisieren und reproduzieren muss. Die Hauptvertreter einer neuen Anthropologie des Staates Thomas Blom Hansen und Finn Stepputat formulieren entsprechend: »In this vision of political life, the state is imagined as an always incomplete project that must constantly be spoken of – and imagined – through an invocation of the wilderness, lawlessness, and savagery that not only lies outside its jurisdiction but also threatens it from within. « (Hansen und Stepputat 2001: 7) Der letzte Abschnitt dieses Zitats verweist auf die raumpolitische Logik des staatlichen Othering, das gerade auch in den post-kolonialen Gesellschaften des Andenraums zu finden ist. Der moderne Staat, als »Gärtner« und Ordnungshüter (Bauman 1995), muss, um sich selbst definieren zu können, auf das Andere, auf Chaos und Unordnung an Randzonen oder internen Peripherien, in die er dann intervenieren kann, verweisen.

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Entsprechend zeigt gerade der post-koloniale Staat hinsichtlich der formal gewährten Partizipationschancen der Bevölkerung ein Janusgesicht. Auf der einen Seite wird die politische Inklusion von Staatsbürgern in eine Zivilgesellschaft gefordert, die sich bei genauerer Betrachtung in Hinblick auf die reale politische Teilhabe als embryonal erweist. Auf der anderen Seite exkludiert der Staat – trotz des allumfassenden Inklusionsversprechens – große Bevölkerungsgruppen aus dem Raum politischer Partizipation. So wurden und werden auch in demokratischen Regimen bestimmte Bevölkerungsgruppen wie ethnische Minderheiten, Migranten, Analphabeten, Arme, Frauen, teils formal, teils de facto, von Staatsbürgerrechten ausgeschlossen. Zudem befördert der Staat durch krude biopolitische Interventionen wie slum-clearance acts und Landvertreibungen die Ausbildung von Randzonen des Staates, die durch das Aussetzen von Citizenship gekennzeichnet sind. Der postkoloniale Historiker Partha Chatterjee (2006) hat am Beispiel Indien gezeigt, wie die arme und marginalisierte Bevölkerung aus der Sphäre der Zivilgesellschaft ausgeschlossen wird, dann aber über die Ausübung von Wahlrecht und als Zielgruppe (inter-)nationaler gouvernementaler Wohlfahrtsprogramme als »politische Gesellschaft« von staatlichen Randzonen auf nationale Politik einwirken kann. Insofern kann die Ausbildung von Dispositiven im Rücken des formalen Rechts – wie die von Michel Foucault für das neuzeitliche Frankreich analysierten Gefängnisse, Schulen, und Irrenanstalten– als Schattenseite demokratisch-republikanischer Regime begriffen werden. Im Andenhochland – und vor allem in Ecuador – ist an dieser Stelle die Hacienda als eines der wichtigsten Dispositive der Kontrolle der vom politischen Prozess ausgeschlossenen indigenen Bevölkerungsmehrheit zu nennen. Nationalstaatlichkeit ist kein national begrenztes Phänomen, sondern ein relationales Phänomen der wechselseitigen Beobachtung in einem Weltsystem nationalstaatlicher Segmentierung, das auf Grund kolonialer Differenz in einem räumlich hierarchisierten Gefüge von Zentren und Peripherien steht. 9 Über diese geopolitische Differenz hinaus, die in Begriffen der Abschöpfung von Mehrwert, ungleichem Tausch und politischer Abhängigkeit ausführlich von dependenztheoretischen Ansätzen analysiert wurde, ist zudem auf die Etablierung einer Geopolitik des Wissens zu verweisen, die – um mit Bourdieu zu sprechen – symbolische Macht reguliert und die fundamentalen Sicht- und Teilungsprinzipien weltweit definiert. Die

9 Dabei ist es allerdings keinesfalls so, dass die Entwicklung von Nationalstaaten allein von einem Zentrum im Westen ausgeht, um dann in die Peripherien zu diffundieren. So hat der Historiker Benedict Anderson darauf hingewiesen, dass die Nationalstaatsbildung in Lateinamerika in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich massiver und früher einsetzte, als dies in vielen Teilen Europas der Fall gewesen war. Insofern ist auch hier von einer wechselseitigen Konstitution im globalen Verflechtungszusammenhang auszugehen.

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Koppelung aus politischer und ökonomischer und epistemologischer Geopolitik auf Grund der kolonialen Differenz erwies sich – trotz inhärenter Machtverschiebungen – als stabile Matrix, die erst mit den zeitgeschichtlichen Globalisierungsprozessen an ihr Ende gestoßen zu sein scheint. (Wallerstein 2002)

K ONJUNKTUREN

DER

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Als zweite Temporalität, die die »lange Dauer« von Kolonialität überlagert und konjunkturelle Veränderungsdynamiken in der kolonialen Differenz provoziert, sollen im Folgenden die »moyenne durée« der Konjunkturen der Kolonialisierung und Dekolonialisierung eingeführt werden. Bei dieser Einführung von Temporalitäten unterschiedlicher Rhythmik und Dauer orientiere ich mich wiederum an den klassischen Arbeiten von Braudel und Koselleck sowie den Überlegungen José Bengoas zur fragmentierten Moderne in Lateinamerika. Der chilenische Historiker José Bengoa bezeichnete die Moderne als longue-durée-Phänomen. Die Modernisierungswellen, die die Amerikas nach der Ankunft der gewaltsamen, fragmentierten und externen Moderne ereilt haben, versteht er als »sukzessive Transformationswellen«, die der gleichen »okzidentalen, geographischen und kulturellen Matrix« (Bengoa 1999: 146) entstammen. Dies gilt analog auch für die uns hier interessierende »dunkle Seite« der Moderne, die Kolonialität. Konjunkturen der Kolonialisierung erfassen somit jene Dynamiken der Beschleunigung und Verzögerung, unter denen Kolonialität verändert und erneuert wird. Wie Koselleck herausgearbeitet hat, sind Rhythmen und Tempi der Beschleunigung und Verlangsamung vor allem aus gesellschaftlichen Praktiken und Deutungsrahmen – wie geschichtlichen Erwartungshorizonten – heraus zu erklären. (Koselleck 2000: 13-15) Damit liegt diesen Konjunkturen immer auch ein selbst-reflexiver Bezug inne, der die bestehenden Habitualisierungen und Institutionalisierungen sozialer diskursiver und nicht-diskursiver Praxis transformiert. In Hinblick auf die lateinamerikanische Geschichte – vor allem der zentralen Andenregion sowie Mesoamerikas – ist in diesem Zusammenhang die nach der Unabhängigkeit von Spanien einsetzende Konjunktur der internen Kolonialisierung zu nennen. Das Konzept des »internen Kolonialismus« wurde in den frühen 1960er Jahren von den mexikanischen Soziologen Pablo Gónzalez Casanova und Rodolfo Stavenhagen an der Schnittstelle von Dependenztheorie und kritischem Indigenismo entwickelt. Es erfuhr in der Folgezeit weite Verbreitung, vor allem in jenen Ländern Lateinamerikas, die einen hohen Anteil indigener Bevölkerung aufweisen. Auf Grund der hier angelegten kritischen Auseinandersetzung mit der Fortdauer von Kolonialität auch in den formal post-kolonialen lateinamerikanischen Nationen sowie der relativ eigenständig ausformulierten Südperspektive aus der Peripherie

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der Geopolitik des Wissens kann es zu Recht als eines der einflussreichsten Konzepte der Postcolonial Studies avant la lettre gelten. Einer der Protagonisten dieses Ansatzes, Pablo Gónzalez Casanova, definiert: »Internal colonialism corresponds to a structure of social relations based on domination and exploitation among culturally heterogeneous groups. If it has a specific difference with respect to other relations based on superordination, it inheres in the cultural heterogeneity which the conquest of some peoples by others historically produces.« (Gónzalez Casanova 1965: 33, zitiert nach Kay 1989: 66)

Mit dem Verweis auf die Fortdauer und Aktualisierung der mit spanischen Conquista etablierten kolonialen Differenz und dem daran anschließenden rassistischen Klassifikationssystem ist die Nähe zu den hier bereits genannten Ansätzen der neuen lateinamerikanischen Kolonialitätsstudien deutlich erkennbar. Entsprechend fasst Walter Mignolo die Konjunktur interner Kolonialisierung wie folgt zusammen: »internal colonialism is the reformulation of the colonial difference within the formation of the modern nation-state after decolonization.« (Mignolo 2000: 197) Dabei kann der interne Kolonialismus jedoch nicht nur als Praxis der postkolonialen Staaten in Allianz mit transnationalen Akteuren wie den Regierung der Zentren und transnationalen Konzernen begriffen werden. Entsprechend definiert Boaventura de Sousa Santos: »es handelt sich um eine umfassende soziale Grammatik, die die Gesellschaft, den öffentlichen Raum, den Privatraum, die Kultur, die Mentalität und die Subjektivität durchdrängt« (2010: 32). 10 In temporaler Hinsicht besteht der Mehrwert dieser konjunkturellen Temporalität darin, dass sie die in den 1960er Jahren im Rahmen der Modernisierungstheorie etablierte starre Dualismus-These von der Existenz zweier Zeiten, der fortschrittlichen Moderne und dem rückschrittlichen Traditionalismus, denen bestimmte Räume und soziale Gruppen zugeordnet wurden, aufgebrochen hat. Galt es zuvor, die »rückschrittlichen« Bereiche nach dem Vorbild westlicher Moderne zu entwickeln, so richtete der Ansatz des internen Kolonialismus den Blick auf die synchrone und asymmetrische Verflechtung. In historischer Hinsicht ist die Konjunktur interner Kolonialisierung eng verbunden mit den lateinamerikanischen Projekten des Nation-Building, sodass sie erst in den 1970er Jahren – mit der zunehmenden Krise des Nationalstaates, dem Erstarken indigener Bewegungen und der Durchsetzung neoliberaler Politiken – deutlich abebbte. Mit diesem Blick auf Konjunkturen kann das Verständnis kolonialer Differenz nachhaltig dynamisiert werden. Doch besteht weiterhin das Problem, dass der Fokus auf die langen und mittleren Temporalitäten des Kolonialen allein auf die Herr-

10 Alle spanischsprachigen Zitate wurden von dem Autoren ins Deutsche übersetzt.

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schaftsverhältnisse gerichtet ist und dabei die taktische und strategische Handlungsmacht vor allem von subalternen Gruppen außer Acht lässt. (Larson 2004: 4, Adelman 1999) Um nicht über die kritische Analyse von Kolonialität und Konjunkturen der Kolonisierung paradoxerweise zu einer Reifizierung des Kolonialen beizutragen, sollen hier gerade auch Konjunkturen der Dekolonialisierung konzeptuell einbezogen werden. Mit Dekolonialisierung sollten hier alle Dynamiken gefasst werden, die die eingangs genannten Aspekte von Kolonialität – Etablierung eines rassistisch-kulturellen Klassifikationsschemas, eurozentrische Geopolitik des Wissens, Ausbildung spezifischer Insitutionen, koloniale Geopolitik der Verortung – in Frage stellen, unterlaufen, subvertieren oder dekonstruieren. Für Walter Mignolo können dekoloniale Optionen allein aus einer Perspektive der Exterritorialität heraus entstehen. (2012: 95) Doch angesichts der weitreichenden Durchdringung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche, die mit Kolonialität einhergeht, ist diese Perspektive zu eingeschränkt. Aus ihr fallen gerade die Kämpfe heraus, die sich auch im Inneren von Kolonialität herausbilden können. In Anschluss an Michel Foucaults Überlegungen zu Widerstandsformen in der emergenten Pastoralmacht soll hier vielmehr darauf verwiesen werden, dass es gerade auch innerhalb der neu entstandenen (kolonialen) Machtmatrix Potential für gegenläufige, abweichende und widerständige Verhaltensformen gibt. (Foucault 2004a) Da Kolonialität hier nicht als duale Struktur, sondern als komplexer Verflechtungszusammenhang begriffen wird, wirken sich – worauf Frantz Fanon zu Recht hingewiesen hat – Prozesse der Dekolonialisierung sowohl auf die ›Kolonialisierten‹ als auch auf die ›Kolonisatoren‹ aus. 11 Von Konjunkturen der Dekolonialisierung kann jedoch dann erst die Rede sein, wenn verschiedene Ereignisse, die aufeinander bezogen sind und sich durch Diffusion räumlich verbreiten, in der gesellschaftlichen Deutung in Verbindung gebracht werden

11 Auch das gewählte Beispiel des dekolonialen Umsturzes durch die von Phelipe Poma de Ayala verfasste Nueva Coronica macht die Schwäche von Mignolos Argumentation deutlich (Mignolo 2012: 53-54). Denn der »dekoloniale Umsturz« wurde zeitgenössisch nicht wahrgenommen, da die Chronik zur »subalternen Sprachlosigkeit« verdammt war. Auch stand Poma de Ayala keinesfalls außerhalb der kolonialen Matrix, sondern – wie Mary Louise Pratt (1992) überzeugend argumentiert hat – stand er in der contact zone zwischen der andinen und der kolonialen Welt. Die Chronik wurde weder gelesen noch war sie eine Referenz für Konjunkturen der Dekolonialisierung. Das Einbringen der Konjunktur in die wissenschaftliche Debatte erfolgte über den deutschen Historiker Pietschmann, der sie auf dem Fachkongress der ICA vorstellte. Erst durch die Rezeption im akademischen Feld konnte sie dann als anti-koloniales Zeugnis verstanden und allmählich von Bewegungen angeeignet werden. Dekolonialisierung erfolgte hier also keinesfalls von einer Position der Exteriorität, sondern in einem komplexen historisch wandelbaren Feld.

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können. Dabei ist danach zu fragen, wann Konjunkturen der Dekolonialisierung so weit reichen, dass Kolonialität auf Druck des Widerstandes nicht nur erneuert wird, sondern ein grundlegender Bruch oder »dekolonialer Umbruch« (Mignolo 2012: 53-54) erfolgt, der einen neuen gesellschaftlichen Erwartungshorizont eröffnet. (Quijano 2009: 111) Um konjunkturelle Veränderungen im Raum zu erfassen, bieten sich die Begriffe an, die Bewegungsräume statt Territorialisierungen erfassen. Zu denken sind an Konzepte wie »routes« oder »Itinerarien« (Kaltmeier 2008). Für die vorliegende Arbeit wurde hierzu auf das Konzept der Diffusion zurückgegriffen, da in der kolonialen Landnahme und der damit verbundenen Bewegung von Militärs, Entdeckern, Eroberern, und Siedlern von einem Raum in einen anderen Raum Expansion und Diffusion angelegt sind. (Osterhammel und Jansen 2009: 8-15) Um Diffusion handhabbar zu machen, ist ein Rückgriff auf die in der Sozialgeographie definierte Diffusionsart der expansiven Diffusion besonders hilfreich. Diese beschreibt eine Ausbreitung von Informationen oder Artefakten von einem Ort (Einkerndiffusion) oder mehreren Orten (Mehrkerndiffusion) aus, wobei die mit dem Expansionsprozess verbreitenden Informationen oder Dinge auch in der Herkunftsregion fortbestehen und sich sogar verstärken können. (Haggett 1991: 385) In Hinblick auf die räumliche Diffusionsdynamik können sich dann verschiedene Diffusionsstadien entwickeln, die von einem Anfangsstadium über das Diffusionsstadium bis hin zum Verdichtungs- und letztlich zum Sättigungsstadium reichen. (Haggett 1991: 388) Zu fragen wäre dann entlang welcher Kanäle, über welche Medien und in welcher Geschwindigkeit die Diffusion – hier insbesondere Dynamiken der Kolonialisierung oder Dekolonialisierung – erfolgt, und auf welche Barrieren und Grenzen sie stößt. Diese Fragen sind auch für die Politikgeschichte höchst relevant, wie Cox und Demko mit dem Diffusionsmodell von Bauernaufständen in der Ukraine für die Zeit zwischen 1905 und 1907 herausgearbeitet haben. (Cox und Demko 1967) Doch während in der Diffusionsgeographie der 1970er und 1980er Jahre (siehe hierzu Hägerstrand 1968) hauptsächlich eine Konzentration auf die mathematische Berechnung und Kalkulation von Diffusionsprozessen stattfand, soll hier nach den sozialen und politisch-kulturellen Dimensionen gefragt werden. Entsprechend lässt sich auch soziologisch und sozial-historisch nach den Multiplikatoren bzw. den sozialen Gruppen fragen, über die die Diffusion von Moden, Innovationen und Politisierungsprozesse erfolgt oder die sie blockiert. Gerade in kolonial fragmentierten Gesellschaften ist davon auszugehen, dass politische Diffusionsprozesse kulturellen Übersetzungslogiken, Artikulations- und Transkulturationsprozessen unterliegen müssen, um kulturelle Grenzen zu überwinden und expandieren zu können. In der Geographie wurden solche Kontaktfelder zwischen unterschiedlichen Gruppen zumeist verkürzt in Hinblick auf räumliche Nähe sowie der räumlichen Differenzierung in Zentren und Peripherien betrachtet. In den Postcolonial Studies hingegen rücken mit den Begriffen der »Translation«

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(Mignolo 2000), »Transkulturation« (Ortiz 1940), und »Kreolisierung« (Hannerz 1996) gerade die kulturellen Kontakte und Verflechtungen in den Blick. Entsprechend hat Mary Louise Pratt das Konzept der contact zone eingeführt, um Transkulturationsprozesse in kolonialen Kontexten verorten zu können. Pratt (1991) definiert contact zones als »social spaces where cultures meet, clash, and grapple with each other, often in contexts of highly asymmetrical relations of power, such as colonialism, slavery, or their aftermaths as they are lived out in many parts of the world today.« Damit verbindet Pratt die poststrukturalistische Frage hybrider Identitäten mit dem post-kolonialen Fokus auf durch Kolonialität etablierte Machtasymmetrien. Als Literaturwissenschaftlerin interessiert sich Pratt besonderes für die an diesem Ort stattfindenden Dynamiken der Transkulturation und der strategischen Positionierung von Subalternen durch Auto-Ethnographien. Hiermit liegt bei Pratt wie auch bei ähnlich gelagerten post-modernen ambivalenten oder hybriden Konzepten des Zwischenraums oder Third-spaces die lokale, konfliktive Aushandlung von Identität, Kultur und Politik im Zentrum des Interesses. In dieser Arbeit möchte ich diese Gedanken aufgreifen, dabei jedoch nicht nur den Blick auf die Aushandlungsprozesse und deren Narrative in ihrer Verortung in der Kontaktzone richten, sondern danach fragen, wie hier produzierte Deutungsrahmen, (auto-ethnographische) Narrative und politische Anliegen raum-zeitlich diffundieren. Um diese Dimension zum Ausdruck zu bringen, verwende ich in dieser Arbeit den Begriff der »Schnittstelle« (Halbach 1994), der es ermöglicht, die Diffusionsansätze der Sozialgeographie mit der kulturell-politischen Logik des Übersetzens zu verbinden. Schnittstellen können als Berührungs- oder Ansatzpunkte zwischen lokalen Kulturen, sozialen Feldern, oder Akteuren begriffen werden, über die der Kommunikationsfluss gewährleistet wird, sodass Ideen, Konzepte, Anliegen räumlich und zeitlich diffundieren können. Besonders in von Kolonialität geprägten, asymmetrischen Kontexten ist immer auch der Abbruch von Kommunikation möglich. Aber auch zwischen den Polen des wechselseitigen Verständnisses und des Abbruchs der Kommunikation gibt es eine Reihe von Positionierungen. Post-koloniale Theoretiker haben mit dem Konzept der »post-kolonialen Mimikry« (Bhabha 2000) auf die strategischen und taktischen Formen der Positionierung in asymmetrischen Interaktionen hingewiesen. Entsprechend wird – gerade von Subalternen – in der Kommunikation und Interaktion immer auch – zum Teil habitualisiert – die soziale und politisch-kulturelle Position des Gegenübers reflektiert und eingeschätzt, um sich dann strategisch dazu in Position zu bringen. (vgl. hierzu beispielhaft für das identitätspolitische Feld Kaltmeier und Thies 2012) Insofern ist hier auch die englische Übersetzung inter-face weiterführend. Um Kommunikation zwischen (inter) Akteuren herzustellen, muss man den Gegenüber anschauen (face) und erkennen. Neben dem Verbindenden macht der Begriff Schnitt-Stelle aber auch deutlich, dass die Kommunikation immer fragil ist. Eine Schnittstelle steht immer

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auf des Messers Schneide. Sie ist ein cutting edge, an dem Kommunikation scheitern kann. Dies gilt in ganz besonderem Maße auch für das Feld des Politischen. Damit konjunkturelle Wellen mit den Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens – zum Teil auch über die Grenzen des bisher Sag- und Machbaren – Gegenstand einer breitenwirksamen und nachhaltigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung werden können, bzw. diesen Stellenwert wieder verlieren, werden hier die Begriffe der Politisierung bzw. der Depolitisierung eingeführt. Politisierung wirkt darauf hin, bisher nicht im Raum des Politischen verhandelte und umkämpfte Sachverhalte, Anliegen und Forderungen in eine breitenwirksame gesellschaftliche Debatte einzubringen, sodass diese überhaupt hörbar und verstehbar werden. Depolitisierung hingegen zielt – als intentional angewandte Strategie von sozialen Akteuren – darauf ab, bisher als politisch betrachtete Themen aus dem politischen Feld in andere gesellschaftliche Felder zu verlagern. Als Sonderfall kann hier die Entpolitisierung betrachtet werden, bei der ein politischer Gegenstand an gesellschaftlicher Bedeutung verliert und somit nicht mehr breitenwirksam und nachhaltig an den Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens ansetzt. Dies kann der Fall sein, wenn die Durchsetzung politischer Maßnahmen – einschließlich Kooptationsstrategien – das Konfliktfeld verlagert haben. So hat in Ecuador nach der Durchführung der (begrenzten) Agrarreformen der 1960er und 1970er Jahre der sozialistisch orientierte Kampf um Land durch indigen-bäuerliche Organisationen an Bedeutung verloren und wurde von einer politischen Konjunktur anerkennungsorientierter ethnischkultureller Fragen überlagert. Politisierung und Depolitisierung verweisen in dem aktiven Modus auf diskursive und nicht-diskursive Praktiken und somit auch auf gesellschaftliche Akteure. Zu denken ist hier zuerst an politische Bewegungen, die allerdings – worauf Sozialhistoriker wie Eric Hobsbawm (1972) hingewiesen haben – im hegemonialen zeitgenössischen Kontextoft als »Banditen« oder Delinquenten verstanden wurden (zu Lateinamerika vgl. Joseph 1990). Aber auch andere gesellschaftliche Akteure – von Medien über Kulturproduzenten, Kirche, Nichtregierungsorganisationen bis hin zu staatlichen Institutionen positionieren sich in Konjunkturen von Politisierung und Depolitisierung. Jüngere Arbeiten der politischen Anthropologie und der Neuen Politikgeschichte haben darauf hingewiesen, dass der Staat selber eine »Topographie der Macht« (Ferguson 2007) und eine Semantik der Staatlichkeit produziert. Diese ist von der Vorstellung geprägt, dass Staatsmacht von »oben«, von einem Zentrum der Macht, nach »unten« auf das gesamte abstrakte Territorium durchgesetzt wird. Über Techniken wie nationale Statistik, Kartographie, (Staatsbürger-)Bildung, Vereinheitlichung von Sprache etc. (re-)produziert der Staat beständig die geographische Imagination eines territorialen Behälterraums. (Vgl. Hansen und Stepputat 2001, Das und Poole 2004, Ferguson 2007, Behrisch 2006.) Dabei sind die Politisierungsstrategien des Staates

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nicht nur reproduktiv, sondern oft auf Diffusion und Expansion angelegt. Insbesondere für den fordistischen Staat der Nachkriegszeit wurde auf Strategien der »Kolonialisierung der Lebenswelt« durch die Systeme von Kapital und Verwaltung hingewiesen. (Habermas 1985) In ähnlicher Weise hat Henri Lefebvre diese Aspekte unter dem Schlagwort der »Bürokratisierung der Gesellschaft« räumlich-politisch gefasst, indem er in seiner Raumtheorie die qualitative und quantitative Zunahme von »Representations of space, which are tied to the relations of production and to the ›order‹ which those relations impose« (Lefebvre 1991: 33) beobachtete. Lefebvre denkt hier vor allem an die Konzeptualisierung von Raum durch Planer, Kartographen und räumliche Entwicklungsprogramme, die zumeist staatlich vermittelt ist. (1991: 38-39) Eine derartige Regulation und Repräsentation von Raum kann hier durchaus als Depolitisierung begriffen werden, auch wenn sich an den konkreten Umsetzungen oft auch Konflikte entzünden können.

V ER -R ÜCKUNG – F ISSUREN

UND

B RÜCHE

Angesichts dieser Dynamiken der Depolitisierung und Erneuerung der kolonialen Matrix kommt vor allem dem Ereignishaften eine besondere Bedeutung für Veränderung zu. In verschiedenen poststrukturalistischen Ansätzen findet sich entsprechend eine äußerst singuläre und ereignishafte Konzeptualisierung von Politik. In Jacques Rancières enger Politik-Definition ergibt sich Politik nur in den seltenen Momenten der Unterbrechung der herrschenden Ordnung, bei denen die grundlegenden Verteilungsregeln der politischen Gemeinschaft neu arrangiert werden. Dies geschieht, wenn sich ein »Anteil der Anteilslosen« so formieren kann, dass er im Raum gesellschaftlicher Kommunikation hörbar wird. (Rancière 2002) Ähnlich beschränkt auch Alain Badiou Politik auf ein singuläres Ereignis: »Das Wesen der Politik ist […] die Präskription einer Möglichkeit, die mit dem, was ist, bricht.« (Badiou 2003: 39) Diese Brüche sind allerdings äußerst selten, so dass Badiou und Žižek sie allein auf die russische Oktoberrevolution anwenden. Dieser Ansatz ist bei Žižek Bestandteil des Versuchs, aus der europäischen Tradition einen »Eurocentrism from the Left« (Mignolo 2002b: 86) zu denken, der von post-kolonialen Denkern auf Grund der Ignoranz der kolonialen Differenz scharf kritisiert worden ist. (Mignolo 2002b, Moraña 2013) 12

12 Interessant ist in Hinblick auf das Verständnis des Politischen die nahezu schizophrene Position von Enrique Dussel. Als Befreiungsphilosoph und Mitglied der Grupo Colonialidad/Modernidad gilt er als einer der Hauptvertreter der lateinamerikanischen Kritik von Eurozentrismus und Kolonialität. In einem jüngst veröffentlichten Buch über das Politische hingegen kommt die Dimension der Kolonialität nahezu kaum auf. Stattdessen spricht er

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Postfundamentalistische politische Philosophie setzt an der unbegründeten Leerstelle des Politischen bei der Gründung von politischer Gemeinschaft an. Damit zeigt sie die Kontingenz politischer Ordnung auf, die auf der bereits benannten »unbegründeten« Verdoppelung von Politik von einem Feld eigener Regeln, das für das Ganze der Gesellschaft steht, beruht. (Marchart 2010) Das Politikum, verstanden als kritisches politisches Ereignis, ist damit in der Struktur der Differenz des Politischen als latente Möglichkeit des Auf-Bruchs eingeschrieben. Die subjektiven und sozialen Sinnzuweisungen, welche beispielsweise in der Debatte um Umverteilung vs. Anerkennung, wie sie paradigmatisch von Axel Honneth und Nancy Fraser geführt wurde, (Fraser und Honneth 2003: 19) zentral sind, sind bei diesem Begriff von Politik irrelevant. An dieser Stelle sind auch die Ansätze um das Konzept der moralischen Ökonomie zu nennen, die sich besonders dazu eignen, Revolten und riotszu erklären. Ausgangspunkt ist die Überlegung des englischen Sozialhistorikers E.P. Thompsons (1980a), dass »leere Mägen«, d.h. Verelendung, nicht mechanisch Protest hervorbringen müssen, vielmehr entsteht Protest dann, wenn ein impliziter Sozialvertrag, eine moralische Ökonomie, von »oben« von den herrschenden Gruppen aufgebrochen wird. Das moralische Element sind also die Sitte und die Forderung, dass Menschen durch ihre Arbeit ihren Lebensunterhalt bestreiten können. E. P. Thompson (1980a) hat dazu bahnbrechende Analysen verfasst, ging allerdings davon aus, dass die moralische Ökonomie mit dem Sieg des industriellen Kapitalismus untergegangen sei. James C. Scott (1976, 1990) allerdings hat mit seiner Analyse der Rationalität vietnamesischer Bauern gezeigt, dass Bauern nicht nur von scheinbar rationalem Verhalten im Sinne der Politischen Ökonomie abwichen, sondern dass sich daraus auch ihr Widerstandspotential verstehen ließ, das in den Kriegen der Mitte des 20. Jahrhunderts in Südostasien eine entscheidende Rolle spielte. (Kaltmeier und Kößler 2011: 73) Was aus diesen Debatten deutlich wird ist, dass es für das Projekt einer neuen Politikgeschichte, komplementär zu der offenen, dynamischen und multi-spatialen Definition des Politischen, konzeptionell sinnvoll sein kann, ein konfliktives und chaotisches Moment der Unterbrechung, ein kritisches politisches Ereignis oder Politikum, einzuführen. 13 Dieser Bezug auf politische Ereignisse muss allerdings keinesfalls als Rückkehr zu einer traditionellen Ereignisgeschichte des Politischen ver-

sich für eine Übertragung eines europäisch gefassten Bourdieuschen Feldmodells aus – ohne die vom Bourdieu-Übersetzer García Canclini geäußerte Kritik, dass die Felder in Lateinamerika sich meer überlappen und überschneiden als in Europa – aufzunehmen. Politisch spricht Dussel sich für eine sozialdemokratische Variante des Zizekschen »linken Eurozentrismus« aus und schlägt die europäische Union als Modell für die lateinamerikanische Integration vor. (2006) 13 Zur Debatte von Struktur und Ereignis vgl. Hettling und Suter 2001.

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standen werden, wie sie – vor allem von der Annales-Schule – zu Recht kritisiert wurde. Um zu einem Begriff des politischen Ereignisses zu kommen, der eine strukturelle Dimension hat, ohne allerdings politischen Konflikt allein aus der Differenz des Politischen abzuleiten, bietet sich ein Anschluss an Pierre Bourdieu an. Ingrid Gilcher-Holtey (2001) hat das bourdieusche Konzept des »kritischen Ereignisses« bzw. des »kritischen Moments« aufgearbeitet und für die Geschichtswissenschaft am Beispiel der Revolten von 1968 in Paris fruchtbar gemacht. Im Folgenden möchte ich hieran anschließend den Begriff des politischen Ereignisses, des Politikums, in das oben umrissene Konzept des Politischen einschreiben. Als erstes ist zu sagen, dass das Politikum immer als ein singuläres politisches Ereignis begriffen werden kann, das einen Bruch mit dem Gewohnten bedeutet. Zweitens synchronisiert das Ereignis die Wahrnehmung insofern, als dass es überindividuellen, kollektiven Charakter annehmen und damit breitenwirksam werden muss. Dazu müsste es – so kann mit Jacques Rancière (2002) argumentiert werden – in der politischen Kommunikation hörbar und verstehbar werden. Drittens muss es Erwartungen und Ansprüche abbilden und hervorrufen, worüber – in Abgrenzung zu den etablierten Gruppen – kollektive Konfliktidentitäten geschaffen werden. Viertens muss es einen Zwang zur Stellungnahme hervorrufen. D.h. es bildet sich eine Konstellation von Akteuren, ein neuer politischer Kommunikationsraum aus, der auf das Politikum reagiert und in dem die Regeln und Normen des politischen Zusammenlebens neu ausgehandelt werden. Damit kann dann aber – so Rancière – das Politikum wieder »eingehegt« und den Verrechnungen polizeilicher Gouvernementalitätstechniken unterworfen werden. (Rancière 2002) Ein solcherart umrissenes Politikum ist in zeitlicher Hinsicht als Ereignis relevant. In dem braudelschen Ansatz der Zeitebenen kommt der histoire événementelle nur die Rolle oberflächiger Ereignisse zu, die – von kurzer Dauer – die tieferliegenden Strukturen kaum berühren. Dabei können Ereignisse allerdings durchaus chaotisch und Ausdruck von Kontingenz sein. Reinhart Koselleck unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Ereignissen, die aus dem Erwartungshorizont für die Zukunft abgeleitet und somit partiell vorhersehbar sind, und dem zufälligen Ereignis. Letzteres stellt in der modernen Geschichtsschreibung eine quasi »ahistorische Kategorie« dar, die zwar nicht ungeschichtlich ist, die aber im Rahmen der Geschichtswissenschaft nicht erfasst werden kann. (Koselleck 1989: 158-179) Im Zuge post-moderner Debatten und einer weitgehenden Skepsis gegenüber dem gesetzmäßigen Ablauf von Geschichte hat der Begriff historischer Kontingenz und des Ereignisses an Bedeutung gewonnen. (Bunz 2005) Damit ist die Offenheit und auch Unplanbarkeit von Geschichte gerade auch in Hinblick auf das Politische gegeben (Toens und Willems 2012: 14), nach dem Motto, dass immer auch Anderes oder Neues möglich ist. Gerade auch in Bezug auf Kolonialität sind kontingente Ereignisse, die aus dem vorhersehbaren Zeitfluss ausbrechen und neue Zyklen initiieren, relevant. Kontin-

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genz kann durchaus auch Tiefenwirkung entfalten. So ist die Kolonisation der Amerikas selber als ein solches Ereignis zu interpretieren. Ex post ließe sich die ›Entdeckung Amerikas‹ vielleicht noch aus den Erfahrungen der Welterschließung – nach der Kolonisation der Kanarischen Inseln und der Azoren – erklären (vgl. Bitterli 1991), aus der Perspektive der Eroberten allerdings stellte die Conquista ein zufälliges Ereignis dar, das in keinster Weise mit ihren emischen historischen Erfahrungen in Verbindung stand. Der Historiker José Bengoa interpretiert die Conquista und die anschließende Kolonialisierung als ersten und entscheidenden Bruch in den Amerikas: »Es gibt keine Möglichkeit, nicht einmal in der Sprache, eine Kontinuität zwischen dem vorhergehenden Indigenen und dem Nachfolgendem Kolonialen herzustellen. […] Dies ist der erste, der große und definitive Bruch. Die andine Welt z.B. blieb von diesem Moment an zerbrochen. Es gibt bis zum heutigen Tag keine Erholung von diesem Bruch. Ohne diesen Bruch versteht man gar nichts.« (Bengoa 1999: 151) 14 Was Bengoa hier nahe legt, ist, Ereignisse nicht im Sinne der Ereignisgeschichte als chronologische Abfolge zu denken, sondern sie in Beziehung zu setzen zu Temporalitäten langer und mittlerer Dauer. Denn, so Koselleck: »Es wäre irrig, den ›Ereignissen‹ eine größere Wirklichkeit zusprechen zu wollen, als den sogenannten Strukturen, nur weil die Ereignisse im konkreten Ablauf des Geschehens dem empirisch einlösbaren Vorher und Nachher der naturalen Chronologie verhaftet bleiben« (Koselleck 1989: 152) Insofern interessieren die Ereignisse hier nicht in ihrer chronologischen Abfolge, sondern in ihrer Verbindung zu Kolonialität und Konjunkturen der De-Kolonialisierung. Sie markieren Wendepunkte, in denen sich deutlich eine Abhebung zu oder gar ein Bruch mit bestehenden Sinn- und Deutungszusammenhängen, Institutionalisierungen und habitualisierten Routinen zeigt. Diese Vorstellung eines historischen Bruchs ist in seiner geschichtspolitischen Dimension wohl am deutlichsten in dem religiös-philosophischen Konzept des Kaíros, des rechten Zeitpunkts, angelegt. Dabei wird der Kairos in dem messianischen Denken Benjamins als Erwachen beschrieben, in dessen Folge der Lauf der Geschichte angehalten wird. (Gagnebin 2001: 83) Kurz gesagt ist es das Moment, das die schlechte Unendlichkeit des Ablaufs der Geschichte unterbricht, oder – um mit Giorgio Agamben zu sprechen – das Moment der Außerkraftsetzung des Gesetzes. Dabei hat der Kairos als ein kontingentes Ereignis selber eine geschichtliche Dimension, da sich hier die Ansprüche des Vergangenen mit denen des Gegenwärtigen kreuzen. (Benjamin 1965: 82) Gerechtigkeit schließt hier nicht nur die Gegenwärtigen, sondern auch die vergangenen oder vorhergegangenen Kämpfer ein.

14 Bengoa schrieb diesen Text vor der massiven Indigenisierung der Volksbewegungen in den Anden und dem Amtsantritt von Evo Morales 2006, als erstem indigenen Präsidenten Boliviens.

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Eine ähnliche messianistische Vorstellung von geschichtlichen Ereignissen der Unterbrechung ist auch im Andenraum zu finden. An erster Stelle ist der InkarriMythos zu nennen, der prophezeit, dass der von den spanischen Kolonisatoren ermordete und zerstückelte Inka wieder zusammenwachsen und wiederkehren würde. Dieser Mythos ist tief im politischen Unterbewusstsein andiner Kulturen verankert und konnte in Situationen des Aufbrechens der etablierten politischen Ordnung – so beim andenweiten, anti-kolonialen Aufstand unter Tupac Amaru II, Tupac Katari und Tomás Katari – erneuert werden (Flores Galindo 1987, Thomson 2002) Mit dem Rückbezug auf die Zeit vor des durch die Ermordung des Inka symbolisch eingeleiteten kolonialen Bruchs, ist auch ein Verweis auf historische Gerechtigkeit enthalten. Das Bewusstsein von der Möglichkeit eines geschichtlichen – oder gar kosmologisch-temporalen Bruchs im Sinne einer Zeitenwende – wird in dem messianischen Konzept von Pachakutic ausgedrückt. Daran schloss auch explizit die indigene Bewegung in den 1990er Jahren an, die für 1990 die Möglichkeit zur Unterbrechung des Laufs (kolonialer) Geschichte ausmachte. So schilderte der Schamane Alberto Taxo die Motivation der aufständischen indigenen Bauern folgendermaßen: »Sie wussten, dass sie eine wichtige Mission erfüllen, negativ, aber wichtig, um die Zeitenwende (Pachakutic) von 1490 zu 1990 zu beginnen. […] Ohne die diesem Moment innewohnende Kraft zu verlieren und auf dem natürlichen Weg zur nächsten Zeitenwende, fingen wir seit 1990 an, unsere Lebensform zurückzugewinnen und zu wachsen.« (Taxo 1993: 214-125).

Diese Momente der Negation des Bestehenden und des utopischen Erwartungshorizonts wurden in der indigenen Bewegung in politisches Handeln übersetzt. So nennt sich die 1995 gegründete politische Bewegung der Indigenen, die mit dem Banner der inkaischen Regenbogenfahne antritt, Bewegung der Plurinationalen Einheit Pachakutik (Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik). Die in der Geschichtswissenschaft oft angestrebten Versuche der rein zeitlichen Bestimmung und Einordnung von Ereignissen beschneiden diese allerdings um die gerade aus der Akteursperspektive leibliche Verankerung im Jetzt und Hier. Der Historiker Karl Schlögel bringt diese Verquickung von geschichtlichen Ereignissen und Raum wie folgt auf den Punkt: »History takes place«. (Schlögel 2006: 70) Entsprechend sind historische Ereignisse oft auch untrennbar mit konkreten Orten verbunden wie die Französische Revolution mit dem »Sturm der Bastille« und das Ende des Sowjet-Imperiums mit dem »Fall der Berliner Mauer«. Hieran anschließend kann jedoch auch weiterführend argumentiert werden, dass jedem Ereignis immer eine räumliche Dimension der Verschiebung (dislocation) inhärent ist. Dies betrifft gerade auch die Kolonialisierung, da hier mit der Landnahme die geographischen Orte neu besetzt und in neue Beziehungsgefüge gebracht werden.

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Ein Ereignis tritt ein, und zwar von einem Raum in einen anderen. Es passiert, womit eine räumliche Verschiebung (passage) gemeint ist. Es verrückt die bisher bestehende Ordnung, womit die geltenden Regeln und Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht mehr unhinterfragt wirken können. Es kann zu Fissuren, Ver-Rückungen oder gar zu einem nachhaltigen Bruch kommen. Räumlich ist dies als Entortung zu verstehen. Dies kann materiell die Dimension der Vertreibung oder des Genozids beinhalten, oder aber auch epistemologisch-kulturell als Entzug des locus of encunciation begriffen werden. Die jüngst Kolonialisierten haben ihre Sprecherposition und die habitualisierten, gemeinsam geteilten Sinn- und Handlungszusammenhänge verloren. Ihre Stimmen werden – so könnte man mit Ranciere sagen – nur als Lärm wahrgenommen, nicht als artikulierte Anliegen. In einem weiteren Schritt erfolgt dann zumeist eine – wie oben dargelegte – neue Politik der Verortung, die den Subalternen in der Kolonialität geographische, soziale, politische, ökonomische und kulturelle Orte zuweist. Gerade die Ver-Rückung von diesen Orten eröffnet allerdings auch den Raum für Protest. Ein illustrierendes Beispiel aus dem US-amerikanischen Kontext ist die Weigerung der schwarzen Bürgerrechtlerin Rosa Parks am 1. Dezember 1955 in Montgomery – dem rassistischen Klassifikationsschema räumlicher Segregation entsprechend – ihren Sitzplatz für einen weißen Fahrgast zu räumen. An dieses singuläre verrückte Ereignis knüpfte eine afro-amerikanische Protestbewegung an, die eine neue Dynamik der Dekolonialisierung in Gang setzte. Im Rahmen dieser Studie stellt die Besetzung der Kathedrale Santo Domingo in Quito 1990 ein ähnlich ver-rückendes Ereignis dar, da hier Indigene einen zuvor funktional anders belegten, symbolischen Raum besetzten und von hier aus eine neue Sprecherposition erlangten, die ihnen national und international Gehör verschaffte. Darüber hinaus wandten die indigenen Bewegungen immer wieder verschiedene räumliche Protestformen von Landbesetzungen, über Märsche und Demonstrationen bis hin zu Straßenblockaden an, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die nachfolgenden neoliberal-multikulturellen Befriedungspolitiken verweisen allerdings darauf, dass jedes verrückende Ereignis und jede daran anschließende Konjunktur der Dekolonialisierung immer auch Konjunkturen der Kolonialisierung und Versuchen der Wiederherstellung der politisch-kulturellen Matrix der Kolonialität unterliegen. Aus diesen Dynamiken ist gerade auch die Wissensproduktion nicht ausgenommen. Es ist das besondere Verdienst der Grupo Colonialidad/Modernidad, auf die zentrale Dimension der Wissensproduktion für die Genealogie und Perpetuierung der Matrix der Kolonialität hingewiesen zu haben. Für die vorliegende Arbeit ergibt sich hieraus die Notwendigkeit, das Verhältnis von Geopolitik des Wissens und historischer Wissensproduktion selbstkritisch zu reflektieren.

Geopolitik des Wissens und historische Forschung

Ein Blick in die Geschichte europäischer Expansion macht deutlich, dass die Akkumulation von Wissen integraler Bestandteil der kolonialen Projekte war. Seit den ersten kolonialen Kulturkontakten in der Frühen Neuzeit waren Zählen, Vermessen und Klassifizieren die Methoden, um Wissen über den ›Anderen‹ zu erlangen und dabei eine Machtrelation zwischen Forschenden und Erforschtem, Subjekt und Objekt zu etablieren. Hierbei wird das modern-rationale Subjekt als Ausgangspunkt der Wissensproduktion definiert. Diese ego-zentrische Perspektive geht in einen westlichen Ethno-Zentrismus über, bei dem andere Wissenssysteme als irrational oder abergläubisch abgewertet werden. In einem weiteren Schritt wird diese lokale Wissensproduktion als allgemeine Wahrheit deklariert und mit Konnotationen von Zivilisation, Fortschritt und Entwicklung belegt, die eine universelle Gültigkeit beanspruchen (Waldenfels 1991: 61). Epistemologisch führt dies, wie die indigene Forscherin Linda Tuhiwai Smith betont, zu folgender Tautologie: »Die Globalisierung von Wissen und westlicher Kultur bestätigt permanent das Selbstbild des Westens als Zentrum legitimen Wissens, als Schiedsrichter dessen, was als Wissen anerkannt wird, und als Quelle von zivilisiertem Wissen. Diese Form lokalen Wissens wird allgemein als universelles Wissen betrachtet« (Smith 1999: 63). Angesichts dieser »epistemologischen Gewalt« geht es darum, die Art und Weise, wie Wissen akquiriert wird, zu dekolonialisieren und zu demokratisieren, um Geschichte multiplizieren zu können und damit – wie der indische Theoretiker Dipesh Chakrabarty (2000) fordert – den privilegierten Status Europas zu provinzialisieren. Chakrabarty wendet sich dabei gegen die Imagination eines »hyperrealen« Europas, das über seine tatsächliche Bedeutung hinaus die Deutungsrahmen und Epistemologien auch in nicht-westlichen Ländern bestimmt, was in besonderem Maße das Geschichtsverständnis betrifft: »Europe works as a silent referent in historical knowledge.« (Chakrabarty 1992: 2) Historiker aus dem globalen Süden müssen sich auf Europa als Referenten beziehen, während die Geschichte der ›Dritten-Welt‹ allenfalls als Residualkategorie der ›außer-europäischen Geschichte‹ frei nach dem Halleschen Diktum vom »West and the rest« (1992) in der westlichen Geschichtswissenschaft

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seinen Ort hat. Darüber hinaus ist nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form und Narrativität der Geschichtsschreibung (White 1991) von der westlichen Disziplin geprägt. Verschärft wird diese Problematik zudem, wenn die strukturelle Heterogenität der Gesellschaften des Andenraums ernst genommen und nicht eine ›ecuadorianische‹ Nationalgeschichte geschrieben werden soll. Dann muss die Verflechtung subalterner Sektoren, in diesem Fall indigener, ländlicher Gemeinden im Andenhochland, mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen erfasst werden. In diesem Sinne scheint es unmöglich, eine ›reine‹ subalterne Geschichte zu schreiben. Stattdessen aber wäre es möglich, Konzepte wie Verflechtung, Übersetzung, Transkulturalität in den Mittelpunkt zu stellen, bei der sich auch der Historiker selbstreflexiv seiner Rolle im Forschungsprozess vergewissert. Für den Historiker ergibt sich in Hinblick auf subalterne Geschichte die doppelte Aufgabe, dass er einerseits die akkumulierten Wissensbestände und Archive in Hinblick auf die koloniale Produktion von Wissen hinterfragen muss. Und andererseits muss er sich bemühen, subalternes Wissen – das kaum in den hegemonialen Wissensspeichern archiviert ist – sicht- und hörbar zu machen. Für Letzteres bietet es sich für den Historiker an, auf die Sozialanthropologie, Ethnohistorik und Postcolonial Studies zuzugehen.

P OSITIONEN UND ANSÄTZE ZUR D EKOLONIALISIERUNG DES W ISSENS Ausgehend von der von Eric Wolf formulierten Kritik, dass der Westen nichtwestliche Gesellschaften als »Völker(n) ohne Geschichte« (Wolf 1986) wahrnehme, ist es der interdisziplinären Zusammenarbeit von Ethnologen und Geschichtswissenschaftlern im Bereich der Ethnohistory gelungen, Wissen über und die Geschichte von ethnischen Gruppen und Völkern zu rekonstruieren und dabei die hegemonialen Geschichtsmodelle wenigstens partiell zu korrigieren. In Frankreich zeugen die Arbeiten von Fernand Braudel, Marc Bloch und Lucien Fèbvre von einem steigenden Interesse an ethnologischen Methoden und Theorien in der Geschichtswissenschaft, die dann in ein dynamisches Feld der Ethnohistory mündeten, zu dessen herausragende Vertreter Nathan Wachtel und Serge Gruzinski gehören. Trotz der Annäherung an die Sozialanthropologie verblieb die anglo-US-amerikanische Ethnohistory oft innerhalb etablierter methodologischer Bahnen. Es fehlte – besonders in der US-amerikanisch orientierten Strömung – eine dialogische, kritische Quellenlektüre, da es oftmals darum ging Faktenwissen zu generieren. Zudem blieb die Ethnohistory seltsam distanziert gegenüber den Ansätzen der Oral History, die in den USA in Bereichen der afro-amerikanischen Anthropology und der Folk Studies als etabliert galten. (Harkin 2010: 124, Krech 1991)

G EOPOLITIK DES W ISSENS | 51

Dies galt in der Regel zwar auch für die Ethnohistory in Ecuador, doch unter dem Eindruck der New Left und neo-marxistischer Ansätze der 1970er Jahre betonte Segundo Moreno Yañez 1 in seiner Bestandsaufnahme und Positionsbestimmung der Ethnohistory in Ecuador die Bedeutung der kritischen Quellenanalyse und des Einbezugs der Oral History (Moreno 1981b: 21-44). 2 In den USA stand das Aufkommen der Ethnohistory allerdings nicht nur unter dem Eindruck ethnologischer Forschung, etwa dem Kulturrelativismus Franz Boas, sondern war maßgeblich beeinflusst von der Indigenen-Politik der USamerikanischen Regierung der späten 1940er Jahre (Harkin 2010). In analoger Weise verblieb auch die einflussreiche mexikanische Escuela Nacional de Antropología Historia auf den assimilatorischen Pfaden der im Rahmen des Indigenismo durchgeführten staatlichen Mestizisierungspolitik. Diese Perspektive ist durchaus auch in der ecuadorianischen Ethnohistory – trotz des angedeuteten kritischen Potentials – angelegt. Diese Ansätze zeichneten sich über die politische Verflechtung hinaus durch eine höchst ungleichgewichtete Forschungsperspektive aus. Es war das okzidentale, zumeist männliche Forschersubjekt, das gemäß dem Kanon moderner Wissenschaft Wissen über das Forschungsobjekt generierte. Seit Ende der 1970er Jahre wurde diese Einbahnstraßensituation der Forschung zunehmend durch poststrukturalistische, post-moderne und post-koloniale Theorien in Frage gestellt. In einer selbstkritischen Annäherung wurden dabei die Konstruktion des Anderen, die anthropologischen Narrative und die Beziehungen zum Anderen im Feld sowie der Einsatz des Wissens über den Anderen hinterfragt. Edward Said (1978) untersuchte beispielsweise in seinen bahnbrechenden Studien zum Orientalismus, wie eine Imagination des Orients durch den wissenschaftlichen Diskurs der Orientalisten in Europa konstruiert wurde. Das derart konstruierte Vexierbild diente dann als Projektionsfläche für die eigene Identität des Okzident, des Westens. Vor dem Hintergrund der Kollaboration der Sozial- und Kulturwissenschaften mit kolonialen Projekten wurde in der Sozialanthropologie die Notwendigkeit einer kompromisslosen Selbstkritik eingefordert. Von nun an ist nicht mehr der Andere oder Fremde das privilegierte ›Objekt‹ der Ethnologie, sondern mit der selbst-

1 Durch die Promotion von Segundo Moreno bei dem Bonner Ethnohistoriker Udo Oberem sind die Querbezüge zum deutschen akademischen Feld offenkundig. Es scheint allerdings, dass Oberem die ecuadorianische Diskussion weitaus stärker prägte als die deutsche. Denn in der letzteren führte die Ethnohistory als eigenständiges Feld ein Nischendasein. 2 Zu nennen ist die Ende der 1970er Jahre etablierte Reihe Colección Pendoneros, Ethnohistory Ecuadors, die vom Instituto Otavaleño de Antropología herausgegeben und durch die Banco Central del Ecuador finanziert wurde.

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reflexiven Wende geht es nun, um es mit Foucault zu formulieren, um eine »Ethnologie der Kultur, der wir angehören« (Foucault 1993: 12). Diesen Perspektivwechsel hin zu einer Anthropologie des Selbst beschreibt der Sozialanthropologe Paul Rabinow folgendermaßen: »Wir bedürfen keiner Theorie indigener Epistemologien oder einer neuen Theorie der Erkenntnis der Anderen. Wir sollten auf unsere historische Praxis achten, nämlich die Praxis, unsere kulturellen Praktiken auf die Anderen zu projizieren« (Rabinow 1995: 168). Schließlich ebnete diese selbst-reflexive Kritik den Weg für eine »Anthropologie der Anthropologie« (ebd.: 185) in der der Forscher zum »Ethnograph des Ethnographen« wird (ebd.: 171). Oder wie Ilan Kapoor in seiner Diskussion der Arbeiten von Gayatri Spivak und dessen Bedeutung für die Entwicklungssoziologie argumentiert hat: »Man kann kein ›fieldwork‹ machen, ohne zuvor das ›homework‹ erledigt zu haben« (Kapoor 2004: 641). Diese Debatte über die epistemologische Position der Anthropologie hatte großen Einfluss auf die Dekonstruktion der Strukturen hegemonialen Wissens. Ohne Zweifel besteht jedoch ein zentrales Problem dieser Herangehensweise in der Tatsache, dass sie in einem Netz der Selbst-Kritik gefangen bleibt, ohne neue Formen der Forschungspraxis zu formulieren. Zuletzt scheint diese Selbst-Reflexivität die Begegnung mit dem Anderen blockiert zu haben. Vor dem Hintergrund dieser Debatten zeichnet sich eine zweite Welle der Dekolonisation der Methodologien ab, die sich von der ersten darin unterscheidet, dass sie durch indigene Intellektuelle initiiert und vorangetrieben wird. Im Kontext der indigenen Bewegungen und der globalen Konjunktur des Indigenen (was unter anderem in dem »Jahrzehnt der Indigenen Völker« der Vereinten Nationen von 19942004, das anschließend um zehn Jahre verlängert wurde, zum Ausdruck kommt) lässt sich für die erste Dekade des 20. Jahrhunderts ein Aufschwung indigener Methodologien erkennen (Smith 1999; Denin, Lincoln und Smith 2008; Willson und Yellow Bird 2005). Die Maori-Forscherin Linda Tuhiwai Smith schreibt dazu, dass das Projekt des »researching back« in derselben Denktradition steht wie die Ansätze von »writing back« oder »talking back« die die post-koloniale Literaturwissenschaft prägen (Smith 1999: 7). Dieses Aufkommen von indigenen Methodologien ist eng mit den indigenen sozialen Bewegungen und ihrem Kampf für Anerkennung und Redistribution verbunden. In diesem Sinne sind die indigenen Methodologien nicht als neue akademische Disziplin, die der Logik des akademischen Feldes folgt, zu verstehen, sondern müssen als Teil eines breiten Prozesses der Dekolonialisierung verstanden werden. Eine solche Perspektive wird am systematischsten von Tuhiwai Smith zum Ausdruck gebracht, die das Forschungsprogramm in den dekolonialisierenden Politiken der indigenen Bewegungen situiert: »Die Agenda fokussiert strategisch auf das Ziel der Selbstbestimmung indigener Völker. Selbstbestimmung in der Forschungsagenda ist mehr als ein politisches Ziel. Es wird zu einem Anliegen sozialer Gerechtigkeit, das sich durch und in einer weiten Spanne psychologi-

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scher, sozialer, kultureller und ökonomischer Bereiche ausdrückt. Es umfasst notwendigerweise Transformationsprozesse der Dekolonisation, des Heilens und der politischen Mobilisierung als Völker« (Smith 1999: 115-116).

Die Reichweite indigener Methodologien geht somit über die reine Akkumulation von wissenschaftlichen Erkenntnissen hinaus, da sie eine mit der Sozialen Arbeit und Pädagogik verbundene Dimension aufweist. Diese kommt besonders – wie Tuhiwai Smith (1999: 117) und die American-Indian Forscherin Yellow Horse (2005) herausstellen – im Zusammenhang mit Aspekten der Heilung, der spirituellen Dekolonisation und der Überwindung von kolonialen Traumata zum Ausdruck. Dabei gibt es Anschlüsse an die kritische Pädagogik, wie der interamerikanische Dialog zwischen der »red pedagogy« der First Nations in den USA und der »Pädagogik der Unterdrückten« (1973) des Brasilianers Paulo Freire zeigt. In indigenen Methodologien ist ein grundlegender epistemologischer Perspektivwechsel zu erkennen: Indigene sind nun nicht mehr Objekte der Forschung, sondern sie sind deren Subjekte. In diesem Sinne ist indigene Forschung Teil des breit angelegten politisch-kulturellen Projekts des Empowerments mit dem Ziel kultureller Selbstbestimmung. Projekte wie das Kaupapa Maori-Projekt in Neuseeland basieren auf einer Identitätspolitik, die eine Identifikation als Maori voraussetzt, um dort als Forscher mitwirken zu können. Daher können indigene Methodologien in einen Essentialismus fallen, der dazu führt, dass lediglich indigene Wissenschaftler zu indigenen Kulturen forschen können. 3 Mit der Betonung einer Essenz indigener Kultur stellen diese Ansätze die »longue durée« des Indigenen heraus, das als strukturelle Prägung von der prä-kolumbischen Vergangenheit bis zur Gegenwart konstruiert wird. Dabei besteht aber die Gefahr, dass der koloniale Bruch, der gerade von post-kolonialen Ansätzen hervorgehoben wird, an Bedeutung verliert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die beiden beschriebenen methodologischen Konjunkturen einen starken Einfluss auf einen Prozess haben, den wir hier als Dekolonisation des Wissens beschreiben. Aber beide Ansätze haben ihre Grenzen. Während in der ersten Debatte über die anthropologische Selbstkritik der Fokus in erster Linie auf dem Eigenen, dem Okzidentalen lag, zeigt sich in der zweiten Phase die Tendenz, lediglich das Indigene zu betrachten. Bei beiden methodologischen Polen besteht die Gefahr, in eine ›glorreiche Isolation‹ zu verfallen, das heißt, eine der beiden kulturellen Formationen mit essentialistischen Augen zu sehen. Aber mit einer essentialistischen Herangehensweise, die von ›reinen‹ Kulturen

3 So berichtet die Ethnologin Eveline Dürr, die mehrere Jahre in Neuseeland an der Universität lehrte, dass es Nicht-Maori-Forschern ohne die Anwesenheit eines Maoristämmigen Wissenschaftlers nicht erlaubt sei, über die Maori-Kultur zu sprechen (Persönliche Mitteilung, Januar 2013).

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ausgeht, lassen sich kulturelle Verflechtungen nicht verstehen. In diesem Sinne bemerkt Edward Said: »Alle Kulturen sind, zum Teil auf Grund ihres Herrschaftscharakters ineinander verstrickt; keine ist vereinzelt und rein, alle sind hybrid, heterogen und hoch differenziert und nicht-monolithisch« (Said 1994: 31) Die koloniale Expansion und die Formation des kapitalistischen Weltsystems haben – wie der Historiker Sebastian Conrad und die Sozialanthropologin Shalini Randeria argumentiert haben – zu einer shared history – zu einer geteilten Geschichte – geführt; einerseits handelt es sich um eine gemeinsame Geschichte mit variablen Wechselwirkungen und andererseits um eine Geschichte der asymmetrischen Machtverhältnisse, der Ausbeutung und der sozialen Ungleichheit, die als getrennte Geschichte zu begreifen ist (Conrad und Randeria 2002: 17). Im Fall der Amerikas ist es gerade die gewaltsame Eroberung, die den Anfangspunkt einer »geteilten Geschichte« markiert. Der koloniale Bruch führt nicht nur zu einer Kluft zur prä-kolonialen (euphemistisch als prä-kolumbisch bezeichnet) Geschichtsschreibung, sondern hat Rückwirkungen auf das geokulturelle Selbstverständnis des Westens (Mignolo 2000, 2005). Mit dem neuen Selbstverständnis als westliches Europa bildet sich mit der kolonialen Expansion ein kapitalistisches Weltsystem heraus (Wallerstein 1974), das durch ein rassistisch geprägtes Klassifikationsschema gesellschaftlicher Arbeitsteilung geprägt ist (Quijano 2000). Entgegen der Prämisse einer indigenen Kontinuität oder einer selbst-reflexiven westlichen Modernisierung und Rationalisierung gehe ich somit von einer kolonialen Differenz aus. Der Ansatz der »geteilten Geschichte« bringt tief greifende methodologische Implikationen mit sich. In methodologischen Termini bedeutet dies, horizontale Methoden weiterzuentwickeln, die auf Reziprozität und Dialog basieren, um so eine gemeinsam geteilte Verständnisgrundlage aufzubauen. Im Kontext epistemologischer Gewalt hingegen ist es unumgänglich, die eine Geschichte der Sieger zu überwinden und Geschichte aus verschiedenen Perspektiven zu multiplizieren. Insofern muss auch in dialogischen Herangehensweisen Platz für Differenz bleiben.

ANSÄTZE

FÜR DIE HISTORISCHE

F ORSCHUNG

In dieser Arbeit wird von der Idee ausgegangen, dass jeder Akteur Teil einer relationalen Konstellation anderer realer und imaginierter Akteure ist, die in Abhängigkeit von ihrer Positionierung in unterschiedlichen sozialen Feldern, Institutionen und Kontexten durch jeweils unterschiedliche Logiken der sozialen Praxis und Diskurse gekennzeichnet sind. In dieser Konstellation hängt das strategische und taktische Verhalten der Akteure davon ab, wie diese ihre Positionen in Relation zu den anderen entwerfen. Jeder Akteur produziert eine kognitive Karte der Konstellation(en), in denen er sich verortet fühlt. Dieses »cognitive mapping« (Jameson 1990)

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ist durch die spezifischen Positionierungen des Akteurs in sozialen Feldern sowie den Positionen, die er anderen Akteuren zuschreibt, bestimmt. Da die Konstellationen durch vielfältige, höchstkomplexe und sich teilweise überlagernde Wechselbeziehungen gekennzeichnet sind, ist es für den Akteur notwendig, vereinfachende, oftmals stereotypisierende Bilder seiner Gegenüber zu entwerfen, um handlungsfähig zu bleiben. Dabei sind die kognitiven Karten der Konstellation sowohl durch alltagsweltliche, direkte Erfahrungen als auch durch medialisierte und textualisierte Fremd- und Selbstrepräsentationen geprägt. So hängt die Ausgestaltung des Bildes, das sich der Akteur von seiner eigenen Position und der des Gegenüber macht, einerseits von den medialisierten und hegemonialen Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt ab und andererseits von den strategischen Selbstpositionierungen des Akteurs (vgl. Kaltmeier und Thies 2012). In diesem Sinne sollen nun die wichtigsten Konstellationen im Forschungsprozess in den Blick genommen werden. Da es für diese methodologische Positionierung zu weit führen würde, alle Perspektiven innerhalb der sich historisch wandelnden Konstellationen in Hinblick auf die Quellenanalyse zu erörtern, konzentriere ich mich im Folgenden besonders auf die methodologisch sehr anspruchsvolle Aufgabe, nämlich den Einbezug indigener Perspektiven in die Konstellationsanalyse historischer Prozesse. Bei der Erforschung von Kolonialität muss sich der Historiker dem Problem der »doppelten Fremdartigkeit«, die sich aus der räumlichen und zeitlichen Distanz ergibt, stellen. Die fremdkulturelle Distanz erfordert eine Auseinandersetzung mit kultureller Differenz, wie sie von der Sozial- und Kulturanthropologie betrieben wird. Parallel dazu ist eine historische Kontextualisierung vorzunehmen, die sich mit der historischen Differenz auseinandersetzt. (Büschges 2012: 232; Gareis 2003, Cohn 1987: 18-49) In der Kombination beider Differenzerfahrungen ist die eigene kulturelle und historische Verortung selbst-reflexiv mitzudenken. Somit ginge es weniger darum, das Historische oder das Fremdkulturelle als eingegrenztes und distanziertes Objekt zu erfassen, sondern den Aneignungsprozess des kulturell und historisch Fremden durch die Arbeit im Dialog mit beidem zu gestalten. Auto-ethnographische Texte Einen privilegierten Zugang zu indigenen Perspektiven auf historische Prozesse liefern zeitgenössische indigene Texte. So haben im Andenraum die Chroniken von Inca Garcilaso de la Vega und vor allem Guaman Poma de Ayala bahnbrechende Erkenntnisse über das indigene Alltagsleben der Kolonialzeit, den indigenen Blick auf die koloniale Situation sowie das Leben im Tahuantinsuyo vor dem kolonialen Bruch ermöglicht. (Adorno 2000) Gleiches gilt in Mesoamerika für die von indigenen Schreibern und Illustratoren verfassten Kodexe (Gruzinski 1992).

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In diesem Zusammenhang ist in Anschluss an José Rabasa auf die Vielfalt von »indigenous textualities« zu verweisen, die verschiedene Formen des Schreibens vermittelt, welche sowohl Textilien, Bilder, Schriftzeichen, Landschaft, Tätowierungen als auch die alphabetische Schrift umfassen können, die – entgegen der westlichen privaten Lesekultur – ihrerseits wiederum unterschiedliche – oft kollektive oder rituelle – Formen des Lesens beinhalten (2008: 51-52). Dabei determiniert das Medium aber keineswegs den Inhalt. So können indigene Bildschriften durchaus im kolonialen Diskurs domestiziert sein, während in spanischer Sprache verfasste Texte kulturellen Widerstand zum Ausdruck bringen können (2008: 50-51). Letzteres kommt auch in der Chronik Felipe Guaman de Ayalas zum Ausdruck. In dem narrativen Format der Kolonisatoren schlechthin verfasst – der Chronik –, stellt dieser Text eine der schärfsten Kritiken der spanischen Kolonialherrschaft dar. Dabei ist der Text nun allerdings nicht als ›reine‹ indigene Präsenz zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um einen hybriden Text, der die Stellung des Autors »zwischen den Welten« selbst-kritisch reflektierte. Solche Texte können somit als autoethnographische Texte (Chang 2008, Ellis 2004) begriffen werden. Doch anders als die auto-ethnographische Methode in der Sozialanthropologie handelt es sich hier um Texte, bei denen ›das Untersuchungsobjekt‹ selber zum Ethnographen wird. Insofern ist der Versuchung zu widerstehen, diese Texte als reine, unkontaminierte Ausdrücke der Subalternen zu betrachten. Vielmehr ist mit Mary Louise Pratts postkolonialer Wendung des Konzepts der Auto-Ethnographie zu betonen, dass AutoEthnographien Texte sind, in denen »Menschen versuchen, sich in derart selber zu beschreiben, dass sie sich mit den Repräsentationen, die andere sich von ihnen gemacht haben, auseinandersetzen. Wenn nun ethnographische Texte jene Texte sind, in denen europäische Subjekte der Metropolen für sich selbst eine Repräsentation der Anderen (in der Regel der eroberten Anderen) machen, dann sind autoethnographische Texte solche Repräsentationen, die die derart fremdrepräsentierten Anderen als Antwort auf oder im Dialog mit solchen Texten konstruieren.« (Pratt 1991: 34)

Von dieser Definition kann abgeleitet werden, dass es sich bei Auto-Ethnographien um strategische und taktische Positionierungen von Subalternen handelt, die in gegebenen interkulturellen Konstellationen erfolgen, die von Machtasymmetrien gekennzeichnet sind. Unter den Bedingungen des Kulturkontakts enthalten solch autoethnographische Texte vielfältige intertextuelle Referenzen auf andere, oftmals hegemoniale Narrative und Repräsentationen. Solche Texte stellen für den Historiker eine einzigartige Quelle dar, da in ihnen die Perspektive von indigenen Akteuren in deren konkreten zeit-räumlichen Kontexten zum Ausdruck kommt. Allerdings muss sich der Historiker bei der Interpretation dieser Texte wieder der doppelten historischen und kulturellen Differenz stellen. In historischer und kultureller Perspektive müssen solche Texte kontextualisiert

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und in ihren Kommunikationszusammenhang gestellt werden, so dass der locus of enunciation des Sprechers ebenso wie dessen Adressaten erkannt werden können. Da solche Texte oftmals an der Schnittstelle von kolonialem Staat und indigenen Gemeinschaften entstanden sind, lassen sich hier Rückschlüsse auf die politische Aushandlung von Kolonialität ziehen. Für das kolonialzeitliche Ecuador ist die Quellenlage weitgehend erschlossen. Ein Großteil der indigenen Eingaben, Bitten und Briefe an die Kolonialverwaltung sind im Nationalarchiv, dem Archiv der Zentralbank und dem Archivo de la Curia in Quito und zum Teil im Archivo General de Indias in Sevilla zu finden. In den letzten Jahren haben zudem Provinzarchive an Bedeutung gewonnen, wobei die Archive in der Provinz Cotopaxi nur über rudimentäre Quellenbestände verfügen. Schwieriger stellt sich die Quellenlage für die post-koloniale Phase im 19. Jahrhundert dar, da hier von den staatlichen Instanzen weniger und zudem auch unzuverlässigere Daten über die indigene Bevölkerung als in der Kolonialzeit erhoben wurden. Neben den genannten Archiven sind hier vor allem Lokal- und Privatarchive (u.a. aus Haciendas) zu erschließen. Erst im Laufe der 1930er Jahre entstanden im Zuge neuer politischer Organisationsprozesse kommunistischer Orientierung neue Quellen indigener AutoEthnographie, die bislang noch nicht vollständig erschlossen sind. (Becker 2009) Im Rahmen der vorliegenden Arbeit konnten aus verschiedenen lokalen Archiven wie dem der Zentraluniversität und vor allem aus privaten Dokumentensammlungen indigener dirigentes vereinzelte indigene Zeugnisse erschlossen werden, die allerdings nur selten den Reflexionsgrad von Auto-Ethnographien erreichen. In den 1970er Jahre entstanden mit den ethnischen Organisationsprozessen und der Herausbildung von indigenen »organischen Intellektuellen« neue, bislang nur unzureichend erschlossene Quellen. Für die Bildsprache ist in diesem Zusammenhang die indigene Malerei aus Tigua, in der Provinz Cotopaxi, auf Grund der ausdifferenzierten auto-ethnographischen Positionierung von besonderem Interesse. (Kaltmeier 2009, Colvin 2004, Colloredo-Mansfield 2003, Muratorio 2000) Im Rahmen dieser Arbeit wurde zudem auf die Arbeiten von Schülern der interkulturellen Bildung in Cotopaxi zurückgegriffen, da die Salesianer, die den Bildungsprozess über das SEIC (Sistema de Escuelas Indígenas de Cotopaxi) organisierten, zu Beginn der 1990er Jahre von den Schülern Abschlussarbeiten über die Geschichte ihrer comunidades verfassen ließen. Quellen über Andere Koloniale und imperiale Projekte haben das Ziel, Quellen für den Prozess der Akkumulation und Ausbeutung zu erschließen. In ökonomisch orientierten marxistischen Ansätzen wird in diesem Zusammenhang die »Akkumulation durch Enteig-

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nung« (Harvey 2003) diskutiert, wobei Wissenschaftlern eine entscheidende Rolle bei der Identifikation, Kategorisierung und Ausbeutung von Quellen einnehmen. Eine ganz ähnliche Dynamik kann bei der Suche nach Wissens-Quellen im Rahmen eines kulturellen Imperialismus ausgemacht werden. Schon der Begriff ›Quelle‹, wie er in der Geschichtswissenschaft verwendet wird, drückt einen Geist der Ungleichheit und Aneignung aus. Es ist das Forscher-Subjekt, das die ›Quellen‹ ›suchen‹ und ›erschließen‹ muss, um das dort ruhende Wissen zum Sprudeln zu bringen, damit es dann quantifiziert, klassifiziert und repräsentiert werden kann. Die epistemologische Macht ist im Forscher konzentriert, während die in der Quelle präsenten Stimmen auf den Status eines Objekts reduziert werden. Um diese epistemologische Gewalt abzuschwächen, ist es notwendig, zu einer dialogischen Beziehung zu den Quellen-Texten und den in ihnen kondensierten Interaktionen und Stimmen zu kommen. Quellenkritisch gesehen ist die Aussagekraft hegemonialer Quellen über die Kolonisierten oftmals problematisch. Partha Chatterjee bemerkte hierzu: »The instituted knowledge of society, as it exists in recorded history, is the knowledge obtained of the dominant classes in their exercise of power.« (Chatterjee 2000: 12) Und dieses Material ist nicht immer exakt. Bereits Richard Konetzke hat darauf hingewiesen, dass die statistischen Sammlungen aus der Kolonialzeit – gleiches ließe sich für die post-koloniale Phase der Nationalstaaten sagen – nicht immer zuverlässig sind, da es neben den Problemen der statistischen Erhebung von Material – gerade in den Randzonen post-kolonialer Staatlichkeit – auch immer das Problem der Klassifikation gab (Konetzke 1948: 267-323). Gerade ethnische Klassifikationen hingen (und hängen) immer im großen Maße von der – nicht selten strategisch gewählten – Selbstidentifikation der Betroffenen und der Fremdidentifikation von Seiten der Datenerhebenden ab (Büschges 2012: 235). Methodologisch gesehen handelt es sich damit um das Problem der doppelten Fremdartigkeit. Denn die innerhalb dieser Quellengattung fixierten Ereignisse und Daten wurden von fremden Personen narrativiert und in die dem Historiker vorliegenden Dokumente überführt. Diese Narrativierung und Textualisierung ist jedoch nicht ohne eine Interpretationsleistung des Schreibers möglich. Sein Text ist von den historischen Tiefenstrukturen, die die Epistemologie bestimmen, ebenso geprägt wie von strategischen und taktischen Positionierungen. Noch komplexer wird die Frage der Positionierung dadurch, wenn davon ausgegangen wird, dass die Texte in Interaktionskontexten entstehen, an denen sich viele verschiedene Akteure beteiligen, die wiederum selber taktische und strategische Positionierungen einnehmen. Problematisch ist, dass Indigene in den meisten Quellen der Kolonialzeit und des 19. Jahrhunderts kaum selber zu Wort kommen. Indigene Perspektiven sind oftmals nur in Sekundärquellen zu finden, also in Quellen, die sich auf Quellen beziehen. In diesen Quellen ist die indigene Perspektive immer durch die Perspektive des Chronisten verfremdet.

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Dies konfrontiert den Forschenden mit einer zweiten Herausforderung bei dem Umgang mit Quellen bzw. auto-ethnographischen Texten: und zwar ihre Lektüre. Innerhalb der Postcolonial Studies wird von der Vorstellung ausgegangen, dass Identität nicht über einen harten Kern des Eigenen definiert, sondern im Kontakt mit Anderen in einem permanenten Prozess der Selbst- und Fremdidentifikation herausgebildet wird. In diesem relationalen Denkmodell führt die Konstruktion und Repräsentation des Anderen immer auch zur Konstruktion des Selbst. Dies kommt in Auto-Ethnographien deutlich zum Ausdruck. Doch auch in den hegemonialen Dokumenten diverser Archive kann der Einfluss und die Wirkungskraft des Anderen entdeckt werden. Um diesen Einfluss – der in der herkömmlichen Quellenlektüre zumeist unsichtbar bleibt – sichtbar zu machen, schlägt Edward Said (1994) eine »kontrapunktische Lektüre« vor. Hierbei führt die Gegenüberstellung von Widerstand und Imperialismus in dialektischer Manier zu einer Repräsentation, die über die der zwei gegenübergestellten Texte bzw. Perspektiven hinausgeht. Walter Mignolo hat auf ähnliche Weise den Begriff der »pluritopischen Hermeneutik« verwendet. Die zentrale Idee dabei ist es, einen Text aus den verschiedenen Perspektiven der involvierten Kulturen heraus zu denken. Mignolo betont, dass es sich dabei um eine »doppelte Kritik« handelt, die die Fähigkeit impliziert, »von beiden Traditionen aus zu denken, und gleichzeitig von keiner von beiden« (Mignolo 2000: 67). Mit diesen Ansätzen wurden große Schritte hin zu interrelationalen Methodologien gemacht, die die herrschenden Geopolitiken des Wissens in Frage stellen. Jedoch ist es eine Beschränkung, die methodologische Herangehensweise auf eine »doppelte Kritik« oder eine »kontrapunktische Lektüre« zu reduzieren. Denn beide Ansätze gehen von einer dualistischen Konfrontation aus, sei es das Aufeinandertreffen zweier kultureller Traditionen oder sei es das Zusammentreffen einer imperialistischen Logik mit einer Logik des Widerstands. In empirischen Untersuchungen – gerade im Feld – erscheint dieses Vorgehen doch arg schematisch. Die Prozesse der Transkulturation und die multiplen Formen der strategischen und taktischen Selbst-Verortung sind hierbei kaum in den Blick bekommen. Die Überlegungen zur Konstellationsanalyse wieder aufgreifend argumentiere ich deshalb, dass es wichtig ist, alle Akteure, die in der Konstellation Einfluss nehmen, zu berücksichtigen. Beispielsweise wären bei den Landkonflikten der 1960er Jahre im ecuadorianischen Hochland nicht nur die indigenen Kleinbauern und die Hacienda-Besitzer zu berücksichtigen, sondern auch die Agrarreformbehörde, Anwälte, die indigenen Gewerkschaften und Bewegungen. Diese Akteure wären dann aus dem zeitgenössischen Kontext der gesellschaftlichen Kräftefelder zu analysieren, in denen sie verortet sind. Im Sinne einer derartigen Konstellationsanalyse wurden bei der Untersuchung des Organisationsprozesses in Saquisilí, über die Oral History in den comunidades hinaus, zehn weitere Interviews mit urbanen Mestizen vor allem aus Latacunga und Quito geführt. Sie gehörten Organisationen und Par-

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teien der Linken, der Kirche, Nichtregierungsorganisationen sowie den diversen in den Prozess der Agrarreform involvierten Institutionen an. Die hohe Bedeutung auto-ethnographischer Zeugnisse bedeutet nun keinesfalls, dass die in den offiziellen Archiven aufbewahrten Dokumente, die vor allem die hegemonialen Sichtweisen wiedergeben, zu ignorieren wären. Wie eingangs argumentiert können sie das Panorama der Konstellation vervollständigen und so gelesen werden, dass der Beitrag der Subalternen durchscheint und die Fragilität der Aufrechterhaltung post-kolonialer Ordnung deutlich wird (Stoler 2008). In diesem Sinne geht es gerade auch darum – wie der Historiker Mario Rufer ausführt – die Konstruktion der Archive aus post-kolonialer Perspektive kritisch zu hinterfragen (Rufer 2012: 48-49). Begleitend zur partizipativen Feldforschung und Oral History habe ich Archivarbeit in den unterschiedlichsten Archiven privater und staatlicher Institutionen und Ministerien, Nichtregierungsorganisationen, und sozialer Bewegungen durchgeführt. Dieses Vorgehen entspricht der in den Lateinamerika-Studien geführten Diskussion, bisher nicht erschlossene lokale Archive einzubeziehen, um so das Korpusmaterial zu erweitern (Büschges 2012). Zentral war für mich in Hinblick auf die Haciendas in Saquisilí, die ab den 1940er Jahren im Besitz der Zentraluniversität waren, das Archiv der Zentraluniversität in Quito. Um die Perspektive staatlicher Interventionen zu erschließen und um die Interaktionen zwischen Indigenen und Staat zu erfassen, habe ich die Archive des MAG (Ministerio de Agricultura y Ganadería), in dem die Textquellen zu den staatlich anerkannten comunas erfasst sind sowie das Archiv des INDA (Instituto Nacional de Desarrollo Agrario), in dem Dokumente über die Agrarreform zu finden sind, konsultiert. Für die Rekonstruktion des indigenen Organisationsprozesses waren zudem Archive von NGOs wie CEDHU (Comisión Ecuménica de Derechos Humanos) sowie Privatarchive, etwa die Sammlung der Esclavas del Corazón Sagrado de Jesús und das Archiv der Studierendenorganisation FEUE, relevant. Zudem wurde auf persönliche Dokumentensammlungen von indigenen dirigentes zurückgegriffen. Oral History Eine privilegierte Möglichkeit, die Stimmen und Anliegen von Subalternen sichtund hörbar zu machen, besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen diese für sich selber sprechen können. Der wachsende Korpus an auto-ethnographischen Texten wie Zeitzeugenberichte, Testimonialliteratur, indigene Video- und Filmproduktionen, etc. sind hierfür besonders bedeutend. Auch ist es möglich, in der Feldforschungssituation auto-ethnographische Zeugnisse zu generieren. Für die Ge-

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schichtswissenschaft ist in diesem Zusammenhang die Oral History von höchster Relevanz. Zunächst einmal ist die mündliche Überlieferung die basalste Form von Geschichte (Thompson 1989). Paradoxerweise spielt sie aber bei der Konstitution von Geschichte als moderner Wissenschaft eine Nebenrolle und gewinnt erst in den 1950er Jahren bei den Locality Studies und den Folk Cultures an der Schnittstelle zur Sozialanthropologie an Bedeutung. Die Oral History institutionalisierte sich dann in den 1960ern und 1970ern zunächst in der anglo-US-amerikanischen Geschichtswissenschaft. Besonders die Integration von Methoden der Oral History in die Sozialgeschichte, besonders in die britische Labour History der New Left der 1960er führte zu einer neuen Akzentverschiebung hin zu politischen Themen. Viele der Vertreter der Oral History traten besonders zwischen den 1960er und 1980er Jahren mit dem demokratisierenden Anspruch an, gegen die Geschichte der »elite white men« (Sharpless 2008: 12), wie sie zumeist in herkömmlichen Historiographien reproduziert wird, eine »Geschichte von unten« zu stellen. Damit rückten ethnische Minderheiten, sozial Ausgegrenzte, Frauen, zunehmend auch Migranten sowie die vernachlässigte Alltagsgeschichte in den Blickpunkt des Interesses. Mit dem Ansatz, die in herkömmlichen Historiographien außer Acht gelassene »hidden history« solcher Gruppen herauszuarbeiten, versuchten Oral Historians Geschichte zu demokratisieren. Insbesondere im Bereich der Politikgeschichte, die lange noch als Geschichte der großen Männer, vor allem der Elite galt (Weidner 2012), rückten mit der Oral History das Alltagsleben und vor allem die politischen Strategien – von geplanten Protesten über riots bis hin zu den versteckten »weapons of the weak« (Scott 1985, 1990) in den Blick. Im Andenraum erfolgte die Rezeption der Oral Historiy über und parallel zur Sozialgeschichte der New Left, die mit Historikern wie E.P. Thompson, Eric Hobsbawm, Christopher Hill verbunden ist (Howard-Malverde 1999: 340) Dabei entfaltete sie eine akademische Dynamik, die mit derjenigen der indischen Subaltern Studies Group durchaus vergleichbar ist. Im Andenraum ist es insbesondere das Taller de Historia Oral Andina (THOA), das von der Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui unter dem Eindruck der Kataristischen Bewegung der Aymara in La Paz gegründet worden ist, zu nennen. Rivera selber verfasste mit der einflussreichen, sozialgeschichtlich inspirierten Studie Oprimidos, pero no vencidos von 1984 ein Hauptwerk, das dem Projekt des Einschreibens indigener, subalterner Geschichte in die Nationalgeschichte verpflichtet war, und dazu verhelfen sollte, den internen Kolonialismus zu überwinden. Der Einfluss des THOA reichte soweit, dass Stephenson unlängst rückblickend argumentierte, dass sich hiermit eine »indigenous counterpublic sphere« (2002: 99) etablierte. Außerdem ist eine Demokratisierung und Diffusion der Oral History festzustellen, die von indigenen Intellektuellen und NGOs betrieben wird. Es kommt zu einer eigenen Erstellung von Oral Histories, die somit den Charakter von auto-ethnographischen Texten erlangen. Als Beispiel sei die von

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den indigenen Intellektuellen Lourdes Tibán Guala 4, Raúl Ilaquiche Licta, und dem nicht-indigenen Autor Eloy Alfaro Reyes von der ecuadorianischen NGO Instituto de Estudios Ecuatorianos erstellte Oral History Movimiento Indígena y Campesino de Cotopaxi: Historia y proceso organizativo genannt, deren Erstellung von unterschiedlichen staatlichen und nichtstaatlichen entwicklungspolitischen Organisationen unterstützt wurde. 5 Im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Methodologien können zwei Zugriffe von Oral History unterschieden werden (Howard-Malverde 1999: 342-3). Zum einen gibt es einen historizistisch-rekonstruktiven Zugriff, der Oral History als ›Lückenfüller‹ betrachtet, um die Leerbestände des schriftlichen Archivs aufzufüllen. Hierbei geht es vor allem darum, Fakten und Daten festzuhalten, um Geschichte positivistisch so zu beschreiben. Ein zweiter Zugriff ist sozial-anthropologisch geprägt und fragt vor allem nach der Positionierung und der kulturellen Verortung der Akteure. Dabei geht es vor allem um die Rekonstruktion vergangener politisch-kultureller Deutungsmuster aber auch um die Frage, wie sich im Prozess der Erinnerung der Blick auf Geschichte verändert (Portelli 2006). Bei diesem Ansatz steht so vor allem die – historische und gegenwärtige – Aneignung von Geschichte im Zentrum des Interesses. In der Forschungspraxis können beide Zugriffe durchaus kombiniert werden. Entsprechend ist in dieser Untersuchung der zweite Zugriff präferiert worden, und dennoch konnten auch historische Fakten aus den Zeitzeugnissen rekonstruiert werden und bestehende schriftliche Quellen ergänzt und – zum Teil – korrigiert werden. Dabei muss sich die Oral History ebenso wie die quellenkritische Analyse dem Problem der doppelten Fremdheit stellen. Eine Besonderheit der Oral History besteht darin, dass sich das Problem kultureller Differenz in der von Anthropologen als »Situation im Feld« beschriebenen direkten face-to-face-Kommunikation zeigt. Der Historiker muss in diesem Sinne ebenfalls den »sicheren Lehnstuhl« des Archivs verlassen und sich direkten Fremdheitserfahrungen aussetzen. Insofern ist es auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive unerlässlich, sich der vor allem in der Sozialanthropologie geführten Debatte um die Ko-Präsenz im Feld sowie der Autor-ität (im Doppelsinn von Autorität und Autorenschaft) und möglichen Verfremdung des gesprochenen Wortes bei der Auswertung und Textualisierung zu stellen (Clifford und Marcus 1986, Berg und Fuchs 1995, Kaltmeier 2012c). Gleichzeitig stellt sich das Problem der historischen Distanz. Für die Deutung und Aneignung von Geschichte durch den Historiker ist die Oral History ein zwei-

4 Lourdes Tibán ist Juristin, ehemalige Stipendiatin der Hanns-Seidel-Stiftung und spätere Leiterin von CONDENPE. 5 Beteiligt waren: Instituto de Estudios Ecuatorianos, Ayuda Popular aus Norwegen, CONDENPE, Plan Internacional, SWISSAID, FEPP und Fundación Heiffer.

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schneidiges Schwert. Einerseits hat die Oral History eine historische Reichweite von bis zu 80 Jahren (Assmann 2007: 51), so dass die erzählten und fixierten Erinnerungen noch im eigenen zeitlichen Erfahrungsraum des Oral Historians liegen, der grundsätzlich Erinnerungstraditionen und Alltagshandeln mit den Interviewpartnern teilt. Diese Vertrautheit ist andererseits auch ein großes Manko der Oral History, da hier – wenn man einmal von im Aufbau befindlichen Archiven für Oral History absieht – im Prinzip allein Zeitgeschichte betrieben werden kann, während tiefer liegende historische Zeitschichten nicht mehr in den Blick gelangen können. Ein methodisches Problem in Hinblick auf den Umgang mit historischer Differenz besteht in der durch die historische Distanz gegebene Veränderung der Perspektive auf historische Ereignisse. Es handelt sich bei Aussagen von Zeitzeugen um Erinnerungen und nicht um zeitgenössische Überreste, die zum einen Veränderungen durch den kognitiven Prozess des Erinnerns unterliegen, welche sowohl durch individuelle Persönlichkeitsveränderungen als auch durch die Beeinflussung gesellschaftlicher Deutungsmuster geprägt sein können. Schließlich kann es außerdem zu Veränderungen kommen, die aus der Kommunikationssituation im Interview entstehen. Der Status dieser Zeitzeugnisse ist in den verschiedenen akademischen Disziplinen unterschiedlich gewichtet. Während qualitative Erhebungen in der Sozialanthropologie und der qualitativen Sozialforschung voll etabliert sind, gilt der Zeitzeuge, besonders in der deutschen Geschichtswissenschaft, noch immer häufig als ›natürlicher Feind des Historikers‹. Kritisiert werden vor allem die ›Tücken der Erinnerung‹ sowie die Tatsache, dass der Historiker hier selbst an der Generierung der Quellen mitwirkt. Auf diese Kritiken lassen sich zweierlei Arten von Antworten finden. Die erste besteht darin, auf die Möglichkeit der wertneutralen Erhebung von qualitativen Daten zu verweisen. Sowohl in der Sozialanthropologie als auch in der qualitativen Sozialforschung gibt es die verschiedensten Ansätze und Methoden, um Daten zu erheben, die im wissenschaftlichen Feld unstrittig anerkannt werden. Ähnliches sollte also auch im Bereich der Geschichtswissenschaft möglich sein, da sich hier die Problemlage nicht grundsätzlich von anderen qualitativ orientierten Wissenschaften unterscheidet. Dieser Ansatz ist somit auf die Produktion von Faktenwissen konzentriert. Ein anderer Ansatz besteht umgekehrt darum, grundsätzlich alle Quellen und Zeugnisse als Ausdrücke von strategischen Positionierungen zu betrachten, bei denen immer auch die Konstruktionsbedingungen von Wissen zu reflektieren wären. Von einem solchen Ausgangspunkt betrachtet wird der vermeintliche Nachteil der Oral History zum Vorteil. Denn gerade in der dialogischen Kommunikationssituation lassen sich durch Nachfragen, der Analyse von Tonfall und Betonung, Beobach-

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tung von Mimik und Gesten, etc. weiterführende Rückschlüsse über den locus of encunciation des Interviewpartners gewinnen. In diesem Sinne ist – gerade in post-kolonialen Kontexten – immer auch die eigene Positionierung als privilegierter, weißer Wissenschaftler mitzudenken. Denn gerade auch die Logiken und Moden im akademischen Feld prägen die Produktion von Wissen (Kaltmeier 2012c). Michael Taussig hat auf den post-kolonialen Zirkelschluss verwiesen, dass es die von subalternen und post-kolonialen Theorieansätzen geprägte »akademische Maschine« selber ist, die den Subalternen produziert. Der Subalterne hingegen kennt die Funktionsweise des akademischen Feldes durch vielfältige Forschungskontakte bereits gut und positioniert sich in post-kolonialer Mimikry so, dass das vom Forscher gewünschte Resultat dabei entsteht (Taussig 1998). Der Historiker Mario Rufer beschreibt in seiner eigenen, auf Oral History basierenden Untersuchung über Argentinien den Fall des als Dorfchronisten bekannten Don Efrén, der keinesfalls eine lokal perspektivierte Geschichte erzählt, und dabei nicht nur die national-staatliche offizielle Geschichtsschreibung wiederholt, sondern in ironischer Manier dem seinerzeit noch jungen Historiker ins Mikrophon diktierte, was dieser für seine Universitätskarriere benötigen würde. Kurz: Er solle nicht schreiben, dass es sich bei den Dorfbewohnern um einfache, verarmte Landbevölkerung handele, sondern dass sie »indios« seien und »in Erdhöhlen« hausen würden (Rufer 2012: 46-47). Wenn diese Aspekte nicht als »unauswertbarer Rest« aus der Forschung herausfallen, bieten gerade derartige Subtexte einen Ansatz auf einer meta-reflexiven Ebene die komplexe Verstrickung des akademischen Feldes bei der Produktion von Wissen zu thematisieren. Ein weiterer Vorteil der in der Oral History angelegten dialogischen Kommunikationssituation besteht darin, dass die strikte, in der westlichen Moderne entstandene Subjekt-Objekt-Trennung im Forschungsprozess wenigstens teilweise unterminiert werden kann. In der Oral History wird in diesem Zusammenhang von einer »shared authority« (Frisch 1990) gesprochen, gemäß derer Forscher und Interviewpartner gleichermaßen den Prozess der Produktion von Wissen kontrollieren. Gerade in von Kolonialität geprägten Kontexten wäre eine dialogische und horizontale Produktion von Wissen elementar für das Projekt einer Dekolonisierung des Wissens. (Kaltmeier und Corona Berkin 2012) In der von Oralität geprägten andinen Kultur besitzen testimonios einen hohen Stellenwert. Oral History ist in diesem Forschungsfeld besonders wichtig, da sie die in den indigenen Gemeinschaften vorherrschende Oralität aufnimmt und diese, entgegen der sonst im Andenraum seit der Kolonialzeit privilegierten Schriftlichkeit, die sich entlang der Regeln und Normen und zumeist auch in der Sprache der spanischen Kolonisatoren vollzieht, aufwertet (Mignolo 1994, Lienhard 1992, HowardMalverde 1999: 340-2). Im Fall der Forschung in Saquisilí wurden die Zeitzeugen von mir und drei aus den indigenen Gemeinschaften, den comunidades, stammenden Forschern – Arturo

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Ashca, Mario Castro und Carmen Cofre – ausgewählt. Zudem wurde jeder der interviewten indigenen Bewegungsführer, dirigentes, gefragt, ob er oder sie eine weitere Person empfehlen könne. Dadurch wurde letztlich ein Sättigungsgrad erreicht, so dass keine weiteren dirigentes benannt wurden. Wohl wissend, dass die drei indigenen Forscher die Zeitzeugen aus der Perspektive der indigenen Organisation Jatarishun auswählen würden, habe ich mich besonders darauf konzentriert, andere relevante Akteure, die nicht aus den comunidades stammen, zu suchen, um somit das Panorama der in der Konstellation relevanten Akteure zu vervollständigen. Ich führte Interviews mit Vertretern von Universität, linken Aktivisten, Geistlichen und Vertretern von NGO. Insgesamt kamen somit 51 Interviews zustande, die im Rahmen dieser Arbeit – zunächst auf der Grundlage einer Inhaltsanalyse – ausgewertet wurden.

D AS P ROBLEM

DER EIGENEN

P ERSPEKTIVE

Schon indem der Forscher auf Texte schaut, diese interpretiert, bearbeitet und zum Teil selbst erhebt, ist er integraler Bestandteil einer Konstellation, in der sich die unterschiedlichsten Akteure taktisch und strategisch zur Wissensproduktion positionieren. Die Interaktionen im Forschungsprozess können dabei nicht auf die Dualität von Forscher und Erforschtem reduziert werden. Vielmehr interagieren eine Reihe von Akteuren, die mit unterschiedlicher Interventionsmacht ausgestattet sind, von den Universitäten und Institutionen der Forschungsförderung über internationale Organisationen, staatliche Institutionen und Nichtregierungsorganisation bis hin zu sozialen Bewegungen und alltagsweltlichen Akteuren. Wenn man von einer solchen komplexen Verflechtung des Forschers in den Prozess der Produktion von Wissen ausgeht, dann muss man sich unweigerlich dem bourdieuschen Diktum stellen, dass nämlich »epistemologische Konflikte […] immer und untrennbar politische Konflikte [sind].« (Bourdieu 1997: 15) In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Perspektive des Forschers. Um nun die politische Dimension bei der Produktion von Wissen erfassen zu können, ist eine selbst-reflexive Wende im geschichtswissenschaftlichen Forschungsprozess notwendig. Denn zur Eigen-Verortung und damit auch der Möglichkeit der konzeptuellen Ver-Rückung von der kolonialen Geopolitik des Wissens ist Selbst-Reflexivität notwendig. Die Wichtigkeit von Selbst-Reflexivität besteht darin, dass sie es uns ermöglicht, mit den habitualisierten Routinen zu brechen, um so neue Wege zu finden. Insofern hat die Selbst-Reflexivität kein Ziel, das es zu erreichen gilt, sondern ist als ein permanenter Prozess der Ver-Rückung zu verstehen. Makrosoziologisch gesehen ist Reflexivität ein Kernbegriff aktueller Debatten über die mit Postmoderne und Globalisierung verbundenen sozialen und kulturellen

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Transformationsprozesse. Autoren wie Anthony Giddens, Ulrich Beck, John Urry und Scott Lash verbreiten die Vorstellung einer reflexiven Modernisierung. Trotz ihrer theoretischen Unterschiede betonen sie alle, dass sich die westliche Moderne durch ein hohes Reflexionspotential auszeichnet. So versteht Beck Reflexivität als quasi-systemische Konfrontation der Moderne mit sich selbst. Giddens und Lash hingegen verorten die Selbstreflexivität moderner Gesellschaften in der kognitiven Fähigkeit sozialer Akteure. (Beck u.a. 1996). In all diesen Ansätzen beschränkt sich der Horizont der Reflexivität allein auf die Moderne, die eurozentristisch als westliche Moderne begriffen wird, ohne dass post-koloniale Dynamiken der Verflechtung eine Rolle spielen würden. Damit wird die herrschende Geopolitik des Wissens zementiert. Die Reflexivität der »Zweiten Moderne« begeht den Fehler der »Ersten Moderne« und wiederholt den epistemologischen Bruch der Kolonialität, indem anderes Wissen und Wissen von Anderen ausgeschlossen wird. Diese Abwesenheit von Kolonialität findet sich auch in den methodologischen Debatten um Reflexivität. Einer der ambitioniertesten Vorschläge hin zu einer selbst-reflexiven Methodologie findet sich im Werk des Soziologen Pierre Bourdieu. Reflexivität ist integraler Bestandteil seiner Sozialtheorie, die verschiedene soziale Felder mit spezifischen Logiken der Praxis beschreibt und dabei die homologen inkorporierten kognitiven und performativen Formen, die Bourdieu »Habitus« nennt, herausarbeitet (Bourdieu: 1995). Nun kann – so Bourdieu – der Forscher die Logik der Praxis in jedem sozialen Feld theoretisch bestimmen. Dies ist bei Bourdieu die Reflexivität erster Stufe. Darüber hinaus ist es auch möglich, über die eigene Forschungspraxis zu reflektieren. Dies ist bei Bourdieu eine zweite Reflexionsebene. In diesem Sinne wäre es das Ziel einer Anthropologie der Anthropologie, »die sozialen Bedingungen der Produktion des Produzenten zu objektivieren […], das heißt die Eigenschaften, insbesondere die Einstellungen und Interessen, die er seiner sozialen, geschlechtlichen oder ethnischen Herkunft verdankt.« (Bourdieu 1995: 369). Diese wissenschaftliche Herangehensweise ermöglicht es – so Bourdieu –, das »objektivierende Subjekt [zu] objektivieren« (Bourdieu 1992: 219). Hier manifestiert sich ein Universalismus des Wissens, der von Vertretern der Cultural und Postcolonial Studies scharf kritisiert worden ist. So hebt Edward Said den unhintergehbaren Perspektivismus aller Wissenssysteme hervor: »[E]s gibt keinen Blickwinkel außerhalb der Aktualität der Beziehungen zwischen Kulturen, zwischen ungleichen imperialen und nicht-imperialen Mächten, zwischen von einander verschiedenen Anderen, ein Blickwinkel, der einem das epistemologische Privileg verschaffen könnte, in irgendeiner Weise zu urteilen, zu evaluieren, frei von Interessen, Emotionen und Anteilnahme an den sich realisierenden Beziehungen.« (Said 1989: 216-217)

In der post-modernen Sozialanthropologie gab es mit der Krise ethnographischer Repräsentation eine breite Diskussion um Reflexivität. Im Rahmen des linguistic

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turn, wie er vor allem in dem einflussreichen Sammelband »Writing Culture« (Clifford und Marcus 1986) zum Tragen kommt, werden die in Ethnographien etablierten Formen der Repräsentation, der Textualität und der Autorität kritisch hinterfragt. Hier führt die kritische Selbst-Reflexion nicht – wie bei Bourdieu – zu einer höheren Ebene wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern zu einer tiefgreifenden epistemologischen Krise der Sozial- und Kulturwissenschaften. Angesichts der Pluralität von Wissenssystemen ist es nicht möglich, eine höhere Wahrheit auszumachen. Konflikte um Wissen können somit mit dem Konzept des Widerstreits (différend), ein Streit zwischen zwei legitimen Anliegen, der weder mit Rückgriff auf geltende Diskursregeln noch durch einen übergeordneten Deutungsrahmen oder Maßstab entschieden werden kann, beschrieben werden. Aus den hier angedeuteten Debatten können wichtige Folgerungen über die Bedeutung von Reflexivität für den Prozess einer Dekolonialisierung des Wissens gezogen werden. Der Fall Pierre Bourdieu macht deutlich, dass vermeintlich höhere Reflexionsstufen nicht notwendigerweise zu einer symmetrischen und gleichgewichtigen Beziehung zwischen Forschendem und Erforschtem beitragen müssen. Vielmehr können sie gerade – wie bei Bourdieu – den Abstand zwischen beiden vergrößern und das Machtgleichgewicht noch weiter zu Gunsten des Forschenden verschieben. Denn Bourdieu betont die theoretische Konstruktion des »Forschungsgegenstandes«, der durch den Forscher gemäß den Regeln des konstruierten Feldes objektiviert werden kann. Im Gegensatz zu dieser Objektivierung des Forschungsprozesses, die den Forscher in eine dem Forschungsfeld externe Position stellt, soll hier davon ausgegangen werden, dass eine selbst-reflexive Wende, in der der »Ethnologe zum Ethnologen des Ethnologen« wird, es erfordert, eine selbst-kritische Reflexion in jedem Moment des Forschungsprozesses vorzunehmen. Dabei muss insbesondere das Verhältnis zum Anderen, die epistemologische Macht sowie die Repräsentations-Politiken reflektiert werden. Diese Haltung der rigiden Infragestellung der eigenen Position im Forschungsprozess – ohne Netz und doppelten Boden – scheint mir die angemessene Einstellung zur Dekolonialisierung des Wissens zu sein. Dabei ist es allerdings wichtig, nicht in eine – von Bourdieu zu Recht kritisierte – narzisstische Selbstreflexivität zu verfallen. Deshalb ist mit Bourdieu auf die soziale Konstruktion von Wissen hinzuweisen, so dass Wissensproduktion nicht von den gesellschaftlichen Kontexten, wobei um die legitimen Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt gerungen wird, zu trennen ist. In diesem Sinne ist die besagte Debatte um Selbst-Reflexivität in der Post-Moderne in den von Gayatri Spivak benannten Kontext der »internationalen Arbeitsteilung der intellektuellen Arbeit« zu stellen. Hier werden die Akteure aus dem Globalen Süden auf die Rolle von Informanten, die empirische Informationen beitragen, reduziert, während die Intellektuellen aus dem Globalen Norden das Interpretations- und Deutungsmonopol innehaben. Mit dem Begriff der »teaching machine« streicht Spivak die Verbindung von akademischem Wissen und epistemo-

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logischer Macht heraus (Spivak 1993, 1990: 5), wobei sie insbesondere die Politiken der Wissensproduktion an westlichen Universitäten in den Blick nimmt. Westliche Forscher gehen in die Gemeinschaften des Südens, um wissenschaftliches Material zu akkumulieren. Auf diese Weise wird die ›Dritte Welt‹ auf eine »Fundgrube ethnographischer‚ kultureller Differenz« reduziert (Spivak 1999: 388). Die hierdurch hergestellte Asymmetrie ist für Spivak ein Akt des kulturellen Imperialismus’, der dem ökonomischen Imperialismus gleicht, weil auch hier die Peripherie die Ressourcen liefert, während der intellektuelle Mehrwert in den Zentren realisiert wird (Kapoor 2004: 632-633). Eine Dekolonialisierung des Wissens ist nicht allein durch die guten Absichten eines einzelnen Forschers zu erreichen. Dies würde bedeuten, die moderne Vorstellung des einsamen Schöpfer-Subjekts zu reproduzieren, das selbst wiederum das Produkt der historisch und räumlich kontingenten Erfahrung der Moderne ist. Der Forscher hat keine privilegierte Perspektive, die ein wahres Bild kultureller oder sozialer Beziehungen produzieren könnte, wie dies noch bei Bourdieu angelegt war. Seine Perspektive ist eine unter vielen. Allerdings ist die Perspektive des Forschers im Vergleich zu den anderen Akteuren eine besondere, da sie von den Dynamiken und Logiken der Praxis des akademischen Feldes bestimmt ist. (Bourdieu) Dieses verfügt über einen hohen Grad symbolischer Macht, weil hier die Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt, die noch zutiefst durch die Kolonialität des Wissens geprägt sind, verhandelt werden. In post-kolonialen Kontexten liegt hier eine besondere Position des Forschenden vor, da über seine Person eine Verflechtung von subalternen Milieus mit dem mit hoher symbolischer Deutungsmacht ausgestatteten akademischen Feld erfolgen kann. In diesem Sinne wären analog zu den post-kolonialen entangled histories also entangled methodologies notwendig, die Konstellationen erfassen, selbst-reflexive Positionen und die verschiedenen lokalen epistemologischen Gemeinschaften – inklusive der transnationalen westlichen scientific community – zueinander in Beziehung setzen. Dabei sollten sowohl der von Kolonialität geprägten Differenz Rechnung getragen als auch Gemeinsamkeiten – von der allgemeinsten ontologischen Form des »gemeinsam in der Welt seins« (Nancy 1988) bis zur Konstruktion einer gemeinsamen Verstehensbasis (Fabian 1995) – definiert werden.

B ESCHREIBUNG

DER

F ORSCHUNGSREGION S AQUISILÍ

Gerade auch für meine Forschung in Saquisilí war der Aufbau einer Verstehensbasis zentral. Obwohl ich bereits in den ersten Tagen meines Aufenthalts in Saquisilí die Autorisierung durch die indigene Organisation Jatarishun erhalten hatte, in der Region forschen zu dürfen, waren die ersten Interviews wenig ertragreich. Dirigen-

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tes, die mir später ausführlich über das Hacienda-Regime berichteten, antworteten zunächst auf meine Fragen einsilbig: »Hier gibt es keine Haciendas.« Erst als ich mehrere Monate konstant in der Region unterwegs war, mein Forschungsprojekt zur Geschichte der Organisation auch auf das Interesse der dirigentes stieß und ich mit Maria Cofre, Arturo Ashca und Mario Castro drei Mitglieder der Jatarishun in das Forschungsprojekt der Oral History integrieren konnte, verliefen die Interviews zufrieden stellend. Insofern sind die oben ausgeführten allgemeinen methodologischen Überlegungen geprägt durch meine lokalen Erfahrungen in Saquisilí. Der Kanton Saquisilí liegt im Hochland der Provinz Cotopaxi, etwa 90 km südlich der Hauptstadt Quito. Als politisch-administrativer Raum ist Saquisilí mehrmals definiert worden. 1510 wurde die parroquia eclesiástica von Saquisilí unter der Obhut der Franziskaner gegründet. Zwischen 1570 und 1575 bildete sich ein kleines urbanes Zentrum mit Kirche, Konvent und zentralem Platz heraus. 1824 werden Latacunga – die heutige Hauptstadt der Provinz Cotopaxi – und Saquisilí Teil der Provinz Pichincha. 1852 wurde der Kanton Pujilí gegründet, wobei Saquisilí diesem als Gemeinde (parroquia) zugewiesen wurde. Diese adiministrative Aufteilung währte nicht lange und bereits 1855 wurden Pujilí und Saquisilí an den Kanton Latacunga angeschlossen. Die neugegründete Provinz León (später in Cotopaxi umbenannt) bestand 1861 aus den Kantonen Latacunga und Pujilí, wobei Saquisilí zunächst ein Teil von Pujilí war. 1884 dagegen wurde Saquisilí dem Kanton Latacunga zugeschlagen. 1918 wurde dann eine eigenständige Kantonsbildung für Saquisilí – bestehend aus den Gemeinden Guaytacama, Toacaso, Tanicuchi, Sigchos und Pastocalle – gefordert, die abgewiesen wurde. Erst am 18. Oktober 1943 wurde dann der Kanton Saquisilí gegründet. Zunächst wurde allein Toacaso als Gemeinde zugewiesen, ein Jahr später wurden dann Canchagua und Chantilín ländliche Gemeinden des Kantons und 1989 wurde die ländliche Gemeinde Cochapamba gegründet. Das Gebiet des Kantons umfasst 207,9 km². Dabei handelt es sich um einen ländlich und indigen geprägten Kanton, da das urbane Zentrum Saquisilí nur 1,57% des gesamten Territoriums ausmacht. Nach dem Zensus von 2010 bezeichneten sich 71,5% der 25.320 Bewohner als indigen und 28,5% als mestizisch. Politisch und administrativ unterteilt sich der Kanton in die Kantonstadt Saquisilí und die drei ländlichen Gemeinden (parroquias) Canchagua, Chantilín und Cochapamba. Während die Stadt Saquisilí in der Nähe der Panamericana in einer Hochebene auf 2.900 m über NN liegt, so erstrecken sich die ländlich-indigenen Gebiete der westlichen Kordillere bis in eine Höhe von 4.200 m über NN. Während in den tiefer gelegenen Gebieten Gemüseanbau und Ackerbau möglich ist, beschränkt sich die Landnutzung im páramo auf extensive Schafzucht.

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Abb. 1: Der Kanton Saquisilí in der Provinz Cotopaxi

Quelle: Instituto Nacional de Estadisticas y Censo (eigene Bearbeitung) http://www.ecuadorencifras.gob.ec/cartografia-digital-2010/

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Beispielhaft für andere ländliche Regionen des Andenhochlandes sind auch die sozialen Indikatoren. Im Jahre 2000 lebte 76% der Bevölkerung von Saquisilí unterhalb der Armutsgrenze und 40% in absoluter Armut. Dabei war zudem ein deutliches Stadt-Land-Gefälle festzustellen. So hat die ländliche, indigen geprägte Gemeinde Canchagua mit 95% einer der höchsten landesweiten Armutsraten. Die hier erfasste Einkommensarmut spiegelt sich in anderen Faktoren wie schlechter Bildung, eingeschränktem Zugang zu Ressourcen und Infrastruktur, sodass in den Gemeinden des Hochlandes mehr als 60% der Grundbedürfnisse unzureichend erfüllt waren. Nach Daten von 1990 galten 47% der Bevölkerung von Saquisilí als unterernährt (landesweit 34%) und die Kindersterblichkeit lag bei 85 auf 1000 lebend geborener Kinder (landesweit 53). (SIISE 1990) Politisch ist der Kanton Saquisilí eine Hochburg der indigenen Bewegung. Bei den indigenen Aufständen der 1990er Jahre waren indigene Gemeinden aus Saquisilí besonders stark vertreten. In den 1990er und 2000er Jahren hatte die indigene Organisation Jatarishun, die als Organisation zweiten Grades integraler Bestandteil der CONAIE war, die politische Kontrolle über den gesamten ländlichen Raum des Kantons. Von dieser Machtgrundlage aus vermochte es die indigene Bewegung von 1996 bis 2008 einen indigenen Bürgermeister zu stellen. Insofern lassen sich hier für diese zeitgenössische Phase der Beziehungen zwischen indigenen Gemeinschaften und Staat zentrale Prozesse fokussieren, die überregionale Bedeutung hatten. Überhaupt stellt die Region um Saquisilí ein wahres Kaleidoskop für das Verhältnis zwischen Staat, indigenen Gemeinschaften und anderen Akteuren dar. Nahezu jede politisch relevante Akteurs- und Konfliktkonstellation, die für das Andenhochland von der Kolonialzeit bis heute prägend war, ist in dieser Region enthalten.

I. Koloniale Landnahme und die Entstehung der Geopolitik der Kolonialität

Koloniale Landnahme

Die Kolonisierung des heutigen Ecuadors geht auf eine »Eroberungskette« (Restall und Lane 2011: 92) zurück, die sich von Hispaniola über Panama bis an die südamerikanische Pazifikküste ausbreitete. 1524 begab sich der spanische Conquistador Francisco Pizarro von Panama aus auf die Suche nach dem sagenhaften »El Dorado«. Auf der Rückkehr dieser bis dato ergebnislosen Fahrt stieß er 1526 in der heutigen ecuadorianischen Provinz Esmeraldas auf eine mit reichhaltigem Schmuck ausgestattete Gruppe von Indigenen, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, hier auf der Suche nach Gold fündig zu werden. Er fand die Unterstützung des spanischen Königs Karl I. und kehrte 1531 mit einer knapp 200 Mann starken Expeditionstruppe nach Ecuador zurück. Er fand Gold und Smaragde und erhielt Nachrichten über einen Bürgerkrieg in einem weiter östlich gelegenen Reich. Damit besaß er bereits die aus militärischer Sicht wichtige Information über den zwischen den Brüdern Huascar und Atahualpa ausgetragenen Thronnachfolgekrieg im inkaischen Reich, dem Tahuantinsuyo. Pizarro holte weitere Unterstützung und begann von der ersten in Peru gegründeten spanischen Stadt Pirua aus die Eroberung des Tahuantinsuyo. Während Pizarro auf die Hauptstadt des Inkareiches, Cuzco, marschierte, wandte sich Benalcázar mit seinen Truppen dem nördlichen Teil des Inkareiches zu. Hier traf er auf den erbitterten Widerstand des inkaischen Generals Rumiñahui. Dennoch gelang es den Spaniern, die inkaischen Truppen zurückzuschlagen, und am 6. Dezember 1534 gründete Benálzacar auf den von Rumiñahui hinterlassenen Trümmern die Stadt San Francisco de Quito. Nach dem Sieg über die inkaischen Truppen brachen unter den Conquistadoren Konflikte um die Verteilung der Schätze aus, die in die Exekution von Diego de Almagro und in die Ermordung Francisco Pizarros mündeten. 1544 wurde dann von der spanischen Krone das Vizekönigreich Peru etabliert und Blasco Núñez de Vela wurde zum ersten Vizekönig von Peru ernannt. Er versuchte, die koloniale Ordnung – vor allem ausgedrückt durch die Nuevas Leyes von 1542 – durchzusetzen, traf aber auf erbitterten Widerstand der Conquistadoren. Dieser mündete in eine von Gonzalo Pizarro, dem Bruder Franciscos, angeführte Rebellion. In der Schlacht von Añaquito, im Norden Quitos, gelang es den Rebellen am 18. Januar 1546, die kö-

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niglichen Truppen zu schlagen und den Vizekönig zu töten. Doch der Erfolg währte nur kurz: zwei Jahre später wurde Gonzalo Pizarro wegen Hochverrats exekutiert. Auf diese frühkoloniale Krise reagierte der von 1569 bis 1581 regierende Vizekönig von Peru, Francisco Toledo, mit den nach ihm benannten Reformen, welche einerseits eine politisch-räumliche Neuordnung der Beziehungen mit der kolonialisierten indigenen Bevölkerung und andererseits der kolonialstaatliche Strukturen – auch gegen die Interessen der Conquistadoren – zum Inhalt hatten. Bis 1563 blieb Ecuador weiterhin integraler Bestandteil des Vizekönigreiches von Peru, bis es dann als Audiencia de Quito, auch als Königreich Quito bezeichnet, einen eigenen administrativen Status erhielt. Das Territorium umfasste ein weitaus größeres Gebiet als das heutige Ecuador und schloss nördliche Teile Kolumbiens (bis hin zum kolumbianischen Cali), weite Teile des Amazonasbeckens sowie Teile des heutigen Perus ein. Die effektive Kontrolle der Spanier erstreckte sich jedoch – trotz Orellanas Amazonas-Expedition und mit Ausnahme der pazifischen Hafenstadt Guayaquil– vor allem auf das zentrale Andenhochland entlang der Städte Ibarra, Quito, Latacunga, Ambato, Riobamba, Cuenca und Loja. In dieser Region war auch die demographische Dichte der indigenen Bevölkerung, deren Arbeitskraft in den Obrajes und Haciendas benötigt wurde, am höchsten. In den ländlichen, indigenen Gebieten des Hochlandes wurden reducciones oder repúblicas de indios eingerichtet, sodass hier die räumlich-politische Bifurkation des Staates in ein System von »zwei Republiken« – eine república de los españoles und eine república de los indios (Büschges 2004; Jackson 1999) – ihren Ursprung hatte. Hierbei handelte es sich nun nicht im modernen politischen Verständnis um Republiken, vielmehr wird mit dieser dualen politischen Konstruktion zum Ausdruck gebracht, dass sich Spanier und Indigene jeweils selbst verwalteten. In allen neuen spanischen Siedlungen, etwa den villas und ciudades, oblag die politische Selbstverwaltung dem cabildo, einer Art Stadtrat, der nach Ständen organisiert war. In den städtischen Vierteln, die auf bestehende indigenen Siedlungen basierten, wie dies in Cuzco, Mexiko-Stadt und auch Quito der Fall war, gab es parallel zu dem Cabildoder Spanier auch einen indigenen Cabildo. (Restall und Lane 2011: 135) Der Großteil der indigenen Selbstverwaltung war jedoch entlang der großen Trennlinie zwischen urbanen und ruralen Räumen strukturiert (Mallon 1992). Zwar blieben auch letztere den angrenzenden spanischen villas und ciudades untergeordnet, doch konnte jede autochthone Gemeinde einen Cabildo nach dem spanischen Vorbild wählen. Hierarchisch war über dem Cabildo der gobernador angesiedelt, wobei es sich gerade im Andenraum um ein Mitglied des prähispanischen Adels handelte. In den ländlichen Gebieten wurde dabei vor allem auf diejenigen Kaziken zurückgegriffen, die bei der Conquista kollaboriert hatten. Allgemein wurden die indigenen Führungspersonen im spanischen Kolonialreich als Kaziken, cacique, bezeichnet – was sich aus der Sprache der Arawak, einer Indigenengruppe in der Karibik, herleitet. Im durch das Inka-Imperium politisch geprägten Andenraum

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wurde hier oft auch das Konzept des curaca synonym verwendet. (Rivera Cusicanqui 1978, Spalding 1974) Diese Hinweise auf eine indigene Aneignung des Cabildos machen bereits deutlich, dass die Einführung des spanischen Cabildo-Systems in den Amerikas nicht einfach als politische Akkulturation verstanden werden kann. Vielmehr haben die indigenen Gemeinschaften und señorios étnicos (Salomon 1978, Caillavet 2000) ihre eigenen politischen Strukturen, Führungsprinzipien, und Vorstellungen von politischer Macht in dieses System eingeschrieben. Es erfolgte eine nach ethnischen und sozialen Kriterien vollzogene Segregation von indigenen und weißen Bevölkerungsgruppen in getrennte soziale und geographische Räume, die in Hinblick auf die Partizipationschancen indigener Bevölkerung ambivalent zu bewerten ist. Einerseits wurde den indigenen Gemeinschaften in der kolonialen Zweiteilung des Staates ein hohes Maß an Selbstverwaltung und politischer Autonomie zugestanden, soweit die Abgaben an die Krone gezahlt wurden. Andererseits entspricht diese Zweiteilung des Staates der Kolonialität der Macht. Die diesem Konzept zugrunde liegende Idee ist, dass die Kolonialität der Macht als eine soziale Maschine funktioniert, die kulturelle Unterschiede in Werte verwandelt und dabei neue ethnisch-kulturelle Klassifikationsschemata einführt. (Castro Klaren 2008; Mignolo 2000; Quijano 2000) Daran anschließend ergeben sich ethnischökonomische Ausbeutungsformen, die auf die Aneignung von Arbeitskraft und Warenproduktion für den Weltmarkt abzielen – wie sie in Lateinamerika in den mitas in Bergwerken, den Textilmanufakturen, der Plantagenwirtschaft, der Sklaverei und eben in der Form der Schuldknechtschaft in den Haciendas zum Ausdruck kommen. Bei all der Betonung von Dualismus, Bifurkation (Satter 2007) und der Transition von den »two republics« zu der einen, aber geteilten Republik (Thurner 1997), ist jedoch auch darauf zu verweisen, dass die Welten zwischen Indigenen und Spaniern nicht vollständig getrennt waren. Die repúblicas de indios waren integraler administrativer Bestandteil des politischen Systems der spanischen Krone. Insofern können sie gerade auch als Schnittstellen politischer Kommunikation zwischen spanischer Kolonialverwaltung und indigenen Gemeinschaften betrachtet werden. Zudem gab es marktvermittelte Schnittstellen zwischen indigenen Ökonomien und Kolonialwirtschaft. Anstatt den Blick auf die Trennung zu richten, wären in diesem Sinne gerade die vielfältigen und asymmetrischen Verflechtungsverhältnisse anzuvisieren. Bereits zu Beginn der Kolonialzeit stützte sich die spanische Krone zur Administration der indigenen Bevölkerung auf die lokalen Strukturen und die Autorität der indigenen Kaziken. Ethnohistorische Arbeiten zur Conquista und zur frühen Kolonialzeit haben vielfach darauf hingewiesen, dass die Eroberung der großen indigenen Imperien letztlich nur durch interne Brüche und geschickte Allianzpolitiken der Spanier möglich gewesen war. Letzteres galt vor allem auch für das vom Bürgerkrieg zwischen Atahualpa und Huascar zerrissene Inka-Reich, in das die Regionen des heutige Ecuadors erst kurz zuvor integriert worden waren.

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P RÄ - KOLONIALE

POLITISCHE

K ONJUNKTUREN

Wenngleich die spanische Eroberung den zentralen Wendepunkt in der Geschichte des Andenraumes markiert, so reicht in Ecuador die Erfahrung von Eroberung bereits auf prä-hispanische Prozesse der Expansion des Tahuantinsuyo, des inkaischen Reichs der vier Weltengegenden, zurück. Die inkaische Invasion im heutigen Ecuador begann um das Jahr 1463 unter dem neunten Inka, Tupac Inca Yupanqui (14711493). Der erbitterte Widerstand der Cañari führte zu einer langsamen Eroberungswelle, so dass zunächst nur der südliche Teil Ecuadors in das Tahuantinsuyo integriert werden konnte. Erst unter dem nächsten Inka, Huanya Cápac (1493-ca. 1527), konnte dann das nördliche Ecuador unterworfen werden. Zur Zeit der spanischen Conquista waren die südlichen Regionen somit wohl bereits 60 bis 70 und die nördlichen Regionen nur 30 bis 40 Jahre unter inkaischer Herrschaft gewesen. (Lauderbaugh 2012: 21-23) Insgesamt stellt sich die Rekonstruktion der prä-inkaischen Siedlungsmuster im Latacunga-Ambato-Becken als extrem schwierig dar, da es hier im Zuge der beiden Eroberungswellen zu tiefgreifenden Verwerfungen in der demographischen und kulturellen Konfiguration kam. Gleiches gilt auch für die Rekonstruktion der linguistischen Charakteristika der Region, die allgemein in die Panzaleo-Sprachgruppe eingeordnet werden, die heute nicht mehr erhalten ist. (Newson 1995: 40-47) Alles spricht dafür, dass es sich bei der Region Saquisilí in der frühen Kolonialzeit um eine multiethnische und multilinguale Kontaktzone gehandelt hat. Entsprechend bestand die Region in der frühen Kolonialzeit aus 20 parcialidades, von denen Aquiles Pérez 18 namentlich identifizieren konnte. Acht dieser parcialidades sind prä-inkaischen Ursprungs, sieben inkaisch und drei stammen von den spanischen Eroberern. (Pérez 1962: 102) Um 1475 wurde Saquisilí – wie auch der gesamte südliche und zentrale Raum des heutigen Ecuadors – von dem Inka Tupac Yupanqui unterworfen. Linguistische und archäologische Arbeiten gehen davon aus, dass es sich bei Saquisilí um eine prä-inkaische Siedlung handelte, die von den Colorados, einer Gruppe der westlichen Küstengebiete, oder Cara beeinflusst war. Das Toponym setzt sich zusammen aus den Colorado-Wörtern sequi = Wahrheit und shili = cuerda, soga. (Pérez 1962: 91) Ein zentrales Element der räumlichen Befriedungs- und Kolonisationsstrategien der Inka war die Einrichtung von mitmakuna. Hierbei handelt es sich um Kolonisationssiedlungen die die Inkas im Rahmen ihrer Eroberungen zur politischmilitärischen Bevölkerungskontrolle einrichteten. Zumeist wurden als treu geltende ethnische Gruppen, vor allem aus dem rund um die Hauptstadt Cuzco gelegenen Kerngebiet des Inka-Reiches, in potentiell aufständische Gebiete umgesiedelt. In Saquisilí wurden mitmakuna mit rund 50 yanaconas und tausend Soldaten eingerichtet. (Pérez 1962: 95) Dabei waren die mitmakuna unterschiedlicher Herkunft.

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Die berühmteste und einflussreichste Gruppe war die der Ati in Yaachil, in der Nähe von Muliambato. In Saquisilí herrschte die ethnische Gruppe der Chilicanchi. Die großen mitmakuna in Saquisilí wurden von den Kaziken Quispe, Capac, Apusibita, Llamoca und Billca beherrscht. In den spanischen Chroniken erklärte 1613 ein Indigener zu seiner Ansiedlung in Saquisilí: »Meine Vorfahren und Großeltern und Urgroßeltern kamen als Garnisonssoldaten mit Tupac Inca nach Latacunga, an den Ort, der Guaytacama genannt wird. Hier blieben wir seit mehr als 150 Jahren, auf Befehl jenes Tupac Incas. Seitdem besitzen wir diese Ländereien ruhig und friedsam.« (zitiert in Carrera 1981: 133)

Über die Kontrolle von bisherigen Ansiedlungen hinaus besiedelten die Inkas aber auch bisher kaum bewohnte Gebiete, um neues Territorium zu erschließen. (Quishpe 1999) Es scheint, dass die Hachos – entgegen anderen inkaischen Kaziken im corregimiento Latacunga – von einem apu, einem besonders hochrangigen InkaAdeligen, abstammten. (Carrera 1981: 136) Das Gebiet war in der räumlichpolitischen Ordnung des Tahuantinsuyo wohl der übergeordneten Seite hanan zugeordnet. Die massive Militärpräsenz der Inka deutet darauf hin, dass die Bevölkerung Saquisilís der inkaischen Invasion Widerstand geleistet hatte, zudem markiert sie die strategische Lage des Ortes auf dem Inka-Weg. Diese starke Präsenz inkaischer mitmakuna in Saquisili sollte die weitere Geschichte der Region prägen, was vor allem in der Sprache seinen Niederschlag gefunden hat. So ist Saquisilí in Hinblick auf Toponyme stark von Quechua (27,5%) und von dem prä-inkaischen Einfluss der Colorado (18,3%) geprägt. (Pérez 1962: 94) Die letztgenannte Sprache ist dem westlichen Küstengebiet zuzuordnen, was auf eine enge Verbindung zu dieser Region hindeutet. Hinsichtlich der Anthroponyme, die stärker die Bevölkerungszusammensetzung widerspiegeln, tritt der Inka-Einfluss noch stärker hervor: 39,7% stammen aus dem Quechua und 10,7% aus Aimara, während nur 11,5% aus dem Colorado abgeleitet sind. Doch haben sich auch in Saquisilí neben den mitmakuna auch prä-inkaische indigene Siedlungen behauptet, die in den spanischen Quellen des 16. Jahrhunderts als llactayos (abgeleitet vom Quechua-Wort: llacta = Stadt) bezeichnet werden. In der heutigen Provinz Cotopaxi gelten die Bereiche um Angamarca, Sigchos und Pujilí als Llactayos, d.h. als vorwiegend von autochthoner Bevölkerung dominiert, während Alaques, Cusubamba, Yaachil, Cuicuno, San Felipe, Tagualó und Saquisilí Hauptregionen der Mitma in Cotopaxi waren. Das administrative Zentrum der Inka in der heutigen Provinz Cotopaxi lag in der Region um Callo, im Nordosten Latacungas. Die Region südlich von Latacunga beherrschte die reiche indigene Dynastie der Hati. Diese Dynastie konnte bis in das erste Drittel des 17. Jahrhunderts ihren Reichtum und vor allem Ländereien bewahren und konnte sich durchaus mit den reichen Spaniern der Zone messen lassen. (Ibarra und Ospina 1994: 17)

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P OLITISCHE K ONFLIKTE

UM

K OLONIALISIERUNG

Angesichts der kolonialen Landnahme gab es durchaus auch frühen indigenen Widerstand gegen die Spanier. So kämpfte der von den Inkas in Saquisilí eingesetzte Verwalter, Nina Capac, an der Seite von Rumiñahui gegen die Conquistadoren, wurde gefangen genommen und starb unter der Folter. Doch war der offene antikoloniale Widerstand in der Region um Saquisilí nicht die Regel. Wenngleich die spanische Eroberung auch in den zentralen Anden Ecuadors von vielen blutigen Auseinandersetzungen gekennzeichnet war, erkannte vor allem der lokale Kazike der Region um Latacunga und Saquisilí, Sancho Hacho, strategische Bündnismöglichkeiten mit den Spaniern. 1 So unterstützte er die spanischen Expeditionen – vor allem auch gegen die an den östlichen Andenabhängen siedelnden Quijos. Zur ersten spanischen Expedition unter der Führung von Gil Ramírez Dávalos, die zur Errichtung des spanischen Stützpunktes Baeza führte, trug Sancho Hacho mit 200 Indigenen sowie mit Ausrüstung bei. Zudem leistete Sancho Pancho einen zentralen Beitrag zur Befriedung des antikolonialen Aufstands der Quijos. Dies gelang ihm auf der Grundlage der langen Beziehungen zwischen den Panzaleo, der vor-inkaischen ethnischen Gruppe in Cotopaxi, und den an den östlichen Andenabhängen lebenden Quijos. Diese Beziehungen lassen sich bis 400 v.Chr. belegen und stehen wohl im Zusammenhang mit dem andinen Prinzip der Raumordnung nach der Maxime einer maximalen Kontrolle ökologischer Stockwerke. Die Beziehungen zwischen beiden Gruppen wurden zudem durch Verwandtschaftsbeziehungen und Reziprozitätsnetze verstärkt. So war Sancho Hacho der Schwager eines wichtigen Kaziken der Quijos. Bei der Niederschlagung des Quijo-Aufstands von 1560 unterstützte Sancho Hacho die Spanier nicht nur mit 200 Mann (Newson 1995: 205), sondern er führte auch die diplomatischen Verhandlungen. 2 Des Weiteren übernahmen die Indigenen der Region um Latacunga zentrale Aufgaben bei der Instandhaltung des Camino Real, der über Latacunga, Chambo, Riobamba den zentralen Ort Quito mit dem Wegenetz des camino inca bis nach Cuzco verband, wie auch der dortigen tambos, Raststätten, die bereits von den Inkas eingerichtet worden waren.. In der Kolonialzeit wurde dann in der Audiencia de Quito über Riobamba die Verbindung zur Küstenstadt Guayaquil ausgebaut. Auf

1 Prägend in der Region um Saquisilí war die Dynastie der Hacho, die auf den um 1540 wirkenden, von den Inka eingesetzten Verwalter Capac zurückzuführen ist. Von ihm stammen drei Linien ab, die Hachos, die Kaziken von Mulaló, Nina Capac in San Felipe und San Sebastián sowie Alonso Sancho Capac (oder einfach Cápac) Kazike in Pujilí, Saquisilí, sowie San Felipe und San Sebastián. (Jurado 1990: 49-50) 2 1578 gab es einen erneuten Aufstand der Quijos, der ebenfalls niedergeschlagen wurde.

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diese Weise leisteten die indigenen Kaziken nicht nur einen zentralen Beitrag zur Conquista, sondern gerade auch zur kolonialen Raumkontrolle. Die Mitwirkung an der Konsolidierung des kolonialen Regimes lässt sich auch an den ökonomischen Initiativen indigener Kaziken zeigen. Wie vielfach argumentiert wurde, ist die Audiencia de Quito mangels des Vorkommens großer Bodenschätze und dank der Verfügung über qualifizierte Arbeitskräfte sowie adäquater Landwirtschaft (v.a. Schafzucht) Ende des 16. Jahrhunderts zum »Sweatshop« (Phelan 1967: 66) des kolonialen Amerikas geworden. Nachdem 1545 im Jauja-Tal wohl die erste Textilmanufaktur im Vizekönigreich Peru eingerichtet wurde, kam es im zentralen Andenhochland von Ecuador zu einem wahren Boom der Textilexportwirtschaft, an dessen Anfängen in Latacunga wiederum der Kazike Sancho Hacho beteiligt war. Auf die Bedeutung der Obraje, der Textilmanufaktur, im kolonialzeitlichen ökonomischen und politischen System wird im Folgenden am Beispiel Saquisilís vertieft eingegangen. Festzuhalten bleibt jedoch schon einmal, dass auch diese koloniale Institution nicht ohne indigene Hilfe und Aushandlungsprozesse mit indigenen Kaziken und comunidades zu begreifen ist. Während somit der Anteil einzelner Fraktionen der politisch fragmentierten indigenen Gesellschaften an der Konsolidierung von Kolonialherrschaft nachdrücklich belegt werden kann, zeigt jedoch der Fall des Kaziken Sancho Hacho wie sich Elemente politisch-kulturellen Widerstands in der Kommunikation mit der spanischen Kolonialmacht manifestieren. Dazu möchte ich im Folgenden besonders auf die auto-ethnographische Bildsprache, die in dem Vorschlag für ein eigenes Wappen, den Sancho Hacho der spanischen Krone unterbreitet hat, angelegt ist, eingehen. Ich begreife die hier im Zusammenhang mit einem längeren Bittbrief erfolgte Interaktion zwischen dem indigenen Kaziken und der spanischen Krone als visuelle politische Kommunikation an der Schnittstelle frühkolonialer Staatlichkeit.

V ISUELLE

POLITISCHE

K OMMUNIKATION

Die Rekonstruktion der indigenen Perspektive auf den fundamentalen Bruch, der mit der Conquista in den Amerikas einsetzte, ist das Anliegen verschiedener ethnohistorischer Arbeiten, wie etwa in Bezug auf Mexiko von Miguel León-Portilla (1985) und, mit einem semiotischen Ansatz, von Tzvetan Todorov (1985) sowie für den Andenraum die Arbeiten von Nathan Wachtel (1977) und Steve Stern (1982). Dabei kommen indigene Quellen wie im Andenraum den Chroniken von Phelipe Guaman Poma de Ayala und Inca Garcilaso de la Vega höchste Bedeutung zu. In jüngeren Studien zur frühen Kolonialzeit wird die Perspektive der Kolonialisierten zunehmend nicht nur über schriftliche Quellen erschlossen, sondern es wird der Blick auf Bildquellen und dem hieran anschließenden (auto-ethnographischen) vi-

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suellen Diskurs gerichtet. Zu denken ist in diesem Zusammenhang vor allem an die Arbeit des Historikers Serge Gruzinzki (1992), der analysiert, wie die Conquista des Aztekenreichs in den Bildern indigener Künstler festgehalten wurde. Der postkoloniale Theoretiker José Rabasa hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die Bedeutung der visuellen Kommunikation nicht auf die simple Gegenüberstellung »European alphabet versus Indian painting« (2008: 51) reduziert werden kann, wonach die »schriftlosen« Gesellschaften sich mangels anderer Ausdrucksformen der Bildsprache bedienen mussten. Ähnlich problematisch ist die hieran anschließende politische Bewertung, wonach Bilder einem dekolonialisierenden, widerständigen Diskurs, während schriftliche Zeugnisse den kolonialisierenden, kollaborativen Texten zugerechnet werden müssten. Mit Rückgriff auf Jack Goodys The Domestication of the Savage Mind kann umgekehrt auch auf »savage literacies«, d.h. widerständige Texte, die auf das fremdkulturelle europäische Alphabet zurückgreifen, und »domesticated glyphs«, d.h. piktoriale Texte, die zur Aufrechterhaltung der kolonialen Ordnung geschaffen wurden, verwiesen werden. Diese Reflexionen führen Rabasa dazu, den auch in post-kolonialen Ansätzen – gemeint ist bei Rabasa vor allem Walter Mignolo – immer wieder perpetuierten Antagonismus von Oralität und Schriftkultur zu dekonstruieren. Rabasa argumentiert nun, dass dieser Gegensatz in der Kolonialzeit selber kaum eine Rolle gespielt hat. Stattdessen wurde hier schon erkannt, dass gerade die dortigen indigenen Kulturen eben keine oralen Kulturen waren, sondern dass sie über verschiedene indigene Textualitäten verfügten, die sich in einem breiten Bogen von Schreibmedien wie Textilien, Hieroglyphen, Landschaft und, im Falle von Tattoos, der Haut, ausdrücken. Diese »fluidity« »of indigenous textualities« (2008: 51) findet ihre Entsprechung in den verschiedenen Arten des Lesens, das oft einen kollektiven, performativen Charakter hatte (2008: 52). Insofern ist bei allen in der frühen Kolonialzeit von Indigenen produzierten Texten zu fragen, wer das anvisierte Publikum ist. Das exemplarische Beispiel für den widerständigen Einsatz von Bild und Schrift für einen anti-kolonialen autoethnographischen Diskurs stellt die zwischen 1585 und 1615 entstandene Chronik Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno des indigenen Autoren Phelipe Guaman de Ayala dar. 3 Diese Chronik ist die wichtigste kolonialzeitliche Quelle im Andenraum über die Zeit vor der Conquista. Sie richtet sich an den spanischen König Philipp III. (1598-1621), dem sie die Ungerechtigkeiten der Kolonialherrschaft darstellt. Zwar wurde das Manuskript von Lima aus nach Madrid versandt, allerdings gelangte es wohl nie in die Hände des Königs. Stattdessen fiel das Werk in Vergessenheit und wurde erst 1908 von Richard Pietschmann in der Königlichen Bibliothek von Kopenhagen wiederentdeckt. In Hinblick auf die

3 Verwendet wurde die Online-Ausgabe der Nueva corónica y buen gobierno der Königlichen Bibliothek von Kopenhagen, Guaman Poma 2006.

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visuelle Kommunikation ist hier besonders hervorzuheben, in welch kreativer Weise Guaman Poma die andine Kosmovision mit der Bildsprache der spanischen Chroniken verbindet, um eine scharfe Kritik am Kolonialregime, das er als »mundo al revés« geißelt, zu formulieren. (Adorno 1989, 2000, López-Baralt 1988, Pratt 1991) In Anlehnung an die hier geleisteten Arbeiten zur visuellen Kommunikation an einer prominenten Schnittstelle der frühen Kolonialzeit möchte ich im Folgenden ein heraldisches Wappen analysieren, das von dem indigenen Kaziken Sancho Hacho im 16. Jahrhundert weitgehend entsprechend der spanischen Konventionen angefertigt wurde, das aber bei einem zweiten Blick indigene Raumvorstellungen offenbart. Hinsichtlich derzeit typischen politischen Bedeutung von Bildlichkeit ist die Heraldik in der Frühen Neuzeit zweifelsohne ein Kernbereich, in dem sich symbolische Macht materialisiert und kommuniziert wird. Die indigenen Kaziken wurden in der frühen Kolonialzeit durchaus als Adelige anerkannt. Insofern war der Versuch Hachos, sich mittels der im Wappen materialisierten visuellen politischen Kommunikation in den Adel einzuschreiben, ein interessantes Beispiel für die Aushandlung von Macht. Außerdem stellt dies eine Form transkultureller Kommunikation dar, da die andinen Adeligen versuchten, sich in den symbolischen Diskurs der Spanier einzuschreiben. Dies zeigte sich auch in einem Schreiben Sancho Hachos an den spanischen König, das am 16. Oktober 1559 in Quito aufgesetzt wurde. In diesem bat er um die Erlaubnis ein eigenes Wappen führen zu dürfen, und darüber hinaus forderte er Entschädigungen für seine Leistungen bei der Befriedung der Quijos und anderen Unterstützungsmaßnahmen zu Gunsten der spanischen Krone ein. Der Ethnohistoriker Udo Oberem (1993: 27) listet sieben Forderungen des Kaziken auf, doch in dem Schreiben Hachos steht schon allein durch die Titulierung hervorgehoben – »Information über die Verdienste und Leistungen von D. Sancho, cacique von Latacunga, mit der Bitte um ein Wappen, dessen Zeichnung angehängt ist, und andere Zuwendungen« – die Erlangung des Wappens im Zentrum. Das Wappen, von dem wir einen Entwurf in der folgenden Abbildung sehen, wurde folgendermaßen beschrieben: »Eine viergeteiltes Wappen, in dessen oberen Teil rechter Hand ein bewaffneter Mann mit einem königlichen Banner in Blau mit goldenem Saum steht und mit einer Stichwaffe auf rotem Grund, und auf der anderen Seite linker Hand einige Indios mit ihren Bögen, die aus dem Krieg kommen, auf grünem Grund, und auf der anderen Seite unten rechter Hand, ein gesatteltes weißes Pferd, das mit einer Lanze am Sattelbaum, der einen goldenen Schaft und eine silberne Spitze hat, angepflockt ist und von einem indio seiner Farbe gezügelt wird, und in dem anderen Viertel ein Löwe in seiner Farbe, der aufrecht steht und ein Schwert in der Hand hält, auf goldenem Grund, und als Wappenspruch oberhalb des Wappens ein geschlossener Helm mit einem Löwenarm mit einem Schwert in der Hand und blauen und goldenen Blättern.« (Oberem 1993: 110-111)

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Abb. 2: Das Wappen von Don Sancho Hacho de Velasco

Quelle: Oberem (1993).

Erstens kann in dem Wappen eine geschichtspolitische Strategie identifiziert werden, die darin besteht, die eigene Bedeutung, also die des indigenen Kaziken Sancho Hacho, in die Geschichte der Kolonialisierung und Gründung der Audiencia de Quito einzuschreiben. So können die beiden Szenen der oberen Hälfte des Wappens als eine Darstellung des Einsatzes Sancho Hachos bei der Befriedung der Quijos interpretiert werden. Im rechten oberen Bildbereich werden »einige Indios mit ihren Bögen, die aus dem Krieg kommen« abgebildet. Es handelt sich um eine Darstellung von sechs nur mit Lendenschurz bekleideten Indigenen, von denen einer einen Pfeil hält und den dazugehörigen Bogen kriegerisch in die Höhe streckt, während ein zweiter einen weiteren Pfeil in den Händen hält. Auf Grund der dürftigen Bekleidung können dies nicht Indigene aus dem Hochland sein, sondern es handelt sich um Indigene des Tieflands bzw. der östlichen Andenabhänge, wie das bei den Quijos, zu deren Befriedung Sancho Hacho in mehreren Exkursionen maßgeblich beigetragen hatte, der Fall war. Die Szene ist grün hinterlegt, was auf die üppige Regenwaldlandschaft in jener Region anspielen mag. Die oben links dargestellte Figur zeigt einen Mann in Rüstung, der »eine königliche Standarte« in der Hand hält. Zudem trägt er ein Schwert – die von den Spaniern eingebrachte neue Waffe – im Gürtel. Die spanische Rüstung spricht zunächst dafür, dass es sich um einen hohen spanischen Militär handelt. Allerdings ist der Verweis auf die königliche

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Standarte verwirrend. Denn seit 1556 ist die königliche Standarte zumeist karmesinrot 4 – erst seit 1977, dem Ende der Franco-Diktatur in Spanien, wurde sie unter Juan Carlos I. blau. Von blauer Farbe waren zu dieser Zeit nur die Fahne der spanischen Marine oder in einem helleren Blau die Standarte des Prinzen von Asturien, dem designierten Thronfolger. Der Bezug zur Krone ist somit unklar. Auffällig ist, dass sich der gleiche Blauton in der obigen Verzierung des Wappens wiederholt. Entsprechend könnte argumentiert werden, dass hier eine assoziative Verbindung zu dem Kaziken Sancho Hacho hergestellt wird. Diese These kann durch die wiederholte Darstellung von Schwert und Helm im ersten Feld sowie oberhalb des Wappens untermauert werden. Hierbei ist zu bemerken, dass das Tragen eines Schwertes nur hervorgehobenen Persönlichkeiten vorbehalten war, und Sancho Hacho in diesem Schreiben auch um das Recht, ein Schwert tragen zu dürfen, bat. Der Helm des bewaffneten Mannes ist, ebenso wie das Schwert, über dem Wappen abermals abgebildet. Verwirrend mag hier zunächst die Verwendung der Farbe Blau sein. Denn im Inka-Reich wurde Blau kaum bei der Färbung der ansonsten recht farbenfrohen Kleidung oder Keramiken verwenden. Allerdings hat die Farbe in der Kolonialzeit einen rasanten Bedeutungszuwachs erfahren. (Steele und Allen 2004: 136) Denn gerade in den Obrajes wurde der einfache Stoff zumeist blau gefärbt. Hier stellt sich nun wieder eine Verbindung zu Sancho Hacho her, da dieser in den 1560er Jahren eine der ersten Textilobrajes im corregimiento Quito errichtet hatte. Wenn nun »Blau« tatsächlich mit dem Kaziken Sancho Hacho assoziiert wird, dann kann der in der unteren rechten Szene dargestellte Indigene, der ein gesatteltes weißes Pferd an den Zügeln hält, als Untertan des Kaziken begriffen werden. Das Reitpferd, das erst von den Spaniern eingeführt wurde, kann somit als Symbol für die spanische Präsenz gedeutet werden. Das Koloniale hat durchaus positive Konnotation, da der Schimmel für das Gute steht. Diese Assoziation der Farbe Weiß mit den spanischen Conquistadoren war nicht neu. Spanische Chronisten des 16. Jahrhunderts wie Pedro Cieza de Leon (1553), Juan de Betanzos und Pedro Sarmiento de Gamboa berichteten, dass die von Francisco Pizarro angeführten Conquistadoren von den Inkas auf Grund ihrer weißen Hautfarbe als ihre Gottheit Viracocha angesehen worden waren. (Mills und Taylor 1998: 39) Mittlerweile wird allerdings argumentiert, dass die direkte Assoziation von Conquistador und präkolumbischer Gottheit die mit dem Mythos der der »Rückkehr des weißen Gottes« verbunden wird – in Mexiko wird sie mit Quetzacoatl in Verbindung gebracht – eine Erfindung der Spanier ist, die keine Entsprechung in der Mythologie der Mayas, Azteken oder Inkas gehabt hatte. (Restall 2003) Allerdings wäre es gut möglich, dass Sancho Hacho diese Legende kannte, zumal er den Chronisten Pedro Cieza de León beher-

4 Vorher war sie weiß mit Wappen.

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bergt hatte. Und diese strategisch einsetzt, um seine Ziele durchzusetzen. Bemerkenswert ist, dass das gesattelte Pferd ohne seinen Reiter abgebildet wird. Die Leerstelle des Reiters könnte nun bedeuten, dass hier kein besonderer Reiter, sondern allgemein ein hochgestellter Reiter gemeint ist. Die Szene wäre dann so zu interpretieren, dass hier dargestellt wird, wie Sancho Hacho spanischen Autoritäten Gastfreundschaft gewährte wie 1545 dem Vizekönig Blasco Núñez de Vela. Auch der im rechten Feld dargestellte, aufrechte rote Löwe auf goldenem Grund scheint auf zeitgenössische politische Ereignisse anzuspielen. Nachdem der Aufstand des Conquistadoren Gonzalo Pizarro 1544 gegen die von der spanischen Krone erlassenen Nuevas Leyes niedergeworfen worden war, hatte sich zehn Jahre später der Conquistador Francisco Hernández Girón gegen die Krone erhoben. Ihm schlossen sich zahlreiche Spanier im corregimiento Quito an, so dass der corregidor auf indigene Kämpfer zurückgreifen musste, um den Aufstand in verschiedenen pueblos niederzuschlagen. Hieran war Don Sancho Hacho allerdings – anders als bei der Niederschlagung des Aufstands der Quijos – nur marginal beteiligt. Im Wappen stellt er dennoch seine Wehrhaftigkeit heraus. Der aufrechte rote Löwe, der sein Schwert erhebt, bietet Schutz. Auch hier wird wiederum die Bedeutung des Tragens des Schwertes betont, die Sancho Hacho in diesem Schreiben beantragt. Nur ein gut bewaffneter und anerkannter Kazike kann Schutz bieten. Die Interpretation, dass sich Sancho Hacho mit dem wehrhaften Löwen identifiziert, wird auch dadurch gestützt, dass die schwerttragende Hand des Löwens sich in der Verzierung oberhalb des Wappens wiederholt. Dies spielt zweifelsohne darauf an, dass Don Sancho den Vizekönig Núñez de Vela und dessen Soldaten, die sich auf der Flucht vor Gonzalo Pizarro befanden, in Latacunga unterbrachte und versorgte. Zudem unterstützte er den Vizekönig mit 200 Soldaten bei der Schlacht von Añaquito am 18. Januar 1546, in der die Royalisten eine katastrophale Niederlage gegen die Truppen Pizarros erlitten und der Vizekönig sein Leben verlor. Trotzdem blieb Don Sancho den Königlichen treu, möglicherweise – wie Oberem spekuliert – weil auch sein encomendero Rodrigo Núñez de Bonilla Royalist war. 1547 versorgte er die königlichen Truppen, als diese auf dem Weg nach Peru waren, um La Gasca zu unterstützen. (Oberem 1993: 24) In diesem ersten Schritt der Analyse wurde der Schwerpunkt auf die Bildbeschreibung gelegt. Eine zweite, tiefer gehende visuelle Strategie lässt sich mit Rückgriff auf die andine Kosmologie herausarbeiten. Im prä-hispanischen Andenraum herrschte eine viergeteilte Vorstellung des Kosmos vor, die entlang von zwei diagonalen Achsen erfolgte. Entlang der ersten Achse ergibt sich eine Zweiteilung in Oben, hanan, und Unten, hurin. Die zweite Achse ist durch eine Rechts-LinksTeilung strukturiert. In der bildlichen Repräsentation ergibt sich – anders als in der modern-westlichen Sichtweise – die rechts-links-Orientierung aus dem Bild und nicht aus der Beobachterperspektive. Wichtig ist nun, dass die Raumdimension mit moralischen Kategorien und Hierarchien belegt werden. So werden hanan und

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rechts mit Konnotationen von Männlichkeit, Überordnung und Religiosität belegt, während für unten und links die Konnotationen von Weiblichkeit, Unterordnung und das Säkulare gelten. (López-Baralt 1988: 200, ausführlicher Wachtel 1973) Auf der (nach andinem Verständnis) linken Bildhälfte finden sich die Felder mit den Darstellungen der indigenen Gruppe einer- und dem stehenden Löwen andererseits. In der oberen Hälfte werden die nackten Indigenen dem deutlich männlich konnotierten Kämpfer, der eine Metallrüstung trägt, untergeordnet. Wenn nun die andine Farbsymbolik hinzugezogen wird, kann die Interpretation noch vertieft werden. Grün stand bei den Inkas für das Antisuyo, jenen Bestandteil des Tahuantinsuyos, der in das tropische Tiefland reicht. Entsprechend war die Farbe Grün assoziiert mit Hexerei, Drogen und Liebe – alles Elemente, die für Wildheit stehen (Steele und Allen 2004: 137). Dem entgegen stand die Komplementärfarbe Rot bei den Inkas für Eroberung und Regierung (Steele und Allen 2004: 137). Sie repräsentierte die Gesellschaften des Andenhochlandes, die – wie das Tahuantinsuyo selbst – über ein entwickeltes Staatssystem politisch organisiert waren. Dabei ist die gesamte rechte Hälfte durch die dominante rote Hintergrundfarbe deutlich als Bereich von Zivilisation, Ordnung und politischer Herrschaft gekennzeichnet. In der Rechts-Links-Teilung findet sich der Gegensatz von Zivilisation und Natur, von Ordnung und Aufruhr. Damit ist der Antagonismus von Gut und Böse im Wappen nicht entlang ethnischer Grenzen strukturiert. Sowohl die Quijos als auch der aufrechte Löwe stehen für Aufstand, während der König und Sancho Hacho als royalistischer Indigener für die gute Ordnung stehen. Letzteres kann durchaus als politisches Programm des indigenen Kaziken begriffen werden. Durch die gleiche rote Unterlegung sowie die weitere Farbwahl in Silber und Blau bilden die beiden Szenen der linken Bildhälfte eine Einheit. Die im Wappen angelegte politische Botschaft lautet also, dass die koloniale Ordnung nur durch die Allianz von Kaziken und spanischer Krone gegen aufständische Indigene und abtrünnige Conquistadoren aufrechterhalten werden kann. Auffällig ist das untere-linke Segment mit der Darstellung des aufrechten Löwens. Denn hier wird ein edles Tier, das zudem ein nobles Schwert trägt, auf goldenem Grund dargestellt. Gold hat aus rein materialistischen Gründen bei den Spaniern eine hohe Bedeutung, und auch inkaischen Weltbild ist Gold mit dem Inka verbunden. Es scheint, dass sich Sancho Hacho gegenüber dem König seiner untergeordneten Position bewusst ist, indem er sich an dieser Stelle abbildet, gleichzeitig aber über die verschiedenen Stationen des Wappens den möglichen Aufstieg plausibilisiert. Die im Wappen angelegte politische Botschaft lautet, dass die koloniale Ordnung nur durch die Allianz von Kaziken und spanischer Krone gegen aufständische Indigene und abtrünnige Conquistadoren aufrechterhalten werden kann. Dazu müssen die Kaziken aber auch mit allen Rechten – vor allem dem Recht das Schwert zu führen – anerkannt werden.

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Die Illustrationen sind allerdings nicht nur entlang einer starren Raumordnung strukturiert, vielmehr kommt in vielen Bildern auch eine performativ-dynamische Konzeption von Bewegungsräumen zum Tragen. So ist der Vektor in den einzelnen Feldern des Wappens eindeutig nach rechts gerichtet. Angesicht der obigen Argumentation könnte davon ausgegangen werden, dass die hier angezeigte Dynamik als ein Fortschreiten zum Guten, zu Ordnung und Zivilisation zu begreifen ist. Damit wäre aber der Vektor anders als bei den Illustrationen von Guaman Poma de Ayala 5 ausgerichtet. In der Nueva Coronica kommt Gutes in der Regel von »oben rechts«. Entsprechend wird der Inka zumeist von rechts in das Bild getragen, und auch spanische Wohltäter kommen von der rechten Seite. Schlechtes dagegen kommt von »unten links«. Während also bei Guaman Poma die Herkunft relevant ist, ist es bei Sancho Hacho das Ziel. Interessant ist darüber hinaus die horizontale Bildteilung. Hier werden die Indigenen, d.h. spanische Rüstungsträger auf der rechten Seite und die Quijos auf der linken Seite durch die Zuordnung zur Hanan-Sphäre den spanischen Elementen übergeordnet. Diese hierarchische Ordnung wird dadurch verstärkt, dass im unteren Bereich, der hurin zugeordnet wird, Tiere (Pferd und Löwe) dargestellt sind, die den in der oberen Hälfte abgebildeten Menschen untergeordnet sind. Es handelt sich hier im Sinne Mary Louise Pratts (1991) um einen autoethnographischen Diskurs, bei dem der andine Kazike vor dem Hintergrund kolonialer Differenz versucht, seine eigene Geschichte in der fremdkulturellen Bildsprache der spanischen Heraldik auszudrücken und in die Geschichte der spanischen Eroberung einzuschreiben. Diese heraldische Auto-Ethnographie ist an die spanischen Autoritäten bis hin zum König gerichtet. Die gewährten Gratifikationen wie auch die Vergabe einer encomienda an Sancho Hacho machen deutlich, dass dieser Diskurs auch – wenigstens ansatzweise – auf Seiten der Spanier verstanden wurde. Dabei greift Sancho Hacho zu verschiedenen Strategien, um sich an die neuen Machthaber zu akulturalisieren. Er nahm die christliche Religion an, er erneuerte seine erste Heirat – die gemäß der Inka-Tradition mit seiner leiblichen Schwester erfolgte – durch eine kirchliche Trauung, er distanzierte sich in seinem Testament von den Kindern seiner ersten Ehe, die er gemäß dem spanischen Moralkodex als

5 Über seine mütterliche Linie leitet Poma de Ayala seine Abstammung von dem Inka Tupac Yupanqui her, einen Aspekt, den er vor allem in einer späteren Phase seines Werkes zunehmend herausstreicht. Zunächst ist für Poma de Ayala die väterliche Linie, mit der er eine Abstammung von der prä-inkaischen Herrscherdynastie der Yaros (Yarovilcas aullaca huánucos) des Chinchaysuyo herleiten kann, von größerer Bedeutung. Zudem kann er auch eine spanische Referenz in seinem Namen vorweisen, da sein Vater den spanischen Kapitän Luis Avalos de Ayala das Leben rettete und den Ehrennamen de Ayala erhielt, der auch auf den Autoren der Chronik überging.

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»bastardos« bezeichnete und er nahm für das Gesuch mit »de Velasco« einen spanischen Namenszusatz an. Trotz aller offenkundigen Bemühung Sancho Hachos sich zu akulturalisieren, blieben kulturelle Differenz und andine Präsenzen erhalten. Dies zeigte sich am deutlichsten in der halbherzigen Anerkennungspolitik der Krone. Aber auch seitens des Kaziken blieb der Bezug auf das Indigene stark, indem er in seinem Wappen auf seine Vermittlerposition mit den aufständischen Quijos, der Verfügung über indigene Arbeitskraft, seine lokale politische Macht sowie die andine Kosmovision verwies. Strategisch brauchte er den Bezug auf den andinen Adel, um seine Vermittlungsrolle wahrnehmen zu können. Seine Macht resultierte gerade daraus, an der Schnittstelle kolonialer Staatlichkeit in Prozesse der kulturellen Übersetzung, interkulturellen Interaktion und politischen Vermittlung treten zu können, und somit zwischen Indigenem und Spanischen Kommunikation herstellen zu können. In ähnlicher Weise versuchte auch Guaman Poma de Ayala eine Mittlerposition zu besetzen, indem er den König darauf hinwies, dass es gerade die indigenen Adeligen seien, wie Poma selber oder wie Sancho Hacho, die, wenn sie das Machtzentrum kolonialer Administration besetzen würden, in der Lage wären, die verkehrte Welt in Ordnung zu bringen und die vier Weltengegenden der andinen Welt friedlich zu vereinen. Eine politische Vision, die von der Geschichte der Kolonialität der Macht überholt wurde.

KONSOLIDIERUNG, KOOPTATION UND KRISE DES KAZIKENTUMS In der frühen Kolonialzeit verfügten die indigenen Kaziken zum Teil noch über ausgedehnten Großgrundbesitz und beachtliche Reichtümer. Sie konnten sich in dieser Hinsicht durchaus mit den spanischen Conquistadoren, die sich überwiegend aus dem verarmten Adel Spaniens rekrutierten, messen. Für die Dynastie der Hati, die in der Gegend um Saquisilí von Bedeutung war, kann für das Jahr 1585 festgehalten werden, dass sie über zehn caballerías in Saquisilí verfügten, die sie im Jahr 1614 auf 28 caballerías ausweiten konnten. Hinzu kam der Besitz von 12.000 Schafen, 600 Kühen, 15 Schweinen, 120 Ziegen, 60 Stuten und einer Obraje. (Powers 1991: 38-40) Das 17. Jahrhundert kann als eine Zeit des Übergangs begriffen werden, in der sich die kolonialen Züge verstärkten und zunehmend die andinen räumlichen und politisch-ökonomischen Muster überlagerten. Insbesondere in der Zeit von 1570 bis 1670 führte der Vizekönig Francisco Toledo eine Politik der Verortung indigener Bevölkerung durch, indem die verstreut lebenden Indigenen in reducciones konzentriert wurden. Schon seit den 1570er Jahren erfolgte die Umsetzung des von Vi-

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zekönig Toledo initiierten Reformprogramms der reducciones in Latacunga, Ambato und Riobamba. In dessen Zuge wurden 18 Dörfer mit jeweils zwei- bis viertausend indigenen Einwohnern geschaffen. In Saquisilí wurden dazu acht neue parcialidades gegründet (Pérez 1962: 237). Die Politik der reducciones sah vor, dass die gesamte Bevölkerung eines Ortes entlang des Territorialprinzips einem indigenen Kaziken unterstellt wurde. Die reducciones waren nach dem Muster der spanischen Dörfer organisiert. Auf der lokalen Ebene waren die reducciones in repartimientos unterteilt, denen jeweils ein kuraka oder Kazike vorstand. Diese wurden wiederum zu Provinzen gruppiert und jeweils einem spanischen corregidor de indios unterstellt, der als lokaler politischer und ökonomischer Agent des Kolonialstaates fungierte. (Andrien 2001: 49-50) Dies stand der andinen Logik der archipelaren Raumkontrolle entgegen, die nicht dem Territorialprinzip entsprach, sondern über Verwandtschaftsbeziehungen erfolgte. Entsprechend gab es mitmakuna, Kolonisationssiedlungen, in anderen Regionen außerhalb der ethnischen Kernregion, wie sich auch in der »Heimatregion« regelmäßig mitmakuna von Kaziken anderer Regionen fanden. Anstatt eines territorialen Raums kann somit eher von einem andinen Ethnoscape gesprochen werden, das funktional auf die Kontrolle eines Maximums ökologischer Stockwerke und Nischen ausgerichtet war. Aber die andinen Raumlogiken wurden auch von den Kaziken und den indigenen Bauern benutzt, um sich den Tributzahlungen zu entziehen, da nur die Llactayos, die Indigenen, die einem Kaziken zugeordnet waren und über eigenes Land verfügten, tributpflichtig waren. Die Kaziken versteckten oft forasteros bzw. vagabundos auf ihren Gebieten, und die einfachen Indigenen nutzten die Migration als Fluchtlinie, um sich dem Tribut und der Mita zu entziehen oder geringere Zahlungen zu leisten. In Cotopaxi wurden bei der Umsetzung der Toledo-Reformen durchaus noch die Landrechte der Indigenen geachtet, denn dieser Politik der Verortung ging es nicht primär um die Landkontrolle, sondern um die biopolitische Kontrolle der Bevölkerung: »en resumen los Llactayos de Alaquez, Pujilí, Cusubamba, Cuicuno, San Felipe, Tagualó, lograron de alguna manera conservar parte de sus tierras. Igual fenómeno pasó con los Mitimaes de Pujilí, Saquisilí, San Felipe, San Sebastián, Toacazo, Pozolebí, Guangaje y Pastocalle.« (Jurado 1990: 37) Dies bedeutete allerdings keine besseren Lebensbedingungen für die indigene Bevölkerung. Insgesamt schätzt Jurado die Zahl der dem König tributpflichtige indigene Bevölkerung, die índigenas tributarios, im corregimiento Cotopaxi für das Jahr 1537 auf 30.000 Personen. Die Mehrheit von ihnen lebte in bitterer Armut, nur für rund 20 Familien der inkaischen und prä-inkaischen andinen Elite kann Ende des 16. Jahrhunderts ein relativer Reichtum nachgewiesen werden. 6

6 In Saquisilí sind drei zu nennen: Sebastián Mitima, der Kazike von Saquisilí, Juan Colaba, encomendero von Londoño und Antón Cauca, in Chimbo ansässig, der 1592 Vieh besaß.

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Dabei kam es in dieser Zeit zu einer komplexen Verflechtung und Überlagerung von spanisch-kolonialen, inkaischen und prä-inkaischen Elementen, wonach in einigen Regionen die Macht der inkaischen Eliten zurückgedrängt wurde und präinkaische Kaziken wieder an Bedeutung gewannen. Dieser Prozess verlief oft konfliktreich, wobei sich nicht nur Konfliktlinien zwischen spanischen Kolonisatoren und indigener Elite auftaten, sondern auch zwischen prä-inkaischen Eliten, indigenen der unteren Kasten und den von den Inkas eingesetzten Eliten. (Carrera 1981: 156-164) Die Hachos setzten in dieser Zeit wohl auf das strategische Bündnis mit den spanischen Kolonisatoren, was insofern aufging, als dass dieses Kazikentum zu Beginn des 17. Jahrhunderts seinen Landbesitz durch extensiven Landkauf erheblich erweitern konnte. Der Landzukauf war im 17. Jahrhundert ein zentrales Vehikel der Kontrolle indigener Arbeitskraft. So ist gerade für die Kaziken in Latacunga bekannt, dass sie den dortigen forasteros Landstücke anboten, um deren Arbeitskraft abschöpfen zu können. (Powers 1995: 118) Landausdehnung basierte auf zwei Faktoren: Zum einen kann vermutet werden, dass sich die lokalen Kaziken gerade um den Ort Saquisilí herum die nach der Zerschlagung des Inkareiches »frei« werdenden ehemals inkaischen Felder aneigneten. Zum anderen fußte sie auf Königstreue, durch die etwa Sancho Hacho in den intraspanischen Auseinandersetzungen eine gute Stellung gegenüber der Kolonialverwaltung erlangen konnte. Leider sind für die frühe Kolonialzeit die Daten über Landbesitz im corregimiento Latacunga – im Gegensatz zu den corregimientos de Quito und de Otavalo – nicht mehr vorhanden, so dass Carrera (1981) die Landtransaktionen in Latacunga über die caballerías rekonstruierte. Allerdings sind die Daten über Saquisilí wenig aussagekräftig. In Saquisilí lassen sich zwei Landkäufe (zwischen 1670 und 1679) der Kazikin Doña Elvira Titusunta Llamoca ausmachen, die insgesamt fünf Landkäufe tätigte. Die Kazikin gehörte zur Gruppe der Sancho Hacho (Coronel 2011: 28-29). Außerdem dehnte die Gruppe der Hati in der Region um San Miguel und San Felipe ihren Landbesitz aus. Carrera bilanziert, dass in der Zeit zwischen 1645 und 1683 die Hälfte der Landkäufe von der indigenen Elite getätigt wurde, während 33% der Landkäufe von einfachen Llactayos unternommen wurden. Dies spricht für Brüche in den traditionellen Hierarchien. Allerdings gibt es nicht in allen Fällen Daten zu der Größe der Landkäufe, so dass sich insgesamt kein eindeutiges Bild zeichnen lässt. Darüber hinaus war auch die Sicherung der Wasserrechte zentral. So kaufte der Kazike Bartolomé Sacho Hacho Pullapaxi im Jahr 1608 für 540 Pesos die Wasserrechte in der Region Saquisilí auf (Barriga 1974: 110-113).

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Dieser Kaufakt war für die Region um Saquisilí von so herausragender Bedeutung, dass er auf dem Wappen der Stadt abgebildet ist. 7 Raumpolitisch waren die Kazikentümer in der früh-kolonialen Phase durchaus noch erfolgreich in der Verteidigung ihrer Ländereien. Dies ist wohl auch damit zu erklären, dass die Landnahme nicht im Fokus der vizeköniglichen Kolonialpolitik stand, sondern es dieser an erster Stelle um die Bevölkerungskontrolle ging. Hier ergaben sich die größten raumpolitischen Konflikte entlang des Widerstreits zwischen der archipelagen Logik des Ethnoscapes der Kaziken, die ihre Untertanen zur Kontrolle eines Maximums an ökologischen Stockwerken – vom Hochland über die Küste bis in die östlichen Andenabhänge in das beginnende Amzonastiefland – einsetzten, und der kolonialen Logik der Verortung nach dem Territorialprinzip. Erst mit der Krise der Textilmanufaktur im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts und der damit einsetzenden Expansion der Hacienda sowie der parallel verlaufenden kolonialstaatlichen Politik der Verortung im Sinne der zwangsweisen Sesshaftigkeit der forasteros und vagabundos setzten neue Konjunkturen der Kolonialisierung in den Kazikentümern ein.

7 Weite Ländereien verfügten über keine Bewässerungssysteme und ein Großteil war v.a. von dem Fluss Pumacunchi abhängig.

Politische Instituierung der Geopolitik der Kolonialität

Die spanische Kolonialisierung des Andenraums zielte darauf ab, in möglichst kurzer Zeit möglichst großen Reichtum abschöpfen zu können. Während dazu in Peru und Bolivien der Schwerpunkt auf Bergbauaktivitäten lag – was an den Silberbergwerken des Cerro Rico in Potosí wohl am deutlichsten zum Ausdruck kam –, mussten sich die Conquistadores angesichts der in Ecuador nicht vorhandenen Edelmetalle andere Ausbeutungsalternativen erschließen. Im corregimiento Latacunga war die Fabrikation von Schießpulver von großer Bedeutung, was auf das Vorhandensein von Rohstoffen wie Salpeter, Kohle und Schwefel zurückzuführen ist. So existierten in Saquisilí große Salpetervorkommen. Die erste Schießpulverfabrik wurde von Pedro Domínguez betrieben und durch einen Vertrag mit der Real Audiencia de Quito 1587 formalisiert. 1592 wurde die Fabrikation dann von der Real Audiencia de Quito selbst übernommen. (Cárdenas 1993: 66-67) Neben dieser ökonomischen Aktivität ist für das corrregimiento Latacunga – wie auch für den gesamten zentralen Andenraum in Ecuador – die Bedeutung der Textilherstellung hervorzuheben. Im 16. und 17. Jahrhundert konzentrierte sich der Textilsektor auf die Stadt Quito sowie die corregimientos Latacunga und Riobamba. Die Produktion von Stoffen und Textilien war der ökonomisch zentralste Sektor in der Audiencia de Quito. Neben der gesteigerten Nachfrage – vor allem in der Bergbauregion um Potosí – und den relativ hohen Textilkosten im 16. Jahrhundert sind vor allem die Verfügbarkeit über günstige Arbeitskraft sowie der Zugang zu den für die Schafzucht und Versorgungswirtschaft notwendigen Weiden als wichtige Faktoren für die Herausbildung der Textilmanufakturen in der Region zu nennen. Vieles deutet darauf hin, dass die Verfügung über Ländereien in der frühen Kolonialzeit nicht der zentrale Faktor für die Akkumulation von Kapital war, da zum einen noch keine Landknappheit herrschte und zum andern Faktoren wie Verfügung über Arbeitskraft und Marktnähe eine größere Rolle für die ökonomische Entwicklung spielten. (Ibarra und Ospina 1994: 17) Da die Spanier – anders als im Fall der späteren englischen Siedlungskolonien in Nordamerika – das Land nicht selber besiedeln und bearbeiten wollten, stellte

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sich für die ökonomische Inwertsetzung vor allem das Problem der Beschaffung von Arbeitskraft. Dazu griffen die Conquistadoren auf die indigene Bevölkerung zurück. Allerdings konnte die Abschöpfung von Arbeitskraft nicht ungeregelt erfolgen, stellte die Nutzung der indigenen Arbeitskraft doch eine politisch umkämpfte Ressource an jenen Rändern kolonialer Staatlichkeit dar. In diesem Sinne entstanden an der Schnittstelle kolonialer Staatlichkeit eine Reihe von politischen Regulationen, wie nun in Hinblick auf das corregimiento Latacunga ausgeführt wird.

T RIBUT

UND

B EVÖLKERUNGSKONTROLLE

Die spanische Krone wollte die Macht der Kolonisatoren beschränken und hatte die Indigenen – auch auf der Grundlage religiös-philosophischer Dispute wie dem zwischen Las Casas und Sepúlveda – als christianisierbare Menschen definiert, die politisch den Status von freien Vasallen des Königs erhielten. Doch war die Krone auch auf die Ausbeutung der Indigenen durch die Conquistadoren angewiesen, sodass es immer wieder rechtliche Schlupflöcher gab, um indigene Arbeitskraft auszubeuten. Zudem war der koloniale Staat bürokratisch noch nicht so gefestigt, dass die effektive Erfüllung der Gesetze überwacht werden konnte. Dennoch stellten die Gesetze immer auch eine Schnittstelle dar, über die indigene Gemeinschaften und deren Kaziken Protest artikulieren und auch begrenzt durchsetzen konnten. Jedoch war das Interesse der Krone an den Indigenen nicht rein philanthropisch motiviert, vielmehr ging es vor allem um das Recht auf Abschöpfung von Tributen. Besonders hervorzuheben ist, dass Mitte des 17. Jahrhunderts ein signifikanter Anstieg der absoluten Zahlen der tributpflichtigen Bevölkerung festzustellen ist. Tab. 1: Tributpflichtige Bevölkerung im ecuadorianischen Andenhochland (Anzahl in Personen) Region\Jahr

1549

1581

1590

1660 – 1670

Latacunga

4.900

3.432

3.300 - 4.700

14.171

Ambato

3.200

1.761

1.200 - 1.700

6.011

Riobamba

6.000

4.372

4.500

17.500

Chimbo

2.200

1.875

1.100

2.664

Gesamt

16.300

11.440

12.000

40.346

Quelle: Eigene Erstellung nach Newson 1995: 220, Alchon 1991: 80.

G EOPOLITIK DER K OLONIALITÄT | 95

Allein in Latacunga ist von 1590 zu 1660/70 eine Verdreifachung der tributpflichtigen Bevölkerung von 3.300 bis 4.700 auf 14.171 festzustellen. Dieser demographische Wandel kann nicht allein auf eine höhere Geburtenrate und geringere Sterberate zurückgeführt werden, vielmehr griffen hier zum einen bevölkerungspolitische Regulationsmechanismen und zum anderen kann eine (Rück-)Migration von Indigenen in die zentralen Regionen des Andenhochlands konstatiert werden. Im Folgenden soll verstärkt auf die demographische Zusammensetzung im corregimiento Latacunga eingegangen werden. Abb. 3: Karte des corregimiento Latacunga in der späten Kolonialzeit

Quelle: Lavallé 2002: 38.

Wie hier detaillierter am Beispiel des corregimiento Latacunga zu sehen ist, nahm insbesondere in den 1660er Jahren die tributpflichtige Bevölkerung sprunghaft zu. Dann stabilisieren sich die Zahlen, bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts wieder ein Rückgang der tributpflichtigen Bevölkerung festzustellen ist. Allein von 1701 bis 1712-1717 reduzierte sich die tributpflichtige Bevölkerung um knapp 2.400 Personen von vormals 7.208 auf 4.821. Dies kann vor allem durch die immer weitere Ausdehnung der Hacienda erklärt werden.

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Tab. 2: Tributpflichtige Bevölkerung im corregimiento Latacunga 1591-1717 (Anzahl in Personen) Ort\Jahr

1591

1648

16601666

16721674

16911696

1701

17051707

17121717

Keine Zuordnung: Vagabundos

140

507

540

611

710

659

578

Cuzumbama

98

11

128

113

107

92

81

1.634

692

785

591

582

521

353

2.798

3.293

3.660

3.028

2.328

3.532

3.192

3.548

3.098

2.493

Mulahaló

557

Tanicuchi, San Felipe, Pujilí, Saquisilí, San Miguel *

2.322

Saquisilí, Alaqués, San Miguel, San Sebastián**

5.004

3.207

584

1.014

877

Sigchos

1.591

2.068

1.763

2.177

1.647

1.532

Collanas

1.164

1.803

1.015

1.015

1.077

1.010

Angamarca

GESAMT Region Saquisilí

631

14.083 7.326

8.375 6.330

6.485

7.208

6.126

4.821

* Es handelt sich um die encomienda Calzada ** Es handelt sich um die encomienda Sandoval Quelle: Eigene Erstellung nach Quishpe 1999: 40 und Tyrer 1976: 397

In Hinblick auf die ethnische Zusammensetzung ist festzuhalten, dass das zentrale Hochland Ecuadors auch im 18. Jahrhundert weitgehend indigen geprägt war. In Saquisilí beispielweise wurde 90% der Gesamtbevölkerung in den offiziellen Erhebungen als indigen klassifiziert. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass in den Erhebungen die Kategorie der mestizos fehlt, sodass anhand dieser Zahlen keine Aussagen über Transkulturationsprozesse getroffen werden können. Bemerkenswert ist zudem die geringe Bedeutung der Sklaverei, ein deutlicher Indikator dafür, wie der Bedarf an Arbeitskraft aus den Reihen der indigenen Bevölkerung gedeckt wurde. Hervorzuheben ist die besondere demographische Bedeutung der Region Saquisilí im corregimiento Latacunga. Die Hälfte der tributpflichtigen Bevölkerung des corregimiento Latacunga stammt vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts aus den encomiendas Calzada und Sandoval und damit aus der Region um Saquisilí.

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Tab. 3: Ethnische und soziale Zusammensetzung der Bevölkerung im corregimiento Latacunga, 1778-1784

Eigene Berechnung und Erstellung aus ANH/Q, Censos 1778, 1780, 1782, 1784.

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Die hervorgehobene demographische Bedeutung von Saquisilí im corregimiento gilt auch für das gesamte 18. Jahrhundert. So ist Saquisilí das Pueblo der Region mit der höchsten Bevölkerungszahl von knapp über 10.000 Einwohnern, während Latacunga nur um 3.400 Einwohner zu verzeichnen hat. Damit stellt Saquisilí ein Fünftel der Bevölkerung im corregimiento. Von den Einwohnern in Saquisilí wurden in den Erhebungen mehr als 90% als Indios klassifiziert, d.h. zwischen 1778 und 1784 leben um die 9.500 Indigene in Saquisilí.

E NCOMIENDA Die Vergabe von encomiendas war in der Frühphase der Conquista ein wichtiges Instrument der Krone zur Gratifikation von Eroberern. Hierbei handelte es sich um von der spanischen Krone an Privatleute treuhänderisch abgetrennte Rechte über die Verfügung von Land und der hierauf angesiedelten indigenen Bevölkerung. Für die Nutzung dieses Landes sowie der Tribut- und Arbeitsleistungen (bis 1549) indigener Gemeinschaften musste der encomendero im Gegenzug die Christianisierung der Indigenen sicherstellen. Dabei galten die Indigenen als freie Untertanen der Krone, sie waren also keine dem encomendero untergeordnete Leibeigene oder gar Sklaven. In der ursprünglichen Form der encomienda, so wie sie in den Antillen und Mexiko entstand, konnte der encomendero über servicios personales verfügen, was aber bereits 1536 verboten, und durch die klassische Form der encomienda, wonach der encomendero einen Teil der Tributzahlungen der Indigenen einbehielt, ersetzt wurde. In den Leyes Nuevas von 1542/43 verschärfte sich das Verbot der servicios personales. (Vgl. ausführlicher Oberem 1981a: 305; 1977) Entsprechend war der encomendero verpflichtet, die indigenen Arbeiter zu bezahlen, was in Form von Geld aber auch von Verpflegung und Kleidung erfolgte. De facto reichte die Bezahlung in den meisten Fällen aber nur, um den von der Krone festgesetzten Indianer-Tribut, eine Art Kopfsteuer für Indigene, zu bezahlen. Dieser wurde von den encomenderos eingetrieben und an die Krone weitergeleitet. In der Real Cedula vom 22. Februar 1549 wurde auch verboten, persönliche Dienstleistungen direkt in Tribute zu verwandeln, was eine bei den encomenderos beliebte Form war, um günstige Arbeitskraft von verarmten Indigenen abzuschöpfen. In der Praxis gab es jedoch nur eine begrenzte Kontrolle der Einhaltung der neuen Gesetze. In der Real Instrucción sobre el trabajo de los indios von 1601 wurde das Verbot erlassen, in der Landwirtschaft unfreie indigene Arbeiter einzusetzen. (Real Instrucción sobre el trabajo de los indios, 1601, in Konetzke 1958: 71) In der Praxis wurde aber im Andenraum entgegen der Rhetorik der Gesetze und Anordnungen die indigene Arbeitskraft weiter abgeschöpft, wobei sich allerdings in Folge – wie im späteren Verlauf dieser Studie gezeigt werden wird –mit der concertaje neue

G EOPOLITIK DER K OLONIALITÄT | 99

Ausbeutungsformen und Politiken der Verortung etablierten, die durchaus an die encomienda anschließen. 1583 vergab der Cabildo de Quito Landrechte an die Spanier, die sich bei der Eroberung verdient gemacht hatten (Jurado 1990: 36) 1. Die vom Cabildo de Quito zwischen 1583 und 1594 übergebenen Ländereien deuten auf eine intensive indigene Besiedlung des Gebietes zwischen Latacunga, Pujilí, Cusubamba und San Miguel hin, besonders der fruchtbaren Täler der Flüsse Isinche und Nagsiche. Insgesamt orientierten sich die encomiendas an den mitmacuna der Inkas, d.h. es wurden die Täler in der Nähe des camino real sowie die Gebiete mit hoher indigener Bevölkerung zwischen Callo und Mulaló besetzt. Laut den Relaciones Geográfica de Indias müssten Ende des 16. Jahrhunderts folgende encomiendas in der Gegend um Saquisilí etabliert gewesen sein. (Pérez 1962: 225-226) Demnach verfügte Juan de Londoño (hier handelt es sich schon um den Sohn des Eroberers) über 1.500 tributarios in Alhaques, Saquisilí und Mulahaló, Francisco de la Carrera besaß 800 tributarios in Panzaleo, Rodrigo Núñez de Bonilla hatte 1.000 tributarios in Latacunga und García Ponce verfügte über 1.200 tributarios in Sigchos.

ABSCHÖPFUNG INDIGENER ARBEITSKRAFT KOLONIALE P OLITIK DER V ERORTUNG

UND

In der politischen Kommunikation hingegen war die Positionierung der Indigenen als Vasallen des Königs ein zentrales Element und Regulationsinstanz, um die Autonomietendenzen der Conquistadoren und später der der Criollos zu kontrollieren. Bereits bei Gonzalo Pizarros gewaltsamer Auseinandersetzung mit der Krone ging es vor allem um Souveränität und das Recht auf Abschöpfung indigener Arbeitskraft. Mit dem Verbot der servicios personales, des Verbots der Vererbung der encomienda und der Schaffung von bürokratischen, kolonialstaatlichen Instanzen zur Eintreibung der Indianer-Tribute, (Montenegro und Gudiño 1986: 11) wurde zeitgleich die Mita eingeführt. Entsprechend kommt Udo Oberem in Hinblick auf die Transition von der encomienda zur Mita anhand der Real Institución sobre el trabajo de indios (1601) und der Real Cédula sobre servicios personales y repartimientos

1 Über die Zuweisung von Indios als Mitayos liegen keine genauen Daten vor. Deshalb konzentrieren wir uns auf die Größe der Ländereien. Vom Cabildo de Quito wurden 416 caballarias an 51 Spanier und an Alonso Atagualpa in 63 Konzessionen vergeben, was eine Durchschnittsgröße von ca. 90 ha pro Eigentümer ergibt. In der Audiencia de Quito, wie auch im gesamten spanischen Kolonialreich, betrachtet sich die spanische Krone als legitime Besitzerin der Landrechte. Letzte wurden über Konzessionen für eine bestimmte Dauer an reducciones indigener Kaziken aber auch an spanische Conquistadoren vergeben.

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de indios (1609) zu folgendem Fazit: »Aber genau in diesen Gesetzen ist auch sichtbar, dass der Antagonismus zwischen der Ideologie der Krone in Hinblick auf die freien Untertanen einerseits, und andererseits die Notwendigkeit, die für die Aufrechterhaltung der spanischen Insitutionen unabdingbare Arbeitskraft, nur mittels der mita zu lösen war.« (Oberem 1981a: 308) Mita Die Mita war keine in Spanien übliche Form der Abschöpfung von Arbeitskraft, vielmehr handelt es sich um eine Institution, die aus dem andinen politischökonomischen System stammt und von den spanischen Eroberern im Zuge einer Instituierung der Kolonisation nach den Anfangsjahren kolonialer Landnahme aufgegriffen wurden. Mit dieser Verflechtung spanischer Kolonialherrschaft und andinem politisch-ökonomischen System setzte eine neue Konjunktur der Kolonialisierung ein, die dem kolonialen Staat nachhaltig Arbeitskraft zuführte. Bei der Mita handelte es sich im Tahuantinsuyo um ein staatlich organisiertes System der Tributleistung durch Arbeit, die von territorial bestimmten Kollektiven in regelmäßigen Abständen geleistet wurde, um gesamtgesellschaftlich relevante Großprojekte durchzuführen oder den Militärdienst zu leisten. Die mitayuq (hispanisiert mitayos) bekamen keinen Lohn, wurden aber vom Inkastaat während des Dienstes verpflegt. In der ökonomischen Anthropologie des Andenraums ist die Beurteilung dieser Form der Abschöpfung von Arbeitskraft umstritten. Einigkeit besteht darin, dass mit dem Aufstieg des Tahuantinsuyo die vormals relativ autonomen ayllus – mit ihren Formen gegenseitiger Hilfe – in ein politisches Abhängigkeitssystem geraten sind. In marxistisch orientierten Ansätzen wird hierbei auf die »asiatische Produktionsweise« verwiesen, nach der in ackerbäuerlichen Gesellschaften ein Surplus an eine Herrscherklasse übertragen wird (Godelier 1973: 9394). Einerseits wird – in Anschluss an Karl Wittfogel – der despotische Charakter betont, und andererseits wird in dem hier etablierten System der Redistribution von Gütern die Vorstufe eines Agrarkommunismus gesehen – wie es bei Mariátegui angelegt ist (vgl. auch Baudin 1993). Die letztgenannte Argumentation wird von ethnohistorischen und wirtschaftshistorischen Ansätzen in Anschluss an Karl Polanyi (1995) gestützt, die darauf verweisen, dass die Mehrarbeit hauptsächlich für das Gemeinwohl – Straßenbau, Anlage von Ackerbauterrassen, Bau von Nahrungsmittelspeichern zur Vorbeugung von Hungersnöten, und Verpflegung des Heeres – eingesetzt wurde und entsprechend als Redistribution zu werten ist. Dabei bilden Reziprozität und Redistribution keine Gegensätze, sondern sie werden im gleichen politisch-ökonomischen System miteinander verbunden: »the first then corresponds to the horizontal form of exchanges, at the local level [vor allem zwischen den Ayllus, O.K.]; the second corresponds to the vertical form of exchange between the lo-

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cal units and the central authority.« (Valensi 1981: 5) Im Sinne der Gabentauschund Umverteilungsökonomie kann nicht nur eine Abschöpfung stattfinden, sondern die Inkas sind immer auch gezwungen – vermittelt über die curacas – Gaben an die unteren Ebenen der Ayllus zu leisten, um den Zyklus von Gaben und Gegengaben bei der Herstellung von Gemeinschaft und politischer Loyalität aufrecht zu halten. 2 Genau dieser Zyklus ist im frühkolonialen System allerdings unterbrochen worden, da die Krone sich weitgehend auf die Abschöpfung von Surplus konzentrierte, während die andinen curacas und Gemeinschaften vor dem Hintergrund ihres Verständnisses von moral economy auf Gegengaben und Reziprozität drängten. In der Audiencia de Quito wurde die Mita – mangels der Existenz von Bergwerken (wie in Potosí)– nahezu ausschließlich in der Landwirtschaft der Haciendas eingesetzt. Die Anwendung der Mita in Zuckermühlen und Textilmanufakturen hingegen wurde früh verboten. (Oberem 1981a: 306) Bei der kolonialzeitlichen Mita handelt es sich um eine Form der Zwangsarbeit, die im regelmäßigen Turnus – in der Regel ein Jahr in fünf Jahren – abgeleistet werden musste. Entsprechend werden die mitayos in den zeitgenössischen Dokumenten auch oft als indios quintos bezeichnet. Ursprünglich wurde die Anzahl der Mitayos von den Cabildos vergeben, was auf Grund von Korruption und Vetternwirtschaft ein Problem darstellte, bis von Francisco de Toledo 1582 eine neue Regelung erlassen wurde. Dabei wurden die indigene Kaziken zu der zentralen Vermittlungsinstanz zur Gewährleistung der Mita, womit das im Tahuantinsuyo institutionalisierte Prinzip politischer Kommunikation – vom Zentralstaat über die curacas an die Ayllus (Espinoza 1990: 316-319) – wieder hergestellt wurde. Auf Seiten der kolonialen Bürokratie wurde die Regulation der Arbeitskraft, sprich die Verteilung der Mitayos, vor allem durch die corregidores de indios geregelt, 3 womit die lokalen kreolischen Eliten und ehemaligen Conquistadoren, die zuvor über die Mita Zugriff auf die indigene Arbeitskraft hatten, geschwächt wurden. (Montenegro und Gudiño 1986: 13) Zur Mita wurden alle männlichen Indigenen im Alter zwischen 18 und 50 Jahren herangezogen, die in indigenen Gemeinschaften wohnten und hier auch über Land verfügten. Handwerker und auch die Familien der Kaziken waren – ebenso wie Kranke – von der Mita ausgeschlossen. Entsprechend konnte der Kazike keine indios forasteros, die aus anderen Gebieten zugezogen waren, zur Mita heranziehen.

2 Vgl. hierzu auch die Arbeiten zur moralischen Ökonomie in Anschluss an die bahnbrechenden Überlegungen von Marcel Mauss (1978) im Tahuantinsuyo von Sallnow (1991). 3 Zwar wurde die Mita auch in der frühen Kolonialzeit verwendet, doch erst in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts wurde sie zentral von der kolonialen Bürokratie verwaltet.

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An dieser Stelle kommt also deutlich auch das eingangs im Kapitel über die señorios étnicos erwähnte Primat des Ethnoscape über das der Territorialität zur Geltung. Anders als im Tahuantinsuyo erfolgte die Abschöpfung der Arbeitskraft der mitayos vor allem zur persönlichen Bereicherung der Hacienda-Besitzer und nur in Ausnahmefällen für das Gemeinwohl. Ein Politikum zwischen Conquistadoren und deren kreolischen Nachkommen einer- und kolonialem Staat und spanischer Krone andererseits stellte der Konflikt um die Kontrolle indigener Arbeitskraft dar. Bereits der Aufstand Gonzalo Pizarros – die Rebelión de los Encomenderos – war nicht zuletzt gegen die Nuevas Leyes gerichtet. In Hinblick auf die Mita etablierte sich ein prekärer Ausgleich zwischen beiden Interessen, indem der Hacienda zwar das Recht auf eine bestimmte Anzahl von Mitayos zustand, was zu einem zentralen Wertfaktor des Grundbesitzes wurde. Auf der anderen Seite waren die Mitayos aber nicht einer Person, sondern einer Hacienda zugeordnet und wechselten mit Verkauf oder Vererbung auf den neuen Besitzer. Dies ist raumpolitisch als frühkolonialzeitliche Politik der Verortung zu begreifen, die über die Bindung von Arbeitskraft an Land eine neue Konjunktur der Kolonialisierung einleitete. Hervorzuheben ist zudem, dass diese Politik der Verortung und Abschöpfung indigener Arbeitskraft nicht ohne die Vermittlung indigener Kaziken stattfinden konnte. Es bildete sich eine Schnittstelle politischer Kommunikation heraus, an der kreolische Hacienda-Besitzer, andine curacas und die spanische Krone die Verteilung indigener Arbeitskraft – die wichtigste Ressource in der Audiencia de Quito – politisch und ökonomisch aushandelten. Da die curacas die indigene Arbeitskraft einzogen, musste ihnen genug Land zur Verfügung stehen, damit die indigenen Bauern und möglichen Mitayos ihre Subsistenz gestalten konnten. Denn ein Kazike durfte laut den spanischen Gesetzen nur diejenigen Indigenen zur Mita einziehen, die über Land in der Gemeinschaft verfügten und Zugang zu den kommunalen Ländereien hatten. Ein Kazike, der nachweisen konnte, dass er nicht über genügend Land verfügte, musste keine Mitayos entsenden. Doch in der Praxis war die lokale Macht der spanischen Landbesitzer und lokalen Eliten so stark, dass sie die Mita mit Zwang durchsetzten. So wurden Kaziken ausgepeitscht oder gefoltert, damit sie die entsprechende Zahl der Mitayos lieferten. Außerdem ist bekannt, dass Kaziken ihr eigenes Land an Indigene vergaben, um die Anzahl der Mitayos zu erhöhen. (Oberem 1981a: 307) Der Druck auf die Kaziken war so stark, dass das System der Mita – das idealer, in noch am andinen Modell ausgelegter Weise auf Nachhaltigkeit basierte – durch die Ausbeutung indigener Arbeitskraft durch die Großgrundbesitzer unterminiert wurde. Zur Mita wurden die dafür vorgesehenen Indigenen alle fünf Jahre eingezogen, womit der Großteil der einem Kaziken zugeordneten Indigenen theoretisch einen Großteil ihrer Lebenszeit keiner Zwangsarbeit nachgehen mussten. Auf Grund des Bevölkerungsrückgangs in den indigenen Gemeinschaften bei gleichzeitig ausbleibender Anpassung der Zahl der Mitayos sowie einer stetig wachsenden Nach-

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frage nach indigener Arbeitskraft, sahen sich die Kaziken gezwungen, einen Großteil der ökonomisch aktiven Bevölkerung an die Hacienda abzutreten bzw. zog ein Teil der indigenen Bauern die Arbeit als concierto auf der Hacienda der Arbeit als Mitayo vor. Yanacunaje Eine weitere relevante Strategie der Hacendados zur Sicherung indigener Arbeitskraft auf den Latifundien stellte das System der Yanacunaje dar. (Oberem 1981a: 304-305) Auch hierbei handelt es sich um eine soziale Beziehungsform, die aus dem prä-hispanischen Andenraum stammte. Die yanacuna waren im Inkareich eine soziale Gruppe, die einen sklavenähnlichen Status hatte. Zumeist handelte es sich um Kriegsgefangene, die von ihren Ayllus getrennt und in andere Gebiete gebracht wurden, um dort Zwangsarbeiten für öffentliche Arbeiten oder den persönlichen Dienst der Inkas und ihrer Familien zu leisten. Sie blieben lebenslang unfrei und waren von den Reziprozitätsbeziehungen ihrer Herkunftsgemeinden losgelöst. Dennoch können sie laut Espinoza nicht im herkömmlichen Sinne als Sklaven verstanden werden, da ihnen ein Stück Land zur Sicherung der Subsistenz zustand, sie Eigentum besaßen und sich in eigenen politischen, ayllu-ähnlichen Gemeinschaften zusammenschließen konnten. (Espinoza 1990: 287-293) Dennoch war diese soziale Kategorie für die spanischen Eroberer von besonderem Interesse, da hier eine von den curacas und Ayllus unkontrollierte Ausbeutung von Arbeitskraft möglich war. 1574 regulierte der Vizekönig Toledo die yanacunaje und stellte den Kolonisatoren einzelne Indigene für die Leistung von Hausarbeiten und landwirtschaftlichen Tätigkeiten zur Verfügung. In der Audiencia de Quito setzte sich die Gruppe der yanacuna einerseits aus denjenigen Indigenen, die im Laufe des inkaischen Bürgerkriegs zwischen Atahualpa und Huascar sowie in dem nachfolgenden spanischen Eroberungskrieg von ihrer sozialen Gruppe getrennt wurden wie beispielsweise versprengte Truppenreste zusammen. (Oberem 1981a: 304). Zum anderen handelte es sich um der encomienda unterworfene Indigene, die frühzeitig aus den comunidades herausgelöst und an die Hacienda gebunden wurden. Jedoch war bereits Ende des 16. bzw. Anfang des 17. Jahrhunderts ein akuter Mangel an yanacuna festzustellen. (Oberem 1981a: 309) Um die sich nun auftuenden Engpässe bei der Versorgung von Arbeitskraft auf den Haciendas und den Obrajes zu lösen, wurde das System der concertaje installiert. Concertaje Der Begriff des concierto ist in der Audiencia de Quito erstmalig in der Real instrucción sobre el trabajo de los indios aus dem Jahre 1601 zu finden, in der es

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heißt, dass die Indigenen sich auf den »öffentlichen Plätzen und dafür üblichen Orten« (Real instrucción sobre el trabajo de los indios, in Konetzke 1958: 71) sammeln sollten, um ihre Arbeitskraft frei zu veräußern. Ziel der spanischen Krone war es, die Indigenen zu freien Lohnarbeitern, jornaleros, zu machen. (Real instrucción sobre el trabajo de los indios, in Konetzke 1958: 71) Der Krone ging es dabei darum, die Indigenen als Untertanen – und damit Tributzahler –beizubehalten, und sie nicht den kreolischen Eliten zu überlassen, die darauf abzielten, die Indigenen dauerhaft an die Hacienda zu binden. De facto hat sich dieses Modell des zeitlich begrenzten Verkaufs von Arbeitskraft allerdings in der Audiencia de Quito nicht durchsetzen können. Stattdessen etablierte sich das Modell der concertaje, eine Art Schuldknechtschaft. Im Gegensatz zum jornalero, der nach der Beendigung des Arbeitsvertrags, seine Arbeitsstätte wieder frei wählen kann, wird der concierto auf der Hacienda, bei der er arbeitet, so verschuldet, dass er dauerhaft an die Hacienda gebunden wird. 4 Diese Bindung – eine Form der Schuldknechtschaft – wurde zudem dadurch verstärkt, dass der Arbeiter ein kleines Stück Land, das in der Regel nicht die Selbstversorgung deckte, auf dem Gelände der Hacienda nutzte. Dieses Landstück wurde in Ecuador huasipungo genannt, und der concierto entsprechend huasipungero. Raumpolitisch kann die concertaje als eine nachhaltige Strategie der Verortung indigener Arbeitskraft begriffen werden, bei der die indigenen Arbeiter und deren Familien, die in der Regel unbezahlte Arbeit leisteten, durch Verschuldung an die Hacienda gebunden wurden. Die indigenen Arbeiter gehörten quasi zum Inventar der Hacienda und wurden entsprechend oftmals in den Kauf- und Mietverträgen von Haciendas aufgeführt. Bereits in den 1760er Jahren war diese Politik der Verortung in der Hacienda so massiv, dass es in mehreren indigenen Dörfern (Pueblos) keine freie Indigene mehr gab, da alle als conciertos in den Haciendas lebten. 5 Während die Mita 1812 und die Sklaverei nach der Unabhängigkeit 1855 abgeschafft wurden, blieb die concertaje auch in der post-kolonialen Republik Ecuador vom 19. bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die bestimmende Form der Abschöpfung von Arbeitskraft.

K OLONIALE D ISPOSITIVE : O BRAJE

UND

H ACIENDA

Insgesamt hat das corregimiento Latacunga bereits in der frühen Kolonialzeit eine rasante ökonomische Entwicklung durchgemacht, was in vielen hier entstandenen

4 Strategien der Verschuldung werden im Kapitel zur Hacienda im 19. Jahrhundert erörtert. 5 Die galt 1733 für Guápulo, in der Nähe von Quito; 1766 für verschiedene Ortschaften um Otavalo und 1767 für Baños (Oberem 1981a: 314).

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Obrajes zur Textilproduktion, in Bergwerken, Pulverfabriken und großen Haciendas, die vor allem im fruchtbaren Cutuchi-Tal angesiedelt waren, seinen Ausdruck fand. Entsprechend urteilt die Historikerin Alexandra Kennedy: »Latacunga wurde so zu einem der reichsten Orte mit der größten ökonomischen und politischen Dynamik in der Audienz von Quito.« (Kennedy 1983: XII) Die ersten Textilmanufakturen, die eingerichtet wurden, waren sogenannte obrajes de comunidad, die ursprünglich von encomenderos gegründet, dann aber von den indigenen Gemeinden betrieben wurden. Hintergrund war, dass den encomenderos seitens der Krone verboten wurde, Eigentum innerhalb ihrer encomiendas zu besitzen. In Latacunga wurde die erste Obraje – wie geschildert – von dem indigenen Kaziken Sancho Hacho eingerichtet und betrieben. (Newson 1995: 2010) Im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts drängten die spanischen Autoritäten darauf, die indigene Bevölkerung als Arbeitskraft in den Textilmanufakturen Quitos einzusetzen, die einen zentralen Bestandteil der Ökonomie des kolonialen Systems darstellten. Dazu wurden sowohl indios forasteros als Lohnarbeiter in die Obrajes gedrängt als auch die Tributraten in den andinen Gemeinschaften derart in die Höhe getrieben – so lag der Tribut zwischen vier und neun Pesos jährlich –, so dass sich die indigene Bevölkerung in den Obrajes verdingen musste, um die Tribute zahlen zu können. (Andrien 1995: 20) Auf diese Weise wurde die Arbeitskraft in den Obrajes bis Ende des 17. Jahrhunderts gesichert und gleichzeitig eine hohe Tributrate gewährleistet. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts existierten dann in der Audiencia de Quito insgesamt 14 obrajes de comunidad, wovon drei im corregimiento Latacunga angesiedelt waren. Dies waren die Obraje von Latacunga mit 350 indios tributarios, u.a. aus Saquisilí, die Obraje von Mulahaló mit 100 tributarios sowie 50 muchachos, und die Obraje von Sigchos mit 300 tributarios. (Quishpe 1999: 57) Die Zahl der Obrajes begann mit dem Textilboom bis Mitte des 17. Jahrhunderts rasch zu wachsen, aber bereits im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts setzte eine erste Krise der Obrajes ein. Hintergrund der Krise waren der Niedergang des Bergbaus in Bolivien und Peru und damit der Rückgang der regionalen Nachfrage nach Textilien, der Entstehung weiterer Textilmanufakturen in der Region, Wettbewerb mit europäischen Produkten, vor allem aus England und Frankreich, sowie Naturkatastrophen (die 1687 beginnende Welle von Erdbeben) und schließlich der Ausbruch von Epidemien, die die Bevölkerung dezimierten. Allerdings wurde das corregimiento Latacunga zunächst weniger stark als andere Regionen von der Krise der TextilProtoindustrie betroffen, da sie Textilien schlechterer Qualität vor allem für den Markt in Neu-Grenada produzierte und somit nicht mit den teureren und hochwertigen europäischen Textilien im direkten Wettbewerb stand. In dieser Phase ist eine immer enger werdende Verflechtung von Obraje und Hacienda zu beobachten. So nutzten die Obrajes die Synergieeffekte mit der Hacienda, was die Bereitstellung von Schafwolle und Nahrungsmitteln für die Arbeitskräfte betrifft. Im corregimiento Latacunga konnte sich der Textilsektor stabilisie-

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ren, und blieb bis Ende des 18. Jahrhunderts ein zentraler Wirtschaftszweig in der Region. Während um 1780 die Zahl der Werkstätten in Quito und Riobamba von 74 auf 36 beziehungsweise von 41 auf 24 zurückging, stieg sie in Latacunga von 31 auf 50. Diese Obrajes beschäftigten zirka 2.400 Arbeiter, was ungefähr 40% der Gesamtbeschäftigten im Textilsektor der Audiencia de Quito entsprach. (Tyrer 1976, Lavallé 2002: 77) Dennoch existierten 1804/05 nur noch die Hälfte der Obrajes im Verhältnis zum Vergleichsjahr 1756. Konflikte, juristische Auseinandersetzungen und kolonialstaatliche Reglementierungen ziehen sich durch die Geschichte der Obrajes im 17. und 18. Jahrhundert. Im Mai 1621 verurteilte der spanische König Philip IV. auf der Grundlage des Berichts des oídors Matías de Peralta die Exzesse der encomenderos, die die indigene Bevölkerung zur Arbeit in den Obrajes verpflichteten, scharf. Er wies darauf hin, dass es den encomenderos verboten war, in ihrer encomienda eine Obraje zu errichten oder die indigene Bevölkerung zu servicios personales heranzuziehen. Im November des gleichen Jahres verbot der König dann auch die Anwendung der Mita bei der Rekrutierung kostenloser Arbeitskraft in den Textilmanufakturen. Verwiesen wurde dabei unter anderem darauf, dass diese Formen der Zwangsarbeit gegen die »Freiheit der Indios« gerichtet waren. Doch stellte sich – so Andrien (1995: 2223) – bereits Mitte der 1630er Jahre heraus, dass das System sich als nicht reformfähig erwies, und die Krone gab gegenüber den encomenderos nach, die nun Betriebslizenzen, oder besser Leasing-Verträge für Obrajes de Comunidad über die Laufzeit von sechs Jahren erhalten konnte. Doch hatten sich auch Mitte des 18. Jahrhunderts die Arbeitsbedingungen in den Textilmanufakturen nicht verbessert, wie aus zahlreichen Berichten – u.a. von Jorge Juan y Antonio de Ulloa hervorgeht. Don Joseph de Arauja, presidente de la Real Audiencia, schrieb zu Beginn des Jahres 1743 über die Arbeitsbedingungen in den Obrajes: »Die Indios, die in jenen Obrajes arbeiten, werden gefangen gehalten, sind krank und zu Skeletten gemacht worden, sie leiden Hunger und sind nackt.« (zitiert nach Lavallé 1999: 78) Ungeachtet dieses Wissens um die Misshandlungen in der Quiteñer Gesellschaft und der Kolonialverwaltung, änderten sich die schlechten Arbeitsbedingungen in der Folgezeit nicht. Ein Bericht aus dem Jahre 1777 legte die Ausbeutungsverhältnisse offen. So wurden weder Feiertage noch Tage zur Bewirtschaftung der Parzellen der Arbeiter berücksichtigt, außerdem wird von rücksichtslosen Strafen berichtet (Lavallé 1999: 74). Der Juez visitador ordnete an, dass den indígenas 40 freie Tage im Jahr zustehen, ohne Lohnabzug. Bei Nichtbeachtung sollte eine Strafe von 50 Pesos erhoben werden. Doch ist davon auszugehen, dass der lange Arm des Gesetzes nicht in die Obrajes reichte und sich die Arbeitsbedingungen auch nach der Visite nicht verbesserten.

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K OLONIALE K ONJUNKTUR DER E XPANSION DER H ACIENDA In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam es im Andenhochland der Audiencia de Quito zu einer massiven Ausdehnung des Großgrundbesitzes in den Händen der spanischen Eroberer und deren Nachfahren. 6 Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Arbeiten haben die Expansion der Hacienda mit der Krise und Restrukturierung des Textilsektors (Büschges 1995) in Verbindung gebracht, da der Grundbesitz eine Beleihung ermöglichte und sich zudem Wirtschaftsvorteile aus der Synthese von Hacienda und Obraje ergaben. Insofern wurde die Krise der Obraje nicht durch eine Expansion der Hacienda abgelöst, vielmehr verflochten sich Obraje und Hacienda zu einer komplexen Einheit, die im 18. Jahrhundert ihre ökonomische und politische Bedeutung behielt und erst Ende des 18. Jahrhunderts in eine erneute tiefe Krise geriet. Am Vorabend der Unabhängigkeit setzte – mit nur geringfügiger zeitlicher Verschiebung – parallel zur finalen Krise der Textilmanufaktur in Cotopaxi auch ein, wenn auch langsamerer, Niedergang der Hacienda ein. Es erhöhte sich die Anzahl der indios sueltos im Vergleich zu denen, die an die Hacienda gebunden waren, und es reduzierte sich die Anzahl der Haciendas insgesamt. Insbesondere die Haciendas mittlerer Größe wurden von den großen Hacienda-Komplexen übernommen. (Ospina und Ibarra 1994: 18) Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Hacienda an sich an Bedeutung verloren hatte, vielmehr hat die Krise wiederum zu einer weiteren Eigentumskonzentration geführt. In Saquisilí war die Crème de la Crème der Adelsfamilien der Audiencia de Quito präsent. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts etablierte sich der Marques de Maenza in der Region und richtete auf Grundlage der Besitztümer in dieser Zone sein Majorat ein. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts etablierte sich dann der Marques de Miraflores – der erste Marques, Antonio Flores, stammte aus Latacunga – in der Region, und erweiterte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts seinen Grundbesitz in der Region in und um Saquisilí. 7 Für die indigene Bevölkerungsmehrheit hatten diese Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen kaum Auswirkungen. Die tributpflichtige indigene Bevölkerung (Männer zwischen 18 und 50 Jahren) der Partido de Latacunga war auch ge-

6 Vgl. Borchart zum Machachi-Tal zwischen Quito und Latacunga, zum südlich von Quito gelegenen Chillos-Tal und dem Tumaco-Tal (1989), Moreno Yáñez zu Saquisilí (1981). 7 Bevor der Marques de Miraflores Tilipulo aufkaufte, können in dieser Zone drei große Besitzerklans ausgemacht werden: die Linie Bergara-González de Alcoser, VillegasCeballos-Artiaga sowie die Peres-Páez-Alvares, aus denen sich Ende der 1670er Jahre zwei große Besitztümer in Tilipulo etablierten: Tilipulo, das den Alcoser gehörte, und Tilipulo pequeño der Linie Villegas-Ceballos-Artiaga.

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gen Ende der Kolonialzeit (1804/05) noch weitgehend an das Hacienda-ObrajeSystem gebunden. Von 8.282 Tributpflichtigen waren 4.515 an die Hacienda gebunden, d.h. 55%. Dies ist nach Ibarra und Ospina der höchste Prozentsatz im ecuadorianischen Hochland. (1994: 19) Die stärkste Konzentration von Haciendas ist mit einer Anzahl von neun in dem Gebiet Pujilí-Cusubamba-San Miguel zu finden, während in Latacunga und Umgebung acht und in Saquisilí-Alaquez weitere acht angesiedelt waren. In Cusubamba und Pujilí sind 1804/05 mit 76 bzw. 73% der Tributpflichtigen die meisten indios sujetos von Haciendas zu finden, während die Haciendas von San Sebastián (Latacunga) 60% der tributpflichtigen Bevölkerung auf sich zogen, was v.a. durch die Anzahl der Obrajes zu erklären ist. Die Partido de Latacunga weist mit durchschnittlich 19 Tributpflichtigen in den 242 Haciendas (1804/05) bereits die dritthöchste Rate von neuen partidos in der Sierra auf (nur Otavalo und Riobamba mit durchschnittlich 28 bzw. 20 Tributpflichtigen wiesen höhere Raten auf). Herauszuheben ist, dass die 15 Haciendas in Saquisilí in der Partido de Latacunga mit Abstand die meisten tributarios an sich banden: im Durchschnitt 54. In der gesamten Sierra wird diese Konzentration von Arbeitskraft nur von Cayambe, in der Partido de Otavalo, übertroffen, wo im Durchschnitt 59 Tributarios auf den acht Haciendas arbeiten. Leider gibt die Quelle, wie Oberem bemerkt, keine detaillierte Auskunft über die Verteilung von tributarios auf die einzelnen Haciendas in Saquisilí (Oberem 1981c: 350-352). Die Hacienda war allerdings nicht nur von ökonomischer Bedeutung. Hinzu kommt, dass die Hacienda und der damit verbundene Landbesitz als »Orte der Demonstration des sozialen Status« galten (Büschges 1996: 181), was in zahlreichen zeitgenössischen Reiseberichten beschrieben wurde. Mit der hier erfolgten Expansion wurde der Raum indigener Gemeinschaften und Kazikentümer immer weiter zurückgedrängt, womit ein politischer Bedeutungsverlust der Kaziken einherging. Letzteres ist insofern bedeutsam, da die Kaziken – trotz oder gerade wegen ihrer kooptierten Position im Kolonialsystem – eine zentrale Schnittstelle zwischen indigenen Arbeitern und Bauern und kolonialstaatlichen Instanzen darstellten, die Konflikte mit Hacendados, Obrajebesitzern und Geistlichen regulierten. Im emergenten Hacienda-System verfügten die Indigenen zwar über kleine Parzellen von Land (huasipungo), weswegen sie oft individuell die Unterwerfung unter das HaciendaRegime vorzogen, um sich den Tributzahlungen und der Zwangsarbeit zu entziehen. (Guerrero 1991) Politisch bedeutete dies allerdings das Abtauchen in eine subalterne Sprachlosigkeit, da es in der Hacienda keine etablierten Kanäle der Interessensvermittlung gab. Im Folgenden soll nun die Genealogie des Hacienda-Regimes in Saquisilí von der frühen Kolonialzeit bis zum Vorabend der Unabhängigkeit räumlich-historisch rekonstruiert werden.

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Die Hacienda Tilipulo und der Marqués de Miraflores Tilipulo, eine der größten Haciendas der Region, liegt südlich von Saquisilí in Richtung Pujilí und Latacunga. In der frühen Kolonialzeit war der Kazike Sancho Hacho de Velasco Besitzer der Ländereien um Tilipulo. Als cacique principal von Saquisilí, San Felipe, Pujilí, San Sebastián, Aláquez und Tanicuchi, kontrollierte er die Bevölkerung nord-östlich und nord-westlich von Latacunga. 8 Nach dem Tod Sancho Hanchos erbte dessen Frau Francisca Sinagsichi die Hacienda im Tal Tilipulo, die in seinem Testament von 1580 erwähnt wird. Für die Zeit zwischen 1580 und 1624 liegen keine Dokumente für die Eigentumsverhältnisse vor, bis die estanciaund die Ländereien um Tilipulo sowie die Ländereien um Mulinibí von Bartolomé de Vargas Bezarra an Juan de Bergara verkauft wurden. Zu diesem Zeitpunkt war die Hacienda also schon von indigenem Besitz in kreolische Hände übergegangen. 1627 übertrug Juan der Bergara das Eigentum Mulinliví und Tilipulo an seinen Sohn Diego, der sich in der Estancia niederließ und 1638 eine weitere Estancia von vier caballerías in der Region um Tilipulo kaufte. Nach dem Tod Diego de Bergaras wurde Tilipulo unter dessen Kindern Juan und Augustina aufgeteilt. Den Teil Juans kaufte González de Acoser auf, der auch auf der Versteigerung des anderen Teils der Hacienda 1669 den Zuschlag erhielt und so die alte Estancia von Diego de Bergara wieder zusammenführte. Neben den Bergaras gab es in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Region Tilipulo mit den Villegas-Caballos noch eine zweite große Besitzerfamilie, die 1647 über zirka 25 caballerías verfügte. Beide Familien dehnten in der Folgezeit ihre Ländereien – wohl auf Kosten der indigenen Besitzer – aus. So hatte der Besitz der Ceballos-Artiaga-Herrera-Díaz-Candilejo im Jahre 1683 bereits eine Ausdehnung von 40 caballerías. Während das Tal von Tilipulo durch seine profitablen Ländereien und der Nähe zu dem aufstrebenden Latacunga an Bedeutung gewann, erfolgte auch im Zuge der Krise des Textilsektors eine Professionalisierung der Landwirtschaft. 1685 kaufte Capitán Fernando Dávalos die Hacienda, modernisierte sie und führte eine Textil-Obraje ein, die nach einigen Problemen, v.a. der Wasserversorgung, 1696 in Tilipulo anlief. Über Tilipulo hinaus war er in ganz Latacunga ein einflussreicher Unternehmer in der Textilbranche: Er hatte die Obraje de comunidad von Latacunga gepachtet und besaß selber die vier Obrajes Tilipulo, Patate, Pillaro und Tambillo. Darüber hinaus besaß er weitere Estancias in Mulaló mit u.a. 2.400 kastillischen Schafen und in Maca (tres caballerías). Hier wird die Verbindung zwischen Landwirtschaft und Manufaktur deutlich, da die Viehwirtschaft (Schafe) unverzichtbarer Rohstofflieferant für die Textilmanufaktur ist. Leider lie-

8 Dieser hatte die Ländereien von Sancho Hacho Pullupagsi geerbt, der möglicherweise von Tuconango Jacho die viel größeren Ländereien der Hacho geerbt und geteilt hatte.

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gen uns keine genauen Daten über die Modernisierung in Maschinen und die Anzahl der Indígenas, die in der Fabrik arbeiteten, vor. Nach dem Tod Dávalos ging Tilipulo in die Hände seiner Frau, María Villagomes de Larraspuru über, die sie wiederum an ihre Tochter Maria vererbte. In zweiter Ehe heiratete diese Joseph de Góngora. Im März 1718 wurde Tilipulo dann an Joseph Antonio Maldonado Sotomayo den Geistlichen verkauft (Kennedy 1983: 37). Über ein halbes Jahrhundert hinweg wird Tilipulo im Besitz der Maldonados bleiben, die die von Dávalos eingeführte Tradition der Hacienda-Textilobraje weiterführten. Nach seinem Tode vererbte Joseph Antonio Maldonado die Hacienda wohl an Ramón Maldonado, der per Cédula Real am 26. September 1745 den Titel des Marqués de Lises erhielt. Dieser vererbte die Hacienda an seinen Sohn Joaquín Gregorio Maldonado, der 1752 starb. Joaquín Gregorio Maldonado, alleiniger Erbe des Marqués de Lises, hatte sich mit Manuela de Broja verheiratet und aus dieser Verbindung gingen die Kinder Ramón Joaquín und Pedro Mariano hervor. Die beiden Minderjährigen erbten die Besitztümer ihres Vaters, darunter Tilipulo, die Hacienda Gualilagua im Tal von Machachi, die zwei Haciendas Chimbacalla und Pomasqui sowie weitere Häuser. Am 19. April 1758 wurde Tilipulo für elf Jahre an Gregorio Sánchez de Orellana vermietet. Aus dem detaillierten Mietvertrag sind zum ersten Mal konkrete Zahlen zu den Arbeitsverhältnissen ersichtlich. So waren zwischen dem 18. März 1756 und dem 1. Oktober 1758 insgesamt 268 Indígenas registriert. (Kennedy 1983: 43) Nach Schätzungen von Ortiz lag im 17. Jahrhundert die durchschnittliche Anzahl der Arbeiter in den Obrajes zwischen 159 und 223, während die großen Obrajes in Latacunga und Otavalo nicht mehr als 350 Arbeiter hatten. (Ortiz 1977: 482) Von daher kann davon ausgegangen werden, dass die Obraje Tilipulo von beachtlicher Größe war. Zudem geht aus den architektonischen Angaben zu Tilipulo hervor, dass die meisten Arbeiter (191 indigene Haushalte) tatsächlich auch in Tilipulo eine Unterkunft hatten. Am 24. Mai 1763 brach ein großer Brand in der Hacienda aus, der weite Teile der Produktionsstätten zerstörte. Die Witwe des Marques de Lises konnte wohl die nun anstehenden Investitionen nicht mehr durchführen, beendete den Mietvertrag mit Sánchez de Orellana und verkaufte die Hacienda am 27. Oktober 1763 an den Marqués de Miraflores. Damit brach nicht nur in Tilipulo, sondern auf Grund des Erwerbs weiterer Haciendas in Saquisilí um das Jahr 1785 eine neue Ära an. Der Wert Tilipulos ist allein in den Jahren von 1763 bis 1766 von 28.000 Pesos auf 70.000 Pesos gestiegen (Kennedy 1983: 76). Der damalige Marqués de Miraflores, Mariano Flores, war der Sohn des sargento mayor Antonio Flores, der wiederum als erster Marques von Miraflores zahlreiche Güter in Ambato und Latacunga erwarb, darunter die zwei bedeutende Obrajes in Latacunga und die Hacienda von Mulaló. Dazu hatte er Häuser in Quito, wobei er aber wohl hauptsächlich in Latacunga residierte. Mariano Flores erbte das

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Marquesado und verheiratete sich mit Ignacia de Bobadilla, Tochter von Manuel Gonsales de Bobadilla und Rosa Carrión. Mariano Flores konzentrierte seinen Besitz auf die Region um Latacunga, so kaufte er 1761 von Joseph Joachín Pullupagchi 30 caballerías in Saquimálag. Zwei Jahre später verkaufte er die prosperierende Hacienda La Viña inAmbato, um noch im selben Jahr Tilipulo zu kaufen. Im November des gleichen Jahres kaufte er zudem die Hacienda Aguallaca in Pujilí. Wenige Jahre später verkaufte er weitere Haciendas in Ambato und 1780 wiederum weitere Ländereien in Ambato. 1769 kaufte er die Ländereien Sumbalica, in der Nähe von San Felipe auf und 1786 erwarb er von Joseph Quintanilla die Weiden von Mulaló. (Kennedy 1983) 1785 kaufte er zudem – wie im folgenden Kapitel ausgeführt wird – die Hacienda Saquisilí aus dem zwangsversteigerten Besitz der Jesuiten sowie die Hacienda-Obraje Salamalag. Damit wurde der Marques de Miraflores in der Region um Saquisilí, ja rund um Latacunga, zu einem der größten Landbesitzer. Er erreichte in der Blütezeit der Textilproduktion eine bisher unerreichte Konzentration von Ländereien. Politischkulturell war der Marques von Miraflores eine wichtige Figur in der quiteñer Gesellschaft. Er war ein liberaler Republikaner und am 11. November 1810 wurde auf seiner Hacienda Tilipulo die Unabhängigkeitsurkunde unterzeichnet. Genealogie der Hacienda der Jesuiten Für die Agrargeschichte Saquisilís ist vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zu der von Karl III. angeordneten Vertreibung der Jesuiten, die in der Audiencia de Quito – und somit auch in Latacunga – am 20. August 1767 durchgesetzt wurde, die von dem Orden der Jesuiten geführte Hacienda von Saquisilí, auch Compañía genannt, von zentraler Bedeutung. 9 Die Hacienda war Teil des 1674 gegründeten CasaNoviciado in Latacunga. Am 1. Dezember 1687 richtete der Prokurator des Noviziats, Bruder Pedro Martínez SI, einen Bericht an die Provinzverwaltung, indem er Kund tat, dass es der Compañía de Jesús genehm wäre, die Estancias von Rodrigo Albares, die sich in den Orten Tunducama, Chucutisig in der Umgebung des Dorfes Saquisilí befanden, zu kaufen. Am 11. März 1688 wurde in Latacunga der Kaufvertrag unterzeichnet, und für 8.864 Pesos gingen die Estancia Tunducama (oder Pilligsilli, im Umfang von fünf caballerías y media) und die Ländereien um Chucutisig (fünf caballerías und zwölf cuadras) in die Hände des Noviziats der Compañía de Jesús über. Diese zwei Estancias bildeten ursprünglich keine territoriale Einheit, sondern sie waren von verschiedenen Grundstücken unterschiedlicher Größe umge-

9 Weitere Orden in Saquisilí waren die Franziskaner, die allerdingskeinen Landbesitz hatten, und die Dominikaner mit den fundos Rumipamba und Chanchaló. Unter den ausgedehnten Gütern der Jesuiten hatte die Hacienda wohl nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte.

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ben. Und so war es das explizite Ziel der Leiter des Noviziats, sich weitere Länder anzueignen, um eine große, zusammenhängende Hacienda zu bilden. Diese weiteren Ländereien waren zum überaus größten Teil in dem Besitz von Indigenen. Und so ist der Prozess der Expansion der Hacienda in Saquisilí ein paradigmatisches Beispiel dafür, wie sich spanische hacenderos, hier die Jesuiten, indigenes Land durch Enteignung indigener Kleinbauern aneigneten. Zwar war der Prozess der Enteignung indigenen Lands durch die Spanier auf der Basis von Kaufverträgen nicht grundsätzlich verboten, wohl aber per Gesetze reguliert. Anhand des Privatarchivs der Hacienda Tilipulito rekonstruiert der Historiker Segundo Moreno Yáñez detailliert diesen Enteignungsprozess. Dabei kommt er einem bemerkenswerten Verfahren auf die Spur: Die Jesuiten umgingen in Saquisilí die Eingeborenen-Gesetzgebung der Krone, indem sie die Ländereien über indigene Zwischenhändler, die indios gañanes der Jesuiten-Hacienda Bonifaz Chicayza und Joseph Culapunchi, erwarben und den Transaktionen so einen legalen Anstrich gaben. Von 26 Landkäufen in der Zeit von September 1688 und April 1699 in der Region Tunducama haben die Jesuiten nur drei Käufe selber getätigt: und zwar die ersten beiden und den vierten Kauf, wobei die Verkäufer in den beiden ersten Fällen Mestizen waren. Ab März 1690 traten allein Joseph Culapunchi (zwölfmal) und Bonifaz Chicayza (zehnmal) als Käufer auf. Gleiches gilt für die Region Pachohalo. Bei insgesamt dreizehn Landkäufen traten die Padres nur einmal selber als Käufer auf, während sich Bonifaz Chicayza (sechsmal), Joseph Culapunchi (dreimal) und drei weitere Indios (jeweils einmal) als Zwischenhändler betätigten. Nach der Ausweisung der Jesuiten 1767 ging die Verwaltung der Hacienda an die Remo de Temporalidades über. Am 22. Februar 1785 wurde auf Anweisung der Audiencia und des Cabildo de Quito die Schätzung durchgeführt, woraufhin die Hacienda im Folgenden versteigert wurde. Die Kernländereien umfassten zu diesem Zeitpunkt bereits 27 caballerías und eine cuadra mit einem Wert von 2.706 Pesos und zwei Reales. Ein zweites Grundstück, Chucutisig, bestand aus sechs caballerias und einer cuadra mit einem Wert von 151 Pesos und viereinhalb Reales. Ein drittes Grundstück in »loma de Toma« umfasste zweieinhalb caballerías. Und schließlich komplementierte das im Hochland gelegene Salamalag mit elf caballerias, zwei cuadra und drei solares und einem geschätzten Wert von 280 Pesos und sechs Reales die Hacienda. Damit hatte sich die Hacienda Saquisilí durch die Enteignung indigener Ländereien von den ursprünglich zehneinhalb caballerias und zwölf cuadras, die von Rodrigo Albares erworben wurden, auf 44 caballarias, vier cuadras und drei solares ausgedehnt, was je nach Übersetzung einer Größe von 480 bis 660 ha entspricht. Dies entspricht einem Zehntel der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche des heutigen Kantons Saquisilí. Insgesamt wurden alle Güter und Ländereien der Hacienda Saquisilí auf einen Wert von 5.138 Pesos und dreieinhalb Reales geschätzt. Diese

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Summe wurde aber nicht erzielt. In der öffentlichen Versteigerung der Güter am 9. August 1785 in Quito wurde die Hacienda Saquisilí für 3.700 Pesos an den Marqués de Miraflores verkauft. Das Majorat des Marqués’ de Maenza Die älteste Adelsfamilie in der Region um Saquisilí, der eine Monopolisierung des Landbesitzes gelang, war diejenige des Marqués de Maenza, der sich bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Region etabliert hatte. Der Marqués de Maenza erwarb die Güter, die bereits in den 1650er Jahren von den spanischen Grundbesitzern konzentriert worden waren. In der gleichen Zeit trat Andrés Paéz als Landbesitzer im Tal Tilipulo auf. Er war zunächst Besitzer der Estancia Mulinlibí, (Kennedy 1983: 13-14) und kaufte dann weitere Ländereien hinzu, unter anderem 14 caballerias im Umkreis von Tilipulito. 1661 hinterließ Andrés Páez umfangreiche Ländereien, was der allgemeinen Tendenz der Landakkumulation in der Mitte des 17. Jahrhunderts entsprach. Diese sowie weitere Güter und Ländereien gerieten in den Besitz von Greogoria Mateo de Escalara, der Ende des 17. Jahrhunderts als reichster Mann Quitos galt. (Tyrer 1976: 172) Im Jahre 1705 gründete Mateo de la Escalara zur Sicherung des Vermögens ein Majorat zu Gunsten seiner Tochter Rosa de la Escalara und deren Mann Gregorio Matheu y Villamayor mit einem Wert in Höhe von 140.000 Pesos. (Büschges 1996: 196-197) 10 Allgemeines Ziel von Mayoratsgründungen war auch in den Kolonialgebieten, ganz nach Vorbild des spanischen mayorazgos, das geltende spanische Recht der Realerbteilung zu umgehen, um den Zusammenhalt der materiellen Güter – d.h. vor allem des Großgrundbesitzes – dauerhaft zu sichern. Dazu wurde ein festgelegter Erbteil über Generationen hinweg an den erstgeborenen Stammhalter des Adelsgeschlechts vererbt, während die folgenden Nachkommen Pflichterbteile erhielten. (Büschges 1996: 187-188) Deren Sohn Gregorio Matheu y de la Esclara heiratete 1730 in Lima die siebte Marquesa de Maenza, die dann nach Quito umzog. (Büschges 1996: 129) Durch diese Heiratspolitik konnte die quiteñer Großgrundbesitzerfamilie ihr symbolisches Kapital durch den Erwerb eines prestigereichen alten Adelstitels signifikant erhöhen. 11 Die Maenzas waren

10 Die Verflechtung der Großgrundbesitzerelite zeigte sich anlässlich der Zeugenbefragung für die Rechtmäßigkeit des Majorats der Maenza 1796. Hier sagten der zweite Marques de Miraflores, der zweite Marqués de Selva Alegre, Juan Pío Montúfar y Larrea sowie dessen Bruder Pedro aus. (Büschges 1996: 198) 11 Gregorio Matheu zahlte 10.000 Pesos Brautgeld, und seine Eltern zudem die gleiche Summe.

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nunmehr das älteste Adelsgeschlecht in der Audiencia de Quito, das den Adelstitel bereits im Jahre 1625 von dem spanischen König Philip II erhalten hatte. In der Region um Saquisilí umfasste das Majorat des späteren Marqueses de Maenza im Jahre 1705 die bereits erwähnte Hacienda Tilipulito 12 mit Obraje mit einem Wert von 15.000 Pesos sowie die Hacienda San Juan de Atapulo mit Obraje im Hochland von Saquisilí mit einem Wert von 105.000 Pesos. Hinzu kam ein Haus an der Plaza Mayor in Latacunga im Wert von 20.000 Pesos sowie eine Viehweide in Yanaurco. Die Hacienda Atapulo stellte somit das Kernstück des Mayorats dar. Zu ihr gehörten im Jahr 1705 40.000 Schafe, 1.000 Rinder und zwei Kalköfen. In der dazugehörigen Obraje in Salamalag wurde an sechs Webstühlen paños und an zwei weiteren jergas hergestellt. (Büschges 1996: 197, 277) Die Obraje Salamalag hatte im Jahr 1688 eine Produktion von 70 paños, obwohl sie 1690 nur eine Lizenz für 45 besaß. (Tyrer 1976: 172) Zu diesem Zeitpunkt müsste die Obraje noch im Besitz von Estefanía Gutiérrez Pinto gewesen sein (ANH/Q, Testmentarías, Estefanía Gutierrréz Pinto, 1688). Seit 1690 hatte Mateo de la Esclarea Obrajes in Latacunga – so die Obrajes Mulahlo, Latacunga und Sigchos – gemietet, bis er sie 1720 endlich in einer Versteigerung kaufte. (Tyrer 1976: 145; Quishpe 1999: 65-66, ANH/Q, Indígenas, Remates de los Obrajes de Mulahlo, Latacunga, Sigchos 1720) Nach dem Tod von Gregorio Matheu y de la Escalera, dem Marqués de Maenza, 1784, kam es zu einem Rechtstreit zwischen dessen Witwe Mariana de Aranda und deren zweitgeborenen Sohn – dem Erstgeborenen wurden auf Grund einer Geisteskrankheit die Erbrechte aberkannt – Manuel Matheu y Aranda. Manuel Matheu besaß einen Doktortitel in Rechtswissenschaft, war General und Rektor der Universität Santo Tomás in Quito. Hintergrund des Streits war, dass die Marquesa, die den Adelstitel in die Verbindung mit dem Großgrundbesitz eingebracht hatte, nun die juristische Existenz des Majorats, demnach ein Gros des Erbes an ihren Sohn übertragen worden wäre, bezweifelte. (Büschges 1996: 152-153, 197-198) 13 Die Marquesa argumentierte, dass die Güter des Majorats den bei der Einrichtung angegebenen Wert gar nicht erreicht gehabt hätten und zudem noch mit censos belegt gewesen waren. Hintergrund ist hier, dass die Güter angesichts der Krise der Textilindustrie an Wert verloren hatten. Auch Manuel Matheu sah einen Wertverlust, führte diesen aber nicht auf falsche Angaben bei der Gründung des Majorats, sondern auf Misswirtschaft sowie Naturkatastrophen wie den Vulkanausbruch des

12 In Tilipulito wurde dagegen auf 40 caballerias vorwiegend Ackerbau betrieben, ergänzt durch die Haltung von 1.000 Schafen, 140 Schweinen und 100 Ochsen. Über den Umfang der Obraje gibt es keine Angaben, allerdings verfügte Tilipulito über die Lizenz zur Errichtung einer weiteren Obraje. 13 Die Sorge um Altersarmut der Marquesa erscheint jedoch angesichts eines von 21.000 auf 266.000 Pesos gewachsenen Mitgiftanteils (Büschges 1996: 216) als unbegründet.

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Cotopaxi und Erdbeben zurück. Büschges (1996: 197) gibt an, dass das Majorat 1786 nur noch einen Wert von 30.154 Pesos gegenüber den ursprünglich angegebenen 140.000 Pesos gehabt hat. Allerdings ist bei dieser Rechnung zu berücksichtigen, dass die Daten von 1786 sich allein auf die Immobilien und den Grundbesitz, nicht aber auf den Viehbestand bezogen. Entsprechend erkannte die Audiencia de Quito 1794 in zweiter Instanz – Mariana de Aranda verstarb im gleichen Jahr – die Gültigkeit der Majoratsgründung an. Ein Urteil, das 1796 durch den Indienrat bestätigt wurde. Die Umsetzung erwies sich jedoch auf Grund der finanziellen Situation des Marquesado de Maenza als schwierig, zeitweilig wurden die Güter gar unter staatliche Aufsicht und Verwaltung gestellt. (Büschges 1996: 198) Juan José Matheu y Herrera, Sohn von Manuel Matheu, bemühte sich seit 1804 um die Wiederherstellung des Majorats, was offensichtlich auch gelang. Er erhielt jedoch 1802 durch die Heirat mit María Felipa Carondelet y Castañas, der Condensa de Puñonrostro, den spanischen Granden-Titel und siedelte darauf nach Spanien um. Entsprechend fiel es seinem Bruder Manuel Matheu y Herrera zu, das Majorat – wahrscheinlich im Jahr 1838 – zu übernehmen. Aus dem Mietvertrag von General Manuel Matheu y Herrera mit Joaquín Jaramillo, der am 25. Januar 1838 abgeschlossen wurde, ist ein guter Überblick über die Besitztümer des Vermieters in Cotopaxi zu gewinnen: »Mietvertrag der Haciendas La Cienega mit den Herden von Chalupas und Baños: die von Hortuño: die von San José mit der Herde von Tunduliquin: die von San Javier Pachusala: die von Atapulo, und die Herde von Yaña-Urco [...], und die obraje von Salamalag: die von Tilipulo und deren obraje: die Güter Calbache und Dispensa; und das Haus an dem Hauptplatz der Villa Laraumga, mit dem Señor Joaquin Jaramillo«.

Der Vertrag lief über fünf Jahre, mit der Option auf zweijährige Verlängerung, die von der Einwilligung des Vermieters abhing. Manuel Matheu y Herrara war somit bis zu seinem Tod 1845 Besitzer der Haciendas Atapulo, Tilipulito, Yanaurco, Salamalag, Nintaga sowie in der näheren Umgebung von Saquisilí der großen Hacienda La Cienaga und Ortuño. (Marchán 1984, Bd.3, 370-371) 14 Da aus der Ehe Manuel Matheus mit Josefa Herrera keine Nachkommen hervorgegangen waren, fiel das Erbe den Kindern seiner Schwester Mariana Matheu und deren Ehemann Dr. José Javier de Ascázubi zu. Damit zerfiel zwar das Majorat in der Mitte des 19. Jahrhunderts im postkolonialen Ecuador. Doch blieb die politische Bedeutung der Haciendas der Region

14 Bei Marchán (1984) ist für 1838 die Art des Erwerbs der Haciendas Atapulo, Salamalag, Tilipulito als unbekannt angegeben. Wir schließen daraus, dass hier das Majorat wiederhergestellt wurde und er es von seinem Bruder Juan José erhalten hat.

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bis in die höchste Ebene des post-kolonialen Staates bestehen. Denn zu den Erben des Majorats gehörten Manuel de Ascázubi, Präsident der Republik von 1849 bis 1850, sowie Maria del Rosario de Ascázubi, deren Tochter Mariana Rosa del Alcazár den späteren Präsidenten Gabriel García Moreno heiraten sollte.

Indigene Kämpfe gegen Kolonialität

In Hinblick auf ihrer eigene Arbeit der Rekonstruktion der Geschichte der Hacienda Tilipulo hält die Historikerin Alexandra Kennedy kritisch fest: »Und die ›Geschichte der großen Persönlichkeiten‹ wiederholt sich erneut, in diesem Fall die unvollständige Geschichte der Markgrafschaften, die ihre Spuren in Tilipulo hinterlassen oder auch nicht hinterlassen, ohne dabei weder zu verstehen noch zu wissen, was passierte, noch zu wissen, wie die indigenen Arbeiter der obraje lebten. Die Geschichte der Anderen, jener die nicht Geschichte machten, bleibt im Dunkeln« (Kennedy 1983: 52).

Dieses Problem betrifft auch die hier vorliegende Studie. Gerade die alltäglichen Lebenswelten indigener Bevölkerung und die ›stillen Waffen‹ der Armen lassen sich kaum rekonstruieren. Doch die als Politikum aufblitzenden Unruhen und Aufstände sowie die beständigen Klageschriften, vor allem von Kaziken gegen schlechte Arbeitsbedingungen, Landenteignungen und Misshandlungen eröffnen den Blick auf subalterne Politiken die gegen Kolonialität gerichtet sind. Für die auf den kolonialen Bruch und die erste Phase der Etablierung frühkolonialer Herrschaft folgende Konjunktur der kolonialen Expansion der Hacienda – besonders ab Mitte des 17. Jahrhunderts – und der Etablierung kolonialstaatlicher Institutionen gibt es vor allem seit den 1980er Jahren eine Reihe von Arbeiten, die zum Großteil in sozialgeschichtlicher Herangehensweise die Gegengeschichten und Widerstandskämpfe der kolonialisierten indigenen Bevölkerung herausgearbeitet haben. Für den Andenraum in der Kolonialzeit sind hier vor allem die Arbeiten von Brooke Larson (1988), Thierry Saignes (1985), Karen Spalding (1974), Kenneth Andrien (2001) und Roger Rasnake (1988) zu nennen. Eine besondere Beachtung fand in diesem Zusammenhang die andine Aufstandswelle um Tupac Amaru II. sowie Tomás Katari und Tupac Katari der 1780er Jahre. (O`Phelan 1988, Thomson 2002) Für Ecuador sind zur Rekonstruktion von indigenem Widerstand in der Kolonialzeit an erster Stelle die »Sublevaciones indígenas en la Audiencia de Quito« von Segundo Moreno Yañez (1976) sowie die Arbeiten von Udo Oberem (1981a, 1981c), Christiana Borchart (1989) und Osvaldo Albornoz (1971) zu nennen. In den

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letzten Jahren sind weitere Arbeiten entstanden, die neue Aspekte wie Migration als Widerstandsstrategie (Vieira Powers 1995), oder konkrete Regionen wie Sigchos und allgemein Cotopaxi (Quishpe 1999, Lavallé 2002), Cuenca (Poloni-Simard 2000) oder Cayambe (Ramón 1987, Becker und Tutillo 2009) in den Blick nehmen.

AUFSTÄNDE

IM ANDINEN

Z EITALTER

DER

R EVOLUTION

Im 18. Jahrhundert kam es im Andenraum zu mehreren großen anti-kolonialen Aufstandswellen, die ihrerseits als Verflechtung und Diffusion unterschiedlicher Aufstandsherde – schwerpunktmäßig in Peru und Bolivien – zu begreifen sind. In postkolonialen und globalgeschichtlichen Ansätzen werden diese Aufstände jüngst zu Recht in den Kontext eines transatlantischen »age of revolution« gestellt. (Thomson 2002, Stern 1987) Zur Periodisierung des andinen Revolutionszykluses schlägt Scarlett O’Phelan drei Phasen vor: Die erste von 1724 bis 1736 entzündete sich an Fiskal- und Verwaltungsreformen, die zweite – von 1751 bis 1758 – bezog sich auf die Zwangsverteilung von Waren, und die dritte Phase in den 1770er Jahren ist mit den Bourbonischen Reformen verbunden. Während vor allem die letzte Phase eine indigenen Trägerschaft hatte, waren in der zweiten Phase auch Kreolen Träger von Protest. In Ecuador ist hier der im urbanen Quito erfolgte Aufstand von 1765 zu nennen, bei dem sich die urbane, zumeist weiß-mestizische Bevölkerung gegen die Einrichtung eines Zuckerrohrschnapsmonopols gewendet hatte. (Andrien 2002: 180-189) Für Anthony McFarlane gilt dieser, als »Aufstand der Stadtviertel« bezeichnete Aufstand von 1765 als »one ofthe longest, largest, and most formidable urban insurrections of eighteenth-century Spanish America« (1989: 283). Ansonsten blieb der Protest gegen die repartimiento de comercio im nördlichen Andenraum vor allem seitens der indigenen Bevölkerung weitestgehend aus, da diese bereits in die Handelsnetzwerke eingebunden war. (Andrien 2002: 203, Fußnote 13) Steve Stern dagegen betrachtet vor allem die beiden indigenen, anti-kolonialen Konjunkturen, die mit dem Aufstand der neo-inkaischen Bewegung von Juan Santos Atahualpa in den 1740er Jahren und dem von Tupac Amaru II. in Peru, sowie Tomás Katari und Tupac Katari in Bolivien angeführten Aufstand in den 1780er Jahren als Hauptphasen des andinen »age of revolutions«. Thomson hat zu Recht darauf verwiesen, dass es sich um eine anti-koloniale Revolution handelte, dessen teilweise auch erfolgreich umgesetztes Ziel es war »[to] overturn the preexisting regime of domination and place formerly subaltern subjects at the head of the political order. Unlike the others [die europäischen und die nordamerikanische Revolutionen; O.K.] it was a movement against colonial rule and for self-determination in

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which native American political subjects made up the fighting corps, held positions of leadership, and defined the terms of struggle.« (Thomson 2002: 8)

Auch wenn Ecuador in der Kolonialzeit nicht im Mittelpunkt von Aufstandsbewegungen stand, so kam es in der Audiencia de Quito und später im Vizekönigreich Neugranada immer wieder zu indigenen Aufständen, wenn die fragilen moralischen Ökonomien aus dem Gleichgewicht gerieten. (Albornoz 1976, Moreno 1985) Doch blieben die Proteste meist lokal begrenzt und konnten kaum in die Region diffundieren und de-kolonialisierende Konjunkturen in Gang setzen. Schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam es – so 1623 – zu Streiks in den indigenen Mitayos in der Pulverfabrik von Latacunga, die sich gegen Misshandlungen, ausstehende Bezahlung der Löhne und zu lange Arbeitszeiten wendeten. Doch besonders das – auch sozio-ökonomisch und politisch ungeregelte – 18. Jahrhundert zeichnete sich im gesamten Andenraum durch indigene Aufstandsbewegungen aus. In Ecuador entzündeten sich die stärksten Konflikte zwischen den kolonialisierten Indigenen und dem spanischen Kolonialstaat an den Verwaltungsreformen, den sogenannten Bourbonischen Reformen, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unter König Karl III. durchgeführt wurden. Vor allem die hier vorgesehenen Volkszählungen trafen auf erbitterten Widerstand der indigenen Bevölkerung, da diese befürchtete, die Tributzahlungen könnten sich erhöhen. Dies war auch der Auslöser des Aufstands von 1777 in Otavalo, bei dem spanische Truppen mehr als 40 Indigene töteten, die bei dem Aufstand gegen die Volkszählung auch Haciendas und Obrajes geplündert und kooptierte Kaziken bestraft hatten. Anti-kolonialer Aufstand – San Phelipe 1777 Einen ähnlichen Hintergrund wies auch der größte kolonialzeitliche Aufstand in Cotopaxi auf. Im Zuge der bourbonischen Reformen zur Stärkung und Reorganisation des bürokratischen Apparats in den Kolonien wurde per Cédula Real am 19. Juli 1741 eine neue Bestandsaufnahme und Beschreibung der Überseegebiete angeordnet. Diese Anordnung wurde im Vizekönigreich Peru zunächst ignoriert und erst nach einer weiteren Erinnerung vom November 1763 lief der bürokratische Apparat zur Umsetzung der Erhebung an. Am 12 Dezember 1770 unterschrieb der Vizekönig von Santa Fe, Pedro Messía de la Zerda, einen Befehl, der unter anderem an den corregidor von Latacunga gerichtet war. Darin fordete er, dass die Grenzen der administrativen Einheiten genau beschrieben und die Bevölkerungszahlen erhoben werden. (Testimonio de la orden del Virrey, Latacunga, 22.4.1771, in Moreno 1985: 132-133) Offensichtlich gab es in Latacunga zwar zu dieser Zeit durchaus relativ verlässliche Schätzungen der Kaziken sowie Daten über die Zahl der erwachsenen Bevöl-

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kerung, aber es fehlten die exakten Daten über die Kinder, sodass die gesamte Bevölkerungszahl nur geschätzt werden konnte. Obwohl nun genaue Daten in der Anordnung nicht gefordert waren, beschloss der corregidor von Latacunga, Simón de Fuentes y Vivero, dennoch eine exakte Erhebung der Bevölkerungszahlen durchzuführen. Am 20. März 1771 wurde die vizekönigliche Anordnung an den Pfarrer in San Phelipe übertragen, dass dieser dort den Zensus der indigenen Bevölkerung initiieren sollte. (Moreno 1985: 133) Bereits bei den ersten Relaciones Geográficas war es üblich, dass die Krone bzw. die koloniale Bürokratie auf die Kirche zurückgriff, da diese in den Kolonien gerade auch in den ländlichen Randzonen präsenter war. Der Pfarrer von San Phelipe, Bruder Alonso Anastasio Serrano, übertrug den alcaldes, tenientes und alguaciales am 13. April des Jahres die Aufgabe, die Zählung am folgenden Sonntag durchzuführen. Doch die vor der Kirche versammelte Menge protestierte gegen die Zählung. Die Befürchtung der ländlichen Bevölkerung bestand zum einen darin, dass die Zählung zum Anlass genommen wurde, höhere Steuern zu erheben. Dies hatte den realen Hintergrund, dass bereits 1764 eine Volkszählung in Riobamba zum Anlass für eine Kopfsteuer genommen wurde, so dass der corregidor zwei Reales für jede gezählte Frau und vier Reales für jeden gezählten Mann verlangt hatte. (Moreno 1985: 134) Zum anderen war es, wie einer der Anführer der Erhebung, Esteban Chingo, anlässlich der gerichtlichen Aufarbeitung zu Protokoll gab, in Riobamba auch ein Ziel der Erhebung gewesen, »von zwei Söhnen einen in die Siedlung Logroño zu schicken, und auf die Besitztümer Steuern zu erheben« (Declaracion de Esteban Chingo, zitiert nach Moreno 1985: 134-5) Diese Darstellung des indigenen Anführers wird durch die detaillierte Analyse des Aufstands von Riobamba durch den Historiker Segundo Moreno Yáñez gestützt (vgl. 1985: 44-102). Ein Helfer des corregidors schätzt die Zahl der Aufständischen auf 4.000, während im späteren Bericht 2.000 Personen genannt werden. Moreno hält die Zahlen für übertrieben und geht von 300-600 Aufständischen aus. Wichtig scheint allerdings auch der Zeitpunkt der Augenzeugenberichte zu sein, da viele der Protestierenden im früheren Tagesverlauf noch in der Obraje gearbeitet hatten. Vieles spricht dafür, dass sich der Protestherd ausgedehnt hätte, wenn der corregidor nicht frühzeitig und repressiv vorgegangen wäre. Denn aus Saquisilí war bereits eine weitere Gruppe unterwegs, um den Aufstand zu unterstützten, die aber – als sie bemerkt hatte, dass dieser niedergeschlagen war – wieder nach Hause zurückkehrte. Doch reagierte der corregidor schnell und stellte sich mit 16 bewaffneten Männern den Aufständischen entgegen. In einigen Berichten ist von acht bis neun direkten Toten die Rede, gesichert sind zwei Tote unter den Rebellen, deren Körper öffentlich auf der Plaza in Latacunga zur Schau gestellt wurden. Wenige Tage später erlagen drei weitere verletzte Aufständische ihren Verletzungen. Zudem sind wahrscheinlich 31 Personen verhaftet worden, darunter 16 männliche Indigene sowie zwölf indigene und drei mulattische Frauen. (Moreno 1985: 143) Hervorzuheben ist

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zum einen die starke Präsenz von Frauen bei den Protesten und zum anderen die multiethnische Zusammensetzung der Aufständischen, was dafür spricht, dass es sich hier nicht allein um alteingesessene indigene Gemeinschaften handelt. Gerade deshalb ist aber die kulturelle Rahmung des Protestes interessant, da die Rebellen eindeutig eine neo-inkaische Rahmung ihres Protestes vornahmen, so wurde beispielsweise der Anführer als Inka gekleidet. Von den kolonialen Behörden wie dem Protector de Naturales wurde diese Rahmung des Konfliktes entsprechend auch wie folgt verstanden: »die Kleider des Incas, die Pablo Cayaluisa zugeschrieben werden (dem Anführer des Protests, O.K.) stelle keine Missachtung oder Unehrbietigkeit gegenüber der heiligen Person des Königs dar, denn sie (die Indigenen, O.K) kennen und rühmen die sanfte Herrschaft, der sie sich erfreuen, und aus Tradition bewahren sie die Tyrannei und Grausamkeit ihrer Inkas.« (Moreno 1985: 137)

Eine ähnliche neo-inkaische Rahmung des Protests hatte es auch beim Aufstand 1764 in Riobamba gegeben, der sich explizit als anti-kolonialer Aufstand gegen die spanische Herrschaft verstand. Zwar konnte auch dieser Aufstand keine direkte Diffusion in andere Regionen erreichen, doch sowohl was die Rahmung des Konflikts als auch was die Befürchtung in Hinblick auf die Folgen des Zensus anging, wirkte er auf andere Protestherde ein. Mit Rückgriff auf die von Ranajit Guha (1983) aufgestellten »elementaren Aspekte« von Bauernaufständen kann besonders darauf verwiesen werden, dass der Aufstand die Symbole der Unterdrückung – hier den Zensus – umkehrt und sie zu Zielscheiben von Widerstand werden. Zudem wird das Bild der Autorität durch die Etablierung einer Rebellen-Autorität, die hier an die prä-kolumbische Konjunktur des Tahuantinsuyo anschließt, in quasi karnevalesker Weise verkehrt. Durch diese Ver-Rückung konnte ein Politikum entstehen, dass durchaus die Möglichkeit zur weiteren Diffusion in der Region in sich trug. Um zu verstehen, warum der Konflikt dennoch lokal begrenzt und von kurzer Dauer geblieben ist, ist ein Blick auf die Mechanismen der Konfliktbefriedung seitens der Kolonisatoren notwendig. Spiegelbildlich zum hohen bäuerlichen Konfliktpotential hatte der Kolonialstaat große Befürchtungen, dass sich der lokale Unmut, der in regelmäßigen Aufständen sein Ventil fand, mit den weiteren Aufständen in der Andenregion verband. Entsprechend sahen koloniale Autoritäten, wie der corregidor del asiento Latacunga, beispielsweise in dem Kaziken Francisco de Zamora, der indigene Rechte vertreten hatte, ein Pendant zu den Anführern der großen andinen Rebellionen in Peru. Auch wenn alle Quellen darauf hindeuten, dass Zamora an keinem Aufstand beteiligt war, so macht diese Passage doch deutlich, wie sehr die Angst vor einem transregionalen Aufstand in der Audiencia verbreitet war. Auch wenn hier der Verweis auf die zehnjährige Aufstandsbewegung

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von Juan Santos Atahualpa möglicherweise eher dazu dienen sollte, den Kaziken zu diskreditieren. Die weitere Befriedung des Protests in San Phelipe wirft ein interessantes Bild auf die Aushandlungsprozesse und Beziehungsnetzwerke an der Schnittstelle zur kolonialen Staatlichkeit. Bei indigenen Aufständen, die die koloniale Ordnung als Ganzes gefährden konnten, rückten die spanischen und kreolischen Akteure eng zusammen. Oder, wie es Partha Chatterjee allgemein für Bauernaufstände in der kolonialen Situation formuliert: »it is always the spectre of an open rebellion by the peasantry which haunts the consciousness of the dominant classes in agrarian societies and shapes and modifies their forms of exercise of domination.« (Chatterjee 2000: 22) So schickte Simón de Fuentes y Vivero Botschaften an die zentralen lokalen politischen Akteure. Hierauf klärten die Geistlichen die indigenen Gläubigen über die Absichten der angeordneten Zählung auf, und der Marqués de Miraflores schickte sechs seiner indigenen Vertrauten zu den Aufständischen, um die Gemüter zu beruhigen und um zu einer Versammlung in seiner Hacienda Tilipulo einzuladen. Die Versammlung war gut besucht, und offensichtlich gelang es dem Marqués, den indigenen Volkszorn zu beruhigen. Dennoch empfahl er dem corregidor die Zählung abzubrechen und die verlangten Zahlen auf andere Weise zusammenzutragen, was dann auch umgehend so veranlasst wurde. Auch bot der Marques de Miraflores seine Gebäude als Krankenstation für die Verletzten des Aufstands an, um zur weiteren Befriedung beizutragen. Die allgemeine Tendenz zur ruhigen Konfliktregulation zeigt sich auch in den Prozessen, bei denen die beiden Rädelsführer – entgegen der Anklage – nicht zum Tode verurteilt wurden. Stattdessen wurden sie zu jeweils 200 Peitschenhieben sowie vier Jahren Zwangsarbeit in der Obraje la Calera, die zu den Gütern des Asiento Latacunga gehörte, verurteilt. Weitere elf Aufrührer wurden ebenso zu 200 Peitschenhieben und einem Jahr Zwangsarbeit in der besagten Obraje verurteilt. (Moreno 1985: 142-149) Durch das schnelle Eingreifen des corregidors und die fehlende Vernetzung mit anderen Unruheherden wurde der Aufstand somit rasch befriedet. Es ergab sich kein Politikum, das die grundsätzlichen Sicht- und Teilungsprinzipien verrückt hätte, vielmehr wurde der Konflikt entpolitisiert und in den strafrechtlichen Bereich überführt. Dies ist gewissermaßen typisch für den Verlauf vieler kolonialzeitlicher Konflikte in Ecuador. Insofern blieb Ecuador, vielleicht mit Ausnahme der kreolischen Rebellion in Quito 1765, nur am Rande des sozial- und politikgeschichtlichen Phänomens, das als »Great Andean Rebellion« Einzug in die Geschichte hielt. (O’Phelan 1985)

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K AZIKEN

AN DER S CHNITTSTELLE ZWISCHEN KOLONIALEM S TAAT UND INDIGENEN G EMEINSCHAFTEN Die indigenen Kaziken können nahezu als eine Verkörperung der Schnittstelle von kolonialer Staatlichkeit und indigener Gemeinschaft gelten, denn »they were charged with guaranteeing both community survival and Spanish survival.« (Restall und Lane 2011: 138) Dementsprechend sind die Kaziken erstens als Mitglieder der Cabildos oder gobernadores verantwortlich für die Aufrechterhaltung des politischen Systems der república de los indios. Dies beinhaltete im Zuge der Herausbildung kolonialer Staatlichkeit die Sicherung der politischen Strukturen und der Ordnung, nach Innen und in Richtung Gemeinschaften die Aufrechterhaltung politischer Identität und eines auf die Pueblos bezogenen Gemeinschaftsgefühls. Zweitens bedeutet dies, die Zahlung von Tributen von den indigenen Pueblos in Richtung spanische Krone zu gewährleisten, denn dies war der »essential material link between the crown and ist native subjects« (Restall und Lane 2011: 138) Kurz: »der Kazike hatte eine doppelte Rolle: die inneren Angelegenheiten der comunidad und ihrer Mitglieder zu regeln und als Verbindung zwischen dieser und den weiteren ethnischen Einheiten oder dem Staat zu dienen.« (Moreno 1985: 407)

Damit waren die Kaziken die zentralen Schnittstellen, über die Informationen aus den Gemeinschaften an die kolonialstaatlichen Instanzen vermittelt wurden. Auf Grund ihrer janusköpfigen Verortung dienten die kooptierten Kaziken oftmals der Durchsetzung kolonialstaatlicher Politiken, waren andererseits aber auch immer wieder Instanzen für die Artikulation von Widerstand. (für Ecuador Guerrero 1990, Ramón 1991, Lavallé 1999) Beide Aspekte mussten sich nun aber nicht notwendigerweise widersprechen. Denn zur Artikulation von Widerstand und Protest gegen die Verstöße und Übergriffe lokaler Eliten griffen die Kaziken oft auf die kolonialen Gesetze zurück und versuchten Allianzen mit kolonialstaatlichen Institutionen zu schmieden. Diese Auseinandersetzungen nahmen vor allem ab Ende des 17. Jahrhunderts zu, als der Druck auf indigenes Land und indigene Arbeitskraft anwuchs und gleichzeitig die spanische Krone versuchte, die Zahlen der tributpflichtigen Bevölkerung zu erhöhen. Die Zunahme der Beschwerden der Kaziken und die kritischen Berichte des Protector de Naturales (so 1723/24) zogen wiederum Interventionen kolonialstaatlicher Instanzen nach sich. (Pérez 1987: 115-134) Problematisch ist jedoch, dass sich auch in der Schnittstelle kolonialer Staatlichkeit die Akteurskonstellationen überlappen. So nominierte die Audienca de Quito im Asiento de Latacunga zur Behebung der hier in den Obrajes und Haciendas identifizierten Missstände Antonio Flores, den ersten Marqués de Miraflores –

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einen der größten und einflussreichsten Hacienda- und Obraje-Besitzer der Region. So wurde der Marqués de Mirafores beispielsweise 1775 von Pueblos aus Saquisilí und Mulahló verklagt, da er Tribute von forasteros aus Quito, Riobamaba und Otavalo eingetrieben haben sollte. (Moreno 1985: 150) Die Durchsetzung der Anliegen indigener Bevölkerung hing weitgehend von der Fähigkeit der Kaziken ab, sich als Mittler zwischen beiden Welten – der indigenen und der kolonialstaatlichen – bewegen und Kanäle politischer Kommunikation etablieren zu können. Die Regierung durch die indigenen Kaziken war zentraler Bestandteil des politischen kolonialen Systems, entsprach damit aber auch einem diffizilen Kräfteverhältnis. Insgesamt werden die Kaziken der späten Kolonialzeit eher als kooptierte Akteure betrachtet. Aber ein Gravitationszentrum von Protest zwischen Quito und Latacunga war Don Francisco Zamora, der zwischen 1730 und 1790 Kazike von Toacazo im corregimiento Latacunga war. Bereits Segundo Moreno Yañez stellt diesbezüglich folgende Vermutung auf: »Es scheint, dass er in der Hauptstadt über die Ausübung inoffizieller Aufgaben als »Anwalt« der Indios, der ihnen bei der Formulierung von Petitionen am Gericht der Audiencia hilft, hinaus ein wichtiger Berater der Kaziken und möglicherweise auch als ihr Verbindungspunkt fungierte.« (Moreno 1985: 407)

Fernando Lavallé, der unlängst das Leben des Kaziken rekonstruiert hat, beschreibt ihn als Idealtypus oder besser Maximaltypus des »Kämpfers mit der Feder«. Auf Grund seiner Erfahrung sowie der Konstruktion von ethnischen Bindungen agierte Francisco de Zamora nicht nur in den territorialen Grenzen von Toacazo, sondern auch in Haciendas in Tigua und Zumbahua sowie in der zu Saquisilí gehörenden Obraje Guaytacama und der Hacienda der Compañía de Jesús in Saquisilí. Die beiden letztgenannten Konfliktfälle in Saquisilí stehen beispielhaft dafür, wie in den beiden wichtigsten kolonialen Institutionen – sprich Hacienda und Obraje – indigener Widerstand möglich war. Im Folgenden möchte ich zwei von Francisco Zamora in Saquisilí geführte Konflikte sowie eine Auseinandersetzung des Kaziken von Saquisilí, Francisco Javier Sancho Hacho Pullupaxi, aus der späten Kolonialzeit detaillierter rekonstruieren. Lohnkämpfe in der Obraje Guaytacama Mitte des 18. Jahrhunderts kam es vermehrt zu Beschwerden und Klagen gegen die Obraje Guaytacama, die sich seinerzeit im Besitz der Mercedarier befand. Mitte des 18. Jahrhunderts war es zwar eine bedeutende, nicht aber die größte Obraje in

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Saquisilí. 1 Während 1755 für zirka 90 Indigene 220 Pesos Tribut gezahlt wurden, waren es in den Obrajes von Tilipulo 412 Pesos, in der von Nintanga 425 Pesos und in der von Canchagua 103 Pesos. (Lavallé 2002: 79) 1739 klagte eine Gruppe Indigener an: Sie hätten »einen vollständigen Widerstand erfahren, sowohl des großgrundbesitzenden Pater als auch des Konvents. Nicht nur bei der Meldung der socorros der conciertos, sondern auch bei der Bezahlung der Anzahl der servicios personales, deren Schuldner der Konvent ist.« (ANH/Q, Indígenas 1740)

Der protector de Latacunga, Alejandro Infante, überprüfte die Anklage und letztlich wurde die Hacienda sowie die dazugehörige Obraje wegen der ausstehenden Zahlungen 1740 beschlagnahmt. Dennoch weigerten sich die Mercedarier die Zahlungen vorzunehmen, indem sie darauf verwiesen, dass sie die Tributzahlungen geleistet hätten. Doch gemäß den Berechnungen des corregidor und des protector de naturales, die auf dem Libro de Rayas y Soccoros basierten, kamen sie zu dem Ergebnis, dass noch 793 Pesos, drei Reales sowie ein Cuarto zu zahlen seien, was die Indigenen dann auch 1745 in Quito einklagten. Der Vertreter der Protectoría General, Antonio Freire de Andrade, gab noch im selben Jahr der Klage statt, und das Verfahren gegen die Obraje wurde eröffnet. Selbst die bischöflichen Autoritäten stellten sich auf die Seite der Indigenen. Und so blieb den Mecedariern nichts anderes übrig, als zu versichern, die ausstehende Summe innerhalb von drei Tagen zu bezahlen – eine Zahlung die nie erfolgte. Daraufhin wurde die Beschlagnahmung und Pfändung der Obraje wie auch der Ländereien von Chantilín und San Javier angeordnet. Doch auch diese Maßnahme wurde nicht ergriffen, so dass die Klage der Indigenen – trotz der Eindeutigkeit der Rechtslage – folgenlos blieb. Vier Jahre später, am 28. Januar 1749, erhielt dann Don Francisco de Zamora von elf Indigenen der Obraje die Vollmacht, den oben geschilderten Fall wieder aufzurollen. Knapp einen Monat später wies die Real Audiencia dem corregidor del asiento an, die Indigenen zu bezahlen und gegebenenfalls gegen die Obraje und Hacienda zu intervenieren, obwohl diese mittlerweile von den Mercedariern in die Hände von Lucas de Cevallos übergegangen war. Als daraufhin auch keine Zahlungen an die Indigenen erfolgten, forderte Zamora die Schätzung des Werts der Obraje, um dann eine Konfiszierung und spätere Versteigerung anzugehen. Nach einigen juristischen Querelen kam es dann zu einer öffentlichen Versteigerung von Guaytacama. Allerdings gab es keinen Bieter, und so wurde für den 27. September 1749 ein weiterer Termin angesetzt. Hier ersteigerte der Bevollmächtigte des

1 Ich stütze mich im Folgenden auf die detaillierte Rekonstruktion des Konflikts in Lavallé (2002: 77-88), sowie auf Dokumente des ANH/Q.

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Marqués de Maenza Guaytacama für 2.000 Pesos. Ende April 1750 wurde den indigenen Klägern dann die ihnen zustehende Summe ausgezahlt. Von den eingeforderten 793 Pesos erhielten sie 556 Pesos. Don Francisco de Zamora hingegen erhielt 243 Pesos und einen Real für seine achtmonatige Intervention in dem knapp zehn Jahre andauernden Rechtsstreit. Dieser Fall zeigt, dass es im kolonialen Rechtssystem durchaus Möglichkeiten gab, um die Macht der Hacienda- und Obraje-Besitzer mit Verweis auf das kolonialstaatliche Recht in die Schranken zu verweisen. Doch macht der Fall auch deutlich, dass es sich hier um nur eine partikulare Lösung handelte, die für den indigenen Kaziken und schriftkundigen Vermittler Don Francisco durchaus lukrativ war. In der Folgezeit gab es seitens der indigenen Arbeiter weiterhin fortgesetzte Klagen über Missbrauch, Ausbeutung und fehlende Bezahlung in der Obraje. Gegner war nun der neue Obraje-Besitzer, der Marqués de Maenza (so in einem Konflikt 1760) und dessen Verwalter Joaquín de Rivera (1775). Das Ausmaß der Abschöpfung indigener Arbeitskraft ohne eine rechtmäßige Bezahlung zu leisten trat ansatzweise in dem Inspektionsbericht des corregidor de Latacunga, Isidro de Yangües y Valencia, aus dem Jahre 1754 hervor. Er wollte alle Obraje- und Hacienda-Besitzer dazu verpflichten, die Schulden bei ihren Arbeitern zu begleichen. Allein der Marqués de Maenza hatte zu diesem Zeitpunkt schon seit 17 Jahren keinen Lohn mehr an seine Arbeiter bezahlt, so dass bei einigen noch eine Zahlung von bis zu 200 Pesos ausstand. Konflikte um Arbeit in der Pulverfabrik Neben Don Francisco Zamora gab es in der Region weitere Kaziken, die Klagen über das etablierte koloniale Vermittlungssystem vorantrieben. 1791 wandte sich Don Francisco Javier Sancho Hacho Pullupacci, cacique principal und gobernador von fünf Pueblos aus Saquisilí an den Fiscal Protector General de los Naturales der Real Audiencia. Er gab an, dass er die Verpflichtung 60 Indios der fünf Pueblos zur Pulverfabrik in Latacunga zum Bau einer Anlage eingesetzt zu haben, nachgekommen war. Die Anlage ersetzt Arbeiten, die zuvor manuell verrichtet werden mussten. Da die Anlage nun fertiggestellt worden war, gab der Kazike an, dass die Einforderung von Arbeitskraft nun zu reduzieren sei. Zudem seien die Forderungen nach Entsendung von indigener Arbeitskraft äußerst schwierig zu erfüllen, denn »Die Indios, die ich Ihnen für die königliche Fabrik präsentieren kann, haben Angst vor ihr. Einige haben sich von dort entfernt, und andere bleiben dabei, sich bei den haciendas der bekannten Personen zu verdingen. Und deshalb sind sie dort nicht herauszubekommen. Und aus diesem Grund fehlen einige Indios, um die Rate oder Anzahl, die Sie gesetzt haben, zu erreichen; dieses ist der Grund, warum dieser Kazike sich in Bedrängnis sieht, den Wunsch des

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Corrigidors zu entsprechen und zu flüchten versucht hat, um als Flüchtiger zu leben, und dann die vorliegende Gegenklage verfasst hat.« (ANH/Q, Indígenas 131-11, 6.8.1791)

Interessant ist hier allerdings auch, dass der Kazike darauf verweist, dass ein Teil seiner Untergebenen sich offenbar lieber freiwillig als concierto dem HaciendaRegime unterwarf, um der Zwangsarbeit in der Pulverfabrik zu entgehen. Beim Kaziken schwang hier deutlich die Angst vor Machtverlust mit – denn sein größtes Kapital bestand in der Verfügung über Arbeitskraft – wenn er nun die Gleichbehandlung von Llactayos und conciertos forderte. Wenn indigene Arbeiter notwendig seien, dann spricht sich der Kazike dafür aus, dass gerade auch die Indigenen, die zunehmend dem Concertaje-System in den Haciendas unterworfen worden waren, zur Mita herangezogen werden sollten. Dieser Vorschlag stand nun diametral den Interessen der lokalen Eliten entgegen. Doch für die zentralen kolonialstaatlichen Instanzen scheint die Produktion in der Pulverfabrik von übergeordneter Bedeutung zu sein. Und so instrumentalisierten sie den Kaziken gegen die Hacienda-Besitzer, indem sie dem Kaziken Sancho Hacho Pullapaxi alle notwendige Unterstützung zusicherte, um die für die Produktion in der Pulverfabrik notwendige Arbeitskraft einzutreiben. (ANH/Q, Indígenas, 131-2, 1791) Diese Meldung kann nun für den Kaziken wenig befriedigend gewesen sein, denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Hacienda-Besitzer freiwillig Arbeitskraft abgegeben haben. Zudem wurden hier keine konkreten Zahlen der Reduzierung der vom Kaziken gestellten Arbeitskraft genannt, somit gab es keine klare Regelung zur Umsetzung. Klagen gegen kirchliche Willkür Die Kirche und die Orden waren in jeder Region der Audiencia de Quito präsent und stellten dort jeweils eine zentrale politische Macht dar, die die politischen Aushandlungsprozesse prägte. Wie geschildert waren Kirchenvertreter oft an der Umsetzung staatlicher Programme beteiligt, so der Volkszählung im Konflikt in San Phelipe. Aber sie traten auch als eigenständige Akteure bei der Landnahme auf, wie im Fall der Hacienda des Jesuitenordens gezeigt werden konnte. Auf der Ebene der alltäglichen Beziehungen zu der indigenen Bevölkerung wurde oftmals von willkürlichen Maßnahmen von Kirchenvertretern berichtet. In einem dieser Konfliktfälle intervenierte Don Francisco de Zamora. So zwang der franziskanische Vikar Joseph de Mogroviejo die Kinder der indigenen Gemeinschaften um Saquisilí dazu, dienstags und freitags in die Dorfkirche zu kommen. Allerdings durften sie nicht ohne Gaben kommen – die jeweils aus einem Hühnerei bestanden – und die über zwölfjährigen Mädchen mussten Dienste im Hause des Vikars ableisten. Die Indigenen reichten gegen diese Praxis Klage ein. Daraufhin wurde der Versuch unternommen,

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den Geistlichen abzumahnen und zu bestrafen Dieser jedoch widersetzte sich gewaltsam. Derart machtlos gelassen, ersuchte der provincial den Präsidenten der Real Audiencia um Hilfe. Es entfaltete sich ein Konflikt zwischen der Audiencia und der Kirche der darin gipfelte, dass die Real Audiencia auf Grund dieser Vorkommnisse eine Verfügung erließ, die Predigern bei Missbrauch ihrer Position Gefängnisstrafen androhte. (Lavallé 2002: 96) Gegen die Expansion der Hacienda In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts kam es aber nicht nur zu Konflikten um die Verfügung von Arbeitskraft und um Machtmissbrauch, sondern gerade auch die Konjunktur der Kolonialisierung durch die Landnahme der Hacienda war Gegenstand von Auseinandersetzungen. Am 28. November 1763 informierte der protector general de los naturales die Real Audiencia darüber, dass ihn Francisco de Zamora über ein Landproblem in Saquisilí informiert hatte. Letzterer gab an, dass ihn die ihm unterstellten Indigenen sowie weitere Indigene aus der Umgebung informiert hätten, dass ein gewisser Francisco Oto, Indigener aus Sigchos Collanaos, der mittlerweile in Quito lebte, sein Land an die Compañía de Jesús verkaufen wollte. Francisco de Zamora beschrieb den heftigen Protest der Anwohner. (Lavallé 2002: 107) Da Oto, der Verkäufer, in der Tat so verarmt war, dass er zum Verkauf gezwungen war, schlugen die anliegenden Indigenen vor, das Grundstück ihrerseits zu kaufen. Ziel war es, um jeden Preis zu verhindern, dass die Länder in den Besitz von Spaniern gelangten. Auch hier verwiesen sie wieder auf die Gesetze der Krone: »denn sie sagten, dass dieses Land, das er verkaufen wollte, nicht veräußerbar sei, da es ein Teil des repartimientos mit den anderen sei.« Zudem wird hier die komplexe Nutzungsweise indigener Ländereien in der Region deutlich, die – wie Francisco de Zamora weiter ausführt – zwar verteilte und zugewiesene Parzellen sind, die auch patrilinear vererbt werden, die jedoch auch gleichzeitig »mit lebenslangen Nutzungsrechten versehen« sind, d.h. kommunal genutzt werden und nicht enteignet werden können. Dies entspricht dem andinen Prinzip der Landnutzung, nachdem der ursprüngliche Eigner die Gemeinschaft oder die Pachamama ist, und die einzelnen Linien nur Nutzungsrechte erhalten. Vor diesem Hintergrund wurde dann die Rechtmäßigkeit des Besitzes von Francisco Oto angezweifelt, da dieser den Grundbesitz von dem bereits verstorbenen Kaziken Francisco Hati Aja erworben hatte. Nun argumentierte Zamora, dass, wenn diese Transaktion ungültig gewesen war, die von Oto und den Jesuiten ebenfalls nichtig sein müsste. Der Konflikt wurde nun folgendermaßen gelöst: Angesichts der Armut und des hohen Alters von Francisco Oto forderten die Padres nur die Hälfte des –

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ohnehin geringen – Kaufpreises zurück, die andere Hälfte trieben sie bei den Erben des verstorbenen Kaziken ein. Dieser Landkonflikt zeigt, wie deutlich die indigenen Kaziken die Landaneignungsstrategien der Spanier und Kreolen sowie die damit verbundene Expansion der Hacienda durchschauten. So kritisierte Don Francisco Zamora die Strategie der Einzingelung indigener Gemeinschaften durch fortschreitenden Landkauf – nicht ohne Kritik an den Kaziken, die ihr Land verkauften – in Latacunga wie folgt: »Mit einem hohen Schaden für die Nachkommen, ohne irgendeine Berechtigung oder Formwahrung, ist er über sie hergefallen, um die Ländereien des cacicazgo mit denen der comunidad de indios zu verbinden und eine große Hazienda zu machen, so dass allein der Name dieses cacicazgos erhalten bleibt und alle Indios auf das Extremste vernichtet werden.« (Zitiert nach Lavallé 2002: 68)

Ganz in diesem Sinne – und sicherlich auch um die Macht der lokalen Eliten gegenüber dem kolonialen Staat zu begrenzen – forderte 1800 der protector de naturales, Manuel Ortega, die Verteilung von Ländereien um Mulinliví, Colals, Sinchaguasín, Poaló, Tilipulo, Saquisilí und anderen tierras de comunidad, die von Kaziken und gobernadores verkauft oder verpachtet wurden. Das Ergebnis dieser Initiative ist nicht bekannt, doch der Blick auf die Landverteilung im beginnenden 19. Jahrhundert lässt darauf schließen, dass sie keine Früchte trug.

M IGRANTISCHE F LUCHTLINIEN In ihren demographischen Arbeiten zum zentralen Hochland der Audiencia de Quito im 16. und 17. Jahrhundert haben Robson Tyrer und später Suzanne Alchon herausgearbeitet, dass sich die tributpflichtige Bevölkerung in einigen corregimientos dieser Region verdrei- oder sogar vervierfacht hatte. Während in Latacunga 1590 noch von 4.000 tributpflichtigen Indigenen ausgegangen worden war, so waren es 70 Jahre später schon ca. 14.000. Üblicherweise erfolgte zur Erklärung des Bevölkerungsrückgangs ein Verweis auf die Epidemien – vor allem Masern und Pocken –, die die Audiencia de Quito in den Jahren zwischen 1524 und 1591 mehrfach heimsuchten. (Alchon 1991) Doch weist Powers darauf hin, dass (1995: 17) entgegen der These des Bevölkerungsrückgangs in den 1570er bis 1590er Jahren paradoxerweise in vielen Quellen von einem Wachstum indigener Bevölkerung berichtet wurde. Powers erklärt dieses Paradox durch die Migrationsbewegungen. Nach der Niederlage der Inkas 1534 kam es zu chaotischen Migrationsbewegungen von freien Bevölkerungssegmenten, wie yanaconas, aber auch zu einem gezielten Rückzug der geschlagenen inkaischen Truppen entlang der Andenabhänge in Rich-

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tung Küste oder Amazonien. Beide Diffusionsbewegungen erfolgten auf der Grundlage bereits etablierter Muster andiner Raumordnung. Sie basierten auf dem prähispanischen Raummodell des »vertical archipelago« und der »Kontrolle einen Maximums an ökologischen Nischen«, demgemäß die in der Region um Latacunga ansässige Gruppe der Panzaleos bereits in prä-inkaischer Zeit enge Beziehungen zu den Quijos an den östlichen Andenabhängen und zu den Yumbos in den westlichen Andenabhängen unterhielten. (Porras 1961, Oberem 1980) In diesen Gebieten etablierten sich wahre »Rückzugszonen« der geschlagenen Verbände der Inkas. Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert – nach der Niederschlagung des letzten Quijos-Aufstands (oder besser: eines multiethnischen anti-kolonialen Aufstands) 1578 – kam es dann allmählich zu einer Umkehrung der Migration, so dass eine signifikante Bewegung von den Quijos hin zu dem zentralen Hochland Latacungas, das einen großen Bedarf an Arbeitskraft hatte, ausgemacht werden kann. (Powers 1987) Belegen lässt sich diese Hypothese anhand des parallel erfolgenden rapiden Bevölkerungsrückgangs in Quijos. Als die Spanier 1559 in Quijos eindrangen, schätzten sie die Bevölkerung auf 30.000 bis 40.000. Zahlen für konkrete Pueblos sind der Tabelle zu entnehmen, die sich allerdings allein auf die tributpflichtige Bevölkerung konzentriert. Zur Schätzung der Gesamtbevölkerung – einschließlich von Frauen, Kindern und Alten – wäre der Faktor 4 oder 5 anzusetzen (vgl. Newson 1995). Der Migrationsprozess war so nachhaltig, dass Ende des 16. Jahrhunderts sowohl das östliche als auch das westliche Tiefland weitgehend entvölkert waren. Tab. 4: Tributpflichtige Bevölkerung in der Gobernación Quijos, 1559-1608 Pueblo\Jahr

1559

1577

1608

Prozentuale Veränderung

12.000

5.013

980

-92% (gegenüber 1559)

Avila

919

240

-74% (gegenüber 1577)

Archidona

871

215

-75% (gegenüber 1577)

Baeza

Eigene Erstellung nach Powers 1995: 31

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist also eine bedeutende Rekonzentration der Bevölkerung im zentralen Andenhochland festzustellen. Neben den gerade ausgeführten Migrationsdynamiken ist zudem auf eine wachsende Nord-Süd-Migration von Popayan in Richtung Quito zu verweisen. (Powers 1995: 33-39) Hintergrund

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der Migration ist vor allem, dass Latacunga eine ökonomisch boomende Region war, wobei vor allem die Obrajes Arbeitskräfte anzogen. Für die spanische Krone erwies sich die Migration allerdings insofern als problematisch, da die Tributzahlungen von in den Gemeinschaften verorteten Indigenen – den Llactayos – abhingen. Die forasteros hatten geringere Tribute zu zahlen und ein Teil der Migranten blieb als vagabundos vor der Krone versteckt. Zum Teil gab es auch gezielte Strategien der Kaziken, die forasteros vor der Krone zu verbergen und sich somit eine Entlastung bei der Mita zu verschaffen und eigene Arbeitskraft zu sichern. (Powers 1996: 101) Besonders die Kaziken in Latacunga boten den forasteros Land an, wobei letztere dann als Gegenleistung für den Kaziken arbeiteten. Dies rief den Kolonialstaat auf den Plan, der das »Lesbarmachensder Bevölkerung« zur demographischen Kontrolle auf die oberste Prioritätenliste setzte. Der Besuch des oidors Matías de Peralta zwischen 1614 und 1626 (Powers 1995: 95) löste einen entscheidenden Schub in der kolonialen Bürokratie in Quito aus. Denn Peralta drängte massiv darauf die klandestine indigene Bevölkerung in die Administration zu integrieren und damit für die Tributzahlung zu erschließen. Dazu gehörte die Maßnahme, dass nun die forasteros in die Ayllus ihres Wohnortes integriert wurden. Es handelte sich somit um eine Politik der Verortung von Bevölkerung, die dem auf Verwandtschaft und Herkunft gegründeten archipelaren Raumprinzip entgegenstand. Gleichzeitig wurden damit auch die Möglichkeiten der strategischen Verwendung von forasteros unterbunden. Diese sowie weitere Maßnahmen zur Verortung von Bevölkerung führten dazu, dass die herumstreunende freie Bevölkerung weitgehend in das Tributsystem integriert wurde. Diese Politik fand vor allem in Latacunga ihre Umsetzung. So erhielt Andrés de Sevilla, der Oberschreiber der königlichen Inspektion, von der Audienz den Auftrag alle vagabundos im corregimiento Latacunga zu erfassen. Dazu ging er – wie bereits beschrieben – eine Allianz mit dem Kaziken Don Guillermo Hati ein. Innerhalb kürzester Zeit präsentierte Don Guillermo 200 mögliche tributarios mit ihren Familien. Andrés de Sevilla registrierte diese dann in San Sebastian, Saquisilí, Alaques, Mulahló und San Miguel, wobei er ihnen auf Grund ihrer Armut und dem Fehlen von Land einen geringen Tribut gewährte und sie von der Mita sowie allen anderen Formen von Zwangsarbeit befreite. Entgegen diesem Zugeständnis verfasste der gleiche Andrés de Sevilla einen Bericht über die Fortdauer von Zwangsarbeit, und er schlug vor, dass zum Schutz dieser Bevölkerung sie nur einem vertrauenswürdigem Kaziken unterstellt werden sollten. Im Januar 1634 wurden dann alle vagabundos des corregimiento Latacungas, unabhängig von ihrem Residenz- oder Herkunftsort, einem Kaziken unterstellt: nämlich Don Guillermo Hati. (vgl. Powers 1995: 117-118) Mit dieser Übereinkunft wurde eine Dynamik in der gesamten Region ausgelöst, da nun auch die weiteren Kaziken gezwungen waren, die Zahl der von ihnen versteckten und geduldeten forasteros aufzudecken. Entsprechend stieg in Lata-

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cunga gegenüber 1633/34 die Zahl der gemeldeten forasteros von 200 auf 400 und dann, 1672, noch einmal auf 539. (Powers 1995: 120) Powers interpretiert die kolonialstaatliche Politik als gezielte Kooptation und politische Manipulation des spanisch-treuen Kaziken »It is evident, then, that audiencia officials had used the ambitions of Don Guillermo Hati to force the remaining Andean leaders to capitulate to colonial objectives – the incorporation of forasteros into the tributary base.« (Powers 1995: 120) Diese Kooptation von Kaziken führte zwar zu einer kurzfristigen Erweiterung dessen politischer Machtbasis, doch verlor er weitgehend die Kontrolle über die Arbeitskraft der ehemaligen forasteros. Denn das Programm Andrés de Sevillas bestand nicht nur darin, die vagabundos zu zählen, sondern es ging darum, sie unter spanische Kontrolle zu bringen und in das Tributsystem zu integrieren. Powers resümiert: »Thus Andean leaders did the work of recruiting and coordinating the vagabond masses, and the Spanish officials moved in and took over their hard-won labor reserve.« (1995: 119) Der einzige verbliebene Vorteil für die Kaziken bestand darin, dass die nun verorteten forasteros von der Mita befreit blieben, so dass die Kaziken diesen Teil der Mehrarbeit für sich abschöpfen konnten. Die Hauptleidtragenden waren damit die einfachen indigenen Bauern. Diese Politik der Verortung muss man sich nun keineswegs statisch vorstellen. Denn gerade die visitas mit den nachfolgenden Maßnahmen sowie die Volkszählungen waren ihrerseits wieder der Anlass für erneute Fluchtbewegungen, so dass sich eine Ereigniskette von Zählung, Flucht und erneute Notwendigkeit zur Zählung ergab. (Powers 1995: 99) Doch die Zeit, in der Migration als nachhaltige und breitenwirksame Fluchtlinie gegenüber den kolonialen Politiken der Verortung diente, war vorbei.

Expansion von Kolonialität und konfliktive Schnittstellen kolonialer Staatlichkeit

Nach dem Sieg der spanischen Conquistadoren über den inkaischen General Rumiñahui blieb der Widerstand gegen die sich etablierende Kolonialherrschaft gering. Anti-kolonialer Widerstand war in der Region um Cotopaxi vor allem in Form des Exodus aus der zentralen, von den Spaniern beherrschten Hochlandregion und dem Rückzug in das an den östlichen Andenhabhängen gelegene Gebiet der Quijos festzustellen. Insofern ist dieses Gebiet durchaus mit Vilcabamba zu vergleichen, dem letzten Rückzugsort der Inkas, von dem aus diese bis zum 24. Juli 1572 Widerstand gegen die spanische Kolonialherrschaft leisteten. So führten die Quijos 1560, 1562 und 1578 Aufstände durch, die als die größten Aufstände in Ecuador während der Kolonialzeit gelten. Nach der Niederschlagung dieser Aufstände, die unter Mithilfe von indigenen Kaziken wie Sancho Hacho erfolgte, konnte sich die Kolonialherrschaft unbeschränkt von externen, anti-kolonialen Widerständen etablieren. Dabei können zwei Konjunkturen der Kolonialisierung unterschieden werden, die sich teilweise überschnitten und verstärkten, teilweise aber auch im Konflikt miteinander standen. Bei beiden stand zunächst die Kontrolle der Bevölkerung, vor allem zum Zwecke der Abschöpfung von Arbeitskraft im Zentrum. Erstens ist eine kolonialstaatliche Politik der Verortung festzustellen. Hierbei wurde die Kontrolle der indigenen Bevölkerung, vermittelt über die indigenen Kaziken, welche mit dem Konstrukt der república de indios einen eigenen politischen Raum zugewiesen bekamen, durchgeführt. Verstärkt wurde diese kolonialstaatliche Politik vor alle durch die Reformen Toledos und die damit verbundene Einführung der reducciones, die die versteckten Formen andinen Widerstands wie die Migration verhindern sollten. Durch die Kooptation der indigenen Kaziken und deren begrenzte Anerkennung konnte die Bevölkerung über Techniken kontrolliert werden, die den Andenbewohnern schon durch das Tahuantinsuyo geläufig waren, wenngleich die Reziprozitätsleistungen vom kolonialen Staat nur kaum erfüllt wurden. Stattdessen waren die kolonialstaatlichen Regelungen auf Abschöpfung ausgelegt, die Michel Foucault »als eine den Untertanen aufgezwungene Entziehung von Produkten, Gütern, Diensten, Arbeit und Blut« definiert. (Foucault 1992: 162) In der Cédula Real vom

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Dezember 1503 und später bestätigend in der Real institución sobre el trabajo de los indios aus den Jahren 1601 und 1609 wurde festgehalten, dass die indigene Bevölkerung als Vasallen des Königs nicht versklavt oder zu sonstiger Zwangsarbeit herangezogen werden kann, sondern einem »freien« Arbeitsmarkt unterworfen war. Damit sollten die Zahlung von Tributen und die Mita gewährleistet werden. Fundamentale Unterschiede zum Tahuantinsuyo waren zum einen das Fehlen der Etablierung einer moralischen Ordnung der Reziprozität und Redistribution und zum anderen die Schaffung eines rigiden Systems ethnischer Klassifikation, in dem die Indigenen den Spaniern untergeordnet wurden. Während die Inkas es vermocht hatten, andere señoríos und deren Kaziken in ein multi-ethnisches Empire zu integrieren, war das spanische Imperium von ethnischer Über- bzw. Unterordnung geprägt. Entsprechend wurden schon in der frühen Kolonialzeit selbst für die spanische Kolonisation wichtige indigene Adelige wie Sancho Hacho nicht in einen dem spanischen Adel vergleichbaren Stand gehoben. Dennoch wurden die Kaziken zu einer der wichtigsten Schnittstelle zwischen kolonialem Staat und indigenen Gemeinschaften, entlang derer die politische Kommunikation zirkulierte und kulturelle Übersetzungsleistungen erbracht wurden. Corregidores de indios, protectores de naturales, Kaziken und andere staatliche Instanzen bildeten eine hochfrequentierte Schnittstelle zwischen kolonialem Staat und indigenen Gemeinschaften. Hierbei vermochten es gerade auch die Kaziken, staatliche Instanzen über autoethnographische Diskurse für ihre Interessen zu gewinnen. Eine zweite Konjunktur der Kolonialisierung ging von den spanischen Conquistadoren und deren kreolischen Nachfahren aus. Diese ist vor allem ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in den zentralen Hochlandprovinzen wie Cotopaxi mit einer verstärkten Dynamik kolonialer Landnahme verbunden, mit der große HaciendaKomplexe entstanden. Während die Hacienda von der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts noch funktional auf die Obraje ausgerichtet war, so entwickelte sich danach eine Eigendynamik. Diese sich mit der Konjunktur der Hacienda entfaltenden Dynamik entsprach den Interessen der Kreolen, die eine private Bereicherung anstrebten und dabei einem hispanischen Adelsideal nachstrebten. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war der Prozess der Landnahme so weit vorangeschritten, dass – so auch in der Region um Saquisilí – große Teile der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche unter – oft auch in den Adelsstand erhobenen – Großgrundbesitzern aufgeteilt war. Zwar kam es gerade in Hinblick auf die Kontrolle indigener Arbeitskraft und politischer Herrschaft zu Konflikten mit dem spanischen Kolonialstaat. Auf lokaler Ebene hingegen gab es trotz des mit der Conquista angelegten Interessenkonfliktes – man denke an den von Gonzalo Pizarro initiierten Bürgerkrieg im früh-kolonialen Andenraum – eine enge Zusammenarbeit zwischen Großgrundbesitzern und lokalem Staat. Diese beruhte nicht zuletzt darauf, dass letztlich beide – die Beamten des

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lokalen Staats und auch die Großgrundbesitzer – derselben sozio-kulturellen Gruppe der Kreolen entstammten. Festzuhalten sind allerdings nur punktuelle Konjunkturen der Dekolonialisierung in der Region um Saquisilí und in der Audiencia de Quito im Allgemeinen. Während der gesamte Andenraum im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise und der darauf reagierenden Bourbonischen Reformen (Andrien 2001: 202-203, Thomson 2002: 106-139) von indigenen Aufständen geprägt war, die ausgehend von den Protesten unter José Gabriel Condorcanqui – bekannt als Tupac Amaru II – in Peru den Charakter einer transregionalen Revolution annahmen, so blieb es im zentralen Hochland Ecuadors erstaunlich ruhig. Zumeist vermochten es die Träger der vereinzelten Proteste nicht, dauerhafte Kommunikationskanäle zu den anderen Aufstandsbewegungen herzustellen und zu einer Diffusion der anti-kolonialen Konjunktur beizutragen. Vielmehr blieben die Aufstände wie der von 1777 in San Phelipe vorwiegend lokal und punktuell, d.h. beschränkt in Raum und Zeit. Partha Chatterjee hat argumentiert, dass es in Agrargesellschaften die Angst vor einem Bauernaufstand ist, die letztlich die Herrschaftsformen und -techniken prägt. (2000: 22) Diese Angst war unter den kolonialen Eliten in der Audiencia de Quito zwar verbreitet – wie der Vergleich von Felipe Zamora mit Tupac Amaru II zeigt – jedoch war die Aufstandskraft klein. Diese Proteste wurden zu keinem Politikum, das über die Bildung eines Antagonismus entlang der Linie Kolonisatoren vs. Kolonialisierte zu einem Bruch im Sozialen führen konnte. Stattdessen wurden die Konflikte – wie auch im Fall San Phelipe – auch durch die Regierungstechniken des bereits etablierten Hacienda-Dispositvs lokal befriedet. Es scheint, dass vor allem die frühe Verortung der indigenen Bevölkerung in der Hacienda, die bereits Mitte des 18. Jahrhunderts so weit vorangeschritten war, dass in einigen Landstrichen die gesamte Kategorie der freien indigenen Bevölkerung statistisch verschwunden war und alle als conciertos in den Haciendas lebten. Dies war zum Teil ein Resultat des Prozesses der Landnahme der Hacienda, zum Teil aber zogen die Indigenen das Leben in der Hacienda der Belastung durch die Mita vor. Durch diese Politik der Verortung war die Bevölkerungskontrolle durch die private Instanz des Hacienda-Dispositivs gewährleistet. Zudem kann die Schwäche der indigenen Gemeinschaften auch bereits auf die Zeit der inkaischen Invasion zurückgeführt werden. Denn anders als im Kernland des Tahuantinsuyo handelte es sich in der Region um Saquisilí nicht um gefestigte Ayllus, sondern um multi-ethnische, vielfach fragmentierte Gebiete, die über keine gemeinsam geteilte lange Geschichte verfügten. Im Verlauf der Konjunktur der Ausbildung kolonialstaatlicher Institutionen hatten die Kaziken – gerade in Latacunga – zudem früh eine kommunikative Schnittstelle mit dem kolonialen Staat etabliert. Durch Protest- und Bittbriefe, Gerichtsprozesse und lokale Proteste stellten die Kaziken koloniale Staatlichkeit in den Randzonen kolonialer Herrschaft überhaupt erst her. Sie sorgten mit ihrer Imagina-

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tion und Performanz von kolonialer Staatlichkeit dafür, dass sich staatliche Instanzen gegenüber anderen Interessensgruppen in den kolonialen Randzonen realisieren konnten. Dabei kommt dem gemäßigten Protest, der nicht die Kolonialherrschaft an sich in Frage stellt, sondern der sich im Rahmen kolonialer Regierungstechniken bewegte, eine besondere Bedeutung für Staatsbildungsprozesse zu. Der Protest rief Reaktionen in Form von visitas, Interventionen staatlicher Instanzen bis hin zu neuen Gesetzgebungen hervor, die zu einer Ausweitung und Vertiefung kolonialstaatlicher Macht – gerade auch gegen lokale Mächte wie Hacienda und Kirche – führten. Angesichts dieser historisch etablierten Kommunikationskanäle wollte ein Großteil der Kaziken es nicht riskieren, mit der Beteiligung an einem Aufstand die eigenen Privilegien zu verlieren. (Moreno 1985: 407) Doch mit der Landnahme der Hacienda und dem Verlust der Kontrolle über indigene Bevölkerung deutete sich Ende des 18. Jahrhunderts das Ende des Kazikentums an. In dieser Übergangsphase macht Karen Powers eine neue Form des Kaziken aus, der sich nicht allein auf die Bevölkerungskontrolle verlässt, sondern auf seine Kenntnisse und taktischen Fähigkeiten an der Schnittstelle kolonialer Staatlichkeit: »Troubleshooters such as Don Andrés [und Don Francisco Zamora, mögen wir hinzufügen, O.K.], who could keep the system working in spite of all the inherent contradictions, were most likely in high demand by the Spanish regime.« (Powers 1995: 140) Diese Kaziken stellten sich der Privatisierung politischer Macht durch das Hacienda-Dispositiv entgegen, indem sie Staatlichkeit anriefen. Allerdings vermochten es diese Prozesse der Staatsformation im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr, nachhaltig auf die Institutionen und Gesetzgebung des kolonialen Staates Einfluss zu nehmen. Mit der 1812 erlassenen Verfassung von Cadiz »effectively ended the corporate status of indigenous communities« (Andrien 2001: 225), womit auch die Kaziken ihre Mittlerrolle verloren. 1812 wurde dann die Mita abgeschafft, während die concertaje auch in der post-kolonialen Republik Ecuador vom 19. bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die bestimmende Form der Abschöpfung von Arbeitskraft blieb. Doch herrschte in der Unabhängigkeitsbewegung keineswegs eine von der Aufklärung inspirierte politische Kultur vor, vielmehr kann mit Büschges (1999) unterstrichen werden, dass in der revolución quiteña die Strukturen, Handlungsweisen und traditionellen Symbole der Kolonialzeit überwogen haben. Insofern ging es den kreolischen Eliten nicht darum, das Erbe des alten kolonialen Regimes hinter sich zu lassen, sondern nur eine neue politische Machtbasis aufzubauen. Dies zeigt sich auch in dem Umgang mit der indigenen Bevölkerung. Durch den Rückbau des politischen Einflussbereichs der indigenen Gemeinschaften und Kaziken und der parallel dazu ansteigenden Macht der Hacienda wurde das Machtgefüge im Hochland von Cotopaxi derart verändert, dass entscheidende Grundlagen für den post-kolonialen Hacienda-Staat und die Fortdauer von Kolonialität auch nach der formalen Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Republiken vom spanischen Imperium gelegt wurden.

II. Von indigener Sprachlosigkeit im Hacienda-Dispositiv zur politisierten Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit

Der neo-koloniale Hacienda-Staat

Mit der Unabhängigkeit Ecuadors von der spanischen Kolonialmacht veränderten sich auch die Aushandlungen und Konflikte um Kolonialität. Insbesondere an den Schnittstellen kolonialer Staatlichkeit, die in der Kolonialzeit durch Aushandlungsprozesse zwischen kolonialem Staat, Kirche, kreolischen Eliten (v.a. Großgrundbesitzern) und indigenen Gemeinschaften (v.a. den Kaziken) geprägt waren, stellten sich massive Veränderungen ein, da nun mit den kolonialstaatlichen Institutionen ein wesentlicher Akteur, der die Beziehungsgeflechte rechtlich und politisch reguliert hatte, wegbrach. Die Kolonialzeit war gekennzeichnet durch beständige intra-hegemoniale Konflikte zwischen Krone und kreolischen Eliten, eine Konfliktkonstellation, die auch ausschlaggebend für die Unabhängigkeitsbewegungen war. In Hinblick auf die Konjunkturen von Kolonialisierung setzte die spanische Krone auf Etablierung des dualen ethnischen Systems der zwei Republiken. In diesem dualen System wurde den indigenen Gemeinschaften eine untergeordnete Stelle im kolonialen System zugewiesen. Die von den kreolischen Großgrundbesitzer-Eliten vorangetriebene Konjunktur der Landnahme dagegen strebte eine Verortung der indigenen Bevölkerung im lokalen Raum der Hacienda an, ohne weiterreichende Kanäle politischer Kommunikation zu schaffen. Zu diskutieren ist in diesem Kontext an erster Stelle die Verschiebung des Kräftegleichgewichts in dem Dreieck zwischen indigenen Gemeinschaften, Staat und lokalen Großgrundbesitzer-Eliten unter dem post-kolonialen Regime. Für die Beziehungen zwischen Staat und indigenen Gemeinschaften ist hier die Frage des Tributs von besonderem Interesse, da an dieser Stelle entlang der geopolitischen Zuteilung zu den zwei Republiken Differenz markiert wurde. An die Überlegungen von historischen Arbeiten aus dem Andenraum Boliviens und Perus anschließend argumentiert Aleezé Sattar, dass vor allem durch die Fortführung des kolonialen Tributs auch unter post-kolonialen Bedingungen – der Tribut war kurzfristig 1821 unter Simón Bolívar abgeschafft, dann aber 1828 durch ihn zur Finanzierung des Staatshaushalts wieder eingeführt worden – der republikanische post-koloniale Staat gezwungen war, die »colonial bifurcation of the two ›re-

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publics‹, each governed according to its own laws and regulations and by distinct machineries of the state« (2007: 26) fortzuführen. Alle männlichen Indigenen im Alter von 21 bis 50 Jahren mussten die contribución personal indígena zahlen. Indigene, die sich auf den Haciendas als conciertos verschuldet hatten, waren von der Zahlung ausgenommen und stattdessen wurde der hacendado zur Zahlung der Tribute der auf seinem Grundstück lebenden Indigenen verpflichtet. (Sattar 2007: 25) Zudem mussten die Indigenen den diezmo, den Zehnten, und die primicias, die ersten landwirtschaftlichen Ernten, zahlen. Zwar war der diezmo eine kirchliche Abgabe, doch wurde sie vom Staat – der einen Teil der Einkünfte einbehielt – eingetrieben. Für die Indigenen, denen mit diesen Maßnahmen eine subalterne, unvollständige Staatsbürgerschaft ohne Wahlrecht zugewiesen wurde, hatte dieser Umstand den Vorteil, dass sie von allen indirekten Steuern (z.B. Eigentumssteuern) befreit wurden und nicht zum Militärdienst eingezogen werden konnten. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die contribuciones personales indígenas – wie die indigene Kopfsteuer euphemistisch genannt wurde – im Kontext liberaler Modernisierungsprogramme abgeschafft, so in Ecuador 1857 und in Peru 1854. (Larson 2004) Doch ist die Abschaffung der Tribute nicht nur auf die Zustimmung der indigenen Gemeinschaften gestoßen. Sattar argumentiert, dass es indigenen Protest – z.B. in Chimborazo – gegen die Abschaffung des Tributs gegeben hatte, (2007: 35) doch scheint dies eine Ausnahme gewesen zu sein. Zudem war dieser Protest in eine Konfliktsituation mit dem Großgrundbesitzer Carlos Zambrano eingebunden, in derdie indigenen Gemeinschaften auf eine Allianz mit dem Staat setzten, um die Macht des hacendados zurückzudrängen. (Sattar 2007: 33-34) In anderen Auflistungen indigener Proteste des 19. Jahrhunderts gibt es kaum Hinweise auf Proteste gegen die Tribute oder für die Beibehaltung der Tribute, allein für das Jahr 1843 ist, ebenfalls in Chimborazo, ein Aufstand gegen die Tributzahlungen überliefert. (Quintero und Silva 1998, CONAIE 1989: 294) Politisch war die Abschaffung der Tribute im post-kolonialen Ecuador allerdings insofern problematisch, als dass hiermit die Indigenen keinen legalen Status mehr hatten (Larson 2004). Der Soziologe Andrés Guerrero (2000, 1997) argumentiert, dass die formale Gleichheit und Universalisierung von Citizenship auf der Ebene des Zentralstaats in der Abschaffung des Indianer-Tributs und dem Verschwinden ethnischer Kategorien in der Verwaltung (z.B. im Zensus) seinen Ausdruck fand. Die Schattenseite bestand darin, dass die Verwaltung der indigenen Bevölkerung de facto privatisiert wurde, indem sie den Haciendas übertragen wurde, die ihre ohnehin schon weit reichende Machtsphäre nach der Unabhängigkeit weiter ausdehnen konnten. Wenn also auch der post-koloniale Staat noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts im Vergleich zum kolonialen Staat eingeschränkte Beziehungen zu den indigenen Gemeinden unterhielt, so wurden diese letzten institutionalisierten Schnittstellen politischer Kommunikation mit der Abschaffung der Tribute gekappt.

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Statt also das Hauptaugenmerk auf die Fortdauer des kolonialen, geopolitischen Konstrukts der »Zwei Republiken« zu legen, soll in dieser Arbeit im Anschluss an die von Rafael Quintero und Erika Silva aufgestellte These des Hacienda-Staates die Fortdauer und Erneuerung des kolonialen Hacienda-Dispositivs als prägend für die post-koloniale Gesellschaft Ecuadors herausgestellt werden. Hierbei sind sicherlich auch regionale Differenzen in Betracht zu ziehen, so konnten sich in der Region um Saquisilí die indigenen Gemeinschaften durch die höhere Präsenz von Großgrundbesitz und dessen starker Diffusion schon seit der frühen Kolonialzeit kaum der Inkorporation in die Hacienda widersetzen. Mit dem Wegfall des Kolonialstaates ist eine nunmehr unregulierte Verstärkung der Konjunktur der Hacienda zu beobachten. Dabei kommt es insofern zu einer Verdoppelung der HaciendaHerrschaft, da nun die Großgrundbesitzer-Elite nicht nur lokale Machtsphären im Sinne des caudillismo oder gamonalismo kontrollierte, sondern auch den neokolonialen Staat in seiner Gänze lenken konnte. Insofern können Kontinuitäten und Brüche zum kolonialen Regime ausgemacht werden. Denn einerseits kann der ecuadorianische Staat als »Verlängerung des gleichen kolonialen Staates« (1998: 223) verstanden werden, während aber andererseits der Verlust zentralstaatlicher Steuerung und der Rückgang des politischen Einflusses der Staatsbürokratie als Bruch mit dem kolonialen Regime bewertet werden müssen. Fortgeführt und vertieft wurde aber die koloniale Differenz, die sich in Rassismus und dessen Korrelat, dem Elitismus konkretisiert. (Quintero und Silva 1998: 76-79) Der Rassismus trat sowohl in einer konservativ-katholischen Form auf, die eine Verbindung zum Alten Testament herstellte und die Indigenen als Nachfolger des zur Sklaverei bestimmten Ham betrachtete als auch innerhalb des liberalen Diskurses, der wie Mercedes Prieto (2004) argumentierte, bis weit ins 20. Jahrhundert von Angst und rassistischer Abgrenzung gegenüber der indigenen Bevölkerung geprägt war. Die Indigenen galten als »natürliche Sklaven«, »Faulpelze«, »Trunkenbolde«, »degenerierte Rasse«, »Wilde« etc., denen die weiße, »höherwertige« »zivilisierte« Bevölkerungsgruppe entgegenstand. Politisch drückte sich die koloniale Differenz in dem Ausschluss der indigenen Bevölkerungsmehrheit aus dem post-kolonialen politischen Raum aus. In den formalen Demokratien war die politische Partizipation bei Wahlen im 19. Jahrhundert auf die Großgrundbesitz-Elite beschränkt. Zwischen 1830 und 1899 nahmen nur zwischen 0,3% (1830) und 5,7% (1892) der Gesamtbevölkerung an Wahlen teil. Das Frauenwahlrecht wurde 1929 eingeführt, während die politische Partizipation auf Analphabeten – zumeist Indigene – erst 1979 ausgedehnt wurde. Entsprechend definieren Quintero und Silva den Hacienda-Staat folgendermaßen: »der Hacienda-Staat drückt sich in der Regionalisierung der Macht aus, das heißt in der Festlegung autonomer Räume, die von den lokalen herrschenden Klassen, die an das Latifundium

142 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG gebunden sind, beherrscht werden. Damit wird die politische Herrschaft privatisiert und jedweder Ausdruck von staatlicher Souveränität verhindert.« (1998: 226)

Der Staat fungiert nunmehr vor allem als Kontaktzone und Vermittler im Interessensausgleich der regionalen Großgrundbesitzer-Fraktionen zwischen Quito, der traditionalen Agraroligarchie, der Plantagen-Haciendawirtschaft um Guayaquil und den südlichen Großgrundbesitzer-Eliten in Cuenca. Gerade auch aus der Region um Saquisilí stammten eine 1 Reihe von Präsidenten aus dem Kreis der Agraroligarchie des Hochlandes. Manuel de Ascázubi y Matheu – Eigner verschiedener Haciendas – war von 1847 bis 1851 Vize-Präsident und von 1849 bis 1850 Präsident Ecuadors. Er war der Schwager des charismatischen Präsidenten Gabriel García Moreno, desjenigen Mitglieds der Agraroligarchie, welches die Politik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als zweimaliger Präsident (1859-1865 und 1869-1875) nachhaltig prägte. Doch ist das Konzept der Hacienda nicht allein auf die traditionelle Agrarregion des Hochlandes beschränkt gewesen. Im Zuge der neuen Exportorientierung lateinamerikanischer Länder seit den 1860er Jahren, die in Andenländern wie Bolivien, Peru und Chile zu einer »zweiten Conquista« und internen Kolonisierung indigenen Landes führte, um die hierfür notwendigen Agrarflächen zu erweitern, setzte in Ecuador der Kakao-Boom auf den Haciendas und Plantagen der Küstenregion ein. Ökonomisch war diese export-orientierte Hacienda-Struktur von höchster Bedeutung, während die traditionelle Hacienda im Andenhochland relativ dazu stark an Bedeutung verlor. Dies spiegelte sich auch in der immer stärker werdenden politischen Bedeutung der liberal orientierten Großgrundbesitzer-Fraktion der Küstenregion wider, wie sie in der Regierung von José María Urvina und Francisco Robles zum Ausdruck kam. Letztere schaffte beispielsweise den »Indianer«-Tribut ab, nicht ohne das Eigeninteresse der liberalen Haciendabesitzer nach frei zirkulierender Arbeitskraft zu bedienen, die nun mit den aus den Hochland-Haciendas freigesetzten conciertos an die Küste diffundieren konnte. Einen letzten politischen Höhepunkt des neo-kolonialen Hacienda-Staates gab es unter der Präsidentschaft von Gabriel García Moreno. Während seiner ersten Präsidentschaft verfolgte García Moreno eine starke Interessenpolitik im Sinne der Haciendabesitzer, wobei er diesen mehr lokale und regionale Macht zusicherte und so die Zentralisierungsmaßnahmen der vorgängigen liberalen Regierungen Urvina und Robles, die die contribuciones personales abgeschafft hatten, rückgängig machte. (Maiguashca 2007: 65) In seiner zweiten Amtszeit indes führte García Moreno ein ehrgeiziges Programm zur Modernisierung des Staates durch. Dieses umfasste

1 Existierten 1804-05 noch 244 Haciendas in Cotopaxi, so waren es 1923 nur noch 233. Besonders in Saquisilí ist eine Verringerung von 15 auf fünf Haciendas festzustellen.

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ein breites Bildungsprogramm, die Erhöhung der Staatseinnahmen durch Steuern sowie ehrgeizige Infrastrukturprojekte und basierte ideologisch auf den Grundlagen des Katholizismus. Gerade bei den arbeitsintensiven Infrastrukturprogrammen griff die Regierung zunächst auf die in den freien indigenen Gemeinschaften lebenden Indigenen und später auch auf die indigene Bevölkerung in den Haciendas zurück (Williams 2007). Bei der Ausbeutung der Arbeitskraft bediente sich der Staat eines Musters, das der Hacienda entlehnt war. Der Staat agierte als patrón, der indigene conciertos zu unbezahlter Arbeit zwang. Auch weitere übereinstimmende Muster zwischen dem garcianischen Zentralstaat und dem Gesetz der Hacienda können gefunden werden. Die Verfassung von 1869, die so genannte Carta Negra, etablierte ein starke, autoritäre Rolle des Präsidenten, ganz ähnlich der quasi-souveränene Herrschaft des patrónsder Hacienda. Ideologisch flankierend wurde die katholische Religion zur Staatsreligion erklärt. Fortan war nicht nur Alphabetismus, sondern auch die Zugehörigkeit zur katholischen Religion notwendige Voraussetzung zur Ausübung des Wahlrechts. Damit wurde der aristokratische, hispanistische und katholische Landbesitzer zum Idealtyp des Staatsbürgers. Der ecuadorianische Historiker Juan Maiguashca (2007: 70) konstatiert, dass hiermit die Weltanschauung der Landbesitzer zur Staatsdoktrin erhoben wurde. Die gut geführte Hacienda, in der der patróndie paternalistischen Pflichten und die moralische Verantwortung für die conciertos übernimmt, wurde zu einer Synekdoche für den Staat. Paradoxerweise war es gerade diese Verdoppelung des lokalen Ortes der Hacienda auf der nationalen Ebene, die zu neuen Konflikten zwischen Großgrundbesitzern und staatlichen Institutionen führten. In ökonomischer Hinsicht kritisierten die Großgrundbesitzer die Verwendung von conciertos als unbezahlte Arbeitskräfte in den öffentlichen Arbeiten wie dem Straßenbau. Politisch wandten sich die Haciendabesitzer gegen den Ausbau zentralstaatlicher Macht, da diese ihre lokalen und regionalen Machtsphären beschränkte (Williams 2007: 48-53). Das hier vorgestellte Konzept des neo-kolonialen Hacienda-Staates erlaubt es, die ökonomischen, politisch-kulturellen und ideologischen Dimensionen von Kolonialität gleichermaßen zu analysieren. Es schließt an die von José Carlos Mariátegui bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Konzept des gamonalismo vorgestellte, weitreichende Definition des Haciendas-Komplexes an: »The term gamonalismo designates more than just a social and economic category: that of the latifundistas or large land owners. It signifies a whole phenomenon. Gamonalismo is represented not only by the gamonales but by a long hierarchy of officials, intermediaries, agents, parasites, etcetera. The literate Indian who enters the service of gamonalismo turns into an exploiter of his own race. The central factor of this phenomenon is the hegemony of the semifeudal landed estate in the policy and mechanism of government.« (Mariátegui 1971: 30).

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Was Mariátegui hier gegen eine ökonomisch-verkürzte Betrachtung der Hacienda herausstreicht, ist deren politisch-kulturelle Bedeutung als Dispositiv zur Regierung der Bevölkerung. Mit Foucault kann das Macht-Dispositiv definiert werden als »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes sowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft ist.« (Foucault 1978: 119f.)

Neben der sozialen und politisch-kulturellen Dimension des Hacienda-Dispositivs sind vor allem die Dimensionen von Raum und Zeit für die Wirkmächtigkeit der Hacienda von zentraler Bedeutung, um die historische und bis in die Gegenwart fortdauernde Bedeutung der Hacienda zu verstehen. In diesem Zusammenhang stellt sich neben der Verdoppelung der Macht der Hacienda auf die Ebene des postkolonialen Staates auch die Frage des politischen Status` der Hacienda selber. Quintero und Silva heben hier bereits die aus der Kolonialzeit fortgeführte und unter post-kolonialen Bedingungen verschärfte Fragmentierung von staatlicher Souveränität hervor, die nicht zuletzt auf dem Ausschluss der indigenen Bevölkerung aus dem politischen Raum beruht. (1998: 223) Statt der Herausbildung einer am europäischen modernen Konzept von homogener Staatsbürgerschaft, nationaler Terriorialität und zentralisierter politischer Macht orientierten Staatsbildung ist für den Hacienda-Staat die Herausbildung multipler, fragmentierter Souveränitäten charakteristisch: »Auf der Grundlage unterschiedlicher Produktionsbeziehungen [gemeint ist besonders die concertaje, O.K.] [...] erhebt sich seit der Kolonialzeit ein dezentraler und lokaler politischer Überbau, der insofern integraler Bestandteil des Staates war, als dass sich hier wahre Staatsapparate ausbildeten.« (1998: 68-69)

In diesen kleineren Einheiten, vor allen den Haciendas, perpetuierte sich die koloniale Differenz, die sich in ethnischen und klassenspezifischen Positionierungen ausdrückte, auf deren Grundlage die Abschöpfung von Arbeitskraft betrieben wurde. Den kreolischen Großgrundbesitzern und Verwaltern standen die indigenen, rechtlosen Arbeiter entgegen. Es handelte sich um eine Politik der Verortung, die feste geographische und soziale Orte zuwies, und die jedwede Zirkulation und Kommunikation mit anderen Einheiten zu unterbinden suchte. »Die indigenen Bauern ›gehörten‹ zu den verschiedenen Produktionseinheiten der Hacendados und waren in keinster Weise in irgendeinen ›nationalen‹ politischen Überbau eingebunden.« (Quintero und Silva 1998: 228)

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Auf die Überlegungen des politischen Philosophen Giorgio Agamben (2002) zurückgreifend kann argumentiert werden, dass die Hacienda ein Ort ist, an dem das Gesetz des Staates in einer Art von permanentem Ausnahmezustand durch den Großgrundbesitzer, der durch den Staat geduldet wird, aufgehoben ist. Dabei ist die quasi-souveräne Macht des Großgrundbesitzers integraler Bestandteil der Kolonialität der Macht, bei der »politische« Wesen – die weißen Staatsbürger – vom »nackten Leben« der unterworfenen indigenen Körper unterschieden werden. Während nur die weißen, kreolischen und bis 1929 männlichen Staatsbürger in die politische Gemeinschaft integriert waren und über eine politische Existenz verfügten, war die indigene Bevölkerungsmehrheit ausgeschlossenen und auf den Zustand des »nackten Lebens« reduziert. (Agamben 2002: 11-22) Für Agamben ist es gerade der Aspekt des »nackten Lebens«, an dem sich die In- oder Exklusion von Menschen in eine politische Gemeinschaft entscheidet, wobei der Ausschluss unverzüglich biopolitische Maßnahmen nach sich zieht. Denn – so argumentiert Agamben in Bezug auf Carl Schmitt – »Die Ordnung des Raumes in der für Schmitt der souveräne Nomos besteht ist jedoch nicht nur ›Landnahme‹, Festlegung einer juridischen ›Ordnung‹ und einer territorialen ›Ordnung‹, sondern vor allem ›Einnahme des Außen‹, Ausnahme.« (Agamben 2002: 29)

Hier lässt sich ein Bezug zur Kolonialität herstellen, der sich gerade auch dadurch auszeichnet, dass nicht ein innerer, eigener Raum definiert wird, sondern andere Räume eingenommen werden. Zentral ist nun der juridische Bezug, den Agamben herstellt, indem die Einnahme des »Außen« als »Ausnahme« bezeichnet wird. Denn diese Ausnahme wird weitergeführt als Ausnahmezustand betrachtete, der eben nicht nur auf eine akute Krise reagiert, sondern selber zur Regel wird. Für unseren Fall bedeutet dies, dass Kolonialität durch einen permanenten biopolitischen Ausnahmezustand gekennzeichnet ist, bei dem auf das nackte Leben der Indigenen zugegriffen wird. Agamben führt an dieser Stelle die im römischen Recht verankerte Figur des homo sacer ein, ein in den Bann souveräner Macht genommenes Leben, das relational auf den Souverän bezogen ist: »an den beiden äußersten Grenzen der Ordnung stellen der Souverän und der homo sacer zwei symmetrische Figuren dar, die dieselbe Struktur haben und korreliert sind: ›Souverän ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen potentiell homines sacri sind, und homo sacer ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen als Souveräne handeln.« (Agamben 2002: 94) Dieses gilt auch für die durch koloniale Differenz hergestellte Beziehung zwischen kolonialisierter Bevölkerungsmehrheit und der Elite der Kolonisatoren. Zentral ist nun, dass in dieser Beziehung die Kontinuität der langen Dauer angelegt ist, da im homo sacer »das Gedächtnis der ursprünglichen Ausschließung« (Agamben 2002: 93) bewahrt wird – ein Aspekt, der für nachfolgende Prozesse der Politisierung relevant werden wird.

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In raumpolitischer Hinsicht sieht Agamben das Lager in der Moderne als Verortung nackten Lebens. Dieses bringt er mit einer historisch noch zu klärenden »Ausweitung des Ausnahmezustands im Kolonialkrieg« in Verbindung, wenn er fragt, ob dessen Ursprung in den von den Spaniern 1896 in Kuba errichteten campos de concentraciones oder in den von den Engländern in Südafrika errichteten concentration camps liegt. (Agamben 2002: 175) Jenseits der Frage des historischen Ursprungs des Lagers soll hier argumentiert werden, dass die Hacienda mit ihrer Politik der Verortung und der Ausübung quasi-souveräner Macht als Raum begriffen werden kann, in dem der Ausnahmezustand zur Norm wurde. Während die Indigenen im kolonialstaatlichen System über die Institution der república de indios eine – wenn auch untergeordnete – politische Stellung innehatten und die Kaziken an der Schnittstelle kolonialer Staatlichkeit zwischen indigenen Gemeinden, lokalen Eliten und Staat vermittelten, so führte die Privatisierung der Administration indigener Bevölkerung (Guerrero 1993) im quasi-souveränen politischen Raum der Hacienda zu einer Depolitisierung. Politische Proteste indigener Gruppen nahmen nach der Unabhängigkeit rapide ab. Eine politische Interessenvermittlung wie in der Kolonialzeit über Kaziken und Kurakas gab es in den postkolonialen Gesellschaften nicht. Neue Kanäle politischer Partizipation wurden nicht geschaffen, da die politische Kultur von westlichen Diskursen des Fortschritts geprägt war, die das politische Subjekt des Staatsbürgers als weiß, männlich, gebildet und besitzend konzipierten. Die breite Masse der indigenen Bevölkerung wurde dagegen aus dem politischen Raum exkludiert. Eine Vermittlung indigener Interessen in den politischen Raum erfolgte nur punktuell über lokale quasi-souveräne Machthaber wie mestizische caudillos, hacendados und Schreiber (tinterillos). Vorherrschend war die »subalterne Sprachlosigkeit« (Kaltmeier 2009). Dennoch gab es eine »strukturelle Präsenz« (Quintero und Silva 1998: 81) der indigenen Subalternen, die sich in einem latenten politischen Antagonismus ausdrückte, der allerdings kaum zum Politikum wurde, sondern allenfalls in »irrupciónes« (Quintero und Silva 1998), als punktuelle Ausbrüche in Form von riots, ein Ventil fand. Während es vor allem in den 1860er Jahren in Bolivien und Peru zu massiven Aufständen gegen die »zweite Conquista« der internen Kolonialisierung kam, so waren in Ecuador nur wenige Aufstände zu verzeichnen, da hier die Landnahme schon deutlich früher und nachhaltiger eingesetzt hatte. Allein 1871 kam es unter der Führung von Fernando Daquilema und Manuela León in Chimborazo zu einem indigenen Aufstand gegen Gabriel Garcia Moreno, der in seinen Organisationsformen Vorbild für die späteren Kampftruppen der monotoneros unter dem liberalen Revolutionsführer und späteren Präsidenten Eloy Alfaro war. (Ibarra 1993) Da das Quellenmaterial für das 19. Jahrhundert weniger zentral erfasst und im Gegensatz zur Kolonialzeit schlecht erhalten ist, stellen die konkreten Aushandlungsformen noch eine Forschungslücke dar, die eine abschließende Bewertung erschwert, wenngleich es in den letzten Jahren einige Arbeiten gab, die sich den Ver-

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änderungen der Beziehungen zwischen Staat und indigenen Gemeinschaften im post-kolonialen Ecuador des 19. Jahrhunderts widmen. (Baud 1993, 1996, 2007; Becker und Clark 2007; Clark 1998, O’Connor 2007a, 2007b; Larson 2004) Es scheint, dass es erst nach der liberalen Revolution 1895 und der Krise der neo-kolonialen Hacienda – unter anderem durch das Ley de manos muertas, mit dem die Kirchengüter konfisziert und der öffentlichen Wohlfahrt zugeführt wurden, und dem Ley del Jornalero, das arbeitsrechtliche Regelungen für Landarbeiter einführte, zu einer veränderten politischen Konstellation kam, die den indigenen Gemeinschaften mehr Handlungsspielräume eröffnete. So zeigte sich, dass ab diesem Zeitpunkt die indigenen Gemeinden wieder strategisch an den Zentralstaat und sein Recht appellierten, um die quasi-souveräne Macht der Hacienda zurückzudrängen. In einem Landkonflikt in Jadán am Ende des 19. Jahrhunderts erklärten die indigenen Gemeinschaften: »We appeal to you in name of the Indians of our parish to beg you to place us under the protection of the law.« (Baud 2007: 84) Um die Veränderungen an den post-kolonialen Schnittstellen zwischen Staat, Hacienda und indigenen Gemeinschaften und die Frage der Konjunkturen und Kontinuitäten von Kolonialität sowie der Möglichkeit von de-kolonialen Brüchen erfassen zu können, ist gerade auf Grund der durch den Hacienda-Staat instituierten Regionalismen ein Fokus auf die verschiedenen regionalen Kontexte notwendig. In diesem Sinne fokussiere ich im Folgenden die Entpolitisierungs- und Politisierungsprozesse um das neo-koloniale Hacienda-Regime im Hochland von Saquisilí, wobei sich hier die Besonderheit ergibt, dass diese Haciendas sich auf Grund einer Stiftung des Großgrundbesitzers Alejandro Gallo Almeida von 1930 bis zur ihrer Auflösung im Rahmen der Agrarreform der 1970er Jahre im Besitz der Zentraluniversität (Universidad Central) befanden.

Eine konfliktive Schnittstelle: Die Haciendas der Zentraluniversität

Unter dem alten Marqués de Maenza, General Manuel Matheu y Herrara, war der Großteil der Haciendas in und um Saquisilí noch in einer Hand vereint. 1 Konkret handelte es sich um die Haciendas Atapulo, Tilipulito, Yanaurco, Salamalag, Nintanga sowie – in der weiteren Umgebung von Saquisilí – die Haciendas La Ciénaga und Ortuño. (Marchán 1984: 370-371) Nach seinem Tod 1845 zerfiel dann das Marquesado. Und offenkundig blieben die Besitzverhältnisse nach dem Tod von General Manuel Matheu weitgehend ungeklärt. Da aus seiner Ehe mit Josefa Herrera keine Nachkommen hervorgegangen waren, fiel das Erbe zunächst den Kindern seiner Schwester, Mariana Matheu, und deren Ehemann, Dr. José Javier de Ascazubi, zu. Auch hier blieben die engen Verbindungen zum Hacienda-Staat in der Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten, denn zu den Kindern von Mariana Matheu und José Javier de Ascazubi gehörten der spätere Präsident der Republik, Manuel de Ascázubi, sowie Maria Rosa de Ascazubi, die den späteren Präsidenten und Symbolfigur des Hacienda-Staates, Gabriel Garcia Moreno heiraten sollte. (ANH/Q, Prot. Notarias 3a, Vol. 97, 18.6.1861) Nach Rosa de Ascazubis Tod und da diese kinderlos blieb, heiratete Gabriel García Moreno seine Nichte Mariana Rosa del Alcazár. 2 (Henderson 2008: 28, 123) Doch auch weiterhin blieben die Besitzverhältnisse der Haciendas in Saquisilí wohl unklar, so dass sich die Erbengemeinschaft am 18.Juni 1861 einfand, um die Güter aufzuteilen. Dabei verblieben Atapulo, Salamalag und Yanaurco im Besitz der ledigen Schwestern Maria Dolores und Maria Josefa de Ascasubi; 3 diese ver-

1 Bei Marchán (1984) ist für 1838 die Art des Erwerbs der Haciendas Atapulo, Salamalag, Tilipulito als unbekannt angegeben. Es kann vermutet werden, dass zu diesem Zeitpunkt das Majorat wiederhergestellt wurde. 2 Maria Rosa del Alcazár war die Tochter von Maria del Rosario de Ascazubi. 3 Vom 27.7.1860 liegen notarielle Akten vor, aus denen hervorgeht, dass der censo der Hacienda Nintanga zu Gunsten des Convento de la Merced auf die Hacienda Atapulo in

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kauften vier Tage später Atapulo, Salamalag und Yanaurco an ihren Bruder Roberto Ascasubi y Matheu. In dem Kaufvertrag ist ein interessanter Hinweis auf die Beziehung zwischen diesen Haciendas zu finden, da Salamalag und Yanaurco hier als kleinere Bestandteile von Atapulo beschrieben werden, während zu Beginn des 20. Jahrhunderts Salamalag als Haupt-Hacienda angesehen und Atapulo als Anhängsel betrachtet wurde. 4 Dabei wurde in dem Kaufvertrag explizit darauf verwiesen, dass diese Haciendas ehemaliger Besitz der »Antiguos Marqueses de Maenza« waren, was wohl nicht nur den funktionalen Charakter der Bestimmung der Grenzen des Besitzes hatte, sondern auch auf das symbolische Kapital, das dem Landbesitz in der Mitte des 19. Jahrhunderts zukam, verweist. In der Person des neuen Eigners, Roberto Ascasubi y Matheu, spiegelte sich die enge Verflechtung der cotopaxensischen Großgrundbesitzerklasse mit dem Staat wider. So war Roberto Ascasubi 1846 Präsident der Abgeordnetenkammer und 1873 Präsident des Senats. In der grupo el quiteño libre war er gegen den liberalen Präsidenten Flores engagiert, außerdem galt er als enger Freund von Gabriel García Moreno. Über den Umgang mit den indigenen Bauern und Landarbeitern auf den Haciendas lassen sich in den offiziellen Quellen wenige Hinweise finden. Doch die 1874 anlässlich der Vermietung der Hacienda Salamalag erstellte Auflistung der Güter erlaubt erste Rückschlüsse auf den Stellenwert der indigenen Bevölkerung. Die indigenen Arbeiter wurden hier als Inventar der Hacienda betrachtet, das im Sinne einer Politik der Verortung auf dem Gebiet der Hacienda zu verbleiben hatte. Dazu folgte die concertaje dem Territorialprinzip und nicht dem Personenprinzip, d.h. der Mieter konnte durch Verschuldung keine Arbeiter an sich binden: Und so werden dem Mieter die indigenen conciertos für jeweils zehn Pesos und vier Reales bzw. die neuen conciertos für 20 Pesos übergeben, aber es wird betont, »dass die Nachkommen der Leute, die auf der Hacienda leben, unabhängig von deren Lebensbedingungen, weder zum concierto gemacht werden, noch verschuldet werden dürfen, um sie woanders hinzubringen.« (ANH/Q, 1874, vol. 67)

Da Roberto Ascasubi alleinstehend blieb, vererbte er gemäß seinem Testament vom 11. Januar 1876 die Haciendas an seine Schwester, Maria Josefa Ascasubi, von der er die Hacienda 1861 gekauft hatte. Diese war als alleinstehende Frau offensichtlich

der Parroquia Saquisilí umgeschrieben wurde (ANH/Q, Prot. Notarias 6a, Vol 138, 27.7.1860, 193-196). Interessant ist, dass Manuel Salvador Gómez de la Torre die Angelegenheiten der Erben regelt. Denn er sollte 1862 im Besitz von Ortuño, Tilipulo, Buendia, Compañía sein. 4 So heißt es in einer notariellen Beschreibung der Güter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe: ANH/Q, Prot. Notarias 3ª, 20.6.1860, 70v-71.

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nicht an der Verwaltung der Güter interessiert. Am 3. September 1881 vermietete sie die Hacienda Salamalag an Nicanor Fabara, wobei die Grenzen der Hacienda detailliert beschrieben wurden. 5 Auch die weiteren Güter, die sie von ihrem Bruder geerbt hatte, wurden vermietet. Am 23. März 1883 unterzeichnete María Josefa Ascasubi y Matheu einen Mietvertrag mit siebenjähriger Laufzeit mit José Antonio Arcentales für die Güter Yanaurco und Esperanza. 6 Maria Josefa Ascasubi verstarb zwischen 1885 und 1886, und ihr Besitz ging in die Hände von Rosario Ascasubi über. 1886 war Rosario Ascasubi somit allein in der Provinz Cotopaxi im Besitz zahlreicher Güter, so der Fundos Cumbijn und Bellavista in der Parroquia San Miguel / Latacunga, wo sie zudem Anteile an dem Páramo von Canchaló besaß. Doch auch sie war – wohl aus Altersgründen – wenig an einer Verwaltung der Güter interessiert und bereitete den Verkauf von Salamalag, Esperanza, Yanaurco mit den Gebieten Buenaventura und Manchacaso an Rosalino Gallo vor. 7 Der entsprechende Kaufvertrag wurde am 18. Dezember des gleichen Jahres unterzeichnet. (ANH/Q, Prot. Notarios 3a, Vol 110, 1886) Auch in ihrem Testament vom 2. Mai 1886 hielt Rosario Ascasubi fest, dass sie die Güter Salamalag, Esperanza und Yanaurco zum Verkauf versprochen hatte. 8 Während in den letzten Jahren der Ascasubi-Herrschaft in den Haciendas in Saquisilí wohl kaum eine kontinuierliche und professionelle Leitung stattgefunden hatte, gab es unter Rosalino Gallo einen letzten Versuch der Konzentration der Haciendas in einer Hand. So kaufte Rosalino Gallo ab 1886 auch das Fundo Atápulo auf. 9 Das Testament Rosalino Gallos gibt Aufschluss über das Ausmaß seines Grundbesitzes. Bemerkenswert ist die Differenzierung in Haciendas und Fundos, wobei die in Saquisilí liegenden produktiven Einheiten nicht den Rang einer Hacienda erhielten. Leider finden sich in dem Dokument keine Angaben über die Größe

5 In diesem Kaufvertrag sind die Grenzen von Salamalac detailliert beschrieben (ANH/Q 488, 488v, 489) Dieser Komplex wurde für einen Preis von 29.020 Pesos verkauft. Allerdings ergaben sich in der Folgezeit Schwierigkeiten, die rechtlich ausgetragenen wurden. Am 19.9.1882 stellte Maria Josefa Ascazubi eine Vollmacht für Rafael Varela aus, damit dieser in die Übergabe der Hacienda an Nicanor Fabara eingreifen konnte. 6 Im Mietvertrag vom 14.11.1884 sind die Grenzen von Yanaurco genau beschreiben, leider fehlt eine Angabe der Größe der Hacienda (ANH/Q, Prot. Not.6ª, Vol.165, 1885-86: 627v). 7 Laut der auf Zeitzeugenberichten basierenden Abschlussarbeit von Aurelio Toapanta war Rosalino Gallo der Verwalter der Haciendas gewesen (Toapanta 1992). 8 Wie aus einer Randnotiz in ihrem Testament aus dem Jahr 1886 hervorgeht, ist Rosario Ascasubi wahrscheinlich im März 1889 verstorben. Am 30.3.1889 wurde wegen des Todes von Rosario Ascasubi eine Kopie des Testamentes angefordert. 9 Für 1894 liegt ein Dokument vor, das Rosalino Gallo als Besitzer von Atápulo ausweist. 1904, nach dem Tode Rosalino Gallos, standen noch 2.400 Sucres vom Kaufpreis aus.

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der Besitztümer aber die Fundos Salamalag und Atápulo wurden zusammen auf einen Wert von 47.399 Sucres geschätzt, die Fundos Yanaurco, Esperanza und Manchacaso auf 44.766 Sucres, die nicht in Saquisilí liegende Hacienda Pachosálac aber allein auf 60.339 Sucres, während die Hacienda Monjas einen Wert von 12.066 Sucres erzielte. Zunächst war die Verwaltung der Haciendas in Saquisilí wohl von den Söhnen Rosalino Gallos übernommen worden. So war der Erstgeborene, Alejandro Gallo, für die spätere Hacienda Chalua und La Provincia zuständig, während der zweitgeborene Manuel Gallo Salamalag Chico (Guangaje) und Salamalag Grande verwaltete (Toapanta 1992: 13) Nach dem Tod Rosalino Gallos wurden die Güter laut einem Schriftstück vom 23. Februar 1904 unter den Erben aufgeteilt. Dabei gingen Atápulo, Salamálag, Yanaurco, Esperanza und Manchacaso an die Witwe, Elena Almeida, und deren Kinder, Alejandro und Mercedes Gallo. Manuel Gallo, zunächst noch Verwalter, verpflichtete sich, die Güter Yanaurco, Esperanza und Manchacaso an die Erben zu übergeben. 10 Nach dem Tod von Elena Almeida konnte Alejandro Gallo einen Großteil des Hacienda-Komplexes trotz der Aufteilung 11 in Form der Haciendas Salamálag Grande, Yanaurco, Chalúa, Salamalag Chico (oder auch Guangaje) und La Provincia bis zu seinem Tod am 14. Mai 1930 in seinen Händen konzentrieren. Die älteren indigenen dirigentes, die im Rahmen des groß angelegten Oral History-Projekts dieser Arbeit im Kanton Saquisilí befragt wurden, konnten sich noch selber oder vermittelt über die Erzählungen der Eltern und Großeltern an die Bewirtschaftung der Haciendas durch Alejandro Gallo Almeida erinnern. So wurde auch dieser Hacienda-Komplex von verschiedenen Typen von Arbeitern bewirtschaftet. An der Spitze der Hierachie standen die huasipungeros, gefolgt von den arrendatarios und dann den yanaperos. Diese hatten wie folgt zu arbeiten: »Wir hatten stückchenweise Land auf der Hacienda. Auf dem Land haben wir zur Saat gearbeitet. Der arrendatario arbeitete auf dem Land von Gallo. Er pflanzte Kartoffeln, dicke Bohnen, aber er zahlt die Miete an den patrón in Geld. Huasipungero heisst fünf Tage Arbeit, damit er uns etwas Land der Hacienda gibt. Die yanaperos lebten nicht auf der Hacienda. Sie lebten im eigenen Haus, hatten aber kein großes. Aber sie kamen in die Hacienda, um dann Gerste zu mähen. Wenn die mayordomos, die patrones, es erlaubten, machten wir Chukchi (mit Erlaubnis des patróns die Reste der Ernte mitnehmen, O.K.), aber dafür mussten wir ein

10 Im Testament Alejandro Gallo Almeidas ist die Auflösung der Sociedad Agricola, die er mit seinem Bruder Manuel unterhalten hatte, vorgesehen. Sein Bruder sollte 10.000 Sucres erhalten. (UC, Junta Gallo Almeida, Testament: 17) 11 In dem Schriftstück gibt es unter Punkt 14 eine Klausel, die darlegt, wie Salamalác unter den Mercedes und Alejandro Gallo zu teilen sei (ANH/Q, Prot. Notarias 4a, Vol. 177, 23.2.1904: 1450v).

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bis zwei Tage arbeiten. Umsonst, nein? Umsonst gaben sie nichts, die mayordomos kontrollierten alles« (Interview, Eliseo Vargas, 30.4.2006).

Die indigenen Bauern der Region erklärten, dass der »Gallu«, wie Alejandro Gallo Almeida unter der indigenen Bevölkerung genannt wurde, die Normen der »ungleichen Redistribution« der traditionellen Hacienda erfüllte und auch den kulturellreligiösen Festzyklus förderte. (Elisario Vargas) Die hacendados verfügen über ein praktisches Wissen – einen kolonialen Habitus, der als spezifische Regierungstechnik zu begreifen ist. Die Aushandlungen und Konflikte zwischen Haciendabesitzern und den an die Hacienda gebundenen indigenen Gemeinschaften erfolgt vor der Folie einer Machtform, die Foucault als Pastoralmacht bezeichnete. Entsprechend betont der Historiker José Bengoa (o. J.) die patriarchale Komponente im HaciendaRegime, denn der patrón musste einerseits für seine Untergebenen sorgen, andererseits konnte er auch zum Teil willkürlich über sie verfügen – was sich gerade in einer hohen Zahl von Vergewaltigungen ausdrückt. Der patrón kontrollierte den gesamten Latifundismus-Minifundismus-Komplex durch Verwalter und andere Aufseher, alles unterlag einer streng hierarchisierten, vertikalen Entscheidungsstruktur. (Feder 1973: 134-135) Neben dieser vertikalen Struktur gab es dazu quer verlaufende Integrationssysteme wie z.B. Feste und rituelle Verwandtschaftsbeziehungen. Verschiedene Autoren haben herausgearbeitet, dass die unterworfenen Indigenen keineswegs allein als passive Opfer zu begreifen sind, sondern dass sie die Haciendabesitzer auch in Reziprozitätsverpflichtungen und partielle Umverteilungsmaßnahmen eingebunden haben. (Guerrero 1991) Entsprechend sind auch auf Seiten der Haciendabesitzer insofern Transkulturationsprozesse zu konstatieren, als jene selber oftmals fließend Quichua sprachen und in Kleidung und Lebensgewohnheiten mit der andinen Lebensweise der indigenen Gemeinschaften eng verbunden waren. So beschrieb der ehemalige dirigente Manuel Toapanta, wie der »Gallu« mit Essensgaben zu den Feldarbeiten, die die huasipungeros der verschiedenen Haciendas zusammen zu leisten hatten, beitrug: »Aber der Alejandro Gallo, der war gut. Alejandro Gallo war der Herr, er schickte uns zur Arbeit nach Chilla Pata Calera, er schickte uns nach Salamalag, er schickte uns nach Guangaje, er schickte uns nach Provincia. Da wusste der Alejandro Gallo auch zu geben, er gab uns Kartoffeln und manchmal auch Fleischreste. Oder auch ein Lämmchen, um haichima zu machen (Essen, das der patrón nach Beendigung der Ernte verteilte, O.K.) Das gab der patrón« (Interview, Manuel Toapanta, 4.6.2006).

Dennoch wurden die Beziehungen in der Hacienda, wie der ehemalige dirigente Eliseo Vargas deutlich machte, als markant ungleich entlang der Differenzlinie von arm und reich wahrgenommen.

154 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG »In der Zeit von Alejandro Gallo war die Hacienda eine Welt für sich. Ich kenne alles. Als Alejandro Gallo starb, war er alleinstehend. Als Alleinstehender hatte er nur seine Angestellten und mayordomos, mehr nicht. Er hatte ziemlich viel Vieh, hier in Atápulo, und er hatte Pferde, Lamas hatte er, viele Schafe hatte er, tausende. Wir, da wir kaum Land hatten, arbeiteten auf der Hacienda. Er gab Zuschläge. Er gab ein Quintal Kartoffeln, damit sie auf der Hacienda arbeiteten. Er gab ein halbes, fast ein Quintal Gerste damit sie auf der Hacienda arbeiteten. Wir arbeiteten und er bezahlte nichts. Er hatte die Leute. Arm waren sie, sie hatten nichts. Alejandro Gallo war ein reicher Mensch« (Interview, Eliseo Vargas, 30.4.2006).

In den Zeitzeugenberichten wurde der »Gallu« teilweise zu einer mythischen Figur, um die sich verschiedene Erzählungen ranken. Laut einer Erzählung, die weitläufig unter den indigenen Bauern von Saquisilí kursierte, war Alejandro Gallo keines natürlichen Todes gestorben, sondern er war von seinem Bruder Manuel vergiftet worden. (Interview, Manuel Toapanta, 30.4.2006) In den Archiven habe ich keine Hinweise zur Bestätigung dieser These gefunden, wohl wird aber aus den geringen Erbanteilen und dem nachfolgenden von Manuel Gallo angestrebten Rechtsstreit um das Erbe ersichtlich, dass es zwischen den Brüdern deutliche Spannungen gab. Möglicherweise weist dieses Gerücht in den comunidades aber auch eher darauf hin, dass der Tod Almeidas zu einem tiefgreifenden Riss in der bisherigen Ordnung führte. Eine zweite Erzählung lautet, dass Alejandro Gallo in seinem Testament den Hacienda-Komplex an die indigenen Arbeiter übergeben wollte. »Der Herr Almeida-Gallo übergab ein Testament, in dem er ausführte, dass das Land in die Hände der Arbeiter, der huasipungueros und auch der arrendatarios zu übergeben sei. […] Dann ging es also auf die Zentraluniversität über und danach wurde es den comunidades übergeben.« (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006)

Wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden wird, wird in dieser Erzählung der Prozess der Ausbreitung der Haciendas durch die Zentraluniversität als auch der Kampf um Land durch die indigenen Bauern ausgeblendet. Nach dem Tod Alejandro Gallo Almeidas kam es zu einem signifikanten Umbruch in den Eigentumsverhältnissen des Großgrundbesitzes in und um Saquisilí. Gallo Almeida stiftet mit seinem Testament vom 11. Februar 1929 seine Güter unter ihnen sind vor allem die Haciendas Salamálag Grande, Yanaurco, Chalúa, Salamalag Chico (oder auch Guangaje) und La Provincia – der Zentraluniversität in Quito. Die Schenkung – die in Dokumenten der Zentraluniversität Anfang der 1930er Jahre mit mehr als eine Million Sucres beziffert wird – war mit der Auflage verbunden, eine Landwirtschaftsschule in Quito zu gründen. (UC, Actas de la Junta Gallo Almeida, Testamento) In seinem Testament begründet Gallo Almeida diesen Schritt wie folgt:

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»als eine bisher unbefriedigte soziale Notwendigkeit, die darin besteht, Personen zu haben, die ausgewiesene Kenntnisse haben, um die Landwirtschaft voranzutreiben, die der Zweig ist, der der Nation Leben und Fortschritt gibt. Deshalb ordne ich an, dass sich im Kanton Quito eine Landwirtschaftsschule gründet, zu diesem Zweck stifte ich meine Güter«

Zu seinen Gütern gehörten: »die Haciendas Salamálag und deren Anänge, die Atápulo, Yanaurco, Esperanza, Machacazo, Santa Inés, Guangaje genannt werden: die Hacienda Provincia mit all den gekauften Ländereien an den Ufern des Flusses Pumacunchi, die erstgenannten Güter befinden sich in der Gemeinde von Saquisilí, das letztgenannte in Insinliví, das Gut Tejar, in Saquisilí, an dem ich Anrechte und Anteile besitze [...]; das Gut Tiobamba, in der Gemeinde von San Sebastián de Latacunga; das Gut Rumipamba, in San Miguel de Salcedo: das Landgut Loreto, in der Gemeinde Matriz de Latacunga; ein Landstück in Pujillí; das Gut Itinacaso neben Tiobamba, in der Gemeinde San Sebastián de Latacunga; verschiedene Länderen, die das Gut Rumipamba bilden [...], einige Getreidemühlen mit ihrer Gerätschaft, im Gut Tiopbamba«

sowie ein Haus in Quito, Aktien und die Einrichtungen in den genannten Häusern und Fundos. Zudem hinterlässt er »Jesús Sánchez Sohn von Nicolasa Sánchez das Landstück namens Guantug-grande, das Teil des Gutes Santa Inés ist, welches wiederum zum Gut Salamálag gehört.« (UC, Actas de la Junta Gallo Almeida, Testamento, 11.2.1929)

Von der Zentraluniversität wurde Alejandro Gallo Almeida seither als Philanthrop tituliert. Wohl nicht zu Unrecht, denn bei seiner Schenkung steht nicht allein die Landwirtschaftsschule im Zentrum, vielmehr drängt er auch darauf, die Bildung in den indigenen ländlichen Gemeinden zu verbessern: »Meine Erben sollen eine besondere Sorge tragen, die indigenen Kinder der Haciendas, die ich für die Schule überlassen habe, wie auch die Kinder der daran angrenzenden Gemeinschaften zu unterrichten – und sei es auf nur rudimentäre Art und Weise – indem eine oder mehrere Grundschulen eingerichtet werden.« (UC, Actas de la Junta Gallo Almeida, Testamento, 11.2.1929). Dieser Wunsch ist von der Zentraluniversität allerdings nie berücksichtigt worden. 12 Das Hauptziel der Stiftung, die Einrichtung einer Landwirtschaftsschule, war weitsichtig und visionär angelegt. So bildeten die Haciendas in Saquisilí die Grund-

12 Nur in einem Decreto Supremo des Präsidenten Frederico Páez aus dem Jahre 1935 wurde noch auf die soziale Funktion hingewiesen, indem zur Gründung von Grundschulen im Gebiet der Hacienda aufgefordert wird. (Anales 1935 (294): 633)

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lage für die Einrichtung der ersten landwirtschaftlichen Fakultät an einer ecuadorianischen Universität überhaupt. In Hinblick auf die Einrichtung der Landwirtschaftsschule schien Gallo Almeida Gefahren bei der konkreten Umsetzung seines letzten Willens gesehen zu haben, so dass er detaillierte Vorstellungen zur Einrichtung und Leitung der Schule hinterlassen hatte. In seinem Testament verfügte Alejandro Gallo Almeida, dass die zu gründende Landwirtschaftsschule von einer Junta geleitet und verwaltet werden sollte, die sich aus vier Autoritäten, unter ihnen der Rektor der Zentraluniversität, zusammensetzen sollte: »ich ordne an, dass die Landwirtschaftsschule unter der Leitung und Verwaltung einer Junta steht, die zusammengesetzt ist aus dem Präsidenten des Stadtrates von Quito, dem Rektor der Zentraluniversität, dem Direktor für Landwirtschaft des Präsidenten der Junta zur Förderung der Landwirtschaft aus Quito, sowie einem Abgeordneten des Erzbischofs. « (UC, Actas de la Junta Gallo Almeida, Testamento, 11.2.1929)

Am 14. Mai 1930 starb Alejandro Gallo 70-jährig. 13 Seinem Testament entsprechend wurde am 17. Juli 1930 die Junta Gallo Almeida zur Verwaltung der Güter eingerichtet. (UC, Estatuto de la Junta Administrativa de los bienes dejados por el señor Alejandro Gallo Almeida, Leyes y Reglamientos de la Universidad Central) Auf Grund ungeklärter Nachforderungen verschiedener Parteien, vor allem von Manuel Gallo, dem Bruder des verstorbenen Alejandro Gallo Almeida, finanzieller Probleme sowie adminstrativ-politischer Probleme war die Einrichtung der Schule noch nicht möglich. (UC, Junta Gallo Almeida, 20.8.1931) Diese Situation war jedoch angesichts einer im Testament eingerichteten Klausel, nach der, wenn die Schule nicht eingerichtet werden sollte, die Haciendas an die im Testament genannten Erben übergehen sollte, höchst problematisch. (UC, Actas del Congreso Universitario, 18.11.1966) Am 2. Mai 1931 wurde dann an der Zentraluniversität »en cooperación con la Dirección General de Agricultura de la República« eine Escuela Nacional de Agricultura gegründet, die ihre Arbeit am 15. Oktober des Folgejahres aufnehmen sollte. (Anales 1931: 493-7) Im ersten Jahr schrieben sich 18 und im zweiten Jahr 13 Studierende ein. Allerdings waren die rechtlichen, administrativen und finanziellen Probleme nicht gelöst, und die Landwirtschaftsschule musste 1933 gar vorübergehend geschlossen werden, da der Kongress die zugesicherte Zahlung von 40.000 Sucres zur Unterstützung der Landwirtschaftsschule nicht ausgezahlt hatte. (Anales 1931: 29) Bereits hier drängte die Universität auf eine stärkere Rolle in der Verwaltung der Junta Gallo Almeida. (Anales 1933: 8-10) In diesem Sinne

13 Die Stiftung war nicht unproblematisch, da sogar ein gefälschtes Testament auftauchte, das die Stiftung bestritt. Manuel Gallo, Bruder des verstorbenen Alejandro Gallo, hatte sogar schon einige Güter in Besitz genommen. (UC, Junta Gallo Almeida, 20.8.1931)

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arbeitete Pablo Arturo Suárez, der damalige Rektor der Universidad Central, ein »Memorandum sobre un plan de organización de la escuela de agronomía de la Universidad Central« aus, der den Anteil der Junta Gallo Almeida, der Zentraluniversität und des Staates benennt. (Anales 1933: 29-33). Dieser Plan ist wohl weitgehend umgesetzt worden, und 1934 wurde zudem die Einrichtung einer Escuela de Veterinaria im Departamento de Agricultura der Zentraluniversität beschlossen. (Anales 1934 (288): 587; 1934 (289): 30-31) In der Folgezeit gab es bildungspolitische Debatten, landwirtschaftliche Schulen auch an anderen Standorten aufzubauen, was sich aus Sicht der Zentraluniversität als Scheitern darstellte. In diesem Zusammenhang »wurde bereits der Organisation der Landwirtschaftsschule der Zentraluniversität scharf kritisiert und als anti-demokratisch etikettiert.« Von der Zentraluniversität wurde diese Kritik allerdings zurückgewiesen und stattdessen auf eine engere Verbindung der Escuela Gallo Almeida mit der Zentraluniversität hingearbeitet. (Anales (293) 1935: 22-23) In diese Richtung der Stärkung der Zentraluniversität geht dann auch das am 20. Dezember 1935 erlassene Dekret No. 35 des Präsidenten der Republik, Federico Páez. Páez löste die Junta Gallo Almeida auf, und die Güter gingen in den Besitz des Staates über, wobei der Zentraluniversität die Aufgabe der Verwaltung übertragen wurde. (Anales 1935 (294): 631-3) Die hiermit neugegründete Landwirtschaftsschule sollte den Namen Escuela Superior de Agricultura Gallo Almeida tragen. (UC, Leyes y Reglamientos de la Universidad Central, Art 1 bis 3 Decreto Supremo que declara bienes del Estado los de la Junta Gallo Almeida) Hintergrund dieses Dekrets war neben den politischen und administrativen Problemen in der Landwirtschaftsschule auch die wenig ertragreiche Verpachtung der Haciendas. (Anales 1935 (294): 631) Auf die konkreten ökonomischen Probleme der Haciendas wird in den folgenden Kapiteln noch genauer eingegangen, im Rückblick kann aber festgehalten werden, wie der Rektor Manuel Agustin Aguirre 1966 konstatierte, dass die Haciendas nun gewinnbringend vermietet werden konnten. (UC, Actas Universitarias, 18.11.1966) Zehn Jahre später, im April 1945, erhielt die Universidad Central dann noch weitreichendere Rechte bei der Verwaltung der Hacienda. Im Zuge einer bei der Asamblea nacional Constituyente von 1944 eingereichten solicitud der vermeintlichen Erben von Gallo Almeida, die Haciendas zurückzuerhalten, erkämpften der Rektor der Zentraluniversität Dr. Julio Enrique Paredes und der secretarioprocurador Dr. Francisco Paéz, dass die Güter vollständig der Zentraluniversität übertragen wurden. (Anales 1946 (323-324): 372-3) So wurde am 9. April 1945 abschließend festgehalten: »Die Zentraluniversität kann die Güter, die ihr in Art. 1° zugeschrieben werden, frei und ohne weitere besondere Autorisierung verwalten, veräußern oder belasten.« (Registro Oficial, Quito 9.4.1945)

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Hiermit wurde die Zentraluniversität zur alleinigen Besitzerin der Haciendas. Von hieran bis zu Beginn der 1980er Jahre war die Zentraluniversität in Quito somit Besitzer eines Hacienda-Komplexes mit einer Grundfläche von zirka 14.000 Hektar in dem und rund um den Kanton Saquisilí. 14 Anders als die Haciendas, die durch die Gesetze zur Verstaatlichung des kirchlichen Grundbesitzes nach dem Ley de manos muertas im Zuge der liberalen Revolution unter staatliche Verwaltung gerieten, wurden die Haciendas somit von einem Großgrundbesitzer gestiftet und – in für Ecuador einzigartiger Weise – zunächst verstaatlicht und dann von einer staatlichen Universität verwaltet. Die Zentraluniversität wurde zum Großgrundbesitzer. Die wissenschaftliche Nutzung der Haciendas in Saquisilí war für die Zentraluniversität von untergeordneter Priorität. Es wäre zu erwarten gewesen, dass die Studierenden der Landwirtschaftsschule die Haciendas nutzen würden, um dort feldpraktische Arbeiten zu leisten oder ihre Abschlussarbeiten zu schreiben. Derartige Arbeiten wären sicherlich auch eine hervorragende Quelle für die Rekonstruktion der Beziehungen und Konflikte auf den Haciendas der Zentraluniversität gewesen. Doch habe ich keine einzige agrarwissenschaftliche Abschlussarbeit der Zentraluniversität gefunden, die sich mit den besagten Haciendas auseinandersetzt. Nur in dem Fundo Rumipamba (Salcedo), das Teil der Schenkung Gallo Almeidas war, wurde Ende 1937 ein Internat der Landwirtschaftsschule eingerichtet. (Anales 1938 (304): 1113) Die einzigen akademischen Studien der Zentraluniversität, die sich mit der Region Saquisilí und der dortigen indigenen Bevölkerung auseinandersetzten, waren die sozialhygienischen Arbeiten von Pablo Arturo Suárez, der sich als Rektor der Zentraluniversität mit einem Memorandum für die Insitutionalisierung der Landwirtschaftsschule stark gemacht hatte. Suárez war einer der Pioniere der Sozialhygiene in Ecuador und seit den 1930er Jahren führte er – zum Teil mit seinen Studierenden – intensive Untersuchungen in Saquisilí durch. (Suárez 1936) Dabei beschränkte sich die Untersuchung in Saquisilí – eine Exkusion mit Studierenden – allerdings auf die Kleinstadt und nicht auf die ländlichen Gebiete, die zum Großteil zur Hacienda der Zentraluniversität gehörten. Bei der Beschreibung der Lebensrealität in Saquisilí spielt der Hacienda-Komplex keine Rolle. 15

14 Nach der Juli-Revolution von 1925 erkannte der Staat die Hochschulautonomie an. 15 In der 1934 publizierten Monographie Contribución al estudio de realidades entre las clases obreras y campesinas geht Pablo Arturo Suárez weniger von einer rassistischen Theorie aus, vielmehr hält er das Milieu und die ökonomische und ökologische Umwelt für prägend, wobei er davon ausgeht, dass Arbeiter – unabhängig von ihrem ethnischen Status als Mestizen, Indigene oder Schwarze – gleichermaßen der Gefahr der Degeneration unterliegen. Dieser könne nur mit Hilfe biopolitischer Maßnahmen der Sozialhygiene entgegengesteuert werden. (Prieto 2004: 175-176) In Saquisilí sieht er entsprechend Ernährungsge-

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Erst kurz vor der Übergabe der ersten Ländereien der Haciendas an die indigenen Bauern im Zuge der Mitte der 1960er Jahre einsetzenden Agrarreform wurde innerhalb des Universitätsrats über eine Nutzung der Haciendas für Studierende der Landwirtschaft diskutiert. (UC, Actas del Congreso Universitario, 28.7.1964) So beglückwünschte Dr. Izurieta den Dekan der landwirtschaftlichen Fakultät zur Organisation einer Exkursion der Studierenden nach Saquisilí (UC, Actas del Congreso Universitario, 28.7.1964) Darüber hinaus schlug Ingenieur Hernández in paternalistischer Weise vor, noch über die Misión Andina die indigenen Bauern einzubeziehen (UC, Actas del Congreso Universitario, 28.7.1964) Auch an dieser Aussage wird deutlich, wie sehr die Zentraluniversität von der Kolonialität des Hacienda-Dispositivs bis weit in die 1960er Jahre, als die Haciendas bereits kurz vor ihrer Auflösung durch den Prozess der Agrarreform standen, geprägt war.

D IE H ACIENDA -U NIVERSITÄT »Verstrickt. Vom Rektor bis zum Pförtner. Mit der Idee eines vergnüglichen und angenehmen Wochenendausflugs zur Hacienda. Wie ein Großgrundbesitzer. Das war ein tiefer Widerspruch zwischen einem bürgerlichen Staat, der ausbeutet und herrscht, der einen feudalen, spanischen Grundzug hat, und einer freiheitlichen Universität, die die Fahne im Kampf für die Revolution hochhielt … und, die Hacienda-Besitzer und damit Ausbeuter war. Das war ein markanter Widerspruch.« (Interview, Ernesto Erazo, 7.2.2006)

So beschrieb Ernesto Erazo, der zu Beginn der 1970er Jahre Mitglied der HaciendaKommission der Zentraluniversität war, die die Übergabe der letzten Ländereien an die indigenen Bauern der Region regelte, die Fortdauer und Erneuerung kolonialer Dispositionen auch in der Zentraluniversität. Dies ist umso erstaunlicher, als dass sich diese Bildungseinrichtung in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Speerspitze von Demokratisierungs- und Modernisierungsprozessen begriff und dabei zeitweise von sozialistischen Gedanken inspiriert war. So fand zeitgleich zur Konsolidierung der Ausbeutung der Haciendas durch die Zentralunviversität seit Ende der 1940er Jahre, am 19. April 1947, anlässlich des »día del indio« eine von der kommunistischen Gewerkschaftsorganisation Federación Ecuatoriana de Indios (FEI) organisierte Conferencia de Dirigentes Indígenas in der Zentraluniversität statt. (Becker 2008: 100) Insofern ist der Fall der Zentraluniversität, die durch die Schenkung des Großgrundbesitzers Alejandro Gallo Almeida selber zum Großgrundbesitzer wurde, eine Art Lackmustest für die These der langen Dauer von Kolonialität. Der Fall zeigt,

wohnheiten, Alkoholismus und die Krankheitserreger tragenden Feuchtgebiete als Hauptproblembereiche an. (Suárez 1936)

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wie eine Institution, die über keinerlei Erfahrung im Hacienda-Regime verfügte und der selber starke anti-koloniale Tendenzen inhärent waren, sich letztlich immer mehr auf die kolonialen Politiken der Verortung und die Abschöpfung indigener Arbeitskraft einließ. Schenkung in der Krise Offensichtlich konnte der gesamte Hacienda-Komplex zu Beginn der Junta Gallo Almeida an nur einen Mieter verpachtet werden. 1930 mietete Gabriel Espinoza den Hacienda-Komplex, ihm folgte 1931 José León. Zunächst blieb der aus der Verpachtung resultierende ökonomische Nutzen für die Junta Gallo Almeida jedoch hinter den Erwartungen der Zentraluniversität zurück. War das Vermögen ursprünglich auf 1.400.000 Sucres geschätzt worden, so machte eine eigene Schätzung der Junta deutlich, dass sich der reale Vermögenswert auf 1.000.000 Sucres belief. Die kalkulierten Mieteinnahmen der Junta kamen auf Grund der abgeschlossenen Mietverträge allerdings nur auf eine Summe von 36.600 Sucres, woran Salamalag einen Anteil von 22.000 Sucres hatte. Auf Grund der in Folge des »Schwarzen Freitags« einsetzenden Weltwirtschaftskrise, die sich in Ecuador mit nationalen Krisentendenzen verband, sanken die Einnahmen noch weiter. (Acosta 2004) Die Brüder José und Miguel León, Mieter der Haciendas Salamalag und Rumipamba der Junta begründeten ihre Bitte um Mietnachlass vom April 1932 entsprechend mit der Wirtschaftskrise (UC, Junta Gallo Almeida, Bericht, 16.04.1932). Angesichts dieser ökonomisch prekären Situation und politisch gestärkt durch das Dekret 35 vom 20. Dezember 1935 löste die Universität die Mietverträge mit den León-Brüdern auf. Die Hacienda Rumipamba wurde entsprechend seit dem 24. April 1936 von der Zentraluniversität verwaltet und ab 1937 als Internat der Landwirtschaftsschule genutzt. Mit José Rodolfo León, der Salamalag gepachtet hatte, setzten sich allerdings die Streitigkeiten um Mietzahlungen fort. (Anales 1936 (298): 339) Ende 1937/ Anfang 1938 muss dann auch das Mietverhältnis mit José León beendet worden sein, denn im Mai 1938 schlug die Secretariá del Plantel die Ausschreibung der Vermietung der Haciendas Salamálag y Anexos für acht Jahre aus. Als jährliche Mieteinnahmen wurden 60.000 Sucres kalkuliert, wobei zudem eine Liste konkreter Verbesserungen aufgestellt wurde, die der Mieter vorzunehmen hatte. Im Falle der Nichtbefolgung mussten Ausgleichszahlungen geleistet werden. (Anales 1938 (304): 1113-6) Allerdings zeigt sich auch hier wieder, dass die Administration der Landwirtschaftsschule immer noch eng mit staatlichen Instanzen abgesprochen war. So wurde das Budget der Landwirtschaftsschule Alejandro Gallo Almeidadetailliert über das Dekret No. 293 von Präsident General G. Alberto Enríquez geregelt. (Anales 1938 (304): 1084-8) Vermutlich mietete Comandante Don Luis Alberto Dueñas dann bis 1946 Salamalag und deren Anhänge. Dueñas war

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ranghoher Militär und 1913 Governeur der Provinz León (die spätere Provinz Cotopaxi), in der die hier genannten Haciendas lagen. Allerdings gab es – wie eingangs bereits geschildert – nicht nur Probleme mit den Mietern, sondern auch die Einnahmen blieben weit hinter den kalkulierten Erlösen zurück. Diese Einschätzung wird durch die Haushaltsaufstellung der Escuela Superior para Agronomía Gallo Almeida für das Jahr 1946 belegt, wonach allein durch Mieteinnahmen 95.560 Sucres kalkuliert werden. Hierzu trug die Hacienda Salamalag mit Anhängen mit 24.000 Sucres bei, während die Hacienda Rumipamba 20.100 Sucres, die Hacienda Tiobamba 38.000 Sucres und die Mühle Niagara, die verkauft werden soll, mit 12.500 Sucres sowie ein Stadthaus mit 96.000 Sucres beitrugen. (UC, Actas del Congreso Universitario, 1946, 345) Den Haushalt komplettierte eine Summe von 54.440 Sucres, die die Zentraluniversität an die Landwirtschaftsschule verlieh. Insgesamt ergab sich somit für das Jahr 1946 ein Budget von 150.000 Sucres. Auf der Ausgabenseite fielen vor allem die Personalkosten mit 115.200 Sucres zu Buche, besonders mit den fünf Lehrstuhlinhabern (60.000 Sucres). Zu erwähnen ist auch, dass die Zentraluniversität noch Renten auf Lebenszeit von jeweils 1.500 Sucres pro Jahr an Rafael Gallo Almeida und Elena Gallo zahlte. (UC, Actas del Congreso Universitario, 1946, 346) Insgesamt beliefen sich die Ausgabenseiten ebenfalls auf 150.000 Sucres. (UC, Actas del Congreso Universitario, 1946, 347) Die Finanzierungsschwierigkeiten sowie fehlende Räumlichkeiten für die Studierenden hatten negative Auswirkungen auf die Studien. 1939 konnten nur zwei Kurse angeboten werden; der Rest des Studienplans wurde über Studienstipendien in Chile und Costa Rica abgedeckt. (UC, Actas del Congreso Universitario, 19.2.1946) So äußerte sich der Dekan der Escuela de Agronomia, Dr. Julio Aráuz, 1940 wie folgt: »Die Landwirtschaftsschule hat eine Phase einer wahrhaften Krise durchlaufen, die nicht nur ein Spiegelbild der Krise der Universität ist, sondern durch besondere Umstände verschärft wurde.« (Anales 1940 (309): 44)

Insgesamt wird für die Anfangsphase deutlich, dass die Schenkung nicht die vollständige Finanzierung der Landwirtschaftsschule leisten konnte und immer wieder Querfinanzierungen durch Ministerien (UC, Actas del Congreso Universitario, 6.6.1945) oder durch die Universitätsleitung (UC, Actas del Congreso Universitario, 19.2.1946) erfolgten. Neben den finanziellen Schwierigkeiten gab es auch beständig rechtliche Auseinandersetzungen. So hielt der neue Rektor Manuel Navarro 1937 frustiert fest: »Dem Anliegen des Philanthropen, das Studium über eines der wichtigsten Reichtümer des Landes, der Landwirtschaft, zu etablieren, gebührt der uneingeschränkte Applaus. Unglückli-

162 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG cherweise habe ich allerdings bei meiner Übernahme des Rektorats festgestellt, dass das gesamte Erbe des Herrn Gallo eine Brutstätte von rechtlichen und außer-rechtlichen Klagen ist.« (Anales 1937 (301): 233)

Trotz dieser Widrigkeiten bei der Umsetzung der Stiftungsziele begann nach anfänglichen Schwierigkeiten die Inwertsetzung der Haciendas auf der Grundlage einer Rentier-Mentalität. Unter der Verwaltung der Zentraluniversität entstand ein Ausbeutungs- und Herrschaftssystem, das deutlich bindungsloser funktionierte als viele der traditionellen Hacienda-Systeme, da die in einigen anderen Haciendas etablierten Verpflichtungen zur Reziprozität u.a. durch das Patensystem ritueller Verwandtschaft ausblieben. Die Universität verwaltete die Haciendas über Mieter, die einen Mietvertrag mit dem Rektor unterzeichneten, nachdem der Universitätsrat, das höchste Entscheidungsgremium der Universität, zugestimmt hatte. Die Etablierung des Rentier-Modells In den eingangs formulierten theoretischen Konzeptualisierungen ist die zentrale Bedeutung der Verfügung über Land für die Fortdauer von Kolonialität herausgearbeitet worden. In Hinblick auf die Zentraluniversität ist in diesem Zusammenhang die Etablierung eines Rentier-Modells festzustellen, unter dem die Universität die Haciendas nicht selbst bewirtschaftete, sondern Renten durch Mieteinkünfte erzielte. Dabei ist in Hinblick auf die Differentialrente – nach Marx die Differenz des Surplusprofits, die bei gleichem Einsatz an Arbeit und Kapital auf gleich großen Bodenflächen entsteht (Marx 1988: 662-668) – festzuhalten, dass diese, bedingt durch die naturräumliche und geographische Ausstattung der Haciendas im Hochland von Saquisilí, gering ausfiel. Darüber hinaus war die Gegend von schlechter Bodenqualität gekennzeichnet, und es herrschten Probleme bei der Bewässerung. Hinzu kam die ungünstige Lage, die durch die schlechten Wege und die große Entfernung zu den Hauptabsatzgebieten und zur Eisenbahn noch schlechter war als beispielsweise die der Hacienda im Tal. Schließlich erfolgte keine Modernisierung der Hacienda. In der Kolonialzeit dagegen fiel die Bewertung der Ländereien positiver aus, da sie hier einen integralen Bestandteil des Hacienda-Obraje-Komplexes darstellten und direkt vor Ort Wolle und Lebensmittel für die Subsistenz der Arbeiter produzierte. Die Rentabilität der Haciendas und die Erzielung höherer Surplusprofite für die Mieter basierte somit im Wesentlichen auf der Ausbeutung günstiger Arbeitskraft – der Abschöpfung von Arbeitsrente durch die Pächter. Trotz der geringen Grundrente kam es in der Dekade von 1947 bis Ende der 1950er Jahre zu einer für die Universität höchst profitablen Verpachtung. Comandante Luis Alberto Dueñas war der letzte Mieter des gesamten HaciendaKomplexes der Universidad Central in Saquisilí. (UC, Actas del Congreso Univer-

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sitario, 21.5.1948) Als im Oktober 1946 wieder Probleme mit dem Abschluss des Mietvertrages für Salamalag und deren Anhängeaufkamen (UC, Protokolle, 29.10.1946, 424), entfaltete sich – auch vor dem Hintergrund des notorischen Finanzierungsdefizits der Escuela Gallo Almeida – eine größere interne Diskussion über die Art der Verwaltung und Verpachtung der Haciendas. Nachdem die Verwaltung der Hacienda 1945 vom Staat allein auf die Zentraluniversität übertragen wurde, konnte diese nun ohne größere politische Verhandlungen agieren. In diesem Zusammenhang legte der Ingenieur Galo Granda, Professor der Landwirtschaftsschule Gallo Almeida im November 1946 einen Bericht vor, in dem er vorschlug, die Hacienda Salamalag in mehrere Sektionen aufzuteilen und getrennt zu verpachten. (UC, Actas del Congreso Universitario, 26.11.1946, 440; 10.12.1946; 17.12.1946, 460-1) Bereits am 17. Januar 1947 konkretisierten sich die Überlegungen, und es wurden drei zu vermietende Bereiche ausgewählt, die jeweils 20.000, 40.000 und 50.000 Sucres Miete erbringen sollten. (UC, Actas del Congreso Universitario, 17.1.1947) Am 4. Februar 1947 folgte der Universitätsrat endgültig den Empfehlungen des Berichts und teilte den Latifundienkomplex in drei Teile: 1. Salamalag Grande, Santa Inés und Atápulo; 2. Chalúa und Yanaurco sowie 3. La Provincia und Guangaje. (UC, Actas del Congreso Universitario, 26.11.1946, 10.12.1946 und 4.2.1947) Diese Aufteilung blieb bis zur Auflösung der Haciendas im Zuge der Agrarreform in Kraft. Der erste Teil, bestehend aus Salamalag Grande, Santa Inés und Atápulo, sollte für 30.000 Sucres vermietet werden. 16 Zusätzlich zu den Mietzahlungen hatte der zukünftige Mieter genau definierte Verbesserungen zu leisten wie die Anpflanzung von 3.000 Eukalyptusbäumen, die Renovierung des Daches und weiterer Gebäudeteile des Hauses der Hacienda Salamalag. In Atapulo sollten 150 quintales Kartoffeln angebaut werden, und schließlich 300 Schafe als Kompensation für das erhaltene Inventar übergeben werden. Für Chalúa und Yanaurco war eine Mietzahlung von 50.000 Sucres vorgesehen. Auch hier hatte der Mieter unentgeltliche Leistungen zu erbringen wie die Anpflanzung von 2.000 Eukalyptusbäumen, Verbesserung der Rasse der Milchkühe, Anpflanzung von Kartoffeln und Gerste in der höher gelegenen Hacienda Yanaurco, den Bau einen Unterstand für Pferde oder die Anpflanzung von Luzerne. Dazu musste er fünf junge Reitpferde und zwei Stuten übergeben. Außerdem musste er eine topographische Zeichnung, die in den Planes Geográficos Militares eingetragen werden sollte, innerhalb von einem Jahr anfertigen.

16 Die Grenzen wurden wie folgt beschrieben: im Norden die Hacienda Chalua, im Süden die Comuna Maca Grande, im Osten die Schluchten Salamálag und Chulcuturo, und im Westen die Hacienda Guangaje. (UC, Actas del Congreso Universitario, 30.9.1958)

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Für La Provincia und Guangaje kalkulierte die Zentraluniversität Mieteinnahmen von 40.000 Sucres. Auch hier waren 2.000 Eukalyptusbäume zu pflanzen. Zudem sollte ein Bewässerungskanal gebaut werden. Als Kompensation für 65 Stück Rindvieh mussten 40 Stück mit bestimmter Milchleistung übergeben werden. Zudem musste der Mieter drei umzäunte Weiden und ein Gehege bauen sowie Bewässerungskanäle und einen Brunnen anlegen, und die bestehenden Bewässerungskanäle der Hacienda Guangaje instand halten. Er musste darüber hinaus fünf Pferde und 300 Schafe und eine innerhalb eines Jahres angefertigte Karte des gemieteten Grundstücks an die Planos Geográficos Militares übergeben. Für den mit Carlos Alarcón Mena 1947 anvisierten Mietvertrag werden zudem Verbesserungen wie der Bau eines Weges zwischen dem Gebäude der Hacienda La Provincia und der Gemeinde Isinliví sowie die Reparatur einer Brücke, der Bau eines Gebäudes für die Angestellten sowie eines Stalles für 50 Kühe vereinbart. (UC, Actas del Congreso Universitario, 25.03.1947: 525) Insgesamt lassen sich hier durchaus Rückschlüsse über den Zustand der Haciendas ziehen, so ist die bauliche Substanz nicht besonders gut – und im Falle von La Provincia sogar durchaus schlecht. 17 Landwirtschaftlich wurden die Haciendas, die sich in höheren Lagen befanden, für den Anbau von Kartoffeln und Gerste sowie für die extensive Viehwirtschaft – vor allem die Schafzucht und Milchwirtschaft – genutzt. Zusätzlich zu den Mietzahlungen forderte die Zentraluniversität von den Pächtern bestimmte Verbesserungen und Instandhaltungen, die im Mietvertrag detailliert festgehalten wurden. Nicht festgehalten wurden dagegen die Umgangsformen mit den Bauern, die in den ersten Verträgen keine Erwähnung fanden. Die Arbeiter blieben unsichtbar und werden der quasi-souveränen Macht der Pächter unterworfen. Unter dem Rektor Dr. Julio Enrique Paredes wurde dann im März 1947 erstmals die Vermietung der Haciendas in Saquisilí nach der Aufteilung realisiert. Aus der öffentlichen Ausschreibung wurden folgende Angebote ausgewählt. Der HaciendaKomplex Salamalag, Santa Inés und Atápulo wurde für 49.000 Sucres an José Maria Aguirre vermietet. Chalua und Yanaurco wurden für 90.870 Sucres an Alberto Rojas vermietet und La Provincia und Guangaje für 70.000 Sucres an Carlos

17 Im Mai 1948 wurde das Inventar der zu derzeit noch an Comandante Don Luis Alberto Dueñas vermieteten Haciendas erhoben. (UC, Actas del Congreso Universitario, 21.5.1948) Doch bereits Anfang April wurde im Universitätsrat die durch einen Bericht des Ingenieurs Jorge Albornoz Bustamente untermauerte Klage der neuen Mieterfamilie Aguirre zum Zustand der Hacienda Salamalag, Santa Inés und Atapulo diskutiert. Der Universitätsrat beauftragte den Rektor, hier eine Lösung zu finden und auch das Honorar des Gutachters, Ing. Albornoz zu übernehmen. Unterstützend sollte eine Inspektion der Hacienda durch eine vom Rektor zusammengesetzte Kommission unternommen werden. (UC, Actas del Congreso Universitario, 6.4.1948: 280)

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Alarcón Mena. Die Übergabe der Haciendas erfolgte Anfang April 1947. (UC, Actas del Congreso Universitario, 9.4.1947, 535) 18 Schnell zeigte sich, dass die Universitätsleitung die Mieteinnahmen recht defensiv kalkuliert hatte. In dem Bericht von Galo Granda vom Januar 1946 wurden 110.000 Sucres Mieteinnahmen veranschlagt, im Januar 1947 rechnete der Universitätsrat mit 120.000 Sucres. Im März dagegen wurden real schon 139.940 Sucres erzielt und zum Teil erweiterte Verbesserungen durch die Mieter ausgehandelt. Die Haciendas waren – nicht zuletzt durch die kostenlose Abschöpfung indigener Arbeitskraft – profitabel geworden. Im Haushaltsentwurf der Landwirtschaftsschule Gallo Almeida für das Jahr 1951 machten die Mieteinnahmen aus den Haciendas in Saquisilí mit 201.870 Sucres nahezu die Hälfte des Gesamtetats aus. Die Mieteinnahmen aus den anderen Haciendas der Zentraluniversität, Rumipamba und Tiobamba sowie der Mühle Niágara trugen mit 218.000 Sucres zu den Einkommen bei. 19 Vervollständigt wurde dies auf der Haben-Seite durch die Ratenzahlung der Comunidad Macas (17.000 Sucres) für ein von der Universität gekauftes Stück Land und den Verkauf des Stadthauses aus dem Gallo-Almeida-Nachlass (89.500 Sucres). Damit ergab sich eine Gesamtsumme von 526.370 Sucres auf der Einkommensseite (UC, Actas del Congreso Universitario, 1951: 45-46), womit die Kosten für den Betrieb der Landwirtschaftsschule vollständig gedeckt werden konnten. Im Folgejahr blieben die Mieteinnahmen aus den Haciendas in Saquisilí konstant, und die Einnahmen der Landwirtschaftsschule wurden für 1952 auf 530.870 Sucres kalkuliert. Hierzu kommt erstmalig auch ein Erlös von 51.000 Sucres für den Verkauf von Bäumen der Haciendas Salamalag. 20 Im gleichen Jahr beliefen

18 Allerdings verlief die Übergabe nicht problemlos, da es zwischen Universität, dem Vormieter, Comandante Dueñas und den Nachmietern Streitigkeiten über die Kostenbegleichung der Sachverständigen gab. Der Konflikt spitzte sich derart zu, dass der Vormieter, Kommandant Dueñas, am 13. Mai 1947 zusammen mit seinem Sachverständigen Jorge Rivadeneira vor dem Universitätsrat aussagte. (UC, Actas del Congreso Universitario, 13.5.1947: 558) Dabei ging es vor allem um das Ausmaß der Verbesserungen in der Hacienda Salamalag. 19 Die Mühle Niagara war derzeit nicht vermietet, ein neuer Mieter aber in Aussicht. Entsprechend wurde eine geringe Mietzahlung veranschlagt. Das Fundo Salache war ebenfalls nicht vermietet und wurde im Haushalt nicht angesetzt. 20 Dazu trugen die Pachteinnahmen der Haciendas aus dem Hochland von Saquisilí mit 201.000 Sucres bei und die der weiteren Haciendas mit 220.500 Sucres. Dazu kommen Erlöse in Höhe von 51.000 Sucres, die aus dem Verkauf von Bäumen der Haciendas stammen sowie ein Quote (von vier) der comunidad indígena Maca Grande über 17.000 Sucres, die der Universität Land abkaufte.

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sich die Personalkosten der Landwirtschaftsschule auf rund 300.000 Sucres. (UC, Actas del Congreso Universitario, 1952: 11) Als weitere Ausgaben fielen hier noch Stipendien und fällig werdende kleinere Arbeiten sowie – der mit 89.500 Sucres größte Posten – ein Rückhalt für den Kauf oder die Miete eines Laborhofes an. Damit können wir annehmen, dass die Landwirtschaftsschule sich in den 1940er und 1950er Jahren auf der Grundlage der mit den Haciendas erzielten Renten vollständig finanzieren konnte. (UC, Actas del Congreso Universitario, 4.2.1947) Darüber hinaus subventionierte die Landwirtschaftsschule Gallo Almeida sogar in der Mitte der 1950er Jahre die Zentraluniversität quer. In dem unter Präsident José Maria Velasco Ibarra, der die Haciendas gut kannte, erstellten Dekret No. 345 für das Haushaltsjahr 1954 wurden die Einnahmen der Zentraluniversität mit 7.283.000 Sucres festgelegt, wobei die zentralstaatliche Förderung mit 5.880.000 Sucres den Löwenanteil ausmachte. Dann folgten aber die Mieteinnahmen aus den Haciendas, die mit 386.500 Sucres zu Buche schlugen, wobei die Haciendas in Saquisilí mit 161.000 Sucres den größten Anteil leisteten. 21 Hinzu kamen 55.000 Sucres Erlöse für den Verkauf von Bäumen der Hacienda Chalua. Zudem ist besonders hervorzuheben, dass die Escuela de Ingenería Agronómica Gallo Almeida der Zentraluniversität 100.000 Sucres lieh. (UC, Actas del Congreso Universitario, Presupuesto 1954) Dies spricht dafür, dass die Landwirtschaftsschule in den vorangehenden Jahren erhebliche finanzielle Rücklagen hatte aufbauen können. Für die Zentraluniversität setzten sich die Probleme mit den Mietern zwar auch in den 1950er Jahren fort, doch blieb die Fluktuation der Mieter der Haciendas trotz der Probleme und der mehrmals im Universitätsrat diskutierten Kündigung von Mietverträgen erstaunlich gering. Im Mai 1950 wurden die säumigen Mietzahlungen sowie Veruntreuung von Vieh und Werkzeug in der Hacienda La Provincia und Guangaje engagiert diskutiert, wobei durchaus auch die Aufkündigung des Mietvertrages erwogen wurde. Im Mai 1948 wurde das Inventar der zu der Zeit noch an Comandante Don Luis Alberto Dueñas vermieteten Haciendas erhoben. (UC, Actas del Congreso Universitario, 21.5.1948) Doch schon Anfang April wurde im Universitätsrat die durch einen Bericht des Ingenieurs Jorge Albornoz Bustamente untermauerte Klage der neuen Mieterfamilie Aguirre zum Zustand der Hacienda Salamalag, Santa Inés und Atapulo diskutiert. Der Universitätsrat beauftragt den Rektor hier eine Lösung zu finden und auch das Honorar des Gutachters, Ing. Albornoz, zu übernehmen. Unterstützend sollte eine Inspektion der Hacienda durch eine vom Rektor zusammengesetzte Kommission unternommen werden. (UC, Actas del Congreso Universitario, 9.5.1950) Die Mieter hingegen führten wenige Tage später den

21 Gleiches gilt für den Haushalt 1953, laut Dekret 109 des Präsidenten Velasco Ibarra, (Gobierno del Ecuador, Registro Oficial, 1.Jg., Nr. 178, 1.4.1953) sowie für den Haushalt 1955, laut Dekret 555. (Gobierno del Ecuador, Registro Oficial, 4.Jg., Nr. 943, 10.10.1955).

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starken Winter als Grund für schlechte Ernten und ökonomische Rückschläge an, sie seien aber bereit, die Zahlungen vorzunehmen verbunden mit dem Versprechen, eine neue Bürde zu hinterlegen. Auch mit den weiteren Mietern – den Brüdern Guerrero, die die Haciendas La Provincia und Guangaje gemietet hatten – gab es Verzögerungen der Mietzahlungen, so dass der Universitätsrat für die sofortige Beendigung des Mietvertrages plädierte. (UC, Actas del Congreso Universitario, 26.5.1950) Doch ist dieser Schritt offensichtlich nicht durchgeführt worden, denn im Februar des Folgejahres setzten sich die Streitigkeiten fort. (UC, Actas del Congreso Universitario, 16.2.1951) Die allgemeine Mietsituation blieb also konstant. Diese Kontinuität zeigte sich auch, als der Mieter der Haciendas Salamalag, Atapulo und Santa Ines starb, und zunächst dessen Witwe, Matilde González de Aguirre, die Hacienda weiterführte. Als auch diese – wohl im Jahre 1950 – verstarb, hatten die Erben weiterhin Interesse, den Hacienda-Komplex weiterzuführen. Zunächst hatte der Universitätsrat wohl einen Mietvertrag mit Francisco Aguirre González anvisiert, der allerdings am 15.12.1950 aufgehoben wurde, da sich die Erben offenkundig uneinig gewesen waren und einen Bevollmächtigen bestimmen sollten. (UC, Actas del Congreso Universitario, 15.12.1950) Daraufhin forderten die Erben am 3. Januar 1951, dass Vicente Aguirre Mieter der Hacienda Salamalag werden sollte, wozu er sein Haus in der Straße Rocafuerte, das von der Zentraluniversität auf 342.635 Sucres geschätzt worden war, als Hypothek hinterlegte. Die Universität hatte offenbar nicht die gesamte, im ersten Mietvertrag angegebene Fläche bereitstellen können. Hintergrund ist hier sicherlich der Konflikt mit der indigenen comunidad Maca Grande, so dass die Miete entsprechend reduziert wurde. Der Mieter wurde von allen Schäden, die durch das Erdbeben u.a. auch am Haupthaus entstanden waren, befreit. Die Zentraluniversität kam diesen Vorschlägen weitgehend nach, wobei die Zeitdauer der Miete gemäß einer vorausgegangenen Vereinbarung mit den Erben der Frau Gonzalez de Aguirre befristet wurde. (UC, Actas del Congreso Universitario, 2.2.1951: 71-72) Offensichtlich wurde diese Regelung auch umgesetzt, denn im Oktober 1953 beantragte Vicente Aguirre als Mieter der Hacienda Salamalag und deren Anhänge einen Mietaufschub. (UC, Actas del Congreso Universitario, 13.10.1953) Aus Mieterperspektive stellte sich das Vertragsverhältnis mit der Zentraluniversität nicht immer positiv dar. Leider fehlt für diese Perspektive das Quellenmaterial für eine sorgfältige Rekonstruktion und Bewertung. Doch aus der Universitätsratssitzung vom 27.3.1951 geht hervor, dass Luis A. Guerrero und Zoila Luz Guerrero eine verbindlichere Übereinkunft mit der Zentraluniversität für die Miete der Haciendas La Provincia und Guangaje wünschten, wofür sie größere Sicherheiten hinterlegen wollten. Die Aguirre-Familie bot zur Bürgschaft das Haus von Mercedes Paz in Manabí an. Die Universität akzeptierte, allerdings mit klarer Bekundung der eigenen Interessen (UC, Actas del Congreso Universitario, 3.4.1951: 122)

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Die Mietstreitigkeiten um La Provincia und Guangaje gingen jedoch weiter. Am 28. November des Folgejahres beschloss der Universitätsrat, rechtliche Schritte einzuleiten, um den Mietvertrag mit Luis und Zoila Luz Guerrero Sandoval wegen ausstehender Mietzahlungen zu kündigen. Argumentiert wurde, dass die Situation der Landwirtschaftsschule auf Grund der ausstehenden Zahlungen »hochgradig schwierig« gewesen sei, so dass es zum Teil Engpässe bei der Auszahlung der Professorengehälter gegeben hatte. (UC, Actas del Congreso Universitario, 28.11.1952) Doch auch hier ist die Kündigung – wohl mangels Alternativen – nicht durchgeführt worden. Denn am 27.4.1954 debattierte der Universitätsrat erneut über Mietprobleme mit den Guerrero Sandovals, hier wurden die Forderungen der Mieter deutlich zurückgewiesen und auf eine Beendigung des Mietverhältnisses gedrängt. (UC, Actas del Congreso Universitario, 27.4.1954) Dieses Mal wurde die Ankündigung umgesetzt, das Mietverhältnis wurde aufgelöst, und im August 1954 wurde eine Anzeige geschaltet, in der die Zentraluniversität die Haciendas La Provincia und Guangaje für 40.000 Sucres pro Jahr über eine Laufzeit von acht Jahren zur Vermietung anbietet. (UC, Actas del Congreso Universitario, 2.8.1954) Am 8. Oktober des Jahres akzeptierte dann der Universitätsrat das Angebot von Humberto Dueñas Jaramillo und Marcelo Dueñas Estrada zur Miete von La Provincia und Guangaje. (UC, Actas del Congreso Universitario, 8.10.1954: 27) Dies war auch das einzige Gebot, das eingereicht worden war, was darauf hindeutet, dass das Mieten der Haciendas ökonomisch nicht sonderlich attraktiv war. Die neuen Mieter kannten die Hacienda allerdings gut. Humberto Dueñas war der Bruder des ehemaligen Mieters des gesamten Hacienda-Komplexes, Comandante Dueñas. Marcelo Dueñas Estrada hingegen war der Enkel von Comandante Dueñas und der Neffe Humbertos In Yanaurco und Chalua gestaltete sich die Situation der Vermietung für die Zentraluniversität dagegen ruhiger. Doch auch hier kam es Mitte der 1950er Jahre zu Problemen, die sich unter anderem aus der ökonomisch schwierigen Situation der Haciendas ergaben. Aus der Sitzung des Universitätsrats vom 20.11.1956 wird deutlich, dass auch der Mieter von Yanaurco und Chalua, Alberto Rojas Trujillo, mit den Mietzahlungen in Höhe von 15.000 Sucres säumig war, so dass er nun um Mietnachlass in eben dieser Höhe bat. Der Procurador hatte einen Mietnachlass von 7.698 Sucres in Erinnerung, aber der Rektor unterstrich, dass er keinen Mietnachlass gewähren wollte. (UC, Actas del Congreso Universitario, 20.11.1956) Aus einer Anfrage zur Pflanzung von Kiefern und Eukalyptusbäumen in Chalua und Yanaurco, die der Universitätsrat bewilligte, geht hervor, dass Rojas die betreffenden Haciendas nun zusammen mit Amador Miño gemietet hatte. (UC, Actas del Congreso Universitario, 18.6.1957) 22

22 Rafael María Miño war 1963 Mieter von Rumipamba.

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Zwar deutete sich hier bereits das Ende des Mietvertrags an, doch konnte Alberto Rojas seinen Mietvertrag vollständig erfüllen. In der Universitätsratssitzung vom 23. Juli 1963 wurde die Frist der Übergabe der Hacienda Chalua auf den 2. September des Jahres verschoben. In Bezug auf die in den Verträgen geforderten Verbesserungen einigten sich beide Parteien darauf, von dem Bau eines Stalls abzusehen. Die weiteren Verbesserungen waren wohl eingehalten worden, da sich in den Dokumenten der Universität keine anders lautenden Hinweise finden lassen. (UC, Actas del Congreso Universitario, 23.7.1963) Krise des Rentier-Modells Mitte der 1950er Jahre kündigte sich dann mit der Zunahme indigener Organisationsprozesse und Mobielisierungen sowie dem Aufkommen einer gesamtgesellschaftlichen Debatte um die Agrarfrage die Krise des Rentier-Modells an. Die Probleme traten zunächst bei den Pächtern der Haciendas auf, die im direkten Kontakt mit den indigenen Bauern standen und die die Aufgabe inne hatten, den Profit zu erzielen, d.h. ihren Kapitalvorschuss zu amortisieren und nach Abzug der Rente den Durchschnittsprofit zu erzielen. Eine Strategie der Mieter, auf die nachlassende Rentabilität zu reagieren, war es, ihrerseits Untermieter zu suchen, die risikobereit genug waren, um den Mietvertrag zu erfüllen. Hier scheint es, dass mit der nachlassenden Rentabilität auch die Gewalt auf die indigenen Bauern, die sich ihrerseits zunehmend besser organisierten, zugenommen hat. Andererseits setzte die Zentraluniversität in einer Übergangsphase im Vertrauen auf die Rentabilität der Haciendas auf eine Beendigung der Mietverträge und eine direkte Verwaltung. Dies ist der einzige Moment, in dem die Universität tatsächlich die Haciendas selbst bewirtschaftete. Über Investitionen versuchte die Universität – letztlich vergebens – eine landwirtschaftliche Modernisierung zu betreiben, um die Differentialrente zu verbessern. Kommen wir zur ersten Strategie dieser Untervermietung. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zeichnete sich in dem Komplex der Haciendas La Provincia und Guangaje eine markante Krise der Bewirtschaftung ab. Am 13. November 1956 baten die Mieter Humberto und Marcelo Dueñas nach zweijähriger Vertragsdauer um die Auflösung des Mietvertrages. Diesem wurde unter der Bedingung »dass die genannten Mieter den gesamten Wert ihrer Verpflichtungen wie Miete, Verbesserungen, Verschlechterungen, etc. bezahlen« stattgegeben. (UC, Actas del Congreso Universitario, 13.11.1956) Offensichtlich konnten die Mieter diesen Bedingungen nicht nachkommen und so wandten sie sich am 15. Januar des Folgejahres an den Universitätsrat mit der Bitte, die Haciendas La Provincia und Guangaje an den deutschen Diplomlandwirt Andreas Rührig untervermieten zu dürfen, was positiv beschieden wurde. (UC, Actas del Congreso Universitario, 15.1.1957) Ab dieser

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Zeit tritt Rührig als Mieter auf, und wurde dann spätestens ab 1963 auch von der Universitätsleitung so bezeichnet. Ob es allerdings eine Änderung im Mietvertrag gegeben hat, ist aus den vorliegenden Dokumenten nicht erkennbar. Andreas Rührig wurde am 24. September 1914 in Rumänien geboren und hatte ab 1938 an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin studiert. Im Mai 1940 wurde er Mitglied der nationalsozialistischen Schutzstaffel (SS). (Böhm 2008: 109) Im »Dritten Reich« war er Unterstaffelführer der SS und Stabsführer der deutschen Volksgruppe in Rumänien, wo er eine Kampfgruppe aufbaute, die sich der vorrückenden Roten Armee entgegenstellte und die Flucht der Deutschen aus dem Gebiet ermöglichte. (Bundesarchiv, Akte des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes, SSFührer-Karteikarte Andreas Rührig) 23 Alles deutet darauf hin, dass Rührig bis Kriegsende ein überzeugter Nationalsozialist war. Rührig war mit der in Valparaíso, Chile, geborenen deutschen Hildegard Janke verheiratet, wobei allerdings keine Hinweise vorliegen, dass sie mit nach Ecuador kam. (Bundesarchiv, Akte des SSRasse- und Siedlungshauptamtes, SS-Führer-Karteikarte Andreas Rührig) Für die Universitätsleitung war Andreas Rührig freilich ein Mieter wie jeder andere. So stellte Rührig am 28. Februar 1958 einen Antrag auf Aufschub der Mietzahlungen um drei Jahre, um einen Weg zwischen den beiden Haciendas La Provincia und Guangaje bauen zu können (UC, Actas del Congreso Universitario, 28.2.1958) Erst am 15.7. des gleichen Jahres wurde dieser Bitte dann stattgegeben, wenngleich die Mietzahlungen nur um zwei Jahre aufgeschoben wurden. Außerdem wurden weitere Verbesserungen auferlegt, die innerhalb von vier Jahren – vor dem Auslaufen des Mietvertrags – zu erbringen waren. (UC, Actas del Congreso Uni-

23 So schrieb Rührig 1941: »Vor uns steht der Sieg der nach den Worten des Fuehrers das Schicksal des Deutschen Volkes fuer ein weiteres Jahrtausend entscheiden wird. Der Buerger wird bei diesen Gedanken seine ganz bestimmten Vorstellungen haben. Er wird sich dabei Sattheit, Reichtum und Wohlleben vor Augen fuehren, das ihm die naechsten Jahre bringen werden. Nur der Nationalsozialist begreift diese prophetischen Worte des Fuehrers ganz. Er weiss, dass der Sieg der Waffen nur eine Voraussetzung fuer den tausend Jahre entscheidenden Sieg des Deutschen Volkes sein kann. Fuer ihn bedeutet der Sieg der Waffen erhoehten Einsatz und erhoehte Verpflichtung. Wer als Soldat vor den frischen Soldatengraebern der juengsten Helden dieses Krieges gestanden hat, der weiss, dass diese Worte keine Phrase sind. Die Kameradschaft und Verpflichtung unter den Soldaten hoert mit dem Tod nicht auf. Im Gegenteil, das Blut der Gefallenen hat diese Kameradschaft geheiligt und unloesbar gemacht. Vor den Graebern ihrer toten Kameraden haben die Lebenden geschworen, nun erst recht fuer das zu leben, fuer was jene gefallen sind: fuer die Ewigkeit Grossdeutschlands. Diese Ewigkeit Großdeutschlands ist aber nur gesichert, wenn dem Sieg der Waffen auch der Sieg des Kindes folgen wird.« (Suedostdeutsche Tageszeitung, Folge 18, 5. April 1941, S.7).

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versitario, 15.7.1958) Im Dezember 1960 wurde ein weiteres Gesuch Rührigs bezüglich eines Mietnachlasses mit unbekanntem Ausgang im Universitätsrat diskutiert. (UC, Actas del Congreso Universitario, 13.12.1960). Offenbar verlief die Bewirtschaftung der Haciendas nicht wie von Rührig geplant. Am 2. Juli 1963 besprach der Universitätsrat erneut eine Bitte Rührigs um Mieterlass, da dieser die Hacienda Guangaje zeitweise nicht hatte nutzen können. Hintergrund waren hier massive Landkonflikte mit den indigenen Bauern, auf die später detailliert eingegangen wird. Die Lösung dieses Problems wird an eine von der Universität gegründete Hacienda-Kommission ausgelagert. (UC, Actas del Congreso Universitario, 2.7.1963) Diese Anfrage beschließt die Episode der Untervermietung der Haciendas La Provincia und Guangaje an Andreas Rührig, denn in derselben Juli-Sitzung wurde festgehalten, dass die Hacienda-Kommission auch eine Presseanzeige zur öffentlichen Versteigerung der Haciendas La Provincia, Guangaje und Chalua aufsetzen sollte. (UC, Actas Universitarias, 2.7.1963) Auch hier ist es in Bezug auf die Fortdauer der Kolonialität durchaus aussagekräftig, dass die Universität selbst noch am Vorabend der Agrarreform versuchte, die Haciendas zu verkaufen. Die Möglichkeit der Vergabe der Pachtflächen an die indigenen Bauern, die jahrzehntelang unentlohnte Arbeit geleistet hatten, lag außerhalb des Horizonts der Universitätsleitung. Eine zweite Reaktion auf die Krise des Modells der Vermietung war der Versuch der eigenständigen Bewirtschaftung der Haciendas durch die Universität. Obwohl die Zentraluniversität grundsätzlich für die Vermietung der Haciendas optiert hatte, zeigten sich gerade in Krisen der Verwaltung immer wieder Debatten über alternative Möglichkeiten der politischen und ökonomischen Regierung der Haciendas. Dabei wurde oft die Option der Selbstverwaltung der Haciendas diskutiert. Kurz gesagt sollte die Universität selber nicht nur Großgrundbesitzer, sondern Verwalter sein. Nach der ersten Krise der Vermietung Mitte der 1940er Jahre wurde zwar kurze Zeit auch über das Für und Wider einer direkten Verwaltung des Hacienda-Komplexes diskutiert. (UC, Actas del Congreso Universitario, 19.2.1946) Allerdings stellte ab 1947 die Aufspaltung des gesamten Hacienda-Komplexes in drei kleinere Hacienda-Komplexe, die an jeweils verschiedene Mieter übertragen worden waren, die von der Universität gewählte Lösung dar. Als der Universitätsrat dann 1950 die säumigen Mietzahlungen aus den Haciendas La Provincia und Guangaje diskutierte, war es der Prokurist der Universität, Dr. Francisco Salgado, der forderte, den Mietvertrag aufzulösen und auf Kosten des säumigen Mieters einen bezahlten Verwalter einzustellen, um Schaden von dem

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patrimonio universitario abzuwenden. Obwohl der Vorschlag durchaus positiv aufgenommen wurde, 24 erfolgte auch hier keine Umsetzung der direkten Verwaltung. Am nachhaltigsten wurden die Überlegungen zur direkten Verwaltung durch die Universität in Hinblick auf die Hacienda Salamalag und deren Anhänge geführt. Nach dem Tod von Gonzalez de Aguirre, der Mieter der Hacienda Salamalag war, gab es Unklarheiten über das Erbe und die Übernahme des Mietvertrags, bis schließlich Vicente Aguirre, immer vor dem Hintergrund finanzieller Unsicherheit, die Hacienda als Mieter übernahm. Vor dem Hintergrund der unklaren Lage der Vermietung nahm innerhalb der Universität die Debatte um direkte Verwaltung wieder an Fahrt auf. Allerdings deutet sich bereits in der Sitzung des Universitätsrats vom 19. April 1955 – unter anderem durch das Votum des Rektors – an, dass die Vermietung möglicherweise einfacher als die direkte Verwaltung sei. Entschieden werden sollte allerdings erst nach Vorlage eines entsprechenden Berichts, der die Möglichkeiten aufzeigen sollte. (UC, Actas Universitarias, 29.4.1955) Noch im November desselben Jahres vollzog der Universitätsrat dann allerdings eine Kehrtwende, indem die Hacienda Salamalag nun auf Gesuch der Landwirtschaftlichen Fakultät verkauft werden sollte. (UC, Actas Universitarias, 8.11.1955) Offensichtlich konnte jedoch kein geeigneter Käufer gefunden werden, und so optierte die Universität nun doch für die Selbstverwaltung. Die Mitte der 1950er Jahre kann insgesamt als Hochphase der Selbstverwaltung betrachtet werden. Die direkte Verwaltung der Güter wurde hier nicht nur als Notlösung gesehen, vielmehr verbanden sich offensichtlich auch hohe mittel- und längerfristige Renditeerwartungen mit dieser Lösung. Im Oktober 1957 wurde im Universitätsrat gar auf Vorschlag des Dekans der Landwirtschaftlichen Fakultät diskutiert, die ebenfalls in Saquisilí gelegene Hacienda La Compañía zu kaufen. (UC, Actas Universitarias, 15.10.1957) Dies lässt sich unter anderem auch an den nicht unerheblichen Investitionen in die direkt verwalteten Güter von Salamalag und deren Anhänge ablesen. Am 31. Januar 1956 bewilligte der Universitätsrat zwei von dem Dekan der Landwirtschaftlichen Fakultät beantragte Bankkredite über 15.000 und 20.000 Sucres für die direkt verwalteten Güter (UC, Actas Universitarias,31.1.1956). Im März des gleichen Jahres autorisierte das Rektorat einen weiteren Kredit zur Anschaffung von landwirtschaftlichen Maschinen für Salamalag und die ebenfalls von der Universität verwaltete Hacienda La Tola. (UC, Actas Univer-

24 1952 gab es Mietprobleme mit den Haciendas La Provincia und Guangaje und deren Mietern, den Guerrero Sandovals. Wegen fehlender Mietzahlungen wurden rechtliche Schritte zur Auflösung des Mietvertrags vorgenommen. Doch auch hier wurde dies – wohl mangels Alternativen – nicht durchgeführt. Denn zwei Jahre später gab es hier erneut ein Mietproblem mit Luis Alberto und Zoila Luz Guerrero Sandoval. (UC, Actas Universitarias, 28.11.1952, 27.4.1954)

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sitarias, 20.3.1956) Im Oktober des gleichen Jahres gab es einen weiteren Kredit bei Banco de Fomento de Cotopaxi in Höhe von bis zu 200.000 Sucres, um landwirtschaftliche Gerätschaften für Salamalag anzuschaffen. (UC, Actas Universitarias, 23.10.1956) Im Sinne der betriebswirtschaftlichen Kontoführung wurde für die Hacienda ein Extrakonto bei der Banco Central eingerichtet. (UC, Actas Universitarias, 15.10.1957) Offensichtlich versuchte die Zentraluniversität, auf der Hacienda Salamalag einen Modernisierungsschub durchzuführen, wobei sie von Experten der Rockefeller Foundation unterstützt wurde (UC, Actas Universitarias, 15.10.1957). Entgegen dem Fokus auf Milchwirtschaft im Cutuchi-Tal nach dem dortigen Vorbild der Hacienda Guaytacama, stand im Hochland von Saquisilí der Ackerbau im Vordergrund. Im Februar 1956 wurden unter der Mitwirkung mehrerer Ingenieure die Grenzen von Salamalag neu bestimmt und die Parzellierung der Hacienda vorbereitet. (UC, Actas Universitarias, 28.2.1956: 8) Zudem wurden Verträge zur Halbpacht abgeschlossen. (UC, Actas Universitarias, 20.3.1956) 25 Einer der Halbpächter war der Ingenieur Alfredo Andrade (UC, Actas Universitarias, 23.10.1956), so dass auch hier Modernisierungsbestrebungen in Kooperation mit den lokalen indigenen Bauern keine Rolle spielten. Die Verwaltung der Hacienda entsprach – soweit sich dies herleiten lässt – dem damaligen Modell der modernen Gutsverwaltung. Die lokale Verwaltung übernahm ein von der Zentraluniversität angestellter Gutsverwalter, der mayordomo. (UC, Actas Universitarias, 28.2.1958) Im Etat der Zentraluniversität für 1958 stehen hier erstmals Lohnzahlungen für jornaleros in Salamalag in Höhe von 2.000 Sucres und auf der Hacienda La Tola 30.000 Sucres. (UC, Actas Universitarias, Presupuesto, 1958) Für 1959 wurden dann im System der direkten Verwaltung der Hacienda Salamalag durch die Zentraluniversität 3.600 Sucres Lohnzahlungen für einen mayordomo und 2.000 Sucres Lohnzahlungen für jornaleros angesetzt. (UC, Actas Universitarias, Presupuesto, 1959) Auf Seiten der Professoren der Landwirtschaftlichen Fakultät stand dem mayordomo ein universitärer Verwalter vor, der die Interessen der Hacienda-Universität vertrat. Diese Position des »Profesor AgregadoAdministrador de Salamalag« übernahm Washington Naranjo. Doch gab es offenbar schon innerhalb von zwei Monaten nach seiner Einführung massive Probleme, so dass der Universitätsrat am 13. Mai 1958 die Kündigung von Washington Naranjo akzeptierte. (UC, Actas Universitarias, 13.5.1958) Die Situation auf der Hacienda Salamalag muss sich weiter zugespitzt haben, denn im September 1958 legte der Dekan der landwirtschaftlichen Fakultät dem Universitätsrat einen Bericht – der leider nicht überliefert ist – zur Lage der Hacienda vor, auf dessen Grundlage die sofortige Vermietung der Hacienda beschlossen

25 Einer über 700 quintales und ein zweiter über 500 quintales Kartoffeln.

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wurde. (UC, Actas Universitarias, 23.9.1958) Damit war für die Universität der kurze Ausflug in die direkte Verwaltung der Güter beendet. Schon eine Woche später lagen die Grundlagen zur Vermietung der Hacienda Salamalag vor. (UC, Actas Universitarias, 30.9.1958) Die Grundmiete der Hacienda sollte 60.000 Sucres betragen, wobei eine Sicherheit von 120.000 Sucres hinterlegt werden musste. Insgesamt werden drei vom Mieter zu leistende Verbesserungen festgehalten, wobei im Falle der Nichterfüllung bereits konkrete, nötige Ausfallzahlungen festgehalten wurden. So sind erstens 30 Hektar Weideland anzulegen oder bei Nichterfüllung 40.000 Sucres zu zahlen. Zweitens ist eine Holzbrücke zu bauen oder 5.000 Sucres zu zahlen. Und drittens muss der Mieter die gleiche Anbaufläche beibehalten oder 40.000 Sucres zahlen. (UC, Actas Universitarias, 30.9.1958) Am 3. Februar 1959 beschloss der Universitätsrat dann, die Hacienda Salamalag an den aus Latacunga stammenden Atahualpa Naranjo zu vermieten, wobei der Mietvertrag dann am 6. April des Jahres abgeschlossen wurde. Bereits im Haushalt der Zentraluniversität für 1961 hatten die Haciendas in Saquisili mit Mieteinnahmen insgesamt 140.000 Sucres Anteil am Gesamthaushalt, wobei 40.000 Sucres aus der Vermietung von Salamalag stammten. Aus Sicht der Universität ist somit festzuhalten, dass, auch wenn im Vergleich zu den 1950er Jahren ein Rückgang des Mieteinkommens um 20.000 Sucres festzustellen ist und zudem keine zusätzlichen Einkommen durch den Verkauf von Produkten aus den Haciendas erzielt wurden, diese doch noch nicht vollkommen unrentabel gewesen waren. 26 Im Gegenteil: Die Landwirtschaftliche Fakultät expandierte im Zuge der neugebauten Ciudad Universitaria, unter anderem mit der 1960 gewährten Unterstützung von 300.000 US-Dollar durch die Rockefeller Foundation. Doch die Mietprobleme hatten vor allem auf Grund der massiven Mobilisierungsaktivitäten der indigenen Bauern zugenommen. Im Frühjahr 1960 bat Naranjo um Mietnachlass, woraufhin ihm der Universitätsrat am 10. Mai einen Nachlass um 10.000 Sucres gewährte. Dafür wurde im Mietvertrag aber eine neue Klausel aufgenommen, nach der es die Pflicht von Herrn Naranjo sei, die Mietzahlungen der Indigenen, die eine Parzelle auf dem Gebiet der Hacienda gemietet hatten, einzutreiben.(UC, Actas Universitarias, 10.5.1960) Die Landkonflikte und der Kontrollverlust der Hacienda-Verwaltung waren hier bereits so massiv, dass die indigenen Bauern ihre Zahlungen an die Hacienda eingestellt hatten. Offenkundig hatte sich die Situation auf der Hacienda Salamalag derart

26 Bei den Ausgaben steht hier der Beitrag der Zentraluniversität zum Wegebau der Haciendas La Provincia und Guangaje. Zudem ist erstaunlich, dass wieder Rentenzahlungen an die Familienangehörigen von Alejandro Gallo Almeida ausgewiesen wurden. Seine Schwester Elena Gallo Almeida erhielt 14.400 Sucres und weitere sechs Familienangehörige insgesamt 36.000 Sucres. (UC, Actas del Congreso Universitario, Presupuesto 1961)

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zugespitzt, dass die Miete für Atahualpa Naranjo vollends unrentabel geworden war. Entsprechend forderte er Ende des Jahres 1961 die Auflösung des Mietvertrages, was der Universitätsrat aus rechtlichen Gründen am 12. Dezember des Jahres ablehnte. Dennoch wurde auch innerhalb der Universität die Problematik der geringen Rentabilität erkannt, und die landwirtschaftliche Fakultät wurde beauftragt, einen Bericht zu erstellen, inwieweit Mietnachlässe zu rechtfertigen seien. Für Atahualpa Naranjo bedeutete dies indes kaum eine Verbesserung, und seine Schulden bei der Zentraluniversität beliefen sich bereits Mitte 1962 auf 80.000 Sucres. (UC, Actas Universitarias, 26.6.1962) Am 13.11.1963 beschloss der Universitätsrat, die Miete für die Hacienda Salamalag für 1960 und 1961 auf je 30.000 und für 1962 auf 26.000 Sucres herabzusetzen. Dazu kam eine Regelung zu dem besonderen Konfliktpunkt des Eintreibens der Pacht der indigenen Mieter, wobei die Alleinverantwortung auf den Mieter übertragen wurde: »Herr Naranjo muss sich mit den indigenen Mietern der verschiedenen Parzellen des Gebietes über die Eintreibung der Mietzahlungen, die zu seinem Gunste sind, einigen.« Dazu wurde ein neuer Vertrag aufgesetzt, nach der die Zentraluniversität die Hacienda zu jedem Zeitpunkt verkaufen oder parzellieren sowie den Mietvertrag beenden durfte, ohne Entschädigungen an den Mieter Naranjo zahlen zu müssen. (UC, Actas Universitarias, 13.11.1962) In dieser Sitzung deutete sich erstmals die Möglichkeit einer vollständigen Aufgabe der Hacienda Salamalag im Zuge einer Agrarreform an. Bezeichnenderweise kam dieser Vorstoß nicht aus der landwirtschaftlichen, sondern aus der rechtswissenschaftlichen Fakultät. Der Dekan der Rechtwissenschaftlichen Fakultät schlug den Verkauf der Haciendas an die nationale Regierung vor, um den Prozess der Agrarreform in Gang zu setzen. Dieser Vorstoß in Richtung Agrarreform war immerhin so wirksam, dass eine permanente Kommission eingerichtet wurde, die mit dem Vizerektor und den Dekanen der landwirtschaftlichen Fakultät und der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften auch hochkarätig besetzt war. (UC, Actas Universitarias, 12.12.1961) Hiermit wurde für Salamalag eine Debatte aufgegriffen, die in der Reaktion auf massive Arbeits- und Landkämpfe in den Haciendas La Provincia und Guangaje ihren Anfang genommen hatte. Auch hier hatte der Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät vorgeschlagen, dass, dass die Universität die Haciendas dem Präsidenten der Republik anbiete, damit er eine Agrarreform einleiten könne. (UC, Actas Universitarias, 25.10.1960) Diesem Vorstoß folgten allerdings keine Taten, stattdessen bewies die Fortführung des Hacienda-Dispositivs ein großes Beharrungsvermögen. Auch innerhalb der Universität schien es noch eine hohe Anerkennung für die Bindung an das koloniale Dispositiv der Hacienda gegeben zu haben. Am 5. März 1963 wurde die Facultad de Agronomía in Facultad de Ingeniería Agronómica y Medicina Veterinaria und die Escuela de Agronomía zu Ehren des Stifters der Haciendas in Escuela de Agronomía Alejandro Gallo Almeida umbenannt.

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Q UASI - SOUVERÄNE M ACHT AN DER S CHNITTSTELLE POST - KOLONIALER S TAATLICHKEIT Beim Aufstand von San Phelipe im Jahr 1771 hatte sich noch gezeigt, wie kirchliche Autoritäten, der Gouverneur, die Haciendabesitzer und lokale Eliten wie in diesem Fall der Marques de Maenza an der Schnittstelle kolonialer Staatlichkeit bei der Befriedung des Aufstandes Hand in Hand gearbeitet hatten. Ähnliches galt auch weiterhin für die lokalen Aushandlungen vom 19. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre. So ist für 1930 dokumentiert, wie der mayordomo der Haciendas und der teniente político bei der Beschlagnahmung von Vieh indigener Bauern zusammenarbeiteten, um Schuldzahlungen der Indigenen abzuschöpfen. Auch bestand zwischen tenientes políticos und Haciendabesitzern ein reger Austausch, um auf die ersten sozialistischen Organisationsprozesse in den Gemeinden in den 1930er Jahren zu reagieren. In den Akten der Zentraluniversität dagegen sind in Hinblick auf die Haciendas lokale staatliche Institutionen nicht relevant. Einzig in der Sitzung vom 13. Oktober 1953 trat mit dem Gemeinderat von Saquisilí (Consejo Municipal de Saquisilí) erstmals eine lokale staatliche Instanz in den Akten des Universitätsrats auf. In dieser Sitzung nahm der Universitätsrat das Angebot des Gemeinderats von Saquisilí, das dieser bei der Versteigerung der von Chalua herabfließenden Gewässer gemacht hatte, an und arbeitete eine entsprechende Urkunde aus, die auf der Folgesitzung am 22. Oktober bestätigt wurde. (UC, Actas universitarias, 13.10.1953 und 22.10.1953) Kurz: Die Beziehungen zum Consejo Municipal, sowie sie in den Akten des Universitätsrats zum Ausdruck kommen, beschränkten sich allein auf finanzielle Transaktionen. Die tenientes políticos hingegen schienen trotz der Abschaffung des diezmo noch bis zu Beginn der 1960er Jahre Versuche unternommen zu haben, den diezmo einzutreiben – von einem solchen Versuch berichtet Celso Fiallo für den alcalde des teniente político aus Guangaje. (Interview, Celso Fiallo) Allerdings scheint die Interventionskraft der tenientes políticos in den indigenen Gemeinschaften der Haciendas in den 1950er und 1960er Jahren deutlich abgenommen zu haben. Gleiches gilt für die kirchlichen Autoritäten, die trotz des offiziellen Verbots noch Anfang des 20. Jahrhunderts die Gemeinden aufsuchten, um primicias einzutreiben. Hierauf schien sich die Intervention kirchlicher Autoritäten dann allerdings auch beschränkt zu haben: »Der Pfarrer lebte in Saquisilí, oder an verschiedenen Orten, in Latacunga. Der Pfarrer sammelte immer den Zehnten ein. Erst machte er das selbst, dann schickte er einen Angestellten. Ich weiss nicht mehr wie der hieß, aber der Pfarrer hatte dafür Angestellte. Der Pfarrer

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schickte ihn, um den Zehnten einzusammeln, damit er gut essen kann« (Interview, Eliseo Vargas, 30.4.2006).

Ähnliches galt auch für die »freien« comunidades, die nicht direkt der Hacienda unterworfen waren. So erzählt Adolfo Toaquiza, ein dirigente aus Chilla Grande: »Der Pfarrer nahm uns, die Armen, nicht wahr. Wir waren nichts. Der war nur für die reichen Leute aus der Stadt da, nichts mehr. Er kam nur um den Zehnten einzutreiben. Ja, dafür kam er in die comunidades. Jetzt nennen wir sie Schwestern, früher sagten wir Nonnen. [...] Nun, das waren Franziskanernonnen. Sie kamen. Sie hatten weite Gewänder an, vom Hals bis an die Sohle. Sie kamen, um den Zehnten einzutreiben. Ja, das machten sie. Aber für uns einen Dienst, einen Rosenkranz für die Gemeinschaft, nein, nichts, was sie uns zeigten. Und von jedem Stück Land oder jede Familie musste eine oder zwei Ackerfurchen abgegeben. So holten sie um die vier, fünf Quintales zur ihren Gunsten heraus. Und sie wollten immer mehr. Und einige mussten ihnen beim Tragen helfen, ihre Esel beladen, denn wir hatten keine Straße. In jener Zeit kamen sie und sagten: »gib mir das und dann trag es mir nach Saquisilí, bring es von hier in die Stadt« [...] Sie forderten nur Dienste ein, ohne uns zu dienen« (Interview, Adolfo Toaquiza, 25.6.2006).

Insofern beschränkten sich die staatlichen und kirchlichen Autoritäten Mitte des 20. Jahrhunderts allenfalls auf die Abschöpfung, als politische Akteure waren sie aus dem Raum der Hacienda in Saquisilí weitgehend verschwunden. So verblieb in den 1960er Jahren von der klassischen Triade der Hacienda-Herrschaft – Pfarrer, teniente político und hacendado – allein die Hacienda übrig: »niemand kam hier herein, kein teniente político, niemand, niemand, nicht aus Latacunga, nicht der Gouverneur, niemand mischte sich hier ein« (Interview, Manuel Toapanta, 30.4.2006).

Zum Zeitpunkt der Übernahme der Haciendas durch die Zentraluniversität in den 1930er Jahren war die politische Stellung der Hochschule an der Schnittstelle postkolonialer Staatlichkeit ambivalent. Einerseits versuchte die Universität aus den Haciendas Profit zu ziehen – auch um die Landwirtschaftsschule zu finanzieren–, andererseits handelte es sich um eine staatliche Institution, die liberalen Grundwerten verpflichtet war und die von den indigenen Bauern auch als solche strategisch angerufen wurde. Wie mehrere neuere Arbeiten zum 19. und beginnenden 20. Jahrhundert belegen, eigneten sich indigene Bauern den Diskurs des Zentralstaats an und versuchten, Allianzen mit zentralstaatlichen Institutionen zu schmieden, um die lokalen Akteure – hacendados und Institutionen des lokalen Staats – einzuschränken. (Clark 2007: 96-87, Baud 2007: 83-85) So wandten sich die indigenen Bauern an die Junta Central de Asistencia Pública, später an das Ministerio de Previsión

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Social oder auch direkt an den Präsidenten (Coronel 2011). Im Fall der Haciendas in Saqusilí, die nun vom Privatbesitz Gallo Almeidas in staatlichen Besitz übergingen, verfolgten die indigenen Bauern eine ähnliche Strategie. Angesichts dieser Anrufung war die Zentraluniversität gezwungen, ihre Perspektive in der Konstellation post-kolonialer Staatlichkeit gegenüber den indigenen Gemeinden, den Verwaltern bzw. Mietern der Haciendas und den staatlichen Akteuren zu definieren. In der Anfangsphase der 1930er Jahre reagierte die Junta Gallo Almeida dabei durchaus noch dem liberalen Geist verpflichtet und stellte sich dem neo-kolonialen Machtgefüge – bestehend aus der engen Koppelung von teniente político und Hacendado – punktuell entgegen. So reagierte die Junta auf den Zwischenfall, bei dem Manuel Gallo Almeida und Alfredo Salgado, mayordomo von Salamalag, die die Schafherden von zwei indigenen Bauern aufgehalten hatten und beim teniente político in Saquisilí einsperren ließen, um Schuldzahlungen oder Zwangsarbeit einzufordern, mit Kritik. Sie setzte sich von traditionalen HaciendaStrukturen ab »Sicherlich ist es unter der Mehrheit der Großgrundbesitzer üblich gewesen, diese Mittel im Umgang mit den landwirtschaftlichen Arbeitern zu ergreifen, aber das Gesetz hat diese Maßnahmen niemals erlaubt« (UC, Junta Gallo Almeida, Brief, 14.9.1930).

Neben dieser grundsätzlichen Argumentation wurde zudem bemerkt, dass gerade solche Maßnahmen Auslöser von Aufständen und Streiks sein könnten, die es zu vermeiden gelte. Entsprechend forderte der Präsident der Junta, dass die Schafe zurückzugeben seien und dass »in keinem Fall zwingt die Junta die Landarbeiter mit Gewalt dazu, auf den Haciendas zu bleiben. Sie haben in jedem Fall die absolute Freiheit dort zu arbeiten, wo sie es wollen« (UC, Junta Gallo Almeida, Brief, 14.9.1930).

Im gleichen Jahr gingen die Beschwerden der indigenen Bauern der Haciendas, die an staatliche Institutionen gerichtet wurden, weiter. 1930 formulierten indigene Bauern aus Maca einen langen Anklagebrief an den Präsidenten der Junta Administrativa der Haciendas, um die schlechten Arbeitsbedingungen und die Misshandlungen durch die Verwalter anzuklagen. In der Junta Gallo Almeida muss wohl eine wahre Flut von Protestbriefen eingetroffen sein, denn der Präsident der Junta schrieb mit einem Unterton der Hilfslosigkeit und des mitschwingenden Vorwurfs an den Verwalter der Hacienda: »fast jeden Tag erhalte ich in diesem Büro von den Indigenen Beschwerden gegen Sie wegen übergriffiger und willfähriger Vorgänge.« Diese Beschwerden gingen aber wohl nicht nur an die Junta, sondern auch an andere staatliche Stellen wie das Ministerio de Previsión Social. So beschwerte sich Juan Bautista Tuaquiza dort wegen

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der Zerstörung seines Hauses durch den Verwalter. In diesem Fall hat das Ministerium der Junta geraten, sich an den gobernador der Provinz zu wenden, um den Fall juristisch nachzugehen. Dabei wurde vorgeschlagen, für Juan Bautista Tuaquiza – dem Generalsekretär der Gewerkschaft von Yanaurco, Chalua und Provincia – und seine Familie eine Übergangslösung zu finden. Die Junta forderte den Verwalter Mitte Oktober noch energisch auf, diese Misshandlungen zu unterlassen und machte deutlich, dass sie diese in keinster Weise billigte: »Offen gesagt ist es unverständlich, wie Sie als Angestellter der Junta, die die gestifteten Güter von Herrn Alejandro Gallo Almeida verwaltet, mit Ihrem Vorgehen und dem Ihrer Untergebenen über die Maßen Schwierigkeiten schaffen. […] Abschließend muss ich Sie warnen, dass die Junta in keinster Weise irgendeine der Übergriffe, die sie unter den Landarbeitern der Haciendas begehen, unterstützt« UC, Junta Gallo Almeida, Brief, 22.10.1930).

Während die Junta Gallo Almeida in diesem Konflikt noch anfänglich eine dem liberalen Diskurs verpflichtete Positionierung einnahm, die die Ausbeutungsverhältnisse und Missachtungen gemäß der in Ecuador geltenden Rechtslage verurteilte, so wich diese anfänglich energische Haltung im Verlauf der Konflikte dem Unwillen und der Gleichgültigkeit. So schrieb der Präsident der Junta an den Generalverwalter der Haciendas ein Telegramm, in dem die Junta deutlich machte, dass sie nicht von den Beschwerden der indigenen Bauern belästigt werden wolle. Es sei die Aufgabe des Verwalters, die Situation zu lösen (UC, Junta Gallo Almeida, Telegramm, 30.10.1930) Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Junta von den Beschwerden nicht mehr belästigt werden wollte und sich so aus der Verantwortung zu ziehen begann. Sie delegierte die Befriedung des Konfliktes an den Verwalter (später die Mieter), der seit dem 19. Jahrhundert integraler Bestandteil des Unterdrückungsapparats der Hacienda war, und an die lokalen staatlichen Stellen. Während die indigenen Bauern noch weiterhin Klagen einreichten, drängte der Gouverneur der Provinz León am 7. Oktober 1930 in einem Brief an den Minister der Previsión Social schon darauf, die Wortführer der indigenen Bauern von der Hacienda zu vertreiben. Damit wieder »Ruhe und Frieden« bei jenen Gruppen einkehre, die »immer sofort zu den Häusern der Rechtsanwälte laufen, damit diese sie verteidigen. Denn diese können die Situation gut ausnutzen und sie zu irgendeinem gefährlichen Aufstand aufwiegeln, der fatale Konsequenzen hätte.« UC, Junta Gallo Almeida, Telegramm, 11.10.1930)

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Dieser Brief wurde am 11.10.1930 per Telegramm vom Ministerio de Previsión Social an die Junta Gallo Almeida weitergeleitet, woraufhin die Junta die Entscheidung zur Verbannung der Wortführer des Protests aus der Hacienda traf. In einem weiteren Brief der Junta vom 13. November 1930 an den Generalverwalter, Gabriel Espinoza, wird deutlich, wie sehr der liberale Diskurs der Junta nur Makulatur war. Hier unterstützte die Junta die Befriedung des Konfliktes durch die Verbannung der beiden Wortführer von der Hacienda. Der Standpunkt war eindeutig: »die Junta kann es nicht dulden, dass es auf der Hacienda Individuen gibt, die – wie diese – die Leute verderben« (UC, Junta Gallo Almeida, 13.11.1930)UC, Junta Gallo Almeida, 13.11.1930).

Auch erklärte der Vorsitzende der Junta dem sozialistischen Anwalt der indigenen Bauern, dass es der Junta nichts ausmachen würde, wenn alle Gewerkschaftsmitglieder die Hacienda verlassen würden. Das einzige Zugeständnis an die dirigentes bestand darin, einen kleinen zeitlichen Aufschub der Verbannung sowie eine Entschädigung für die bereits geleistete Aussaat zu gewähren. In einem Bericht vom August 1931 resümierte die Junta den Umgang mit dem Konflikt folgendermaßen: »In Hinblick auf Salamalag und Anhänge gelang es zwar von Beginn an, die agressive Einstellung der Indigenen zu beherrschen. Aber es muss noch erreicht werden, dass sie ihre Verpflichtungen erfüllen, darunter sind, neben einigen weniger wichtigen, folgende zu nennen: 1.- die Bezahlung, die sie für den Erhalt der Hacienda und ihrer Schafherden entrichten müssen; und 2.- die Bezahlung für die Pacht der Ländereien der Haciendas, die sie für ihre landwirtschaftliche Arbeit besetzen, ausgenommen der huasipungos« (UC, Junta Gallo Almeida, 20.8.1931: 5).

Doch auch bis zum Februar 1931 gab es noch Probleme bei der Eintreibung der Abgaben, die die Junta auf die »unangemessenen Mittel«, die einige Mitarbeiter der Hacienda – vor allem die Verwalter und mayordomos – angewendet hatten, zurückführten. (UC, Junta Gallo Almeida, 20.8.1931: 6) Danach war der gutherrschaftliche Frieden für die Junta wiederhergestellt. Die hier gewählte Positionierung ist symptomatisch für den Umgang der Zentraluniversität mit ihren Haciendas. Die sich selbst als liberale und demokratische Instanz begreifende Universität, die früh auch von sozialistischen Positionen geprägt war, fiel in Hinblick auf die Haciendas in ein neo-koloniales Bewirtschaftungsmodell zurück. Die Kontinuität von Kolonialität als Denk- und Handlungsmodell war so stark, dass es zu keiner Ausbildung alternativer Praktiken kam. In der Folgezeit sind aus den Dokumenten der Junta Gallo Almeida und dem Universitäts-

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rat keine Interventionen in die Beziehungsgefüge der Hacienda festzustellen, die über die Verhandlungen über die Mieteinkünfte hinausgehen. In den Haciendas selber hatte sich damit wieder ein krudes Ausbeutungs- und Abschöpfungssystem etabliert, das auf einer quasi-souveränen Macht der Mieter beruhte. Dieses Modell konnte und wollte die Zentraluniversität nicht von innen verändern, so dass es erst mit der Übergabe der Haciendas im Rahmen der Agrarreform ein Ende fand. Arbeitsverhältnisse und moralische Ordnung Unter der Rentierslogik der Zentraluniversität veränderte sich auch das Verhältnis zwischen den indigenen Bauern und dem patrón. Alejandro Gallo Almeida folgte noch den kulturellen Verpflichtungen der ungleichen Redistribution und nahm an den Festen der indigenen Gemeinschaften teil. Damit trug er noch der Tatsache Rechnung, dass die Hacienda in der kolonialen Situation entstanden war und auch andine Elemente integriert hatte. Unter der Ägide der Zentraluniversität und dem Rentier-Modell lösten sich allerdings die Redistributions- und Reziprozitätsverhältnisse zwischen den Mietern der Haciendas und den indigenen Gemeinschaften vollends auf und machten einem markanten Antagonismus Platz. So unterstrich Manuel Toapanta, dass es unvorstellbar gewesen wäre, dass die Mieter zu den Feiern einen Beitrag leisteten. Stattdessen verlagerten sich die Feiern allein in die Sphäre der indigenen Gemeinden: »Was sollten sie schon geben? Sie gaben nie irgendetwas. Es gab nur das, was wir selbst machten. Wir machten Weihnachtsfeiern, Karneval, und Ostern, alles. Unter Schwarzen und Indigenen wurde nichts verkauft. Wie ich schon sagte, wir selber konnten organisieren, trinken, tanzen, und Musik machen.« (Interview, Manuel Toapanta, 30.4.2006).

Kurz: »in der Hacienda gab es keine Feiern, in der Comunidad, da machten wir die Feiern« (Interview, Rafael Salazar, 30.4. 2006).

Die neo-koloniale Abschöpfung von Arbeitskraft und Produkten wurde also ihrer politisch-kulturellen Rahmung entkleidet und auf ihren nackten Kern der Ausbeutung reduziert. »Also griff sich eine Universität die Hacienda und die gab sie Mietern, damit sie läuft, arbeitet, mit viel Vieh.[...] Irgendein Mieter ging schlecht mit den Landarbeitern um. Er peitschte sie aus. Er zahlte nichts. « (Interview, Eliseo Vargas, 30.4.2006)

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Während die traditionellen Haciendabesitzer die Hacienda in Hinblick auf einen dauerhaften Ausbeutungsrhythmus betrieben, bei dem oft auch die Übergabe der Hacienda an die nachfolgende Generation sichergestellt werden musste, so verfolgten die späteren Mieter einen kurzfristigen Zeitrhythmus, um in der Kürze der Mietverträge ein Maximum an Rendite zu erzielen. Da mittelfristige Investitionen zur Steigerung der Produktivität für die Mieter nicht in Frage kamen, waren die Verstärkung der Auspressung indigener Arbeitskraft und die Aneignung indigener Produkte die von den Mietern verfolgten Strategien. Die konkreten Arbeitsbedingungen lassen sich für die unterschiedlichen Phasen der Vermietung und die verschiedenen Haciendas nicht genau rekonstruieren. Dennoch dienen die folgenden Beschreibungen als hilfreiche Annäherungen, da kaum zu vermuten ist, dass sich die Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse zwischen 1930 und 1964 grundsätzlich veränderten. Die früheste konkrete Auflistung der Ausbeutungsverhältnisse in den Haciendas der Zentraluniversität findet sich in einem Anklageschreiben, das Juan Manuel Tuaquiza als Generalsekretär der Gewerkschaft von Yanaurco, Chalua und Provincia sowie Juan Bautista Tuaquiza Tipén als Generalsekretär der Gewerkschaft von Salamalag und Guangaje 1930 an die Junta Gallo Almeida verfassten: »Häufig schlagen die genannten Herren und ihre Untergebenen die Landarbeiter und behandeln sie wie Fußabtreter, sie bedienen sich der Peitsche und anderer Formen der Bestrafung. In der Hacienda Guangaje zahlen wir eine jährliche Pacht für das Land, das wir besetzen, obwohl sie von uns fünf Tage Arbeit verlangen und uns davon nur drei Tage mit 20 Centavos pro Tag bezahlen; die Pacht für das von uns genutzte Land kostet uns zwischen 15 und 30 Sucres im Jahr. Zu dieser Arbeit werden wir mit bestimmten Aufgaben gezwungen, die so umfangreich sind, dass wir bis zur Erschöpfung arbeiten müssen. Jedes Jahr wird von uns der Zehnte eingetrieben, ein Schaf auf zehn. Für jedes Schwein verlangen sie zwischen 0,50 Centavos und 2 Sucres pro Jahr, abhängig von der Größe des Tieres. Das wird von uns eingetrieben, obwohl wir eine je nach Anzahl der von uns besessenen Tiere eine mehr oder minder hohe Miete bezahlen. Diejenigen, die das Vieh der Hacienda hüten, werden mit der lächerlichen Summe von 40 Centavos wöchentlich bezahlt. [...] Nicht zufrieden mit diesem Missbrauch werden uns auch noch Schulden angekreidet, die wir nie aufgenommen haben. So will man uns die Körner, die uns der verstorbene Herr Alejandro Gallo ab und zu gegeben hatte, als Schulden aufrechnen. Ebenso will man uns die Benutzung von Arbeitswerkzeugen, die wir uns ausgeliehen und zurückgegeben haben, anrechnen, ebenso wie die Tiere der Hacienda, die unter unserer Aufsicht gestorben sind« (UC, Junta Gallo Almeida, Brief, o.J.).

In der Folgezeit hatten sich die Arbeitsbedingungen wohl kaum verbessert, entsprechend schilderte Belesario Condor den Arbeitsalltag in der Hacienda wie folgt: »Der Arbeitstag begann um sieben Uhr morgens und war um fünf Uhr abends zu Ende. Oder eben, wann es ihnen gefiel. Und wenn wir nicht pünktlich waren, wurden wir in die Mitte der

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Leute gestellt. Und dort in der Mitte ausgepeitscht. Wir arbeiteten bis in die Nacht. Bis die Augen nichts mehr sehen konnten arbeiteten wir. Und da unsere Hütten weit entfernt waren, sangen schon oft die Hähne, wenn wir zurückkamen. Und dann mussten wir aufs Neue arbeiten. Fast ohne zu schlafen. Wir nahmen unser kukayo [Pausenbrot, O.K.] mit und machten chapo en agüita [ein süßes Geränk auf Rohrzuckerbasis, O.K.]« (Interview, Belisario Cóndor, 30.4.2006).

Hervorzuheben ist, dass die indigenen Bauern nicht allein an der einen Hacienda verortet waren, auf der sie arbeiten mussten, vielmehr mussten sie zeitweise auf allen Haciendas Gallo Almeidas in der Region Arbeiten verrichten. Zudem mussten auch Arbeiten als huasicama in den Privathäusern der Haciendabesitzer oder Mieter in Latacunga und Quito verrichtet werden. Oft wurde der mehr als 80 km lange Weg nach Quito in zwei Tagen zu Fuß bewältigt, wobei die Frauen mit einem halben und die Männer mit einem quintal bepackt waren. (Toapanta 1992: 14-15) Dies betraf sowohl die Zeit Alejandro Gallo Almeidas als auch die nachfolgenden Jahre, in denen die Hacienda von der Zentraluniversität nur an einen Mieter verpachtet wurde. So erzählte Manuel Toapanta aus Yanaurco – wahrscheinlich über die Zeit unter Comandante Dueñas, bevor die Hacienda in drei Teile aufgespaltet wurde: »Wir arbeiteten auf den fünf Haciendas. Meistens arbeiteten wir in der Hacienda Chilla Pata Calera, aber auch in Guangaje, und mal eine Gruppe in Salamalag und eine andere Gruppe drüben in La Provincia. So arbeiteten wir in den fünf Haciendas, gruben Kartoffeln aus, rodeten Land, alles auf den Haciendas. Dann kamen wir mit der ganzen Gruppe zurück nach Yanaurco, auch wieder die ganze Gruppe der fünf Haciendas. [...] Und dann mussten wir hier immer schon um elf Uhr nachts essen, um nach dort, nach La Provincia zu gehen, wo wir dann um sechs Uhr morgens ankamen um zu arbeiten. Einige compañeritos schafften den Weg auch am Tag und kamen so um acht oder neun an. Chuta, wie ein Lämmchen, mussten wir an den Peitschen der mayorales und der mayordomos vorbeispringen. Es war ein Elend so zu leben« (Interview, Manuel Toapanta, 30.4.2006).

Die Erfahrungen von Misshandlung und Ausbeutung schrieb sich tief in das kollektive Gedächtnis der indigenen Bauern der Region ein, wie es auch in dem Zeitzeugnis von Manuel Alomoto, einem der ersten dirigentes der in den 1970er Jahren gegründeten indigenen Organisation Jatarishun, deutlich wird. »Wir haben von Montag bis Freitag gearbeitet. Hinzu kamen die faenas (Gemeinschaftsarbeiten, O.K.). Meine verstorbenen Eltern und meine verstorbenen Großeltern arbeiteten auch samstags und sonntags in der faena. Von sieben Uhr morgen bis 12 Uhr mittags. Das war die faena, nicht wahr? Nun, von Montag bis Freitag, jeden Tag, arbeiteten unsere Leute. Meine Großeltern, meine Eltern, meine Mutter, all dieses Leiden habe ich, als ich groß wurde, gesehen« (Interview, Manuel Alomoto, 1.3.2006).

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Die Änderungen im Arbeitsregime der Hacienda stehen im Zusammenhang mit einem Agrarsektor im Hochland, der sich nach der Weltwirtschaftskrise nur kurzfristig und keinesfalls strukturell erholt hatte. Während einige Haciendas eine erfolgreiche Modernisierung durchführten und vor allem auf die wenig arbeitsintensive Milchwirtschaft setzten, behielten andere Latifundien wie auch die Haciendas der Zentraluniversität die Bewirtschaftung auf der Grundlage der concertaje bei. Die auf kurzfristige Renditesteigerung ausgelegten Mieter bemühten sich kaum um eine Modernisierung und pressten stattdessen die Arbeitskraft der indigenen Bauern bis zum äußersten aus. Dies wurde von den indigenen Bauern in Verbindung mit dem Wegfall der früheren Mechanismen asymmetrischer Reziprozität als Aufkündigung des impliziten Gesellschaftsvertrages durch die Herrschenden aufgefasst. Die moralische Empörung, die erfahrene Missachtung und zunehmende Verarmung (der Indigenen) traf in Folge auf die immer stärker einsetzenden sozialistischen und kommunistischen Organisationsprozesse und auf die ohnehin in der sich zeitgleich modernisierenden ecuadorianischen Gesellschaft der 1960er Jahre geführten Debatte um eine Agrarreform, bei der die »traditionale Hacienda« zunehmend als »Entwicklungshemmnis« wahrgenommen wurde. Misshandlungen und Gewalt Für die indigenen Bauern war das Leben unter dem Hacienda-Dispositiv und dem Rentier-Modell der Zentraluniversität von physischen und psychischen Misshandlungen geprägt, die sich nachdrücklich und intensiv in das kollektive Gedächtnis der indigenen Gemeinschaften einbrannten: »Wir hatten ein elendiges Leben mit so viel Peitschenhieben, mit so viel Fußtritten, soviel nutzlosen Sachen. Nur um zu arbeiten, aber Arbeit ohne Bezahlung, für nichts. Sie konnten uns noch nicht einmal einen Centavo zahlen. Mit unseren Spatenstichen, mit unseren Getreidesäcken, mit allem arbeiteten wir und gruben Kartoffeln aus. Nie haben sie das bezahlt, die unrechtmäßigen Besitzer. Nie konnten wir für uns arbeiten. Wir sahen das Elend, wir sahen wie unsere armen Leute ausgepeitscht und die ganze Nacht lang mit einem Stock geschlagen wurden« (Interview, Manuel Toapanta, 4.6.2006).

Eine gängige Form der Misshandlung war die sexuelle Gewalt gegen indigene Frauen in Form von Vergewaltigungen, die oft von den mayordomos der Haciendas ausgeübt wurden. »Die mayordomos vergewaltigten die Frauen, die ihnen gefielen. Deshalb hatte Frau Antuca aus Guanto fünf oder sechs Kinder von Carlos Borja aus Cusubamba, in Yanaurco hinterließ Abelardo Rubio Kinder: Lucita Rubia und César Rubio und Dolores Rubia. Die mayordomos

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schliefen mit den Frauen im Gebüsch, wann immer es ihnen gefiel« (Interview, Belisario Cóndor, 30.4.2006).

Diese Verletzungen der Grundrechte von Frauen wurden von den Haciendabesitzern bzw. deren Mietern nicht nur toleriert, vielmehr waren gerade sie auch Täter von Vergewaltigungen. Dies zeigten die Zeitzeugnisse der indigenen Bauern zu den Vergewaltigungen, die von Comandante Dueñas und dessen Neffen Marcelo in den 1930er Jahren begangen wurden. »Kommandant Dueñas war sehr schlecht. Als er hier ankam, war er noch sehr jung, und dann kam er als Herr und ganzer Mann zurück. Sein Sohn Marcelo war noch schlechter als sein Vater, er wollte nirgendwo anders hingehen, weil er hier Frauen hatte. Wie ein geiler Bock ging er auf die Frauen los, in jeder Zahl, sei sie alleinstehend, verheiratet oder verwitwet. Wo er hinkam, war keine Frau sicher. Nicht einmal die älteren Frauen. Es war ihm egal ob die Frau verheiratet war. Er respektierte die Ehemänner nicht, und noch weniger hatte er Angst vor ihnen. Die Männer schickte er weg, und auf die Frauen hatte er es dann abgesehen Ich erinnere mich an eine Kartoffelernte in Llamahuasi mit dem verstorbenen Manuel Anguisaca, das war ein reicher Mann, er sammelte Kartoffeln auf, dann kamen sie zu dem Ehepaar und er sagte: »Manuel, schau mal nach den Kartoffeln in la Era.« Und dann trieben es beide mit der Frau. Bis der Mann zurückkam, waren die beiden da mit der Frau. Die Frau Dolores Lasso war eine gute Frau. Wer wird da schon was sagen? Wie kann sich der Ehemann beschweren? Nichts konnte man sagen« (Interview, Rafael Salazar, 30.4.2006).

Ähnliche lautende Berichte gab es auch über Comandante Dueñas und dessen Sohn Antonio aus der Hacienda Yanaurco: »Komandant Dueñas, der war steinreich und der war der wildeste, er vergewaltigte die armen Frauen. Dieser Antonio Dueñas ritt immer auf einem großen Pferd. Ob sie nun schon älter war, oder ob sie geschwätzig war, oder ob sie mit ihrem guagua (Säugling, O.K.) unterwegs war, er vergewaltigte sie. Es ist eine Schande, er wollte den Körper. Darum blieb er in Salamalag, und dort in Yanaurco, da blieb sein Samen, er vergewaltigte die armen und stolzen Frauen – und entschuldige – besonders die Jungfrauen vergewaltigte er. Was machte es ihm schon aus, wenn jemand was sagte?« (Interview, Manuel Toapanta, 4.6.2006).

Wichtig ist hier hervorzuheben, dass es sich bei der Dueñas-Familie nicht um Randfiguren der ecuadorianischen Gesellschaft handelte. Vielmehr war Luis Dueñas ein angesehener hochrangiger Militär und kurzzeitig sogar Gouverneur der Provinz León. In der sozialgeschichtlichen Literatur zur Hacienda lassen sich viele Hinweise auf das Selbstbild der Großgrundbesitzer finden, die sich das »Recht auf das erste Mal« bei allen indigenen Frauen auf ihrer Hacienda herausnahmen. Die hacendados waren Souveräne über das »nackte Leben« der indigenen Bäuerinnen und Bau-

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ern – sowohl im politisch-philosophischen als auch im höchst vulgären Sinne. Diese Status außerhalb des Rechts wird von Manuel Toapanta ausdrücklich und pointiert benannt: »Es gab nur das Gesetz der Reichen, es gab kein Gesetz der Armen.« Der zentrale Grenzpunkt des homo sacer wird bei Agamben dadurch umgrenzt, indem er von der souveränen Macht ohne rechtliche Folgen getötet werden könne. Mit Foucault kann argumentiert werden, dass das Recht zu töten den Extrempol einer Macht darstellt, die generell als Zugriffsrecht funktioniert. »Die Macht war vor allem ein Zugriffsrecht auf die Dinge, die Zeiten, die Körper und schließlich das Leben; sie gipfelte in dem Vorrecht sich des Lebens zu bemächtigen, um es auszulöschen.« (Foucault 1992: 162) Für Foucault realisiert sich souveräne Macht über Mechanismen der Abschöpfung von Diensten, Arbeit, Produkten und Leben, worauf für die Hacienda oben bereits verwiesen wurde. Doch auch der Extrempol – das Töten ohne Sanktionen – wurde in den Haciendas der Zentraluniversität erreicht. In der Comunidad Chillapata, die zur Hacienda Chalua gehörte, wurde der huasipungero Manuel Vargas 1956-57 von dem Mieter Marcelo Dueñas und dessen zwei mayordomos erschlagen, weil er seine Aufgaben beim Hüten der Schafe nicht zufriedenstellend erfüllt hatte. Der Mord blieb für die Täter ohne rechtliche Folgen. Der dirigente Rafael Salazar erinnert sich so an die Tat: »Zuerst hat der Verstorbene mit einem Stock geschlagen […] und dann nehmen sie ihm zu zweit, Pablo Pérez und Carlos Borja, den Stock weg und schlagen auf ihn ein [...] und dann wird er zur Hacienda gezerrt, dort war Marcelo Dueñas in einem Sessel, so einem großen Sessel, wie er dort im Flur stand, so saß er da im Sessel. Da saß er und rauchte eine Zigarette. Marcelo Dueñas, der Sohn des Mieters Kommandant Dueñas. Da kamen sie also an und Pablo Pérez und Carlos Borja sagten ›señor Marcelito, so hat der uns geschlagen‹ »dieser indio hat mich geschlagen« und er zeigt auf den Stock »damit hat er mich geschlagen, damit hat mir der Indio was angetan«. Und dann stand der Marcelo Dueñas auf, der vorher da gesessen hat, er stand auf und packte ihn und dann schlugen die drei ihn zusammen. Sie machten eine Kammer, eine große Kammer, in die man sich setzen konnte, und dort drinnen zogen sie ihm die zamarro de chivito (ein traditionelles Beinkleid aus Ziegenfell, das v.a. bei Festen getragen wird, O.K.) an, so dass er die zamarrito trug, wie man sie gerne trägt. Dann haben sie ihn also in dieses Zimmer gesteckt, und wie sie ihn dort auspeitschten, sie schlugen den Armen, zu dritt. Und ich da in der Ecke, ich stand da, sah alles, und weinte, ich weinte stehend, und was konnte ich schon tun? Nichts. Und dann kam die Familie des Verstorbenen in den Innenhof, und alle kamen, die Leute weinten, wie sie sahen, dass sie ihn schlugen. Und während alle zuschauten, töte er nun den Verstorbenen. Er tötet ihn da. Aber bevor er dort starb, war er schon fast tot, soviel Blut ist geflossen. Das ganze Zimmer war voller Blut. Dann, als man sah, dass er nicht mehr atmete und sich nicht mehr rührte, als er nicht mehr konnte, da fiel er zu Boden, tot. Doch auch da traten sie ihn mit den Füßen und tanzten über ihm, sie tanzten darüber, zu dritt tanzten sie. Das waren schlechte patrones, sie waren viel zu schlecht. Da war es also ernst, so lag er in der Ecke des Zimmers, so kam es, dass sie sich zu dritt zusammen-

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schlossen, um schließlich einen toten runa (Kichwa für Mensch, O.K.) zu hinterlassen. Es gab niemanden, der ihn verteidigte. Es ging einfach nicht« (Interview, Rafael Salazar, 30.4.2006).

In seiner Erzählung der Ereignisse fügt Aurelio Toapanta noch hinzu, dass der getötete Vargas vor seinem Tod 15 Tage in dem Gefängnis der Hacienda verbracht hatte. (Toapanta 1992: 23) Diese Tat löste unter den indigenen Bauern Wut und Empörung aus, so dass es zu einer Spontanerhebung von zirka 200 Bauern kam. Dies war auch einer der zentralen Initialpunkte – ein Politikum – für einen neuen Mobilisationszyklus. Eliseo Vargas, von vielen als erster dirigente überhaupt in den Landkämpfen wahrgenommen und einer der wenigen indigenen Bauern, die überhaupt Spanisch sprachen, (Toapanta 1992: 23) und José Manuel Toapanta fuhren nach Quito, um rechtlichen Beistand zu suchen. Zwar wurden sie von den hacendados behindert und bedroht, doch gelang es immerhin, die Täter für zwei Tag in Latacunga zu inhaftieren. Doch die Tat blieb straffrei. Offensichtlich hat die Tat auch weitere Wellen geschlagen, denn im März 1957 ist in den Protokollen des Universitätsrats die Rede von einer vorzeitigen Beendigung des Mietvertrags mit Alberto Rojas Trujillo, der die Haciendas Chalua, auf der der Totschlag verübt wurde, gemietet hatte. Die Hintergründe zum Ende des Mietvertrags sind unklar. Allerdings gab es anlässlich des Berichts zur Übergabe der Hacienda an die Universität erstmals seit den 1930er Jahren ein von der Universität geäußertes Interesse an der Kontrolle der Haciendas: »Der Herr Dekan der Landwirtschaftlichen Fakultät bekundet, dass es unabdingbar sei, eine bessere Kontrolle der vermieteten Haciendas durchzusetzen« (UC, Actas Universitarias, 26.3.1957).

Konkrete Maßnahmen wurden hierfür allerdings nicht umgesetzt, und auch die Auflösung des Mietvertrags mit Rojas erfolgte letztendlich nicht. Er übergab die Hacienda Chalua 1963 nach dem vertragsmäßigen Ablauf des Mietvertrags. Im Zuge des Mitte der 1950er Jahre einsetzenden Organisationsprozesses wurden auch die dirigentes gewaltsam verfolgt. So wurde auf Cesario Cocha 1954 ein Mordanschlag verübt. »Die Herren Fausto Mena und Julio Ruiz schwatzen zusammen und sagten, der Cesario ist auf Draht, der organisiert die Leute, damit die Hacienda übergeben wird. Besser wir töten ihn. Also näherte sich der Herr Mena mir mit seinem Auto, ich war gerade dabei, zwei Quintales Mais zu kaufen. Und er beschuldigte mich des Schleichhandels. Nun, ein anderer, hinter mir, verkaufte Schnaps. Aber der Herr Mena stieg einfach aus seinem Auto und sagte mir, dass er ein Vertreter der Polizei sei. Und ich sage ihm, mein Herr, ich habe nichts, nur Mais. Aber es schießt schon jemand von hinten auf mich. Ich erinnere mich nur gerade noch so, was passierte. Ich verlor das Bewusstsein, ich lief durch den Himmel, lief über die Erde und an mehr er-

188 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG innere ich mich nicht. Am Freitagmorgen wachte ich halb träumend auf. Ich hatte Schmerzen, es war ein Jammer. Da brachten sie mich ins Krankenhaus von Latacunga, da waren schon drei Tage rum. Der Pfarrer hielt schon eine Messe über meinem Bett ab, und ich betete, und da heilte der Doktor mich einfach. Er gab mir ein Serum. Dreißig Tage war ich im Krankenhaus. Aber die Leute sagten, dieser Kommunist, dieser comunero, der ist scharf, der ist auf Draht, da in Saquisilí.« (Cesario Cocha, zitiert in Guarderas 1981: 157).

Cesario Cocha überlebte den Anschlag und ging rechtlich gegen die Attentäter vor. Dabei ist sein Fall einer der wenigen, bei denen es zu einer Bestrafung der mestizischen Täter kam. »Herr Mena sagte vor dem Richter, dieser Bettler war so betrunken, dass er das selbst gemacht habe. Und auch andere Zeugen sagten das, die Leute von Herrn Fausto Ruiz waren die Zeugen von Herrn Mena, mayordomo, zwei peones und er selber. Aber mein Zeuge und meine Aussage retteten mich. Und ich glaube er wurde mit fünftausend Sucres bestraft. Mein Anwalt war der Dr. Martínez. 1954 endete der Prozess, danach ist er nie wieder zu mir gekommen, noch ich zu ihm« (Cesario Cocha, zitiert in Guarderas 1981: 157-8).

Im historischen Rückblick ist es erstaunlich, wie stabil sich das als quasi-souveräne Macht etablierte Hacienda-Dispositiv erwies. Seit der frühen Kolonialzeit ist eine zunehmende Konjunktur der fortschreitenden Landnahme der Hacienda zu konstatieren, die so weit reichte, dass andere – und besonders antagonistische – politische Akteure zurückgedrängt wurden. Um mit Bourdieu zu sprechen kann die Schnittstelle kolonialer Staatlichkeit mit den indigenen Kaziken, den hacendados und den staatlichen Institutionen noch als Feld begriffen werden, in dem sich die Akteure gemäß den Kräfteverhältnissen positionieren konnten. Im ecuadorianischen Hacienda-Staaat des 19. Jahrhunderts hingegen fungierte die Hacienda als ›Apparat‹, der alle Aushandlungsprozesse blockierte, so dass hier kaum mehr von einer Schnittstelle, an der politische Kommunikation mit unterschiedlichen politischen Kulturen und Gemeinschaften hergestellt wurde, gesprochen werden kann. Erst mit dem Auftreten neuer Akteure wie den nach der liberalen Revolution geschaffenen zentralstaatlichen Stellen und den in Folge populärer Mobilisierungsmaßnahmen gegründeten Instanzen und Gesetzesregelungen kam es zur Veränderung der Schnittstelle. Die Quasi-Souveränität der Hacienda wurde nun durch andere Souveränitäten herausgefordert. Zu nennen ist als erstes der Rückgriff indigener Gemeinschaften und deren Alliierte auf die rechtserhaltende Gewalt des Zentralstaates. Erst in zweiter Linie sind auch Dynamiken der Instituierung von Recht als von rechtssetzender Gewalt aus den Gemeinschaften zu beobachten. Die nun einsetzende Neukonfiguration der post-kolonialen Schnittstelle politischer Kommunikation und der Politik der Dekolonialisierung der Hacienda stehen im Zentrum des folgenden Kapitels.

Eine sozialistische Konjunktur politischer Dekolonialisierung

Seit den 1920er Jahren 1 kam es in Ecuador zur Herausbildung einer sozialistisch und kommunistisch orientierten Bewegung, die sich vor allem durch den starken Einbezug indigener Bauern aus dem Andenhochland auszeichnete. Ein regionaler Schwerpunkt sozialistisch-indigener Organisationprozesse lag in der Region Cayambe nördlich von Quito, wo der indigene Bauer Jesús Gualavisí im Januar 1926 mit dem Sindicato de Trabajadores Campesinos de Juan Montalvo die erste indigen-bäuerliche Organisation in Ecuador gründete. Nur wenige Monate später, vom 16. bis 23. Mai 1926, war Gualavisí dann an der Gründung der Sozialistischen Partei Ecuadors (PSE) beteiligt, auf deren Gründungskongress er ein Grußwort an die Bauern und Indigenen Ecuadors richtete. Diese prominente und proaktive Stellung indigener Bauern in sozialistischen und kommunistischen Organisationen sollte die frühen Organisationsprozesse bis Mitte des 20. Jahrhunderts prägen. Während im lokalen Bereich die Gründung von Gewerkschaften – v.a. ab 1930 – rasant an Bedeutung gewann und lokale Aufstände und Streiks in den Haciendas zunahmen, nahmen Indigene in den nationalen Organisationen ebenfalls zentrale Positionen ein. So war die indigene Bäuerin Dolores Cacuango Mitglied des Zentralkomitees der kommunistischen Partei. Herausragende Beispiele für die Bedeutung indigenbäuerlicher Kämpfe in der Formationsphase sozialistischer und kommunistischer Bewegungen in Ecuador sind die Publikation der Zeitschrift Ñucanchic allpa, die auf Kichwa erschien, und die Gründung der Federación Ecuatoriana de Indios (FEI) vom 6. bis 8. August 1944. Mit Dolores Cacuango, Transito Amaguaña, Jesús Gualavisi (alle in Cayambe), Agustín Vega (in Tigua, Cotopaxi) und Ambrosio Lasso (in Chimborazo) waren indigene Aktivisten oft auch an Leitungsfunktionen beteiligt, während sozialistische und kommunistische mestizische Aktivisten wie vor

1 In den 1920er Jahren kam es zu einem signifikanten Anstieg popularer Mobilisierungen, die sich mit dem Aufstand 1916 in San Phelipe und 1920 in ganz Cotopaxi auch in der Region niederschlugen.

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allem Ricardo Paredes sich durch einen – ganz entgegen der Fortdauer kolonialer rassistischer Klassifikation – engen und dialogischen Austausch mit den Indigenen auszeichneten. Entgegen der verbreiteten Meinung der Instrumentalisierung der Indigenen durch sozialistische, urbane Intellektuelle hat der Historiker Marc Becker auf die interethnischen politischen Allianzen verwiesen: »Surveying the participation of activists in the founding of the FEI reveals that far from white domination to the exclusion of Indigenous activists, it was a shared space where Indians and whites, men and women, worked together to struggle for Indigenous rights« (Becker 2008: 84). Zwar gilt Cayambe als Gravitationszentrum indigen-kommunistischer Organisation, doch war das indigene Widerstandsnetz im Andenraum Ecuadors multinodal. Gerade der an Saquisilí angrenzende Ort Tigua stellte auch eine Hochburg sozialistischer und kommunistischer Organisation dar, die über Maca Grande auch nach Saquisilí diffundierte. Mit den in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im nationalen politischen Raum entstehenden kommunistischen und sozialistischen Organisationen indigener Bauern bildete sich auch in Saquisilí ein transkommunitäres Widerstandsnetz heraus. Zentrale Knotenpunkte in diesem Netz waren in der westlichen Kordillere der Provinz Cotopaxi die Comunas Tigua, Zumbahua und in Bezug auf die Haciendas der Zentraluniversität die Comunas Maca Grande (im Kanton Latacunga) und später – vor allem ab Ende der 1950er Jahre – Salamalag Chico und La Provincia (Isinliví), Yanaurco, Salamalag Grande und Chillapata Calera. Für die Region um Saquisilí lässt sich belegen, dass die indigenen Bauern bereits zu Beginn der 1930er Jahre enge Kontakte mit sozialistischen Rechtsanwälten unterhielten. Die indigenen Bauern aus Salamalag Grande und Maca nutzten das Moment der Schwäche im lokalen politischen Raum, das sich durch den Tod Alejandro Gallos und die Übergabe der Haciendas an die Zentraluniversität ergab, aus, um eigene Forderungen – vor allem nach Land und besseren Arbeitsverhältnissen – durchzusetzen. Der Junta Gallo Almeida war dies durchaus bewusst, wenn sie in Hinblick auf das sich zwischen dem Tod Gallo Almeidas (Mai 1930) und der legalen Konstitution der Junta (23. Juli 1930) ergebene Machvakuum bemerkte, dass es eine der ersten Aufgaben war »die unzähligen Beschwerden der Indigenen zu lösen«. (UC, Junta Gallo Almeida, 20.8.1931: 3) 2 Damit stießen sie in eine nationale politische Konjunktur, die durch starke indigen-bäuerliche Mobilisierungen ge-

2 Auch der damalige Generalverwalter der Haciendas, Coronel Moreno, nutzte die Leitungsschwäche der Junta aus und forderte 60.000 Sucres für seine Leistungen. Zudem erkannt er die Leitungsbefugnis der Junta nicht an. (UC, Junta Gallo Almeida, 20.8.1931: 3-4) Weitere Forderungen stellten die Schreiber verschiedener Regionen, Ärzte, Verwandte von Gallo Almeida, der Intendant von Latacunga, der Gouverneur der Provinz León sowie Manuel Gallo. (UC, Junta Gallo Almeida, 20.8.1931: 6-10)

S OZIALISTISCHE K ONJUNKTUR

DER

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kennzeichnet war (Becker 2008), wobei die Indigenen als die größte soziale Gruppe im Ecuador des frühen 20. Jahrhunderts bis zur verfassungsgebenden Versammlung von 1944 (Becker 2007a) über keine eigenen Interessenvertretungen im politischen Raum verfügten. Allenfalls wurden sie in paternalistischer Weise durch einen Senator »zur Verteidigung der indigenen Rasse« fremdrepräsentiert. Hier zeigt sich eine Fortdauer der kolonialen Bifurkation der Gesellschaft an, wobei allerding die indigene Selbstverwaltung komplett kolonialisiert worden ist. In einem Telegramm vom 5. Oktober 1930 informierte der Generalverwalter der Haciendas, Coronel Moreno, den Präsidenten der Junta Gallo Almeida, dass eine Abordnung der Indigenen von Salamalag sich weigerte, die üblichen Abgaben an die Hacienda zu entrichten: »Kommission der indios von Salamalag fordern, keine Wolle oder Schafe zu zahlen, wie es üblich ist. Ich empfehle dem nicht nachzukommen. Sonst bleiben die Haciendas ohne Einkünfte und die Indios werden Herren der Paramos bzw. Herren der Haciendas. Und machen sich lustig über die Junta, die die Haciendas verwalten.« (UC, Junta Gallo Almeida, Telegramas, Cartas particulares) Aus einem weiteren Telegramm, das Ende Oktober verschickt wurde, geht hervor, dass sich der Konflikt zugespitzt hatte und nun, da auch der Verwalter die Hacienda verlassen hatte, die Gefahr von »acefalía« sah (UC, Junta Gallo Almeida, Telegramas, Cartas particulares, 29.10.1930). An diesem Beispiel wird deutlich, dass sich die Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit verändert hatte. Wurden Konflikte zuvor lokal durch die Macht des Hacienda-Dispositivs allenfalls in Kollaboration mit dem lokalen Staat, vertreten durch den teniente político, befriedet, so trat mit den sozialistischen Anwälten und Organisationen ein neuer Akteur auf, der zu einer Politisierung beitrug und der die Politik der Verortung aufbrach, die Konflikte in die politische Kommunikation diffundierte und auf die nationale politische Ebene transferierte. Das war der Junta Gallo Almeida durchaus bewusst, wenn sie an den Generalverwalter der Haciendas Coronel Manuel Moreno schrieb: »Der heutige Landarbeiter wird schlimmstens aufgehetzt und ist zu jeder Art der Reklamation über das Mittel des Streiks oder gar des Aufstands bereit« (UC, Junta Gallo Almeida, Briefe, 14.9.1930).

Und weiter »Sie wissen, dass der Indigene all diese Rechte und Verfahrensweisen auf das Genaueste kennt, da es sich eine große Anzahl von Schreiberlingen und Schmarotzer zur Aufgabe gemacht hat, ihn in dieser Materie zu instruieren« (UC, Junta Gallo Almeida, Briefe, 14.9.1930).

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Einer der ersten indigenen Bauern in der Region, die den Kontakt zu den sozialistischen Rechtsanwälten in Quito aufgebaut hatte, war Agustín Vega aus der an La Provincia und Guangaje angrenzenden Hacienda Tigua. Auf Grund der in der Hacienda erfahrenen Misshandlungen ging er nach Quevedo, um dort Unterstützung zu suchen. (Interview, Celso Fiallo, 16.6.2006; Fiallo und Ramon 1980) In den noch jungen Organisationsprozessen der kommunistischen Bewegungen nahm der Indigene Agustín Vega – neben anderen indigenen Schlüsselfiguren wie Dolores Calcuango und Transito Amaguaña – eine wichtige Rolle ein. So war er zusammen mit dem kommunistischen Anwalt Dr. Ricardo Paredes an der Gründung der Federación Ecuatoriana de Indios beteiligt. Die neu etablierten Muster politischer Kommunikation an der Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit wirkten nicht nur auf die Dynamik der Politisierung ein, sondern sie bewirkten einen Prozess neuer Identitätsbildung in den comunidades, der von den hegemonialen Akteuren kritisch begutachtet wurde. So schrieb der Großgrundbesitzer Pazmiño höchst beunruhigt an den Verwalter der Haciendas: »Heute hört man in dieser ganzen Gemeinde von Macas nichts anderes mehr: Wir sind Sozialisten und alles gehört uns« Und es geht weiter »Diese sogenannten sozialistischen Doktoren werden ein Thema finden, um mit diesen wilden und ungebildeten Leuten Ärger zu machen« (UC, Junta Gallo Almeida, Brief 16.12.30).

Vor dem Hintergrund zeitgenössischer ethnischer Mobilisierungsprozesse wird – in paradoxer Verkehrung vulgärmarxistischer Prinzipien – oft argumentiert, dass es sich bei dem hier zum Ausdruck gebrachten Klassenbewusstsein um ein ›falsches Bewusstsein‹ handele, welches das ›wahre‹ ethnische Bewusstsein verschleiern würde. Beiden, der ethnizistischen wie auch der vulgärmarxistischen Beurteilung liegt ein eingeschränktes und essentialistisches Verständnis von Identität zu Grunde. Stattdessen wurde in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass es sich sowohl bei der ethnischen als auch bei der klassenorientierten Identität um einen Ausdruck einer strategischen Positionierung in einem gesellschaftlichen Kräftefeld handelt, das von der Fortdauer von Kolonialität geprägt war. Die Geopolitik der Kolonialität beinhaltet für die indigene Bevölkerung des Andenhochlandes sowohl eine rassistische Klassifikation entlang ethnischer Differenz als auch eine subalterne soziale Verortung im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Insofern kann die Emergenz eines politischen Antagonismus an beiden Differenzen ansetzen. Entsprechend scheint es in den indigenen Organisationen des Hochlandes der 1980er und 1990er Jahre auch eine Verschränkung von Klassen- und ethnischer Perspektive zu geben. Am deutlichsten wurde diese Verflechtung in der bolivianisch-indigenen Denkströmung und politischen Bewegung des Katarismo in Bolivien mit der Theorie der »zwei Augen« synthetisiert.

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»Damit verortet der Katarismo die Gesellschaftsanalyse entlang zweier visueller Achsen: Eine betrachtete Bolivien als ein ungelöstes Problem der ausgebeuteten Klassen; die andere als ein Problem der unterdrückten Nationen (Völker und unterdrückte ethnische Gruppen), die vom Staat vergessen wurden« (Sanjinés 2005: 178).

Ein weiteres Vorurteil gegenüber indigen-bäuerlichen Protesten besteht in der Politik der Verortung. Wie eingangs argumentiert wurde, hatten die verschiedenen Konjunkturen der Kolonialisierung den indigenen Bauern, vor allem durch das Hacienda-Regime, einen spezifischen sozialen und geographischen Ort zugewiesen. Sie wurden fixiert. Dennoch sind auch Widerstandstrategien und Fluchtlinien, die sich dieser Fixierung entziehen, festzuhalten. So zeigten sich die indigenen Bauern als äußerst gut über legislative Veränderungen informiert und konnten – trotz ihrer geographischen Abgelegenheit – zügig auf Gesetzesänderungen reagieren, was Becker und Clark (2004) am Beispiel der Arbeitskämpfe in der Hacienda Zumabahua zeigen konnten. Zum anderen bestanden aber auch transkommunitäre Austauschsysteme. Über den Austausch von Arbeitern auf den Haciendas, Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den benachbarten comunidades sowie den Kontakt auf den Märkten – erinnert sei daran, dass Saquisilí seit prä-inkaischen Zeiten ein bedeutender Marktplatz der Region ist – bestanden im Hochland eine Vielzahl von Kontakten, die auch den Informationsfluss aufrecht erhielten und über die auch politische Ideen zirkulierten. Manuel Toapanta, einer der wichtigsten dirigentes aus Yanaurco, beschreibt die Diffusion sozialistischer Organisationsprozesse von Tigua nach Saquisilí in der Mitte des 20. Jahrhunderts wie folgt: »Das mit der Organisation begann zuerst in Tigua, dann gab es in Zumbahua eine Organisation der Indigenen und von dort nach Salamalag und nach dieser Organisation, immer schön versteckt, nach Chilla Pata und nach Yanaurco. Damit man sich organisiert, aber versteckt, von Haus zu Haus haben wir organisiert« (Interview, Manuel Toapanta, 4.6.2006).

In diesem – wie auch in anderen Zeugnissen – kommt zum Ausdruck, wie untergründig der Organisationsprozess erfolgte, so dass das seit der Unabhängigkeit höchst stabile Hacienda-Regime mit seinen Kontroll- und Sanktionsformen unterlaufen werden konnte. Dennoch waren die in dieser Art etablierten politischen Verbindungen stabil und spielten dann in Saquisilí in den 1960er Jahren, wo der Kampf um die Agrarreform in eine entscheidende Phase kam, eine zentrale Rolle. Auch hier war wiederum Agustin Vega zentral, er wurde zu einem »allgemeinen Anführer, der sich in verschiedenen comunas bewegte, von Maca nach Tigua, von Apagua nach Pujilí, und dabei den engen Rahmen der eigenen comuna überschritt« (Fiallo und Ramon 1980: 4).

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In diesem Sinne beschrieb Manuel Toapanta: »Um zu lernen ging ich nach Tigua, da ging ich hin um zu wissen, wie es geht. Der compañero presidente Agustín Vega erklärte mir alles in einer Nacht, bei einer Flasche Schnaps. Schluck für Schluck erzählte er Geschichten und als ich da war, lernte ich wie wir als Indigene kämpfen können. Und von da an wussten wir zu kämpfen. Und wie wir kämpften. Das mit der Hacienda war in der Zeit von 1940 bis 1950, und dann in den 60ern und 70ern, da waren wir schon Indigene. Da waren wir arrendatarios und ich organisierte. In der Universität waren einige für die Reichen und andere für die Armen. Da wussten wir zu kämpfen und zu organisieren. Wir machten Kongresse, aber wir kämpften versteckt, damit die cholos nichts mitbekommen. So kämpften wir und organisierten alle Leute. Und dann kam ein Brief, ay, ich erinnere mich nicht… da haben sie von der Universität geschrieben, dass sie das Land den Indigenen geben [...]. Wir wussten schon uns zu organisieren, zu kämpfen und den gamonales dieses Land wegzunehmen. Das war das Indio-Land von Atahualpa, das ist für die Indigenen und die runas« (Interview, Manuel Toapanta, 4.6.2006).

Rasch etablierten auch die dirigentes der verschiedenen comunidades in Saquisilí über die transkommunitären Verbindungen eigene Kontakte mit den sozialistischen Anwälten in Quito und Guayaquil. Es waren diese politischen Kommunikationsstrukturen mit nationalen Organisationen, die als Transmissionsriemen für die Politisierung wirkten. »1940, viel Arbeit und viele Misshandlungen, wir hatten noch keine Organisation. Mein Papi arbeitet noch mit dem Gespann auf der Hacienda und meine Tochter als Hausmädchen. Mein Sohn muss sie auch bedienen, da sagte mein Vater, Wie können wir so leben? Alle arbeiten wir umsonst. Als ich meinen Vater so reden hörte, dachte ich: Gut, ich denke, jetzt ist es an der Zeit nach Quito zu gehen, um Gerechtigkeit zu schaffen. Aber wir wussten nicht, wie das geht, wir wussten nicht, wie teuer die Reise ist. Also sprach mein Vater mit den Leuten aus Maca Grande, die schon einen Anwalt in Quito hatten. [...] Maca Grande hatte schon den Páramo befreit. Sie sagte, in Quito, da ist es nicht schwierig. Wenn es Gerechtigkeit gibt, dann kauft besser die Hacienda. Also sagte Papi: Helft uns bitte, damit wir nach Quito kommen. Die Fahrt nach Guaytacama kostet zwei Sucres fünfzig, dann fünf Sucres und zurück nur fünf Sucres. In Quito trafen sie Dr. Ricardo Paredes, der sagte, dass sie sich organisieren und treffen sollen, um beim Arbeitsministerium Ansprüche zu stellen, und so machten wir es. Wir organisierten Geld und Leute, um wieder nach Quito zu gehen und unsere Rechte einzufordern, vielleicht auch den Lohn zu erhöhen, so dass es keine Arbeit umsonst mehr gibt.« (Cesario Cocha, zitiert nach Guarderas 1981: 150-51)

Auch in anderen Zeitzeugenberichten wird die Etablierung eigener Kommunikationsstrukturen mit den sozialistischen und kommunistischen Anwälten oft als der

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entscheidende Ausgangspunkt weiterführender Politisierungsdynamiken beschrieben. »Der erste Kämpfer war mein Schwiegervater Baltazar Totasig. Der begann zu kämpfen und machte den Weg frei. Die Klage machte er in Quito, den Namen des Anwalts kenne ich nicht. Er fuhr mit dem Zug nach Quito. In Quito gab es Recht für die Indigenen, so wie es heute die CONAIE gibt« (Interview, Andrés Totasig, 4.6.2006).

Auf Grundlage dieser ersten Einführung in die Form der politischen Mobilisierung soll nun im Folgenden anhand konkreter Konfliktfälle auf die Inhalte der indigenbäuerlichen Kämpfe eingegangen werden.

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ARBEITSRECHTE

In Folge der liberalen Revolution unter Eloy Alfaro ergaben sich erste arbeitsrechtliche Regelungen die, wie das Patronaje-Gesetz von 1899 die concertaje regulierten, bis diese dann im Oktober 1918 in Folge der Reformas de la Ley de Jornaleros formal abgeschafft wurden. Im August 1938 wurde dann eine neue Arbeitsgesetzgebung, Código de Trabajo, erlassen, die grundlegende Arbeiterrechte schützen sollte. Und das 1937 erlassene Ley de Comunas schuf bereits neue, staatlich kontrollierte Organisationsmöglichkeiten in den indigenen Gemeinschaften. Die meisten dieser Gesetzesvorschläge existierten allerdings vor allem auf dem Papier und fanden in den lokalen ländlichen Kontexten, die von der Fortdauer von Kolonialität geprägt waren, nur eine begrenzte Umsetzung. Dennoch stellten sie für die Organisation von Protest seitens der indigenen Bauern zentrale Referenzpunkte dar, die Kommunikationskanäle mit den post-kolonialen Institutionen überhaupt erst etablieren konnten. In den von popularen Protesten und wirtschaftlicher Krise gekennzeichneten 1920er und 1930er Jahren waren es vor allem die Allianz von neuen dirigentes und sozialistischen bzw. kommunistischen Anwälten, die lokale Anliegen und Missstände in die Sprache der neuen Gesetze übersetzten und national zirkulieren ließen. So informierte der Großgrundbesitzer Alberto Pazmiño besorgt den Mieter des Hacienda-Komlexes der Zentraluniversität, Gabriel Espinoza, über klandestine Treffen zwischen den dirigentes verschiedener comunidades und kommunistischen Anwälten: »Außerdem habe ich heute auf sehr vertraulicher Grundlage erfahren, dass José Felix Unaucho, Bernado Ayala und Francisco Choloquinga Cubano (Macas), sich mit den cabecillas

196 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG aus Tigua getroffen haben, und dass sie von den sozialistischen Anwälten Jaramillo und Paredes angeführt werden.« (UC, Junta Gallo Almeida, Brief 16.12.1930)

Diese Befürchtungen waren nicht unbegründet, denn in Tigua hatte esbereits 1929 einen Streik der Arbeiter gegeben, der gewaltsam niedergeschlagen wurde, und in Maca war nur einen Monat zuvor ein Anklagebrief und Forderungskatalog zur Verbesserung der Arbeitsrechte publik gemacht worden. In dieser Zeit war der Kontakt zwischen indigenen Bauern und sozialistischen Anwälten eng, und auch zwischen den comunidades von Maca und Tigua gab es enge Beziehungen. Dabei war in den Konflikten mit Ricardo Paredes die zentrale Figur der kommunistischen Bewegung involviert. Bei Dr. Juan Genaro Jaramillo handelte es sich um einen früheren Militanten, der in späteren parteiinternen Auseinandersetzungen als sozialdemokratischer Renegat bezeichnet wurde. Allem Anschein nach existierte wohl eine Arbeitsteilung zwischen beiden Anwälten, so vertrat Jaramillo Juan Bautista Toaquisa aus Maca, der als Anführer der Proteste die Repression der mayordomos erdulden musste, (UC, Junta Gallo Almeida, 13.11.1930) während Paredes sich auf Tigua konzentrierte. Trotz seiner raschen Befriedung ist der Protest in Maca ein gutes Beispiel früher gewerkschaftlicher Organisation in den comunidades, das besonders durch den ausführlichen Anklagebrief, der mit einem 13 Punkte umfassenden Forderungskatalog endete, heraussticht. Unterschrieben ist der Protestbrief von Juan Manuel Tuaquiza als Generalsekretär der Gewerkschaft von Yanaurco, Chalua und Provincia sowie Juan Bautista Tuaquiza Tipén als Generalsekretär der Gewerkschaft von Salamalag und Guangaje. Letzterer ist dem Leser bereits in dem Abschnitt über die Verwaltung der Haciendas durch die Zentraluniversität vorgestellt worden. Auf Grund der Verletzung des Privateigentums der indigenen Bauern – wie die Zerstörung ihrer Hütten durch den mayordomo der Hacienda – und den Misshandlungen durch mayordomos hatte Juan Bautista Tuaquiza bei der Junta Gallo Almeida der Zentraluniversität Klagen eingereicht und war persönlich beim Ministerio de Previsión Social vorstellig geworden. (UC, Junta Gallo Almeida, 22.10.1930) Die Zentraluniversität hatte den Konflikt letztlich durch die Vertreibung von Tuaquiza von der Hacienda befriedet. Der Konflikt ist insofern von besonderer Bedeutung, da hier ein langer Forderungskatalog unterbreitet wurde, was als eine frühe Politisierungsstrategie der indigenen Bauern verstanden werden kann, die besonders in den 1930er und 1940er Jahren weiter verwendet wurde und in den Forderungskatalogen der 1990er Jahre seine Fortsetzung fand. In Maca formulierten die dirigentes einen langen Anklagebrief an den Präsidenten der Junta Administrativa der Haciendas, um in erster Linie die Misshandlungen durch die Verwalter zu geißeln:

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»Als Arbeiter der Genannten leben wir unter einem despotischen Regime der Verwalter, mayordomos, Diener, vor allem der Herren David A. Salgado, José M. Naranjo, Julio Avila, Alejandrino Rubio, Pantaleón Rubio und dem mayordomo vonYanaurco.«

Der Anklage der detailliert aufgelisteten Misshandlungen folgte ein konkreter Forderungskatalog zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse auf der Hacienda: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Absetzen der genannten Herren von ihren Ämtern Freiheit der Arbeit, unter folgenden Bedingungen: Alle Arbeitsverträge werden über die Gewerkschaft abgeschlossen 1 Sucre Bezahlung der peones arrendatarios für den 8-stündigen Arbeitstag Bezahlung der huasipungeros mit 80 Centavos Gleiche Arbeit, gleicher Lohn – auch für Frauen und Kinder Kein Eintreiben des Zehnten (diezmo) Streichung aller Schulden und keine Forderungen für Tiere, die während des Hütens sterben 9. Nur so viel säen, wie bearbeitet werden kann 10. Kostenlose Behandlung im Krankheitsfall und wenn nötig Überführung in das nächstgelegene Krankenhaus 11. Schulgründungen, so wie es vom Gesetz vorgesehen ist 12. Keine Vertreibung von der Hacienda ohne gerechtfertigten Grund 13. Rückgabe aller Objekte und Tiere, die uns genommen wurden Dieser Brief, der leider nur in einer undatierten Kopie vorliegt, muss aus dem Oktober 1930 stammen. Damit handelt es sich um einen der frühesten Forderungskataloge aus diesem Mobilisationszyklus, wobei der Konflikt in Macas wegen der raschen Befriedung bislang auch nicht in den einschlägigen Werken zu indigenbäuerlichen Organisationsprozessen in der Sierra aufgeführt wurde. (Becker 2008) Möglicherweise ist der Protest inspiriert von dem Streik in Tigua, der im September 1929 unter der Führung von Agustín Vega stattgefunden hatte. Hier wandten sich die Arbeiter an den Gouverneur Gustavo Iturralde, um durch dessen Einwirkung auf den Haciendabesitzer eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse zu erzielen. Der Gouverneur reagierte, indem er Polizeitruppen sendete, die zehn der streikenden Arbeiter – darunter eine schwangere Frau – erschossen. (Becker 2008: 27, Colvin

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2004: 19) Es scheint, dass Agustín Vega nach dieser Auseinandersetzung nach Maca geflüchtet war. 3 Der Forderungskatalog aus Maca entspricht den 17 Punkten, die von den Gewerkschaften El Inca und Tierra Libre im Rahmen des großen Streiks in der Hacienda Pesillo in Cayambe aufgestellt und im Januar 1931 in der Zeitung »El Dia« veröffentlicht wurden (»Pliego de peticiones que los sindicatos ›El Inca‹ y ›Tierra Libre‹ situados en la parroquia Olmedo, presentan a los arrendatarios de las haciendas donde trabajan,« (El Dia, 6.1. 1931). Dies ist ein deutlicher Indikator dafür, wie die Politisierung, vermittelt über die sozialistischen Büros in verschiedene Regionen des Andenhochlands, zirkulierte und dabei Erfahrungen ausgetauscht wurden. Zwar kam es in Saquisilí nicht zu einem ähnlichen Aufstand wie in Pesillo 1930, doch war die Saat für Proteste bereits ausgetragen und ein politisches Bewusstsein über die eigenen Rechte ausgebildet worden. Entsprechend schwelte der Konflikt abseits der großen Bühne, was von John Scott als »hidden transcript« bezeichnet wurde, weiter. So beschwerte sich die Junta Gallo Almeida, dass es noch bis Februar 1931 massive Probleme bei der Eintreibung von Abgaben der indigenen Bauern gab. (UC, Junta Gallo Almeida, 20.8.1931: 6) Zudem versuchten die Arbeiter, sich von der Politik der Verortung auf der Hacienda zu lösen, so dass sich für die Haciendas der Zentraluniversität und deren Verwalter das im Hacienda-Dispositiv gravierendste Problem des Arbeitskräftemangels einstellte. Mitte 1931 hatten sich die peones zunehmend auf Arbeitssuche außerhalb der Hacienda begeben, wodurch die Junta den Mieter José León aufforderte, die Arbeitsbedingungen zu verbessern (UC, Junta Gallo Almeida, Brief, 7.10.1931). Dies stellte ein Problem dar, das auch im Folgejahr nicht gelöst werden konnte. (UC, Junta Gallo Almeida, Brief, 31.5.1932) Am 25. Mai 1932 antwortete León dem Präsidenten der Junta und bekräftigte, dass er die indigene Arbeitskraft an die Hacienda binden wolle. Deshalb forderte er die Bücher der Hacienda, u.a. noch aus der Zeit von Gallo Almeida, in denen die Schulden festgehalten wurden, um damit über ein Zwangsmittel zur Rekrutierung der Arbeitskraft zu verfügen. Denn, so León, es gäbe besonders in La Provincia nur noch drei peones, während aber die Schuldner sich frei bewegen könnten. (UC, Junta Gallo Almeida, Brief, 25.5.1932) Hieran wird der Widerspruch deutlich, dass die Verortung von Arbeitskraft in der Hacienda im damaligen Regime nur wenig über freie Arbeit gelöst werden konnte, sondern dass es der Anwendung der über Jahrhunderte verfeinerten Zwangsmechanismen – vor allem der Schuldknechtschaft bzw. der concertaje – be-

3 Celso Fiallo gibt an, dass Vega in den 1940er Jahren Asyl in Maca erhalten habe. Auf jeden Fall gab es enge Kontakte, die wie der Familienname Toaquiza, der sowohl in Maca als auch in Tigua verbreitet ist, auch auf Verwandtschaftsbeziehungen zu basieren scheinen.

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durfte. Dazu musste die Hacienda als quasi-souveräner Raum die nationale Gesetzgebung – wie beispielsweise das Ley de Jornaleros, das die concertaje abgeschafft hatte – durch die Herstellung eines permanenten Ausnahmezustands außer Kraft setzen.

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Die Aneignung fremden Landes ist einer der zentralsten Aspekte von Kolonialität. Im Laufe der Kolonialzeit haben kreolische und mestizische Großgrundbesitzer nahezu das gesamte landwirtschaftlich nutzbare Land um Saquisilí den indigenen Siedlungen und Kazikentümer enteignet und sich selbst einverleibt. Im Kontext der kolonialen Politik der Verortung wurde den indigenen Bauern ein nur kleines Landstück auf der Hacienda zugewiesen, oder aber sie hatten überhaupt keine Verfügungsrechte über Land. Allerdings blieb die – auch aus religiösen und kulturellen Gründen wichtige – Bindung an Land für die indigenen Bauern wesentlich. Entsprechend gab es – besonders in Umbruchphasen, in denen die gängigen Routinen teilweise außer Kraft gesetzt waren – immer wieder Versuche der indigenen Gemeinschaften Land zu erkämpfen. Eine solche Umbruchphase setzte nach dem Tod Alejandro Gallo Almeidas und der nachfolgenden Übergabe der Haciendas, zunächst an die Junta und später an die Zentraluniversität, ein. 1932 gab der indigene Bauer Juan Ayala an, dass ihm ein Landstück der Hacienda Salamalag gehören würde. (UC, Junta Gallo Almeida, 11.1.1933) Da aus Sicht der Junta Gallo Almeida die Eigentumsverhältnisse keinesfalls befriedigend geklärt waren, beauftragte sie den Mieter des HaciendaKomplexes, José León, in dieser Sache eine Befragung unter der lokalen Bevölkerung durchzuführen. Entsprechend berichtete León nach der Befragung des Vaters der Ehefrau Juan Ayalas, dass dieses Grundstück – von immerhin mehr als vier caballerias – im Besitz von Gallo Almeida war, und dass »Ayala hat ihnen gesagt, wir nehmen uns dieses Landstück, das der neue patrón nicht kennt«. (UC, Junta Gallo (UC, Junta Gallo Almeida, Brief, o.J.) Doch offensichtlich war der Landkonflikt damit noch nicht geklärt, denn am 25. September 1934 wurden die Indigenen von Macas unter der Führung von Juan Ayala bei dem Mieter der Hacienda in Salamalag vorstellig, um mit einer Empfehlung von Doktor Augusto Velasco (juristischer Vertreter und Sekretär der Junta) die Landforderung zu klären. (UC, Junta Gallo Almeida, Brief, 29.9.1934). Doch auch hier kam es offensichtlich zu keiner Lösung des Konflikts, bzw. kann eine solche nicht aus den vorliegenden Dokumenten rekonstruiert werden. Deutlich wird aber, wie groß die Angst der Junta war, dass hier ein Präzedenzfall entstehen könnte.

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Festhalten lässt sich jedoch, dass sich die Auseinandersetzungen um Land in den 1930er Jahren angesichts von neuen Besitzverhältnissen in Saquisilí und einer nationalen politischen Mobilisierung indigener Bauern dynamisiert hatten. Wobei über die Organisation in Form von Gewerkschaften oder comunas, der engen Allianz mit sozialistischen und kommunistischen Anwälten sowie die Anrufung von neuen Gesetzen und zentralstaatlichen Akteuren, neue Wege der Politisierung eingeschlagen wurden. Auch von den Mietern der Haciendas wurde die Situation ähnlich analysiert, so sprach der Mieter des Hacienda-Komplexes José León die Befürchtung aus, dass auch andere indigene Bauern dem Beispiel folgen würden. Konkrete Anzeichen gab es bereits bei den Landforderungen von Andrés Vargas, Geronimo Toapanta und anderen um ein Gebiet, das zu der Hacienda Chalua gehörte, (Junta Gallo Almeida, Brief, 6.4.1933, Junta Gallo Almeida, Brief, 26.5.1934) während der Indigene José Manuel Llumitaxi angab, ein Grundstück von Gallo Almeida gekauft zu haben. (Junta Gallo Almeida, Brief, 7.10.1931; 29.10.1931) Der Hinweis, dass Juan Ayala nicht allein, sondern mit einer Delegation aus seiner comunidad vorstellig wurde, macht zudem deutlich, dass solche Landkonflikte – entgegen der individualisierenden Vorstellung der Haciendabesitzer, oft auch von der gesamten indigenen Gemeinschaft getragen wurde. Gleiches zeigt sich auch in dem Landkonflikt zwischen der Comuna Rumiquincha und der Zentraluniversität im Jahr 1939. Rumiquincha war in ganz Cotopaxi eine der ersten indigenen Gemeinschaften, die sich bereits 1939 nach dem Gesetz der comunas formal konstituiert hatte. Diese Organisationsform hatte den Vorteil – wie es in einem Beschwerdebrief der comuna auch explizit heißt – sich auf die gesetzlichen Regelungen im Ley de Comunas berufen zu können, die Gemeindeland schützten. Das erste öffentliche Auftreten der neu gegründeten comuna bestand darin, in Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Anwalt Dr. Gonzalo Oleas 4 im Oktober 1939 den schwelenden Landkonflikt mit der Zentraluniversität wieder aufzunehmen. (MAG, Sección Comunas, Rumiquincha, 8.10.1939, 30.10.1940) In diesem Zusammenhang hatte die comuna wohl auch einen gerichtlichen Prozess gegen die Zentraluniversität begonnen. In einem Brief, der an den Minister der Previsión Social gerichtet war und von Oleas unterschrieben wurde, beklagten Juan Ayala und Agustín Anguisaca (beide unterzeichneten mit ihrem Daumenabdruck) als Präsident und Vizepräsident der comuna, die Aneignung von Gemeindeland durch die Zentraluniversität:

4 Oleas vertrat eine ganze Reihe indigener Gemeinschaften in Konfliktfällen. Er wurde am 16.2.1916 in Riobamba geboren. 1934 schrieb er sich in der Zentraluniversität in Quito ein, wo er sich als Studentenführer und sozialistischer Aktivist etablierte. (Becker 2011a: 244)

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»Während der letzten vierzig Jahre, in denen wir eine genaue Erinnerung an alle Vorgänge haben, hat kein Eigner der Hacienda Salamalag Besitz- oder Nutzungsrechte irgendeiner Art über unsere Ländereien vorgelegt oder, schlimmer, beansprucht. Auf diesen Ländereien leben wir als unabhängige Eigentümer, ohne Arbeitsleistungen an die angrenzenden Haciendas erbringen zu müssen« (MAG, Sección Comunas, Rumiquincha, 30.10.1940).

Weitergehend wird aus dem Dokument deutlich, wie das Regime des Vermietens in der moralischen Ordnung der Hacienda auch in der Landfrage einen Bruch provozierte. Denn offensichtlich nutzte der erste Mieter der Haciendas der Junta Gallo Almeida, Comandante Luis Dueñas, die quasi-souveräne Machtposition, um sich weitere Ländereien und indigene Arbeitskraft anzueignen. So erhob die comuna in ihrem Schreibenden Vorwurf: »nachdem die Zentraluniversität die direkte Verwaltung der Hacienda aufgegeben hat, und sie dem Mieter Herrn Kommandant Luis A. Dueñas anvertraut hat, erdulden wir Steuererhebungen seinerseits, wie die Leistung von Arbeit, und für Wegerechte und die Nutzung von Weideland und Wasser für häusliche Zwecke wird uns das unbezahlte Hüten des Viehs der Hacienda auferlegt.« (MAG, Sección Comunas, Rumiquincha, 30.10.1940)

Doch zeigt sich innerhalb dieses Konflikts auch die Schwäche der indigenbäuerlichen Organisationen. Denn im Falle von Tod oder dem Wegzug von dirigentes, blieb der Cabildo – vermutlich Anfang 1941 – führungslos 5 ,und die comuna musste den Rechtsstreit aufgeben. Es verblieb bei dem – hilflos anmutenden – Appell an den Staat, die comuna nun nicht »den Launen des Mieters des Gutes Salamálag« der willkürlichen quasi-souveränenen Macht der Hacienda auszusetzen. (MAG, Sección Comunas, Rumiquincha, o.J.) 6 Leider lässt sich aus den Quellen nicht rekonstruieren, wie der Konflikt um die Comuna Rumiquincha ausging. Doch sind keine weiteren Hinweise auf staatliche

5 Im Oktober 1941 wurde dann ein neuer Cabildo gewählt, wobei Juan Alaya mit 65 Stimmen als Präsident wiedergewählt wurde. (MAG, Sección Comunas, Rumiquincha, 6.10.1941) 6 Allerdings lagen die Übergriffe auf indigenes Land nicht allein in der Verantwortung der Mieter, vielmehr bemühte sich auch die Zentraluniversität selber, sich indigenes Land anzueignen, wo dies ohne größeren Widerstand möglich war. So hatte Joaquin Toaquiza von Pedro Cayllagau ein Landstück einer der Haciendas gekauft, obwohl letzterer nicht die Landtitel besaß. Angesichts dieser unklaren Rechtslage bat die Junta den Mieter, José León, dass dieser – wenn dies ohne Gewalt möglich sei – von dem Gebiet Besitz zu ergreifen. (UC, Junta Gallo Almeida, 7.10.1931)

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Interventionen oder auf rechtliche Auseinandersetzungen zu finden, so dass zu vermuten ist, dass der Konflikt im informellen Bereich geregelt wurde – ob allerdings zu Gunsten oder zu Ungunsten der comuna, das ist nicht zu klären. Einen weiteren Konfliktherd gab es 1940 mit der Parroquia de Poaló, bei dem es um die Nutzung von Wasser ging, dass für die Bewässerung der Hacienda Salamalag benötigt wurde. Laut Universidad Central hat der Konflikt einen politischen Ursprung: »Dieses Problem entstand auf Grund des Wohlwollens einer der letzten Diktaturen, die es als eine Wiedergutmachung ansah, Salamalag mit einem einfachen Dekret das Wasser wegzunehmen und derart die erworbenen Rechte der Universität zu verletzen und ihr damit, indirekt, einen großen Nachteil zu bringen« (Anales 1940 (309): 47).

Die Universität reagierte mit einem Beschwerdebrief beim Ministerio de Previsión Social y Trabajo. Der in den 1930er und 1940er Jahren zentrale Landkonfliktherd bestand– wie bereits in Hinblick auf den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen geschildert – zwischen der Zentraluniversität und der Comunidad Macas, die in gutem Kontakt zu Tigua, einem weiteren Zentrum indigen-bäuerlicher Organisation in Cotopaxi stand. So tauschten sich dirigentes aus Macas bereits 1930 mit sozialistischen Anwälten aus (UC, Junta Gallo Almeida,Dezember 1930), und der dirigente Agustin Vega, der in der FEI eine bedeutende Position innehatte, war nach seiner Vertreibung aus Tigua nach Macas geflüchtet. In dem im Folgenden dargestellten Landkonflikt ging es um Landstreitigkeiten zwischen der Junta und den an die Haciendas angrenzenden indigenen comunidades. Doch anders als in den geschilderten Fällen, die sich auf den Rechtsweg konzentrierten, wandten die indigenen Bauern die Strategie von Landbesetzungen an, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Für diese Aktionsform war ein hoher Organisationsgrad in den Gemeinden notwendig. Die Konflikte brachen am 6. Dezember 1933 aus, als der Mieter der Haciendas, José R. León, den Leiter der Junta Gallo Almeida, Dr. Antonio Pallares, per Telegramm informierte, dass »Macas Leute haben sich heute der paramos der Hacienda bemächtigt«. (UC, Junta Gallo Almeida, Telegramas, Cartas particulares, León an Antonio Pallares, 6.12.1933) Angesichts dieser Konfliktlage hatte die Junta Gallo Almeida schon in dem am 9. April 1931 mit José Rodolfo León abgeschlossenen Mietvertrag vorsichtshalber eine Passage aufgenommen, die etwaige Entschädigung, die von den Mietern auf Grund etwaiger veränderter Landrechte hätten eingefordert werden können, von vornherein ausschloss (UC, Junta Gallo Almeida, Mietvertrag mit José Rodolfo León, 9.4.1931: 7)

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Darauf gab es Versuche, zu einer neuen Grenzziehung zu kommen. 1938 wandte sich der Presidente del Instituto Estupiñán 7 de Latacunga an den Rektor der Universität mit der Bitte, die Grenzen zwischen den páramos von Guangaje und Salamalag zu klären. Die Universität schickte darauf die von der Procuraduría de la Nación angeforderten Unterlagen zu und verwies zudem auf den offenen Konflikt mit Macas, der ebenfalls die Grenzziehung betraf.(Anales 1938 (304): 1089-90) Doch wurde der Konflikt nicht befriedet. Vielmehr lebte er in einer politischen Konjunktur, die mit der verfassungsgebenden Versammlung von 1944 durch ein Erstarken popularer Kräfte gekennzeichnet war, wieder auf. Am 27.5.1947 wurde im Universitätsrat über einen Antrag von Antonio Choloquinga diskutiert, der als Vertreter der Comunidad Maca forderte, dass die Universität eine Kommission bildet, um das Grenzproblem zwischen der comunidad und der Hacienda Salamalag zu lösen. (UC, Junta Gallo Almeida, 27.5.1947) Aus den Dokumenten wird deutlich, dass es sich hier um die Wiederaufnahme des schwelenden alten Konflikts handelte. 8 An diesem Konflikt wird aber deutlich, wie stark das Lokale mit dem Nationalen – wohl auf Grund der vielfältigen Kommunikationsstrategien und der Eingaben der kommunistischen Anwälte – verknüpft war. Denn sogar der Jefe Superemo de la República, der General Alberto Enríquez Gallo, hatte in seiner kurzen Amtszeit ein Dekret erlassen, in dem die Grenzen zwischen Salamalag und der Comunidad Maca festgelegt wurden. 1938 putschte sich Alberto Enríquez Gallo, der damals General und Verteidigungsminister war, an die Macht, um Manipulationen im Prozess der verfassungsgebenden Versammlung zu unterbinden. 1948 war er Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei Ecuadors. Als Neffe von Alejandro Gallo Almeida, der an der an Saquisilí angrenzenden Hacienda Santa Rosa Grande in Tanicuchí geboren war, kannte er die Region gut. Allerdings ist das Dekret nicht von der Nationalversammlung bestätigt worden, so dass es folgenlos blieb. Jetzt argumentierte die Zentraluniversität jedoch, dass sie das Dekret akzeptieren könnte, um die Grenzstreitigkeiten zu beheben. Und so wurde schließlich eine entsprechende Kommission eingerichtet, damit »sie im Terrain und mit Blick auf die entsprechenden Titel zu einer Übereinkunft kommen, so dass die genannten Grenzen abschliessend bestimmt werden können«. (UC, Actas Universitarias, 27.5.1947) Doch offensichtlich weigerte sich die Comunidad Maca, diese Lösung des Landkonflikts anzunehmen. Auf der Sitzung des Universitätsrats vom 2. Dezember 1947 stand der Konflikt wieder auf der Tagesordnung, und der Rektor informierte in echauffierter Weise über das Problem. Seiner Meinung nach war es die Schuld der sozialistischen Anwälte, dass es noch keine Lösung des Konflikts um die Län-

7 Das Instituto Estupiñán ist ein 1914 gegründetes Altersheim. 8 Die Universität führte die Tatsache, dass es noch keine Einigung gab, auf die Intervention des ehemaligen Anwalts der comunidad zurück.

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dereien der Páramos gab, da diese, unterstützt von Abteilungsleitern aus dem Ministerio de Previsión Social, während des laufenden Gerichtsprozesses interveniert hatten. Wenngleich er auch zugeben musste, dass möglicherweise die Ländereien ungenau und – so möchte ich ergänzen – zu Ungunsten der comunidad vermessen worden waren. (UC, Actas Universitarias, 2.12.1947) 9 Am 20. September des Folgejahres berichteten der Rektor, Julio E. Paredes, und der Vizerektor erneut über den Grenzkonflikt mit Maca Grande, der von der Universität verbissen als »Verteidigung des Erbes der Universität« (UC, Actas Universitarias, 20.9.1948) geführt wurde. Diesmal zeichnete sich eine Lösung ab, so der Vizerektor: »Ich gebe kund, dass wir nach einer langen Diskussion mit den Mitgliedern des Cabildos der genannten Comunidad zu der Übereinkunft gekommen sind, die Kaninchen-Linie als Grenze zu akzeptieren, um damit den Rechtsstreit zu beenden. Zudem müssen die comuneros die Summe von 100.000 Sucres bezahlen« (UC, Actas Universitarias, 20.9.1948).

Dieser Beschluss wurde am Morgen gefasst und sollte noch am gleichen Nachmittag im Ministerium der Previsión Social unterschrieben werden. Doch dort weigerten sich die indigenen Bauern, den Vertrag zu unterzeichnen, da sie einen Teil der »linea cornejo«– ein Kompromiss zwischen den Maximalforderungen beider Seiten – nicht akzeptieren wollten. (UC, Actas Universitarias, 20.9.1948) In einem zweiten Anlauf wurde dann der Vorschlag der Comunidad Maca zur Grenzziehung akzeptiert. Damit verlor die Zentraluniversität 150 bis 200 ha Land in den Páramos. Begründet wurde dieses Zugeständnis u.a. damit, dass es sich um Ländereien im Páramo auf 4.000 m Höhe handelte, also um schlechte Böden, deren Preis pro Hektar bei nicht mehr als 50 bis 60 Sucres lag. Auch war die bäuerlichindigene Strategie der Landbesetzung erfolgreich, denn der Vizerektor betonte, dass eine Rückeroberung des Gebietes nur gewaltsam möglich gewesen wäre. Zudem wurde das Gebiet auch von comuneros aus Tigua beansprucht, was den Konflikt verkomplizierte. Diese Sorge war nicht unbegründet, denn im Februar erreichte den Universitätsrat ein Antrag der Kooperative aus Tigua, bei der es um Grenzstreitigkeiten mit der Hacienda Salamalag ging. (UC, Actas Universitarias, 22.2.1949) Wichtig war der Zentraluniversität, dass die Wasserrechte der aus den Páramos stammenden Quellen in ihrem Besitz verblieben, da dieses Wasser zur Bewässerung der Hacienda Salamalag benötigt wurde. Die comunidad musste für die Ländereien 102.000 Sucres bezahlen, die über eine Laufzeit von sechs Jahren hinweg abbezahlt werden sollten. Wenn nun der Preis pro Hektar laut Schätzung bei ca. 50

9 Durch den Konflikt um die Landnutzung ergaben sich auch Auseinandersetzungen zwischen der Zentraluniversität und dem Mieter der Hacienda, José Maria Aguirre.

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Sucres lag und 200 ha abgetreten wurden, so wird deutlich, dass die Zentraluniversität durchaus marktkonforme Preise verlangt hatte. Diese Übereinkunft wurde unter Beisein von Vertretern des Ministeriums de Previsión Social unterzeichnet, und der Vizerektor konnte das Ende eines Rechtsstreits verkünden, der zu der Zeit schon ungefähr 80 Jahre andauerte und inzwischen Gerichtsakten von mehr als 2.500 Seiten angehäuft hatte. Entsprechend begrüßte der Universitätsrat »dass die Übereinkunft den lästigen Rechtsstreit beigelegt hat und damit verhindern wird, dass wir weitere Probleme mit den Indigenen von Macas oder sogar den Mietern der Hacienda Salamalag haben werden.«

Der Bericht in den Universitätsakten schließt mit verschiedenen Applausbekundungen der Mitglieder des Rates sowie mit dem Wunsch, auch der breiteren Öffentlichkeit über die Presse (UC, Actas Universitarias, 20.9.1948) Aus den Bilanzen der Universität geht hervor, dass die indigene Comunidad Maca Grande die Schulden fristgerecht abbezahlte. Die Grenzlinie wurde nach notarieller Beglaubigung direkt nach Vertragsabschluss fixiert und durch einen Grenzgraben, der wohl auch zur Bewässerung diente und der von der indigenen comunidad errichtet werden musste, von der Karte in das Gebiet umgesetzt. 10 (UC, Actas Universitarias, 16.1.1951) Wie im vorangegangen Konfliktfall der Comunidad Maca Grande beschrieben, war es für die indigenen comunidades durchaus eine Option, Land von der Hacienda zu kaufen. 11 So taten sich Mitte der 1950er Jahre 14 indigene Bauern zusammen, um zirka 140 ha von der Zentraluniversität zu kaufen. Allerdings kam der Kauf vermutlich nicht zustande. Als 1961 die Hacienda Yanaurco verkauft werden sollte, interessierte sich auch eine Gruppe indigener Bauern – vermittelt über einen Herrn Napoleon Gónzalez – für den Kauf. (UC, Actas Universitarias, 26.9.1961) Dann trat mit Amador Miño – seit 1957 zusammen mit Alberto Rojas Mieter der Haciendas

10 Der von der Comunidad Maca Grande gebaute Bewässerungsgraben wurde ohne Beanstandung von dem Ingenieur Jorge Albornoz Bustamante für die Zentraluniversität abgenommen. (UC, Actas del Congreso Universitario 22.2.1949) In diesem Dokument ist auch eine detaillierte Beschreibung der Grenzziehung zu finden. 11 In seltenen Fällen verpachtete die Zentraluniversität auch Land an indigene Bauern. Der Dekan der Landwirtschaftlichen Fakultät schlug dem Universitätsrat am 4. Juni 1954 vor, einen Mietvertrag für Ländereien der Hacienda Salamalag mit den Arbeitern der Hacienda abzuschließen. Diese Ländereien sollten als Weideland genutzt werden. (UC, Actas del Congreso Universitario, 4.6.1954) Auf die indigene Herkunft wurde in diesem Dokument nicht verwiesen, stattdessen wird der Klassenstatus »trabajadores« verwendet.

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Chalua und Yanaurco – ein neuer, mestizischer Interessent auf. Doch die indigenen Bauern reagierten prompt und erklärten, die Hacienda zu den gleichen Bedingungen wie Miño kaufen zu wollen. Angesichts dieser Entscheidungslage beschloss der Universitätsrat, die Hacienda vorzugsweise an die indigenen Bauern zu verkaufen. (UC, Actas Universitarias, 17.10.1961) Nur wenn es nicht zur Transaktion mit der comunidad kommen sollte, sollte an Miño verkauft werden. 1962 wurde die Hacienda Yanaurco trotzdem an Miño verkauft, was allerdings auch universitätsinterne Debatten provozierte, da der Hergang des Kaufes sich als dubios darstellte, Miño war mit dem damaligen Rektor der Zentraluniversität verwandt. In diesem Konflikt war auch wieder der sozialistische Rechtsanwalt Gonzalo Oleas beteiligt, der bereits 1939 die Comuna Rumiquincha vertreten hatte. Er vertrat das Anliegen der Indigenen aus Yanaurco, die argumentierten, dass Teile des Landes gar nicht zur Hacienda Yanaurco, sondern zu Chalua gehörten, und entsprechend auch nicht an Miño verkauft werden konnten. Diesem Anliegen wurde stattgegeben und die betreffenden Ländereien wurden aus dem Kaufvertrag genommen. (Becker 2011a: 260) Doch auch hiermit war der Konflikt um den Landverkauf nicht beendet. Einige Stimmen plädierten im November 1963 im Universitätsrat dafür, den Kaufvertrag rückgängig zu machen. (UC, Actas Universitarias, 19.11.1963) Danach kam es zu einer turbulenten Diskussion, während der der Universitätsrat mal die direkte Verwaltung der Hacienda (UC, Actas Universitarias, 8.9.1964), mal deren Verkauf an die Bauern beschloss, bis schließlich im Juni der Mietvertrag mit Miño für nichtig erklärt wurde (UC, Actas Universitarias, 25.6.1968) und die Hacienda Yanaurco verkauft werden sollte. Offensichtlich stellten sich jedoch weitere Schwierigkeiten beim Verkauf ein, so dass die Hacienda im Besitz der Zentraluniversität verblieb. 12 Diese Ausführungen machen deutlich, dass die Zentraluniversität bis Mitte der 1960er Jahre hinein allein aus wirtschaftlichen Gründen agierte und Landverkäufe an die indigenen Gemeinschaften nur unter Marktbedingungen in Erwägung zog. Letztlich war somit allein der Verkauf von Land an die Gemeinde Maca Grande die einzige größere Transaktion von Land der Haciendas der Zentraluniversität mit indigenen Gemeinschaften oder indigenen Einzelpersonen. Als diese comunidad dann im Zuge eines zugespitzten Landkonfliktes die Haciendas Salamalag und Chalua kaufen wollte, optierte der Universitätsrat dafür, die Haciendas öffentlich zu versteigern. (UC, Actas Universitarias, 4.6.1963) Doch auch die comunidad hatte sich neu entschieden. Sie verwarf die Strategie des Landkaufs und setzte – wie im folgenden Kapitel ausgearbeitet wird – auf die direkte Aktion der Besetzung der Hacienda.

12 Im Juni 1962 versuchte Miño dann nochmals, für 70.000 Sucres das Gebiet Llamahuasi der Hacienda Chalua zu kaufen und blieb hierbei ebenfalls erfolglos.

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D IREKTE AKTION – »L A T OMA DE G UANGAJE « Eines der herausragenden Ereignisse im indigen-bäuerlichen Kampf gegen die Hacienda in Cotopaxi war zweifelsohne die 1960 beginnende Besetzung der Haciendas Salamalag Chico/Guangaje und La Provincia. Dies ist einer der wenigen bekannten Fälle, in denen es den Bauern in Ecuador gelang, vor Beginn der Agrarreform eine Hacienda dauerhaft zu besetzen und eine Agrarreform »von unten« durchzuführen. 13 Wie im vorangegangenen Kapitel herausgearbeitet, gab es in dieser Region eine bis auf die frühen 1930er Jahre zurückreichende Erfahrung, in Allianzen mit sozialistischen Anwälten gegen die Hacienda zu kämpfen. Die hier erfolgten Politisierungsprozesse mussten sich im kollektiven Gedächtnis verankert und Mitte der 1950er Jahre zu weiteren Konflikten geführt haben. 14 Diese führten soweit, dass die Mieter der Haciendas, Humberto und Marcelo Dueñas, 1956 versuchten, den Mietvertrag aufzulösen, und – als dies scheiterte – Anfang 1957 von der Zentraluniversität die Erlaubnis erhielten, die Hacienda an Andreas Rührig unter zu vermieten. Auch unter Rührig ging der Kampf der Landarbeiter um die Anerkennung und Achtung der Arbeitsrechte weiter. Im März 1959 trug der Anwalt der indigenen Bauern, Doktor Rivadeneyra (möglicherweise handelt es sich um den Kommunisten Jorge Rivedeneyra), einen Bericht zur Verletzung der Arbeitsrechte in den Haciendas la Provincia und Guangaje vor. (UC, Actas del Congreso Universitario, 10.3.1959) Im Juni des Jahres reagierte die Universität und verabschiedete, dass a) die Mieter die Arbeiter nicht ohne Erlaubnis der Universität entlassen können, b) die Universität über die Landwirtschaftliche Fakultät die Arbeitsbedingungen überwachen würde, c) im Falle der Rente die Universität ein Stück Land bereitstellen würde, und, d) die Mieter nicht die Anzahl der huasipungeros erhöhen dürften. (UC, Actas del Congreso Universitario, 16.6.1959) Zudem wurde eine – u.a mit den Dekanen der Landwirtschaftlichen und Rechtswissenschaftlichen Fakultät hochrangig besetzte – Kommission gebildet, um die Situation bezüglich der Arbeitsrechte zu lösen. Die Kommission hörte sich noch im Juli 1960 die Darstellungen von Andreas Rührig und dessen Anwalt Dr. Gonzalo Cordero Crespo einerseits und der indigenen Landarbeiter und deren Verteidiger Dr. Rivadeneira andererseits an (UC, Actas del Congreso Universitario, 12.7.1960), was dazu führte, dass Rührig im Oktober 1960 vor dem Universitätsrat vorstellig wurde. Zusammen mit seinen Vertei-

13 Im November 1966 kam es zu einer Landnahme in Colta, Chimborazo, und im Oktober 1966 besetzten mehr als tausend Indigene aus Cayambe mehrere Haciendas der Region. (Becker 2008: 141) 14 Dokumentiert ist eine Beschwerde der peones von Salamalag gegen Marcelo Dueñas. (UC, Actas del Congreso Universitario, 25.3.1955)

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digern Dr. Camilo Mena und Dr. Gonzalo Cordero berichtete er über die Probleme mit den Arbeitern, 15 woraufhin beschlossen wurde, dass der Universitätsrat eine Ortsbegehung in La Provincia und Guangaje machen sollte. (UC, Actas del Congreso Universitario, 11.10.1960) Vermutlich kam es bei dieser Begehung zu Zwischenfällen mit den indigenen Bauern, so dass 1961 eine weitere Begehung wegen der gefährlichen Sicherheitslage nicht unternommen werden konnte. Ende des Monats Oktober diskutierte der Universitätsrat dann erneut über die arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen in den Haciendas, in denen das Ausmaß der Krise deutlich wurde. Denn hier wurde vom Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und von Dr. Fabian Jaramillo vorgeschlagen, einen Brief an den Präsidenten der Republik zu verfassen, in dem vorgeschlagen werden sollte, die Verantwortung für die Haciendas von der Zentraluniversität auf die Regierung zu übertragen, damit diese eine Agrarreform auf den Gütern durchführen könnte. (UC, Actas del Congreso Universitario, 25.10.1960) In dieser konfliktiven Phase kam 1959 mit Celso Fiallo ein junger Kommunist, der Mitglied der Comisión Campesina der Kommunistischen Partei Ecuadors war, nach Salamalag Chico, um dort zu agitieren. Zuvor war er für kurze Zeit in Tigua, einem der damaligen bekannten Knotenpunkte im Netzwerk der FEI, gewesen, wo er sich mit dem ›historischen‹ dirigente Agustín Vega angefreundet hatte. (Interview, Celso Fiallo, 16.6.2006) In dieser Phase nahmen die Konflikte zu, obwohl für die comunidades wichtige dirigentes wie José Manuel Chugchilan und Andrés Manzano bereits inhaftiert waren. Und es kam zu einem Zusammenstoß zwischen den neu organisierten indigenen Bauern und den Polizeikräften: »Agustín Vega hatte zwei Gewehre, und er lieh mir eins davon. Das war ein altes Gewehr, ein tschechischer Mauser aus der Zeit der liberalen Revolution. 17 Milimeter, mit riesengroßen Kugeln. Ich lief also mit diesem Gewehr und 10 Kugeln in der Tasche herum, als 10 Polizisten in einer 350 (Pickup Ford F-350, O.K.) ankamen und in Salamalag eindringen wollten. Sie wollten ausnutzen, dass die dirigentes inhaftiert waren. Nun da nahm ich, mit einer guten Zielfertigkeit und voller Verantwortungsbewusstsein, nicht kriminell, das Gewehr und jagte ihnen eine Kugel an den Ohren vorbei, knapp über dem Kopf. Und da ein Gewehrschuss in den Höhen des Paramos wie ein Kanonenschuss klingt – denn da gibt es nichts, was den Klang dämpft - hallte er vom Boden wider und ergab einen Riesenknall »booom«. Die Kugeln müssen auch über ihren Köpfen gepfiffen haben, denn sie drehten sich auf der Stelle um und flohen erschrocken und kamen niemals wieder. Und die ganze Sache konsolidierte sich.

15 Ende Dezember wurde eine Anfrage der C.T.E., eine Delegation der Landarbeiter in der Universität zu empfangen, positiv beschieden. (UC, Actas del Congreso Universitario, 20.12.1960)

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Und danach kamen endlich auch die dirigentes wieder frei« (Interview, Celso Fiallo, 16.6.2006) .

Nach diesem massiven Konflikt gelang es wohl Andreas Rührig, die Hacienda La Provincia zurückzuerobern. Dennoch gab es Mietausfälle, so dass Rührig im Dezember 1960 und Januar 1961 Mietnachlässe für Straßenbaumaßnahmen in La Provincia und Guangaje heraushandeln konnte (UC, Actas del Congreso Universitario, 24.1.1961). Doch Salamalag Chico/Guangaje verblieb von nun an auch ohne formelle Agrarreform in den Händen der indigenen Bauern. Diese Situation war der Zentraluniversität ab Mitte 1961 bewusst. In diesem Sinne gab der Rektor der Universität in der Sitzung des Universitätsrats vom 25. Juli 1961 bekannt: »Der Herr Rektor informiert, dass der Herr Rührig heute Nachmittag im Rektorat war, um über das Problem, das die Hacienda Gunagaje mit einer Gruppe der Arbeiter hat, zu reden. Er wies darauf hin, dass die Bauern in dieser Hacienda die Oberfläche ihrer huasipungos verdoppelt hätten« (UC, Actas del Congreso Universitario, 25.7.1961).

Die Idee des Rektors, eine Kommission nach Guangaje zu schicken, um die Probleme selber in Augenschein nehmen zu können, wurde vom Universitätsrat verworfen, da die Sicherheit der Reisenden nicht gewährleistet werden könne. (UC, Actas del Congreso Universitario, 25.7.1961) In der Konfliktbewältigung verhielt sich die Universität insofern ambivalent, als dass sie den Mieter zu Zahlungen drängte, ihn andererseits aber auch an die Einhaltung der Gesetze und der 1960 ausgearbeiteten Richtlinien ermahnte: »Der Mieter hat sich verpflichtet, die Stabilität der gegenwärtigen huasipungeros, sowohl in Hinblick auf die Arbeit als auch in Hinblick auf deren huasipungos, zu garantieren, sofern diese ihre Verpflichtungen als Arbeiter gemäß des Arbeitsrechts erfüllen« (UC, Actas del Congreso Universitario, 7.2.1961).

Die Universität versuchte, die Probleme also in üblicher Manier über die Mieter zu lösen und setzte auf die Einhaltung der Verträge und – in Hinblick auf die indigenen Bauern – der Gesetze. Doch diese Manöver konnten kaum verschleiern, dass die Zentraluniversität die Kontrolle über die Hacienda verloren hatte. Indessen spitzten sich innerhalb des Gebiets der Hacienda die Konflikte zwischen Rührig und den indigenen Bauern weiter zu. Jenseits der rechtlichen Kämpfe um Land und Arbeitsrechte, wie sie in den Archiven zu finden sind, werfen die Zeitzeugenberichte einen höchst aufschlussreichen Einblick in die lokale kulturpolitische Rahmung der Konflikte. So erzählte Celso Fiallo, wie der Kampf gegen die Hacienda auch im spirituellen Raum des Schamanismus ausgetragen wurde. In der translokalen Organisation des Raums nach dem Verdikt der Nutzung einer maxima-

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len Anzahl ökologischer Stockwerke wurde an den zur Küsten gelegenen Andenabhängen nicht nur Lebensmittel getauscht, sondern auch die dortigen Schamanen aufgesucht. War der Besuch der Schamanen Teil des kulturellen Alltagslebens der Hochlandgemeinden, so griffen sie gerade auch beim Problem der Landkämpfe gegen Andreas Rührig auf die Hilfe der Schamanen zurück. »Da sagten sie mir, compañerito, dieser verdammte Gringo ist so böse, dass wir nach Santo Domingo de Los Colorados gingen, um mit dem Hexer zur sprechen. Und da gab der uns Ayahuasca, und, compañero, wie deutlich wir die Feinde sahen, wie deutlich wir hörten, dass sie uns zu Verbündeten des Gringos machen wollten, wie deutlich wir hörten, was der Gringo mit ihnen besprach. Und dann besprachen wir mit dem Hexer über die Schlechtigkeit dieses Gringos. Da sagte uns der Hexer ›Dann gibt es nur eine Lösung mit diesem Gringo, und das ist ihn zu töten‹ «Und wie stellen wir das an, taitico (Großväterchen, O.K.)? Also erzählte er, wie er ihm in einem kleinem, schlanken Holzröhrchen eine kleine Menge Ayahuasca abfüllte, sie ihm gab und ihm sagte du wirst sehen, und da blickte der Hexer von Santo Domingo de los Colorados aus in die ganze Provinz und sagte »du wirst sehen, dort ist das Haus der Hacienda, nicht wahr? Und hier fährt der Gringo gerne mit dem Traktor entlang, nicht wahr. Ja, so ist es taitico, dort fährt er immer mit seinem Traktor entlang. Du wirst also sehen, du wirst auf diese Anhöhe, diesen Berg, der sich über dem Haus der Hacienda erhebt, steigen, zu dieser bestimmten Stunde. Und ich werde zur gleichen Stunde die Ayahuasca zu mir nehmen, und du wirst auch die Ayahuasca nehmen, die ich dir gegeben habe. Zu zweit werden wir ihn dann töten. Und der dirigente fuhr fort Ich ging also dorthin und setzte mich zur angegebenen Stunde auf den Berg. Aber ich, als schlechter Christ, sage mir, ich hab Angst. Und nehme besser nicht das Ayahuasca. Aber schau compañero, was dann passierte. Da tauchte ein Traktor mit Raupen auf, wie ein Panzer. Er fuhr auf der Ebene, doch dann kippte er plötzlich um. Technisch war das unmöglich. Wie kann ein Traktor mit Raupenantrieb so umfallen? Aber der Gringo schaffte es, abzuspringen. Durch meine Schuld, compañero, ich schlechter Christ habe das Ayahuasca nicht genommen, so wie es der taitico gesagt hat. Und so rettete sich dieser Gringo« (Interview, Celso Fiallo, 16.6.2006).

Dabei waren sich die indigenen Bauern – wohl vermittelt über den mestizischen Intellektuellen Celso Fiallo – durchaus bewusst, dass es sich bei Rührig um einen Nationalsozialisten handelte, der in Rumänien aktiv gewesen war. Allerdings schien die NS-Vergangenheit für die Dynamik der Landkonflikte – auch im Verhältnis zur Zentraluniversität – sonst nicht von Bedeutung gewesen zu sein. Bemerkenswert ist, dass der Hacienda-Konflikt auch auf die Ebene eines schamanischen Kampfes zwischen Rührig und den Indigenen gehoben wurde, wobei Rührig auch übernatürliche Eigenschaften zugesprochen wurden. »Schau, hier gibt es also auch eine Dualität, denn auch die Hacendados griffen auf die Hexer zurück. Und auch Rührig hatte seinen eigenen indigenen Hexer, wie die in Transsylvanien,

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wo er herkommt. Er versuchte sich also mit den seinen zu verteidigen, und die anderen stellten die mächtigsten Schamanen auf. Es gab also auch einen Schamanen-Krieg zwischen Rührig und den Indios« (Interview, Celso Fiallo, 16.6.2006).

Es sind Beispiele wie diese, die deutlich machen, inwiefern der Kontakt an dieser Schnittstelle post-kolonialer Herrschaft nicht nur die indigenen Bauer veränderte, sondern wie auch urbane mestizische Sozialisten und Kommunisten, die mit den indigenen Gemeinden in direktem Kontakt standen, Transkulturationsprozessen unterlagen. Dabei ist gerade im Fall der ecuadorianischen indigen-bäuerlichen Organisationsprozesse seit den 1920er Jahren eine Öffnung hin zum Indigenen zu erkennen, die sich von westlichen Vorstellungen des Klassenkampfes deutlich abhebt. Zu denken sind an die auf Kichwa und Spanisch verfassten bilingualen Aufrufe und Publikationen sowie die Organisation von Ausstellungen indigener Kunst in Quito. Parallel zu diesen direkten Aktionen im Hochland von Cotopaxi wurde auch von Quito der Informationsfluss an dieser Schnittstelle intensiviert. So nahmen die Klagen, die von der FEI und dem Gewerkschaftsdachverband CTE an die Universität eingereicht wurden, zu. 1962 klagte die FEI Andreas Rührig mehrfach beim Universitätsrat an (UC, Actas del Congreso Universitario, 8.5.1962, 31.7.1962), woraufhin letzterer die Empfehlung aussprach, die Haciendas La Provincia und Guangaje an die indigenen Kleinbauern zu verkaufen. Dieser Präferenzverkauf an die indigenen Gemeinden war offensichtlich nur der politischen Mobilisierung und vor allem der Landbesetzung der indigenen Bauern geschuldet, denn bei der Beratung über das Kaufangebot für Salamalag und Chalua durch die Comunidad Maca Grande dachte die Universität noch daran, die Haciendas öffentlich an den Meistbietenden zu versteigern. (UC, Actas del Congreso Universitario, 4.6.1963) Doch auch unter den politisch mobilisierten indigenen Bauern rief die Frage des Kaufs der Hacienda politische Konflikte hervor. Die Aktionen der FEI zeichneten sich durchweg durch Gesetzestreue und die stets präferierte Option des legalen Wegs aus, wozu durchaus auch die Strategie des Landkaufs gehörte. Direkte Aktionen außerhalb des legalen Rahmens wie dauerhafte Landbesetzungen gehörten nicht zum politischen Repertoire der FEI. Doch – gerade auch angesichts der Erfahrungen in Guangaje – wurden diese Formen des politischen Kampfes von der durch die Kommunistische Partei Ecuadors eingesetzten Comisión Campesina befürwortet. Ideologisch beruhte die Wahl des unterschiedlichen Weges zur Revolution auf unterschiedlichen marxistischen Strömungen. Während die PCE – die anfangs noch ein recht breites Sammelbecken verschiedener linker Kräfte war – auf den sowjetischen, von der Dritten Internationale bestimmten Weg setzte, favorisierte die Comisión Campesina zunehmend maoistische Positionen. Diese Differenzen führten letztlich zum Bruch der Comisión Campesina mit der PCE, wobei Celso Fiallo, der zu der Zeit in Guangaje und La Provincia agitierte, einer der Wortführer des maoistischen Flügels war.

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Vor diesem Hintergrund war die Angst der FEI, dass sich die über lange Jahre hergestellten Bindungen der bäuerlichen Gewerkschaften der Region nun lösen könnten, verständlich/berechtigt. Deshalb ermahnte die FEI die indigenen Bauern anderer Haciendas der Zentraluniversität, nicht dem Beispiel der Landbesetzung von Guangaje zu folgen. Entsprechend schrieb der Generalsekretär der FEI, Modesto Rivera, am 26. November 1960 an Rafael Salazar, seinerzeit dirigente in Chalua: »Unsere Federación arbeitet weiter wie immer, sie nimmt nicht die Rolle eines Betrügers ein, sie bietet keine Übergabe von Landtiteln an, keine Landstücke an, denn unsere Federación hat keine Haciendas, die sie unter den Indigenen verteilen kann. Diese Angebote können nur gewissenlose Leute machen, Leute die die Organisationen zerstören wollen« 16

Unter den indigenen dirigentes stellte sich nun wohl kaum die Frage nach der ideologischen Orientierung, wohl aber mussten sie sich zwischen der Strategie des Landkaufs, für den die Universität bereits Verhandlungsbereitschaft signalisiert hatte, und der Strategie der Landbesetzung entscheiden. Erschwert wurde die Entscheidung dadurch, dass die sich antiimperialistisch gebende, gewählte Regierung unter Carlos Julio Arosemena am 11. Juli 1963 durch eine Militärjunta abgesetzt wurde. Daraufhin mussten viele dirigentes in den Untergrund abtauchen, und auch die Möglichkeit einer dauerhaften Landbesetzung gestaltete sich in dieser politischen Kontextstruktur schwieriger. Dennoch optierten die dirigentes für den Bruch mit der Strategie der FEI und wählten den Weg der Landbesetzung und direkten Aneignung der Hacienda, wobei das Land unter den indigenen Bauern aufgeteilt wurde, also den Weg einer Agrarreform, die einer legalen Grundlage entbehrte. Hervorzuheben ist, dass die indigenen Bauern der Hacienda Guangaje ihren Kampf gegen die Hacienda in einem übergeordneten Rahmen sahen. Auch um die eigenen Landnahmen abzusichern, versuchten sie, weitere comunidades der Region von der Notwendigkeit direkter Aktionen gegen die Hacienda zu überzeugen. »Also das war schon im Gange, und die Leute betrachteten genau, was passierte. […] Aber wir konnten es nicht dabei belassen. Denn, so sagte ich dem taita José Manuel, wenn wir nicht weitermachen, nehmen sie euch, die ihr allein seid, das Land weg. Wenn die anderen Haciendas nicht genommen werden, nehmen sie das Land weg. Also müssen wir alles daran setzen, dass die anderen auch zur Landnahme schreiten. [...] Die Besetzung von Zumbahua war berühmt, die Fotos aus Zumbahua, wie sie kamen und sich die Hacienda nahmen, mit so vielen Pferden, zu Fuß. Aber ich glaube, dass dies der einzige Ort im ecuadorianischen Hochland war, in dem das passierte. In der Provinz Cotopaxi.« (Interview, Celso Fiallo, 16.6.2006)

16 Brief von Modesto Rivera an Rafael Salazar, 26.11.1960, Privatarchiv von Rafael Salazar.

Dekolonialisierung und politische Kommunikation zwischen Klasse und Ethnizität

Bereits zum Ende der Kolonialzeit hatte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert die kreolische Konjunktur der Kolonialisierung, die auf der Privatisierung der Administration indigener Bevölkerung mittels des Hacienda-Dispositivs beruhte, gegenüber einer kolonialstaatlichen Konjunktur der Kolonialisierung durchgesetzt. Es entstand eine quasi-souveräne Macht der Hacienda, die durch den Wegfall kolonialstaatlicher Regulation noch verstärkt wurde. Das Gesetz trat hier nicht durch den Staat auf, sondern durch Personen, die »move with impunity between appeals to the form of law and forms of extrajudicial practice that are clearly construed as lying outside, or prior to, the state.« (Hansen und Stepputat 2001: 14) Doch war auch die lokale Macht der Hacienda nicht unangefochten. Denn obwohl es im 19. Jahrhundert – ausgenommen der eliten-internen Konflikte und dem Aufstieg des Liberalismus, der in der liberalen Revolution von 1895 gipfelte – kaum nennenswerte Konflikte um die Hacienda gab, so kann dennoch eine Transkulturation der Hacienda von unten festgestellt werden. Die indigenen Gemeinschaften forderten von den hacendados Mindeststandards der Reziprozität und Redistribution, die auf einem von langer Dauer geprägten System andiner moralischer Ökonomie basierten. Entsprechend regierte die post-koloniale ecuadorianische Hacienda die indigene Bevölkerung durch ein paternalistisches System der »ungleichgewichtigen Reziprozität«. So existierten zwar begrenzte Muster der Umverteilung von den gamonales zu den indigenen Bauern, vor allem bei religiösen, oftmals synkretistischen Feiern. Damit wurde ein »moralischer Konsens« im interkulturellen Zusammenleben hergestellt, der größtenteils auch von den beherrschten indigenen Bauern akzeptiert wurde. So weisen auch in Saquisilí die Führungspersönlichkeiten aus den indigenen Gemeinden darauf hin, dass der letzte traditionale patrón, Alejandro Gallo Almeida, im Allgemeinen die Regeln der »ungleichen Reziprozität« erfüllte und das kulturell-religiöse Leben mit der Finanzierung von Feiern förderte. Die Macht der lokalen mestizischen Autoritäten, vor allem die der hacendados, basierte auf Permutationen traditionaler Autorität durch den Kontakt mit dem Staat.

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(Hansen und Stepputat 2001: 14) In Ecuador blieb diese quasi-souveräne Macht jedoch nicht auf jene lokalen Bereiche beschränkt, die als Randzonen von Staatlichkeit bezeichnet werden können. Vielmehr erfolgte eine Verdoppelung der Hacienda auf der nationalen Ebene. Im Hacienda-Staat waren die Großgrundbesitzer die hegemoniale Elite, die die staatliche Politik bestimmte, und teilweise – vor allem in der Amtszeit von Gabriel García Moreno – wurden Praktiken der Hacienda in den Staatsapparat überführt. Dies fand seinen Ausdruck auch insofern in der politischen Kultur, als dass der Paternalismus der Hacienda eine Grundlage für das konservative Modell des »nation-building« war. (Larson 2004: 111-112) Die indigene Bevölkerung hingegen verschwand aus dem Horizont der Nation. Weder in den Gesetzen noch in der Geschichtsschreibung hatte sie ihren Platz. Eine Vermittlung indigener Interessen in den politischen Raum erfolgte nur punktuell über lokale quasisouveräne Machthaber wie mestizische caudillos, hacendados und Schreiber (tinterillos), vorherrschend war die »subalterne Sprachlosigkeit«. Erste Fissuren im Hacienda-Staat gab es im Zuge der liberalen Revolution. Mit der Verstaatlichung von kirchlichem Grundbesitz und neuen Arbeitsgesetzgebungen veränderte sich die politische Kontextstruktur derart, dass nun wieder Möglichkeiten zur politischen Kommunikation zwischen Staat und indigenen Gemeinden geschaffen wurden. Doch erst in den 1930er Jahren in Folge der Wirtschaftskrise trat mit einer emergenten sozialistischen und später auch kommunistischen Bewegung ein neuer Akteur auf, der es vermochte in Allianz mit den indigenen Gemeinden die Hacienda und die dortigen Arbeitsverhältnisse zu politisieren und eine Konjunktur der Dekolonialisierung in Gang zu setzen. Für diese sich nun etablierende Schnittstelle zwischen Sozialisten und Kommunisten, Staat und indigenen Gemeinschaften sollen im Folgenden die Aspekte der neuen politischen Kommunikation, des Nation-Building und der Ethnogenesis betrachtet werden. Die Schnittstelle beruht darauf, dass Kommunikation zwischen unterschiedlichen politischen Gemeinschaften und Akteuren vermittelt über Übersetzungsprozesse hergestellt wird. Auf die Semantiken der neuen, ab den 1930er Jahren etablierten Schnittstellen politischer Kommunikation zwischen Staat und indigenen Gemeinschaften wird detailliert im Kapitel »Comunas – Zwischen staatlicher Kontrolle und indigener Autonomie« eingegangen. Zentral ist hierbei, dass die indigenen Gemeinschaften nicht als isolierte, abgeschiedene Gebiete betrachtetet werden können, sondern dass sie bereits in den 1930er Jahren wohlinformiert über nationale politische Prozesse waren und diese auch für sich nutzen konnten. (Becker 2007b) Für die Entstehung der Schnittstelle hingegen ist es zunächst zentral, auf das Auftreten neuer Akteure der politischen Kommunikation hinzuweisen. Hauptansprechpartner für die indigenen Gemeinschaften waren dabei zunächst sozialistische mestizische Anwälte wie Gonzalo Oleas sowie dann nach der Gründung der FEI deren Aktivisten und Anwälte wie Ricardo Paredes, Héctor Reyes oder Modesto Rivera. Die Bewertung der Interaktionen zwischen indigenen ländli-

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chen Gemeinschaften und sozialistischen und kommunistischen urbanen Intellektuellen ist umstritten und ambivalent. Andrés Guerrero argumentiert, dass die Indigenen auf mestizische Mittelsmänner angewiesen waren, wenn sie sich an staatliche Behörden wenden wollten, da sie an den Rändern des Staates lebten und nicht den privilegierten Bürgerstatus genossen. In diesem Sinne nahmen die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen mit ihren Anwälten nur diesen Ort des Vermittelns ein, was die Indigenen zu Marionetten mache. (Guerrero 2000) Verbindungen zwischen sozialistischen Bewegungen und indigenen Gemeinschaften entstanden vor allem dort, wo die alltagsweltlichen Erfahrungen von klassenspezifischen Ausbeutungsstrukturen geprägt waren, das heißt in Ecuador bei Landarbeitern und huasipungeros auf den Haciendas. Gegen die Manipulationsthese argumentiert Marc Becker am Beispiel des nördlichen Hochlandes in Ecuador, dass sich in den 1920er Jahren auf den Haciendas in Cayambe bäuerliche Gewerkschaften unabhängig und parallel zum urbanen Organisationsprozess herausbildeten, (Becker 1998) und dass es erst in den 1930er Jahren zu weiterführenden Allianzen und einer verstärkten Agitation kam, in deren Folge die Arbeitsrechte und die Landfrage auf die nationale Agenda gesetzt werden konnten. Auch in Saquisilí kommt nicht nur in den Erzählungen der indigenen Bauern zum Ausdruck, wie sehr diese selber die aktive Rolle in den Kämpfen übernommen hatten. Auch in den Briefen der Mieter und Großgrundbesitzer kommt dieser aktive Anteil der Indigenen schon in den 1930er Jahren zum Ausdruck: »sie laufen herum auf der Jagd nach Anwälten, damit diese sie verteidigen. Und diese können die Situation gut ausnutzen und sie in irgendeinen gefährlichen Aufstand mit fatalen Konsequenzen schicken« (UC, Junta Gallo Almeida, Telegramm, 11.10.1930).

In diesem Sinne ist die Verbindung zur sozialistischen Bewegung nicht als Kooptation der Indigenen durch linke Manipulatoren zu verstehen, sondern als interethnische Allianz, die eine Konjunktur der Dekolonialisierung einleitete. Die linken Aktivisten waren wichtig für die Übersetzung der Anliegen der Indigenen in den mestizisch geprägten, nationalen Raum politischer Kommunikation. Dabei setzten sie sich allerdings auch Transkulturationsprozessen aus, so dass teilweise von einer »Indigenisierung des Marxismus« gesprochen werden kann. Denn es war integraler Bestandteil dieser Akteure, auch am Alltagsleben der indigenen comunidades teilzunehmen (vgl. Becker 2007b). Entsprechend wird von den indigenen dirigentes auch immer wieder beschrieben, wie einzelne mestizische Aktivisten – wie hier Celso Fiallo, der in den Landkämpfen zu Beginn der 1960er Jahre in der Region agitierte – in den indigenen Alltag eintauchten:

216 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG »Es gab da auch noch einen anderen, der für die Leute kämpfte. Er kam in die Gemeinden, ohne zu essen, schlief bei den Leuten, in den indigenen Betten voller Flöhe. Das war Celso Fiallo, der immer hungrig war, so kämpfte er« (Interview, Rafael Salazar, 30.4.1965).

In diesem Sinne kann also darauf verwiesen werden, dass die an der Schnittstelle zwischen indigenen Gemeinden und mestizischer Linke etablierte politische Kommunikation keineswegs eingleisig – im Sinne einer Manipulation oder Indoktrination – von Seiten der Linken ausging, sondern beide Parteien über verschiedene Formen der Kommunikation sich wechselseitig beeinflussten. Die konsequente Anrufung von Recht und Staatlichkeit gegen die privatisierte, quasi-souveräne Macht der Hacienda führte zu Reaktionen staatlicher Stellen. Dabei sind diese Reaktionen in Hinblick auf die Fortdauer von Kolonialität vielfach höchst ambivalent zu bewerten, da diese – wie das Ley de Comunas – dazu dienten, die Mobilisierungsmacht der sozialistischen Bewegung und der Gewerkschaften als deren Organisationsform zu begrenzen, gleichzeitig aber ein neues Einfallstor für politische Forderungen der indigenen Gemeinschaften schufen. Eine ähnlich ambivalente Rolle nehmen – wie im folgenden Kapitel gezeigt wird – die staatlichen Institutionen der Agrarreform in den 1960er und 1970er Jahren ein, die ein erhebliches Interventionspotential an den Rändern des Staates hatten, gleichzeitig aber eine mögliche soziale Revolution unterbinden sollten. Die emergenten Mobilisierungsprozesse führten zu einer neuen umfangreichen Kommunikation an den Schnittstellen politischer Kommunikation, woran sich auch die hegemonialen Großgrundbesitzer beteiligten. So informierte der Großgrundbesitzer Alberto Pazmiño, der die sozialistischen cabecillas über einen ihm treuen Indigenen ausspioniert hatte, die Junta Gallo Almeida über die Kommunikation zwischen sozialistisch orientierten Indigenen in Tigua und Maca sowie deren Briefverkehr mit sozialistischen Anwälten. (UC, Junta Gallo Almeida, Brief 16.12.1930) Hier zeigt sich, wie auch die Kommunikation zur Kontrolle indigener Bevölkerung durch das Zusammenspiel von teniente político, Großgrundbesitzer und Mieter erfolgte. In Reaktion darauf fuhren auch Vertreter der Junta Gallo Almeida zusammen mit den »señores Gobernador, Intendente y Agentes de Latacunga« im März 1932 in Mietwagen zu den Haciendas, »um die Güter des Herrn Alejandro Gallo Almeida zu sichern« (UC, Junta Gallo Almeida, Brief 27.4.1932) Dabei waren, wie aus der Kommunikation zwischen teniente político und Großgrundbesitzer hervorgeht, die cabecillas der indigenen comunidades wohl informiert und versuchten, zum Teil durch das Abfangen von Briefen, Informationen zu erhalten bzw. den Informationsfluss zwischen teniente político und den Verwaltern der Haciendas zu unterbrechen. (UC, Junta Gallo Almeida, 16.12.1930) Mit dem Mobilisationsprozess setzte auch ein Prozess der Ethnogenese ein. Die Ethnologin Carola Lentz hatte in ihren Feldstudien in der indigenen Coumunidad Shamanga in der Hochlandprovinz Chimborazo herausgearbeitet, wie sich die Er-

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fahrung und soziale Konstruktion ethnischer Identität mit der Arbeitsmigration an die Küste veränderte. Während in der Herkunftsgemeinde die lokalen Dorfidentitäten den zentralen identitätsbildenden Faktor darstellten, so setzte in der Migration – durch den Rassismus und die Fremdidentifikation als Indigene – ein massiver Prozess ethnischer Selbstidentifikation ein. (Lenz 1994) In ähnlicher Weise setzte auch ab den 1930er Jahren mit dem beginnenden sozialistischen Mobilisierungsprozess ein Prozess der Ethnogenese ein. Zunächst kann festgehalten werden, dass sich die Indigenen durchaus eine sozialistische Identität aneigneten. So berichtete der Großgrundbesitzer Pazmiño: »Heutzutage hört man in der Gemeinde von Macas kein anderes Thema: Wir sind Sozialisten und alles gehört uns.« (UC, Junta Gallo Almeida, Brief 16.12.1930) Dabei überlagerten sich beständig die ethnische und die Klassen-Identität, was auch in der Bildung eines politischen Antagonismus` zum Ausdruck kommt. Oft waren es einzelne Ereignisse der Erfahrung von Ungerechtigkeit oder Misshandlung, durch die der bestehende moralische Konsens von oben aufgebrochen wurde, und die in der Folge dann zum Politikum wurden. In Saquisilí führte beispielsweise die Ermordung eines indigenen Bauern durch die Mieter der Haciendas Ende der 1950er Jahre zu einem erneuten Mobilisierungsprozess. Diese Mobilisierung verband sich dann in den 1960er Jahren mit der Politisierung der Agrarfrage und der Forderung nach einer Agrarreform. Die politische Identität bildete sich dabei nicht nur entlang der durch das koloniale Klassifikationssystem geschaffenen ethnischen Grenze zwischen Indigenen und Weißen bzw. Mestizen, sondern genauer im Kampf der indigenen Bauern gegen die mestizischen Großgrundbesitzer. Das ethnische Klassifikationssystem wurde politisiert: »Wir compañeros aus Chilla Pata Calera, Yanaurco, Provincia, Tigua, Zumbahua, aus Riobamba bis nach Otavalo, Cayambe konnten zusammenhalten, wir wussten, wir sind eine Faust im Kampf« (Interview, Manuel Toapanta, 30.4.2006).

Zentral ist hier zudem, dass die lokale Konfliktsituation – indigene comunidades gegen Hacienda – hier als einen alle Hochlandprovinzen und -regionen umfassenden nationalen Kampf gedeutet wird. Der einzelne Konflikt wird somit »nationalisiert« und zu einem nationalen Kampf, in dem die Indigenen als neuer politischer Kollektivakteur auftreten. Dazu waren – wie in vielen Interviews zum Ausdruck kam – die Treffen in den Büros der FEI und der Austausch mit den – zum Großteil auch indigenen – dirigentes der FEI von zentraler Bedeutung. So berichtet Manuel Toapanta von Treffen mit Dolores Cacuango: »in jener Zeit war Dolores Cacuango dort, die konnte kämpfen, mit ihr haben wir uns besprochen, mit Dolores Cacuango in Quito, die immer rauchte.« (Interview, Manuel Toapanta, 30.4.2006) Und Belisario Cóndor ergänzt: »In Quito gab es den Herrn Modesto Rivera, der war Generalsekretär der Indigenen und da war aus Otavalo Dolores Cacuango.« (Interview,

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Belisario Cóndor, 30.4.2006) In den Zeitzeugnisse gab es keine Zweifel daran, dass die FEI die »organización indígena« war, was keinen Widerspruch zu der Tatsache darstellte, dass hier mestizische Aktivisten wie Ricardo Paredes oder auch Modesto Rivera beteiligt waren. Und auch im historischen Rückblick integriert die CONAIE die FEI als Vorgeschichte in den eigenen Organisationsprozess, wenn sie der FEI zugesteht. »Diese Organisation vereinigte Gewerkschaften, Kooperativen und comunas und machte erstmalig in ihrem Namen eine indigene Vertretung deutlich.« CONAIE 1988: 31) Nachdem also die Indigenen im Zuge der post-kolonialen und liberalen Reformen vollständig aus den rechtlichen Regelungen und dem offiziellen Diskurs verschwunden waren, wurden sie über den sozialistischen bzw. kommunistischen Organisationsprozess wieder zu einem gesamtgesellschaftlich relevanten politischen Akteur. Die klassenspezifische identitätspolitische Positionierung erlaubte – wie Mercedes Prieto ausführt – einen Zugang zum politischen Feld. Während Indigene aus dem politischen System ausgeschlossen waren, konnten Proletarier als Bestandteile der Nation durchaus Zugang und Rechte einfordern. Die klassenbasierte Identifizierung war für Indigene im Rahmen der bestehenden post-kolonialen Anerkennungspolitik ein strategischer Zwischenschritt zur Erlangung der vollständigen Staatsbürgerschaft. (Prieto 2004: 236) Wobei hier darauf verweisen werden muss, dass in dem sozialistischen Mobilisierungszyklus immer auch Elemente ethnischer Identität vermittelt wurden. Schon allein in der Selbstbezeichnung der FEI erfolgt keine Identifikation als Bauer, sondern als »Indio«. Dies verweist auf die Notwendigkeit eines intersektionalen Zugriffes, der sich jenseits der im öffentlichen Diskurs etablierten Dichotomie Klasse versus Ethnie bewegt. (Meyers 1982, León 2007, Becker 2008) Dabei ist »Indio« hier nicht als essentialisierte Gruppe zu begreifen, sondern als eine identitäre Fremdzuweisung in einem kolonialen System ethnischer Klassifikation, worin deren rassistische Zuschreibung nun gewendet wird. Dabei wird Indio – ganz nach dem Motto »black is beautiful« der afroamerikanischen Bewegung – zu einem Kampfbegriff, dessen Bedeutung sich aus den bestehenden rassistischen Zuschreibungen ergibt. Über diese identitätspolitische Umkehrung wird eine der zentralen Grundlagen von Kolonialität, nämlich das rassistische System ethnischer Klassifikation, politisiert. Dieser neue indigene Kollektivakteur wirkte seit den 1930er Jahren maßgeblich auf den Prozess des post-kolonialen State-Building in Ecuador ein. Denn ein zentrales Ziel der De-Kolonialisierungs- und Politisierungsstrategien der sozialistischen Indígena-Bewegung bestand darin, die Hacienda aus dem quasi-souveränen privaten Raum heraus in den öffentlichen staatlichen Raum zu rücken. Der wichtigste Hebel hierzu waren zunächst Aktionen auf den von der Asistencia Pública geführten staatlichen Haciendas, die im Zuge der Verstaatlichung von Kirchenbesitz an den Staat übergingen, dann aber von diesem ohne nachhaltige Veränderungen in

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den Beziehung zu den indigenen Bauern in traditionaler Weise weitergeführt wurden. (Crespi 1968) Gerade in diesen von der öffentlichen Hand geführten Haciendas drängten die indigenen Bauern zunächst vor allem auf die Einhaltung der Arbeitsrechte. In den 1960er Jahren waren es dann auch diese Haciendas, die in den Mittelpunkt der Forderung einer Agrarreform rückten. In den privaten Haciendas hingegen versuchten die indigenen Gemeinschaften vor allem den Staat und sein Recht in den lokalen Raum rund um die Hacienda einzuführen. Ein Instrument war dabei die Gründung von comunas nach dem 1937 erlassenen Ley de Comunas. Die Fragilität von Staatlichkeit gegenüber der Macht der Hacienda zeigt sich im Alltagshandeln der Durchsetzung von staatlich anerkannten Institutionen wie der comuna, wenn sich die indigenen Gemeinschaften und die Staatsvertreter nachts heimlich und vor den Augen der hacendados hinter Büschen versteckt treffen mussten. Der Dirigente Trinidad Toapanta aus Saquisilí erinnert sich: »Ich arbeitete selber daran, eine comuna zu machen. Wir machten nur nachts unsere Sitzungen, versteckt vor den patrones [...] in der Hütte meines Vaters trafen wir uns in der Nacht mit achtzehn arrendatarios, elf huasipungeros, acht yanaperos. Uns half bei diesen geheimen Sitzungen jemand vom Ministerio de Previsión Social. Der Doktor Pepe Sánchez war acht Tage im Haus meines Vaters. Da machten wir die Vermessung von der Loma de Molentenía aus, und wir machten alle Croquis, um die comunidad zu gründen.« (Interview, Trinidad Toapanta, 4.6.2006)

War aber dieser formale Schritt und die Anerkennung erst einmal erfolgten, war eine Schnittstelle politischer Kommunikation mit staatlichen Instanzen wie dem Ministerio de Previsión Social etabliert, die durch einen dauerhaften Austausch gekennzeichnet war. Während meines Gesprächs mit Rafael Salazar, einem der ältesten noch lebenden dirigentes in Saquisilí, unterbrach dieser plötzlich die Unterhaltung, stand auf und kramte eine kleine Plastiktüte mit einigen Dokumenten heraus. Darunter zeigte er mir einen Ausschnitt aus der quiteñer Tageszeitung »El Comercio« vom 25. Juni 1964. Der Ausschnitt zeigt ein Foto, auf dem im Vordergrund Coronel Guillermo Freile Posso, Mitglied der Junta der Militärregierung, und der Anwalt indigener Interessen, Eduardo González Moreno, zu sehen war. Im Hintergrund des Fotos hingegen sind einige der 60 Präsidenten von comunas aus Cotopaxi und Imbabura zu sehen, die Teil der Delegation waren – unter ihnen Rafael Salazar. Die indigene Delegation und ihr Anwalt forderten Land, Bildung und keine weiteren Steuern sowie die Ausarbeitung eines Gesetzes zum Schutz der indigenen Bevölkerung. Ähnliche Versuche, nicht nur mit den untergeordneten staatlichen Instanzen in Kommunikation zu treten, zeigen sich auch in anderen Fällen:

220 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG »José Caillagua war derjenige, der die compañeros zusammenrief und sagte, lass uns unter uns organisieren. Dann sagten wir den patrones, dass sie am Samstag und Sonntag Lohn zahlen müssen und dass wir nicht mehr als vier Tage, von Montag bis Donnerstag, arbeiten dürfen. Die aber sagten nein, wir sollten fünf Tage arbeiten, freitags und samstags den halben Tag. Und wir alle akzeptierten das und gingen weg. In dieser Zeit war der Herr Galo Plaza Präsident und er sagte, rufe alle campesinos zusammen und wir treffen uns in der Schule Juan Montalvo. Der Herr Präsident sprach kichwa und sagte, gut, compañero campesino, ihr müsst arbeiten, wenn sie euch zehn Sucres bezahlen, wenn nicht, dann müsst ihr nicht arbeiten. Wir sagten, hoffentlich, denn bisher bezahlten sie noch zwei Sucres fünfzig, nicht mehr.« (Cesario Cocha, zitiert nach Guarderas 1981: 152)

Dies mag zum Teil mit Verweis auf die vom Populismus geprägte politische Kultur Ecuadors erklärbar sein. Doch wird auch deutlich, wie sehr die Indigenen in dieser Phase schon in Zusammenarbeit mit ihren mestizischen Verbündeten in den nationalen Raum politischer Kommunikation eingedrungen waren.

Die Hacienda als Heterotopie

Ein tiefgreifender Bruch mit der Vorstellung eines Hacienda-Staates ist in dem radikal-liberalen sowie dem sozialistischen und kommunistischen Diskurs an der Jahrhundertwende festzustellen. In Ecuador wurden im Zuge der liberalen Revolution (1895) unter General Eloy Alfaro und dessen anti-klerikaler Politik die Haciendas der Kirche und der Orden konfisziert und in Staatsbesitz überführt – ohne allerdings etwas an den internen Ausbeutungsstrukturen in diesen Haciendas zu verändern. So wurde das System der huasipungaje erst mit der Agrarreform von 1964 abgeschafft. Die indigenen Gemeinschaften reagierten jedoch unverzüglich auf die neuen Gesetze und politischen Diskurse zum Schutz der Arbeitsrechte und zur Protektion der Indigenen. Sie suchten Alliierte, die ihre Anliegen in den Staatsapparat übersetzten, und wirkten über Petitionen, rechtliche Klagen und Delegationen auf die zentralstaatliche Ebene ein, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf den Haciendas zu verbessern. (Baud 2007 zum Ende des 19. Jahrhunderts; Becker und Clark 2007 sowie Kaltmeier 2008 für die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts) Seit den 1940er Jahren waren es besonders die sozialistische und die kommunistische Parteien, die es über ihre Dachverbände wie die einflussreiche Federación Ecuatoriana de Indios (FEI) schafften, die Hacienda in das Zentrum der politischen Debatten zu rücken. (Becker 2008, 1998) Im Rahmen der Phase der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) stand jedoch der Aufbau von nationalen Industrien im Rahmen der Modernisierung der ökonomischen Strukturen im Zentrum politischer Anstrengungen. Die Modernisierung der landwirtschaftlichen Strukturen war zweitrangig. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass gerade in einer Phase, in der die wirtschaftliche Dependenz Ecuadors von Industrieprodukten überwunden werden sollte, nahezu alle lateinamerikanischen Länder keine nationale Nahrungsmittelsouveränität hatten und Agrargüter importieren mussten. (Urquidi 2005: 189197) In den 1960er Jahren setzte im Zuge der weiterführenden Modernisierungsbestrebungen ein tiefgreifender Umbruch im Hacienda-Dispositiv ein. Laut Foucault reagiert ein Dispositiv auf einen Notstand – im 19. Jahrhundert war dies die Kon-

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trolle der indigenen Bevölkerung in den Randgebieten des Staates, die durch das Hacienda-Dispositiv erfolgte. Nun allerdings wurde die Hacienda selbst zu einem »Notstand«. Denn sie band die in der Industrialisierung und auf den exportorientierten Plantagen benötigte indigene Arbeitskraft. Zudem wies sie für gesellschaftliche Modernisierungsprojekte überkommene Strukturen auf, die zu einer Krise im Agrarsektor führten. Darüber hinaus entzündeten sich die schärfsten sozialen Unruhen und Aufstände in Lateinamerika an der Landfrage. In Ecuador gibt es eine breite akademische Debatte darüber, ob die Agrarreform das Resultat einer im Kontext der Allianz für den Fortschritt durchgeführten Modernisierungsinitiative »von oben«, d.h. von Fraktionen der Agraroligarchie selber war, oder ob sie auf Grund des Drucks »von unten«, d.h. der politischen Mobilisierung der indigenen Bauern und ihrer Alliierten durchgeführt wurde. Während Osvaldo Barsky die Modernisierungsthese vertritt, hält Andrés Guerrero die Agrarreform für eine Reaktion der Eliten auf den Protest der Subalternen. Denn – wie geschildert – gab es seit den 1920er Jahren einen nachhaltigen bäuerlich-indigenen Organisationsprozess. Wenn nun die Handlungsmacht allein auf die Entscheidung der Elite verlagert würde, so hieße dies, nicht nur die Agency der indigenen Bauern zu vernachlässigen oder gar zu leugnen, sondern auch die historische Konjunktur der Politisierung der Hacienda und deren Dekolonialisierung zu verkennen. In dem hegemonialen gesellschaftlichen Imaginarium der Modernisierung wurde die Hacienda auf Grund ihrer traditionellen, »feudalen« Produktionsweise und ihrer »unzivilisierten« Ausbeutungsformen zunehmend als Entwicklungshemmnis betrachtet. Entsprechend formulierte das IERAC im April 1969 in einem Brief an den Rektor der Zentraluniversität, dass es nun darum ginge, das »alte feudale Überbleibsel des huasipungo« (INDA, Brief IERAC an Rektor 19.4.1969) zu eliminieren. Im Foucaultschen Sinne wurde die Hacienda zu einer Heterotopie, zu einem realen »place(s) that do(es) exist and that are (is) formed in the very founding of society«. In dieser Heterotopie der Hacienda »all the other real sites that can be found within the culture, are simultaneously represented, contested, and inverted.« (Foucault 1967) Die Hacienda wurde zu dem Ort, in dem sich alles Übel konzentrieren konnte, wie das Scheitern der Nationsbildung, die schwachen staatlichen Strukturen, ökonomische Stagnation, die low intensity democracy, der Klientelismus und der Autoritarismus sowie eine engstirnige Rückwärtsgewandtheit. Mit dem letztgenannten Aspekt wird deutlich, dass die Heterotopie immer auch mit einer Heterochronie einhergeht (Foucault 1967). Zum einen hat die Hacienda ein eigenes Zeitregime, das durch religiöse Feiern, den landwirtschaftlichen Zyklus sowie die disziplinierte Zeit der Zwangsarbeit strukturiert ist, und sich somit von der Zeitstruktur der urbanen Zentren unterscheidet. Zweitens wurde die Hacienda in dem universalen Fortschritts- und Entwicklungsdenken auf einer der Moderne vorgängige, überholte Entwicklungsstufe verortet. Insofern ist der Ort der Hacienda von einer Hete-

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rochronie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bestimmt. Damit wurde die Hacienda, die noch Jahrzehnte zuvor ein integraler Bestandteil und in den 1860er und 1870er Jahren Motor kapitalistischer Entwicklung der lateinamerikanischen Gesellschaften gewesen war, zu einem Ort, in dem sich sinnbildlich alles Alte und Überkommene bündelte. Lateinamerikaweit galt die Hacienda nun als das Symbol für soziale Ungerechtigkeit. (Bengoa 1990: 17) In der Modernisierungsphase der 1960er und 1970er Jahre, in der Lateinamerika am Scheideweg zwischen sozialer Revolution und kapitalistischer Modernisierung stand (Halperin Donghi 1991), wurde die ökonomische und soziale Grundstruktur des Hacienda-Dispositivs aufgelöst. Während revolutionäre Bewegungen mit der Agrarreform die Hoffnung auf einen grundlegenden Bruch in den Besitzverhältnissen und damit mit der bestehenden Gesellschaft verbanden, sahen die Agrarreformer in der »Allianz für den Fortschritt« die Perspektive einer weiteren Kommodifizierung der Gesellschaft. In Ecuador wurde 1964 eine erste Agrarreform im Geiste der »Allianz für den Fortschritt« zur Modernisierung der Landwirtschaft durchgeführt, in deren Zuge die Schuldknechtschaft, huasipungaje, abgeschafft wurde. Die zentrale staatliche Institution zur Durchführung der Agrarreform war das IERAC, Instituto Ecuatoriano de Reforma Agraria y Colonización. Das IERAC ging nach dem Agrarreformgesetz von 1964, das von der Diktatur erlassen wurde, aus dem Instituto Nacional de Colonización (INC) hervor. Letzteres war 1957 gegründet worden, um durch Umsiedlungspolitiken von Hochland-Indígenas – wo der Landdruck am größten war – in das bis dato kaum erschlossene tropische Tiefland ein Ventil für die drängende Landfrage zu schaffen. (Brunken 1977: 88) Das INC kann somit als Ausdruck einer raumpolitischen Strategie der Großgrundbesitzer begriffen werden, die darin bestand, durch Umsiedlungen eine Agrarreform zu verhindern. Die Agrarreform ist damit als politische Strategie im Rahmen der Allianz für den Fortschritt zu sehen, die von den USA als entwicklungspolitische Antwort auf die revolutionäre Landreform der kubanischen Revolution entworfen wurde. In diesem Sinne zielte die ecuadorianische Agrarreform eher auf eine modernisierungstheoretisch fundierte Entwicklung der Agrarstrukturen denn auf politische Umverteilungsmaßnahmen. Entsprechend waren bei der Ausarbeitung des Gesetzes auch keine Bauernorganisationen oder Gewerkschaften, sondern vor allem die Vertreter der etablierten liberalen und konservativen Parteien sowie die Kirche involviert. (Brunken 1977: 89) Die Agrarreform zielte somit auch nicht auf die Überwindung von Großgrundbesitz ab, sondern beschränkte sich auf die Abschaffung des huasipungos bzw. der concertaje als einem System der Ausbeutung von Arbeitskraft, das als feudal und unvereinbar mit einer modernen Gesellschaft betrachtet wurde. In der Folge wurde an die indigenen Bauern vor allem Kleinstbesitz auf schlechte Böden übertragen, während die ungleiche Landverteilung unangetastet blieb. Hinzu kam, dass nach dem Sturz der Militärdiktatur1966 zunehmend wieder die Großgrundbesitzer, vermittelt über die

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Landwirtschaftskammer, 1 Einfluss auf den Agrarreformprozess nahmen, so dass vor allem bei staatlichem Besitz – so auch bei den Haciendas der Zentraluniversität – interveniert wurde, während der private Großgrundbesitz weitgehend unangetastet blieb. (Brunken 1977: 90-91) Vor allem die Eigentumsverhältnisse im fruchtbaren Zentraltal blieben davon – trotz der Vertiefung der Agrarreform 1973 – weitgehend unberührt, während die Hacienda in den abgelegenen und von einem hohen Anteil indigener Bevölkerung bewohnten Gebieten des Hochlandes aufgelöst wurde. Mit dieser begrenzten Reichweite wurde der ecuadorianischen Agrarreform in sozioökonomischer Hinsicht oft ein Scheitern attestiert. (Brunken 1977: 92-93) Die regionalen politischen Räume hingegen, die wie Saquisilí stark von der Hacienda und von indigenen Gemeinschaften geprägt waren, erfuhren eine rasante Veränderung, mit der eine weitreichende Konjunktur der Dekolonialisierung eingeleitet wurde.

N EUE AKTEURE AN DER S CHNITTSTELLE POST - KOLONIALER S TAATLICHKEIT Die indigenen Bauern hatten in staatlichen Institutionen wie dem Ministerio de Previsión Social und dem Ecuadorianischen Institut für Agrarreform und Kolonisation (IERAC) wirkmächtige Verbündete beim Kampf um die Agrarreform. Besonders das IERAC übte seit 1966 starken Druck auf die Zentraluniversität aus, um die Übergabe von Land an die indigenen Bauern durchzusetzen. Wenngleich die politische Stellung des IERAC als schwache Institution, die sich progressiver Rhetorik bediente, gleichzeitig aber die Modernisierungsinteressen der Agraroligarchie vertrat, höchst ambivalent war und letztendlich die Interessen der herrschenden Klassen bediente, so war die Intervention des IERAC in Hinblick auf die Haciendas der Zentraluniversität doch höchst bedeutsam. Die Haciendas der Zentraluniversität gerieten 1966 ins Visier des IERAC. 2 Das IERAC forderte den Rektor der Zentraluniversität am 31. Januar 1966 auf, in den Haciendas, die im Besitz der Universität waren, im Sinne des Agrarreformgesetzes zu intervenieren. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass die fünf Haciendas Salamalag Grande, Salamalag Chico, Chalua, Yanaurco und La Provincia gemäß Art.

1 Hier waren die 5% der Landbesitzer organisiert, die 50% der landwirtschaftlichen Fläche besaßen. 2 Bei den ersten Kontakten zwischen IERAC und Zentraluniversität im Juli 1965 ging es freilich noch nicht um die Haciendas der Universität, vielmehr wurde ein Abkommen zwischen dem Politikwissenschaftlichen Institut der Rechts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und dem IERAC unterzeichnet, um gut ausgebildete Techniker in der Behörde anzuwerben. (UC, Actas del Congreso Universitario, 13.7.1965, 27.7.1965)

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39 des Agrarreformgesetzes als Latifundien zu betrachten seien, da sie die erlaubte Größe landwirtschaftlichen Grundbesitzes überschritten hätten. Am 19. April 1966 insistierte das IERAC auf der Agrarreform, wobei zugleich an die soziale Verantwortung der Universität appelliert wurde: »ich muss Sie informieren, dass die einzigen Haciendas im ecuadorianischen Hochland, in denen es nicht möglich war, das alte feudale Überbleibsel des huasipungo zu eliminieren, diejenigen sind, die sich im Eigentum der Zentralunversität befinden. Obwohl es doch eigentlich logisch wäre, dass diese Institution sich als Pionierin in der Transformation der Landwirtschaft des Landes verstehen würde.« (INDA, IERAC an Universidad Central, 19.4.1966)

Nach diesem Briefwechsel ging das IERAC die Agrarreform in den Haciendas konsequent an und ließ von Salvador Cevallos einen Bericht über die Haciendas der Zentraluniversität erstellen, der am 22. November 1966 vorlag. Auf dieser Grundlage wurde der Agrarreformprozess vorangetrieben, wobei der Bericht detailliert auf die einzelnen Haciendas einging. In Salamalag Grande hatte die Zentraluniversität ihre Verpflichtung gegenüber den zwölf huasipungeros durch Landverteilungen und Vergabe von Landtiteln bereits erfüllt, so dass der Bericht hier nur anmahnte, auch die yanaperos und arrimados noch zu berücksichtigen, was bereits eine Intervention des Inspector de Trabajo de Cotopaxi nach sich gezogen hatte. In La Provincia wollte die Zentraluniversität erst nach Beendigung des Mietvertrags agieren. Dementgegen drängte das IERAC auf die Dringlichkeit des Gesetzes und schob süffisant nach, dass ja allgemein bekannt gewesen sei, dass der Mieter die Hacienda vor drei Jahren verlassen hatte. Zudem wurde vorgeschlagen, die Hacienda restlos aufzulösen und die verbliebenen Ländereien zu günstigen Preisen an die indigenen Bauern zu verkaufen. In Bezug auf die Haciendas Yanaurco, La Provincia und Chalua wurde gefordert, dass die huasipungeros, yanaperos und die sog. partidarios (arrimados) das ihnen zustehende Land erhalten sollen, während ihnen das restliche Land der Hacienda zu vernünftigen Preisen verkauft werden sollte. Interessant war die Haltung des IERAC zu der von den indigenen Bauern besetzten Hacienda Salamalag Chico/Guangaje. Der Bericht kam zu der Feststellung, dass die ex-huasipungeros von Salamalag Chico sich die Hacienda bereits vor sechs Jahren angeeignet und aufgeteilt hatten, ohne weitere Arbeitsbeziehungen mit der Zentraluniversität zu unterhalten. Zweifelsohne war die damalige Landbesetzung der indigenen Bauern nach gängigem Recht ein Strafdelikt. Doch das IERAC bewertete diesen Akt der Landnahme vor dem Hintergrund des neuen Prozesses der Agrarreform als durchaus gerechtfertigt, indem der Bericht forderte, diese de factoSituation zu legalisieren und die Hacienda formal unter den huasipungeros aufzuteilen. (INDA, Informe sobre Haciendas de la Universidad Central, 22.11.1966) Der Bericht endete mit der Hoffnung, dass die Interventionen bald stattfinden könnten.

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Hintergrund dieser Druckausübung gerade auf die Zentraluniversität ist die Tatsache, dass sich das IERAC in der ersten Phase der Agrarreform hauptsächlich auf die Haciendas konzentriert hatte, die sich– wie jene der Zentraluniversität – in staatlichem Besitz befanden. Insofern war aber auch die Feststellung des IERAC, dass es sich bei den Haciendas der Zentraluniversität um »die einzigen Haciendas im ecuadorianischen Andenhochland« handelte, in denen die huasipungaje noch nicht abgeschafft worden war, maßlos übertrieben, da das IERAC in einen Großteil der privaten Haciendas überhaupt nicht eingriff. Der Briefausschnitt vom April 1966, nachdem die Haciendas der Zentraluniversität die einzigen Haciendas wären, in denen das »alte feudale Überbleibsel des huasipungo« noch nicht beseitigt worden war,wurde am 20. Juli 1967 vom IERAC in einem weiteren Brief an den Rektor erneut zitiert, wobei darauf hingewiesen wurde, dass es in den letzten anderthalb Jahren keinen signifikanten Gesinnungswandel in der Universität gegeben habe. Die Universität hingegen verwies darauf, dass der Kontakt mit dem IERAC aufgenommen werden sollte, um auf der Hacienda Salamalag den Prozess der Agrarreform in Gang zu setzen. Dabei betonte der Rektor, dass die Situation der Universität so schlecht sei, dass sie den Prozess der Agrarreform nicht durchführen könne. Deshalb sollte der Staat die Güter an sich nehmen, damit dies dann durch das IERAC erfolgen könne. 3 Doch kam es mit dem IERAC zu keiner Regelung, da – so der Rektor – eine neugebildete Militärjunta dem IERAC den Finanzhahn zudrehte und es damit handlungsunfähig machte (UC, Actas Universitarias, 18.11.1966) Am 31. Januar 1967 wurde im Universitätsrat erneut die Situation der Haciendas diskutiert, wobei die schwierige Situation betont wurde: »In den Haciendas der Unversität gibt es enorme Defizite. Die Mieter zahlen nicht, der Großteil von ihnen ist im Zahlungsverzug und die Indigenen der zu den Haciendas der Universität gehörenden Gemeinden weiten ihren Landbesitz auf den Ländereien der Universität aus. Es gibt ein Grundstück, das fast vollständig im Besitz der Indios ist; und von dort aus rücken sie immer weiter vor. Die Hacienda Guangaje ist von den Indigenen besetzt. Und Atapulo oder Santa Inés ist auch von der Besetzung bedroht. Um dieser Situation wieder Herr zu werden hat die Universitätsverwaltung ein Papier zur Hacienda Salamálag entwickelt, was eine sofortige Behandlung durch den Universitätsrat erfordert« (UC, Actas Universitarias, 31.1.1967).

3 Hintergrund dieser Strategie war seitens der Universität sicherlich auch, für den Verkauf der Haciendas an den Staat noch eine Entschädigung zu erhalten – eine Strategie, die – wie aus einem Brief der Zentraluniversität an das IERAC vom 5. April 1968 – auch später noch verfolgt wurde. (INDA, Brief der Zentraluniversität vom 5.4.1968)

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Abschließend wurde dann die Agrarreform für die Hacienda Salamalag forciert. Erstens wurde die Auflösung des Mietvertrags mit Atahualpa Naranjo für die Hacienda Salamalag bekannt gegeben, und Augusto Buendía wurde als Verwalter der Hacienda eingesetzt, um den Prozess der Agrarreform einzuleiten. Zweitens sollten nun mit den neuen Vertretern der Regierung und des IERAC wieder die Gespräche über eine Agrarreform aufgenommen werden. 4 Aufschlussreich ist diese Kommunikation über die Durchsetzung der Agrarreform auch insofern, als dass sie auf die narrative Form des Berichts und den technokratischen Expertendiskurs zurückgreift. Es ist also eine Kommunikation, die über die Köpfe der indigenen Bauern hinweg geführt wurde. Anlässlich eines weiteren Berichts über die Haciendas im Jahr 1969 kam es zu einem erneuten intensiven Briefwechsel zwischen der Zentraluniversität und dem IERAC, die die letztere Institution mit der Forderung verbindet »die angestauten sozialen Probleme in den Haciendas der Universität definitiv zu lösen« (INDA, IERAC an Universidad Central, 30.9.1969), was hier nichts anderes heißt, als die Haciendas in die Händer der campesinos zu übergeben. Am 19. September wurde daraufhin von dem sozialistischen Rektor der Universität Manuel Agustín Aguirre eine neue Hacienda-Kommission mit Herrn Oquendo als Vorsitzenden eingesetzt, (UC, 19.9.1969) die dem Universitätsrat bereits am 6. April 1970 einen Bericht vorlegte, in dem Pläne zur Übergabe der Haciendas an die indigenen Bauern entworfen wurden. Der Aspekt der Durchführung der Agrarreform wird im folgenden Kapitel erörtert. Zunächst soll hier vertieft werden, wie sich die indigenen Bauern an der nun neukonfigurierten und noch unübersichtlichen Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit positionierten. Wenngleich sich die Kommunikationsstrukturen der öffentlichen Institutionen als Expertendiskurse ohne fundamentale Beteiligung der indigenen Bauern darstellten, so bedeutet dies im Umkehrschluss jedoch keinesfalls, dass diese nicht auf diese Institutionen eingewirkt hätten. So ist es höchst bemerkenswert, dass sich die indigenen Bauern bereits im gleichen Jahr des Erlasses des Agrarreformgesetztes an das neugegründete IERAC gewandt hatten. Angesichts der Arbeiten zur Vermessung der Hacienda Salamalag, um Land an die huasipungeros zu übergeben, richteten die indigen-bäuerlichen dirigentes Cesario Cocha und Juan Caillagaua in Vertretung der arrendatarios der Hacienda ein Gesuch an das IERAC, auch die arrendarios ebenso wie die huasipungeros bei der Verteilung von Land zu berücksichtigen.

4 1969 gibt es dann einen regen Briefwechsel zwischen der Universidad Central und dem IREAC, da mehrere ex-huasipungeros der Hacienda Yanaurco Besitzrechte und andere Werte einfordern. Hinzu kommt. »Es fehlt die Auflösung der Rücklagen und der nicht in anspruchgenommenen Urlaubstage in jedem einzelnen der Güter.« (INDA, Brief IERAC an UC 8.8.1969; Brief IERAC an UC 30.9.1969)

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Argumentiert wurde, dass sie gleiche Arbeiten wie die huasipungeros zu verrichten hatten (zwei Tage in der Woche Arbeit als parceleros, huasicamas, etc. in der Hacienda), und außerdem waren sie ähnlich lange Zeit in der Hacienda ansässig (20-60 Jahre). (INDA, Brief von Cesario Cocha und José Caillagua an IERAC, 13.12.1964) Diese Bitte hat aber offensichtlich kein Gehör gefunden, da bei der Parzellierung in Salamalag ausschließlich huasipungeros berücksichtigt wurden. 5 Die Intervention zeigt aber, wie unverzüglich die indigenen Bauern auf neue Möglichkeitsstrukturen und neue Kommunikationspartner an der Schnittstelle postkolonialer Staatlichkeit reagierten. Noch enger schien freilich der Kontakt mit dem Ministerio de Previsión Social gewesen zu sein, das traditionell seit seiner Gründung ein Ansprechpartner für die – vor allem arbeitsrechtlichen – Belange der indigenen Bauern darstellte. So berichtet der dirigente Trindidad Toapanta, wie Vertreter des Ministeriums für soziale Fürsorge, Salamalag Grande zirka 1971 bei der Gründung einer comuna unterstützten. Hervorzuheben ist, dass hierdie Vertreter des Ministeriums in die comunidades kamen, um den direkten Austausch mit den indigenen Bauern zu suchen. Dabei fanden die Treffen oft versteckt vor den Augen der Verwalter und Mieter der Haciendas statt. Festzuhalten bleibt hier die Dynamisierung der Schnittstelle, da im Bereich der staatlichen Institutionen neue Akteure entstanden sind und mit neuen Gesetzen gleichzeitig neue diskursive Anknüpfungspunkte. Doch auch innerhalb der Zentraluniversität selber war seit Mitte der 1960er Jahre eine Veränderung festzustellen. Während sich die Studierendenorganisationen zuvor an den Haciendas wenig interessiert gezeigt hatten, intervenierten nun auch die Studentenführer der FEUE in den Agrarreformprozess der Universität. Sie bildeten einerseits neue Kommunikationspartner und Alliierte für die indigenen Bauern – insofern können die linken Studierendenführer durchaus im Kontext der Allianzen mit linken Bewegungen gesehen werden –, andererseits dynamisierten sie die Kommunikation innerhalb der Zentraluniversität, indem sie Forderungen aufstellten oder aber auch mit konkreten Aufgaben der Parzellierung beauftragt wurden. Insgesamt ist in den 1960er und 1970er Jahren ein starker Radikalisierungsprozess unter den Studierenden zu beobachten. Nach der Spaltung der Kommunistischen Partei begann die neugegründete, maoistisch orientierte Partido Comunista Marxista Leninista del Ecuador (PCMLE) schnell an Bedeutung unter den Studierenden zu gewinnen. Eine Kerngruppe der Partei hatte zuvor in der ehemaligen comisión campesina der PCE agitiert, unter ihnen Milton Reyes, 6 der von 1969 bis

5 In der Liste von 1969 tauchen die Namen der Bittsteller nicht auf, und in der Überschrift zur Liste wurden nur ex-huasipungeros als Begünstigte genannt. 6 Milton Reyes wurde nach einer Demonstration gegen die Regierung Velasco Ibarra von Polizeikräften festgenommen und am 12. April 1970 zu Tode gefoltert.

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1970 Präsident der FEUE in Quito war. Als Mitglied der comisión campesina war Reyes – u.a zusammen mit Celso Fiallo – auch unter den indigenen Bauern in Cotopaxi aktiv. Anfang der 1970er Jahre drängte die FEUE nun auf die Durchführung der Landvergabe und beteiligte sich an der Parzellierung der Haciendas. So informierte die Zentraluniversität den Verwalter der Hacienda Yanaurco im Oktober 1969, dass Vertreter der FEUE in Kooperation mit dem Sekretär der Comuna Yanaurco eine Umfrage unter den comuneros durchführen sollten. (FEUE, 8.10.1969) Und in der Tat werden einige Vertreter der FEUE – so auch Ernersto Erazo und Iván Villavicencio, die im Rahmen des Oral History-Projektes interviewt wurden – von älteren dirigentes der indigenen Gemeinschaften auf Grund ihrer Arbeit der Vermessung sowie Unterstützung bei der Gründung von comunas bis heute in guter Erinnerung behalten. (Interview, Trinidad Toapanta, 4.6.2006) Doch scheint es, dass die Intervention der Studierenden nach der Vermessung nachgelassen hat. Innerhalb der studentischen Linken rückte der Kampf um die Agrarreform in den Haciendas der Zentraluniversität angesichts der Bedeutung des Kampfes gegen die Diktatur und des Kampfes um die Verteilung der Renten durch die Ölförderung in den Hintergrund. Dennoch gab es noch weiterhin Kontakte der FEUE zu den indigen-bäuerlichen Organisationen in Cotopaxi. So organisierte die FEUE Anfang der 1970er Jahre einen Bauernkongress und ab 1973 begann die Unterstützung des Organisationsprozess indigener Migranten in Quito in Form der pobladores des Comité del Pueblo. 7 Der Fokus auf indigen-bäuerliche Kämpfe verlagerte sich zudem auf Grund des Einflusses der PCMLE regional nach Chimborazo. Nur die Bewegung der Revolutionären Linken (Movimiento de Izquierda Revolucionaria, MIR) und die Juventud Socialista Revolucionaria intensivierten zwischen 1973 und 1989 ihre Arbeit in Cotopaxi. Hierbei stellten die Unterstützung von Organisationsprozessen und die Förderung von Bildung in der Zone rund um Toacazo, zu der auch die Comuna Yanaurco gehörte, den Schwerpunkt dar. Diese Arbeit der FEUE wurde logistisch von der Zentraluniversität unterstützt. Diese politische Organisationsarbeit weckte den Unmut staatlicher Instanzen, so wandte sich das IERAC mit der Bitte an die Zentraluniversität, die politische Arbeit der FEUE zu unterbinden, da diese letztlich das Ansehen der Universität schädigen würde (INDA, Carta del IERAC a la UC, 27.11.1979) Doch wie es scheint blieben diese comunidades dennoch ein Interventionsfeld der urbanen Linken, was letztlich auch eine mögliche Erklärung für die protagonistische Rolle, die diese Zone in den späteren Organisationsprozessen der 1990er Jahre einnahm, sein kann.

7 Mündliche Mitteilung von Hernán Ibarra.

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AGRARREFORM Noch am Vorabend der Agrarreform kam der Rektor der Zentraluniversität zu einer äußerst positiven Einschätzung der Hacienda-Wirtschaft für die Universität. In einem gutem Jahr – so der Direktor –»könnten wir tausende von Sucres bekommen.« (UC, Actas Universitarias, 28.7.1964) Verunsicherungen darüber, dass die Zentraluniversität auch von der 1964 erlassenen Agrarreform betroffen sein könnte, gab es hier nicht. Im Gegenteil, die Zentraluniversität hat sich bis zu Beginn der 1970er Jahre dem staatlichen Druck der Agrarreform widersetzt. Es stellt sich also erstens die Frage, wie die Verhandlungen sowohl mit den staatlichen Agenturen der Agrarreform – allen voran dem eingerichteten Ecuadorianischem Institut für Agrarreform und Kolonisation (IERAC) und den bäuerlich-indigenen Gemeinschaften an der Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit verliefen, so dass die Zentraluniversität die Übergabe der Haciendas so lange herauszögern konnte, dass die erste Agrarreform, die 1964 erlassen wurde und bis 1966 andauerte, hier kaumgreifen konnte. Zur Beantwortung der ersten Frage kann auf externe Umstände wie beispielsweise die Zwangsschließung der Universität während der Diktatur (1963-1966) verwiesen werden. Zwar erließ die Militärdiktatur ganz im Sinne einer am desarrollismo orientierten Politik die Agrarreform, doch politisch wies sie eine antikommunistische Orientierung auf. Entsprechend wurde die Zentraluniversität, die als Wiege von kommunistischen Aktivitäten galt, während der drei Jahre der Diktatur zur bevorzugten Zielscheibe von Intervention, bis hin zu Zwangsschließung und Reorganisation, um deren kritische, linke Haltung zu unterdrücken. (Egas 1990) Allein im Jahre 1963 ersetzte die Militärjunta 204 Professoren der Zentraluniversität, die sie als Kommunisten beschuldigt hatte. Entsprechend erscheint es durchaus plausibel zu argumentieren, dass die Universität die Haciendas unter diesen Bedingungen nicht übergeben konnte. Zudem könnte vermutet werden, dass die neu eingebrachten Professoren gerade diejenigen waren, die – wie der Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät – auf eine rasche Agrarreform drängten. 8 Ernesto Erazo, damals Mitglied der Studierendenorganisation der Zentraluniversität, FEUE, argumentierte entsprechend: »Die Militärdiktatur, die von 63 bis 66 an der Macht ist, leitet die erste Agrareform ein. Aber in diesen drei Jahren war diese Universität besetzt, geschlossen und wurde reorganisiert, den Professoren wurde gekündigt und die Leitung abgesetzt, die ganze Universität wurde reorganisiert. Hier war Pittsburgh aus Nordamerika und die Universität von New Mexico. Sie ka-

8 Festgehalten werden kann allerdings, dass es seitens der Professoren in der Zeit der Diktatur keine konzertierte Aktion für eine Übergabe der Haciendas gab, obwohl verschiedene staatliche Institutionen – allen voran das IERAC – in diese Richtung intervenierten.

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men um das Bildungsministerium bei der Bildungsreform zu beraten und Pittsbergh machte sich hier breit. Zwei nordamerikanische Universitäten als Teil der Regierung der Diktatur. Unter diesen Bedingungen konnte man die Aufgabe nicht angehen. Es gab nicht die notwendigen Arbeitsbedingungen. Die Studierenden verloren das Jahr, und die Autoritäten flüchteten nach Mexiko, nach Chile. [...] Leute mit freiheitlichen Ideen kamen ins Gefängnis, es war eine reaktionäre Militärintervention, obwohl sie auch ein Entwicklungsprojekt vorantreiben wollten. Aber es war ein Entwicklungsweg, der sich an der nordamerikanischen Metropole orientierte. Nun 66, im März, warfen wir die Diktatur raus. [...] Und wir begannen eine neue Universität aufzubauen.« (Interview, Ernesto Erazo, 7.2.2006)

Auch in den Quellen finden sich Belege für die These der ungünstigen politischen Kontextstruktur. So wurde im Januar 1967 der Mietvertrag für die Hacienda Salamalag mit Atahualpa Naranjo beendet, und die Verwaltung der Haceinda ging an die Zentraluniversität über, die wiederum Augusto Buendia damit beauftragte. (UC, Actas Universitarias, 31.1.1967) In Folge beschloss der Universitätsrat auf Grund der schwierigen finanziellen Situation der Universität, die Hacienda an das IERAC zu übergeben, damit diese die Agrarreform durchführt. Doch nun gab es nach Ende der Militärdiktatur Geldprobleme im IERAC, die aus Sicht der Zentraluniversität eine Übereinkunft verhinderten. Wichtig ist die »Dekapitalisierung« des IERAC insofern, als dass die Zentraluniversität die Haciendas hier noch nicht kostenlos übergeben wollte, sondern gegen andere Güter – auf deren Fläche eine Landwirtschaftsschule eingerichtet werden konnte – tauschen wollte. Dennoch halte ich diese Erklärung, die die Verzögerung der Agrarreform seitens der Universität auf die äußeren Umstände zurückführt, für nicht ausreichend. Mindestens bis zum Jahre 1969 war die Universität darauf bedacht, die Haciendas zu sichern, wenngleich der Druck sowohl durch das Agrarreformgesetz und der IERAC auf der einen Seite, als auch durch die indigenen comunidades – die wie in Guangaje bereits eine »Agrarreform von unten« durchgeführt hatten – groß war. Eine am 15. Januar 1966 im Universitätsrat geführte Diskussion gibt einen guten Einblick hinter die Kulissen der Zentraluniversität. (UC, Actas Universitarias, 15.1.1966) Der Rektor Dr. Julio Paredes schien angesichts der Besetzung einer Hacienda einer Agrarreform nicht ganz ablehnend entgegenzustehen. Widerstand gegen die Agrarreform kam jedoch von der Landwirtschaftlichen Fakultät. So drängte Dr. Sotomayor, darauf, zumindest einige Haciendas zu behalten. Als Argument führte er die Ausbildung der Studierenden und die Möglichkeit, wirtschaftlichen Nutzen aus den Haciendas zu ziehen, an. Andere Mitglieder des Universitätsrats wie Dr. Cornejo warfen ein, dass es neben dem Land auch um Entschädigungen für Arbeitsleistungen ginge. Deshalb sollte der Dekan der Landwirtschaftlichen Fakultät mit dem IERAC klären, dass nicht zusätzliche finanzielle Forderungen seitens der indigenen Bauern auf die Universität zukämen. Letztlich wurde vorgeschlagen,

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dass Rumipamba in den Händen der Zentraluniversität verbleiben sollte, während über die restlichen Haciendas mit dem IERAC verhandelt werden sollte. Bei diesen Verhandlungen allerdings wandte die Universität ein ganzes Arsenal an Strategien an, die darauf abzielten, weiteren Nutzen aus den Haciendas zu ziehen. Diese Strategien entsprachen durchaus einer über die Jahrzehnte ausgebildeten rentistischen Logik einer Universität, die sich wie ein absentistischer Großgrundbesitzer verhalten hatte. Als erstes ist die Strategie der Verzögerung zu nennen. Diese Strategie ist in nahezu allen Aushandlungen mit dem IERAC festzustellen und äußert sich in langen Berichten, Kommissionen, die im Sande verlaufen, und langwierigen Briefwechseln. Die Grundsatzentscheidung, die Haciendas an die indigenen Bauern zu übergeben, fiel wohl erst unter dem Rektor Aguirre. So wurde im Fall der Hacienda La Provincia argumentiert, dass erst der Mietvertrag auslaufen müsse, bevor die Agrarreform durchgeführt werden könne. Eine zweite Strategie bestand darin, das Ausmaß der Agrarreform zu begrenzen. So beschränkte sich die Zentraluniversität zunächst darauf, nur Land an die huasipungeros zu übergeben, während ein Bericht des IERAC aus dem Jahre 1967 ausdrücklich empfahl, auch den weiteren precaristas Land zu übergeben. Dies war im Übrigen eine Forderung, die bereits die aus Salamalag Grande stammenden dirigentes Cesario Cocha und José Caillagua formuliert hatten. Aber in Salamalag Grande wurde Land nur an die elf huasipungeros vergeben, ohne dass die 49 arrimados, 27 arrendatarios und 19 yanaperos berücksichtigt wurden. Die dritte Strategie bestand darin, gegen die rechtliche Argumentation des IERAC einen Diskurs der politisch-moralischen Legitimierung anzuführen, indem auf das Erbe und die ›philanthropische‹ Geste von Alejandro Gallo Almeida verwiesen wurde. Verstärkt wurde diese Legitimationsstrategie mit dem Verweis auf den rechtlichen Status der Hochschulautonomie. Eine vierte Strategie bestand darin, wann immer die Landvergabe nicht abzuwenden war, den ökonomischen Nutzen für die Universität durch Landverkauf zu maximieren. So überlegte die Zentraluniversität von 1962 bis 1968, als die Agrarreform kaum mehr abzuwehren war, die Haciendas noch an die indigenen Bauern oder über öffentliche Versteigerungen zu verkaufen. 9 Als Mitte Januar 1966 im Universitätsrat erneut über die Haciendas diskutiert wurde, nahm der Rektor, Dr. Paredes, die Besetzung der Haciendas zur Kenntnis, während der Dekan der Landwirtschaftlichen Fakultät, Dr. Sotomayor – wie oben ausgeführt – versuchte, einen Teil der Haciendas für die Universität zu retten. Konkret wird vorgeschlagen, dass Rumipamba in den Händen der Zentraluniversität bleiben solle, da es dort keine huasipungeros gebe. Über die anderen Güter könne mit dem IERAC verhandelt werden. Dr. Cornejo warf dazu

9 Aus einem Brief geht hervor, dass die Zentraluniversität noch um die Haciendas feilschte und die Haciendas Salamalag, Chaluag, Yanaurco, La Provincia und Guangaje an den Staat verkaufen wollte. (INDA, Brief des Vizerektors der Zentraluniversität an IERAC 5.4.1968)

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ein, dass es neben dem Land auch um Entschädigungen für bereits erbrachte Arbeitsleistungen ging. Letztlich war die Strategie, die Agrarreform nur auf die hochgelegenen Haciendas mit hohem Anteil indigener Bevölkerung zu beschränken, erfolgreich. Die Haciendas Rumipamba in Salcedo und La Tola in Tumbaco sindbis heute im Besitz der Zentraluniversität geblieben. Im Folgenden soll nun der Verlauf der Agrarreform skizziert werden. Der Prozess der Agrarreform in den Haciendas der Zentraluniversität begann zunächst relativ früh. Bereits am 29. Juni 1965 lag für die Hacienda Salamalag Grande eine Acta de Liquidación de los Huasipungeros vor, in der die Actas de Transferencia de Dominio del Huasipungero von der Universidad Central von den einzelnen huasipungeros gesammelt waren, so dass die Besitztitel an die elf huasipungeros überschrieben werden konnten. (UC, Actas del Congreso Universitario, 29.6.1965) Dann, drei Jahre später, folgten 1968 die 34 huasipungeros der Hacienda Yanaurco. Dann wurden die huasipungeros 1969 in der Hacienda La Provincia an die indigenen Bauern übergeben, während die Hacienda Guangaje sich schon bereits im Besitz der Bauern befand. Zudem war hier wie auch zunächst in La Provincia das Misstrauen groß. In La Provincia weigerten sich die 32 huasipungeros, die Titel ohne die Vertretung der FEI und eines Rechtsanwaltes anzunehmen, und in Chalua nahmen zunächst nur drei der 20 huasipungeros die Titel an. Tab. 5: Anzahl und Größe der übergebenen huasipungos der Haciendas Yanaurco, La Provincia und Salamalag Grande

Eigene Erstellung nach IERAC, Informe sobre la entregas de huasipungos Hdas Universidad Central, 15.10.1969; IERAC, Actas de Transferencia de Dominio de Huasipungo, 22.2.1968.

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Ab dem Jahre 1969 ist dann ein entscheidender Wandel in der Zentraluniversität festzustellen, so dass nun die Agrarreform nicht nur auf die huasipungos beschränkt wurde, sondern die vollständige Liquidierung der Haciendas und die Übergabe der Ländereien an die indigenen Bauern angegangen wurde. In diesem Jahr gab es einen regen Briefwechsel zwischen der Universidad Central und dem IERAC, da mehrere ex-huasipungeros der Hacienda Yanaurco Besitzrechte und andere Werte einforderten. (INDA, Brief IERAC an UC 8.8.1969) Diese Auseinandersetzung kulminierte in einem im August 1969 vorgelegten Bericht des IERAC bezüglich der Situation der Haciendas der Zentraluniversität, wobei das IERAC erneut nachhaltig forderte, die verschiedenen in den Haciendas der Universität bestehenden sozialen Probleme endgültig zu lösen. (INDA, IERAC an Universidad Central, 30.9.1969). Zudem wurde in dieser Periode der Sozialist Manuel Agustín Aguirre Rektor der Zentraluniversität. Manuel Agustín Aguirre war Generalsekretär der Sozialistischen Partei Ecuadors und einer der Führer der Volksrevolution vom 28. Mai 1944 sowie Vizepräsident der Verfassungsgebenden Versammlung von 1944-1945 gewesen. Zusammen mit dem Anwalt Gonzalo Oleas, der verschiedene comunas im Rechtsstreit mit der Zentraluniversität vertreten hatte, wurde er 1943 in das Comité Ejecutivo Nacional der Sozialistischen Partei gewählt. Unter seinem Rektorat wurde im September 1969 erneut eine Hacienda-Komisssion unter dem Vorsitz von Ing. Oquendo eingerichtet, die sich mit der Agrarreform beschäftigten sollte. Angesichts der Einrichtung der Kommission fand der Rektor deutliche Worte zur Rolle der Zentraluniversität in Hinblick auf das Hacienda-Regime: »Man kämpfte in der Verfassungsgebenden Versammlung von 44-45, der ich angehörte, um das Eigentum dieses Erbes. […] Im Allgemeinen gab es keine gute Verwaltung. Später verstand man, dass die Universität nicht die Funktion hatte, Haciendas zu verwalten, Großgrundbesitzer zu sein, sondern Kultur und Wissen zu vermitteln. Von da an begann die Suche nach einer Lösung des Problems, das nie in seinem vollen Umfang angegangen wurde. Es gab Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Universitätsrat und den Kommissionen. Man glaubte, dass jedwede Haltung böswillig hätte interpretiert werden können, und das führte dazu, dass der Universitätsrat das Problem nie wirklich anging« (UC, Actas Universitarias, 16.9.1969).

Nicht einmal einen Monat später lag dann der Bericht der neu eingesetzten Kommission vor, auf deren Grundlage der Universitätsrat beschloss, alle Haciendas zu veräußern, obwohl der Dekan der Landwirtschaftlichen Fakultät zuvor nachdrücklich darauf hinwies, dass die Haciendas, die zu Forschungszwecken genutzt wurden, im Besitz der Universität bleiben sollten. (UC, Actas del Congreso Universitario, 7.10.1969) Doch erwies sich diese Position Ende 1969 nicht mehr als mehrheitsfähig, und so wurde schließlich darauf gedrängt, alle Haciendas zu verkaufen.

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Während Rumipamba und La Tola öffentlich versteigert werden sollten, sollten die Haciendas in Saquisilí an die Bauern verkauft werden. Die de facto Besetzung durch die indigenen Bauern wurde von der Zentraluniversität nun auch anerkannt. Im Oktober wurden die ersten Maßnahmen zur Umsetzung der Entscheidung getroffen. Der Verwalter der Haciendas, Luís Ponce, wurde zum Mitglied der Hacienda-Kommission ernannt, und es sollte in Vorbereitung der Landübergabe eine Umfrage in Yanaurco durchgeführt werden, (FEUE, 8.10.1969) während der Verwalter der Hacienda Salamalag die jornaleros der Hacienda auszahlen sollte (FEUE, 13.10.1969) Die endgültige Entscheidung, die Haciendas in Saquisilí zu übergeben, wurde vom Universitätsrat am 10.März 1970 getroffen» Angesichts des von der Kommission der Haciendas präsentierten Berichts beschließt der Universitätsrat, die Haciendas im Eigentum der Zentraluniversität mit der Ausnahmen von Rumipamba und La Tola an die Bauern zu übergeben.« (UC, Actas del Congreso Universitario, 10.3.1970) Die Zentraluniversität informierte die nationale Presse, und am 22. April 1970 titelte die führende Tageszeitung El Comercio »Zentraluniversität schenkt Indios 5 Haciendas«. Am 11. September des Jahres fand dann im Stadium der Zentraluniversität in Quito ein Festakt zur Übergabe der Haciendas statt, an dem auch indigene Bauern der Haciendas, vor allem aus Salamalag Grande teilnahmen. (Interview, Iván Villavicencio, 27.7.2006) Im August 1972 wurde die Parzellierung sämtlicher Haciendas beendet. Alles schien also auf eine schnelle Landübergabe hinzudeuten, dennoch zögerte sich die Überschreibung der Landtitel, mit Ausnahme von Salamalag Grande, bis Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre hinaus. So erhielten die indigenen Bauern der ehemaligen Hacienda Yanaurco am 10. Januar 1980 ihre Titel, während die der Hacienda Chalua zwischen August und Dezember 1981 und die für Guangaje im Oktober 1981 ausgestellt wurden. Auch hier stellt sich nun die Frage, warum sich die Übergabe so lange hinzog. Während in dieser Arbeit für die Zeit bis 1969 argumentiert wurde, dass es der Zentraluniversität an einem realen Willen zur Durchführung der Agrarreform mangelte, so galt dies für die frühen 1970er Jahre nicht mehr. Im Universitätsrat war die Debatte um die Haciendas nach der öffentlichen Bekanntgabe der kostenlosen Übergabe an die indigenen Bauern 1970 abgeschlossen. Hier scheinen nun die Universitäts-externen Gründe den Ausschlag für die Verzögerung gegeben zu haben. So wurde die Zentraluniversität unter der Diktatur von Velasco Ibarra am 22. Juni 1970 – also kurz nach Bekanntmachung der Übergabe der Haciendas – erneut geschlossen, und bis 1976 gab es politische Unruhen um die Zentraluniversität. Zwar erließ die Diktatur ein Dekret, mit dem der Zentraluniversität ein Ultimatum gestellt wurde, die Ländereien bis zum 11.7.1973 zu übergeben. Doch war die politische Situation wohl derart instabil, dass die Umsetzung ausblieb. Erst als 1976 Camilo

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Mena zum Rektor gewählt wurde, konnte dieser dann 1980 die Landtitel formal übergeben. Das Ende der Hacienda hat in der kollektiven Erinnerung der indigenen Gemeinschaften keine nostalgische Note bekommen. Ganz im Gegenteil, die historische Phase der Hacienda-Herrschaft wurde auch materiell gänzlich aus der nun indigenisierten Landschaft gestrichen. So wurden die Haciendas verlassen und dienten allenfalls als Quelle für Baumaterialen. Heute sind nur noch die Ruinen der Gebäude übrig. In einigen Fällen wie in Salamalag Grande wurde das HaciendaGebäude von den indigenen Bauern abgerissen (Interview, Trinidad Toapanta, 4.6.2006)

D IE » VEREINZELTEN « H ACIENDAS Im Umland der großen Haciendas der Universidad Central existierten mehrere weitere kleinere Haciendas. Nachdem die besetzten Ländereien der Haciendas der Universität in indigenen Besitz übergegangen waren, sahen sich die Eigentümer der kleineren Güter von Indigenen umgeben, die immer besser politisiert und organisiert waren. Unter diesen Umständen war ein Weiterbetrieb der kleineren Güter zum Scheitern verurteilt, und der Großteil der Eigentümer entschied sich dafür, ihren Besitz an dieselben indigenen Bauern zu veräußern. An dieser Stelle soll der Fall der Hacienda Salamálag Chico de Saquisilí genauer dargestellt werden (nicht zu verwechseln mit der Hacienda Salamálag Chico de Guangaje). In der Erinnerung der Menschen trägt diese auch den Namen hacienda suelta (vereinzelte Hacienda), in dem Sinne, dass sie nicht als Teil des großen Hacienda-Komplexes gesehen wurde. Mit der Übergabe der Haciendas der Universidad Central waren auch die Tage dieser kleinen und nun von comunidades indígenas umgebenen Hacienda gezählt. Während Fausto Ruiz noch mit dem Attentat auf den dirigente Cesario Cocha in Verbindung gebracht wurde, suchte der nachfolgende Eigentümer, Carlos Toma aus Ambato, gute Beziehungen zu den indígenas von Salamálag Chico und verkaufte seine Hacienda schließlich an diese (Interview, Alejandro Pallo, 13.5.2006) Für den Kauf der Hacienda schlossen sich in den 1980er Jahren 50 campesinos aus Salamálag Chico in der Assoziation Sector la Toma zusammen und kauften das Land für zwei Millionen Sucres (Alejandro Pallo). Die Eigentümer der haciendas sueltas, also der kleineren einzelnen Güter, versuchten, eine gute Beziehung zu den indigenen Gemeinden aufrecht zu erhalten. Dies lag wahrscheinlich in den lokalen Machtkonstellationen begründet. Jedenfalls wurden die Betriebe auf traditionelle, semi-feudale Weise geführt, was sich auch im kulturellen Alltag niederschlug wie z.B. bei dem manuellen Mahlen von Maismehl.

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Während die campesinos in den 1970er Jahren auf den Haciendas der Universidad Central keine oder sehr schlechte Bezahlung erhielten, wurden sie auf der haciendasuelta auf einem Niveau entlohnt, mit dem sie ihre Familien ernähren konnten. Was das kulturelle Leben auf den Haciendas betrifft, so war das Feiern von Festen auf den Betrieben der Universidad Central auf den Bereich der indigenen comunidades beschränkt. Demgegenüber bestand in Salamálag Chico de Saqusilí bei der Ausrichtung von traditionellen Festen eine enge Beziehung zwischen der comunidad und der Hacienda. (Interview, Alejandro Pallo, 13.5.2006) Ein anderes Beispiel für eine sogenannte hacienda suelta in Saquisilí ist Canchagua. Die Hacienda wurde kurz vor der Agrarreform in vier Teile aufgespalten: Canchagua, Santa María, Santa Elena und San Joaquín. Die campesinos können sich nicht an Landkonflikte erinnern. Erst seit kurzem entwickelten sich Konflikte um die wichtige Ressource Wasser. Die indigenen campesinos/indígenascampesinos arbeiten bis heute auf den vier Haciendas, für sie eine äußerst wichtige Einkommensquelle. Diese Arbeitsmöglichkeit dämmt auch die Emigration in den Gemeinden ein. (Interview, Marcelino Mazapanta, 12.7.2006) In einem indigenisierten Umfeld ist es den patrones sehr daran gelegen, ein gutes Verhältnis mit den Indigenen zu pflegen und diese dementsprechend zu entlohnen, um Konflikte zu vermeiden. Ohne Zweifel gestalteten sich die Beziehungen zwischen hacendados und comunidades in anderen Fällen als Salamálag Chico oder Canchagua durchaus konfliktiver. Alejandro Ninasunta aus Chilla Grande berichtet von heftigen Auseinandersetzungen und Verhandlungen beim Kauf der örtlichen Hacienda. Die comuneros wollten die Hacienda Buenaventura von deren Eigentümer Cesario Oña aus Saquisilí kaufen. In der indigenen Delegation, die den Kauf verhandeln sollte, saßen Adolfo Toaquiza, Alejandro Ninasunta und Antonio Llumitásig, der später der erste indigene Bürgermeister von Saquisilí werden sollte. Aber der Eigner weigerte sich, zu verkaufen. Unter dem Eindruck, seine Hacienda verlieren zu können, ging der Großgrundbesitzer in die Offensive und versuchte, Adolfo Toaquiza einzuschüchtern. Toaquiza beschreibt die Details der gescheiterten Verhandlungen und die daraus resultierende Verschärfung des Konfliktes. Ein weiterer dirigente aus Chilla Grande, Alejandro Ninasunta, erläutert den Prozess des langwierigen Kampfes um das Land, der mit rechtlichen Mitteln und direkten Aktionen geführt wurde, bis er durch die Vermittlung staatlicher Institutionen gelöst wurde: »Bevor wir das Land besetzten, haben wir mit dem hacendado verhandelt. Wir haben ihm unser Geld angeboten, aber er hat uns nie empfangen. Doch eines Tages sagte er: »Ich verkaufe euch das Landstück«. »Ah, es ist zu verkaufen?« »Ja, es ist zu verkaufen«. Aber er sagte nichts mehr, und als wir mit den dirigentes zurückkamen, um zu verhandeln, zeigte er sich nicht. Und so blieb es da stehen. [...] Dann erfuhren wir, dass ein anderer Herr das Land kaufen würde, und unter uns sagten wir, nein, das wollen wir nicht. Und wir sagten den hacenda-

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1990 ER J AHREN

Im offiziellen Bewusstsein gehört die Hacienda in den Bereich der Vergangenheit, sie ist Teil einer durch Modernisierungsprozesse überwundenen Etappe der Geschichte. Vor diesem Hintergrund wird gemeinhin davon ausgegangen, dass die Agrarreformen das Ende der Hacienda und damit auch der Konflikte um Land bedeutete. Auch wenn zutrifft, dass durch die Agrarreform und die Entstehung von Organisationstrukturen der indigenen campesinos die politische Macht der Hacienda – so wie wir in den vorherigen Kapiteln gesehen haben – gebrochen wurde, ist dennoch zu festzuhalten, dass damit nicht auch gleichzeitig der Großgrundbesitz verschwand. Besonders in den Tiefebenen des Andenhochlands wie Cutuchi in der Provinz Cotopaxi ist das kultivierbare Land nach wie vor in den Händen weniger Eigentümer konzentriert. Und im Machachi-Tal in der Provinz Pichincha arbeiten die indigenen campesinos als Landarbeiter bis heute auf den Haciendas. Demgegenüber dauerten die Konflikte um Land im Hochland auch über die 1990er Jahre hinaus Jahre an. So führen Hernán Ibarra und Pablo Ospina allein in der Provinz Cotopaxi zwischen 1980 und 1990 mehr als 30 Landkonflikte auf. (Ibarra und Ospina 1994: 168-175) Nicht zu vergessen ist dabei der Leitsatz des für den ecuadorianischen Kontext emblematischen indigenen Aufstandes im Jahr 1990: »Bis 1992 gibt es keine Hacienda mehr« In einer Auflistung des CONAIE sowie anderer indigener Bauernorganisationen finden wir um das Jahr 1990 57 Beschreibungen von Landkonflikten, acht davon in der Provinz Cotopaxi. Einer dieser Konflikte wurde von Gemeinde Yanaurco über eine Fläche von 745 Hektar in Tusualó geführt. 1961 versuchten die Bauern von Yanaurco, dieses Land sowie ein weiteres Flurstück namens Manzana Araña von der Zentraluniversität zu kaufen – ohne Erfolg. In der Folgezeit geriet das Landstück in den Besitz der Brüder Bautista. Traditionell war das Land um Tusualó in erster Linie für die Brennholzgewinnung von Bedeutung, da sich der Boden nicht gut für landwirtschaftliche Bebauung eignete. Der Konflikt nahm nach der Agrarreform seinen An-

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fang. Dabei sticht er in erster Linie hinsichtlich seines Organisationsprozesses hervor. Auch wenn die Gemeinde von Yanaurco enge Verbindungen zu den Gemeinden der Chalua-Hacienda hatte und zum Kanton Saquisilí gehörte, integrierte sie sich zuerst in die Organisationsstrukturen der Unión de Organizaciones Campesinas del Norte de Cotopaxi (UNOCANC) aus Planchaloma und nicht in die des Casa Campesina aus Saquisilí. Ein praktischer Beweggrund für diese Begebenheit lässt sich wahrscheinlich im Straßennetz finden, da eine Straße, die Yanaurco mit der Panamericana verbindet, durch Toacazo führt, welches im Gebiet des UNOCANC liegt. (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006) Der Landkonflikt entzündete sich an einem freien, zirka 700 ha großen Landstück, das früher zur Hacienda gehört hatte, und das sich in den 1980er Jahren die Brüder Segundo und José Bautista, Mestizen aus der angrenzenden Gemeinde Isinliví, angeeignet hatten. (Interview Jorge Vargas, 4.6.2006 und Lalo Freire, 25.5.2006) Das Gebiet wurde von den indigenen Bauern vor allem für das Sammeln von Brennholz genutzt. Im August 1983 stellten die indigenen campesinos aus Yanaurco einen Antrag an den IERAC auf Rückübertragung des Landes bei Tusualó, welches von den Brüdern Bautista nicht genutzt wurde. Nach einigen Scheindiskussionen wurde dieser abgewiesen. Am 12. und 13. April 1984 kam es zum ersten Zwischenfall größeren Ausmaßes, bei dem die indigenen Bauern, die das umstrittene Landstück besetzt hatten, von Polizeikräften vertrieben wurden. Einige Tage später drang die Polizei in den Markt von Saquisilí ein und nahm zehn campesinos fest, die – nach Wortlaut der Anzeige – gefoltert wurden. Das war aber nur der Anfang des Konfliktes und der Polizeirepression. Im Juli 1985 klagten die UNOCANC und die Gemeinden von Yanaurco und La Provincia vor der Comisión Ecuménica eine Räumungsaktion durch etwa 200 Polizisten an, bei der fünf Hütten niedergebrannt wurden. (CEDHU; Brief der UNOCANC sowie der Gemeinden von Yanaurco und La Provincia an die CEDHU, 9. Juli 1985) Bei einer anderen Gelegenheit stellten sich die organisierten Gemeindemitglieder der Polizei entgegen, um die Inhaftierung eines Genossen zu verhindern. (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006) Die Konflikte beruhigten sich auch nicht während der Regierungszeit von Febres-Cordero. Die Großgrundbesitzer entschieden sich dafür, Paramilitärs aus der Küstenprovinz Esmeraldas unter Vertrag zu nehmen. Im Jahr 1985 verurteilte Leonidas Iza, Präsident des UNOCANC, die Tatsache, dass die Brüder Bautista eine Gruppe von afro-ecuadorianischen Paramilitärs angeheuert hätten, welche die Gemeindemitglieder mit Schusswaffen bedrohten. (CEDUH, Brief der UNOCNAC an Elsie Monje, Präsidentin des CEDHU vom 9. Juli 1985) Als am 30. Oktober sieben von den Bautistas angeheuerten Paramilitärs aus Esmeraldas eine Campesino-Familie auf bestialische Weise misshandelte, eskalierte der Konflikt. In einem am 13. November 1989 in der Zeitschrift Punto de Vista veröffentlichten Artikel wird der Vorfall wie folgt beschrieben:

240 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG »In Yanaurco wird es nie wieder wie vorher sein. Miguel Vargas Toapanta ist mit seinen Kindern, María Anita Vargas, 13 Jahre, und Miguel Vargas, 10, dabei, Brennholz für seine Gemeinschaft zu sammeln; plötzlich verändern sechs oder sieben Individuen schwarzer Hautfarbe, die vermutlich unter dem Befehl von Nelson Semanate stehen, diese alltägliche Szene in eine horrende Blut-Orgie. Bewaffnet mit Peitschen, Macheten und Feuerwaffen greifen die Tagelöhner die Bauern an und veranstalten ein Spektakel unerklärbarer Barbarei. Miguel Vargas schlagen sie ohne Unterlass und trennen einen Großteil seines Ohres mit einem Machetenhieb ab, sein Sohn wird fast bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt, während María Anita einen tiefen Schnitt in einen Arm und in beiden Händen erhält. Doch damit beginnt das blutige Gelage erst. Nachdem der comunero und seine Kinder überwältigt wurden, werden sie von ›den Schwarzen‹ ausgezogen; Miguel Vargas wird gekreuzigt und mit Benzin übergroßen; während er auf das Schlimmste wartet, muss er machtlos zuschauen, wie einer nach dem anderen der Verkommenen María vergewaltigt. Sein Sohn Miguel rettet ihm das Leben: auf Knien, die Hände in die Höhe gestreckt, fleht er die Täter an: ›Verbrennt den taita nicht, bei Gott, tötet den taita nicht!‹. – Es ist genug, die sind fertig – sagt der Mann, der die Bande anführt. Die ›Schwarzen‹ ziehen sich zurück, um sich auszuruhen und zu warten. Die Todesstille, die über der Szene schwebte, wich dem Wehklagen der drei Bauern, die – wie aus einem Albtraum erwacht – den Rückweg zur ihrer comunidad antreten, wo sie endlich Hilfe finden«.

Zuerst stießen zwischen 40 und 50 Gemeindemitglieder, welche die brutale Gewalttat zuerst bemerkt hatten, mit den Paramilitärs zusammen. Diese schossen auf die indigenen campesinos und verletzten sieben von ihnen. Daraufhin riefen die Gemeindemitglieder mit Hilfe ihres Organisationsnetzes Unterstützung aus der gesamten Region zusammen, so dass nun – nach Angabe von Jorge Vargas – 5.000 comuneros den Paramilitärs und den Bautista-Brüdern entgegenstanden. Ein comunero wurde von einer Gewehrkugel im Hals getroffen und schwer verletzt, dennoch gelang es den indigenen Bauern, die Paramilitärs zurückzuschlagen. Insgesamt werden sieben Comuneros von den Paramilitärs verletzt. Jorge Vargas schilderte das Aufeinandertreffen so: »Und dann hatten sie Feuerwaffen, und wir traten ihnen nur mit Steinen und Stöcken entgegen. Sie waren unten und wir oben, auf dem Bergrücken. Sie schickten uns Kugeln hoch, doch wir ließen uns nicht treffen und gingen etwas zurück. Eine Person, Don Miguel Cuyachamin, wurde von einer Kugel im Hals getroffen, beim Eintritt machte sie nichts, aber sie blieb drinnen stecken. Und dann sagte jemand: Was ist das hier? Er fasst es an und das Blut beginnt herauszuströmen. Also brachten sie ihn ins Krankenhaus, und heute ist er wieder gesund. Und die Schwarzen, die bewarfen wir mit Steinen, die ließen wir laufen. Die Kugeln gingen aus und sie flohen durch die Schlucht. Da flogen mindestens jedesmal 50 Steine auf das Haus, volle Kraft. Die Frauen brachten die Steine in ihren chalinas. So war das ein heftiger Kampf« (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006).

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Der Konflikt wurde in solcher Heftigkeit ausgetragen, dass die Paramilitärs letztlich aus Tusualó vertrieben wurden. In den Gemeinden kursieren Gerüchte, dass auch einer der afro-ecuadorianischen Paramilitärs von den comuneros getötet wurde. (Bretón 2012: 251-2) Es scheint, dass der Páramo nach dieser Auseinandersetzung von der indigenen Bevölkerung ohne größere Probleme genutzt werden konnte. Aber zur letztendlichen Lösung des Konfliktes, zur Übergabe des Landes an die Gemeinde von Yanaurco, kam es erst 2006, nachdem das INDA die Eigentümer entschädigt hatte. (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006) Die Legalisierung des Landbesitzes für die indigenen Bauern erfolgte in der Zeit der CONAIE-Präsidentschaft des langjährigen UNOCANC-Präsidenten Leonisas Iza in den Jahren 2003-2004. Zwischen der Gemeinde von Yanaurco und unterschiedlichen linken Gruppierungen besteht eine lange Tradition des Austausches, was bezüglich der Entwicklung des Konfliktes einen interessanten Aspekt darstellt. So waren in Yanaurco die FEI und die Gruppe Celso Fiallo aktiv. Später betätigten sich der MIR und der Partido Socialista Popular sowie der FADI in der Gemeinde. Diese Aktivität linker Gruppierungen spiegelt sich auch in der Positionierung von Yanaurco im Vergleich zu den anderen Gemeinden in Saquisilí. So stellte Elina Guarderas, eine Nonne, die Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre in Saquisilí arbeitete, fest, dass die indigene Bevölkerung in Yanaurco ebenso wie die in Maca Grande ein größeres politisches Bewusstsein als die restlichen indigenen comunidades im Kanton Saquisilí besaß. (Interview, Elina Guarderas, 17.6.2006) Als Gegenbild zum sozialistischen Anwalt, der in seinem Büro in Quito sitzend die indigenen Forderungen in die offizielle politische und juristische Sphäre übermittelt, haben wir es in Yanaurco mit einer Reihe von linken Aktivisten zu tun, die einen Teil ihres Lebens mit den indigenen Bauern geteilt haben. Einige von ihnen lebten über gewisse Zeitspannen auch direkt in den Gemeinden. Auch wenn einige dieser Persönlichkeiten öffentlich bekannt sind, wie etwa Celso Fiallo, kann man dennoch nicht von einer politisch-organisatorischen Kontinuität in der Beziehung zwischen linken Gruppierungen und den indigenen Bauern in Yanaurco ausgehen. Lalo Freire reflektierte diesbezüglich Folgendes: »Wir, die socialistas populares, hatten in dieser Zeit die CEDOCUT und die hatte einen indigenen Zweig, einen Raum, um mit Indigenen zu arbeiten. Und wir arbeiteten damals in dem Gebiet um Maca, und hatten da auch schon eine Verbindung mit Yanaurco hergestellt. Als die FEI sich praktisch auflöste, so 75 oder 78, ich bin nicht sicher, begannen wir zu ihnen eine Verbindung aufzubauen. Und als es 82 oder 84 oben im Gebiet von Yanaurco ein Konflikt um die Länderein von Tusualó gab, sind wir da. Dort haben die mestizischen Besitzer einige Schwarze hingeschickt, eine paramilitärische Gruppe, und es kommt zu einem Zusammenstoß. Und in den comunas von Panchaloma arbeiteten wir zu der Zeit bereits als FADI. Es ist dann über die Beziehung zu Leonidas Izaaus Panchaloma, über die wir die Beziehung ausbauten, oder besser in der Zusammenarbeit mit der UNOCANC nahmen wir die

242 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG Arbeit in Yanaurco auf. […] Und das ist für uns der Anfang. Und, nun gut, das fällt mit dem Ende der FEI dort zusammen, die CTE geht ein, und sie bleiben dort praktisch verwaist zurück, ¿no cierto? Über diese Beziehung zur FEI, ich erinnere mich deutlich, sagte Manuel Toapanta: Bueno und jetzt, was machen wir? Und so stellten sie Kontakte mit dem CEPIS her, das war das Centro de Educación Popular e Investigación Social [...] Aber da unterstützen auch wir sie stark, vor allem in den rechtlichen Fragen, und vor allem halfen wir ihnen bei der ganzen Sache der Repression, die sie erlebten.« (Interview Lalo Freire, 25.6.2006)

Der Konflikt um Tusualó war die letzte große Konfrontation zwischen indigenen Gemeinden und mestizischen Großgrundbesitzern in Saquisilí. Neben diesem Konflikt kommt es in den 1990er Jahren auch zu Streitfällen zwischen den Gemeinden selbst. Daher ist der Kampf um Land nicht mehr das zentrale Anliegen für Jatarishun, die indigene Organisation in Saquisilí. Auch wenn weiterhin einige Haciendas existieren, besonders in den tiefer gelegenen Gebieten, gibt es keine Anzeichen, welche auf ein mögliches Wiederaufflammen des Kampfes gegen den in Saquisilí verbliebenen Großgrundbesitz hindeuten würden. 10

10 Der zentrale Streitpunkt ist heute der Zugang zu Wasser. Gegenwärtig sind 45% der Brunnen in Saquisilí ausgetrocknet. Diese Ziffer zeigt, dass die grundlegenden Bedingungen für das Betreiben von Subsistenzlandwirtschaft nur noch bedingt gegeben sind. So ist ein Teil der Böden schon aufgegeben worden. In anderen Fällen wachsen zwischen den Gemeinden die Konflikte um das Wasser.

III. Indigene Gemeinschaften und Staatsformation. Räumliche Praktiken und Repräsentationen zwischen Mimesis und Alterität

Indigene Staatsfreunde

Am 19. Mai 2006 nahm ich als Beobachter am achten Kongress der indigenen Organisation Jatarishun in Saquisilí teil. Die Jatarishun ist eine Organisation zweiten Grades (OSG), d.h. eine indigene Organisation, die mehrere comunidades – hier alle comunidades des Kantons Saquisilí – umfasst und repräsentiert. Die Versammlungsstruktur war formal ausgelegt, so saßen in dem mit rund 250 Vertretern der indigenen comunidades gut gefüllten Veranstaltungsraum die führenden dirigentes und Ehrengäste auf einem erhöhten Podium am Kopf des Saales. Überraschend war für mich der Beginn des Kongresses: Hier intonierten die dirigentes zusammen mit den Delegierten die ecuadorianische Nationalhymne. Das Singen der Nationalhymne gehört zwar in vielen staatlichen und auch privaten Bildungseinrichtungen – von der Kita bis zur Schule – zum Alltag, doch hatte ich diese patriotische Geste nicht unbedingt in einer regionalen Indígena-Organisation erwartet, die sich ja gerade von der in der Nationalhymne besungenen mestizischen Geschichte absetzt. Hervorzuheben ist, dass die Mehrzahl der Delegierten die Hymne ernst – und laut – sang, dabei aber nicht den sowohl für Frauen als auch Männer traditionellen Hut abnahm. Wie später in diesem Kapitel erörtert werden wird, ist gerade das Tragen des Hutes als symbolischer Akt neuen indigenen Selbstvertrauens zu bewerten, da die Indigenen zuvor gegenüber Mestizen gezwungen waren, den Hut abzunehmen. Saquisilí wurde bereits zu jener Zeit von einem indigenen Bürgermeister vertreten. Entsprechend folgte auf das Singen der Nationalhymne der Verweis auf oder Kurzbeiträge von verschiedenen lokalen Staatsvertretern, wie dem comisario nacional de Saquisilí, dem jefe político del cantón Saquisilí, dem teniente político der Gemeinde Canchagua und dem Bürgermeister der Stadt Saquisilí. Ergänzt wurden diese Beiträge durch Grußworte von Vertretern des MICC, der Indígena-Organisation auf Provinzebene, sowie einer Vertreterin von Lourdes Tibán, der indigenen Leiterin des staatlichen, von der Weltbank finanzierten Programms für indigene Entwicklung CODENPE. Nach der Diskussion der drängendsten Aufgabenfelder der Organisation, die zum Teil in Arbeitsgruppen erfolgte, und die in einen Plan Estratégico münden soll, kam es zur Wahl des Vorstandes. Auch hier wurde sehr auf formale Aspekte geachtet, wie sie dem europäischen Beobachter aus dem Vereinsrecht be-

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kannt sind. Externe, wie die Vertreterin von CODENPE und auch ich selber, wurden als neutrale Wahlbeobachter gewählt und hatten den Ablauf und die Stimmenauszählung zu überwachen, was alles protokollarisch festgehalten wurde. Die Bedeutung, die die indigenen dirigentes in Saqusilí den staatlichen Instanzen und einem bürokratischen und gesetzlich geregelten Ablauf der eigenen politischen Veranstaltungen beimessen, ist nun keineswegs ein neues Phänomen, das auf eine zunehmende Bürokratisierung und NGO-isierung der indigenen Organisationen vor allem in den 1990er Jahren zurückgeführt werden kann. Der Bezug auf nationale Instanzen und Debatten ist bereits bei der vorigen, kommunistisch orientierten Generation der dirigentes zu finden. Dies konnte ich anschaulich im weiteren Verlauf des Abends erfahren. Nach dem Abschluss des Kongresses begoss der frischgewählte Vorstand seine Wahl mit reichlich Schnaps. Der Versammlungssaal wurde zügig in einen Tanzsaal verwandelt, und die Feier begann. Beim Tanz näherte sich mir der bereits über 90jährige dirigente Cesario Cocha an. Cocha hatte in den 1960er Jahren eine Schlüsselrolle beim Kampf gegen die Hacienda und für die Agrarreform eingenommen und dabei enge Kontakte zur FEI unterhalten. Ich hatte bereits ein Interview mit Cesario Cocha geführt und aus früheren Versammlungen der Jatarishun war bekannt, dass ich zusammen mit drei indigenen ForscherInnen, die von der Organisation gestellt wurden, an einer Oral History des politischen Organisationsprozesses der indigenen Bewegung in Saquisilí arbeitete. Cocha begann nun mit mir zu tanzen. Er trug einen Poncho und den obligatorischen Hut auf dem Kopf. Zudem trug er ein mit Tüchern auf den Rücken geschnalltes Päckchen. Unser Tanz erregte schnell die Aufmerksamkeit der anderen Delegierten, und es bildete sich ein Kreis um uns. Nach einigen »Schnäpschen« ging Cocha dazu über, seinen Hut gegen meine Schirmmütze auszutauschen. Nicht ohne dabei verschmitzt zu lächeln. Dann kam es zum Höhepunkt des Tanzes und Cesario Cocha übergab mir das sorgfältig eingeschnürte Paket, das er auf seinem Rücken getragen hatte. Damit war die Zeremonie zu Ende – jedoch nicht ohne dass Cesario Cocha letztlich auch wieder sein Päckchen an sich nahm. In dem Päckchen befanden sich, in mehreren Lagen eingewickelt, die wichtigsten Dokumente, die Don Cesario besaß. Ich kannte diese Dokumente bereits, da ich sie einen Tag zuvor schon gesichtet hatte. Insofern sind der Austausch der Kopfbedeckungen und das Überreichen der Dokumente als symbolische Gabe zu werten. Nach den in den indigenen Hochlandgemeinden geltenden Reziprozitätsregeln ist das Überreichen der Dokumente als Gabe zu sehen, die von mir mit einer Gegengabe beantwortet werden muss. Die vor dem Publikum der versammelten comunidades erfolgte Gabe bekräftigte somit einerseits meine Autorität bei dem OralHistory-Projekt nahm mich aber auch moralisch in die Verpflichtung, eine Gegengabe, so in Form eines abgeschlossenen Projektes, an Cesario Cocha und letztlich an die comunidades indígenas in Saquisilí zu leisten. Mit der Abgabe des Buches

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»Jatarishun. Testimonios de la lucha indígena de Saquisilí« und einer öffentlichen Buchpräsentation im Casa Campesina bin ich dieser Verpflichtung nachgekommen. Für meine Argumentation hier möchte ich nun auf den Inhalt des Päckchens eingehen. Als erstes stach mir ein Plakat ins Auge, auf das auch Cesario Cocha großen Wert legte: Es zeigte, mit vielen nationalen Symbolen unterlegt, die Gesichter der gewählten Präsidenten der Republik Ecuador von 1830 bis 1992. Die weiteren Dokumente spiegelten den Kampf der indigenen Gemeinschaften wider. So gab es Briefe und Schreiben aus dem Kontext des Kampfes für die Agrarreform. Darunter fallen Berichte der Zentraluniversität über den Zustand der Haciendas, Schreiben der Zentraluniversität an Cesario Cocha, Briefe die die FEI und die comuneros an die Zentraluniversität aufgesetzt hatten sowie Zeitungsausschnitte über die Übergabe der Haciendas. Des Weiteren enthielt das Päckchen Korrespondenzen mit unterschiedlichen staatlichen Stellenwie dem Finanzministerium, dem jefe político des Kantons Saquisilí, sowie in Fragen der Anerkennung der gewählten Cabildos der comunas Urkunden des Ministeriums für Landwirtschaft und Viehzucht. Neben den letztgenannten Dokumenten staatlicher Anerkennung der comunas umfasste das Päckchen auch Urkunden der persönlichen Anerkennung Cesarios Cochas, wie eine mit Nationalfahne und Wappen verzierte Urkunde der Provinzdirektion der indigenen Bildung in Cotopaxi. Vor diesem Hintergrund ist es anzweifelbar, der indigen-bäuerlichen Bewegung den Vorwurf zu machen, als »Staatsfeinde« zu agieren. So warf der ehemalige Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ecuador, Manfred Rabeneick (2005), der Indígena-Bewegung vor, zu einer Fragmentierung des Staates beizutragen, die diesen in einen Zustand der Anomie werfe. Dabei bescheinigt Rabeneick der indigenen Bewegung einen ethnischen Partikularismus, der zu einem »Rassismus« gegen die Weißen und Mestizen führe. Was hier zum Ausdruck kommt, ist die simple Formel, dass das Auftauchen ethnischer Gruppen als politische Akteure zu einer Fragmentierung des Nationalstaates führt. Diese Vorstellung ist tief in modernen Imaginarien verwurzelt, die sich von Kommentaren ecuadorianischer Zeitungen bis hin zu supranationalen Debatten über failed states wiederfinden lässt. Entgegen dem politikwissenschaftlichen Mainstream, der die Forderungen von ethnischen Gruppen zumeist in Hinblick auf eine mögliche Schwächung des politischen Systems betrachtet, lautet die These von Melina Selverston-Scher: »In Ecuador, ethnic mobilization has strengthened democratic political systems. Ecuador provides evidence that ethnic-based movements can have a positive role in building and expanding democracy around the world.« (2001: 2-3)In diesem Sinne möchte ich hier argumentieren, dass diese Gleichung für den Fall der ecuadorianischen Indígena-Bewegung aus zwei Gründen nicht aufgeht. Erstens unterstellt sie die falsche Vorstellung einer gesellschaftlichen Normalität, die durch einen homogenen Nationalstaat integriert wird. Hier liegt eine utopische (Wunsch-)Vorstellung von homogener Staatlichkeit und Territorialität zu Grunde, die nicht den post-kolonialen

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Staatsformationen im Andenraum, die durch kulturelle und ethnische Vielfalt und der Existenz von vielfältigen Räumen an den Rändern des Staats gekennzeichnet sind, entspricht. Zweitens impliziert die Gleichung »ethnisches Gruppenbewusstsein = Fragmentierung des Staats«, dass ethnische Gruppen immer das Ziel haben, den Staat zu partikularisieren. Damit sind aber umgekehrt jene Gruppen, die der bestehende Staat bereits inkludiert hat – in diesem Fall die mestizisch-weißen Machtgruppen – als Norm vorausgesetzt. Dies suggeriert, dass es nur diese Akteure sind, die – gegen den Widerstand der »Staatsfeinde« – die nationalstaatliche Norm und Einigung durchsetzen könnten. Entgegen dieser elitenzentrierten Perspektive ist zu betonen, dass es gerade auch die subalternen Gruppen – unter ihnen die Indigenen – waren und sind, die »von unten« zu den alltäglichen Prozessen der Staatsformation beitragen. (Joseph und Nugent 1994) In der in dieser Arbeit angelegten Regionalstudie mit Blick auf Saquisilí lassen sich aus diesem ländlichen Gebiet Ecuadors, das am Rande des Staates verortet ist, indigene Anteile an der Staatsformation herausarbeiten, die ein differenzierteres Bild der geopolitischen Verflechtung von Staat, Nichtregierungsorganisationen, Kirche und indigenen Gemeinschaften zeichnen. Für die hier aufgeworfenen Frage der Konjunkturen von De-Kolonialisierung und der Fortdauer von Kolonialität ist die Frage des state-formation (from below) und die Interaktionen zwischen Staat und indigenen Gemeinschaften insofern von besonderer Relevanz, als dass sie zwischen zwei antagonistischen Polen oszillieren. Auf der einen Seite können die staatlichen Interventionen im Lokalen als Ausdruck modernisierungstheoretisch fundierter Assimiliationsstrategien begriffen werden, wie sie durchaus in der Tradition des Indigenismo und von Entwicklungsagenturen standen, die wie die Misión Andina Mitte des 20. Jahrhunderts massiv in indigenebäuerliche Gemeinden intervenierten. Nach dem Ende der »Administration indigener Bevölkerung« unterhalb des Niveaus der Staatsbürgerschaft kann dies nun als neue Form der Administration und Kooptation indigener Bevölkerung so wieder Assimilation im Sinne einer neuen Konjunktur der Kolonialisierung indigenbäuerlicher Lebenswelten begriffen werden. Auf der anderen Seite war die von den indigenen Gemeinschaften etablierte Schnittstelle politischer Kommunikation mit den staatlichen Institutionen zentral für den Kampf gegen die Hacienda. Es handelte sich um eine Aneignung von staatlichen Strukturen seitens der indigenen Gemeinschaften. Dabei traten die indigenen Bauern keinesfalls im Sinne Barrington Moores (1987) als traditionelle Akteure auf, die in ihrer Rückwärtsgewandtheit mit reaktionären bis faschistischen Bewegungen in Verbindung gebracht werden können, sondern als moderne Akteure von pro-aktivem gesellschaftlichen Wandel. Der sozialistische Diskurs scheint nicht aufgesetzt gewesen zu sein, sondern eine Möglichkeit, die moralische Ökonomie

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der Gemeinschaften mit denen des nationalen Staats im Sinne einer andinen Moderne zu harmonisieren. In diesem Zusammenhang geht es mir nicht darum, den peripheren postkolonialen Staat, der sich in enger Verflechtung und nahezu in »mimetic relationship« mit den Staatsbildungsprozessen in Westeuropa und den USA ausgebildet hat (Taussig 1993: 57-61), zu definieren. Dennoch möchte ich in Anschluss an die Arbeiten von Antonio Gramsci, Michel Foucault und deren Rezeption in der neuen Politischen Anthropologie des Staates (Poole und Das 2004, Hansen und Stepputat 2001, 2004; Nugent und Vincent 2004; Sharma und Gupta 2006) meine Perspektiven auf die Herstellung und Aushandlung von Staatlichkeit darlegen. Bei Gramsci ist der Staat nicht das Instrument der Bourgeoisie, sondern ein Resultat sozialer und politischer Kämpfe. »Gramsci tried in other words to denaturalize the state by pointing to its essentially political, and therefore unstable, partial and always violent character.« (Hansen und Stepputat 2001: 3) Dies wird von Alhusser und Poulantzas weitergeführt, wo »the state remained thoroughly ›socialized‹ and epiphenomenal, that is, an expression of social relations and ideological configurations and, hence, less interesting as a phenomen in its own right.« (Hansen und Stepputat 2001: 3) In diesem Sinne interessiert mich hier der Staat als immer erneuer- und veränderbares Produkt, das aus den diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken in von Macht durchsetzten Akteurskonstellationen entsteht. Dabei sind in dem hier gewählten Forschungsfeld die besonderen Verortungen der sozialen Akteure und deren Zuweisung und Prägung durch die Geopolitik der Kolonialität zu berücksichtigen. Auf eine weitere Form der Emergenz von Staatlichkeit weist Michel Foucault in seinen Arbeiten zur Gouvernementalität hin. Foucault argumentiert in genealogischer Perspektive, dass der Staat – als Ensemble institutioneller Formen – erst durch eine Gouvernementalisierung der Gesellschaft möglich wurde. Hier ist der Staat nicht die Quelle von Macht, sondern »the effect of a wider range of dispersed forms of disciplinary power that allow »the state« to appear as a structure that stands apart from, and above, society.« (Hansen und Stepputat 2001: 4) »Kurz, der Staat hat keine Innereien – das ist bekannt –, nicht nur in dem Sinne, daß er keine Gefühle hat, weder schlechte noch gute, sondern er hat keine Innereien in dem Sinne, dass er kein Inneres hat. Der Staat ist nichts anders als der bewegliche Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten.« (Foucault 2004b: 115) Der Staat ist somit der »bewegliche Ausschnitt einer ständigen Staatsbildung« (Foucault 2004b: 115), In ihrer politischen Anthropologie des Staates plädieren Hansen und Stepputat dafür, die Spannung zwischen Gramsci – Staat als Ausdruck der sozialen Beziehungen – und Foucault – Staat als Effekt gouvernementaler Techniken – nicht aufzuheben, sondern eine breitere Perspektive auf die Ambiguitäten: »as both illusory as well as a set of concrete institutions; as both distant and impersonal ideas as well

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as localized and personified institutions, as both violent and destructive as well as benevolent and productive.« (Hansen und Stepputat 2001: 5) zu entwerfen. In diesem Sinne soll es im Folgenden darum gehen, die Neukonfiguration einer Schnittstelle politischer Kommunikation zwischen staatlichen Institutionen, Nichtregierungsorganisationen und vor allem indigenen Gemeinschaften und Bewegungen in Hinblick auf die Praxis, Performanz und Imagination von Staatlichkeit zu betrachten. Dabei gilt es auf der einen Seite herauszuarbeiten, wie der Staat sich selber über Performanz und Imagination entwirft, in Randzonen realisiert und sich selbst zum Fetisch macht. 1 Andererseits ist der Staat aber auch für subalterne Akteure einer der wichtigsten Adressaten für Unrechtsdiskurse. Er ist, wie Hansen und Stepputat betonen, eine »hope-generating-machine«, wobei es allerdings auch der Protest und die partiellen Erfolge und Kooptationen von Protestbewegung selber sind, die diese Hoffnungs-Maschine am Laufen halten. Der hier gewählte Ansatz vermag es – jenseits des homogenisierenden Blicks auf die Staatsformation – gerade die fragmentierten und vielstimmigen Konstellationen politischer Kommunikation in den Blick zu bekommen und damit zu einem »more spatially and conceptually dispersed picture of what the state is« (Hansen und Stepputat 2001: 6) zu kommen. In Hinblick auf die Frage der Fortdauer von Kolonialität und den Konjunkturen von De-Kolonialisierung steht hier zur Disposition, inwiefern Prozesse der Staatsbildung zu einer Neo-Kolonialisierung führen oder aber von der indigenen Bewegung strategisch für das Projekt der Dekolonialisierung eingesetzt werden konnten. Es stellt sich somit die Frage, inwiefern der Hacienda-Staat der das 19. und beginnende 20. Jahrhundert prägte, überwunden werden konnte. Dabei sind innerhalb einer kurzen historischen Phase rasante Veränderungen festzuhalten. In den 1990er Jahren kam es zu landesweiten indigenenAufständen, die eine nachhaltige und rasante Konjunktur der Dekolonialisierung einleiteten. Bereits 1998 definierte sich der ecuadorianische Staat als pluriethnisch und plurikulturell. Und in der seit 2008 gültigen Verfassung wurde die Plurinationalität des ecuadorianischen Staates anerkannt und indigene Konzepte wie sumak kwasay – Gutes Leben – als Leitbild gesellschaftlicher Entwicklung als Verfassungsziel festgehalten.

1 Foucault selber versucht zwar, sich deutlich von der Analyse des Warenfetischismus von Karl Marx abzugrenzen, allerdings gibt es doch deutliche gemeinsame Ansatzpunkte in der De-Essentialisierung von Ware bzw. Staat und deren analytische Rückführung auf die soziale Praxis.

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C OMUNAS – Z WISCHEN STAATLICHER K ONTROLLE UND INDIGENER AUTONOMIE Eines der ersten und wichtigsten Instrumente bei der Entstehung einer Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit in den indigen-bäuerlich geprägten Regionen des Andenhochlands in Ecuador war die 1937 mit dem Ley de Organización y Régimen de Comunas (kurz Ley de Comunas genannt) und dem Estatuto de las Comunidades Campesinas etablierte Möglichkeit, staatlich anerkannte comunas bilden zu können. Hiermit konnten sich Siedlungen mit einer Mindestzahl von 50 Bewohnern unter der rechtlichen Figur der comuna zusammenschließen. Dazu mussten sie einen staatlich anerkannten Cabildo gründen, dem ein Präsident vorstand, der die Belange der comuna vertrat. Mit dieser Möglichkeit wurde – jenseits der nahezu allumfassenden Hacienda-Herrschaft – eine kontinuierliche Kommunikation zwischen den comunas und staatlichen Instanzen wie zuerst dem Ministerium für soziale Fürsorge (Ministerio de Previsión Social) und später dem Ministerium für Landwirtschaft und Viehzucht (Ministerio de Agricultura y Ganadería, MAG) etabliert. Problematisch war, dass innerhalb der Haciendas selber keine comunas gegründet werden durften, so dass deren quasi-souveräne Macht unangetastet blieb. Zudem überlagerte und zerstörte die comuna die politisch-territorialen Bezüge der andinen Ayllus. Das Ley de Organización y Regimen de Comunas wurde 1937 von der progressiv orientierten Militärregierung unter Federico Páez erlassen. War die Regierung Páez zunächst noch offen sozialistisch orientiert – so wurden viele Sozialisten in das Ministerium für soziale Wohlfahrt berufen – so zeigte sie sich mit der Zeit gegenüber den radikaleren Forderungen, wie der von der Sozialistischen Partei geforderten Agrarreform, zunehmend verschlossen und verbot im November 1936 gar die Kommunistische Partei. Doch angesichts der drängenden Konflikte um die Hacienda und dem zunehmenden Organisationsprozess in Form von kommunistischen Gewerkschaften musste die Regierung reagieren. Vor diesem Hintergrund kann das Ley de Comunas als Versuch begriffen werden, die indigenen Organisationsprozesse unter staatliche Kontrolle zu bringen und damit die von der FEI gegründeten, radikaleren Gewerkschaften zu schwächen. (Becker 2008: 72) Das Gesetz hatte eine offensichtlich paternalistische Ausrichtung, indem der Staat sich das Recht vorbehielt, in die comunas zu intervenieren. So mussten die von den comuneros gewählten Vertreter staatlich anerkannt werden, wobei es durchaus zur Ablehnung oder zu Veränderungswünschen seitens der staatlichen Kontrollbehörde kommen konnte. Insofern kann die comuna durchaus als Regierungstechnik des Staates begriffen werden, die als Politik der Verortung die Bevölkerung territorialisierte und verwaltbar machte. Wie sozialanthropologische und ethnohistorische Arbeiten dargelegt haben, steht die Politik der Verortung der comuna damit der andinen Logik des Ayllu, die auf Verwandtschaftsbeziehungen beruht, entgegen. (Sánchez-Parga

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2007: 28-35) Insofern kann mit Sánchez-Parga durchaus kritisch auf eine koloniale Erneuerung verwiesen werden: »Die comuna ist teilweise das Ergebnis kolonialer und großgrundbesitzerischer Organisation und Verwaltung, die die indigene Bevölkerung identifizieren, definieren und umgrenzen musste (auch für Zensuserhebungen), wobei die eigenen familiären Organisationsformen und Verwandtschaftsbeziehungen ignoriert oder übersehen wurden.« (Sánchez-Parga 2007: 33)

Bei dieser Interpretation wird allerdings die erstaunliche Aneignungskraft der indigenen Gemeinschaften außer Acht gelassen, die sich die comuna zu Nutzen gemacht haben. Insofern kann die comuna – als staatliche Instanz – nicht allein als bürokratisches Herrschaftsinstrument begriffen werden, sondern sie eröffnete gleichzeitig neue Handlungsräume an den Rändern des Staates. Für Roberto Santana ist die comuna die »única institución indígena autorizado al interior del Estado«, die im Kontext einer rassistischen Gesellschaft Schutz bietet. (Santana 1995: 117) Dabei verkennt er allerdings, dass die ethnische Dimension keinesfalls beabsichtigt war – so gibt es im Ley de Comunas keine Bezüge auf das Indigene – vielmehr haben sich die Indigenen diese staatlich-politische Instanz selbstständig angeeignet. Für Santana stellt die comuna eine relativ autonome indigene Regierungsinstanz dar, die vor allem auch für die gemeindeinterne Konfliktlösung zuständig ist, so dass auf mestizische Autoritäten nur im Extremfall zurückgegriffen werden musste. (Santana 1995: 115) Die comuna regierte sich selbst. Darüber hinaus liegt die Stärke des Cabildo in seiner Außenpolitik, dem Kontakt mit Verwaltung, Justiz, Entwicklungsagenturen. (Santana 1995: 115) Dies führte dazu, dass viele mestizische Übersetzer, wie compadres, Anwälte, Händler, Politiker zunehmend weniger für die politische Kommunikation mit dem Staat in Anspruch genommen werden mussten. (Santana 1995: 116) Entsprechend fasst Santana zusammen »Als einzige rechtlich-anerkannte indigene Einheit ist die comuna auch die politische Instanz par excellence, sowohl wegen ihrer allumfassenden Repräsentativität, als auch aufgrund ihrer Fähigkeit, die bisherigen Zwischenhändler in indigenen Angelegenheiten zu ersetzen.« (Santana 1995: 116)

Beide Perspektiven aufgreifend soll hier im Folgenden der hybride Charakter der comuna herausgearbeitet werden, da sie sowohl für den späteren indigenen Organisationsprozess die kleinste organisatorische Einheit als auch aus staatlicher Sicht die kleinste administrative Einheit in indigen-bäuerlichen Regionen darstellte. Dabei interessiert es mich hier weniger, zu einer Definition des Wesens der comuna zu gelangen, vielmehr geht es mir darum, herauszuarbeiten, wie die comuna als Schnittstelle zwischen indigenen Gemeinschaften und staatlichen Instanzen in der Alltagspraxis funktionierte.

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Bei der comuna handelt es sich um die Wiederholung (post-)kolonialer Formen – so beispielsweise die kollektiven, westlichen, staatlich-korporativistischen Organisationsformen –, während sie gleichzeitig »doch nicht ganz dasselbe ist« und von andinen Subjektpositionen durchzogen sind. (Bhabha 2000: 126) Es gibt immer einen ambivalenten Bedeutungsüberschuss zwischen Regulierung und »Un(an)geeignetem«. (Bhabha 2000: 127) Ganz in diesem Sinne beurteilt der ehemalige Präsident der CONAIE, Luis Macas, die comuna wie folgt: »Im Widerstandskampf sind viele Begriffe, die wir nutzen, nicht die unsrigen. Das ist auch im Fall des Begriffs der comunidad so. [...] Der Begriff comuna und/oder comunidad wurde uns vom Staat auferlegt. [...] Es waren, und es sind noch immer Mechanismen des Widerstands, Formen in denen wir Mimese üben, um zu überleben.« (Macas 2009: 88-89)

Eine Revision der reichhaltigen Korrespondenz zwischen dem Ministerio de Previsión Social (und später dem Ministerio de Agricultura y Ganadería) und den comunidades des Kantons Saquisilí zeigt, wie die comunidades durchgängig an die sozialen Aufgabe des Staates appellieren und das Recht auf Entwicklung einfordern. Auch wenn diese Anrufung und Beschwörung von Staatlichkeit nicht immer gehört wurde, stellte sie eine entscheidende Form der politischen Kommunikation an der Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit dar. Der Staat wird viel weniger bürokratisch von oben durchgesetzt, sondern Staatlichkeit wird von unten eingefordert und kommunikativ hergestellt. Auch in seiner Bedeutung für die Konjunktur der De-kolonialisierung sind diese Organisationsprozesse nicht zu unterschätzen. Wenngleich das Gesetz zur Befriedung der Landkonflikte und zur Eindämmung linksradikaler Organisationsprozesse erlassen wurde, so waren in der Folgezeit dennoch auch subalterne Praktiken der Aneignung des Gesetzes zu finden, wie sie vor allem im Kontext des Kampfes gegen die Hacienda angewandt wurden. Pionier bei der Gründung von comunas in Saquisilí war Rumiquincha, die sich bereits am 16. Dezember 1938 konstituierte. Vermutlich stand diese rasche Gründung im Zusammenhang mit den bereits geschilderten Grenzstreitigkeiten mit der Hacienda Salamalag, damals im Besitz der Zentraluniversität. Hier hatte die frisch gegründete comuna bereits im Oktober 1939 – vermittelt über den sozialistischen Rechtsanwalt Gonzalo Oleas, (Becker 2011a) – Kontakt mit dem Ministerium für soziale Wohlfahrt aufgenommen, um eine Lösung in diesem Konflikt zu finden. (MAG, CC, Rumiquincha, 3.10.1939, 30.10.1940) Bezeichnenderweise ist Maca Grande, die an Saquisilí angrenzende indigene comunidad, die durch die frühen Kontakte mit sozialistischen und kommunistischen Anwälten geprägt ist, die erste überhaupt in Cotopaxi konstituierte comuna. Sie wurde am 15.Dezember 1937 – also noch im gleichen Jahr, in dem das Gesetz erlassen wurde – gegründet. Doch blieb Rumiquincha zunächst einmal die einzige comuna im Kanton Saquisilí. Erst Mitte der 1950er Jahre kam es zu einer ersten Welle von comuna-

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Gründungen, die sich vor allem auf die im tiefer gelegenen, östlichen Teil von Saquisilí erstreckte. Hier handelte es sich größtenteils um freie comunidades, die allesamt außerhalb des Territoriums des Hacienda-Komplexes der Zentraluniversität lagen. Tab. 6: Comunas im Kanton Saquisilí Comuna Rumiquincha Guanto Grande Guanto Chico- Miraflores Salacalle Chilla San Antonio Chilla Grande-Manchacazo El Tejar Salamalag Chico Ninin Cachipata Salamalag Grande Sn. Francisco Chilla Pata Calera Manchacazo Yanaurco (Grande) 2003 Chilla Chico Natividad Salamalag Tambor Urco Atapulo- Sta Ines- Salamalag Canchagua Chico Saraucsha

Gemeinde (parroquia) Saquisilí Saquisilí Saquisilí Saquisilí Canchagua Saquisilí Saquisilí Saquisilí/La Matriz Saquisilí/La Matriz Saquisilí/Cochapamba Saquisilí/La Matriz /Cochapamba Saquisilí Saquisilí Canchagua Saquisilí/La Matriz Saquisilí/La Matriz Canchagua Cochapamba

Gründung 16.12.1938 13.07.1954 14.09.1954 14.09.1954 05.08.1956 11.07.1956 27.05.1958 30.03.1962 31.08.1964 31.08.1964 31.08.1964 20.02.1968 30.03.1970 20.07.1970 08.11.1971 18.11.1971 18.09.1978 06.04.1998

Eigene Erstellung: MAG, Comunas en Cotopaxi.

Dann im Jahre der ersten Agrarreform, 1964, gründeten sich comunas aus dem Umkreis der Hacienda Salamalag, nachdem die Zentraluniversität Land an die huasipungeros vergeben hatte. Und erst im Zuge der endgültigen Übergabe der Haciendas an die indigenen Gemeinden gründeten sich um 1970 sechs weitere comunas. Damit war der Prozess der comuna-Gründungen weitgehend abgeschlossenen. Neugründungen entstanden jetzt nur noch durch die Spaltung der bereits bestehenden comunas. Dies gilt auch für die jüngste im MAG registrierte comuna des Kantons Saquisilí, Saraucsha. Sie ist das Ergebnis einer Abspaltung von der Comuna Chillapata Calera. In einem Brief vom 16. Februar 1997 bat die sich im Konstitutionsprozess befindende comuna den Präsidenten von Chillapata Calera um Er-

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laubnis, die notwendigen formalen Schritte zu unternehmen. Begründet wurde die Neugründung v.a. mit Vernachlässigung durch Chillapata Calera, die auf die geographische Distanz von zehn km zurückgeführt wurde. (MAG, CC, Saraucsha 1997) Im Protokoll der Versammlung von Chilla Pata Calera vom 9. März wird festgehalten, dass es seitens dieser comuna keine Einwände gegen die Autonomiebestrebungen von Saraucsha gab (MAG, CC, Saraucsha 1997), und so wurde die neue Comuna Saraucsha vom MAG anerkannt. Im Folgenden soll anschließend an diese Überlegungen dargelegt werden, wie sich mit der Etablierung der comunas die politische Kommunikation zwischen Staat und indigenen Gemeinschaften nachhaltig veränderte, sich translokale Kommunikationskanäle etablierten und ein Prozess des »state-formation from below« (Joseph und Nugent 1994) initiierte, der sowohl kolonialisierende als auch dekolonialisierende Tendenzen beinhaltete.

P OLITISCHE K OMMUNIKATION AN DER S CHNITTSTELLE POST - KOLONIALER S TAATLICHKEIT Die comunas liegen in Regionen, die in der Politischen Anthropologie und Geschichtswissenschaft als »margins of the state« (Das und Poole 2004) oder »Räume begrenzter Staatlichkeit« (Lehmkuhl und Risse 2007) begriffen werden, und die in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der akademischen Debatte gekommen sind. Mit dem Perspektivwechsel auf diese vermeintlich randständigen politischen Räume wird die bis dato oft vorherrschende Vorstellung einer sich modernisierenden Nation, die allenfalls durch rückständige, noch zu entwickelnde Bereiche gekennzeichnet ist, aufgebrochen, um die Eigenlogik dieser Räume zu betrachten. Und dennoch enthalten diese Ansätze oft eine untergründige Perpetuierung kolonialer Imaginarien. So verweisen die »Ränder des Staates« auf ein staatliches Zentrum, wenngleich sich das Autorinnen-Duo Das und Poole ausdrücklich von der Vorstellung des Staates einer rationalen Verwaltungseinheit politischer Organisation, die geschwächt oder durch die Ränder weniger artikuliert wird, (Das und Poole 2004: 3) absetzen will. Beschrieben werden die Praktiken und Techniken wie »the state is imagined as an always incomplete project that must constantly be spoken of – and imagined – through an invocation of the wilderness, lawlessness, and savagery that not only lies outside its jurisdiction but also threatens it from within.« (Das und Poole: 2004: 7) Damit wird der imaginierte Naturzustand zum Außen aber auch zum notwendigen Ursprung des Staates. Ein Verhältnis, das permanent erneuert werden muss, weswegen Ränder auch keine räumlich und zeitlich begrenzte Ausnahme vom und im »normalen« Staat darstellen, (Das und Poole 2004:11) sondern

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im Sinne poststrukturalistischen Denkens überhaupt als Bedingung für dessen Konstruktion begriffen werden. Um die Reproduktion des Dualismus von Innen und Außen, Staat und NichtStaat, Ordnung und Chaos zu überwinden und zu einer komplexeren Analyse zu gelangen, wird hier das Konzept der Schnittstelle politischer Kommunikation verwendet. Dies ist ein Ort, an dem unterschiedliche Kulturen, soziale Felder und/oder Akteure aufeinandertreffen und Übersetzungsarbeit geleistet wird, die zu einer Diffusion von Ideen, Konzepten, Theorien und Anliegen führt. Mit dem Schwerpunkt auf Prozesse politischer Kommunikation und deren Übersetzung sind die Semantiken, die in den Anliegen formuliert werden, von besonderem Interesse. Ganz in diesem Sinne haben Hansen und Stepputat (2001) als Erste eine Annäherung an die Produktion gesellschaftlicher Imaginarien von Staatlichkeit vorgeschlagen, diese mit dem Zugriff auf »languages of stateness« zu analysieren, also wie der Staat sich selbst realisiert und wie er im Alltagsleben und lokalen Formen erscheint. Insofern begreifen Hansen und Stepputat den Staat als eine »historically specific configuration of a range of languages of stateness, some practical, others symbolic and performative, that have been disseminated, translated, interpreted, and combined in widely differing ways and sequences across the globe.« (Hansen und Stepputat 2001: 7) Dabei machen sie drei »symbolic languages of authority« aus, welche die Imagination des Staates reproduzieren. Die erste bezieht sich auf die Institutionalisierung des Gesetzes und die Herstellung von Autorität, die zweite auf die Materialisierung des Staates und die dritte auf die Nationalisierung des Territoriums. An diese Überlegungen anschließend soll im Folgenden für die post-koloniale Schnittstelle von Staat, comunas und anderen politischen Akteuren herausgearbeitet werden, welche Semantiken von Staatlichkeit 2 in der politischen Kommunikation verwendet wurden. Dabei sind diese Semantiken nicht nur als Repräsentationen zu begreifen, sondern im Sinne Stuart Halls als »signifying practices«, die sich in der Performanz des Aussprechens und Lesens realisieren. Insofern ist zu fragen, »how these documents become embodied in forms of life through which ideas of subjects and citizens come to circulate among those who use these documents.« (Stuart Hall 1996: 16) Damit kommt es zu einem forschungsstrategischen Perspektivwechsel von der Ebene der Repräsentationspolitik hin zur Alltagspraxis. Dabei sind die jeweiligen Kommunikationssituationen und das strategische und taktische Verhalten gegenüber den vorgestellten Bildern von den Anderen zu berücksichtigen, die selber schon Teil des Habitus der Akteure werden.

2 Dies ist auch inspiriert von den Semantiken des Ethnischen, wie Pfaff-Czarnecka (2012) sie vorschlägt.

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Semantiken von Bildung und Staatsbürgerschaft Bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts besaß Bildung innerhalb der indigenen Gemeinschaften einen hohen Stellenwert, so wurden bereits in den 1940er Jahren von der FEI indigene Schulen eingerichtet, und in den 1970er Jahren begann der Prozess der interkulturellen bilingualen Bildung. Dieser hohe Stellenwert von Bildung schlug sich auch in den comuna-Gründungen nieder und bildete ein weites Feld, in dem politische Kommunikation mit staatlichen Institutionen vollzogen wurde. Beispielsweise war für Salamalag Tambor Urco der geplante Bau einer Schule einer der zentralen Gründe, um sich 1971 als comuna zu konstituieren. (MAG, CC Salamalag Tambor Urco, 1971) Auch Chilla San Antonio strebte 1971 den Bau einer Schule an, wozu die comuna die Unterstützung des Ministerio de Educación beantragte und die Bewilligung unter der Auflage erhielt, dass die comuna den Boden und das Gebäude stellen sollte. Um den Boden, der als Gemeinschaftsbesitz der comuna gehörte, an den Staat abgeben zu können, wurde die Erlaubnis des Ministerio de Bienestar Social benötigt. Entsprechend wandten sich die comuneros an diese Instanz und formulierten ihre Bitte insofern innerhalb der Semantiken von Staatlichkeit, als dass die Ausbildung von Staatsbürgern als Ziel des Bildungsprozesses dargestellt wurde. So formulierte die Comuna Chilla San Antonio 1971 »mit dem Ziel eine Schule zu haben, um unsere Kinder und zukünftigen Staatsbürger zu verbessern. Auf Grund des hier Vorgetragenen bitte ich um die angemessene Autorisierung von Ihnen, Herr Minister, um die effektive Übergabe des betreffenen Gebietes und Gebäudes zu Gunsten des Fiskus zu vollziehen« (MAG, CC, Chilla San Antonio; 1971).

Gerade im kommunikativen Feld der Bildung zeigte sich aber auch, wie sehr die politische Kommunikation über Staatlichkeit in beide Richtungen verlief. Die Indigenen präsentierten sich willig, gute und verantwortungsvolle Staatsbürger zu werden. Denn zu dieser Zeit war das Wahlrecht nur alphabetisierten Bürgern vorbehalten, so dass die Bildung in der Tat dazu beitrug, die indigenen Bauern in diesem Sinne zu vollständigen Staatsbürgern zu machen. Gespiegelt findet sich der Aufruf zur Alphabetisierung dann auch in den Auflagen seitens der staatlichen Institutionen, so wurde die Satzung der Comuna Guanto Chico im August 1964 vom Ministerio de Prevesion social y comunas mit folgender Auflage akzeptiert: »Es ist die Aufgabe der comuneros, die nicht lesen und schreiben können, die Alphabetisierungskurse zu besuchen; diejenigen, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken, werden von der comuna ausgeschlossen« (MAG, CC, Guanto Chico, 1964).

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Semantiken von Entwicklung Eine weitere zentrale Semantik von Staatlichkeit bestand in dem Bereich sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung. In der Phase des desarrollismo wurde der Staatsapparat von den herrschenden Eliten erweitert und diversifiziert, was sich auch in der Gründung einer Reihe von Institutionen und Programmen zur Entwicklung peripherer Regionen ausdrückte (Deler 2007: 352-254). Ein zentrales Instrument zur staatlichen Penetration der ländlichen Gebiete des Hochlandes war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Programm der Agrarreform (1964 und 1973), das der Hacienda die geopolitische Vormachtstellung in diesen Regionen strittig machte. Von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er prägte die Misión Andina, ein breit angelegtes Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, das in Kooperation mit der ILO durchgeführt wurde, mit einem indigenistischen Schwerpunkt auf dem »Entwicklung der Gemeinschaft« (desarrollo de la comunidad) die entwicklungspolitische Landschaft. (Bretón 2001). Doch stießt das Programm nicht immer auf die sofortige Akzeptanz der indigenen Gemeinschaften. Aus einem Fax des teniente político vom 2.7.1965 geht hervor, dass zwei Mitglieder, wahrscheinlich der comunidad Guanto Grande, Elias Chicaiza und Francisco Vargas verhaftet wurden »aus dem Grund, dass sie gefährliche Individuen, wie Dogmatisierte und zusammen mit anderen comuneros einen Aufstand gegen die Misión Andina machen könnten.« (MAG, CC, Guanto Grande, 1965) Insgesamt blieb der Einfluss der Misión Andina in Cotopaxi relativ beschränkt. Und nach der Durchführung der ersten Agrarreform 1964 stellte die fehlende entwicklungspolitische Nachsorge nach der Landverteilung ein Hauptproblem für die Durchsetzung von Staatlichkeit dar. So gab es gerade in den 1960er und 1970er Jahren keine systematischen staatlichen Programme, um sich diesen Raum zu erschließen und um ihn nachhaltig zu kontrollieren. Erst in den 1980er Jahren setzte unter dem Schlagwort der integralen ländlichen Entwicklung (desarrollo rural integral, DRI) ein groß angelegtes Programm zur ökonomischen Entwicklung ein. In der Nähe von Saquisilí wurde das Pilotprojekt Toacazo-Tanicuchi-Pastocalle durchgeführt (Bretón 2012), das auch entwicklungspolitische Interventionen in Saquisilí mit sich brachte. Nachdem noch Mitte der 1950er Jahre in den comunidades eine gewisse Skepsis gegenüber entwicklungspolitischen Interventionen vorherrschte, so sahen die comunas seit den 1980er Jahren Entwicklung als ein zentrales Konzept an, um sich in die Nation einzuschreiben. So schrieben die Bewohner von Manchacazo in ihrem Gesuch, als comuna anerkennt zu werden, an das Ministerio de Bienestar Social, folgende Begründung:

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»mit dem patriotischen Ziel, für das Vorwärtskommen und den Fortschritt derselben (der comunidad, OK.) zu arbeiten, und gleichzeitig die Interessen des Kollektivs zu vertreten, und ein Alphabetisierungszentrum, Handwerkskurse, Schulen für die Bildung zu erreichen, kurz, ein kulturelles Niveau zu erreichen, das uns als Staatsbürger erhebt, so dass wir dem Land nützlich sein können.« (MAG, CC, Manchacazo 1988)

Über die direkte Durchführung von Projekten hinaus ist in den Briefwechseln zwischen dem Ministerio de Bienestar Social eine enge Verknüpfung der Konzepte Arbeit, Moral und Entwicklung zu finden. Konkret wurde in den Briefen der comunas häufig moniert, dass sich comuneros weigerten, an Gemeinschaftsarbeiten, die vom Cabildo ausgeschrieben wurden, teilzunehmen. In diesen Fällen richteten die presidentes Anklagen an staatliche Autoritäten, vorzugsweise an das Ministerio de Previsión Social. Von dort aus wurde der Missstand dann an lokale staatliche Repräsentanten wie den teniente político oder den jefe político weitergeleitet, um die Arbeitsleistung der comuneros zu erzwingen. So forderte der Cabildo von Guanto Chico – wie der Subsecretario des Ministerio de Previsión Social an den jefe político von Saquisilí verlauten ließ - die Mitarbeit in Form von mingas an Infrastrukturprojekten ein: »Die Mitglieder des Cabildo von ›Guanto Chico‹ haben sich an dieses Ministerium angenähert, da sich verschiedene comuneros weigern, bei den Arbeiten zum Bau der Gemeindeschule, des Hauses des Cabildos und des Friedhofs mitzuwirken und ihre monatlichen Raten zu bezahlen.« (MAG, CC, Guanto Chico, 17.10.1968)

Interessant ist hier – wie auch in vielen anderen Fällen – der etablierte Kommunikationskanal. Statt direkt mit den lokalen Stellvertretern der Staatsgewalt zu verhandeln, wählte die comuna den Weg über die zentralstaatlichen Stellen, die dann mit höherer Autorität ausgestattet auf die lokalen Vertreter einwirkten, die ihrerseits die comuneros sanktionierten. (MAG, CC, Ninin Cachipata 1971; CC, Guanto Chico, 17.10.1968; CC, Atapulo 28.3.1973) In einem ähnlich gelagerten Fall wandte sich das Ministerio de Previsión Social ebenfalls auf Grund einer Bitte der comuna an den jefe político, um die Arbeitsverweigerung von einigen comuneros beim Bau einer Kapelle zu beheben. (MAG, CC, Atapulo 28.3.1973) Das Ministerium forderte auf der Grundlage dieser Eingabe der comuna den teniente político auf, den arbeitsunwilligen comuneros Strafen gemäß dem Statut der comuna aufzuerlegen. Offensichtlich wurden auf der Grundlage dieser Beschwerden von Seiten der comunas auch lokale Polizeiaktionen durchgeführt. So bei einem Konflikt aus dem Jahre 1972 zwischen den comunidades Ninin Cachipata einer- sowie Chillapata Calera und Salamalag andererseits. Der Cabildo von Ninin Cachipata warf in diesem Fall dem Präsidenten von Chillapata Calera vor, comuneros von Ninin Cachi-

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pata zu mingas, Gemeinschaftsarbeiten, einzuberufen. Die Weigerung an den Arbeiten teilzunehmen führte zur Verhaftung von vier comuneros. (MAG, CC Ninin Cachipata 1972) Oft ist der Hintergrund der fehlenden Partizipation bei mingas nicht aus den Urkunden ersichtlich, doch ist zu vermuten, dass dem meist intrakommunale Auseinandersetzungen zu Grunde lagen. Im Falle der Probleme in Ninin Cachipata handelte es sich zwischen 1971 und 1973 um einen religiös motivierten Konflikt, der durch die neue Präsenz von Evangelikalen in der Kommune hervorgerufen wurde. Mit dem Ende des desarrollismo und dem Leitbild des Entwicklungsstaates sowie der zunehmenden NGO-isierung des entwicklungspolitischen Feldes haben die Semantiken von Entwicklung in Hinblick auf die politische Kommunikation an der Schnittstelle post-kolonialer Staatlichkeit nachgelassen. Mit der neoliberalen Wende seit Mitte der 1990er brach die nationale Entwicklungsrhetorik ab, stattdessen wurde nun in mehr technokratischer Manier von Projekten gesprochen. So bat Salamalag Atapulo, das gerade das Projekt eines Bewässerungssystems abgeschlossen hatte, das MAG um Mittel zur Verbesserung der Land- und Viehwirtschaft. (MAG, CC Salamalag, 2001) Auch hatte sich der Staat zu Beginn der 1990er Jahre weiter aus der Durchführung von Projekten zurückgezogen und dieses Feld den NGOs überlassen. Erst nach den Mobilisierungserfolgen der indigenen Bewegungen kam es mit dem WeltbankPilotprojekt für indigene Völker, PRODEPINE, das von der staatlichen Instanz CONDENPE durchgeführt wurde, zu einem neuen, neo-indigenistischen Schub staatlicher Aktivitäten im entwicklungspolitischen Feld. (Bretón 2001b) Allerdings deutete sich Ende der 1980er Jahre auch schon eine gewisse Ernüchterung und das Scheitern von Entwicklung an: »Außerdem sollte es Ihrer gelehrten Sichweise nicht entgangen sein, dass es sich bei den Ländern, die im Besitz der verarmten Bauernschaft sind, um wahre unproduktive Ödländer handelt, die über keinerlei Infrastruktur verfügen und die nicht einmal den ökonomischen Gewinn erwirtschaften, der für den Unterhalt der Familie notwendig wäre. Ganz zu schweigen von der Zahlung neuer Steuern, die die untragbare und hoffnungslose sozioökonomische Situation der Gemeinden nur verschlimmern würden.« (MAG, CC Salamalag Grande 1989)

Einen gesonderten Bereich in den staatlichen Semantiken der Entwicklung stellten Infrastrukturprojekte dar. Um den Marktzugang und die Grundversorgung zu sichern, sind die comunidades auf Wege angewiesen. Noch heute besteht der überwiegende Großteil des Wegenetzes im Kanton Saquisilí aus Erdpisten und nur kurze Wegpassagen sind mit Kopfsteinpflaster versehen. So richteten sich die comunas an die staatlichen Institutionen mit Forderungen zum Ausbau der öffentlichen Infrastruktur. Die vorgetragene Argumentation verlief immer über die dadurch mögliche bessere Integration der comunas in den Nationalstaat und die Verbesserung der re-

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gionalen Ökonomie. So forderte die Comuna Chilla Grande den Bau einer Brücke über den Fluss Pumacunchi, der in der Regenzeit anschwillt und die comuna so isolierte. (MAG, CC, Chilla Grande, 1959) Als Eigenanteil wurde eine Beteiligung am Brückenbau in Form von Arbeitskraft angeboten. Beim Wegebau stellten sich immer wieder Landkonfikte und Nutzungsrechte mit Privateignern und Hacendados ein. So wandte sich die Comuna Guanto Grande mit der Bitte an das Ministerium, sich dafür einzusetzen, dass einer Landeignerin, Jesusa Gallo, ein Streifen ihres Landes enteignet wird, um einen öffentlichen Weg bauen zu können, der die comuna mit einer Verkehrsstraße verbindet. (MAG, CC, Guanto Grande) Die Comuna Manchacazo, deren einzige Verbindung zur Außenwelt ein Weg ist, der durch das Gebiet des Privateigentümers Olmedo Tapie führte, hatte einen Nutzungskonflikt zur Folge. 1971 verbot der Privateigner den comuneros den Zugang. Diese wandten sich mit einem Protestbrief an das Ministerio de Previsión Social, um das Wegerecht zu erwirken. Als Gegenleistung boten sie an, sich an der Instandhaltung des Weges zu beteiligen. (CC Manchacazo 1971) In anderen Fällen wurde das Wegerecht unter dem Gegensatz zwischenöffentlich und privat ausgetragen. So hatten beispielsweise die Mieter der Hacienda Buenaventura den Weg, der Chilla Grande mit anderen Siedlungen verband und der über ihr Grundstück führte, geschlossen. Dementgegen argumentierte die comuna, dass es sich um einen öffentlichen Weg handele, weswegen auch die staatlichen Stellen – zur Not das Ministerium für Öffentliche Arbeiten – reagieren sollte. (CC, Chilla Grande, 1959) Auch hier verschmolzen die Interessen der comuna mit öffentlichen Interessen des Staates. Bezüglich der Erstellung der Verkehrsinfrastruktur gab es jedoch nicht nur Konflikte mit externen Akteuren, sondern auch innerhalb der comuna. So wandte sich 1972 ein Teil der comuneros von Salamalag Chico an das Ministerio de Bienestar Social, weil andere comuneros kein Land für die Erstellung eines öffentlichen Weges abgeben wollten. Das Ministerium intervenierte und forderte den Cabildo in einem entsprechenden Schreiben auf, den Wegbau voranzutreiben. Auch hier wurde die Begründung wieder in nationale Semantiken gerahmt, indem auf die »patriotische Mitarbeit« hingewiesen wurde, die die comuneros leisteten, wenn sie freiwillig Land abgeben würden. (MAG, CC Salamalag Chico, 1972) In den Briefwechseln der comunas mit den staatlichen Instanzen ist in Hinblick auf Entwicklung eine enge Kopplung von Arbeit, Moral und Nationalismus festzustellen. Dies kam vor allem immer dann zum Ausdruck, wenn diese Kopplung unterbrochen wurde, beispielsweise bei Konflikten um mingas. So schrieb der Direktor der Servicios administrativos an den teniente político von Saquisili »um verschiedene Fälle im Interesse der Gemeinschaft zu lösen: So wie auch die patriotische Zusammenarbeit mit dem Cabildo in den Arbeiten der minga, die zum Vor-

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wärtskommen und Fortschritt der comuna beitragen.« (MAG, CC, Salamalag Grande 1971) Die Arbeitsleistung und Moral der indigenen Bauern bei der Durchführung von Entwicklungsprojekten war das zentrale Glied, welches die Verbindung zwischen dem Lokalen und dem Nationalen herstellte. Dabei schlossen die unentgeltlichen Arbeitsleistungen durchaus an die andine Vorstellung von Reziprozität an, so wie sie bereits im Tahuantinsuyo und später – in weitaus ausbeuterischer Form – in der frühen Kolonialzeit durchgeführt wurden. Anders als in den post-kolonialen Formen der unterbrochenen Reziprozität war in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Anrufung von Staatlichkeit mit der Einforderung hierarchischer Reziprozität verbunden. Der Staat musste Leistungen erbringen, was sich aber durchaus mit den politischen Zielen des Entwicklungsstaats verband. (Deler 2007) In diesem Sinne wurde der Cabildo zu der zentralen Disziplinierungsinstanz, die die indigene Arbeitskraft kontrollierte. Aber auch diese Form der Kontrolle von Arbeitskraft verband sich mit einer indigenen Arbeitslogik, die sich vielleicht in den bis heute tradierten inkaischen Grundwerten »ama quilla, ama shua, ama llulla« (Lüge nicht, stehle nicht, sei nicht faul) widerspiegelt. Semantiken des Rechtlichen Bereits Hansen und Stepputat (2001) haben darauf hingewiesen, dass Semantiken des Rechtlichen zu den zentralen »symbolic languages of authority« gehören, die die Imagination des Staates produzieren. Dabei blicken sie vor allem darauf, wie staatliche Institutionen versuchen, randständige Regionen zu kolonialisieren. In der politischen Kommunikation der comunas mit staatlichen Instanzen können wir hier aber zeigen, wie das Recht von unten, von den comunas eingefordert wurde. In diesem Sinne hatte Deborah Poole den Schriftwechsel zwischen peruanischen Bauern und dem Staat analysiert und dabei argumentiert, dass es hier nicht – im Sinne einer funktionalen Argumentation – um die Schaffung von Gerechtigkeit und die Durchsetzung von Recht ging, sondern mit Blick auf die Praktiken und Performanz von Staatlichkeit ist es eher »the ephermal link that binds peasants to a state whose promise of justice takes the form of endless procedures«. (Poole 2004: 17). Das heißt, dass das Ergebnis – die Durchsetzung von Recht – minimal ist. Viel zentraler sind hingegen die staatliche Praxis und der dabei wirkende pädagogische Effekt, der die Bauern zu Staatsbürgern macht. Diese staatliche Kolonialisierung der Bauern über die Anrufung des Staates wirkt – so Poole – tiefer und disziplinierender als viele nationalistische Schulbücher. Im Fall der hier gewählten Untersuchungsregion Saquisilí ist allerdings darauf zu verweisen, dass hier das Recht des Staates angerufen wurde, um andere quasisouveräne Akteure zurückzudrängen. Das heißt, es kam nicht nur zu einer staatli-

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chen Kolonialisierung der Alltagspraxis der indigenen Bauern, sondern über diese Performanz von Staatlichkeit wurden andere quasi-souveräne Instanzen wie die Hacienda zurückgedrängt. Gleichzeitig wirke die derart installierte politische Kommunikation auch disziplinierend auf die politischen Akteure, die wie die tenientes políticos zuvor integraler Bestandteil des Hacienda-Dispositivs waren. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Gründung der Comuna Rumiquincha im Jahr 1939, die in Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Anwalt Gonzalo Oleas erfolgte, um Auseinandersetzungen um Landrechte mit den Haciendas der Zentraluniversität führen zu können. Gerade auch im Rahmen der Agrarreform-Periode erwies sich das Ministerio de Previsión Social als wichtiger Alliierter und die Gründung von comunas als zentrales Instrument, um eine eigene Autonomiesphäre zu erobern. Entgegen der abstrakten Imagination von Staatlichkeit berichtete der dirigente Trindidad Toapanta anschaulich, wie Vertreter des Ministeriums für soziale Fürsorge, Salamalag Grande zirka 1971 anlässlich der Vorbereitung der Gründung einer comuna in die comunidades kamen, um den direkten Austausch mit den indigenen Bauern zu suchen. Die Performanz von Staatlichkeit bestand hier darin, dass sich die Staatsvertreter klandestin in kleinen Schluchten und versteckt hinter Gebüschen treffen mussten, um von den Verwaltern der Haciendas nicht entdeckt zu werden. (Interview, Trinidad Toapanta, 4.6.2006) Aber auch gegen andere Akteure versuchten die comunas in Allianz mit dem für die comunas verantwortlichen Ministerio de Previsión Social Recht und Ordnung durchzusetzen. So klagte die kurz zuvor konstituierte Comuna Guanto Chico 1954 an, dass es im Gebiet der comunas indígenas Miraflores, Guanto Grande und Salacalle zu massiven Viehdiebstählen kam, »die für alle Siedler eine wahrhafte Plage darstellen.« Die comuna beschwerte sich über die diesbezüglich mangelnde Polizeikontrolle: »In dem besagten Gebiet hat es nie eine Polizeikontrolle gegeben und dies ist der Grund, warum das Gebiet durch Banditerei verseucht ist.« Deshalb baten die comunas um Polizeischutz, um »Ordnung«, »Ruhe« und »Frieden« – alles Leitkonzepte moderner Staatlichkeit – wieder herzustellen, dabei boten sie ihre Beteiligung an Patrouillen an. Offensichtlich fand die Petition wenig Gehör, denn später schrieben die comunas erneut an das Ministerium: »wir insistieren erneut darauf, dass wir all unsere Unterstützung und Zusammenarbeit mit den Autoritäten der Provinz Cotopaxi oder denen des Kantons Saquisilí und den Polizeikräften anbieten, um die Übeltäter zu verhaften und dem Befehl der Autoritäten zu unterstellen.«

Konkret forderten sie permanente Patrouillen von zwei bis drei Polizisten. Der Schriftwechsel endete damit, dass die Rechtsgewalt des Staates, repräsentiert durch die Polizei, nicht in die peripheren Staatsgebiete abkommandiert wurde, dafür aber

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die comuneros per ministerialem Erlass unter der Regierung von José María Velasco Ibarra autorisiert wurden, nächtliche Patrouillen durchzuführen: »Auf Grund der häufigen Diebstähle, die in unseren Comunas im Jahr 1954 begangen wurden, beantragten wir bei diesem Ministerium, dass es dem kommunalen Cabildo erlaubt, Kommissionen zur nächtlichen Überwachung in jeder Comuna zu ernennen. Der amtierende Minister autorisierte uns mit dem Dekret Nummer 1100-CSC vom 26. Oktober 1954 derartige nächtliche Dienste durchzuführen.«

Diese Wendung ist nun insofern interessant, als dass die indigenen Bauern nun – staatlich autorisiert – hoheitliche Aufgaben, wie die der Polizei übernahmen. Die nachfolgende konservative Regierung von Camilo Ponce Enríquez verbot die rondas campesinas dann wieder – obwohl die Kontinuität zur Vorgängerregierung eigentlich groß und Ponce unter Velasco Ibarra Innenminister gewesen war – und verwies auf Polizei und Militär als legitime Ordnungskräfte. Die campesinos unterließen die Patrouillen, die Delinquenz stellte sich wieder ein, und die comuneros baten um eine erneute Autorisierung, um Patrouillengänge durchführen zu dürfen. Die Übernahme von staatlichen Aufgaben und die teilweise erfolgte Ausübung quasi-souveräner Macht durch die comunas waren nicht unproblematisch. In einigen Fällen überschritt die Justiz in den comunas den Rahmen des Rechtsstaates. In der El Tejar ließen der Präsident und der Sekretär der comuna 1969 drei Minderjährige in der comuna einsperren und verlangte für die Freilassung eines der Inhaftierten 25 Sucres. Die Eltern protestierten bei den staatlichen Stellen, die den Protest an den Subsecretario des Ministerio de Prevesion Social weiterleitete. Daraufhin wurde mit der Anklage der Kompetenzüberschreitung die Verhaftung des Präsidenten gefordert: »Der betroffene Präsident der Comuna ordnet auf autoritäre Weise Gefängnisstrafen an, was ihm nicht zusteht«. (MAG, CC, El Tejar, 1969) Wenngleich hier die Möglichkeit der Machtüberschreitung zum Ausdruck kommt, so macht dieses Beispiel doch gleichzeitig auch die doppelte Regulierung lokaler politischer Macht deutlich. Zum einen gab es eine Regulationsinstanz in den comunas, die durch Wahlen sowie Debatten im Cabildo unter den comuneros gewährleistet wurde, und zum anderen gab es eine – durch die Satzung der comuna geregelte – Sanktionsmöglichkeit von staatlichen Stellen. Es ist davon auszugehen, dass in der comuna kleinere intra- und interkommunale Konflikte selbst gelöst wurden. Trotz ihres hybriden Charakters kann die comunidad/comuna dennoch als der politische Ort par excellence zur Ausübung »andiner Demokratie« gesehen werden. (Santana 1995, Sánchez-Parga 2007, Korovkin 2002) In diesem Sinne erweist sich die comuna angesichts der schwachen Institutionalisierung und beschränkten Interventionskraft des Staates als effektives und effizientes Instrument politisch-rechtlicher Selbstregulation, wobei nur Fälle, die über

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die Cabildos nicht gelöst werden konnten, von den staatlichen Stellen verfolgt werden mussten. Entsprechend ist aus den Carpetas Comunales des früheren Ministerium de Bienestar Social und dem heute zuständigen MAG ersichtlich, dass bei massiveren Konflikten direkt der Kontakt zu den entsprechenden Ministerien gesucht wurde, welche wiederum dann die Konfliktlösung an die regionalen Stellen weiterleiteten. Doch waren es nicht nur der Cabildo und seine Mitglieder, die sich in ihrer Funktion als staatlich anerkannte Repräsentationsinstanzen an die Ministerien wandten. Vielmehr hatten sich die Kommunikationskanäle zu den zentralstaatlichen Instanzen so demokratisiert, dass auch Einzelpersonen Eingaben verfassten, die sich zumeist gegen empfundene Ungerechtigkeiten seitens des Cabildos richtete. Der Cabildo wurde also von diesen Personen zu Recht als quasi-staatliche Instanz anerkannt, und Beschwerden an den Dienstherren, den Minister für Previsión Social, gerichtet. In Salamalag beschwert sich ein ehemaliger presidente, dass der aktuelle Cabildo ihn nicht an der Gestaltung einer Kapelle teilnehmen lasse, deren Bau unter seiner Amtszeit begonnen wurde. (MAG, CC Salamalag 1970) Und in Ninin Cachipata beschwerte sich Anfang der 1970er Jahre ein Evangelikaler, dass er und seine Familie von den restlichen comuneros auf Grund seiner religiösen Orientierung bedroht wurden. Diese Beschwerde hatte den Hintergrund, dass in den 1970er Jahren mit dem Aufkommen evangelikaler Gruppierungen in den ländlichen Gebieten ein neuer Konfliktherd entstanden war. Dieser brach 1973 in der Comuna Ninin Cachipata offen aus, so dass sich comuneros an das Ministerium wandten »um anzuklagen, dass in der Comuna Ninin Cachipata, zugehörig zur Juisdiktion des Kantons Saquisilí, schwere Probleme nur dadurch vorgefallen sind, weil eine Gruppe Indigener die evangelische Religion angenommen hat. Dies führte sogar zu dem Extrem, dass Wohnhäuser angezündet wurden und mehrere Personen verletzt wurden.« (MAG, CC, Ninin Cachipata 1973)

Opfer der Brandstiftung und der Plünderungen wurde die Familie Totaxi (Totasig), von der – fälschlicherweise – angenommen wurde, dass sie auf die Seite der Evangelikalen gewechselt war. Dieser Konflikt überschritt die kommunalen Grenzen, so dass wohl auch comuneros aus Salamalag Chico, Yanaurco, Chalua, Guanto Grande, Chillapata Calera, Atapulo Sta. Inés an den Übergriffen beteiligt waren. Für die staatlichen Stellen stellte sich der Religionskonflikt allerdings vor allem als Ordnungs- bzw. Regierungskonflikt dar. Die Streitigkeiten störten den ordnungsgemäßen Ablauf und die Ruhe in den comunidades. So wird in einem Brief der Gobernación de Cotopaxi an den Subsecretario de Bienestar Social im Jahr 1973 festgestellt, dass die Präsenz vom »misiones evangélicas« u.a. in den comunidades Salamalag Grande und Ninin Cachipata eine Reaktion der Ablehnung her-

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vorgerufen hat die begann »das ruhige Leben der comunidades« zu stören und gar zu einer »offenen Rebellion gegenüber Fremden« geführt habe. Um Ruhe herzustellen, schloss die Gobernación de Cotopaxi den Radiosender der evangelikalen Mission, der religiöse Sendungen auf Kichwa verbreitete. (MAG, CC, Salamalag Grande 1973) Die Konflikte um die Missionstätigkeiten evangelikaler Gruppierungen sollten auch in der Folgezeit zunehmen, so wurde 1980 das Instituto Lingüistico de Verano aus dem Land verwiesen. (Yashar 1995, Cleary and Steigenga 2004) In Ninin Cachipata hatten sich vor dem Hintergrund der geschilderten religiösen Konflikte wohl zwei Fraktionen herausgebildet, wobei eine – die evangelikale – Fraktion wohl, so der Vorwurf des amtierenden Cabildo, versuchte, parallel zur bestehenden Cabildo-Versammlungen in der comuna, eine eigene Versammlung einzuberufen. Die Verteidigungstaktik des amtierenden Cabildos bestand nun darin, seine Legitimität durch den Einbezug weiterer staatlicher Institutionen zu festigen. So wurde das Ministerio de Previsión Social mit der Bitte angerufen, die einzig autorisierten Versammlungen über das Personal der desarrollo rural einberufen zu lassen. (MAG, CC Ninin Cachipata 1974) Insofern war die »Verstaatlichung der internen Konflikte« eine wirkmächtige Strategie der comunas. In anderen Fällen wurde der Staat als Schiedsinstanz angerufen. Hier herrschte in den comunas das Vertrauen auf rechtsetzende Gewalt des Staates vor, wobei gerade auch die technokratische Performanz von Staatlichkeit einen Wahrheitseffekt produzierte. Die bürokratischen Verfahren des Vermessens und der Inventarisierung spielten bei dieser Produktion von Wahrheit eine zentrale Rolle. Die betraf vor allem Konflikte um die wichtigsten Ressourcen der Region: Wasser und Land. Wasser ist in den comunas des Hochlandes eine knappe Ressource. 1972 wandte sich die Comuna Atapulo-Salamalag-Sta Ines 1972 in Zusammenarbeit mit der FEI an die staatliche Stelle des Instituto Ecuatoriano de Recursos Hidraulicos, um eine Regelung der Nutzung des Wasserrechtes der zwei Quellen des Churcuturo zu fordern. (MAG, CC, Atapulo 1972). Der Konflikt bestand darin, dass Privatpersonen (Manuel Guanocuiza, Baltazar Castro und Agustín Castro), durch deren Besitz die Bäche fließen, sich das Wasser aneigneten. In ihrem Protestschreiben bezogen sich die FEI und die Comuna Salamalag Grande explizit auf das Ley de Comunas (Art. 7) sowie das Ley de Aguas. (MAG, CC, Atapulo, 24.8.1972) In diesem konkreten Fallblieb es unklar, wie der Konflikt ausging. Eine der stärksten interkommunalen Landkonflikte entstand in der Phase der Auflösung Hacienda zwischen Salamalag Grande aus Saquisilí und Salamalag Chico aus Guangaje, die beide zuvor Teil der Hacienda der Zentraluniversität waren. Bereits 1963 kam es zu einem interkommunalen Streit, der durch Vermittlung des Ministerio de Bienestar Social beigelegt worden war, wobei allerdings die genauen Grenzen der strittigen Gebiete nicht festgelegt worden waren. Zudem scheint es, dass die umstrittenen Ländereien noch bis zum 7. November 1972 im Besitz der Zentraluniversität gewesen waren, die diese mit nicht genau nachvollziehbaren

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Grenzangaben an Salamalag Grande übertrug. 1973 intervenierte die FEI mit einem Brief an das Ministerio de Prevision Social, damit der Grenzkonflikt gelöst werden konnte. Und wohl im gleichen Jahr konnte eine vorübergehende Einigung erzielt werden, gleichwohl bestanden die Spannungen weiter fort und eskalierten zehn Jahre später in einem gewaltsamen Konflikt. Offiziell war von sieben Toten und 15 Schwerverletzten die Rede. Ab 1982 mündete der Konflikt zwischen Salamalag Grande und Salamalag Chico in einen Rechtsstreit, da comuneros von Salamalag Grande Grenzen verletzt und Häuser in Salamalag Chico zerstört hatten. (MAG, CC, Salamalag Chico 1983) Tote und Verletzte wurden in diesem Dokument allerdings nicht erwähnt. Was den Konflikt derart eskalieren ließ war die Tatsache, dass es sich nicht nur um Land handelte – was im Zuge der Krise der kleinbäuerlichen Landwirtschaft ein drängendes Problem war –, sondern es auch um die Zuordnung des Berges Calquín, einem heiligen Ort in der Region, ging. Das Hauptproblem bestand darin, dass auch 1973 keine definitive Grenzziehung festgelegt worden war, so dass der Landkonflikt 1982 nicht genau entschieden werden konnte. (MAG, CC Salamalag Chico 1982) In der Folge intervenierten zahlreiche staatliche Institutionen, so auch das IERAC, das in einem Bericht vom 16. März 1982 zu der Feststellung kam: »Der Grenzkonflikt zwischen den Comunas Salamalag Grande und Salamalag Chico ist viele Jahre alt und besteht darin, dass bis heute ein Grenzstreifen eingerichtet wurde, so dass beide Comunas gleichzeitig dieses Land als Weidegebiet beanspruchen« .

Auch wenn es sich hier um eine abgeschiedene Randzone von Staatlichkeit handelte, bleibt es dennoch erstaunlich, wie stark staatliche Institutionen in den Konflikt involviert waren: Das IERAC und das MAG waren mit mehreren Abteilungen aus Quito und Latacunga ebenso beteiligt wie der Gobernador der Provincia Cotopaxi, der teniente político der Gemeinde Guangaje und der Notaria Segunda des Kantons Latacunga. Letztlich wurde das IERAC-Cotopaxi mit der Landvermessung beauftragt, um die definitiven Grenzen festzustellen, womit der Konflikt endgültig gelöst wurde. (Interview, Trinidad Toapanta, 4.6.2006) Seitdem kehrte Ruhe in diesen als heilig betrachteten Berg ein, der in Folge nur noch von katholisch-synkretistischen Prozessionen heimgesucht wurde. Auf Grund der Landknappheit zielten die meisten interkommunalen Konflikte nach dem Ende der Hacienda und der erfolgreichen Parzellierung vor allem auf die Kontrolle der páramos ab, die zum Teil noch als Allmende in den Statuten der comunas fixiert waren. So wandte sich eine Kommission der Comuna Atápulo Santa Inés Salamalag Grande an das Ministerium, um sich über die Besetzung des paramos der comuna, offensichtlich eine Allmende, durch Bewohner des Gebietes Chalgua zu beschweren. Das Ministerium leitete die Beschwerde wieder an die lokale Autorität, den jefe político, weiter. Auch in diesem Konfliktfall wurde die An-

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rufung der Staatsgewalt wieder mit Semantiken aus dem Umfeld der Begriffe von Ordnung und Gesetz gerahmt. In der politischen Kommunikation heben die Beschwerdeführer weniger auf die Landnutzung ab, sondern sie wenden sich an die imaginierte Position des Staates und geben an, dass es um die Wiederherstellung der Autorität des Staates gehe. Der jefe político wurde aufgefordert, diese Autorität durchzusetzen. Die Teilung kommunaler Ländereien, vor allem im páramo, blieb bis Mitte der 2000er Jahre eine Strategie, um die Agrargrenze zu erweitern. So bat die Comuna Ninin Patacalera im Februar 2004 das MAG um die Autorisierung der Teilung der Allmende. (MAG, CC Ninin Patacalera, 2004) Dieser Vorgang verlief ganz im Zuge einer allgemeinen Konjunktur der Privatisierung der Allmende. (Ibarra und Ospina 1994) Semantiken der Nation Auch die soeben analysierten Semantiken von Bildung, Entwicklung und Recht waren von Narrativen von Staat und Nation durchzogen, die es vermochten, die lokalen comunas in die Nation einzuschreiben. Doch trotz all dieser hier benannten Prozesse der state-formation from below, war die Durchsetzung von Staatlichkeit keinesfalls konfliktfrei. Denn trotz der Modernisierungsbemühungen hatte es auch im Entwicklungsstaat keinen Bruch mit Kolonialität gegeben. Vielmehr waren die indigenen Gemeinschaften mit der Krise der Hacienda in das Visier gouvernementaler Techniken geraten. Der Staat und die herrschenden Eliten mussten außerdem auf den sich abzeichnenden möglichen »Notstand« reagieren, den das Machtvakuum im ländlichen Bereich hinterließ. Auf der Seite der indigenen Gemeinden gab es zwar deutlich ausgeprägte Ansätze der Verflechtung mit den staatlichen Instanzen, doch handelte es sich bei der »Staatsfreundlichkeit« zum Teil auch um eine taktische Positionierung der indigenen Bauern, unter deren Oberfläche Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen herrschte. Entsprechend konnte 1969 keine Volkszählung in Yanaurco durchgeführt werden, da die indigenen Bauern eine Verschlechterung ihrer Situation befürchteten. »Es besteht die Gefahr eines Aufstands der Anwohner, da sie glauben, dass der Zensus für sie eine Verschlechterung bringen wird; das Gleiche passierte auch schon vor zwei Jahren, als die Lehrer einen Schulzensus durchführten.« (MAG, CC Yanaurco 1969)

Dies steht durchaus in der Tradition indigener Aufstände, die sich bereits in der Kolonialzeit an Volkszählungen und Datenerhebungen, die als Grundlage zur Ausbeutung der Arbeitskraft dienten, entzündet hatten. Auch gab es vereinzelt Widerstand gegen den Staat, der sich vor allem an dem Thema der Steuern entzündete. So weigerte sich die Comuna Salamalag Grande

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1989 mit Verweis auf die Gesetzeslage des Ley de Regimen Municipal und dem allgemeinen Verweis auf die Armut in der comuna neue Steuern zu zahlen. (MAG, CC, Salamalag Grande 1989) Ein anderes Konfliktfeld mit den Instanzen des liberalen Staates ergab sich in Hinblick auf die Aktivitäten politischer Parteien. Während die indigenen Bauern weitgehend von der aktiven politischen Teilnahme ausgeschlossen wurden, so waren sie doch Zielscheibe von Klientelismus und Stimmenfang. Um den durch politische Parteien in die comunas getragenen Zwist zu vermeiden, drängten viele comunas darauf, die Parteien aus ihrer Sphäre auszuschließen. So denunziert die Leitung der Comuna El Tejar im Mai 1961 die Aktivitäten von einer Gruppe von Corderistas (gemeint sind hier liberale anti-klerikale Gruppen), die die Kommune spalten würde, beim Minsterium. (MAG, CC, El Tejar, 1961) Mitte Mai des gleichen Jahres forderte die comuna dann in einem weiteren Brief die Absetzung des Sekretärs, Alberto Moreno, mit dem Argument, der Spaltung vorbeugen zu wollen: »Wir wollen vereint bleiben, um unser Ziel eines materiellen und geistigen Wohlstands zu erreichen, aber der jetzige Generalsekretär ist ein spaltendes Element, er hat unsere religiösen Glaubensvorstellungen mit fremden, totalitären und materialistischen Losungen angegriffen.« (MAG, CC, El Tejar, 1961)

Offensichtlich gab es hier Widerstand gegen den in den höher gelegenen comunas von Saquisilí diffundierenden kommunistisch-orientierten Organisationsprozess. In der andinen Logik ist politische Partizipation eben nicht – wie im liberalen Staat – durch den Wettbewerb politischer Parteien und der durch sie zum Ausdruck gebrachten Repräsentation von Staatsbürgern gewährleistet, sondern durch politischen Konsens in der Gemeinschaft. Der individuelle politische Wettbewerb bringt aber durch den ihm inhärenten Konflikt (zu beachten ist die martialische Metapher von Wahlkampf) die Möglichkeit des kommunalen Konsenses in Gefahr. Erst durch die Gründung einer eigenen politischen Bewegung Pachakutik im Jahr 1995, die in Cotopaxi mit den Organisationsstrukturen der indigenen Bewegung identisch war, kam es – zeitweise – zu einer Entsprechung von politischer Partizipation in Partei und comuna. Der Interaktionshorizont der comunas reichte dabei weit über die lokalen Belange hinaus. So wurde nicht nur der Zentralstaat angerufen, um sich lokal zu verwirklichen, sondern auch die lokalen Anliegen wurden in nationale politische Auseinandersetzungen übersetzt. In einem Brief der Comuna Esperanza Salacalle – vermutlich aus dem Jahr 1965 –an den Präsidenten der Militärjunta forderte diese ein neues Indígena-Gesetz: »Das Problem des Indios ist eines der wichtigsten und ältesten Probleme unseres Landes. Es muss festgehalten werden, dass die concertaje (eine Art Schuldknechtschaft, O.K.), die mita

270 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG und die koloniale encomienda – mit leichten Veränderungen - bis in die heutige Zeit fortdauern.« (MAG, CC Salacalle, o.J.)

Deutlich ist bei dem – u.a. von Manuel Toapanta unterzeichneten – Anklagebrief der comuna die kommunistische Orientierung der Schreiber herauszuhören, wenn sie beispielsweise formulieren »der Indio unseres Hochlands ist der Gegenstand der Ausbeutung.« Interessant ist an diesem Schreiben, wie hier das Modell des Regierens durch die comuna insofern kritisiert wurde, als dass die staatlichen Stellen nicht mit Reziprozität oder Redistribution antworten, sondern im Gegenteil allein auf mehr Abschöpfung bedacht waren: »Und trotz alledem kommen sie alle zur der kommunitären Gesellschaft – ohne deren schwierige Situation, das Fehlen von Arbeit und unsere geringfügigen Möglichkeiten, ebenso wie die anderen sozialen Faktoren anzuerkennen – und bereiten gemeinsame rechtliche Schritte vor, um Steuern, Erbschaftssteuern, und andere Zahlungen einzutreiben. Dies führt soweit, das unsere kleinen geerbten Besitztümer beschlagnahmt wurden und wir damit von dem einzigen Erbe das wir haben, vertrieben wurden.« (MAG, CC, Salacalle, o.J.)

Entsprechend wurde dann der Schluss gezogen, dass die comuneros die Steuern nicht zahlen können. »Das Steuerproblem ist grundlegend und muss schnellstens gelöst werden.« – so die Schreiber – auch von der Vorgängerregierung nicht konsequent angegangen worden: »die machten uns ein formelles Angebot, den indio mittels eines Eilgesetzdekrets von seinen Steuerlasten zu befreien«. (MAG, CC, Salacalle, o.J.) Da dieses Gesetz seinerzeit aber nicht erlassen worden war, forderten die Schreiber nun, dass es von der Junta erlassen wird. Doch bleiben die Forderungen der comuna nicht bei dem Aspekt der Steuern stehen. Des Weiteren wurde eine radikalere und integrale Agrarreform im Vergleich zu derjenigen von 1964 gefordert: »Agrarreform heißt für uns, dass dem Bauern fruchtbares Land in der Nähe der Verkehrswege übergeben wird, und noch konkreter, dass man uns das Land übergibt, wo der Landwirt schon immer gelebt hat und zu dem er gehört. Denn der Indio verhält sich zum Land so wie der Baum zu seinen Wurzeln, und dem Boden in dem er wurzelt und über den er sich erhebt.« (MAG, CC, Salacalle, o.J.)

Hinzu kamen Forderungen nach einer Modernisierung der Landwirtschaft und der Sicherung des Marktzugangs für die indigenen Bauern. Eine tiefgreifende Agrarreform – wie in Bolivien, Kuba oder der Allende-Regierung in Chile – wurde in Ecuador nie erlassen, allerdings wurde 1973 ein zweites, weiterführendes Agrarreformgesetz erlassen.

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P ERFORMANZ VON S TAATLICHKEIT UND DIE G RENZEN K OLONIALISIERUNG DES ALLTAGSLEBENS

DER

Die Geopolitik des Staates in Hinblick auf die ländlichen Bereiche des Andenhochlands, die ökonomisch durch den Kakao- und später den Bananenexportboom an Bedeutung verloren hatte, bestand darin, die territoriale Kontrolle an den Rändern von Staatlichkeit über die comunas zu gewährleisten. Formal sind die comunas Instanzen der territorialen Verwaltung, die über das Ley de Comunas aus dem Jahr 1937 geregelt sind. Dabei können sie als zentrales staatliches Instrument zur Kontrolle der indigenen Bevölkerungsmehrheit begriffen werden, das insbesondere nach dem Ende des Hacienda-Dispositivs im Rahmen der Agrarreform an Bedeutung gewann. Das Hauptinteresse des Staates bestand darin, Ordnung und Recht durchzusetzen. Dieses Interesse verband sich durchaus mit den Anliegen der indigenen comuneros, die sich die comuna als eigene Organisationsform angeeignet hatten. Denn auch für sie ergab sich nach dem Ende der Hacienda ein administratives Machtvakuum, das durch die Form der comuna, die in den indigenen Organisationsprozessen bereits seit Mitte der 1930er Jahre bekannt war, gefüllt werden konnte. Zudem bot die comuna – trotz der ihr inhärenten Politik der Territorialisierung, die Möglichkeit, Formen der andinen Demokratie zu inkorporieren. Für die indigenen Bauern stellte die comuna auch eine neue Schnittstelle politischer Kommunikation mit dem Staat dar. Diese Aspekte erklären, warum es bei den comuneros und dem Staat ein gemeinsames Interesse gab, die comuna zu stärken. Von staatlicher Seite aus wurden die formalen Prozesse der comuna – von der Gründung über die regelmäßige Wahl des Cabildos – begleitet und kontrolliert, wobei Abweichungen, die die Ordnung gefährdeten, zu Interventionen führten. In einem Brief der Comuna El Tejar vom April 1960 wurde darauf hingewiesen, dass in dieser comuna die staatliche Anerkennung des bereits im Dezember des Vorjahres gewählten Cabildos noch immer ausstand. Der Brief ist in einem drängenden Ton gehalten, und ebenso dringend wurde er auch von den Beamten im Ministerio de Previsión Social behandelt. So wurden die zentralen Passagen des Schreibens der comuna rot unterstrichen. Und eine Passage des Briefes, in der darauf verwiesen wurde, dass die Anerkennung des Cabildos auf der administrativen Ebene der Gemeinde (parroquia) verzögert wurde und nur durch Schmiergeldzahlungen erfolgen konnte, wurde von dem Beamten am Rande des Briefes mit »sehr schlimm!« kommentiert. Dies macht deutlich, wie sehr die staatlichen Instanzen darauf bedacht waren, den formalen administrativen Aufbau der comuna zu schützen. Bei den alljährlichen Versammlungen der comunas zur Wahl des Cabildos, die meist im Dezember stattfanden, musste ein staatlicher Vertreter – zumeist der teniente político –anwesend sein. Dieser wachte über den ordnungsgemäßen Ablauf der Versammlung. So meldete David Bonilla Cuvi, teniente político von La Matriz,

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am 28. Dezember 1960 dem Minister für Previsión Social, dass sich einige comunas der Gemeinde La Matriz, besonders Yanaurco, in einem Zustand »vollständiger Desorganisation« (MAG, CC, Yanaurco, 1960) befanden, da die einberufene Versammlung nicht stattgefunden hatte. In anderen Fällen waren die Bücher nicht ordnungsgemäß geführt worden oder überhaupt nicht vorhanden. Von staatlicher Seite werden in der politischen Kommunikation mit den comunas vor allem die Bezeichnungen der Unordnung und der acefalía – der chaotischen Führungslosigkeit – gebraucht, die einen problematischen Zustand markieren, der kurz vor dem Aufstand steht. So merkte der jefe político, der die gesetzkonforme Organisation der Comuna Rumiquincha kontrollierte, in einem Brief an den Subsecretario del Ministerio de Prevesion Social y Trabajo an: »Dass diese comuna über keine rechtliche Vertretung verfügt und sich bis zum jetzigen Zeitpunkt in einem Zustand der Führungslosigkeit befindet, da sie sich nicht gemäß des Artikels 12 des Gesetzes organisiert hat.« (MAG, CC Rumiquincha, 30. Oktober 1941) Aber auch die comunas bedienten sich eben dieser Bezeichnungen in ihrer Korrespondenz mit den staatlichen Institutionen. Eine Gruppe von comuneros von El Tejar bemängelte, dass die comuna nicht funktioniere, da der Cabildo seit September nicht mehr arbeiten würde so dass sich ein »wahrer Zustand der Kopflosigkeit (acefalía)« eingestellt habe. (MAG, CC, El Tejar 1959) Einerseits kann diese Übernahme der staatlichen Semantiken als taktische Positionierung begriffen werden, nach der die Indigenen die Funktionsweise staatlicher Institutionen bereits hervorragend kannten und ihre Anliegen in der Sprache des Staates formulierten. Andererseits unterschätzt diese Lesart einer rein taktischen Argumentation den Habitualisierungs-Effekt, den die Organisationsform der comuna und die Verwendung dieser Semantiken von Staatlichkeit haben. In diesem Sinne wäre eher davon auszugehen, dass die indigenen Bauern sich Staatlichkeit zu Eigen machen und diese dabei gleichzeitig verändern. Die Habitualisierung von Staatlichkeit wird durch den performativen Charakter der Vergegenwärtigung des Staates in den ländlichen Gebieten verstärkt. So wurden die comunas durch den Staat anerkannt und registriert, und ihr Funktionsfähigkeit wurde zunächst durch das Ministerio de Previsión Social und später durch das Ministerio de Agricultura y Ganaderia überwacht und dokumentiert. Dabei kam es zu einer veritablen Performanz von Staatlichkeit, die zwar nicht so weit geht wie im Geertzschen Modell des balinesischen Theaterstaates, wo der Staatsapparat letztlich nur dazu dient, kollektive Rituale umzusetzen (Geertz 1973: 335; 1980: 13), die aber insofern mehr als nur eine funktionale Form der Steigerung staatlicher Kontrolle ist, als dass hier gesellschaftlicher Sinn und Staatlichkeit überhaupt erst geschaffen und imaginiert werden. An erster Stelle sind in diesem Zusammenhang die administrativen Schritte zur Formalisierung der comuna zu nennen, die als proto-zivilgesellschaftliches Ritual der Anerkennung betrachtet werden können. Eine Beschreibung findet sich hier an-

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lässlich der Gründung der Comuna Manchacazo als Abspaltung aus der bereits etablierten Comuna Chillapata Calera im Jahr 1968: »Um die Wahrhaftigkeit der dargestellten Tatsachen zu bekunden, bitten wir den Herrn Minister, dass er einen Herrn Beamten in unseren Weiler schicken möge, so dass dieser nach Ortsbegehung, ein umfassendes Bild von der Sachlage macht, und dann einer Generalversammlung vorsitzen soll, in der die Mitglieder des ersten Cabildo gewählt werden sollen, der dann die Comuna, die sich gerade gründet, regieren soll« (MAG, CC Manchacazo, 1968).

Nach diesem Schreiben vom 6. Januar lag bereits am 19. Februar der positive Bericht des Ministeriums zur Veranlassung der Ortsbegehung vor. Nach einer Ortsbegehung stellte ein Inspektor de Comunas fest, dass es sich aus geographischen Gründen (3 km von Chilla Grande entfernt) um eine eigenständige comuna ohne kommunalen Landbesitz handelte, die in Bezug auf Investitionen »am Rande des Fortschritts« blieb und sämtliche Voraussetzung einer legalen comuna erfüllte. Die gesamte Rhetorik der comuna ist auch seitens der indigenen Bauern in Semantiken von Regierung gehalten: Es ging um die »legale Konstituierung« eines »Gemeinderates, der die comuna regieren soll«, der in der »Generalversammlung« unter Aufsicht eines »staatlichen Beamten« konstituiert werden soll. Die Wahl wird ordnungsgemäß abgehalten und für die staatlichen Stellen durch das Verfassen von Dokumenten lesbar gemacht. Die teilnehmenden, wahlberechtigten comuneros werden namentlich registriert – über Unterschriften bzw. in der Mehrzahl der analphabetischen comuneros durch Fingerabdrücke sowie durch die Dokumentation der Ausweisnummer. Für die indigenen comunidades bedeutete dies, dass sie in die korporatistische staatliche Logik einbezogen wurden. Die staatlich-bürokratische Logik findet dann vor allem in dem politischen Ritual der Versammlungen der comunas ihren Ausdruck, bei dem Mitglieder gezählt, Anwesenheitslisten geführt, Protokolle erstellt und die Grenzen der comuna kartographisch festgehalten werden. Dabei ist offenkundig, dass die indigenen Bauern paternalistischer staatlicher Reglementierungen unterworfen waren und vom Staat nicht als vollständige Staatsbürger anerkannt wurden. In ihrer Analyse des Ley de Comunas schreibt die Historikerin Mercedes Prieto: »Das neue comunero-Subjekt war ein potentieller Staatsbürger, der staatliche Verwaltung benötigte.« (Prieto 2004: 153) Von den staatlichen Institutionen her gedacht, wurde die comuna als politischer Ort betrachtet, an dem die indigenen Bauern für die politische Partizipation und Selbstverwaltung vorbereitet und erzogen werden sollten. Die Anwendung gouvernementaler Techniken – unter der strengen Aufsicht staatlicher Instanzen – wie das Erheben von Bevölkerungszahlen, die Durchführung von Wahlen und die Durchführung von Bildungs- und Entwicklungsprojekten, wurde als pädagogischer Akt bei der Formation von Staatsbürgern gesehen. Dabei behielten die comuneros jedoch noch den Status eines »sujeto pre-cívico«, das noch nicht auf derjenigen zivilisatorischen Stufe an-

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gelangt ist, um ein volles Mitglied der post-kolonialen politischen Gemeinschaft zu sein. (Prieto 2004) In diesem Sinne kann die comuna durchaus als ein gouvernementales Instrument zur »Kolonialisierung der Lebenswelt« (Habermas 1985) der indigenen Bauern betrachtet werden. Doch dies ist nur die eine Seite des ambivalenten, janusköpfigen Charakters der comuna. Auf der anderen Seite stimmte die juristische Dimension der comunas weitgehend mit den indigenen Gemeinschaften überein. Diese comunidades sind nun nicht als ungebrochene Fortführung prä-kolumbischer Organisationsformen zu verstehen, sondern sie zeichnen sich durch verschiedene »Präsenzen« (Stuart Hall) aus. Zunächst ist die andine Präsenz zu erwähnen, die sich durch Verwandtschaftsbeziehungen, Systeme der Reziprozität und gegenseitiger Hilfe auszeichnet. Des Weiteren gibt es eine koloniale Präsenz, die auf die administrative Logik der spanischen Cabildos zurückgeht. Schließlich sind die comunidades indígenas durch die von der Hacienda produzierte territoriale Aufteilung gekennzeichnet. Doch trotz dieser unterschiedlichen Einflüsse ist die comunidad der grundlegende Bezugspunkt in der geopolitischen Imagination und Praxis der indigenen Bevölkerung. (SánchezParga 2007). Entsprechend stellte die comuna auch die grundlegende politische Einheit der seit den 1970er Jahren emergenten indigenen Bewegungen dar. Gerade der ambivalente Charakter der comuna macht Widerstand in zweierlei Hinsicht möglich und eröffnet Erwartungshorizonte für Prozesse der Dekolonialisierung. Zum einen sind die widerständigen Praktiken zu nennen, die gerade im Rahmen des Feldes der neuen Regierungstechniken ermöglicht wurden (Foucault 2004b: 282). Denn politische Kommunikation erfolgte nicht eingleisig vom Staat zu den comunas mit dem Ziel der Verstaatlichung, Bürokratisierung, Modernisierung und Kontrolle indigener Bevölkerung, sondern auch von den comunas gab es an den Staat gerichtete Botschaften. So forderten die indigenen Bauern nicht nur die Zurückdrängung anderer lokaler Akteure, vor allem der Hacienda, sondern auch die Etablierung von Reziprozität und Redistribution bei semi-autonomen Einheiten der comunas. Auf der Grundlage der andinen moralischen Ordnung wurde der Staat, sofern die comunas ihre Dienste erfüllten (als Gabe), zu Umverteilungsmaßnahmen (als Gegengabe) gedrängt. Zudem wurde die comuna in der politischen Kommunikation mit dem Staat – abgesehen vom in den größeren Dörfern angesiedelten teniente político – zur einzigen legitimen politischen Institution in den ruralen indigenen Gebieten. Zum anderen wurde die comuna auch für die indigenen Bauern selber zur einzigen legitimen Instanz der Selbstorganisation. Dabei erfuhr die comuna einen außerordentlichen Prozess der Diffusion, so dass Mitte der 1960er Jahre nahezu alle indigenen Bauern in comunas organisiert waren. Insofern bildete die comuna eine der entscheidenden Grundlagen für den neuen politischen Organisationsprozess indigener Bewegung ab Ende der 1970er Jahre.

Indigene Bewegung: Eine erneuerte Konjunktur der Dekolonialisierung

Die neue Sichtbarkeit des Indigenen, die Neu(er)findung indigener Identitäten, der Einzug ethnischer Symbole und Semantiken in den politischen Raum prägen die südamerikanischen Länder seit den 1990er Jahren. Die Herausbildung starker indigener Bewegungen hat die Bewegungslandschaft in Lateinamerika derart verändert, dass der Soziologe Leo Gabriel (1994: 65-72) gar von einer »Indianisierung der Volksbewegungen« sprach. León Zamosc und Nancy Grey Postero (2005a: 20-26) argumentierten, dass seit den 1990er Jahren eine »Politisierung des Ethnischen« festzustellen ist, wobei sie ein besonderes Augenmerk auf die staatsbürgerlichen Rechte (Citizenship) der indigenen Bevölkerung legten. Damit wurden die postkolonialen politischen Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt, die auf einer weißen und westlichen Dominanz basierten, zur Disposition gestellt. In der historischen Perspektive der »longue durée« sind die Problemstellungen um den politischen Ausschluss der Indigenen aus den Gesellschaften Lateinamerikas und fehlende politische Partizipationsmechanismen sowie die eines tief verankerten Rassismus herauszuheben. Konjunkturell sind für den Aufstieg indigener Bewegungen sicherlich das Ende des linken Mobilisierungszyklus und das Scheitern der sozialen Revolution in Lateinamerika in den 1970er Jahren anzuführen. Auf diese folgten in fast ganz Lateinamerika Diktaturen und autoritäre Regime der nationalen Sicherheit, die zunehmend auch neoliberale Programme durchsetzten. In diesem Kontext waren für Indigene eine klassenorientierte identitätspolitische Positionierung und die Suche nach interethnischen Allianzen mit linken Bewegungen wenig erfolgversprechend. Stattdessen wurden neue Allianzen, unter anderem mit progressiven Sektoren der Katholischen Kirche, geschlossen, die zur Gründung neuer Organisationen führten, welche die Grundlage der aktuellen IndígenaBewegungen darstellen. Mit der Auflösung des Hacienda-Systems im Zuge der Agrarreformen der 1960er und 70er Jahre und der Modernisierung der ecuadorianischen Landwirtschaft entstand in den zuvor von der Hacienda beherrschten politischen Räumen auf dem Land ein Machtvakuum. Dem ecuadorianischen Staat gelang es auf Grund sei-

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ner limitierten Durchsetzungskraft nicht, die weitläufigen ländlichen Gebiete der Sierra unter seine direkte Kontrolle zu bringen. Außerdem verloren diese Gebiete nach dem Öl-Boom im Tiefland auch an Bedeutung für die Kapitalakkumulation, und somit traten auch die auf Täler zielende Modernisierungspolitik sowie das dortige Agro-Business in den Hintergrund. Von zentraler Bedeutung aber für die Veränderung gesellschaftlicher Kontextverhältnisse, die nicht allein im nationalen Rahmen gedacht werden können, sind die forcierten Transnationalisierungsprozesse und die Durchsetzung neoliberaler Modelle seit Mitte der 1970er Jahre. Im Zuge der selektiven Weltmarktintegration setzte in Lateinamerika allgemein eine Deindustrialisierung und ein zunehmender ökonomischer Druck auf Naturressourcen ein, der für indigene Völker Konflikte um Land, Holz, Staudämme, Cash-Crops, Coca, Erdölförderung und entsprechende Pipelines bedeutete. Im Zuge der Diskurse um Menschen- und Bürgerrechte sowie Citizenship, die von sozialen Bewegungen im Kampf gegen autoritäre Regime und Diktaturen angeführt wurden, gab es eine neue Positionierungsmöglichkeit für indigene Bewegungen, um kollektive Rechte, Anerkennung und Respekt einzufordern. Mit dem Ende der Diktaturen und autoritären Regime öffnete sich im Rahmen der Transitionsprozesse ein Möglichkeitsfenster zur Durchsetzung von Anerkennungsforderungen (Ecuador 1978, Bolivien 1982, Chile 1990). So konnte die ecuadorianische Indígena-Bewegung in der Transition ein bilinguales Bildungsprogramm durchsetzen, das den ethnischen Organisationsprozess beförderte. Mit dem Ende der Hacienda kam es auch zum Ende der von kommunistischen und sozialistischen Organisationen getragenen Konjunktur der Dekolonialisierung. An ihre Stelle trat eine von ethnischen Anliegen geprägte Konjunktur der Dekolonialisierung, die die indigene Frage und das rassistische Klassifikationssystem der Kolonialität in den Mittelpunkt der Kritik stellte. Damit kamen neue indigengeprägte Organisationsstrukturen auf. Die im Juni 1972 aus den indigenen Gemeinschaften der Hochlandprovinzen von Chimborazo, Cotopaxi, Tungurahua, Bolívar und Imbarbura gegründete indigene Bewegungsorganisation Ecuarunari (Akronym für: Ecuador Runacunapac Riccharumui) stellte sich trotz der indigenen Namensgebung noch deutlich in die Tradition der FEI und forderte auch eine gesellschaftliche Umverteilung von Reichtum und eine Agrarreform. Dagegen überwiegen bei den indigenen Organisationen im Tiefland – die von der Kolonialisierung und der boomenden Erdöl- und Agro-Industrie betroffen waren – ethnische Belange. Die 1964 gegründete Federación de Centros Shuar gilt in diesem Kontext als erste indigene Organisation Ecuadors der neuen post-klassistischen, indianischen Bewegung. Diese ethnischen Belange standen auch bei der 1980 gegründeten Konföderation der CONFENIAE, einer multinationalen Organisation von Tiefland-Indígenas Ecuadors, im Zentrum. Ergänzt wird das neue Panorama dieser Organisationsbildung durch die CONAICE, die regionale Organisation der Indigenen der Küste. Diese

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drei Konföderationen sind integrale Bestandteile der in den 1980er-Jahren gegründeten Dachorganisation CONAIE. So entstand ein indigenes Administrationssystem, das von der nationalen über die regionale bis hin zur lokalen Ebene der indigenen Gemeinschaften reichte. In der Sierra hat der neue, von indigener Selbstorganisation geprägte Organisationsprozess rasch in lokalen Räumen Fuß gefasst. 1974 wurde in Salcedo das erste Casa Campesina in Cotopaxi gegründet, rasch folgten weitere Gründungen von Casa Campesina, die 1980 in die Gründung der Provinzorganisation Movimiento Indígena de Cotopaxi, MIC, mündeten. Der Organisationsprozess der 1970er Jahre unterscheidet sich dabei von denen der vorherigen Jahrzehnte. So lässt sich konstatieren, dass in den 1970er Jahren der Mobilisierungsprozess im Rahmen des Kampfes um Land zu Ende ging, in dem die indigenen Gemeinden zusammen mit in linken Gruppen organisierten Aktivisten in Gremien wie der FEI agiert hatten. Die Kampfrufe »Es lebe die Einheit der Arbeiter und Bauern« verhallten und immer deutlicher trat der Kampf um Anerkennung und Respekt auf die Agenda. Zu Beginn dieses neuen Abschnittes im Kampf der Gemeinden trat nun die durch das Zweite Vatikanische Konzil, die Lateinamerikanische Bischofskonferenz in Medellín und die Befreiungstheologie beeinflusste katholische Kirche an die Seite der Bauern. Diese Strömung wurde besonders in der Person des Bischofs Leonidas Proaño in Chimborazo deutlich. Aber auch in Cotopaxi gab es starke Aktivitäten in diese Richtung, besonders im Bildungs- und Kulturbereich. Während die höher gelegenen Gebiete Cotopaxis (von Pujilí und Tigua über Zumbahua und Chugchilán bis Guangaje) der Bereich der Salesianer waren, konzentrierten sich die Esclavas del Sagrado Corazón de Jesús auf Saquisilí. In Zusammenarbeit mit der Indígena-Seelsorge intensivierten sie ihre Tätigkeiten und schufen so die Grundlage für den Bau des Casa Campesina de Saquisilí, das in der Folgezeit zum Sitz der indigenen Organisation Jatarishun werden sollte. Viele Casas Campesinas, welche die Ausgangspunkte für die Organisationen zweiten Grades (OSG) werden sollten, entstanden mit der Unterstützung der Kirche. Allein in der Namensgebung der Organisation lässt sich jedoch ablesen, dass es nicht zu einem plötzlichen Ende des bäuerlichen Organisationsprozesses kam, vielmehr wurde er von der ethnischen und anerkennungsorientierten Konjunktur der De-Kolonialisierung überlagert. So behielten die Casa Campesina in der Selbstbenennung den Bezug auf die bäuerliche Klassenlage und das Movimiento Indígena de Cotopaxi benannte sich in Movimiento Indígena y Campesina de Cotopaxi um. Auch in der Selbstbeschreibung des Organisationsprozesses wird eine Kontinuität zu den Kämpfern der vorangegangenen Generation hergestellt. (Ilaquiche et al. 2003), auf der Homepage der CONAIE wird unter dem Punkt der Geschichte der

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Organisation mit der Gründung der Gewerkschaft El Inca 1927 eingesetzt 1, während in anderen Veröffentlichungen auf die lange Dauer des Widerstands seit der Conquista verwiesen wurde. (CONAIE 1989) Durch eine Änderung in der Wahlgesetzgebung, die auch politischen Bewegungen die Teilnahme an Wahlen ermöglichte, gründete die CONAIE 1995 mit Pachakutik praktisch einen politischen Arm und erzielte große Achtungserfolge wie etwa die Besetzung von Ministerial- und Bürgermeisterämtern und den Einzug in Provinzialregierungen. Ziele der Bewegung waren in erster Linie Anerkennung und Respekt, was sich in den von der CONAIE verwendeten Konzepten der Interkulturalität und des plurinationalen Staates ausdrückt. Aber auch Forderungen nach sozialer Umverteilung und gegen den Neoliberalismus gehören zum Repertoire der IndígenaBewegung. Insofern kann von einem Kampf für Differenz gesprochen werden, bei dem es einerseits um die Anerkennung kultureller Differenzen und andererseits um die Beseitigung sozio-ökonomischer Ungleichheiten geht. Für das Tiefland ist zudem besonders die Ökologie-Thematik im Kontext von Erdölförderung, Waldrodung und Territorialrechten von Bedeutung. 2 Der ecuadorianische Staat bewies gegenüber den Anerkennungsforderungen der indigenen Bewegung eine erstaunlich große Offenheit, während er die in allen Aufständen präsenten Forderungen nach Umverteilung oder Transformation des gesellschaftlichen Modells unbeachtet ließ. Zudem ist seit Ende der 1990er Jahre durch Entwicklungsprojekte (u.a. das Modellprojekt der Weltbank in Sachen Sozialkapital Prodepine 1998-2002) ein starker Prozess zu erkennen, die indigene Bewegung stärker zu integrieren und das Protestpotential zu vermindern. Die unglückliche Beteiligung der Indigenen an der Regierung von Lucio Gutiérrez (2003-2005) trug zudem zum Verlust politischen Kapitals bei, zudem förderte Gutiérrez gezielt die evangelische Indígena-Organisation FEINE und trieb einen Keil in die bis dahin bestehende Einheitsorganisation. Bereits in der Verfassung von 1998 wurde Ecuador als pluri-ethnischer und pluri-kultureller Staat neu definiert, wobei die kollektiven Rechte indigener Völker und afro-ecuadorianischer Gemeinschaften anerkannt wurden. Doch die politischen Forderungen der indigenen Bewegung zur Dekolonialisierung gingen weiter und waren vor allem auch mit dem demokratisierenden Ansatz einer Verfassungsgebenden Versammlung verbunden. Diese wurde über einen positiven Volksentscheid

1 http://www.conaie.org/sobre-nosotros/historia Letzer Abruf: 15.3.2013. 2 In Zusammenarbeit mit Organisationen der Ökologie-Bewegung konnte hier, wie am Beispiel der von Erdölausbeutung und einer Erdölpipeline betroffenen indigenen Gemeinde Sarayacu zu sehen ist, sogar transnationaler Protest artikuliert werden. Dies gilt vor allem auch für Deutschland, da die nordrhein-westfälische WestLB AG das Projekt trotz der Missachtung von Umwelt- und Ethikstandards finanzierte.

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2007 einberufen und trat nach einer weiteren Volksabstimmung am 20. Oktober 2008 in Kraft. Die neue Verfassung enthält wesentliche verfassungsrechtliche Neuerungen. Sie beruft sich auf die in der indigenen Kultur begründeten Leitbilder Pachamama (»Mutter Erde«) und Sumak kawsay (»gutes Leben«, im Spanischen »buen vivir«) und erkennt die indigenen Völker als »nacionalidades« an, indem sie Ecuador als pluri-nationalen Staat festschreibt. (Acosta und Martínez 2009a)

D IFFUSION

INDIGENER

O RGANISATION

Die Anfänge der Organisation zweiten Grades (OSG) der indigenen Bewegung in Saquisilí wurden, wie auch in den Fällen anderer indigener Organisationen, durch die Arbeit von befreiungstheologisch orientierten Kreisen der Katholischen Kirche begleitet. Im Großteil des westlichen Hochlandes von Cotopaxi waren die Salesianer präsent. So hatte der Salesianer-Orden in den frühen 1960er Jahren eine Mission mit Sitz in Zumbahua eröffnet, welche die interkulturelle und bilinguale Bildung förderte. Im Fall der Entstehung der Jatarishun fällt besonders die enge Begleitung durch den Orden der Esclavas del Sagrado Corazón de Jesús (Dienerinnen des Heiligsten Herzens Jesu) auf. So kann ohne Zweifel davon ausgegangen werden, dass der Ursprung der OSG Jatarishun eng mit der Aktivität der Ordensschwestern in Verbindung steht. Dennoch gibt es, was die Anfänge der Organisation betrifft, verschiedene Meinungen unter den dirigentes. Einer ihrer Gründer, Manuel Alomoto, datierte die Gründung in die Jahre 1976-1977 und damit noch in die Zeit vor der Präsenz der Ordensschwestern. Von da an gab es bis 1981 eine enge Zusammenarbeit der indigenen Katechisten mit dem Bischof José Mario Ruiz Navas. (Interview, Manuel Alomoto, 1.3.2006; Interview, Alejandro Cofre, 13.5.2006) Segundo Jami, der ehemalige Bürgermeister von Saquisilí, verwies in dem mit ihm geführten Interview noch mit Stolz auf seine Vorgeschichte als Katechist und strich die Bedeutung der Kirche bei der Gründung der Jatarishun heraus. (Interview, Segundo Jami, 17.7.2006) Auch wenn die Arbeit der Katecheten in Saquisilí vor der Präsenz der Ordensschwestern stattfand, kann die Tätigkeit der Schwestern ohne Zweifel als Motor für einen beschleunigten Organisationsprozess gesehen werden. Die Esclavas del Sagrado Corazón de Jesús begannen in den 1970er Jahren, sich den indigenen Bauern als einem der ärmsten Segmente der ecuadorianischen Gesellschaft zuzuwenden. In dieser Situation der Neuausrichtung der Arbeit des Ordens fragte der Bischof Mario Ruiz bei den Schwestern an, um den indigenen Organisationsprozess unter den Katechisten in Saquisilí begleiten zu können. 1979 ließen sich dann fünf Schwestern, die aus Kolumbien, Spanien und – wie Elina Guarderas selber – aus Ecuador stammten, in Saquisilí nieder. Elina Guarderas berichtete, dass sich der

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Anfang als schwierig gestaltete, da die Schwestern – wie Guarderas rückblickend analysierte – trotz der guten Absichten keine vertieften Kenntnisse über die indigene Kultur besaßen. Erst der direkte Austausch, die direkte Kommunikation mit den Indigenen, das Zusammenleben in den comunidades, führte zu einem Annäherungsprozess. (Interview, Elina Guarderas, 17.6.2006) Die Ordensschwestern kamen nicht mit der Befreiungstheologie im Gepäck nach Saquisilí, aber angesichts der Lebensumstände in den indigenen Gemeinschaften, der Armut und des Rassismus der Mestizen übernahmen sie schnell die befreiungstheologischen Konzepte. Dieser Wandel zeigte sich nicht nur in der Umstrukturierung der Aktivitäten von der traditionellen Evangelisierung hin zu einem Bildungsprogramm nach der Methode »Sehen-Urteilen-Handeln«. Er wirkte sich auch auf Aspekte des alltäglichen Lebens aus: So wechselten die Schwestern ihre Nonnenkutten gegen geläufige Straßenkleidung. Ziel der Ordensschwestern war es dabei, die alleinige religiöse Deutungsmacht des Dorfpfarrers, der traditionell mit dem Hacienda-Regime kollaboriert hatte, zu brechen und durch Bibelinterpretationen durch die Indigenen selbst das Selbstwertgefühl der indigenen Bauern zu steigern. (Interview, Elina Guarderas, 17.6.2006) Bei der Ausbildung von der Organisation, die später die Jatarishun sein sollte, spielte diese Gruppe von Katecheten eine sehr wichtige Rolle. Nachdem sie einige Zeit in Saquisilí gearbeitet hatten, trafen sie 1982 die Entscheidung, ihrer Gruppe eine formelle Struktur zu geben und bildeten, wie Jorge Vargas beschrieb, einen Gründungsvorstand: »Wir begannen im Jahr 1981 die Organisation zu gründen, da war ich Katechist. Damals waren zuerst die Nonnen hier, um die Indigenen zu evangelisieren. Und dann gingen wir hier herum und machten das, so sechs Monate, oder mehr, ein Jahr. Also wir, die Katechisten, Rafael Jami, meine Person, der verstorbene Don Agustín Anguisaca und Manuel Alomoto begannen untereinander zu sprechen und wir sagten: »Wir machen eine Organisation und wir gründen einen Vorstand unter den Katechisten«. Und dann begannen wir damals zu organisieren ... das war bereits das Jahr 1982 als wir mit der Organisation begannen. Dann trafen wir uns eines Abends, wir schliefen in der Casa Campesina und in der gleichen Nacht wählten wir den Vorstand. Zuerst war José Manuel Cofre der Präsident, der lebte damals in Cochapamba. Er war Katechist. Und dann der Vize-Präsident war ein Rafael Pallo oder Callagua. Ich erinnere mich nicht ganz. Er kam aus Salamálag Grande oder Salamálag San Francisco. Ich erinnere mich nicht ganz. Und der Schriftführer war der Pater Francisco Ayavaca. Mit ihm und den anderen dirigentes begannen wir, uns zu organisieren.« (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006)

Im Jahr 1982 fand ohne Frage ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zur Formalisierung der Organisation statt. Aber es scheint, dass der organisatorische Prozess nicht sonderlich schnell voranschritt. Ausgehend von den in den Interviews ge-

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sammelten Informationen lässt sich schussfolgern, dass der erste 1982 formell gewählte Präsident der Organisation Agustín Anguisaca war. 1983 wurde José Manuel Cofre Präsident der Casa-Campesina-Organisation. Dieser führte sein Amt aber aus ökonomischen Bewegründen und Zeitmangel nur etwa für ein Jahr aus. Bis 1985 blieb der Posten daraufhin vakant. In diesem Jahr übernahm Manuel Alomoto die Führung der Gruppe von Katecheten. Er genießt bis heute den Ruf eines »dirigente histórico« und sollte später Präsident des MICC werden. Mit Manuel Alomoto tritt die Gruppe in einen beschleunigten Organisationsprozess ein, in dessen Lauf zügig alle Gemeinden des Kantons Saquisilí miteinbezogen wurden. (Interview, Manuel Alomoto, 8.5.2006) Die zentrale Position der Katecheten im Gründungsprozess der indigenen Organisation hatte bis in die frühen 1990er Jahre bestanden, als zum ersten Mal dirigentes auftraten, die nicht in enger Verbindung mit den Katecheten standen. (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006) In der Anfangsphase war der Organisationsprozess der indigenen Katecheten nicht unangefochten. In einigen Gebieten, etwa in Cochapamba, versuchten lokale Kaziken das Machtvakuum zu füllen, das die Hacienda hinterlassen hatte. Einer dieser Männer war Rafael Toapanta. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass Toapanta seit den späten 1970er Jahren mit evangelikalen Kirchen zusammenarbeitete, die in der Region aktiv wurden. Auch gelang es ihm, öffentliche Ämter zu bekleiden, so wie etwa das des teniente político der parroquía. (Interview, Manuel Cocha, 17.7.2006) Aber diese Prozesse beeinflussten nicht die Diffusion des Organisationsprozesses, der sich ausgehend von der Gruppe der Katecheten entwickelte. Vielmehr näherte sich Rafael Toapanta seinerseits Mitte der 1990er Jahre an die Jatarishun an und wurde auf diesem Wege auch zum Kandidaten von Pachakutik. Dabei muss klar sein, dass es sich bei den dirigentes des Casa Campesina, welches sich später zur Jatarishun weiterentwickeln sollte, um eine neue, junge Generation handelte. Die dirigentes, die in den vorangegangenen Jahrzehnten gegen die Hacienda gekämpft hatten, waren unter ihnen nicht mehr vertreten. Dieser Wechsel führte auch zu einem Wandel des Diskurses und der politischen Symbolik. So konnten die Landkonflikte fast in allen Bereichen des Gebiets überwunden werden, und damit traten andere Probleme in den Vordergrund, die nach einer Lösung verlangten. Dabei lässt sich eine Akzentverschiebung von Themen rund um die materielle Verteilung hin zu dem Bereich der Anerkennung erkennen, in dem Fragen nach Respekt, Würde und Bürgerschaft aufgegriffen wurden. (Interview, Belisario Choloquinga, 19.5.2006) Jorge Vargas erzählte von den Schwierigkeiten in der Anfangsphase dieses Prozesses, in der es nicht nur darum ging, sich gegen den Rassismus der Mestizen in der Stadt zu behaupten, sondern auch, den Spaltungstendenzen in den eigenen Reihen entgegenzutreten, die entlang religiöser (Evangelikale vs. Katecheten) oder politischer Gegensätze verliefen.

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Es gab auch keine externen Gelder, um die ersten Schritte bei der Organisation zu finanzieren. So waren es die dirigentes und comunidades selbst, die wie man sagt »plata y persona« – das notwendige Geld und die Arbeitszeit – aufbrachten, um den Organisationsprozess voranzutreiben. Die Arbeiten wurden in der Form von mingas absolviert, und selbst die einzelnen Treffen in den Gemeinden liefen nach diesem Muster ab. So wurde bei den Organisationstreffen notiert, wie viel Reis, Bohnen, Mais, etc. jede Gemeinde beisteuern sollte. Als der Organisationsprozess sich auf einem guten Weg befand, beteiligten sich die indigenen comunidades neben ihren sonstigen, nicht monetären Leistungen auch mit Geldbeträgen an den Arbeiten – zum Beispiel beim Bau des Casa Campesina: Zu Beginn ging der Organisationsprozess von acht comunidades aus, von denen vier legal als comunas anerkannt waren, später waren dann die comunidades Chilla Grande, Chilla San Antonio, Guanto Chico, Guanto Grande, Jatun Era, Chilla Chico, Llama Huasi, Ñiñin Cochabamba, Atapulo, Salamálag San Francisco an der Wahl der ersten dirigentes beteiligt (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006; Interview, Manuel Alomoto, 8.5.2006) Zudem gab es auch einen Erfahrungsaustausch mit anderen, parallel verlaufenden Organisationsprozessen in der Region. So gabes mit der Organisation Jatun Ayllu aus Guangaje einen Austausch. Hier konnte die neue Konjunktur ethnischer Organisation auf die bereits im Rahmen des kommunistischen Widerstandsnetzes etablierten und über die regelmäßig stattfindenden Märkte etablierten Kommunikationskanäle zurückgreifen. Aber wie es scheint war diese Form des Austauschs und der gegenseitigen Unterstützung in der Formationsphase der neuen Organisationen nicht so eng, wie dies innerhalb des älteren Netzes der Fall war. Im Laufe der Zeit vernetzte sich der lokale Organisationsprozess in Saquisilí mit denen auf provinzieller und nationaler Ebene, und wurde damit ein Teil in der Entwicklung der im Aufbau befindlichen starken indigenen Bewegung: »Klar gingen wir zur indigenen Bewegung, als Manuel Alomoto höchstpersönlich Präsident der indigenen Bewegung war. Wir gingen dahin. Später, ja später begannen wir zu verstehen, was die CONAIE ist oder was ECUARUNARI ist. Und dann wurden wir eine Zweigstelle davon.« (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006)

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Organisation des Casa Campesina de Saquisilí konsolidiert und war autonom arbeitsfähig. Sie arbeitete mit Entwicklungsprojekten zusammen und hatte sich vom Protektionismus der Kirche unabhängig gemacht. Auch die politisch-territorialen Ordnungsprozesse waren abgeschlossen. Außerdem verfügte sie überdirigentes, die auf regionaler und nationaler Ebene gut vernetzt waren. All dies zusammengenommen hatte diese Organisation einen neuen Typus angenommen, die von nun an eine neue politisch-organisatorische Macht darstellte.

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Dies wird auf besondere Art an dem Namen deutlich, den ihr die indigenen Bauern zuwiesen: »la organización«. Vor allem weil er im Singular verwendet wird, was anzeigt, dass neben ihr keine andere Organisation wahrgenommen wurde. Das Casa Campesina war die einzige Instanz, die die Interessen der indigenen Campesinos vertrat, und darin lag ihre Stärke. Diese Stärke zeigte sich zum ersten Mal im Jahr 1990 in der indigenen Bewegung anlässlich des Inti Raymi-Aufstands in ihrem vollem Umfang. Hierbei ist besonders der tiefgreifende Wandel in der Eigenwahrnehmung und im Selbstbewusstsein der Organisation von Interesse. Dies findet auch in der Namensänderung der Organisation ihren Ausdruck, welche zuvor noch Unión de Organizaciones de la Casa Campesina de Saquisilí hieß. Der neue gewählte Name Jatarishun sollte das ethnisch-kulturelle Selbstbewusstsein der indigenen Bauern ausdrücken. In diesem Sinne war es entscheidend, der Organisation einen Namen in Kichwa zu geben. Alberto Taxo, ein Schamane aus Salcedo der bei den ersten Aufständen mitgewirkt hatte, war eine Schlüsselfigur bei dieser Namensänderung »Dann, suchten wir mit diesem compañero, Alberto Taxo, den Namen Jatarishun aus. Dann trugen wir den dirigentes aus den comunidades auf, einen Namen zu finden, aber keiner fand einen. Dann suchten wir eine Abkürzung auf Kichwa heraus. Und so haben wir den Namen gesetzt, auch wenn ich glaube, dass nur wenige wissen, was Jatarishun bedeutet. Jatarishun bedeutet Jatun Tantanakuy Runakunapak Inka Shimipi Uyasha Ninchik. Dann, damit man das versteht, haben wir Jatarishun gewählt, Organisation Jatarishun - Unión de Organización Indígenas Saquisilí. Und so gibt es fast zwei Namen,Jatarishun bedeutet Jatun Tantanakuy Runakunapak Inka Shimipi Uyasha Ninchik und Unión de organización, somit gibt es also in Jatarishun zwei Namen« (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006).

Dabei kommt in dem Akronym Jatarishun auch eine doppelte Bedeutung zum Ausdruck, einerseits verweist es auf die Vereinigung der indigenen-bäuerlichen Organisationen im Kanton Saqusilí, andererseits bedeutet es auf Kishwa »Erheben wir uns!«, und stellt somit eine Aufforderung zum indigenen Aufstand dar. »Seit dem Jahr 1990, gibt es unsere Kraft, auf Grund des Aufstands. […] Die Bedeutung von Jatarishun erschließt sich auf Kichwa, es ist Kichwa, unsere Sprache, unser Denken, unsere Philosophie. Auf Spanisch heißt das Union der indigenen und bäuerlichen Organisationen aus Saquisilí. Und auf Kichwa heißt es Jatun Tantanakuy Runakunapak Inka Shimipi Uyasha Ninchik. Also das heißt Jatarishun übersetzt, nicht wahr? Und dann sind wir schon vorwärts gekommen, Organisation, erster Kongress, zweiter Kongress. Dann ist der compañero Belisario Choloquinga als Präsident gekommen, er ist vorangekommen und hat die Organisation legalisiert. Dann, 97, war die Jatarishun bereits legal anerkannt.« (Interview, Manuel Alomoto, 1.3.2006)

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Die Namenstaufe wurde im Rahmen des Aufstandes von 1990 vorgenommen. Das Kichwa drückt dabei eine gewisse kulturelle Autonomie der Organisation aus. Aber ohne Frage war auch die staatliche Anerkennung weiterhin von Bedeutung, so dass die Jatarishun 1997 staatlich anerkannt wurde. Die Jatarishun als Organisation zweiten Grades in Saquisilí war von Beginn an eine wichtige Säule bei dem Aufbau und der Konsolidierung des MICC auf Provinzebene. Viele dirigentes aus Saquisilí waren in leitenden Positionen beim MICC aktiv. Manuel Alomoto war beispielsweise Präsident (1987-1990 und 2000-2001) und Vizepräsident (1999). Auch Belisario Choloquinga war von 2001 bis 2003 Präsident und Rafael Jami von 1987 bis 1990 Sprecher. Segundo Jami war dirigentefür Gesundheit (1995) und Koordinator von Pachakutik (1997-1999). Bei den Aufständen der 1990er Jahre war die Basis aus Saquisilí zusammen mit den indigenen Campesinos aus Planchaloma besonders aktiv. Der Beitrag der dirigentes aus Saquisilí zur MICC bestand vor allem darin, dass sie ideologisch besonders gefestigt und konstant agierten und eine stark ausgeprägte Vorstellung einer »andinen« Identität vertraten. So ist die Rolle der Jatarishun beim MICC in Saquisilí weithin, anerkannt und diese wird in den internen Diskussionen der indigenen Bewegung aus Cotopaxi auch als politisches Kapital eingesetzt. Belisario Choloquinga unterstreicht »Die indigene Bewegung in Cotopaxi ist sehr abhängig von der Jatarishun.« Dabei bezogen sich die dirigentes vor allem auf die große Mobilisierungskraft der Jatarishun, wie sie u.a. bei dem ersten landesweiten Aufstand von 1990 zum Ausdruck kam. Entsprechend hob Segundo Jami hervor: »Erstens gibt es das Movimiento Indígena de Cotopaxi, das ist eine Organisation auf der Ebene der Provinz und selbstverständlich ist die Jatarishun Mitglied dieser Organisation. Gerade als Mitglied muss sie in allen Versammlungen und Veranstaltungen präsent sein. Und an zweiter Stelle ist sie sehr wichtig für die Bewegung. Denn wenn die Jatarishun sich erhebt, wenn sie zum Aufstand ruft, bringt sie mindestens 10 bis 15 Tausend Leute mit in den Kampf. Und, was noch wichtiger ist, es ist eine solide Organisation. In Saquisilí gibt es keine weitere Organisation, die Teil der Bewegung ist. Sie ist die einzige, es ist die einzige solide Organisation. Es ist keine Organisation nur auf der Ebene der Gemeinde (parroquia), sondern auf der Ebene des ganzen Kantons. Ihr gehören heute 45 comunidades an, nur der Jatarishun, das heißt wir sprechen von 15 bis 16 Tausend Mitgliedern der Jatarishun« (Interview, Segundo Jami, 17.7.2006).

Diese Netze basierten vor allem auf Mund-zu-Mund-Kommunikation, die auf Märkten, in Gaststätten und bei gegenseitigen Besuchen der dirigentes stattfand. Außerdem bestanden persönliche Verbindungen zu den verbündeten Organisationen der Linken in Quito und umgekehrt. Bis heute ist die Bedeutung dieser Art der direkten Kommunikation und Sichtbarkeit der Person, besonders der der dirigentes,

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groß. Denn dem Charisma der dirigentes kommt weiterhin einer der entscheidenden Faktoren bei der Mobilisierung zu. Wichtig in Hinblick auf die Diffusion des Organisationsprozesses und die Ausbildung neuer Kommunikationskanäle war darüber hinaus die Nutzung neuer Kommunikationsmedien. Vor allem dem Radio kam bereits in der Organisationsphase der 1980er Jahre hierbei eine wichtige Bedeutung zu. Die Radiostation Radio Latacunga nahm am 8.12.1980 ihre von der Kirche unterstützte Arbeit in Latacunga auf. Sie informierte über Treffen und Diskussionen der indigenen Bewegung in Cotopaxi. Der Großteil der Sendungen war dabei in Kichwa. Luis Cunuhay, einer der ersten Aktivisten bei Radio Latacunga, erläutert die Arbeitsweise zwischen den Jahren 1980 und 1984: »Am Anfang bestand die Arbeit von Radio Latacunga darin: zu den Versammlungen der MIC aufzurufen; die Informationen zu den MIC-Versammlungen zu verbreiten; die Beschlüsse der Versammlungen bekannt zu machen; die geplanten Aktivitäten zu begleiten, zu kommentieren und zu unterstützen; die Informationen in den comunidades der Kantone von Latacunga wie Salcedo, Pujilí oder Saquisilí zu verbreiten. Kurz, die Radioprogramme haten meistens mit der Bewusstseinsbildung zu tun, sich als indigene Völker zu organisieren. Wir begannen mit Grüßen und Musiknachrichten für die dirigentes und Anführer aus den Comunidades. Wir besuchten die comunidades und auf dem Aufnahmegerät konnten sie dann ihre Stimme, ihre Grüße, ihre Interviews hören. All das führte dazu, dass die dirigentes Lust bekamen für die comunidad zu arbeiten, und dann entstanden die OSG.« (Luis Cunuhay, zitiert nach Tibán, Ilaquiche und Alfaro 2003: 57)

Neben der zentralen Radiostation in Latacunga wurde auch im Casa Campesina in Saquisilí eine Aufnahmekabine installiert. Dazu wurden Kurse für AmateurRadioreporter angeboten, um die Indigenen medienpraktisch auszubilden und diesen so zu ermöglichen, zu einer Dezentralisierung des Programms von Radio Latacunga beizutragen: »Gut, bevor ich in der Bildung aktiv war, war ich Volksreporter des Studios Saquisilí, Da erfüllte ich meine Aufgabe in der Kommission für Kommunikation. Das mussten wir erst über Lautsprecher machen. [...] Wir waren immer diejenigen – seit ich Katechist war - , die die Leute informierten. Und so waren die Leute informiert, und das verstärkte sich ziemlich, weil das eine breite Kommission war, über die wir auf der Ebene der Provinz informieren und organisieren konnten. Dabei spielte Radio Latacunga eine bedeutende Rolle. Da konnten wir offen darüber sprechen, was passierte« (Interview, Juan Alomoto).

Doch stieß der indigene Organisationsprozess nicht nur auf die Ablehnung urbaner Mestizen, sondern auch im Inneren der indigenen Gemeinschaften existierten Spannungen und Spaltungen. Neben Landstreitigkeiten waren die Spannungen zwischen

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evangelikalen und katholischen Christen die größte Konfliktquelle im ecuadorianischen Hochland. So bildete sich in den 1990ern neben der CONAIE, in dem über die ECUARUNARI und den MICC auch Jatarishun organisiert war, eine parallele Struktur mit evangelischer Orientierung, die auf nationaler Ebene durch die FEINE repräsentiert wurde. Die politische Bewegung Amauta Jatari stellte dabei das politische Pendant zu Pachakutik dar. Seit Ende der 1970er Jahre wurden in Saquisilí die ersten evangelischen Missionen in der Region gegründet und im Zuge dessen entwickelten sich Spannungen, aus denen die derzeitigen Konflikte bis hin zur Konfrontation zwischen den Organisationen Pachakutik und Amatua Jatari hervorgingen. (Interview, Segundo Jami, 17.7.2006) In der Gemeinde Cochapamba wird diese religiöse Spaltung auch in der Raumordnung sichtbar. Die eine Hälfte ist katholisch und die andere Hälfte evangelisch – und letztgenannte verfügt über das Kirchenratsgebäude am Platz: »Aber hier, an dieser Plaza gibt es zwei, hier gibt es zwei Religionen. Hier an der Plaza evangelisch, und hier unten katholisch«. (Interview, Manuel Cocha, 17.7.2006) Während der größte Teil der katholischen dirigentesder Jatarishun für Geschlossenheit der beiden Religionsgemeinschaften eintrat (auch weil dies zweifellos ihre eigene Position stärkt), bevorzugte ein gewisser Teil der evangelischen dirigenteseinen exklusiv evangelischen Weg. Für die Jatarishun war das Thema besonders delikat, da latent die Möglichkeit bestand, dass mit Hilfe evangelischer Institutionen, wie beispielsweise Visión Mundial, eine parallele evangelische indigene Organisation aufgebaut werden würde. (Interview, Belisario Choloquinga, 19.5.2006) Diese Gefahr war durchaus real, denn es wurden mit Unterstützung der Nichtregierungsorganisation Visión Mundial tatsächlich Anstrengungen unternommen, eine neue OSG in Saqusilí zu gründen, wobei mit den einzelnen Gemeinden verhandelt wurde. Ab 1997 stellte Visión Mundial diese Unterstützung aber weitgehend ein, und es wurde lediglich eine ständige Vertretung in Saquisilí gegründet, die das Proyecto de Desarrollo de Área (PDA) betreute. So gelang es schlussendlich nicht, eine wirkliche Parallelorganisation zur Jatarishun aufzubauen und heute, zehn Jahre später, akzeptiert das PDA-Saquisilí die Jatarishun als einzige OSG im Kanton. Jorge Taipe vom PDA-Saquisilí beschreibt seine Beziehung zur Jatarishun in folgender Weise: »Aktuell zählen wir 18 comunidades hier im Kanton Saquisilí. Jetzt sind die comunidades Teil der Organisation Jatarishun. Wir sind keine andere Organsiation mehr, wir sind keine Organisation zweiten Grades. Wir sind ein Kommittee für soziale Entwicklung hier im Kanton, wo wir wirklich, ja, arbeiten in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft und Umwelt.« (Interview, Jorge Taipe, 31.8.2006)

Dabei steht außer Zweifel, dass diese Akzeptanz der Jatarishun als protagonistische OSG in Saquisilí auch ihrer Organisationskraft geschuldet ist. Deswegen ist es für die Jatarishun von großer Bedeutung, die Einheit der Organisation zu wahren und

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zu stärken, denn in diesem einheitlichen Charakter liegt auch ihr zukünftiger politischer Einfluss begründet. Vor diesem Hintergrund sind die dirigentes sehr darauf bedacht, Katholiken und Evangelikale gleichermaßen zu repräsentieren. (Interview, José Ricardo Ashca, 13.5.2006) So lassen sich in Saquisilí viele Vorläufer einer ökumenischen Zusammenarbeit finden, in deren Rahmen versucht wird, ideologische und religiöse Konflikte zu überwinden und sich stattdessen auf die Themen rund um die sozio-ökonomische Situation, die kulturelle Diskriminierung und die politische Exklusion zu konzentrieren. Die Annäherung der Religionen und die Überwindung der Glaubenskonflikte durch die gemeinsame politische Arbeit spiegelten sich in der Aufstellung des ersten indigenen Kandidaten für das Bürgermeisteramt in Saquisilí wider. Antonio Llumitásig, der Kandidat des Pachakutik, war nämlich evangelischer Pastor. (Interview, Segundo Jami, 17.7.2006) Das zentrale Argument für die Einheit zwischen evangelischen und katholischen Indígenas ist, dass die religiösen Differenzen gegenüber den harten Bedingungen eines geteilten Lebens in Armut zurücktreten. Denn den alltäglichen Problemen, die diese Armut mit sich bringt, würde sich leichter gemeinsam begegnen lassen. (Interview, Pedro Vargas, 7.6.2006) Eine weitere Problemlage betrifft die sozi-ökonomische Situation im ländlichen Bereich. Besonders in der jüngsten Vergangenheit durchlebte die Saquisilí eine starke Landflucht, die in ihren sozio-kulturellen Dimensionen in der agrarsoziologischen Debatte als Prozess der »Entbäuerlichung« bezeichnet wird. (Sánchez Parga 2002, Ospina 2006: 92-93) Der Prozess wurde durch verschiedene Faktoren hervorgerufen, wobei besonders Wassermangel, die niedrigen Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Preissteigerungen bei der Grundversorgung eine Rolle spielten. Folge ist ein massiver Migrationsprozess in die urbanen Zentren, wobei in einem ersten Schritt vor allem die männlichen Haushaltsvorstände in die saisonale Arbeitsmigration gehen. Letztendlich führt dies zu einer Schwächung der Basis für die indigenen Bauernorganisationen, die territorial organisiert sind und in den urbanen Zentren über keine eigenen Organisationen verfügen. Politisch war das Doppel von Jatarishun und Pachakutik von Mitte der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre in den ländlichen Bereichen Saquisilís hegemonial. Doch mit dem landesweiten Aufstieg von Rafael Correa und der Allianza PAÍS sowie hausgemachten internen Problemen in der indigenen Organisation kam es zu einer Fragmentierung politischer Macht, da viele dirigentes auf die Seiten Correas wechselten. Die Konjunktur indigener Mobilisierung und politscher Dekolonialisierung hatte ihren Höhepunkt überschritten.

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GEGEN DIE KOLONIALE GEOPOLITIK: INDIGENE IN DER STADT Eine Alltagserfahrung indigener Bauern im 19. und 20. Jahrhundert war die der Ausbeutung und rassistischen Behandlung durch die urbanen Mestizen aus Saquisilí. Diese wurde von den indigenen Bauern regelmäßig erfahren, wenn sie aus den im Hochland gelegenen comunidades in die Stadt hinabstiegen, um den regional bekannten, schon in prä-inkaischen Zeiten etablierten Wochenmarkt zu besuchen. Die Bauern aus den abgelegen Gemeinden mussten auf Grund der Entfernung zu ihren Wohnorten vor oder nach dem Markt über Nacht in der Stadt bleiben und in den Gaststätten der Stadt um »Unterkunft bitten«. Mit dem Bau des Casa Campesina im Zentrum von Saqusilí im Jahr 1983 tat die indigene Bewegung einen wichtigen Schritt bei der Institutionalisierung der Organisation und zur Überwindung der Stadt-Land-Segregation. Dabei ist die gleichzeitige ideelle wie materielle Bedeutung des Casa Campesina als feste Institution in der Stadt Saquisilí hervorzuheben. Die Mestizen in Saquisilí bezeichneten sich selbst als Weiße und markierten eine deutliche Differenzlinie zu den Indigenen. In der Stadt wurde das Indigene unsichtbar gemacht, was zu einem segregierten StadtLand-Imaginarium führte. Dabei repräsentierte die Stadt das »Zivilisierte«, das Weiße und das Land die »Barbarei«, das Indigene. Die gesamte Stadtplanung und Architektur der Stadt drückte diesen Anspruch des »Weißseins« aus, ist Saquisilí doch nach dem Prinzip des Ediktes Phillip II. über die Gründung der Kolonialstädte konzipiert worden. Der Stadtplatz, die Kathedrale, das Rathaus und die Häuserblöcke entsprechen deutlich diesem Konzept der kolonialen Stadt. Lediglich mit dem indigenen Markt fand eine partielle Umkehrung des urbanen Imaginariums statt: Die Stadt wurde räumlich und zeitlich begrenzt indigenisiert. Vonurbanen Mestizen wurde die Ausbreitung des Indigenen nicht nur auf dem Marktplatz, sondern auch auf der Plaza und den umliegenden Straßen als indigene Invasion wahrgenommen. Die Indigenen kommen aus den höher gelegenen Gegenden hinunter in die Stadt, strömen ins Stadtzentrum und verkaufen ihre Waren an sämtlich möglichen Orten, um dann nachts in die Kneipen und Herbergen zu verschwinden und morgens die Stadt wieder in ihrer »weißen« Normalität zurückzulassen. Das Casa Campesina brach mit dieser architektonischen »whiteness«, dem architektonisch weißen Charakter Saquisilís. Da es auf einem Bauplatz der Kirche errichtet wurde, befindet es sich direkt neben der Kathedrale an einem zentralen Ort der Stadt, wenige Meter vom Hauptplatz entfernt. Es ist somit ein Zeichen für die neue Sichtbarkeit des Indigenen in der Stadt. In den Interviews mit den dirigentes wurde diese symbolische Macht des Hauses nicht erwähnt, es standen vielmehr praktische und organisatorische Aspekte im Vordergrund:

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»Der wichtigste Beweggrund beim Bau des Hauses war es, einen eigenen Ort zu haben, um nicht mehr auf die Kneipen und Herbergen der Stadt angewiesen zu sein. So waren es in erster Linie praktische Gründe, die aus einer Situation der Ausbeutung und des Rassismus erwuchsen, welche zum Bau eines Gebäudes mit Verwaltungsräumen, Versammlungssaal, Unterkünften und einer Küche motivierte.« (Interview, Padre Emiliano Jácome)

Dabei war den dirigentes durchaus bewusst, dass die Fortdauer von Kolonialität mit dem Ende des Hacienda-Regime nicht vollständig gebrochen worden war, denn in der Stadt gab es – vor allem in Hinblick auf die Übernachtung – andere Ausbeutungsformen. »Ausbeutung, das war nicht nur der Hacendado. Hier in der Stadt des Kantons Saquisilí da gab es auch einen anderen Rassismus, nicht wahr. Einen anderen Rassismus. Auch weil sie Drecksindios sagten, nie boten sie uns einen Schlafplatz an. Bis du betrunken warst, da, nehmen wir mal an, boten sie eine Unterkunft an. Und da schmissen sie uns dann zu jeder Zeit in der Nacht raus. Dann war das immer mit Ausgaben verbunden, das war so ... das gab es alles. Dann haben wir gesagt, hier in der Casa Campesina haben wir bis heute die armen Leute, die Leute, die jeden Mittwochabend, jeden Donnerstagabend um Unterkunft bitten. Oder auch zu jeder Uhrzeit, nehmen wir mal an auch nachts, die also um Unterkunft bitte, als wäre es das eigene Haus. Darum also haben wir das Casa Campesina.« (Interview, Manuel Alomoto, 1.3.2006)

Das Casa Campesina wurde in gemeinschaftlicher Arbeit, den mingas, von den comunidades selber errichtet, so dass der Bau 1983 abgeschlossen war. Dies führte dazu, dass das Haus als ein den Gemeinden eigener Ort betrachtet wurde. In den Erzählungen der dirigentes wurde neben den reinen Bauarbeiten auch immer wieder auf die anderen dabei notwendigen Tätigkeiten, wie etwa das von den Frauen geleistete Zubereiten des Essens, hingewiesen. Aber trotz der eigenen Arbeit und Anstrengung der Gemeinden beim Bau stieß das Casa Campesina nicht sofort auf Akzeptanz. Denn es ist davon auszugehen, dass die Kneipen und Herbergen ein ambivalenter Ort für die Indigenen waren, denn neben der zweifellosen Ausbeutung, die in ihnen stattfand, stellten sie doch einen Ort der Zusammenkunft dar, und darüber hinaus war es schwer, den dort praktizierten Alkoholismus zu überwinden. Ein anderer Bereich, in dem die rassistische Diskriminierung der Indigenen und die Fortdauer von Kolonialität offensichtlich wurden, waren die Büros der staatlichen Administration, in denen sie als Personen zweiter Klasse behandelt wurden. Der ehemalige Präsident der Jatarishun, Belesario Choloquinga, erinnerte sich an eine Episode aus dieser Zeit:

290 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG »Ich zum Beispiel erinnere mich daran, das passierte im Jahr 81, 82, als wir eine Angelegenheit klärten […], als der taita Cesario (Cesario Cocha, O.K.) Präsident der Comunidad war und ich Schatzmeister. Wir gingen wegen einer Bitte ins Rathaus von Saquisilí. Damals war das da in dem alten Gebäude, dort drüben. Da wurden wir Indios immer ganz zum Schluss bedient. Erst die Herren, dann die Indios. Als Indios mussten wir beim Eintreten den Hut ziehen. Wenn wir nicht den Hut zogen, wurde nicht erlaubt, dass ein Indio eintritt, um mit dem Bürgermeister zu sprechen. Diese ganzen Situationen gab es, darum war es wichtig, eine Organisation zu gründen und daran zu arbeiten, unsere Rechte einzufordern.« (Interview, Belisario Choloquinga, 19.5.2006)

An diesen Fällen wird deutlich, dass bei der Bildung der Jatarishun der Kampf gegen den alltäglichen Rassismus von besonderer Bedeutung war. Der Kampf um Respekt und Anerkennung ist letztendlich eng mit dem Prozess Persönlichkeitsbildung verbunden und zielt auch immer darauf, in zwischenmenschlichen Beziehungen akzeptiert und wertgeschätzt zu werden. (Honneth 1992) In diesem Sinne kam dem Begriff der Würde eine hohe Bedeutung zu, so dass Juan Alomoto die Mobilisierung als »Kampf für die Würde der indigenen Völker«. (Interview, Juan Alomoto) beschrieb. Dieser Kampf gründete sich auf das Recht Rechte zu haben (Alvarez, Escobar, Dagnino 2004) und ist damit auch mit neuen Forderungen nach Citizenship verbunden, die über die individuelle Anerkennung als Staatsbürger hinausgingen und kollektive Rechte als Nationalitäten einforderten. (Macas 2009: 81-98) Lange Zeit verwehrte Rechte wurden nun – auch lokal – in vielen Feldern gesellschaftlicher Praxis mit großer Vehemenz eingefordert, besonders in den Bereichen der Bildung, der Gesundheit und der Infrastruktur.

D EKOLONIALISIERUNG DER K ÖPFE : I NTERKULTURELLE UND BILINGUALE B ILDUNG Bildung war schon von Beginn an ein zentraler Punkt innerhalb des indigenen Organisationprozesses. Dabei gehen die Anfänge der interkulturellen und bilingualen Bildung auf die 1940er Jahre zurück, als die FEI in Cayambe indigene Schulen gründete. (Becker 2008: 96, Krainer 1996, 2010) Aber auch entwicklungspolitische Organisationen wie das evangelikale Instituto de Verano und ab Mitte der 1950er Jahre die Misión Andina setzten Bildungs- und Alphabetisierungsprogramme auf ihre Agenda. In der Provinz Cotopaxi erfuhr die interkulturelle und bilinguale Bildung einen weiteren Schub durch das von den Salesianern 1974 gegründete Sistema de Escuelas Indígenas de Cotopaxi (SEIC). Hier wird der muttersprachliche Unterricht in Kichwa privilegiert, und Lehrer und Bildungspromoter werden auch in den comunidades selbst ausgebildet. (Martínez Novo 2004, 2007; Sánchez Parga 2005)

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Über diese regionalen Initiativen hinaus legte der ecuadorianische Staat im Zuge der Redemokratisierung neue zweisprachige und bikulturelle Bildungsprogramme auf, die eng mit der indigenen Bewegung kooperierten. (Abram 1992; Krainer 1996; Ministerio de Educación y Cultura 1993; Yánez 1996) 1988 wurde im Ministerio de Educación y Cultura die Dirección Nacional de Educación Intercultural Bilingüe – DINEIB –eingerichtet. Damit wurde im Staatsapparat parallel zum herkömmlichen ein indigenes Bildungssystem geschaffen, das außerdem auch von Indigenen – vermittelt über die CONAIE – selbst verwaltet wurde. Dazu Carmen Martínez: »in Ecuador the Intercultural Bilingual System has not been tightly controlled by the state, but has been delegated until recently to indigenous organizations through informal arrangements that gave CONAIE the faculty to elect authorities and staff, propose curriculum, write textbooks, and so on. Whereas the Ecuadorian state retained the rights to legislate over and finance the intercultural system, indigenous organizations had the responsibility to manage it.« (Martínez 2009)

Die Gründung des Systems der interkulturellen und bilingualen Bildung rief gerade im lokalen Bereich seitens der Mestizen in vielen Fällen rassistische Diskriminierung hervor. Belisario Choloquinga, ehemaliger Präsident des MICC und der Jatarishun, erinnert sich diesbezüglich: »Ich erinnere mich, als die bilinguale Direktion im Jahre 88 gegründet wurde. Der erste Provinzdirektor der bilingualen Bildung war der compañero José Luis Guanochanga, der gerade mal die Grundschule abgeschlossen hatte. Diesen compañero stellten wir an die Spitze der bilingualen Bildung, als unseren Direktor. Darum sagten die Mestizen, die Leute aus der Stadt: nein, allein unter Indios, wie wollen sie ausbilden. So einer kann doch kein Direktor sein. Nun, es gab diese Infragestellungen. Darum war es notwendig, dass wir uns fort- und weiterbildeten. Und, Gott sei Dank, haben wir heute professionelle compañeros, so dass wir antworten können, und die selber Antworten finden, nicht wahr?« (Interview, Belisario Choloquinga, 19.5.2006)

In Saquisilí arbeiteten neben dem SEIC der Salesianer vor allem die Schwestern des Heiligsten Herz Jesu im Bildungsbereich. Von Beginn an waren die Ordensschwestern bei Qualifikationsmaßnahmen unterstützend in den Gemeinden tätig, etwa in Form von Nähkursen, bei denen Schnittmuster und Techniken vermittelt wurden. Dabei war diese Arbeit wie auch die Zusammenarbeit mit den Katecheten, welche sich an der dreiteiligen Methode des »Sehen, Urteilen, Handeln« der Befreiungstheologie orientierte, auf Bildung ausgerichtet. Folgerichtig entstand das Vorhaben, in den comunidades Schulen einzurichten. In Yanaurco entstand – wie Elina Guade-

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ras berichtet – so in Zusammenarbeit mit den Nonnen eine erste Schule, die später in einen Vorort von Saquisilí verlegt und maßgeblich erweitert wurde. »Die Schule hat sich auf Grund einer Entscheidung der Comundidad gegründet. Sie wurde in Yanaurco von der Organisation Jatarishun gegründet. Aber klar, meine Linie war es immer, die indigene Bewegung zu stärken und nicht, dass wir selber im Mittelpunkt stehen. Denn obwohl mir bewusst ist, dass ich auf sie Einfluss hatte, aber eher ganz indirekt, na ja am Anfang schon ganz direkt, aber danach stellen sie einen schon auf den Platz, auf den sie meinen, dass er hingehört. « (Interview, Elina Guaderas, 17.6.2006)

Wie bereits erläutert, waren die Unterstützung der Kirche und im Besonderen die Tätigkeit der Schwestern des Heiligsten Herz Jesu zu Beginn des Organisationsprozesses von fundamentaler Bedeutung. Aber auch wenn zu Beginn eine gewisse Führungsrolle der Nonnen zu beobachten war, die einen neuen Kreis von dirigentesformten, so emanzipierte sich dieser Kreis doch recht schnell von den Ordensschwestern. So hatten gegen Ende der 1980er Jahre die Indigenen die Führungsrolle übernommen, und jede fremde Person wurde genau überprüft, ob sie für eine Zusammenarbeit in Frage kam. In den 1990er Jahren wurde die Unabhängigkeit der indigenen Organisation gegenüber der Kirche immer klarer, auch wenn stets eine Beziehung aufrechterhalten wurde: »Sie haben sich schon von der Kirche unabhängig gemacht. Aber schau mal, vorher hat die Kirche sie begleitet und sich völlig auf ihre Bewegung eingelassen. Und dann haben sie sich unabhängig gemacht und von der Kirche getrennt. Jetzt marschieren sie allein, aber sie bitten immer um Begleitung. Ich war bei vielen Versammlungen auf nationaler und provinzialer Ebene dabei, auch in den comunidades und all dem. Immer bitten sie um Begleitung. Sie wollen nicht völlig unabhängig sein. Ich begleitete Lucho Macas, auch den Präfekten von hier, und die Comunidades. Auf irgendeine Weise begleitet die Kirche sie.« (Interview, Padre Emiliano Jácome)

Mit dem wachsenden Selbstbewusstsein der indigenen Bewegung und einem nationalen Kontext, indem die interkulturelle bilinguale Bildung von der indigenen Organisation selber verwaltet wurde, entzündete sich auch in Saquisilí der Konflikt um die Verwaltung des neuen Colegio Jatarishun, welches die ältere Schule in Yanaurco ersetzte. Elina Guaderas erinnert sich: »Aber dann kam es, es begann das Eigeninteresse der Indigenen: »Das ist unser.« ›Die Nonnen sollen von hier weggehen‹ , da begann leider, ich weiß nicht genau, so eine Art der Diffamierung von einigen dirigentes.« (Interview, Elina Guarderas, 17.6.2006)

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Es war ohne Zweifel die Diskussion um die Leitung und Entscheidungsbefugnisse in der Schule, die den Konflikt eskalieren ließ. Dahinter stand aber auch die Absicht, sich von dem Einfluss der Ordensschwestern zu emanzipieren. Wahrscheinlich lässt sich dieser Bruch auch auf die fehlende Bereitschaft der Schwestern zurückführen, nach anderen, freieren Unterstützungsmöglichkeiten zu suchen: »Nun, die Jatarishun hatten früher nicht einmal eine Schreibmaschine.Keinen Versammlungsort. Jetzt haben wir das. Zum Beispiel, früher, um ein Schreiben aufzusetzen, eine Forderung zu stellen, mussten wir darauf warten, dass die Schwestern uns beim Schreiben halfen. Jetzt haben wir unsere eigenen compañeros, die darin geschult sind, jetzt können wir sogar Vorschläge machen. Wir können Projekte machen. Wir können schon verwalten, unsere compañeros dirigentes. Und wir selber können allein unsere Organisation führen. Aber früher waren wir immer auf diese Hilfe der Schwestern und Pater angewiesen. Aber jetzt können wir auf eigenen Füßen stehen, wie man so sagt. « (Interview, Belisario Choloquinga, 19.5.2006)

Das Colegio Jatarishun hatte im Jahr 2006 65 Schüler vor allem aus den comunidades. Allerdings war auch das Colegio Jatarishun von dem Problem betroffen, dass es auch in den comunidades Skepsis gegenüber der bilingualen Bildung gab und statt dem Kichwa das Spanische oder andere Fremdsprachen wie das Englische bevorzugt wurden. Auch wurde die Bildungsqualität der städtischen Colegios zum Teil als höherwertig eingestuft, so dass auch dirigentes der Jatarishun ihre Kinder lieber auf die konventionellen staatlichen Schulen schickten. (vgl. allgemein zur Evaluierung der interkulturellen bilingualen Bildung in Cotopaxi Sánchez-Parga 2005) Trotz dieser Mängel in der interkulturellen bilingualen Bildung ist doch auf die kulturell-politische Dimension der Dekolonialisierung zu verweisen, da die indigenen Sprachen in rasanter Weise aufgewertet wurden und auf der Grundlage der indigenen Sprachen nun auch erste literarische Werke und Literaturwettbewerbe entstanden. Zudem ist der innovative Charakter der EIB in Ecuador zu betonen, die sich in hohem Maße von der paternalistischen Politik des 19. und 20. Jahrhunderts distanziert hatte und die Indigenen den Bildungsprozess selbst bestimmen ließ. Damit war Ecuador das einzige Land in Lateinamerika, das über ein von der indigenen Bewegung verwaltetes nationales System der interkulturellen-bilingualen Bildung aufwies, das vom nationalen Bildungssystem unabhängig war. (Sánchez Parga 2005: 142) Es waren indigene Intellektuelle in Zusammenarbeit mit NGOs und Entwicklungsorganisationen – wie nicht zuletzt der deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ)–, die mit dem Projekt der Dekolonialisierung und der Konstruktion eines pluri-nationalen Staates die Lehrpläne entwarfen, Unterrichtmaterialien ausarbeiteten und Lehrer ausbildeten. Im Februar 2009 wurde diese neokorporatistische Doppelstruktur, die den Indigenen einen eigenen Platz im pluri-

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nationalen Staat bot, von der Regierung Rafael Correas beendet. Diese stellte – mit dem politischen Leitbild der Stärkung des Staates – die indigene Bildung unter staatliche Kontrolle und schaffte die indigene Ko-Regierung durch die CONAIE ab.

ENTWICKLUNG: VOM PATERNALISMUS ZUM NEO-INDIGENISMUS Nach Ende des Zweiten Weltkrieges erfuhr das Konzept von Entwicklung und dessen technokratische Umsetzung durch Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit einen historisch einzigartigen Aufschwung. (Escobar 1992, Kaltmeier 2004) Diese weltweite Konjunktur von Entwicklung fand auch im Andenraum ihren Niederschlag, wo die indigen-bäuerliche Bevölkerung seit den 1950er Jahren unter dem bereits erwähnten Programm der Misión Andina (Bretón 2000) zur bevorzugten Zielgruppe von Entwicklungsprogrammen geworden war. Die Durchführung von Entwicklungsprogrammen entsprach der weltweiten Konjunktur von Modernisierung und Wachstum nach dem Zweiten Weltkrieg und reagierte gerade auch auf die Mobilisierungserfolge der FEI, die gezeigt hatte, dass es unter der indigenen Bevölkerung ein großes Protestpotential gab, das den neo-kolonialen Staat hätte ins Wanken bringen können. Das in den 1980er Jahren geschaffene Programm der Desarrollo Rural Integral (DRI), wurde in Zusammenarbeit von ecuadorianischem Staat und NichtRegierungs-Organisationen im Kontext der Redemokratisierung nach 1978 aufgebaut und stellte zweifelsohne auch eine Reaktion auf die an Organisationskraft gewinnende indigene Bewegung dar. Dabei wurde die im Entstehen begriffene indigene Bewegung mit ihren Organisationsformen, vor allem den späteren Organisationen zweiten Grades (OSG), Hauptansprechpartner für die Durchführung lokaler Entwicklungsprojekte. Dabei standen bestimmte Regionen im Vordergrund, wie etwa im Rahmen des Projektes DRI-TTP (Toacazo-Tanicuchí-Pastocalle), das nördlich des Kantons Saquisilí durchgeführt wurde. Der Ansatz dieser Projekte bestandin einer modernisierungstheoretisch inspirierten technokratischen Vorstellung von Entwicklung, die sich an westlichen Industrienationen orientierte und zu den indigenen Gemeinschaften ein paternalistisches und hierarchisches Verhältnis etablierte. Einen ersten Kontakt zu den Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit stellte die Kirche her, zunächst selbst als Akteur von Entwicklung. So stellte die katholische Kirche das Bauland für das Casa Campesina in Saquisilí und organisierte durch den Erzbischof von München finanzielle Unterstützung aus Deutschland. Diese Hilfestellung war besonders für die ersten Schritte des Organisationsprozesses von Bedeutung. Doch durch Vermittlung der Kirche kam SWISSAID nach Saquisilí und war damit de facto die erste Organisation der internationalen Entwick-

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lungszusammenarbeit in der Region, mit der 1983/1984 ein Trinkwasserprojekt durchgeführt wurde. (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006) Zu Beginn der 1980er Jahre war die Lage aber eine andere. Diese Zeit war von einem starken Rassismus geprägt, der auch von den indigenen Bauern selbst internalisiert wurde. Es fehlte das Selbstbewusstsein zu sagen: »Ja, wir können das.« Außerdem musste die neu gegründete indigene Organisation mit dem politischen Klientelismus brechen, in dessen Rahmen bei Wahlen viel versprochen und anschließend wenig umgesetzt wurde. Cesario Guanoquiza erzählt von einer Situation, in der die Mitglieder des Casa Campesina, welches zu dieser Zeit noch nicht sehr bekannt war, der Gemeinde Chilla San Antonio ein Projekt zur Verlegung von Wasserleitungen vorstellten: »Da lachten sie uns ins Gesicht und sagten: Ihr runitas, wie wollt ihr denn helfen? Hier sind schon bessere Leute, cholos und Politiker vorbeigekommen, die uns wunderbare Sachen versprochen haben. Was wollt ihr denn erzählen, ihr wollt uns doch nur belügen und betrügen.« Sie glaubten uns nicht, und so machten wir einfach einen Tag ab, an dem wir mit der Arbeit begannen. Wir haben alle Papiere, und wir haben Geld, all das. Dann gab es drei, vier Versammlungen. Da trafen sich die Männer; und dann gingen sie an die Arbeit, sie organisierten sich, und wir arbeiteten und alles ging gut aus. In vier anderen comunidades haben wir danach ein anderes Projekt vorgestellt. Denn ich denke, dass wir das Projekt gut und mit dem nötigen Ernst verwaltet haben. Auch mit der Hilfe von Doktor Pancho Gangotena. Ich selber war in der Zeit Schatzmeister. « (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006)

Das von SWISSAID unterstützte Projekt zur Verlegung von Wasserleitungen war ein voller Erfolg und erhöhte das organisatorische und administrative Potential des Casa Campesina. Außerdem stieg die Anerkennung der Organisation in den Gemeinden. Neben diesem großen Projekt wurden vor allem in Zusammenarbeit mit der Kirche auch kleinere Projekte umgesetzt, die vor allem auf Verbesserungen in der Subsistenzwirtschaft zielten. Was den Ausbau der kooperativen Strukturen anging, festigte sich besonders die Idee der Gemeindeläden, die heutzutage nicht mehr existieren. (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006; Interview, Padre Emiliano Jácome) So half die Durchführung von Entwicklungsprojekten bei der Bildung der Organisationsstrukturen. Außerdem ließen sich die finanziellen Mittel, die im Rahmen dieser Projekte durch die Organisation eingesetzt wurden, auch in politisches Kapital umwandeln. Das heißt, die Organisation gewann an repräsentativem Charakter. Ebenso erwarben die dirigentes im Rahmen der Projekte formale Kenntnisse bezüglich der Organisationsverwaltung. Im Zuge der Projektumsetzung veränderten sich auch die Interessen innerhalb der Organisation. Während die Themen um Rassismus und Anerkennung zu Beginn dominiert hatten, gewann nun der ökonomische Aspekt an Bedeutung. Dabei stand

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die Stärkung der familiären ökonomischen Strukturen im Mittelpunkt. (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006) Und mit der wachsenden Bedeutung von Entwicklungsprojekten legten die Ordensschwestern besonderen Wert auf die aktive Teilnahme von Frauen. Auch SWISSAID organisierte Projekte zur Kleintierzucht speziell für Frauen. Dabei stellten die im Zuge dieser Aktivitäten qualifizierten Frauen Kontinuitäten zu den ehemaligen dirigentas der FEI her. Die ehemaligen Aktivistinnen der FEI waren dabei oftmals persönliches Beispiel für die neue Generation von dirigentas. Aber es fällt insgesamt auf, dass die Frauen der Gemeinden nicht über die direkt an sie gerichteten Projekte hinaus in leitendenden Positionen in der Organisation der Indígenas in Saquisilí aktiv waren: »Wir gründeten Frauengruppen, weil wir uns organisieren wollten. Die erste Präsidentin war die compañera Olga Machay. Wie Dolores Cacuango, Tránsito Amaguaña begannen wir Frauen, eine Frauenorganisation zu gründen, um uns fortzubilden: Denn auch wir können reden. Die Institution SWISSAID unterstützte uns mit Projekten und Fortbildungen, für Meerschweinchen und Schafe. Die Präsidentin war señora Olga Machay, und in jeder comunidad gab es eine Präsidentin der Frauen. « (Interview, Rosa Cofre, 27.5.2006)

Nachdem die Schwestern sich aus der Begleitung des Casa Campesina zurückgezogen hatten, konzentrierte sich die Leitung der Jatarishun praktisch vollkommen auf die Männer und limitierte hierdurch die Mitarbeit der Frauen auf die unteren Ränge und Frauengruppen ohne großen Einfluss. (Interview, Rosa Cofre, 27.5.2006) Erst im Rahmen der zunehmenden Binnenmigration, die zu einem schleichenden »Bauernsterben« führte, nehmen Frauen wieder wichtigere Posten in den indigenen Organisationen, vor allem in den comunas, wahr. Denn die Männer migrierten, um Arbeit in den Städten zu finden, und die Frauen blieben auf dem Lande zurück. (Sánchez-Parga 2002) Mitte der 1990er Jahre kam es jedoch im Zuge der indigene Aufstände auch zu einer Veränderung des Kräfteverhältnisses im entwicklungspolitischen Feld. In den ländlichen Bereichen konnten kaum mehr Projekte ohne Beteiligung der Indigenen durchgeführt werden, und so kam es zu einer Konjunktur neo-indigenistischer Entwicklungspolitik, bei der es nun die Indigenen selber waren, die zumeist in Kooperation mit NGO Projekte durchführten. Hierbei ist das von der Weltbank konzipierte Programm PRODEPINE zu nennen, welches den Fokus auf das soziale Kapital der ethnischen Organisationen, und im Besonderen der OSGs, legt. Hierbei kam es durchaus zu einer Verschränkung von neoliberaler Politik der Privatisierung und Staatsverschlankung mit ethnischer Anerkennungspolitik, die in eine neue »neoliberale ethnische Verwaltung mündete.« (Kaltmeier 2007b: 200-210, 2008; Bretón 2000)

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Den OSG wurde eine besondere Rolle bei der Durchführung und Verwaltung von Projekten zugewiesen, die diese nicht immer erfüllen konnten (Martínez 2005). Und auch in den Fällen, in denen die Projekte nach der Entwicklungslogik durchgeführt wurden, gab es Probleme durch Spaltungen der Gemeinschaften und einen einsetzenden Prozess der Ent-Politisierung der Bewegung. Auch in Saquislí tat sich eine Kluft zwischen Basis und dirigentes auf. Zudem entstand mit der Entwicklungszusammenarbeit ein neuer Typus von dirigente, der allein auf die Durchführung von Entwicklungsprojekten bedacht ist. Ein Aktivist der Jatarishun merkte zu dieser Dynamik kritisch an: »Früher waren wir näher an der Basis dran. Heute haben wir die dirigentes zu Projektverwaltern gemacht. So passiert es, dass wir oft Projekte haben, die nicht zur Entwicklung der Dörfer beitragen.« (Interview, Juan Alomoto)

T ERRITORIALE M IMESE Im Verlauf des indigenen Organisationsprozesses nach der Agrarreform entstand, ausgehend von den comunidades, über die Ebene der Gemeinden bis hin zum regionalen und nationalen Bereich ein zusammenhängendes»andines politisches System«. Dieses »andine« politische System schafft eine parallele Struktur zum Staat, die sich aber an dessen administrativen Ebenen orientiert. In dieses Bild passt auch die Bewegung in Saquisilí: So ist die Jatarishun, als Organisation zweiten Grades (OSG) die indigene Organisation im Kanton Saquisilí und ist Teil des Movimiento Indígena y Campesino de Cotopaxi (MICC), welches wiederum Mitglied in der ECUARUNARI ist, einer regionalen Allianz, die kein direktes Äquivalent in der staatlichen Struktur hat. Diese ist für ihren Teil wiederum in die CONAIE, der Organisation auf nationaler Ebene, integriert. Aktuell steht, vereinfacht gesprochen, dem staatlichen Organisationsprinzip ein andines entgegen, das ebenfalls alle Verwaltungsstufen von der lokalen bis zur nationalen Ebene abdeckt. Dabei orientiert sich die »andine« Organisationsstruktur weitgehend an die administrativen Teilungen des Staates. Dies spiegelt sich in der Namensgebung wider, so ist das »Nationale« in Namen der CONAIE von Bedeutung, und auf Provinzebene beziehen sich alle indigenen Organisationen ausdrücklich auf die staatliche Verwaltungsstruktur der Provinzen (z.B. Movimiento Indigena y Campesina de Cotopaxi, Federación Indígena y Campesina de Imbabura). Eine ähnliche Konvergenz gibt es auch in der Beziehung zwischen politischen Parteien und Indígena-Bewegung. 1996 gründete die CONAIE mit der Partei Pachakutik ihren politischen Arm, um ihre Ziele auch in parlamentarischen Räumen zu vertreten. In der Provinz Cotopaxi ist dabei die Zugehörigkeit zum MICC (OTG)

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bzw. eine der unteren Regionalorganisationen (OSG) Voraussetzung für eine Kandidatur für Pachakutik. In Saquisilí äußert dies der Sekretär der OSG Jatarishun so: »Zwischen Jatarishun und Pachakutik gibt es keinen Unterschied, es ist dasselbe.« (Feldtagebucheintrag vom 24.4.06). Für die lokalen politischen Felder sind hier besonders zwei Aspekte relevant. Zum einen sind die gleichen comunidades zugleich Grundlage der staatlichen Verwaltungsstruktur der comunas als auch der »andinen« Organisationsstruktur der indigenen Bewegung. Zum zweiten gibt es im lokalen Bereich Zuordnungsprobleme. Die OSG, Zusammenschlüsse von comunidades, können sowohl auf der Ebene der juntasParroquiales agieren (wie im Kanton Otavalo) als auch auf Ebene des municipios bzw. des Kantons (wie in Saquisilí). Um das massive Auftreten des Indigenen als nationales und internationales Politikum begreifen zu können, ist ein Blick auf die lokalen Organisationsprozesse notwendig. Parallel zur Agrarreform gelang es den indigenen Bauerngemeinden, ihre lokale politische Macht zu festigen, indem sie landwirtschaftliche Flächen wieder unter ihre Kontrolle brachten und die Anerkennung ihrer Organisationsstrukturen erreichten (unter anderem über das Ley de Comunas von 1937). In diesem Zusammenhang gelangten die Gemeinden auch in Saquisilí in die Position, territoriale Kontrolle auszuüben. Ohne die Erlaubnis der Gemeinden konnte keine Autorität das Gebiet betreten. So wurde der Zutritt zu den Gemeinden Yanaurco und Salamálag faktisch kontrolliert. Aber diese politische Macht beschränkte sich nicht nur auf die lokale Ebene. Ausgehend von den Organisationsprozessen in den Gemeinden in den 1970er und 1980er Jahren wurden in Form von Allianzen zwischen den Gemeinden Organisationen zweiten und dritten Grades geschaffen (OSG), die sich auf Kantons- oder Gemeindeebene (parroquia) sowie auf Provinzebene bewegten. Wenn nun hier mit dem Konzept der räumlichen Mimesis argumentiert wird, so ist zu unterstreichen, dass die indigenen Organisationsstrukturen nicht durch den politischen Druck oder die offenen Assimilationspolitiken staatlicher Institutionen angepasst wurden, sondern dass – wie im Folgenden herausgearbeitet werden soll – diese Form der Raumpolitik von unten, von den lokalen Gemeinschaften durchgesetzt wurde. Entsprechend werden jetzt die raumpolitischen mimetischen Strategien am Beispiel der Jatarishun, der Organisation zweiten Grades (OSG) des Kantons Saquisilí, näher betrachtet. Die Jatarishun entstand nach dem Ende der Hacienda in der Jahreswende 1976/1977 aus dem Zusammenschluss von Katechisten, die sich in Saquisilí niedergelassen hatten und mit der Unterstützung des religiösen Ordens Esclavas del Divino Corazón de Jesús rechnen konnten. Allerdings stimmte bis Mitte der 1980er Jahre die territoriale Kontrolle der Jatarishun nicht mit den Grenzen des Kantons, d.h. mit der staatlichen Repräsentation von Raum überein. Die Comuna Maca Grande lag zwar im Kanton Latacunga, war aber trotzdem Teil des Casa Campesina

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de Saquisilí. Die ComunaYanaurco hingegen lag im Kanton Saquisilí, gehörte aber anfangs zu der OSG, die heute als UNOCANC aus Planchaloma bekannt ist. Einer der Gründe für den früheren Anschluss an die Mushuc Patria, Patria Nueva, aus der später die UNOCANC hervorging, ist mit den räumlichen Alltagspraktiken zu erklären, da es eine bessere Straßenanbindung von der Panamericana zu der comunidad über die Stadt Toacazo gibt, die sich im Gebiet der UNOCANC befindet. Ein weiterer Grund liegt in der besonderen Geschichte der UNOCANC, die auch nach dem Ende der Hacienda eng mit linken Gruppierungen in diesem Gebiet verbunden ist. Dabei war der Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR), der in der Zentraluniversität stark verankert war, besonders aktiv. Mitte der 1970er Jahre begannen die aus Toacazo stammenden Brüder Viera mit der Organisationsarbeit. Bis 1981 wurde dieser Prozess vom MIR angeleitet und seit 1984 mit der Unterstützung der linken Aktivisten im Rahmen der Unión de Organizaciones Campesinas del Norte de Cotopaxi (UNOCANC) fortgeführt. Miguel Viera erzählt: »Also ich war gerade mal Teil der politischen Formation des MIR, als ich begann in der Organisation der comunidades zu arbeiten. Nicht nur in Yanaurco Grande. Wir waren eine sehr große Gruppe von Universitätsstudenten, die sich, wegen meiner Initiative, mit einer Gruppe von anderen Studierenden verschiedener Fakultäten der Zentraluniversität trafen. Wir bauten also die Beziehung zur Studentenorganisation der Zentraluniversität auf, und durch sie kriegten wir einen Bus, eine Transportgelegenheit der Universität, der uns jeden Freitagnachmittag nach Toacazo brachte. Wir verteilten uns in den comunidades und er holte uns am Sonntag wieder ab. […] Viele Linke verbrachten viel Zeit in Yanaurco Grande. So auch ich, in meiner Zeit, also so zwischen 74, 75 bis 81 war ich für die Koordination einer Gruppe von mindestens 25 Studierenden verschiedener Fakultäten zuständig. Wir machten Alphabetisierungsprogramme in 21 comunidades von Toacazo. Und eine davon war Yanaurco.« (Ínterview, Miguel Viera, 23.8.2006)

Bei den Aktivitäten dieser Gruppe standen vor allem die Bildungsarbeit und der Organisationsprozess in den Gemeinden im Mittelpunkt. Dabei unterschieden sich diese von den auf den Landkonflikt konzentrierten Aktionen der Linken der vorherigen Jahrzehnte und ähnelten in ihrer Ausrichtung eher derjenigen der Ordensschwestern in Saquisilí. Als die indigene Organisation in Saquisilí mit Unterstützung der Esclavas del Divino Corazón de Jesús an Stärke gewann, setzte ein neuer geopolitischer Ordnungsprozess ein. Jorge Vargas, ein Katechist und der erste dirigente aus Yanaurco, der sich an dem Casa Campesina de Saquisilí beteiligte, erzählte: »Die comuna Yanaurco gehörte zur UNOCANC. In der Zeit war das nicht die UNOCANC, sondern Patria Nueva. […] ich war damals Katechist in Saquisilí und ich sagte: »Wie kann das eine Organisation der anderen Kirchengemeinde sein, und wir, und die Kirche, und all das

300 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG gehört zu Saquisilí? « Und ich unternahm die Anstrengung, wir müssen Saquisilí vereinigen. Und dann verstanden sie und sagten: ›Na klar, wir müssen zum Kanton Saquisilí gehören.‹ (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006)

Hier wird deutlich, wie die staatliche Raumrepräsentation von den Katechisten strategisch eingesetzt wird, um den Anschluss von Yanaurco an die »kantonale« Organisation aus Saquisilí zu begründen. Der strategische Gebrauch dieses Arguments gewann Mitte der 1980er an Gewicht durch die Beteiligung von Yanaurco an einem Entwicklungsprojekt, das im Kanton Saquisilí durchgeführt wurde. Insofern hatte das Wasser-Projekt neben dem sozialen Fortschritt auch noch eine politische Komponente. Aber als die indigenen Organisationen an politischem Einfluss gewannen, setzte auch ein Prozess der politisch-territorialen Neuordnung ein. Jorge Vargas, der als erster dirigente aus Yanaurco bei der Organisation des Casa Campesina in Saquisilí mitwirkte, erzählt diesbezüglich, dass er anfangs der einzige dirigente der Casa Campesina de Saquisilí in der Region um Yanaurco gewesen war. »Da gab es früher niemanden. Als ich dirigente war, begleitete mich keiner der dirigentes zu den Versammlungen hier, zu den Sitzungen, oder nur irgendeiner Sache. Nur ich allein ging dorthin. Der Präsident und all die sagten immer, wir sind in der UNOCANC. Und dann, als wir beitraten, dann begannen auch sie zu laufen. Und als wir 1985, 86, 87 mit dem Wasserprojekt in Yanaurco begannen. Nun das brachte sie auf unsere Seite ... wir trennten sie von der UNOCANC und brachten sie zur Jatarishun.« (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006)

Zur gleichen Zeit beendete die Comuna Maca Grande aus dem Kanton Latacunga, die an die Hacienda der Universidad Central angrenzte, ihre Mitarbeit in dem Casa Campesina aus Saquisilí: »Früher gehörte Maca Grande auch zur Jatarishun. Geographisch gehört Maca Grande zum Kanton Latacunga, es gehört nicht hierher, nach Saquisilí, es gehört zum Kanton Latacunga.« (Interview, Alejandro Cofre, 13.5.2006)

Während der Anfangsphase, als Maca Grande Teil der Jatarishun war, nahm die comuna aktiv am Organisationsprozess, an der Durchführung des Wasser-Projekts sowie den Aufständen teil, und ein comunero aus Maca Grande bekleidete die Funktion des Sekretärs. (Interview, Rosa Cofre, 27.5.2006) Nach diesen räumlichen Anpassungen an die formalen politisch-territorialen Grenzen hatte die Jatarishun ihre räumliche Form gefunden. Dies bedeutete jedoch kein Ende der raumpolitischen Strategien, vielmehr richteten sich diese nun darauf, die urban-rurale Segregation zu überwinden und die politischen Institutionen des lokalen und regionalen Staatsapparates zu besetzen. Doch ist diese Strategie der

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räumlichen Mimese an die staatliche territoriale Ordnung auch als Ausdruck – durchaus wandelbarer – gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und etablierter Regierungstechniken zu begreifen. In diesem Sinne demonstrierte die indigene Bewegung auch, in welchem Maße sie ihrerseits in der Lage war, die territorial-administrativen Formen des ecuadorianischen Staates zu prägen. Auf dem Höhepunkt indigener Mobilisierungsprozesse in Ecuador etablierte die Weltbank mit PRODEPINE ein Pilot-Programm für indigene Völker, das sich durch seinen partizipativen Charakter auszeichnete. Ausgeführt wurde das Programm von der 1998 gegründeten staatlichen Indigenen-Behörde CODEPINE. Letztere zeichnete sich dadurch aus, dass sie das oben dargestellte ethnische Klassifikationsschema der CONAIE übernahm, nach dem sich die Indigenen in Ecuador in 13 Nationalitäten organisierten, wobei die größte Nationalität – die der Kichwa – sich wiederum in 14 Pueblos (Völker) unterteilte. (Lucero 2003: 23-48; Guerrero und Ospina 2003: 186; Kaltmeier 2007b: 202-207) Auch als die CONAIE das Programm wegen der Kritik neoliberaler Regierungstechniken und den internen Spaltungen, die das Programm hervorgerufen hatte, kritisiert und eine zweite Förderphase 2008 ablehnte, wurde die hier erstellte ethnische Klassifikation beibehalten. Unter der Regierung Rafael Correa wurde der Wirkungsgrad von CODENPE schließlich beschnitten.

Dekolonialisierung des politischen Feldes

In den 1990er Jahren entstanden besonders in der Andenregion aus dem Umfeld von indigenen sozialen Bewegungen auch politische Parteien. Dies ist im Zusammenhang mit einer veränderten politischen Kontextstruktur zu sehen, was in einer Öffnung des institutionellen Systems – z.B. durch veränderte Wahlgesetzgebung, durch politische Dezentralisierung und der Eröffnung neuer politischer Handlungsfelder und Minderheitenquoten – seinen Ausdruck fand. Im Laufe der 1990er Jahre konnten Kandidaten indigener Parteien auf anderen Listen durch die Eroberung von Bürgermeisterposten, vor allem auch in lokalen Bereichen, politischen Klientelismus und Rassismus überwinden sowie deutliche Demokratisierungsschübe 1 initiieren. Gemäß der Politikwissenschaftlerin Donna Lee Van Cott kann zwischen rein indigenen und Parteien mit indigener Grundlage unterschieden werden, wobei letztere auch nicht-indigene Akteure einbeziehen. (van Cott 2005: 16-20) In Ecuador hat die Indígena-Bewegung mit dem Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik Nuevo País (MUPP-NP) 2 1995 eine politische Bewegung gegründet, die ein Jahr später in Allianz mit linken und sozialdemokratischen Parteien an den Wahlen teilnahm. (Santillana 2006, Becker 2011b) Ein Grundkonflikt war allerdings in Pachakutik bereits bei der Gründung angelegt, da die politische Bewegung einerseits ausdrücklich nicht-indigene Akteure einschließt, aber andererseits von

1 Bemerkenswert ist, dass der relative Erfolg indigener Parteien nicht in direktem Zusammenhang mit dem relativen Anteil indigener Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung steht. So konnten sich in Venezuela und vor allem in Kolumbien (beides Länder mit einem Anteil indigener Bevölkerung um 2%) indigene Parteien durchsetzen, während es in Peru mit einem vergleichsweise hohen indigenen Bevölkerungsanteil nur regionale indigene Parteien gibt. In Kolumbien spiegelt sich die Fragmentierung der indigenen Bewegungslandschaft auch in der Parteienlandschaft wider, so gab es 1990 vier indigene Parteien, von denen sich zwei – der Movimiento de Autoridades Indígenas de Colombia (AICO) und die Alianza Social Indígena (ASI) – dauerhaft etablieren konnten. Für Ecuador vgl. Ospina 2006. 2 Im Folgenden kurz Pachakutik.

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den indigenen Bewegungen als »politisches Instrument« verstanden wurde, das den langfristigen Zielen und Strategien der Bewegung untergeordnet war. Trotzdem war das Bündnis als neuer, unverbrauchter politischer Akteur durchaus erfolgreich und konnte bei den Wahlen 1996 insgesamt mehr als 20% der Stimmen auf sich vereinigen. Über die Demokratisierung und der Schaffung von Transparenz im politischen System stellte Pachakutik vor allem die Bildung eines plurinationalen Staates in das Zentrum. Der Staat sollte – weit über die multikulturellen Politiken hinaus – die indigenen Nationalitäten und deren kollektive Rechte und territoriale Praktiken anerkennen. (Santillana 2006: 218) Besonders in Saquisilí lässt sich in diesem Kontext beobachten, dass es durch die erfolgreiche Teilnahme an den Wahlen gelang, mit dem Rathaus einen neuen Bereich des politischen Raumes für sich zu gewinnen. Von 1996 bis 2009 (Antonio Llumitásig 1996-2004 und Segundo Jami Llumitásig 2005-2009) stellte die Bewegung den Bürgermeister von Saquisilí. Ebenso wurde im Jahr 2000 die Mehrheit im Regionalparlament, dem Consejo Provincial, von Cotopaxi erlangt. (Ospina 2006) Die Beziehung zwischen der indigenen Bewegung und der politischen Organisation in Cotopaxi zeichnet sich dadurch aus, dass die Mitgliedschaft im MICC eine notwendige Bedingung einer Kandidatur für Pachakutik ist. So vertritt der Sekretär der Jatarishun in Saquisilí folgende Ansicht: »Zwischen Jatarishun und Pachakutik gibt es keinen Unterschied, es ist dasselbe.« Mit dieser Eroberung des municipio wurde eine der nachhaltigsten post-kolonialen räumlichen Teilungsprinzipien in Frage gestellt, die seit der Kolonialzeit den sozialen Raum der andinen Länder strukturierten. (Mallon 1992) Gemeint ist der Bruch zwischen dem IndigenLändlichen, das als barbarisch und traditionell repräsentiert wurde, auf der einen Seite und dem weiß-geprägten Urbanen, das als zivilisiert und fortschrittlich verstanden wurde. Erstmalig in der Geschichte Ecuadors gelang es der indigenen Bevölkerung, sich nachhaltig die (semi-)urbanen Räume der Provinzstädte anzueignen. Die Gründung der politischen Bewegung Pachakutik und die damit einhergehende Beteiligung der Indígena-Bewegung an den Wahlen stellt eine neue Etappe der mimetischen Aneignung des bürokratisch-staatlichen Raums dar. Über diese Aneignung werden dann von Innen, aus den staatlichen Institutionen heraus, neue Prozesse der Dekolonialisierung angestoßen, die mit einem konzeptuellen Schwerpunkt auf Interkulturalität und Demokratisierung nicht als »indianistische Politik« begriffen werden können, sondern im Dialog mit den (urbanen) Mestizen entfaltet werden. Entsprechend trat auch der erste indigene Bürgemeister in Saquisilí, Antonio Llumitásig, keinesfalls mit einem Programm zur Indigenisierung des Politischen an. In diesem Sinne veränderte die Übernahme lokaler Macht in Saquisilí auch die Raumrepräsentationen nicht, insofern, als dass die neue politische Kultur, die durch

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den Protagonismus der indigenen Bewegung gekennzeichnet ist, sich nicht auch in einer höheren Sichtbarkeit des Indigenen im öffentlichen Stadtraum widerspiegelte. Anders als beispielsweise Otavalo oder Cotacachi, beides von indigenen Bürgermeistern geführte Städte, in denen das Stadtbild von indigenen Wandgemälden und Statuen geprägt ist, suchtman in Saquisilí vergeblich indigene Elemente, Artefakte oder Monumente. Die jüngst restaurierte Plaza ist im typischen provinziellen Kolonialstil gehalten, und auch am Rathaus findet man keine Hinweis auf die indigene Präsenz, anders als in Cotacahci, das von dem indigenen Bürgermeister Auki Tituaña gelenkt wurde und wo die Whipala am Fahnenmast und auf Wandgemälden auf die indigene Präsenz verweisen. Stattdessen konzentrierte sich der indigene Bürgermeiste darauf, Akzente für eine partizipative lokale Demokratie zu setzen. Durch den von den indigenen Bürgermeistern initiierten Prozess der Bürgerbeteiligung wurde eine neue Verbindung zwischen der Jatarishun und dem municipio geschaffen. Die Stärke dieser Verbindung lässt sich jedoch weniger an formalen Übereinkünften, sondern vor allem anhand der informellen Praktiken, Übereinkünfte und gegenseitigen Verpflichtungen bemessen. Somit war die Institutionalisierung der Jatarishun als Organisation zweiten Grades formal nicht stärker als die aller anderen popularen Organisationen, denen ein Mitspracherecht im Rahmen der Bürgerbeteiligung zugestanden wurde. Die Wirkungsmacht der OSG hing dabei nicht nur von der Fähigkeit ihrer Leitung ab, sondern auch von den Beziehungen zu Bürgermeister und Angestellten des municipio. Dennoch war es auf Grund der großen politischen Bedeutsamkeit der Jatarishun, die im ländlichen Bereich nahezu ein Monopol der politisch-sozialen Organisation ausübt, deutlich, dass sie in der Machtbalance des municipios ein Schwergewicht ist. Dies zeigte sich in den Raumrepräsentationen des municipios, die sich auf der offiziellen Homepage des Kantons direkt auf das von der Jatarishun kontrollierte Gebiet bezog. Wenngleich die Darstellung einerräumlichen Repräsentationin den Formen westlicher Kartographie entspricht, so kommt hier doch deutlich die Anerkennung indigener Territorialität zum Ausdruck. 3 In den Aushandlungen um Staatlichkeit ergab sich nicht nur ein Prozess der Bürokratisierung und eine Annäherung der indigenen Organisationen an den abstrakten Raum des Staates, sondern es kam zu einer interkulturellen Auseinandersetzung um politische Macht, bei der der municipio die Territorialität der anderen indigenen Macht innerhalb der Grenzen seines Territoriums anerkannte. Hier werden zwei

3 Unter dem neuen Bürgermeister, der von der Alianza PAÍS gestellt wird, gibt es seit 2009 keine

expliziten

Bezüge

mehr

zur

Jatarishun.

(http://www.saquisili.gob.ec/

index.php?option=com_content&view=frontpage&Itemid=44)

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Seiten der kulturellen und raumpolitischen Strategie der indigenen Bewegung deutlich. Auf der einen Seite folgte die Aneignung des bürokratischen Raumes des municipio einer Strategie geopolitischer Mimesis. Auf der anderen Seite gingen die ethnischen Räume mittels einer Politik der Alterität, die der interkulturellen Strategie der CONAIE entsprach, gestärkt aus diesen Prozessen hervor. Abb. 4: Territorium der Jatarishun

Quelle: http://www.ame.gov.ec/frontEnd/municipios/mainMunicipios.php?idMunicipios=65&idSeccion=3200 (letzter Abruf 15.9.2006)

In diesem Zusammenhang ist herauszustreichen, dass die politische Kontrolle der Jatarishun weit über die Besetzung des Bürgermeisteramtes hinausreichte. Die indigenen Bürgermeister waren nur die sichtbare Spitze des Eisberges der geopolitischen Macht indigener Organisationen in den ländlichen Gebieten. Von mindestens gleicher politischer Bedeutung war die Kontrolle einer großen Anzahl diverser Ämter im ländlich-lokalen Raum. Im Jahr 2006 waren die Ämter des teniente político, des comisario nacional sowie die Ämter in den juntas parroquiales von Saquisilí in den Händen der Jatarishun.

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Damit wurde die staatliche Raumvorstellung mit ihren administrativen und bürokratischen Räumen von der OSG nicht abgelehnt, sondern vielmehr aufgenommen, angeeignet und verändert. Die Ämter wurden somit selber hybrid, wie im Fall des comisario nacional des Kantons Saquisilí, zu dem im Jahr 2007 Pedro Vargas de facto auf dem Kongress der Jatarishun ernannt wurde. Es ist eine Mimesis, eine Nachahmung der staatlichen Administration, die aber keine genaue Kopie ist. Das Beherrschen des Kichwa sowie der Normen und Umgangsformen in den comunidades machten den Unterschied dieser indigenen dirigentes zu den vorigen Staatsvertretern aus. Außerdem war eine Integration bestimmter Formen »andiner Demokratie« in die Machtausübung zu beobachten (Ospina 2006). Weit davon entfernt, die staatlichen Institutionen zu unterminieren oder den Staat zu fragmentieren, trugen die von den indigenen Bürgermeistern geführten »gobiernos alternativos« dazu bei, die Demokratie zu vertiefen und Bürgerrechte durch die Einführung neuer Verfahren der Beteiligung zu stärken. Zudem bewirkte die Überwindung alteingebrachter Klientelstrukturen und der Korruption sowieder Schaffung neuer, oft von NGOs beförderter Verfahren mehr Transparenz in der öffentlichen Verwaltung. 4 Hierbei können diese »gobiernos alternativos« nicht nur als in lokal begrenztem Raum agierend verstanden werden, vielmehr stellten sie Knotenpunkte in einem zivilgesellschaftlichen Netz dar, zu dem auch nationale und transnationale NGOs, supra-nationale Entwicklungsorganisationen und staatliche Institutionen gehörten. Damit stellten sie einen entscheidenden Schritt dar, das nationale Projekt der Konstruktion eines plurinationalen Staates schon auf der lokalen Ebene umsetzen und erproben zu können. Im Hinblick auf das hier vorgestellte Modell der Mimesis findet sich in Hinblick auf diese »gobiernos alternativos« ein Paradox. Mimesis bedeutet Imitation, eine Imitation die oftmals nicht die Qualität des Originals erreicht. (Benjamin 1988) In dem Fall der gobiernos alternativos dagegen ist – gemäß den Kriterien internationaler Organisationen und anderer Experten – die Kopie besser als das Original. Damit kann – entgegen der These der Fragmentierung des Staates durch die indigenen Aufstände – argumentiert werden, dass die indigenen Aufstände, die Gründung der politischen Bewegung Pachakutik und die Anerkennung von indigenen Völkern in Ecuador dazu beigetragen haben, die staatlichen Strukturen an der Peripherie zu konsolidieren und zu stärken.

4 Im Detail zeigten sich aber auch in den von indigenen Bürgermeistern geführten Städten trotz der Demokratisierungserfolge auch Probleme wie Misswirtschaft, eine neuer Klientelismus, Loslösung von der Basis in den ländlichen Gemeinden und persönliche Bereicherung. (Ospina 2006).

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P OLITISCHE P ARTIZIPATION : D IE POLITISCHE B EWEGUNG P ACHAKUTIK Die indigene Bewegung hatte spätestens mit den Aufständen der 1990er Jahre nationale und internationale Sichtbarkeit erlangt. Dabei politisierten sie die ethnische Frage und kritisierten die neoliberale Politik. Und vor allem begab sie sich Mitte der 1990er Jahre in den Bereich der politischen Machtspiele und Parteienkämpfe. Das politische Feld Ecuadors zeichnete sich durch eine hohe Fragmentierung aus, was in einem extremen Vielparteiensystem ihren Ausdruck fand. Dabei drückten sich die ideologischen Differenzen der Parteien nicht nur in rationalen politischen Entscheidungen aus, sondern es existierten Loyalitätsbeziehungen, die in einem starken Klientelismus und politischem Populismus zum Tragen kamen und kommen. Neben der quantitativen Diversität des politischen Systems lassen sich zwei Beobachtungen über dessen Qualität anstellen. Zuerst fällt in den Blick, dass die indigene Bevölkerung bis Mitte der 1990er Jahre im politischen Feld so gut wie nicht vertreten war. Auf lokaler Ebene wurden die Stimmen der comunidades im Geflecht des Klientelismus und durch politische Patronage manipuliert, ohne dass so den Interessen der Indigenen ernsthaft Rechnung getragen worden wäre. Zweitens lässt sich beobachten, dass es nicht nur den Indigenen, sondern den subalternen Sektoren der Bevölkerung insgesamt unmöglich war, sich im politischen System ausreichend zu repräsentieren. So errang die politische Linke – MDP, FADI und PSE – in den ersten Wahldurchgängen der Präsidentschaftswahlen im Schnitt nur etwas über fünf Prozent. Lediglich 1984 gelang es ihr, 12,4% der Stimmen auf sich zu vereinen. So liegt trotz der großen Parteienfragmentierung der Großteil der politischen Macht in Ecuador in den Händen einer sich aus den Eliten der Küste und des Hochlandes zusammensetzenden politischen Klasse, die das Land de facto seit der Unabhängigkeit regierte. Ohne Frage war der Klientelismus in dieser Zeit die vorherrschende politische Erfahrung innerhalb der indigenen Gemeinden. Noch heute lassen sich die ausgewaschenen Wahlaufforderungen erkennen, die für eine Kisten Bier oder einen Sack Kartoffeln auf die Häuserwände in den Dörfern geschrieben wurden. In den ländlichen indigenen Gemeinden wurde im Zusammenhang mit Wahlen auch entsprechende positive oder negative Sanktionen durchgeführt. Die Wahlergebnisse und Stimmenverhältnisse sind in den einzelnen Gemeinden klar erkennbar. Dementsprechend wurden die ›folgsamen‹ Gemeinden vom jeweiligen Wahlsieger honoriert und bei der Durchführung von Instandhaltungs- und Modernisierungsarbeiten berücksichtig, während in Gemeinden mit abweichenden Ergebnissen keinerlei Projekte in Angriff genommen wurden. (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006)

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In den Augen Segundo Jamis war es die Kritik an diesem politischen Klientelismus, der die Indigenen unter anderem dazu motivierte, die Wahlkampagne des Kandidaten von Pachakutik in den Wahlen von 1995 und 1996 zu unterstützen: »Es gab politischen Klientelismus, dort wo sie die meisten Stimmen holten, kümmerten sie sich. Aber wo sie keine Stimmen holten, dort bist du angeschmiert.« (Interview, Segundo Jami, 17.7.2006) Doch bereits vor der Gründung von Pachakutik gab es in Saquisilí Versuche von indigener Seite über die Listen anderer Parteien am politischen Leben und an Wahlen teilzunehmen. Dabei handelte es sich teilweise um Entscheidungen von Seiten der Bewegung, teilweise waren es eher Anstrengungen auf individueller Ebene: »Früher, so in den Neunzigern, da gab es nur politische Parteien der Mestizen, nur aus der Stadt. Und mit ihnen zusammen stellten wir einen dirigente als Kandidaten auf, als Ratsmitglied, das war der Cesario Cocha. Für das Stadtparlament. Das war die Partei 10, oder? Mit José López von der PRE, der Partido Roldosista Ecuatoriano. Also mit ihm versuchten wir das, aber wir schafften das nicht, weil wir intern gespalten waren.« (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006)

Die Socialistas Populares waren nach dem MIR im Raum Yanaurco tätig, und es wurde zusammen der Versuch unternommen, Manuel Toapanta, einem aus dem Kampf gegen die Hacienda bekannten dirigente aus Yanaurco, für die eigene Sache zu gewinnen. Toapanta stand auf der Liste der Frente Amplio de Izquierda (FADI). Der FADI, in dem sich die socialistas populares organisierten, wurde 1978 als ein von den kommunistischen Parteien dominiertes Wahlbündnis gegründet. Ein Aktivist aus Latacunga erinnert sich: »Manuel Topanta war in der ganzen Provinz der erste indigene Kandidat als Stadtrat. Ich habe noch einige Plakate mit »Manuel Toapanta – Kandidat für den Stadtrat«, das war 84, und weiter heißt es Puca Lucero, Roter Stern.« (Interview, Lalo Freire, 25.5.2006)

Dieser Versuch verlief aber letztendlich ergebnislos. Der Kandidat selber bewertete die Zusammenhänge im Rückblick kritisch: »Ich war 1980 der erste Kandidat für den Rat. Yanaurco gab mir keine Stimmen, Darum habe ich verloren. Von da an folgte ich nur den Indigenen, […] Wir sind jetzt unter Indigenen, meine Stimme ist für die Indigenen, Schluss mit den cholos. « (Interview, Manuel Toapanta, 4.6.2006)

Zu Beginn der 1990er Jahre war die Mehrheit der armen Bevölkerungssegmente praktisch von der politischen Partizipation ausgeschlossen, da sie nicht im politischen Feld des Landes repräsentiert waren. Dies wurde im Zuge der neoliberalen

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Strukturanpassungsprogramme umso deutlicher, da diese mit einer Verarmung und wachsenden sozialen Polarisierung einhergingen. Der indigenen Bewegung gelang es, die bis dahin nicht repräsentierten, subalternen Interessen zu vertreten. So richtete sie ihre Politik im Laufe der 1990er Jahre verstärkt an subalternen Bedürfnissen aus, die über den rein ethnischen Kontext hinausgingen. Im Gegensatz zu den von großen Teilen der Bevölkerung als korrupt angesehenen, traditionellen politischen Kräften des Landes wurden den indigenen Repräsentanten während der 1990er Jahre ein hoher Grad an moralischer Integrität und Glaubwürdigkeit attestiert. Durch die Beteiligung der Bewegung an wichtigen Diskursen in Bereichen der Ökologie, Zivilgesellschaft und Menschenrechte wurde dieses hohe Ansehen noch gesteigert. Auf diese Weise konnte im Laufe der Aufstände politisches Kapital akkumuliert werden, welches dann, 1995, in die Gründung des Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik – Nuevo País (MUPP-NP) kanalisiert wurde. Diese Tendenz hin zu einer Beteiligung an den Wahlen lässt sich dabei nicht von den Protesten der indigenen Bewegung trennen, sondern sie lässt sich als eine Ausweitung des Kampfes der Bewegung gegen die Dominanz der traditionellen Parteien im politischen Feld verstehen. In diesem Sinne kann Pachakutik als politischer Arm der Bewegung betrachtet werden. Die Möglichkeit zur Beteiligung an politischen Wahlen ergab sich dabei aus einer Verfassungsänderung, die es neben den politischen Parteien auch den politischen Bewegungen zugestand, an Wahlen teilzunehmen. (Interview, Rafael Jami, Mai 2006 ) Dementsprechend verliefen die Wahlen im selben Jahr für Pachakutik, das sich unter anderem mit der Izquierda Democrática und dem Partido Socialista Ecuatoriano-Frente Amplio verbündet hatte, erfolgreich, und es konnten mehr als 20% der Stimmen und damit acht der insgesamt 82 Sitze im Nationalkongress gewonnen werden. In den Wahlen von 1998 konnte MUPP-NP diesen Erfolg nicht wiederholen, da es nicht gelang, das Bündnis von 1996 aufrechtzuerhalten. Dennoch ist davon auszugehen, dassPachakutik über eine Stammwählerschaft von etwa zehn Prozent der Wähler verfügte. Diese Wähler stammten aus dem Bereich der urbanen gemäßigten Linken, vorherigen Nichtwählern und den ländlichen comunidades. In der Provinz Cotopaxi stechen die Wahlergebnisse von Pachakutik hervor. So wurde César Umajinga im Jahr 2000 zum Provinzpräfekten gewählt. In Saquisilí stellte die Bewegung seit der ersten Teilnahme an den Wahlen im Jahr 1996 bis 2009 den Bürgermeister und die Vertreter anderer politischer Ämter. Für die indigenen Bauern in Saquisilí war Pachakutik in dieser Zeit identisch mit der Jatarishun. Auf die entsprechende Frage war die Antwort eines dirigentes der Organisation: »es ist dasselbe.« Um zwischen Pachakutik und Jatarishun unterscheiden zu können, wird oft eine Metapher aus dem Bereich der Familie verwendet, wie beispielsweise Cesario Guanoquiza erklärt:

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»Ich sage Ihnen, die Jatarishun ist der taita von Pachakutik, [...] Pachakutik ist keine unabhängige Organisation, sondern es ist ein Kind der Jatarishun, [...] Pachakutik ist keine Organisation, es ist das Kind der Jatarihun, Jatarishun muss die Organisation sein. So reden wir. Nur um uns in das Wahlregister einzuschreiben sind wir gezwungen, den Namen Pachakutik zu verwenden. « (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006)

Dennoch ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik nicht eine politische Bewegung ausschließlich von Indios für Indios, sondern gleichfalls auchals eine für Mestizen offene Gruppierung zu verstehen ist. So vertrat Pachakutik viele der subalternen Forderungen in Ecuador. Allerdings gab es auch unter den indigenen Gemeinschaften Differenzen und unterschiedliche Weltanschauungen, die entlang des Konfliktes zwischen evangelikalen und katholischen comuneros ausbrachen. Zwar versuchte die Jatarishun, dieses Problem schon früh aufzufangen, 5 doch konnte sie selber ihre Entstehung aus den katholischen Katechisten nicht ausradieren. Doch letztlich verschärfte sich die politische Dimension der Religionsproblematik, als auch die evangelikalen Gruppen mit Amauta Jatari eine politische Bewegung aufstellte, die eng an die evangelikale Indígena-Organisation FEINE gekoppelt war. Zudem förderte die Regierung unter Lucio Gutiérrez (2003-2005), die an Pachakutik beteiligt war, gezielt die evangelikale Indígena-Organisation FEINE und Amauta Jatari und trieb auf nationaler Ebene einen Keil in die bis dahin bestehende Einheitsorganisation. Diese Spaltung zeigte sich auch lokal, als evangelikale Abgeordnete von Pachakutik ins Lager von Amauta Jatari wechselten. (Interview, Segundo Jami, 17.7.2006) Auf nationaler politischer Ebene markierte die Beteiligung an der Regierung von Lucio Gutiérrez (2003-2005) einen Wendepunkt. Auf der einen Seite gelangten indigene Vertreter seitdem nicht wieder in ähnlich hohe politische Ämter – mit Nina Pacari als Außenministerin, Antonio Vargas als Minister für soziale Wohlfahrt und Luis Macas als Landwirtschaftsminister – auf der anderen Seite wurde die Beteiligung an der Regierung im Rückblick vielfach als »Verrat« und »Korruption« bewertet. Zudem spaltete er die Bewegung durch die gezielte Förderung der evan-

5 In der Provinzversammlung des MICC in Pujilí wurde Rafael Toapanta aus Saquisilí auf den ersten Listenplatz für die Wahl der Präfektur gewählt. Der gleiche Rafael Toapanta sowie Segundo Jami waren auch zwei der drei Kandidaten, die Pachakutik 1997 für Cotopaxi für die Wahl zur nationalen Verfassungsgebenden Versammlung aufstellte. Segundo Jami repräsentierte dabei die Jatarishun und Rafael Toapanta die AIEC der evangelikalen Gruppen, die für diesen Anlass mit dem MICC kooperierten. Pachakutik konnte dabei die meisten Stimmen auf sich vereinen und José Manuel Vega wurde zur Nationalversammlung entsandt.

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gelikalen Indígena-Organisation FEINE. Bei den Präsidentschaftswahlen 2006 optierte die CONAIE für die Aufstellung eines eigenen Kandidaten und gegen ein Wahlbündnis mit Rafael Correa. In dem darauf folgenden polarisierten Richtungswahlkampf erhielt Luis Macas, langjähriger Präsident der CONAIE, gerade einmal ein Prozent der Stimmen, während Rafael Correa sich im zweiten Wahlgang – mit den Stimmen der indigenen comunidades – durchsetzen konnte.

I NDIGENE B ÜRGERMEISTER Bei der ersten Teilnahme an den Wahlen in Saquisilí im Jahr 1996 gelang es Pachakutik, den Bürgermeister zu stellen. Dieser Erfolg war mit dem Kandidaten Antonio Llumitásig, seinerzeit evangelikale Pastor, erreicht worden, was die Annäherung zwischen dem katholischen und evangelischen Lager unterstreicht. Bevor auf die Probleme, die mit der Übernahme der lokalen Regierungsgewalt aufkamen, im Detail eingegangen wird, soll zuerst ein anderer Aspekt dieses Wahlerfolges betrachtet werden. Es stellt sich nämlich die Frage, wie ein evangelikaler Pastor zum wichtigsten Kandidaten einer Organisation werden konnte, die mit Unterstützung der Katholischen Kirche aufgebaut worden war. Ein ehemaliger Katechet und dirigenteder Jatarishun charakterisiert die Person Antonio Llumitásigs wie folgt: »Der Antonio war ein evangelischer Pastor. Aber er war immer begeistert, bei den Versammlungen dabei zu sein. Schon als sie mit dem Wasserprojekt in Chilla Grande begannen, da kam er immer. Immer beteiligte er sich an unseren Versammlungen. Und er hatte gute Ideen, er hatte keine bösen Absichten. Er trachtete danach, die Organisation und die comunidades voranzubringen. Daran erinnerten wir uns, und wir sagten uns: Wir müssen einen indigenen Bürgermeisterkandidaten aufstellen, jetzt! Denn wir haben schon viel unter den Mestizen der Stadt gelitten. [...] Und deshalb sagten wir Antonio Llumitásig: »Werd’ Bürgermeister«. Und auch die Evangelikalen, auch sie unterstützen ihn. Und so gewannen wir mit ihm. Es war eine feste Einheit. Alle, Katholiken und Evangelikale, vereint. Darum waren alle Stimmen für ihn.« (Interview, Jorge Vargas, 4.6.2006)

Antonio Llumitásig erinnert sich selbst folgendermaßen: »Die Bewegung, die Jatarishun, bat mich im Jahre 95 ihre Organisation zu vertreten. Ich will dabei recht offen sein, ich bin jemand, der sich nicht in der Jatarishun hochgearbeitet hat, auch nicht in der indigenen Bewegung. Ich bin in der Asociación de Indígenas Evangélicos de Cotopaxi groß geworden. Mitte 95 war ich kein Mitglied der Asociación, auch war ich kein Mitglied der Jatarishun, Ich machte wegen der Anfrage mit. Und dann kamen sofort auch die compañeros der AIEC, um mir auch eine Kandidatur vorzuschlagen. Das war damals für

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Amauta Jatari. Und dann mussten wir eine ganze Weile verhandeln, fast drei Wochen, bis sich die dirigentes der Provinz sowohl des MICC als auch der AIEC einigten. Dann wurde gesagt, dass die Jatarishun den Namen, als Pachakutik, stellt und die AIEC stellte meine Kandidatur.« (Interview, Antonio Llumitásig, 27.5.2006)

Ohne Frage waren einige dirigentes der Jatarishun nicht sehr erfreut über die Kandidatur Antonio Llumitásigs, was der gewissen Distanz zwischen dem Kandidaten und der Organisation geschuldet war. Andere wiederum betonten die Fähigkeiten Llumitásigs und sahen ihn als den bestmöglichen Kandidaten. Ein Schlüssel hinsichtlich der Einordnung der Kandidatur Llumitásigs war sein kulturelles Kapital. Er wurde in den Bildungsprogrammen der evangelikalen Kirchen ausgebildet und beherrschte die spanische Sprache, während sich viele der Gründer der Jatarishun besser in Kichwa ausdrückten. Daneben trat die Möglichkeit auf, mit Hilfe dieses Kandidaten Zugang zu den evangelikalen Sektoren zu bekommen. Letztendlich waren die Wahlen so erfolgreich, dass Pachakutik das Bürgermeisteramt und zwei Stadtratsposten gewann. Antonio Llumitásig selbst erinnerte sich an die Schwierigkeiten während der Wahlkampagne. Vor allem nahm die nationale (mediale) Öffentlichkeit die indigenen Kandidaten nicht wahr, einzig Antonio Llumitásig wurde in den Wahlprognosen genannt. Doch auch hier wurden die indigen-bäuerlichen Wähler nicht als eigenständige Gruppe wahrgenommen, so dass für Llumitásig kein Wahlerfolg prognostiziert worden war: »Ich lag in den Umfragen bei 8%; in den Umfragen lag Rodrigo Bustillos für die Liste 5 mit 25% vorne, und ich hatte 8%. Ich war der einzige Kandidat der Provinz, der in den Umfragen überhaupt auftauchte. Kein Kanton taucht in den Umfragen auf [...] die anderen Kandidaten wurden nicht einmal genannt. Aber in Saquisilí war Antonio Llumitásig in den Umfragen. Und so konnten wir uns in Saquisilí nicht nur als Organisation, als indigene und bäuerliche Organisation, so wie es auch der MICC ist, zeigen, sondern auch in der Politik.« (Interview Antonio Llumitásig, 27.5.2006)

Das Problem bestand nicht nur darin, dem externen Rassismus zu begegnen, sondern vor allem den internalisierten Rassismus zu überwinden, der sich in einem tiefverankerten Gefühl der Minderwertigkeit ausdrückte: »Nun, 96 war es ziemlich schwierig, die Leute zu überzeugen, weil es kein Vertrauen unter uns, unter uns Indigenen, gab. Denn in einigen Gemeinschaften sagte man ›wie kann ein Indio eine öffentliche Einrichtung verwalten‹, es wurde gesagt, ›das geht nicht, das können nur die Mestizen‹, ›das können nur die, wir können das nicht‹, so redeten die Leute. ‹ (Interview, Segundo Jami, 17.7.2006)

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Um die lokale Regierungsgewalt erlangen zu können, war es zentral, Geschlossenheit zwischen indigenen Bauern der comunidades herzustellen und diese auch zu bewahren. Nur so bestand die Möglichkeit eines Triumphes des indigenen ruralen Kontextes über die mestizische Stadt. Wie bereits erwähnt war die Überwindung von religiösen Gegensätzen der Schlüssel zu dieser Einheit. (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006; Antonio Llumitásig, 27.5.2006) Die Jatarishun und der Pachakutik sind Teil einer Entwicklung, die an der Casa Campesina und der Arbeit der Katecheten ihren Ausgang nahm. Deren primäres Ziel bestand im Kampf gegen den Rassismus, der von Seiten der Stadt gegenüber den ruralen Zonen herrschte, und im Streben nach kollektiver und individueller Anerkennung. Daher überrascht es nicht, dass einer der positiven Effekte der Beteiligung an der lokalen Regierung in der wachsenden Anerkennung und erhöhten Respekt in den Büros der Stadtverwaltung gegenüber den indigenen Bauern bestand. Es ist in der Tat gut, zu erkennen, wie Personen mit Ponchos und Sombreros seither im Rathaus präsent sind und die Atmosphäre dort prägen. Neben dem Wandel der Umgangsformen in den städtischen Büros lässt sich auch eine Veränderung hinsichtlich rassistischer Verhaltensweisen im öffentlichen Raum der Stadt beobachten, auch wenn diese nicht gänzlich verschwunden sind (Interview, Segundo Jami, 17.7.2006) Ein zentraler Aspekt des Wandels des politischen Lebens in Saquisilí bestand darin, dass es dem Pachakutik mit Hilfe des Bürgermeisteramtes gelang, den Klientelismus und die Korruption einzugrenzen, indem die Rechnungslegung reorganisiert und größere Transparenz bei der Mittelvergabe verlangt wurde. Ebenso konnte die politische Partizipation der Bürger erhöht werden. Auf diese Weise verfolgte Pachakutik eine Demokratisierungspolitik, die sich im Besonderen auf den lokalen Bereich und die zivilgesellschaftliche Organisation konzentrierte. Die politische Praxis vor diesem politischen Wandel sah folgendermaßen aus: Hatte eine Gemeinde nicht geschlossen für die siegreiche Partei gestimmt – als Indikator wurde hierbei die Stimmenanzahl in der Gemeinde genommen – dann wurden ganz einfach keine Entwicklungsvorhaben von Seiten der Verwaltung finanziert oder durchgeführt. (Interview, Alejandro Cofre, 13.5.2006) Aus der Einbindung der comunidades in lokale Projekte, welche durch NGOs gefördert wurden, entstand neben den teilweise negativen Folgen der Projekte, auch ein neues Selbstbewusstsein und administratives Wissen auf indigener Seite. (Interview, Pedro Vargas, 7.6.2006) In Saquisilí wurde als demokratisierendes Element ein partizipatives Budget – nach dem Vorbild der Stadtverwaltung von Puerto Alegre – eingerichtet, über dessen Mittel die comunidades sowie andere Bevölkerungssektoren verfügen und entscheiden, welche Projekte von der Verwaltung umgesetzt werden sollen. Ein anderes zentrales Element des Demokratisierungsprozesses auf der lokalen Ebene Saquisilís war der Bereich der Bürgerbeteiligung, welcher in Form von the-

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matischen Kommissionen strukturiert wurde, die sich aus Vertretern von zivilgesellschaftlichen Basisorganisationen zusammensetzten. »Mit der Bürgerbeteiligung haben wir daran gearbeitet, die Demokratie zu demokratisieren. So haben wir das genannt. Und was bedeutet das? Es geht darum, Räume der Bürgerbeteiligung durch Zusammenschlüsse, beispielsweise Komites zu schaffen. Also GesundheitsKomitees, Bildungs- und Umwelt-Komitees, Komitees der städtischen Entwicklung, und gerade auch ein Komitee zur Entwicklung des Kantons. An diesem Komitee zur Entwicklung des Kantons sind praktisch alle Sektoren beteiligt, die Jatarishun eingeschlossen, das hat uns erlaubt, die Räume nicht nur wesentlich zu demokratisieren, sondern auch Räume des Dialogs zu schaffen.« (Interview, Antonio Llumitásig, 27.5.2006)

Über diesen partizipativen Prozess wurde die formelle Verbindung zwischen Jatarishun und dem Rathaus geschaffen, das die Jatarishun als zivilgesellschaftliche Organisation in das partizipative Budget im ländlichen Bereich umsetzte. Aber die Stärke dieser Verbindung ging nicht in erster Linie aus ihrem formellen Charakter hervor, sondern lag in den informellen Praktiken und den sozialen Netzen mit ihren gegenseitigen Verpflichtungen begründet. Vor diesem Hintergrund nahm die Jatarishun als Organisation zweiten Grades keine institutionelle Sonderstellung in den partizipativen Projekten der Stadtverwaltung ein, sondern bewegte sich auf der gleichen Ebene wie die anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, welche in den Kommissionen vertreten waren. Neben der Demokratisierung des lokalen politischen Raums trieben die indigene Bewegung und ihre Bürgermeister in Zusammenarbeit mit NGOs und anderen Organisationen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit die Modernisierung und Professionalisierung der öffentlichen Verwaltung voran. Dabei war der Entwicklungsplan ein zentraler Bezugspunkt. Die Stadtverwaltung entwickelte in Kooperation mit allen Sektoren der Bevölkerung Saquisilís den Plan Participativo de Desarrollo Cantonal, der auf zehn Jahre angelegt war. Dieser Plan definierte die wichtigsten Ziele und Maßnahmen im Bereich der lokalen Entwicklung. (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006) Diese Partizipation und Transparenz wurde nicht nur aus einer administrativen Sichtweise heraus entwickelt, sondern auch mit dem Ziel, den Rassismus zu überwinden und ein eventuell schlechtes Bild von Indigenen innerhalb der Regierungsgewalt zu vermeiden. »Ich glaube, dass die Verankerung eines anderen Prozesses lokaler Entwicklung eine fundamentale Säule war, um den Rassismus und die politische Situation zu glätten. Das hängt, wenn man so will, mit der Ausweitung der Bürgerbeteiligung zusammen. Oder anders gesagt, unter der Lokalregierung von Antonio Llumitásig haben definitv alle Sektoren, auch alle politischen Fraktionen, partizipiert. [...] Und so denke ich, dass dies eines der fundamentalen Säu-

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Aus der Erfahrung über politische Macht zu verfügen entwickelte sich ein wirkliches indigenes Selbstbewusstsein, welches sich nicht nach einer verlorenen Gemeinschaft oder vergangenen Utopien sehnte, sondern einen modernen Charakter aufwies und auf modernisierende Tätigkeiten zielte. Angesichts des indigenen Wiedererstarkens schrieben nun indigene dirgentes den Mestizen die Attribute von politisch-administrativer »Unfähigkeit« und »Rückschrittlichkeit« zu. Denn in ihren Augen waren es die Indigenen, welche in der Lage waren, moderne Verwaltungsstrukturen zu implementieren und beispielsweise Computer in der Stadtverwaltung einzuführen. (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006) Diese Kompetenz im administrativen, formalen, und planerischen Bereich zeigte sich in der Umsetzung von bestimmten Vorhaben, besonders im symbolischen und materiellen Raum der städtischen Bevölkerung. Denn die indigenen Bürgermeister waren sich der Fragilität der Machtbeziehungen durchaus bewusst und konzentrierten sich auch auf die Umsetzung von öffentlichen Arbeiten im urbanen Raum, um einen Konsens mit den Mestizenzu erreichen, sei er auch nur passiver Natur. So wurde beispielsweise der zentrale Platz Saquisilís in neo-kolonialem Stil renoviert. Besondere Bedeutung hatte diesbezüglich auch der Ausbau der Kanalisation, denn dieses Projekt war mehrfach von mestizischen Bürgermeistern angekündigt, aber nie umgesetzt worden. Unter indigener Administration wurde dieses Projekt schließlich in Angriff genommen und umgesetzt. Trotz der Aufmerksamkeit, die die indigene Stadtverwaltung dem mestizischurbanen Sektor zuteil werden ließ, kam es zu heftigen Konflikten zwischen der indigen geführten Lokalregierung und der mestizischen Stadtbevölkerung. (Larrea und Larrea 1999: 145-150) Besonders zu Beginn der Anfangszeit der Regierungszeit von Antonio Llumitásig in den Jahren 1996 und 1997 wurden Aktionen durchgeführt, bei denen die Arbeit des Bürgermeisters kritisiert und letztendlich die Administration der »Indios« abgesetzt werden sollte. Bei diesen Aktionen kam die tief verwurzelte rassistische Grundhaltung der Mestizen zum Vorschein. Antonio Llumitásig erinnert sich: »1996 und 97 waren die Jahre, in denen es zu den heftigsten Zusammenstößen mit den Leuten kam. Zuerst gab es in der Stadt drei Aufstände. Dabei ging es wohl darum, die Fähigkeit des Indios auf die Probe zu stellen. Es ging um die Plaza, die Märkte, und die Verstopfung der Wasser und Abwasserleitungen. Und den letzten Aufstand gab es wegen der Umsetzung einer Steuerverfügung für den städtischen Kataster. Man hörte Worte wie dummer Indio, wilder Indio. Man kann sagen, dass es schwierige Momente waren, diese Beleidigungen anhören zu müssen. Man kann aber auch sagen, dass dies Möglichkeitsfenster waren, um zu zeigen,

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dass meine Verwaltung gut durchdacht ist.« (Antonio Llumitásig, zitiert nach Larrea und Larrea 1999: 138)

Ebenso beschreibt er in detaillierter Form die Entwicklung und letztendlich Lösung eines dieser Konflikte. Im Verlauf der Auseinandersetzung war es den urbanen Sektoren nicht gelungen, eine kohärente und einheitliche Opposition zu bilden, da einige Bereiche der städtischen Bevölkerung sich loyal zum regierenden Bürgermeister verhielten. (Interview, Antonio Llumitásig, 27.5.2006) Llumitásig gelanges, ebenso wie seinem Nachfolger Jami, sich diesen Konflikten zustellen, und beide konnten ihr Amt turnusmäßig beenden. In dieser Zeit hatte sich der Rassismus zwar gewandelt, doch war er keinesfalls im Sinne einer vollständigen Dekolonialisierung überwunden. Alejandro Cofre führte aus, wie ein rekonfigurierter Rassismus – der in der Kontinuität von Kolonialität steht – in den mestizischen Protesten gegen Antonio Llumitásig zum Ausdruck kam: »Bis heute nennen sie uns immer noch Indios. Oder sie nennen uns Pachakutiks, dabei sagen sie nicht mal Pachakutik, sondern Patacuchi. Sie versuchen immer, uns klein zumachen. Heute sagen sie auch oft, dieser indio, dieser longo, oder eine andere Form der Marginalisierung ist ›primo (Vetter, O.K.)‹, ›da kommen ja schon die Vettern‹, und zu den Frauen sagen sie, ›da kommen die Marias‹. Das ist eine andere psychologische Form, um uns an den Rand zu drängen. Aber die Leute verstehen auch nicht wirklich, was sie da sagen … [...] Vor ein paar Monaten hatte darüber eine Auseinandersetzung. Jemand ruft mich: ›Hallo Vetter‹, und ich sage ›Wieso Vetter? Wer bist du, dass du mich Vetter nennst?‹, und dann fuhr ich fort, ›ich bin Cofre, ›und du kommst aus einer anderen Familie. Warum sollte ich dein Vetter sein?‹ Und so gab es dieses kleine Wortgefecht. Aber, wie ich schon sagte, viele versuchen uns klein zu machen und sagen Maria, Vetter oder compadre, andere sagen wawkis, klar wawkis heißt auf Spanisch Bruder. Und wir sind vielleicht im religiösen Sinne Brüder, aber nicht wirklich.« (Interview, Alejandro Cofre, 13.5.2006)

Die auf Grund der Fortdauer von Kolonialität vorhersehbaren Konflikte mit den urbanen Mestizen stellten allerdings nicht die einzigen Problemlagen dar, denen sich die indigene Bewegung an der lokalen Macht stellen musste. In dem Moment als Pachakutik und die indigene Bewegung in Cotopaxi in Regierungsverantwortung standen und politische Macht ausübten, nahmen Vetternwirtschaft und politische Gefälligkeiten eine problematische Dimension an und brachten das politische Projekt von Pachakutik in Gefahr. Für die comuneros in den Gemeinden bestand das größte Problem in der Bestechlichkeit der indigenen dirigentes, die sich bereichert und von der Basis entfernt hatten. Gerade die Beteiligung an der Regierung von Lucio Gutiérrez sowie die Besetzung weiterer zentraler politischer Ämter brachte den indigenen Funktionären den kritischen Spitznamen der ›ponchos dorados‹ (goldene Ponchos), darauf anspielend, dass ethnisches Kapital in politisches

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und ökonomisches umgewandelt wurde ein. Dieser Wandlungsprozess im Bereich der dirigentes wird auch durch die wachsenden Möglichkeiten zur persönlichen Bereicherung begleitet. So ist die Position des dirigentenahezu der einzige Weg zu sozialem und ökonomischem Aufstieg. Ein Aktivist bringt in diesem Sinne auf den Punkt, was viele comuneros denken und äußern: »Ich glaube, dass in der indigenen Bewegung die Grundlagen der organisatorischen Prinzipien, sehr positiv und alternativ formuliert sind. Das Problem ist, dass wir dirigentes was anderes tun. Jetzt sofort will ich dirigente sein, um mich dann als Kandidat bei den nächsten Wahlen aufstellen zu können. Oder ähnliches. Das ist anders geworden, da hat mein Bruder (Manuel Alomoto, O.K.) früher nicht dran gedacht. Und jetzt ist er Ratsmitglied. Früher gab es dieses Denken nicht, dieses Interesse Kandidat zu sein. Man arbeitete ohne Eigeninteresse. Und jetzt haben viele Leute die Bewegung verlassen, wenn sie gewählt wurden. Wenn es also kein Eigeninteresse gab, haben die Leute ehrlich gearbeitet, sie haben partizipativ gerarbeitet. Aber heute verfolgen viele dirigentes ihr Privatinteresse. Das läuft ziemlich schlecht.«

Aus der Sichtweise der Basis der Bewegung ergab sich hier das Problem des Stellenwerts der dirigentes. Diesen wird ein Entfremdungsprozess gegenüber dem alltäglichen Leben in den Gemeinden attestiert. So bewegen sich die dirigentes in anderen politischen Räumen, reisen nach Quito und Latacunga und verhandeln dort mit Repräsentanten von Nichtregierungsorganisationen und der nationalen Regierung. Darüber hinaus werden sie auch ins Ausland eingeladen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diesen dirigentes Aufmerksamkeit und Respekt in einem Maß zuteil wird, das für die Generation ihrer Väter unvorstellbar gewesen wäre. Als Folge dieses Prozesses erhalten sie Zugang zu den »höheren Sphären« des gesellschaftlichen Lebens in Ecuador und verlieren ihr Interesse für die alltägliche Basisarbeit. In gewisser Weise ist auch – paradoxerweise in der Speerspitze der politischen Bewegung zur Dekolonialisierung – in der lokalen Bewegung eine Fortdauer von Kolonialität festzustellen. In einigen Fällen übernehmen die dirigentes die Verhaltensweisen von mayordomos der Haciendas, und sie sind oft auch mit einem ähnlichen Machtpotential ausgestattet. Ein extremes Beispiel für diese Fortdauer kolonialer Dispositionen war die Vergewaltigung einer dirgenta der Jatarishun durch den damaligen Präsidenten und einem weiteren Führungsmitglied der Organisation 2007. Die nachfolgenden Versuche der Vertuschung, die ausbleibende Rehabilitierung des Opfers und die fehlende Aufarbeitung innerhalb der indigenen Organisation zeigten, wie schwer sich die Organisation bei einem internen Prozess der Dekolonialisierung und Demokratisierung tut. Erst auf Grund der massiven Intervention der Provinzorganisation MICC wurden die Täter gemäß indigenem Recht bestraft. Im politischen Sinne treffen mit der sozialen Bewegung der Indigenen und dem municpio zwei schwer zu vereinbarende Logiken aufeinander. Die Jatarishun operiert – über die alltäglichen Selbstverwaltungsfunktionen in den comunidades hin-

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aus – politisch vor allem durch die Konstruktion von Antagonismen, die in Aufständen ausbrachen. Die armen, indigenen Bauern stehen den reichen, mestizischen Städtern entgegen. Die Handlungslogik im municipio hingegen ist eine andere, hier ging es gerade darum, über einen interkulturellen Dialog zwischen den genannten Parteien zur Konstruktion lokaler Staatsbürgerschaft zu kommen. Während die indigene soziale Bewegung auf der Basis einer Strategie der Einforderung von Rechten mittels Protests funktionierte, musste die öffentliche Verwaltung eine Autorität für alle Bevölkerungssektoren darstellen und Konsense aushandeln. Deswegen befinden sich die gewählten dirigentes in einer »Sandwich-Situation« zwischen Forderungen vertreten und Konsens herstellen, zwischen Protest und Partizipation, und schließlich zwischen sozialer Bewegung und öffentlichem Amt. In den Augen Segundo Jamis sind es vor allem zwei Aspekte, die dieses Dilemma ausmachen. Zum einen sieht er einen Unterschied zwischen sozialen Forderungen, die einen generellen Charakter haben, und der praktischen administrativen Arbeit, die sich als eher technokratisch erweist, und zum anderen sieht er sich selbst nicht in erster Linie als Angestellter des Staates, sondern als Repräsentant des Volkes. Deshalb schließt sein öffentliches Amt es nicht aus, an zivilgesellschaftlichen Demonstrationen teilzunehmen. (Interview, Segundo Jami, 17.7.2006) Diese Überlegungen betonen zum einen die Rechte, die aus dem Bürgerstatus hervorgehen. Darüber hinaus wird aber auch auf die damit verbunden den Verpflichtungen hingewiesen. In diesem Kontext wird das Konzept der gemeinschaftlichen Arbeit, der minga, auf den Bereich der bürgerlichen Partizipation ausgeweitet und damit vom ruralen in den urbanen-mestizischen Raum transferiert. In dieser Lesart des Bürgerstatus wird auch das althergebrachte Problem thematisiert, welches entsteht, wenn Personen und Gruppen von ihm ausgeschlossen bleiben, wie etwa die Indios im post-kolonialen 19. Jahrhundert. Das zweite Problem besteht in der Geschlossenheit des Konzepts des Bürgerstatus, welches keine weiterführende Kritik zulässt, wie sie beispielsweise aus anti-neoliberaler Perspektive oder von der indigenen Bewegung auf nationaler Ebene geübt wird. In der Bilanz sind die Erfolge der indigenen politischen Mobilisierung im Bereich der Anerkennung und des Respekts gegenüber den Indigenen sowie bei der Demokratisierung der Munizipialverwaltung nicht zu übersehen. Die Erfahrung, ein Bürgermeisteramt über mehr als eine Dekade hinweg erfolgreich und innovativ führen zu können, ist zentraler Bestandteil des indigenen Selbstbewusstseins in Saquisilí geworden. Llumitásig regierte von 1996 bis 2004 über zwei Wahlperioden lang erfolgreich. Von 2005 bis 2009 war Segundo Jami, einer der führenden dirigentes der Jatarishun, Bürgermeister in Saquisilí. Danach wurde Pachakutik/Jatarishun von dem Kandidaten der Alianza País des populären Präsidenten Rafael Correa, Manuel Chango Toapanta, abgelöst. Bei gleichzeitiger interner Krise der Jatarishun nahm nun der interkulturelle Dialog ab, und die Konjunktur der Dekolonialisierung des lokalen politischen Raums flachte ab.

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P OLITISCHE M ACHT

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Die Ausübung politischer Macht im Rahmen staatlicher Institutionen ist bei weitem nicht auf das Bürgermeisteramt beschränkt. So bildeten die indigenen Bürgermeister lediglich die sichtbare Spitze einer viel breiteren Entwicklung seit Mitte der 1990er Jahre. Der weitaus größere und tiefgreifendere Wandel fand im Bereich der vielfältigen Ämter und Posten im lokalen ländlichen Raum statt. So waren die Posten der tenientes políticos, der nationalen Kommissare und der Autoritäten der Gemeinderäte (juntas parroquiales) in den ländlichen Bereichen Saquisilís in indigener Hand. Lediglich in den nicht demokratisch strukturierten Institutionen hat die weißmestizische Machtposition weiterhin Bestand. So etwa in der offiziellen katholischen Kirche, deren Pfarrer in Saquisilí ein Mestize ist und keine weiteren Beziehungen zur Jatarishun unterhält. Pedro Vargas, seinerzeit nationaler Kommissar für den Kanton Saquisilí, erzählt: »Ich bin hier in das Kommissariat des Kantons Saquisilí als Friedensrichter gekommen. Es sind zuerst die comunidades, die hier die Organisation Jatarishun bilden. Sie haben mich hier in dieser Organisation gewählt. Und sie haben mich dazu bestimmt, dieses Amt zu übernehmen. Das öffentliche Amt des nationalen Kommissars dieses Kantons, unter der Regierung der Provinz Cotopaxi.« (Interview, Pedro Vargas, 7.6.2006)

Dieser Wandel im Bereich der tenientes políticos ist nicht zu unterschätzen. So wurde aus den zuvor als »rechte Hand der Unterdrückung« im Hacienda-Dispositiv gefürchteten mestizischen Vertretern eine indigene Autorität, deren Rechte durch die Gemeinderäte reguliert werden. Besonders in den Erinnerungen der älteren dirigentes oder deren Söhne ist das Bewusstsein dieses Wandels von mestizischen zu indigenen tenientes políticos sehr präsent. Denn er wird als Teil des Wandels vom Hacienda-Dispositiv hin zu einer durch indigene Organisationen kontrollierten Ordnung im ländlichen Raum verstanden, wobei es seit den 1990er Jahren auch die indigene Organisation sein kann, die den teniente político in die Schranken verweist. (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006) Die Aufgabe der tenientes políticosbesteht darin, die Rechtmäßigkeit der Administration sicher zu stellen und für Gerechtigkeit zu sorgen. (Interview, Manuel Cocha, 17.7.2006) Dieses Aufgabenfeld schließt auch Aspekte der moralischen Ordnung ein, so ist es auch Bestandteil der Arbeit der tenientes políticos, sich der Fälle von außerehelichen, ungeplanten Schwangerschaften anzunehmen. Dieses Thema wird vor dem Hintergrund der wachsenden temporären Migration immer wichtiger. (Interview, Manuel Cocha, 17.7.2006) So müssen die tenientes políticos komplizierte Sachlagen unter der Berücksichtigung christlicher Strömungen wie

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auch andiner religiöser Praktiken verhandeln. Beispielsweise ging Rafael Toapanta, ein evangelikaler Christ, gegen die Schamanen vor. »Hier, na ja, hier gab es einen Konflikt, nun einen großen Konflikt gab es nicht, aber als es die Heiler gab, kam hier die Klage an, dass dieser oder jener böse Hexerei machen würde. Damals, nun ja, als Rafael Toapanta teniente político war, organisierte er zusammen mit den dirigentes. Da versammelte er hier alle Heiler, die es in der Gegend gab. Alle, wirklich alle, bracht er hierhin, er ging nachts raus und brachte sie hierhin. Und dann gab es da fast gar kein Problem mehr. Wirklich nicht viel. Er stimmte sich ab mit dem Herrn Gouverneur, mit dem Herrn Bürgermeister, dem Kommissar von Saquisilí. Dann mussten sie sich erklären, und dann sanktionierten wir etwas ihre Werkzeuge, die sie so haben, Steine, und ein paar andere Sachen. Sie brachten das hierhin und das wurde alles hier auf dem Platz verbrannt. Mehr war das nicht.« (Interview, Manuel Cocha, 17.7.2006)

Ohne Zweifel wurde bei dieser Auseinandersetzung auch um die Kontrolle symbolischer Macht gestritten. Letztendlich verloren die tenientes políticos im Vergleich zu den Vertretern anderer Institutionen wie etwa den dirigentes der comunidades, der OSGs oder der juntas parroquialesan Einfluss. (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006) Die indigenen Organisationen, die comunidades und die Organisationen zweiten Grades eigneten sich so den ländlichen politischen Raum an und ersetzten die Machtstrukturen der gamonales und ihrer Verbündeten, im Besonderen diejenigen der tenientes políticos. Diese neue Machtkonstellation wurde im Laufe der 1990er Jahre sichtbar, zum einen während der indigenen Aufstände und zum anderen durch die Besetzung von politischen Ämtern in pluriethnischen Räumen mit Indigenen, etwa auf Kantonsebene. Gegenüber dieser neuen Machtfülle auf Seiten der Indigenen hat sich als Gegenposition die junta parroquial etabliert. Der Rat ist nicht Teil der indigenen Organisationstrukturen, sondern das zentrale Organ, über welches der Staat und das Parteiensystem im indigenisierten politischen Raum präsent sind. Während in Saquisilí die Konkurrenz zwischen der OSG und den juntas parroquiales durchaus spürbar ist, wird in anderen Gegenden, wie etwa in Imbabura, konstruktiv zusammengearbeitet. Pedro Vargas sah in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, dass die Jatarishun stärker die Führung übernehmen müsste. (Interview, Pedro Vargas, 7.6.2006) Der Kanton Saquisilí teilt sich politisch und administrativ in die Kantonshauptstadt Saquisilí und die parroquias rurales Canchagua, Chantilín und Cochapamba auf. In Cochapamba wurden auf Grund der starken Präsenz von evangelikalen Kirchen die religiösen Konflikte besonders intensiv geführt (Interview, Cesario Gua-

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noquiza, 13.5.2006). 6 Die anderen Bezirke wurden in erster Linie von der Jatarishun kontrolliert. Die juntas parroquiales haben demnach eine zum Teil unklare rechtliche Stellung und verfügen über wenig Einfluss, was die Umsetzung von Entwicklungsprojekten und den Zugang zu öffentlichen Mitteln betrifft. Daneben gab es auch formale Probleme wie etwa die unregelmäßige Auszahlung der Gehälter der Angestellten und Repräsentanten. (Interview, Marcelino Mazapanta, 27.5.2006) Wie bereits mehrfach erwähnt, hat sich die Situation hinsichtlich des Respekts und der Anerkennung gegenüber den Indigenen deutlich verbessert. Dennoch ist der Rassismus weiterhin tief im System verwurzelt. Aber nun fühlen sich die Mestizen, besonders vor dem Hintergrund der Wandlungsprozesse im Bereich der symbolischen Macht, selbst diskriminiert. So wird von ihrer Seite die Praxis bei der Vergabe von öffentlichen Ämtern kritisiert: »Und viele von denen, die keinen Posten bekommen haben, haben nun angefangen, uns zu diskriminieren. Sie sagten, na ja, dieser oder jener ist für ein öffentliches Amt nicht geeignet, und so. Aber ich denke, dass wir da mit viel Mut und Stärke rangehen müssen. Wir müssen uns in jedem öffentlichen Amt beweisen. Aber das ist jetzt auch eine ideologische Frage. Denn die indigene Bevölkerung ist eine marginalisierte Bevölkerung, seit mehr als 513 Jahren sind sie marginalisiert. Und jetzt ist es mal anders herum. Und all die anderen sind vielleicht etwas erschrocken, und sagen, wie ist das denn möglich, einer mit Hut und Poncho, vom Land, übernimmt dieses öffentliche Amt.« (Interview, Pedro Vargas, 7.6.2006)

Es wurde bereits beschrieben, wie es den Indigenen gelang, mit dem Ende des Hacienda-Regimes die politische Macht im ländlichen Raum für sich zu sichern. Dies führte soweit, dass beispielsweise mestizische tenientes políticos nicht mehr akzeptiert wurden. (Interview, Manuel Cocha, 17.7.2006) Die indigenen Autoritäten dagegen beherrschen dieselben Kodes, Normen und Praktiken wie die comuneros, was ein gegenseitiges Verstehen ermöglicht. Dies betrifft vor allem den Bereich der Sprache. Dabei war es von großem Vorteil, dass die neuen Autoritäten und deren Vertreter die Sprache und Kodes der Kichwa-Kultur beherrschten: »Ich denke, dass seitdem ich das Amt als nationaler Kommissar des Kantons Saquisilí übernommen habe, viele Leute hier vorbeikommen und sich auf ihre Weise ausdrücken, auf Kichwa. Und ich habe sie so bedient, da ich wie ein Indigener bin, als Vertreter der Jatarishun. Und das bewundern viele und sagen, na ja, nie konnten wir uns vorher in Kichwa ausdü-

6 Die Gemeinde Cochapamba wurde 1990 auf Initiative des Kaziken und teniente político Rafael Toapanta gegründet.

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cken, so wie wir es gewollt hätten. Nun gut, ich denke das ist jetzt schon ganz anders. Denn heute sag’ ich einfach: ›Kommt her compañeros. Was ist denn los? Erzählt mal was passierte‹. Ich habe also die Leute ganz offen empfangen.« (Interview, Pedro Vargas, 7.6.2006)

Dennoch ist die Situation von dem Idealzustand einer wirklich zweisprachigen und interkulturellen Administration noch weit entfernt. Auch wenn diese an sich durch die Verfassung garantiert wird, hängt die Aufmerksamkeit der Autoritäten bezüglich der Zweisprachigkeit immer noch von den jeweiligen persönlichen Qualitäten ihrer Repräsentanten ab und nicht von einer konsequenten und dauerhaften Politik vor allem auf den höheren politischen Ebenen jenseits der Gemeindeebene. (Interview, Pedro Vargas, 7.6.2006). Hierzu ein Beispiel: Trotz eines indigenen Provinzpräfekten in Cotopaxi weigerten sich die Behörden, für eine Kindstaufe einen indigenen Namen anzunehmen, und erst nach der Zahlung von 20 US-Dollar Bestechungsgeld wurde der Name eingetragen. Konzeptuell besteht die Herausforderung, über die Überwindungen des Alltagsrassismus hinaus das indigene Rechtssystem mit dem westlichen zu verbinden. In der Praxis wurde, wie Manuel Cocha ausführte, eine Koordination der indigenen Rechtsprechung in der Gemeinde Cochabamba eng mit dem westlichen Justizmodell und dessen Institutionen angestrebt. »Nun, die comunidad wendet das indigene Recht an, wie es im Artikel 191 heißt. Da stehen die Regeln für die comunidades. Nun gut, und die Herren dirigentes kommen hier hin und sagen, dass wir uns mit dem teniente político und den Herrn dirigentes abstimmen sollen. Und wenn es darum geht, eine Sache zu lösen, dann kommen sie und wir suchen zusammen, in aller Ruhe eine Lösung. Nehmen wir mal ein Beispiel. Der Herr wäre Präsident von Cachipata, und er kommt mit irgendeinem Problem, sagen wir einem Diebstahl. Dann stimmt er sich mit dem teniente político ab. Also nehmen wir mal an, es wurden Schafe geklaut. Dann stimmen sich beide ab, um eine Lösung zu finden.« (Interview, Manuel Cocha, 17.7.2006)

Die gleichzeitige Existenz von zwei Rechtssystemen wirft aber auch Konflikte und Unklarheiten auf. In der Praxis der Indigenenwerden die Systeme aber nicht als zwei voneinander klar trennbare Bereiche verstanden, sondern es bestehen vielfach Überschneidungen. Dies ist besonders im Bereich von Migranten der Fall, die in der Stadt leben und nur zu Feiern in die comunidades kommen. (Interview, Pedro Vargas, 7.6.2006) In diesem Sinne ist es nötig, die indigene Rechtsprechung zu formalisieren, um Willkür und Beliebigkeit einzudämmen. In der Praxis ist es daher von großer Bedeutung, genau zu regeln, wann welche Rechtsprechung zu Anwendung kommen soll und wie die beiden Systeme sich gegenseitig ergänzen können. Der lokale Bereich der indigenen Gemeinschaften ist sicherlich die Machtbasis der Jatarishun. Doch ausgehend von dieser Grundlage stellte sich die Frage, wie die Dekolonialisierung der Region forciert werden kann. Einige dirigentes setzten auf

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eine Ausweitung der Hegemonie, was bedeutete, den indigenen-bäuerlichen Charakter der Jatarishun hintanzustellen. »Ich denke, die Jatarishun muss stärker als Organisation partizipieren, dann aber in Abstimmung mit dem urbanen Sektor. Das heißt, die Organisation Jatarishun darf sich nicht nur um den westlichen Sektor kümmern – ich beziehe mich auf die geographische Lage – sondern den gesamten lokalen Bereich koordinieren. Wenn es auch richtig ist, dass die Jatarishun die Organisationen des westlichen Bereichs des Kantons Saquisilí vertritt, kann sie nicht andere Sachen übersehen, wie zum Beispiel die Frage des Mülls, der Abwässer, der Plätze. Denn wir sind es, die fast zu 90% die Plätze besetzen. Zum Beispiel große Teile des Kartoffel-Platzes werden von unseren Leuten besetzt. Was aber ist mit der Pflege? Was mit der Sauberkeit? Der Reinigung, und diesen ganzen Sachen. Die Frage des Wassers. Und unsere Leute sind wegen einer ganzen Reihe unterschiedlicher Gründe da. Weil sie studieren, weil sie sich fortbilden, weil einige da schon ein Haus haben [...] All diese Sachen helfen uns, Verbindungen zwischen dem Land und der Stadt zu schaffen, so dass die Jatarishun etwas weiter denken muss, weiter als über den eigenen Tellerrand.« (Interview, Antonio Llumitásig, 27.5.2006)

Aber es bestand in den Organisationen auch die Furcht, im Zuge dieser auf den Bürgerstatus ausgerichteten Politik Einfluss innerhalb der eigenen ethnischen Gruppierung zu verlieren. Daher tendierten andere dirigentes dazu, die Jatarishun primär als soziale Bewegung für die indigenen Bauern zu verstehen. Im Sinne der indigenen Interessenpolitik ginge es in diesem Fall darum, neo-korporatistische Kanäle politischer Kommunikation aufzubauen und mehr Rechte für die eigene Gruppe einzufordern. Diese anstehende strategische Diskussion wurde letztlich nicht mehr eingehend geführt, da die Jatarishun Ende der 2000er den Status politischen Protagonismus' in der Region verloren hatte. Zum einen kam es zu einer tiefgreifenden internen Krise. Zwei hochrangige dirigentes – darunter der damalige Präsident der Jatarishun – vergewaltigten eine alleinstehende dirigenta. In der Folge weigerte sich die Leitung der Jatarishun zunächst, das Vergehen zu bestrafen. Erst auf Grund des Drucks der Provinzorganisation wurde eine Bestrafung nach indigenem Recht vorgenommen. Dennoch weigerte sich die Jatarishun, die dirigentes konsequent abzustrafen, woraufhin sich nahezu sämtliche NGOs der Region, die mit der Jatarishun kooperiert hatten, aus dem Gebiet zurückzogen. Die Jatarishun blieb hingegen zerrissen. In dieser Phase setzte mit der bürgerschaftlichen Bewegung von Rafael Correa eine neue politische Bewegung ein, die auch unter den Indigenen viel Rückhalt bekam. Zahlreiche dirigentes liefen von Pachakutik zur Alianza País über, und auch im urbanen Bereich konnte sich die Bewegung Rafael Correas durchsetzen. In diesem Szenario wurde nun die Jatarishun – wie die gesamte indigene Bewegung – von der proaktiven Rolle der Initiierung einer Konjunktur der De-Kolonialisierung zurückgeworfen auf indigene Verteidigungskämpfe.

Aufstände: Politikum und Konjunktur der Dekolonialisierung

Die Sichtbarwerdung des Indigenen ist ohne Zweifel als die wichtigste Dynamik im politischen Raum Ecuadors während der 1990er Jahre zu bezeichnen. Seitdem sind die Indígenas politische Akteure, deren Präsenz in den Medien, im Parlament und in anderen staatlichen Institutionen als Normalität wahrgenommen wird. Zwar existiert in Ecuador immer noch ein starker Rassismus, aber die indigene Präsenz ist in allen Lebensbereichen, in Politik, Wirtschaft und Kultur, ein nicht wegzudenkender Bestandteil. Die Öffentlichkeit wurde von der Dimension der indigenen Aufstände, welche von einem Moment auf den anderen die Straßen, Plätze und Medien dominierten, vollkommen überrascht. Dennoch ist klar, dass dieser Aufstand keineswegs als spontaner Akt, sondern vielmehr als Gipfelpunkt eines bis dahin verborgen gebliebenen Organisationsprozesses in den indigenen Gemeinden zu verstehen ist. Die Berichterstattung während der ersten Tage der Aufstände bestand in erster Linie aus Nachrichten über das Chaos, die explosionsartige Wucht und die Irrationalität der Erhebung. Den indigenen Stimmen und Forderungen wurde kein Gehör geschenkt. In der Folgezeit änderte sich dies aber grundlegend, da die Bewegung ihre »eigenen« Intellektuellen hatte, die wussten, wie sie ihre Forderungen in den soziologischen und kulturellen Diskursen zu positionieren hatten. Da diese indigenen Intellektuellen eine moderne Bildung genossen und gelernt hatten, sich in den Kodes und Semantiken der dominanten mestizischen Gesellschaft auszudrücken, konnten sie ihre Forderungen dieser letztendlich auch vermitteln. (Blum 2001) Die Beweggründe und Ziele der Erhebungen waren dabei immer zweigeteilt. Auf der einen Seite stand der Kampf um ethnische Anerkennung, dessen Basis die Masse der Indigenen darstellte, denen weitreichende Bürgerrechte verwehrt wurden. Auf der anderen Seite ging es um einen Verteilungskonflikt, in dem für eine gerechte Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von der reichen Elite hin zu den subalternen Sektoren gestritten wurde, seien diese indigen oder nicht. Dieser zweite Kampf um ökonomische Gerechtigkeit manifestierte sich in einer defensiven Ausrichtung als kategorische Ablehnung neoliberaler Reformprogramme. Beide

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Pole, der Kampf um ethnische Anerkennung wie der für ökonomische Umverteilung, ziehen ihre Energie aus dem »Kampf um Differenz« (Fuchs 1999), nach Anerkennung der eigenen Andersartigkeit und nach der Verurteilung der aus dieser resultierenden sozio-ökonomischen Ungleichheit. Im Zuge der ersten Aufstände der Jahre 1990 und 1992 wurde dieser ethnische Diskurs der Bewegung mit größerer Intensität über die Medien transportiert. So wurde auch der Kampf um Anerkennung stärker wahrgenommen, und es gelang der indigenen Bewegung schließlich gegen Ende der 1990er Jahre, eine Reihe an weitgehenden Erfolgen im identitätspolitischen Feld zu erzielen. Zwar erhielt die analphabetische – vor allem indigene – Bevölkerung im Zuge des Demokratisierungsprozesses 1978 formell des Wahlrecht und damit den Status der »politischen Gesellschaft« (Chatterjee 2006), doch in der politischen Praxis war sie von der Sphäre der Zivilgesellschaft, in der über die gesellschaftlichen Sicht- und Teilungsprinzipien gestritten wird, ausgeschlossen. »Whiteness« blieb somit eine zwar nicht ausgesprochene, aber dennoch notwendige Bedingung für die Ausübung des vollen Bürgerstatus'. Mit der Verfassung von 1998 wurde eine formelle Konstruktion geschaffen, die die kulturelle und ethnische Diversität der Bürger anerkannte und so eine multikulturelle Logik verfolgte. Das heißt, die ethnische Diversität der Gruppen sowie ihre kulturell unterschiedlichen, aber dennoch gleichwertigen Formen von Citizenship wurden anerkannt. Diese Form der Anerkennung der Differenz blieb aber partiell, da die Ebene der materielle Dimension der Umverteilung und die Ungleichheit der Lebenslagen nicht angegangen wurde. Deswegen trifft die Annahme, dass diese Politik der partiellen Anerkennung von Ethnizität quasi von sich aus gegen den neoliberalen Kapitalismus gerichtet ist, nicht zu. (Kaltmeier 2004) Denn der Neoliberalismus verfügt nicht zuletzt über ein großes Potential, Ethnizität in die eigene Programme zu integrieren und so »nutzbar zu machen«, beispielsweise im Bereich des Ethnotourismus, des Ethno-Kunsthandwerks und der Ethnomusik. Vor diesem Hintergrund beschränkte sich die indigene Bewegung nicht nur darauf, diese partielle Anerkennung anzunehmen, sondern transformierte sich im Kern zum Verfechter anti-neoliberaler Positionen. Die erste Etappe lässt sich als einen Abwehrkampf gegen neoliberale Programme verstehen, indem entsprechenden Gesetzesinitiativen mit einem klaren »Nein« begegnet wurde. So wurden Proteste zur Verteidigung der Seguro Campesino (1993) und gegen das Ley de Tierra y Agua (1994) organisiert. Während dieser Etappe der Proteste ging es zum großen Teil um den Erhalt bereits bestehender staatlicher Einrichtungen und damit letztendlich des Sozialstaates. Eine zweite Etappe des Kampfes steht im Zusammenhang mit der Krise des politischen Systems Ecuadors. Dabei spielte die indigene Bewegung eine Schlüsselrolle innerhalb einer breiten sozialen Bewegung, welche sich vor allem gegen den Präsidenten Abdalá Bucaram richtete und nach dessen Absetzung die Einsetzung einer Verfassungsgebenden Versammlung anstrebte. In einer dritten

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Phase verschärfte sich der anti-neoliberale Kampf, da sich sowohl die neoliberalen Konzepte als auch die populare Gegenposition auf Seiten der Unterschicht weiter polarisierten. So gelang es der Bewegung beispielsweise nicht, die Dollarisierung Ecuadors, d.h. die Ersetzung der Landeswährung Sucre durch den US-Dollar, zu verhindern. Aber die Strategie, die Volkssektoren zu repräsentieren, die unter dem Leitsatz »Nada sólo para los indios (Nichts nur für die Indios)« gefasst wurde, ermöglichte es letztendlich, die neoliberalen Technokraten in der Regierung abzulösen. Aber die Bewegung erlitt während der anschließenden Beteiligung an der Regierung Lucio Gutiérrez eine schwere Niederlage, denn es gelang ihr nicht, der Regierungspolitik den eigenen Stempel aufzudrücken. Dies führte ohne Frage zu einer Schwächung der indigenen Bewegung. So erfüllten sich die Erwartungen, die an die Beteiligung an der Regierung Gutiérrez geknüpft waren, nicht. Darüber hinaus gelang es Gutiérrez, die Bewegung zu spalten und Intrigen zwischen ihren Führern zu schüren. So versuchte er, die indigenen Organisationen mit Hilfe der FEINE zu schwächen, indem er diese als Parallelstruktur zur CONAIE in Stellung brachte. Als Konsequenz entschied sich die CONAIE nach dem Sturz Gutiérrez für eine radikalere anti-neoliberale Linie und erlebte mit den Protesten gegen den US-amerikanischen Erdölkonzern Occidental und das Freihandelsabkommen mit den USA im März 2006 ihre Wiedergeburt auf der nationalen politischen Bühne. In diesem Kapitel soll vor allem auf die von der indigenen Bewegung angeführten Erhebungen und Proteste eingegangen werden. In Hinblick auf die nationale Dynamik der Proteste (Moreno und Figueroa 1992, Lucas 2000, Lucas und Cucurella 2001,) die Transformation des politischen Systems (Selverston-Scher 2001, Ospina 2006, Wolff 2004, Minkner-Bünjer 2009) und die SozialeBewegungstheorie (Porras Velasco 2005, Barrera 2001, Crncic 2012) sind die verschiedenen Aufstände von Soziologen, Sozialanthropologen und Politikwissenschaftlern vielfach analysiert worden, eine regionale, lokale oder mikro-historische Perspektivierung steht noch weitgehend aus. Der Protest als politisches Instrument war dabei immer nur eine der von der Bewegung verwendeten Aktionsformen. So wurden die Verhandlungen mit Regierungen und anderen Organisationen als eine Möglichkeit der politischen Arbeit betrachtet. Außerdem wurde versucht, Posten innerhalb der staatlichen Institutionen zu besetzen sowie Kommunikationskanäle und Wege für die Redistribution von Ressourcen zu etablieren. Dies zusammengenommen, liegt nichts ferner als die indigenen Kämpfe als »staatsfeindlich« zu bezeichnen. Über die Entwicklungen und Folgen im Zuge der Erhebungen im nationalen politischen Raum sind bereits viele wichtige wissenschaftliche Arbeiten erschienen. Daher soll sich hier in erster Linie auf den lokalen Aspekt der Erhebungen konzentriert werden, welcher in den generellen Analysen so gut wie immer unsichtbar bleibt. Wenn man von dieser lokalen Perspektive ausgeht, dann fällt auf, dass in den

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Erfahrungsberichten der Menschen die teilweise Überwindung des Rassismus und die Anerkennung der eignen Identität als grundlegendes Ergebnis aus der Summe der Erhebungen gesehen werden. Die dirigentes betonen dabei besonders das moralische Fundament des Konfliktes. Der Leitsatz »nicht den Hut vor den weißen Autoritäten ziehen« ist zu einem der zentralen Inhalte des Kampfes um kulturelle Anerkennung und ein Ausdruck des gewachsenen Selbstbewusstseins geworden. Dabei ging es vor allem darum, die von der Kolonialität der Macht geprägte Diskriminierung und Zuweisung eines subalternen sozialen Ortes zu überwinden. Der indigene dirigente und Leiter der Jatarishun-Schule formuliert entsprechend im Rückblick das Ziel des ersten Aufstandes wie folgt. Es geht darum, »unsere Identität zurückzugewinnen. Weil sie uns sagten, der Indio habe kein Wissen, oder in anderen Worten, er habe keine Seele, nichts. Wir wurden also extrem hässlich behandelt, und dank der Anstrengung, die wir alle unternommen haben, haben wir es geschafft, das Gegenteil zu beweisen.« (Interview, Alejandro Cofre, 13.5.2006)

D EKOLONIALE Z EITENWENDE : D IE INDIGENEN AUFSTÄNDE VON 1990

UND

1992

Der Aufstand von 1990, mit dem die CONAIE nationale und internationale Sichtbarkeit erlangte, bestand aus verschiedenen Aktionsherden. Ein zentrales Politikum war in diesem Zusammenhang die Besetzung der Kirche Santo Domingo in Quito unter der Leitung der Coordinadora de Conflictos Agrarios. Fünf Tage vor dem »offiziellen« Aufstand, am 29. Mai 1990, besetzten etwa dreißig aus unterschiedlichen Regionen der ecuadorianischen Sierra stammenden campesinos die Kirche. Unter ihnen waren auch indígenas aus Yanaurco. Mit der symbolischen Aktion wollten sie das Thema der Landkonflikte sowie der Landreform auf die Agenda setzen, denn in den Heimatgemeinden der Demonstranten waren diese Auseinandersetzungen noch immer aktuell. Einer der Teilnehmer, der dirigente Manuel Toapanta, erinnert sich: »Wir besetzten die Kirche Santo Domingo in Quito, wir Indigenen. Wir saßen da zwölf Tage und zwölf Nächte mit geschlossener Tür. Aus Yanaurco waren wir zehn. Aus Otaval drei, aus Latacunga 6, aus Quito waren wir zehn, Cayambe fünf. Alle zusammen waren wir so dreißig. Und wir konnten schreien. Wir hatten uns vorher schon organisiert, um die Kirche zu besetzen. Dann und dann treffen wir uns in Quito, dann gehen wir rein, täuschen die Nonnen, indem wir sagen, dass wir die Messe hören wollen. Die Pfarrer waren für uns. Sie kamen, um die Messe zu halten. Um Mitternacht kamen sie immer, um uns etwas Essen dazulassen. Die Besetzung machten wir, um öffentlich in Erscheinung zu treten und die Armen zu organisieren. Wir dachten, dass wir so die gamonales schlagen würden. […] Nur unter uns organisier-

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ten wir uns. Wir versteckten uns gut, als wir raus wollten, sprachen wir mit dem Pfarrer. Wir wechselten die Kleidung, ließen uns einen Bart wachsen, damit sie uns nicht erkennen. Die Polizei suchte uns, um uns zu verhaften. Aber da wir andere Kleidung anhatten, erkannten sie uns nicht. Den Poncho und den Hut legten wir zur Seite. Und dann mischten wir uns unter die Leute, die hereinkamen, um die Messe zu hören. Und dann gingen wir, Conejo, Toribio und ich heraus. Die, die wir keine Angst hatten, gingen heraus.« (Interview, Manuel Toapanta, 4.6.2006)

Die Besetzung der Kirche war kein spontaner Akt, sondern ihr ging eine nahezu militärisch genaue Planung voraus. Die Organisationsverantwortung lag dabei bei der Coordinadora de Conflictos Agrarios. Diese Organisation konzentrierte sich auf den Agrarsektor und zielte auf eine Umverteilung von Land, was letztendlich einer Umstrukturierung der gesamten Eigentumsverhältnisse im Agrarsektor gleichkam. An diesem Beispiel kann gezeigt werden, wie Geschichte stattfindet und an bestimmten Stätten – hier der Kathedrale – verortet ist. Für den Raumtheoretiker Henri Lefebvre gehört die Kirche zu jenen Räumen der Repräsentation, in denen komplexe Symbolsysteme angelegt sind (Lefebvre 1991: 33), die den Untergrund für die alltägliche Praxis bilden und damit ihre Wurzeln in der Geschichte haben:»It embraces the loci of passion, of action and of lived situations, and thus it immediatly implies time.« (Lefebvre 1991:42) Doch damit dieses Politikum seine Relevanz bekommen konnte, musste eine Ver-Rückung erfolgen. Die indigenen Bauern, die – trotz der massiven Land-Stadt-Migration seit Ende der 1970er Jahre – noch als Fremdkörper im urbanen Raum galten, kamen aus den peripheren ländlichen Gebieten in das symbolische Zentrum der Stadt. Sie besetzten die Kirche und durchbrachen die dortige Routine des Gebets und der Liturgie. Dabei war der Ort der Kirche durchaus von ambivalentem Charakter. Zum einen verweist diese mit ihrer kolonialen Architektur auf die koloniale Landnahme und die Fortdauer von Kolonialität. Es ist ein Ort, dessen symbolische Macht – wie von José María Arguedas einfühlsam am Beispiel der Kathedrale in Cuzco beschrieben wurde – noch immer bedrückend und einschüchternd auf indigene Bauern wirkte. Doch andererseits hatte die von der Befreiungstheologie beeinflusste Kirche die Indigenen bei ihren Organisationsprozessen auch unterstützt, und gerade die Indigene aus Chimborazo waren stark von dem dortigen Bischof, Leonidas Proaño, geprägt, der beherzt gegen die Unterdrückung und Diskriminierung der Indigenen gekämpft hatte. Dazu spielten für die Aktivisten auch praktische Gründe eine Rolle für die Wahl der Besetzung der Kirche:

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»Es ist so, dass die Kirche besser war als jeder andere öffentliche Raum. Erstens, weil sie uns von jedem anderen öffentlichen Ort geräumt hätten. Und zweitens, unser Volk ist sehr religiös. Klar fragten einige, wie können sie eine Kirche besetzen. Aber mit den Erklärungen, die wir machten, war es schwierig uns aus der Kirche rauszuwerfen. Außerdem gab es christliche Basisgemeinden. Das Haus Gottes ist also das Haus der Armen. Viele Leute – vergiss nicht die ganzen Leute, die in Chimborazo mitmachten, das waren die Leute von Proaño– und da gab es einen Pfarrer, der die ganze Zeit arbeitete. Es gab also viele revolutionäre Pfarrer und Christen.« (Interview, Lalo Freire, 25.5.2006) Die Gruppe bestand aus Indigenen und Mestizen der politischen Linken, wobei die Mestizen die Federführung übernahmen. Die Besetzung der Kirche war nahezu militärisch geplant worden, und die dirigentes campesinos wurden erst kurz vor Beginn der Aktion über den genauen Plan informiert: »Die Planung klappte, weil sie Vertrauen in uns hatten und, eine andere Sache, weil wir uns nicht als dirigentes aufführten. Sie waren die dirigentes. Also ich glaube, dass sie das auch sehr schätzten, dass wir nicht so drauf waren, uns als Anwälte der dirigentes zu verstehen, sondern dass sie selber das waren. Bei den Konflikten waren wir immer dabei. Wir waren sogar in der Führungsriege, aber eigentlich waren sie das. Und bei der Besetzung von 90, da waren wir vier Mestizen von 130. Es gab ein extrem hohes Vertrauen. Denn nur 10 oder 5 Minuten vorher sagten wir, wir gehen nach Quito. Wir machen eine Besetzung in Quito. Da dachten sie, es sei das Ministerium, das IERAC. Wir hatten schon andere Besetzungen gemacht, und als wir dann in Quito waren, sagten wir: ›Eine Kirche‹. Und dann fehlten nur noch fünf Minuten, bis wir vor der Kirche standen, und da sagten wir: ›Dies ist die Kirche‹. Das zeigt also, dass ich damit einen großen Vertrauen gearbeitet habe.« (Interview, Lalo Freire, 25.5.2006)

Während diese Fraktion der indigenen Bewegung vom 29. Mai bis 7. Juni 1990 die Kirche Santo Domingo besetzten, begannen am 4. Juni des Jahres die ersten Straßenblockaden, die dann ab dem 6. Juni in landesweite Aufstände mündeten, an denen sich auch das damalige Casa Campesina aus Saquisilí beteiligte. Schon in den vorangegangenen Kapiteln wurde erläutert, dass dirigentes, welche die Jatarishun aufbauten, sich nicht aus den Führungsriegen rekrutierten, welche zuvor die Kämpfe gegen die Großgrundbesitzer organisiert hatten. Dieser Wandel im Führungspersonal spiegelte sich auch in einem diskursiven Wandel wider, es wurde nicht mehr für das Land gestritten, sondern vielmehr um Rechte gekämpft. Dieser diskursive Wandel führte auch dazu, dass die Gemeinden, in denen die Landkonflikte weiterhin aktuell waren, gegenüber der Jatarishun eine gewisse Distanz bewahrten. Ohne Frage wurden die Landkonflikte von Seiten der Jatarishun nur bedingt thematisiert. So sah 1994 der damalige Präsident der Jatarishun die

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Landkonflikte in Saquisilí nicht als eine der Prioritäten der Organisation an, während die indigenen Bauern in Yanaurco genau für diesen Konflikt mobilisierten. Dabei stand die Überwindung des Rassismus und die Neugestaltung der interethnischen Beziehungen im Zentrum, wie es in der in diesem Zitat angedeuteten Inversion der paternalistischen Beziehungen pointiert zum Ausdruck kommt. »In den 1990er haben wir begonnen, diese señores mishus (Herren Mestizen, O.K.) zu beherrschen, um sie besser zu machen.« (Interview, Marcelino Mazapanta, 27.5.2006) Zum einen zeigt sich in diesem Zitat der Wandel im politischen Raum an. Dabei handelte es sich im Endeffekt um eine Umkehrung der Machtstrukturen: Es dominieren nicht mehr die Mestizen, sondern die Indigenen. Zum anderen geht aus dem Zitat hervor, dass es sich nicht um eine Politik der Rache für 500 Jahre Unterdrückung, sondern vielmehr um eine »zivilisatorische« Idee handelt, indem die mishus, die Mestizen, zu einem besseren Verhalten gebracht werden sollten. Das Ziel ist demnach, die interethnischen Beziehungen so zu gestalten, dass ein respektvolles Zusammenleben in gegenseitiger Anerkennung möglich werden sollte. In diesem Sinne war es unumgänglich, der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen. Denn vor den Protesten waren die Indigenen unsichtbar, ohne jegliche Art der Repräsentation und somit schließlich auch ohne Stimme. Denn »die Weißen, die Unterdrücker, sagten, dass es die Indigenen nicht geben würde« (Interview, Belisario Choloquinga, 19.5.2006). Dies änderte sich nun auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. So konnte die Versammlung von fünf- bis sechstausend Indígenas aus Cotopaxi auf dem Platz el Salto auch von den mestizischen Bewohnern der Provinzmetropole Latacunga nicht mehr übersehen werden. Entsprechend waren sich alle befragten dirigentes einig, dass dieser Aufstand die interethnischen Beziehungen in Ecuador insofern verändert hatte, als dass von nun an sowohl im privaten als auch im öffentlich-staatlichen Alltagsleben die Anerkennung des Indigenen eingefordert werden konnte. Cesario Guanoquiza stellte beispielsweise fest: »Ich glaube, dass sich durch diesen ersten indigenen Aufstand das Verhalten, der Missbrauch durch die Polizei, verändert hat. Alles war extrem heftig. Mich, Manuel Alomoto, Rafaelito Jami, die wir die Bewegung anführten, uns nahmen die Militärs mit. All das, nicht? Und dann schlugen sie uns mit Machetengriffen, Schlagstöcken, aber alles haben sie gemacht, weil wir den ersten indigenen Aufstand in Cotopaxi organisiert haben.« (Interview, Cesario Guanoquiza, 13.5.2006)

Juan Alomoto analysiert, wie sich der Aufstand von 1990 auf die ethnische Hierarchie auswirkte. Im ethnopolitischen Feld wird der Begriff des »Indio« neu definiert, wie es beispielsweise die Black Power-Bewegung in den USA mit ihrem berühmten Leitsatz black is beautiful tat. Der dirigente Juan Alomoto führte aus

332 | K ONJUNKTUREN DER (D E-)KOLONIALISIERUNG »Mit dem Aufstand von 1990 nahm die indigene Bewegung Form an. Da wurde bereits die Forderung nach der Anerkennung indigener Völker gestellt, in denselben Begriffen, die gebraucht wurden, um die indios zu beleidigen. Genau dieses Wort wurde benutzt, um sich selber als indigene Bewegung zu benennen, als organisiertes indigenenes Volk. [...] Jetzt ist es kein Problem, dass uns einer indio nennt, es ist kein Problem, dass wir indios sind, früher aber war das eine Beleidigung, eine Beschimpfung. « (Interview, Juan Alomoto) Die Ordensschwester Elina Guarderas erinnert sich an die bedeutsamen Vorbereitungstreffen im Casa Campesina in Saquisilí, an denen neben Manuel Alomoto, damals bereits Präsident des MIC, führende nationale dirigentes der CONAIE wie Lucho Macas, seinerzeit Präsident der CONAIE, Nina Pacari und Blanca Chancoso teilnahmen. (Interview, Elina Guarderas, 17.6.2006)

Neben den konkreten Zusammenstößen und den damit verbundenen praktischen Aufgaben ließ sich auch eine generelle Spiritualität der Bewegung beobachten, die über den einfachen Kampf nach Anerkennung hinausging. Vielmehr wurde auch dafür gestritten, überhaupt Rechte zu haben. Wie auch in den Landkonflikten und der Besetzung von Guangaje in den 1970er Jahren, so waren auch jetzt Schamanen Teil des Aufstandes. In Saquisilí war die Präsenz von Alberto Taxo, einem charismatischen Schamanen aus dem Kanton Salcedo, von besonderer Bedeutung, da er die Menschen motivieren und ihren Kampf mit Sinn füllen konnte. Taxo machte den indigenen Bauern, die zur Versammlung strömten, ohne dass es einen genauen Plan zum Aufstand gegeben hätte, klar, dass nun eine neue Zeitenwende – pachakutic – anstehe. Es sei der richtige Moment – der Kaíros – zum Bruch mit der herrschenden Zeit gekommen. (Taxo 1993: 214-221) Die Proteste wurden in Saquisilí durch die Brigade »Patria« der ecuadorianischen Armee, welche in der Kaserne an der Panamericana nahe dem Ortseingang stationiert ist, unterdrückt. Alberto Taxo war einer der ersten Inhaftierten. Nichtdestotrotz verdienten sich die Demonstranten im Laufe der Proteste auch die Anerkennung der mestizischen Zivilbevölkerung Latacungas. (Interview, Elina Guarderas, 17.6.2006) Bei dem Aufstand von 1990 wurde mit der Blockade der Panamericana eine raumpolitische Proteststrategie angewandt, die in den folgenden Aufständen immer wieder eingesetzt wurde. In einem Land wie Ecuador, das durch eine schwache Verkehrsinfrastruktur geprägt ist, stellt die Panamericana, die entlang des kolonialzeitlichen Camino Real die Hauptstadt Quito mit den weiteren urbanen Zentren des Landes verbindet, die Lebensader dar. Über sie wird die Versorgung der urbanen Zentren mit Lebensmitteln und Rohstoffen sichergestellt. Die Unterbrechung dieser zentralen Verkehrsader ruft innerhalb kurzer Zeit Versorgungsengpässe in den Städten hervor. Den indigenen dirigentes war dies bewusst, als sie 1990 die gesamte Provinz lahmlegten und die Versorgung der Hauptstadt unterbrachen. (Interview, Belisario Choloquinga, 16.5.2006) Dabei war die Mobilisierung gerade in Saquisilí

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so massiv, dass sie in der gesamten Provinz Cotopaxi als Vorbild diente und zum Diffusionskern für weitere Mobilisierungen wurde. (Taxo 1993: 214-221) Der Aufstand von 1990 ist bis heute ein wichtiger Aspekt in der Erinnerung der dirigentes, der eine Zeitenwende und den Beginn einer nachhaltigen Konjunktur der De-kolonialisierung markiert, geblieben. Auf nationaler Ebene war in diesem Zusammenhang der Aufstand von 1992 anlässlich des 500. Jahrestages der Eroberung Amerikas von weiterer höchster Relevanz. Doch in der Erinnerung der dirigentes ist dieser Aufstand weniger präsent. Denn hier fehlte in Saquisilí eine zentrale charismatische Persönlichkeit, die es 1990 mit Alberto Taxo noch gegeben hatte, zudem war die Jatarishun durch Streitigkeiten um die Führung der Organisation geschwächt. Dies macht deutlich, dass die Aufstände der 1990er Jahre nicht spontan – wie noch im 17. Jahrhundert – erfolgten, sondern sorgfältig an der Basis vorbereitet wurden. Eine Vorbereitung, die 1992 weniger intensiv geleistet werden konnte. Doch mit dem 500. Jahrestag zur Eroberung Lateinamerikas und der verfassungsgebenden Versammlung gab es nationale, höchst relevante Themen, die zur Mobilisierung beitrugen. Auch schien es nun in Saquisilí – anders als noch 1990 – einen stärker ausgeprägten Antagonismus mit der städtischen mestizischen Bevölkerung gegeben zu haben. (Interview, Elina Guarderas, 17.6.2006) Neben den Spannungen zwischen Indigenen und Mestizen wuchsen in Saquisilí auch die Repressionen der Ordnungskräfte gegenüber den indigenen Demonstranten. Die Repression richtete sich dabei ganz konkret gegen bestimmte dirigentes. In Saquisilí betraf dies vor allem Manuel Alomoto, der von den Ordensschwestern, die ebenfalls auf einer schwarzen Liste der Regierung standen, versteckt wurde. Es bestand die Angst, dass Manuel Alomoto von den Streitkräften getötet werden könnte. Außerdem existierten Gerüchte, dass das Casa Campesina im benachbarten Pujilí bombardiert werden könnte, was sich nicht bewahrheitete. Doch riegelten Einheiten der Streitkräfte die Casa Campesinas ab, die von Hubschraubern überflogen wurden. Nach Vermittlung der Kirche konnten dann die Indígenas in ihre comunidades zurückkehren. (Interview, Elina Guarderas, 17.6.2006)

L AND

UND

W ASSER : D ER AUFSTAND VON 1994

Während der Regierungszeit Sixto Durán-Balléns wurden auf rechtlicher Ebene verschiedene Versuche unternommen, den Staat zu modernisieren. Im Rahmen des »Washingtoner Konsensus« bedeutete dies nichts anderes, als die Umsetzung einer Politik der Dezentralisierung und Privatisierung nach neoliberalem Zuschnitt. Das Ley de Modernización del Estado von 1993 war der erste Akt dieser Politik, in der Folgezeit wurden andere Gesetze für verschiedene Teilbereiche erlassen, so zum Beispiel das Ley Agrariavon 1994. Um auf die neoliberale Politik Durán-Balléns

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reagieren zu können, wurde das Landthema 1993 dementsprechend zum zentralen Anliegen der indigenen Bewegung. Seitdem wird die Agrarpolitik innerhalb der Bewegung und auch im Austausch mit anderen gewerkschaftlichen und popularen Akteuren heftig diskutiert. Ausgehend von dieser Diskussion initiierte die indigene Bewegung eine massive Reaktion auf das Agrargesetz von 1994, mit dem die Regierung kurz gesagt versuchte, den Mitte der 1960er Jahre begonnenen Prozess der Agrarreform endgültig zu beenden. Diese Linie der Regierungspolitik zeigte sich auch in der Transformation des IERAC (Instituto Ecuatoriano de Reforma Agraria y Colonización) zum INDA (Instituto Nacional de Desarrollo Agrario), wo allein schon mit der Namensänderung – dem Streichen der Agrarreform – jeglicher Verweis auf eine Umverteilungspolitik gelöscht wurde. Ein anderer wichtiger Streitpunkt bestand in dem Versuch der Regierung, einen freien Wassermarkt zu etablieren, der einen größeren Wettbewerb und damit auch steigende Ungleichheit herstellen sollte. Die Themen rund um die Ressource Wasser wurden besonders in Saquisilí in verschiedenen Lehrgängen eingehend behandelt. Diese fanden im Rahmen des Bewässerungsprojektes der Schweizer Organisation für Entwicklungszusammenarbeit (SWISSAID) statt. Daher bestand in Saquisilí ein breites Bewusstsein, dass die Verteidigung der Zugangs- und Verbrauchsrechte für Wasser von großer Bedeutung war. (Interview, Elina Guarderas, 17.6.2006) Belisario Choloquinga übernahm 1993 die Leitung der Jatarishun und verstärkte die organisatorische Arbeit, indem er vor allemdie Bildungsarbeit in den Gemeinden intensivierte. Bei diesem Aufstand war die Basis der Jatarishun durch das frühere WasserProjekt und die damit verbundenen Bildungsmaßnahmen hochgradig politisiert. Zudem war die Erfahrung der Wasserknappheit ein alltagsweltliches Grundproblem in den ländlichen Gemeinden. Insofern bildete sich in Saquisilí ein markanter politischer Antagonismus zum neoliberalen Staat heraus, der eher an die bäuerlichen Umverteilungskämpfe denn an die ethnischen Anerkennungskämpfe des Jahres 1992 anschloss. Belesario Choloquinga, der ehemalige Präsident der Jatarishun, erinnert sich an die starke Präsenz der comuneros bei diesem Aufstand: »Im Jahr 1994 wollte die Regierung alles privatisieren was mit dem Land zu tun hat. Dieses Gesetz war schon beschlossen. Aber wir schafften es, uns zu organisieren, uns zu erheben und dieses Gesetz in den Müll zu schmeißen. Das schafften wir. Und da waren viel mehr Leute dabei.« (Interview, Belisario Choloquinga, 19.5.2006)

In den höher gelegenen Zonen Saquisilís gab es keine Haciendas mehr, und die Konfrontationen beschränkten sich daher auf die Hacienda Canchagua und vor allem auf den landwirtschaftlichen Betrieb der Brigade »Patria« der ecuadorianischen Streitkräfte, der zwischen Panamericana und dem Ort Saquisilí liegt. Die Blockade war hier so stark, dass die Hacienda der Streitkräfte keine Milch abtransportieren

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konnte. Elina Guarderas erinnert sich an die – erfolglosen – Verhandlungen zwischen Indígenas und Militärs. Neben diesen Treffen am Verhandlungstisch kam es auf der Straße auch zu gewaltsameren Auseinandersetzungen, bei denen eine Reihe von dirigentes festgenommen wurde. Dabei kam es zu massiven Polizeieinsätzen mit Tränengas, Wasserwerfern und Hunden. (Interview, Alejandro Cofre, 13.5.2006) Im Zuge dieses Aufstandes richtete sich die Repression der Ordnungskräfte auch gegen die Ordensschwestern, die in den Augen der Polizei und des Militärs ihren Status der Neutralität verloren hatten und direkt mit den Indigenen identifiziert wurden. Die Militärs stellten Elina Guaderas, Alba Montoya und dem Pfarrer Emiliano Jácome ein Ultimatt um von 24 Stunden, innerhalb dessen sie die Region zu verlassen hatten. (Interview, Elina Guarderas, 17.6.2006) Während sich Elina Guarderas der Verfolgung durch die Polizei entzog und von der Oberin nach Bogota entsendet wurde, wurde eine andere Ordensschwester vom Militär inhaftiert. Elina Guarderas erinnert sich, dass es der anderen Schwester durch einen Trick gelang, ihre Inhaftierung durch die Brigade »Patria« publik zu machen, um sich vor Misshandlungen zu schützen: »Aber die andere Schwester, Alba Montoya, die wurde verhaftet. Sie war Journalistin. Sie war Leiterin von Radsio Latacunga. Sie wollte nachts ihr Auto parken, sie kam so um elf Uhr nachts nach Hause. Plötzlich gingen alle Lichter auf der Plaza aus – sie wohnte an der Plaza von Latacunga. Da nahmen sie die Militärs der Brigada Patria mit, sie wurde verhaftet. Aber sie war ja eine Journalistin – die ich sehr schätze – und sie hatte all ihre Geräte dabei. Und die Militärs ware so ignorant, ihr die Geräte nicht wegzunehmen. Also stellte sie eine internationale Radioverbindung her und sprach, ›Ich bin Alba Montoya aus Ecuador. Ich werde in diesem Moment verhaftet.‹ – Und die Nachricht verbreitete sich weltweit. Doch sie blieb mehr als 24 Stunden in der Brigada Patria. Aber auf internationalen Druck kam sie dann frei. Aber während sie dort war, bekam sie mit, dass Hubschrauber losflogen, um die Bauernhäuser zu bombardieren. Das Miliär war sehr repressiv.« (Interview, Elina Guarderas, 17.6.2006)

Auch wenn der Rassismus innerhalb des ecuadorianischen Militärs sowie die von Soldaten verübten Misshandlungen zu verurteilen sind, muss dennoch darauf hingewiesen werden, dass unter den Angehörigen der Streitkräfte unterschiedliche Einstellungen gegenüber den Indigenen vertreten sind. Diese reichen von offenem Rassismus bis hin zu Sympathiebekundungen. Letzteres erklärt sich daher, dass viele Soldaten selbst aus indigenen Gemeinden stammen, und zwischen ihnen und den Protestierenden keine größere kulturelle Kluft existiert. Entsprechend suchten die indigenen dirigentes gerade auch den Dialog mit den einfachen Militärs. (Interview, Belisario Choloquinga, 19.5.2006) Der Aufstand war letztlich so erfolgreich, dass das bereits verabschiedete Gesetz wieder zurückgenommen wurde.

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G EGEN B UCARAM : I NTERETHNISCHE ALLIANZEN Die indigene Bewegung hat von der ersten Bewegung im Jahr 1990 nicht nur Forderungen ihrer eigenen Gruppe, also ausschließlich der indigenen Bevölkerung vertreten, sondern immer auch die Interessen anderer subalterner Sektoren repräsentiert. Der Aufstand gegen die Regierung von Abdalá Bucaram im Jahr 1997 machte deutlich, wie sehr die indigene Bewegung Protagonistin in der nationalen Bewegungslandschaft geworden und dabei in der Lage war, nationale, pluriethnische und klassenübergreifende Allianzen zu bilden. Im August 1996 wurde Abdalá Bucaram zum Präsidenten Ecuadors gewählt. Bereits im Februar 1997 wurde er auf Grund »geistiger Unfähigkeit« von seinen Ämtern abgesetzt und durch die Übergangsregierung von Fabián Alarcón abgelöst. Im Vorfeld hatten indigene Organisationen, allen voran die CONAIE, Gewerkschaften, Frauenverbände, Studentenvertretungen und andere Basisorganisationen ihre massiven Proteste auf eine zentrale Forderung konzentriert: »Bucaram, fuera«. Zwischen dem 5. und 6. Februar 1997 demonstrierten geschätzt 500.000 Personen gegen den Präsidenten, der sich konfrontiert mit derart massiven Protesten der breiten Bevölkerung nicht im Amt halten konnte. So gelang es der Bewegung zum einen, die Absetzung Bucarams durchzusetzen, der wegen Korruption, Unfähigkeit, Klientelismus und seines neoliberalen politischen Programmes von weiten Teilen der ecuadorianischen Bevölkerung abgelehnt wurde. Darüber hinaus wurde auf Druck der Bewegung eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen, die 1998 eine neue Verfassung verabschiedete, welche in ihrem ersten Artikel den Staat als »unitario« – als Einheitsstaat – und gleichzeitig als »plurikulturell« und »multiethnisch« charakterisierte. Im fünften Artikel werden den indigenen Völkern »die sich selbst als Nationalitäten definieren«, sowie den afro-amerikanischen Gemeinschaften kollektive Rechte garantiert. Auf lokaler Ebene wurde besonders die Art und Weise betont, wie Indigene und Mestizen während der Proteste Seite an Seite agierten. So beschrieb Antonio Llumitásig, der erste indigene Bürgermeister von Saquisilí, die Atmosphäre der interethnischen Beziehungen wie folgt: »Nun gut, ich denke, hier in Saquisilí, kann man sagen, dass der Fall von Abdalá Bucaram uns – wie auch im ganzen Land – sehr beeindruckt hat. Es gab eine große Akzeptanz der Indigenen durch die Mestizen. Für uns war es ganz anders, zu sehen, wie die Mestizen uns Sachen brachten. Die Leute brachten Lebensmittel, die halfen uns, die Leute aus der Stadt brachten mit ihren Autos Wasser, Essen, um es unter den Indigenen zu verteilen. Die Leute aus der Stadt brachten Lebensmittel, um sie bei den Demonstrationen zu verteilen.« (Interview, Antonio Llumitásig, 11.7.2006)

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Dieser Prozess wurde nicht ausschließlich von Mobilisierung während der Proteste getragen, sondern speiste sich nach 1996 auch aus den Aktivitäten der indigenen Bewegung im politischen und im Besonderen im parteipolitischen Bereich. Auch wenn die indigenen Delegierten noch nicht im Detail mit den Regeln des politischen Spiels vertraut waren, hatten sie dennoch eine wichtige Funktion als Multiplikatoren der indigenen Positionen. Ein anderer Aspekt kam auf einer unscheinbareren Ebene zum Tragen. So entwickelte sich im Zuge dieses Prozesses innerhalb der Bewegung verstärkte Verbindungen zwischen der nationalen und der lokalen Ebene, wobei die Bürgermeister von Pachakutik, unter ihnen Antonio Llumitásig, eine zentrale Rolle spielten. Es gab in dieser Phase durchaus Angst vor einem Putsch der Militärs, was auch das Ende der damals bereits gewählten indigenen Lokalregierungen bedeutete hätte. Angesichts dieser Situation stießen Antonio Llumitásig und Auki Tituaña, indigener Bürgermeister von Cotacachi, im Rahmen der Coordinadora de Gobiernos Locales Diskussionen zur Sicherung der Demokratie an. (Interview, Antonio Llumitásig, 11.7.2006) Dies macht, zusammen mit der zentralen Stellung der indigenen Bewegung bei den Protesten, deutlich, wie sehr die indigene Bewegung innerhalb der kurzen Zeit seit dem ersten Aufstand 1990 nun schon integraler Bestandteil der ecuadorianischen Zivilgesellschaft geworden war. Die Konjunktur der Dekolonialisierung des politischen Feldes in Ecuador war rasant. War die indigene Bevölkerung noch im 19. und bis Anfang des 20. Jahrhunderts zur subalternen Sprachlosigkeit verdammt und bis weit in die 1970er Jahre aus den politischen Prozessen ausgeschlossen, so war sie Mitte der 1990er Jahre Protagonistin in einem politischen Feld, das längst nicht mehr allein durch Caudillos und die Logiken der Praxis der politischen Parteien bestimmt war.

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Das neue Jahrtausend brachte für die indigene Bewegung Ecuadors enorme Umwälzungen mit sich. In den Jahren 1999, 2000 und 2001 kam es zu indigenen Aufständen gegen die neoliberale Regierungspolitik. Im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern wurden die neoliberalen Programme in Ecuador über einen relativ langen Zeitraum verteilt und teilweise auch nur fragmentiert umgesetzt. Aber seit 1992 und besonders während der Regierungszeit Jamil Mahuads (19982000) orientierte sich die ecuadorianische Politik stärker in Richtung neoliberaler Strukturanpassungsprogramme. Zwischen 1995 und 2000 stieg die Zahl der in Armut lebenden Menschen in Ecuador von 3,9 auf 9 Millionen, was bedeutet, dass 71% der Bevölkerung unter die Armutslinie fiel. Die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen stieg von 2,1 auf 4,5 Millionen. Bei diesen Prozessen handelte

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es sich aber nicht um eine generelle Verarmung Ecuadors, sondern vielmehr um die Kehrseite einer enormen Bereicherung der ecuadorianischen Eliten in diesem Zeitraum. Im Jahr 2000 verfügten die zwanzig ärmsten Prozent der Bevölkerung über 2,5% der Einkommen, die zwanzig reichsten Prozent dagegen über 61%. Im Juli 1999 wurde verstärkt gegen die neoliberale Politik von Mahuad mobilisiert. Dabei verfolgte die indigene Bewegung zum ersten Mal die Strategie, die Hauptstadt Quito zu besetzen. Letzten Endes wurde eine Vereinbarung zwischen Regierung und indigener Bewegung getroffen, die jedoch von Seiten der Regierung nicht eingehalten wurde. Anfang Januar 2000 »dollarisierte« Mahuad die ecuadorianische Wirtschaft, indem er die nationale Währung Sucre durch den US-Dollar ersetzte. Dagegen bildete sich erneut indigener Widerstand. Die Proteste entwickelten eine derartige Sprengkraft, dass im Zuge der Demonstrationen die indigene Bewegung zusammen mit Teilen der Streitkräfte die Regierungsgewalt übernahm. Die Regierung Mahuad war auf eine derartige Protestwelle nicht vorbereitet und konnte letztlich nur noch abdanken. So endete am 21. Januar 2000 die Präsidentschaft Jamil Mahuads. Bei den Wahlen in Cotopaxi im Mai des folgenden Jahres wurde zum ersten Mal in der Geschichte Ecuadors ein Indigener an die Spitze einer Provinzpräfektur gewählt. Dabei handelte es sich um César Umajinga, der aus dem Parroquia Zumbahua im Kanton Pujilí in Cotopaxi stammte und zuvor Präsident des MICC sowie einer der führenden Köpfe bei den Protesten gegen Mahuad gewesen war. Nach der Absetzung Mahuads übernahm der vormalige Vizepräsident Gustavo Noboa das Amt des Staatschefs und behielt den neoliberalen Kurs bei. Der Leitsatz »Nada sólo para los indios“ (»Nichts ausschließlich für die Indios«) betonte, dass die anti-neoliberalen Forderungen ein zentrales Anliegen aller subalternen Sektoren der Bevölkerung waren. Der indigene Protest wurde auch unter der Präsidentschaft Noboas fortgesetzt und zwar exakt ein Jahr nachdem Mahuad im Januar und Februar 2001 aus dem Amt gedrängt worden war. Im Oktober 2002 kam es zwischen den indigenen Organisationen und Lucio Gutiérrez, einem der Offiziere, die am Staatsstreich im Jahr 2000 beteiligt waren, zu einem Übereinkommen. So konnte Gutiérrez die Präsidentschaft über den Weg der Wahlen erlangen. Diese Neuausrichtung auf die nationale Ebene bis hin zur Besetzung der Hauptstadt zeigt sich auch in den Mobilisierungsstrategien der indigenen Organisationen: Zuvor waren die Bewegungen auf lokaler Ebene entstanden. Die comuneros hatten sich in ihren Casas Campesinas in den Provinzstädten und Dörfern versammelt und von dort aus die Straßen, vor allem die Panamericana, blockiert. Seit 1999 dagegen marschierten die indigenen Bauern aus Saquisilí direkt nach Quito. Dabei ist hinsichtlich der politischen Strategie der Bewegungen besonders interessant, dass die Aufstände mit all ihren Aktionen in erster Linie auf die Durchführung eines friedlichen Marsches nach Quito ausgerichtet waren. (Interview, Alejandro Cofre, 13.5.2006) Die Regierung Jamil Mahuads versuchte, den Auf-

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stand mit Hilfe von Polizei und Streitkräften zu unterdrücken. Als Reaktion auf die staatliche Repression und die Inhaftierung einer Reihe von dirigentes nahmen die Indigenen zwei Militärs gefangen, um sie gegen die eigenen Leute auszutauschen. Einer der beiden gefangenen Militärs, ein Unteroffizier, wurde zuerst nach Mulalillo und später nach Maca Grande gebracht. Die Geschichten, die sich um diese unfreiwillige Einladung in die comunidades indígenas ranken, werden in dem Buch über die Geschichte des MICC anschaulich beschrieben. Dort wird aber nicht auf den anderen entführten Soldaten eingegangen, der seinerseits nach Saquisilí gebracht wurde. Ein Aktivist erinnert sich: »Wenn ich mich nicht irre, gab es dort im Sektor Niágara ein heftiges Aufeinandertreffen von Indigenen mit den Militärs und der Polizei. Das war eine der größten Misshandlungen, die wir erdulden mussten. Neun compañeros wurden verhaftet, und auch wir verhafteten zwei Militärs. Ach, und da gibt es eine Anekdote. Von den zwei Militärs wurde einer in eine westlich gelegene Gemeinde gebracht, den anderen aber nahmen wir mit, nach Saquisilí. Der erste wurde nach Mulalillo und dann nach Maca gebracht; der andere kam hierhin, ganz ohne Misshandlungen selbstverständlich. Aber wir richteten hier im Sitz der Jatarishun eine Zelle ein, sofort hier, neben dem Sitzungsraum. Nun, wir stellten Wachen an der Tür auf. Und dann war es so halb zwölf, zwölf, als wir dann eintraten, um den Militär zu sehen. Aber der ist geflohen. Durch’s Dach! Das war unsere Anekdote. Und das Schlimmst ist, dass er mit allem geflohen ist, mit dem Hut und dem Poncho, mit dem wir ihn getarnt hatten.«

Die Geschehnisse im Zusammenhang mit Lucio Gutiérrez haben zweigeteilte Reaktionen hervorgerufen, und sein Sturz ist in der kollektiven Erinnerung eher von untergeordneter Bedeutung. Im engeren Sinne sind die Proteste, die zum Sturz Gutiérrez’ am 13. April 2005 führten, nicht Teil der Geschichte der indigenen Bewegung. So waren die Indigenen so gut wie überhaupt nicht an den Protesten gegen »Lucio« beteiligt, die Demonstranten sind vielmehr Teilen der städtischen Mittelschicht vor allem der Hochlandregion zuzurechnen. Von Teile der indigenen Bewegung aus der Sierra und im Besonderen aus den comunidades erhielt Gutiérrez noch bis zu seinem Sturz Unterstützung, auch wenn seine Politik der Spaltung die CONAIE entscheidend schwächte. Die FEINE war demgegenüber einer der Profiteure dieser Politik, da Gutiérrez sie – zum Teil offen gegen die CONAIE – unterstützt hatte, wobei er die bestehenden religiösen Spannungen zwischen katholischen und evangelikalen Indigenen ausnutzte. Aber auch die Nähe zur Macht und zur Regierung Gutiérrez, vor allem von hohen dirigentes der CONAIE in Cotopaxi, schwächte die Bewegung, und einige der dirigentes verloren an Glaubwürdigkeit und das Vertrauen der Basis. Antonio Llumitásig kommt zu dem Schluss, dass die Probleme der indigenen Bewegung mit der Beteiligung an der Regierung Gutiérrez in Zusammenhang stehen. Nach 2001 gelang es Gutiérrez, die indigene Bewegung zu kooptieren und zu

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schwächen und gleichzeitig die neoliberale Politik weiterzuführen, an deren Umsetzung seine Vorgänger gescheitert waren. Erst im März 2006 gab die indigene Bewegung ihre passive Haltung auf und verschaffte sich mit massiven Protesten und Blockaden zwischen dem 13. und 23. März Gehör. Die Proteste richteten sich dabei gegen die Unterzeichnung des bilateralen Freihandelsabkommens (TLC) mit den USA und die Verlängerung des Vertrages mit der Erdölfirma Occidental (Oxy). 1 Es handelte sich um massive Proteste mit Blockaden der Panamericana und Mobilisierungen in Quito, die letztlich bewirkten, dass der TLC nicht unterzeichnet wurde. Damit machte die indigene Bewegung einmal mehr deutlich, dass sie sich nicht als single-issue-Bewegung für indigene Rechte begreift, sondern auch als antineoliberale, kapitalismuskritische Bewegung, die gesamtgesellschaftliche Problemlagen aufgreift. Zunächst sah es im Verlauf der links-orientierten Bewegung von Rafael Correa auch so aus, als würde diese Ausrichtung der CONAIE weiter gestärkt werden. Die CONAIE und Pachakutik hatten Correa bei den Wahlen unterstützt, und zum Amtsantritt stattete der neugewählte Präsident, in einen Poncho gekleidet und mit Kichwa-Grußwort, der Gemeinde Zumbahua in Cotopaxi einen der ersten öffentlichen Besuche ab. Zentrale Forderungen der Indigenen wurden – unter anderem im Rahmen der Verfassungsgebenden Versammlung – aufgegriffen. Doch auf Grund der wirtschaftspolitischen Ausrichtung der Regierung und dem Ansatz der Stärkung des Zentralstaates kam es zum Bruch von linker Regierung und indigener Bewegung.

1 Neben diesen Fragen von nationaler Dimension wurden die Proteste in den Provinzen der Sierra noch durch Forderungen nach der Bereitstellung von Mitteln für spezifische Arbeiten in der Region getragen. (Interview, Jorge Salazar, 11.7.2006)

Dekolonialisierung geopolitischer Imaginarien

Das Ende der post-kolonialen Hacienda hinterließ nicht nur ein politisches Vakuum, sondern auch ein imaginäres. Die hegemoniale nationale geographische Imagination zeichnete sich seit der Konsolidierung von Kolonialität durch ihren Schwerpunkt auf das »Weiße« und Urbane aus. In diesem Umfeld stellten die Hacienda und die Provinzstädte »Bollwerke der Kolonialität« inmitten eines indigen geprägten Umlands dar. Beide Orte zeichnen sich durch ihre hispanisch-koloniale Architektur und Strukturierung aus, wobei gerade auch katholizistische Elemente prägend sind. Gerade deswegen markierte der hier bereits dargestellte Bau des Casa Campesina im Zentrum der Stadt, angrenzend an die Kirche, eine Veränderung in der symbolischen Raumordnung. Es wurde ein Ort für die Indigenen inmitten des weißen Stadtraumes geschaffen. Zudem begannen die Indigenen auch mit Demonstrationen und kulturellen Veranstaltungen auf dem aus prä-kolumbischer Zeit zurückgehenden Markt, den öffentlichen urbanen Raum – und sogar die Hauptstadt Quito – zu besetzen. Über diese Strategien der Besetzung des geographischen Raumes hinausgehend, gab es parallel zur Emergenz der indigenen Bewegung in den 1970er Jahren in der an Saquisilí angrenzenden Region um Tigua, im Hochland von Cotopaxi, eine kulturelle Bewegung, die ausgehend von den alltäglichen Erfahrungen der comunidades indígenas alternative geographische Imaginationen entwarf. 1 Während in Hinblick auf die Form des Organisationsprozesses die Mimese staatlicher Raumordnung hervorgehoben wurde, so wird in den Malereien aus Tigua Alterität zum Ausdruck gebracht. Die Malerei aus Tigua kann als Ausdruck einer widerständigen geopolitischen Imagination und einer alternativen visuellen Narration der Nation verstanden werden. Jedoch kann das Phänomen der Entstehung eines besonderen künstlerischen Stils in einigen comunidades des Andenhochlandes nicht allein lokal erklärt wer-

1 Zur gleichen Zeit kamen die salesianischen Priester mit Kultur- und Bildungsprogrammen in die Region (Martinez 2007). Doch standen sie zunächst der Malerei von Tigua skeptisch gegenüber (Carmen Martínez, persönliche Mitteilung, September 2007).

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den. Die Malereien haben eine (inter-)nationale Aufmerksamkeit erreicht, die durch verschiedene komplexe Akteurskonstellationen im identitätspolitischen Feld zu erklären ist. Dabei sind zunächst die Kulturproduzenten (wie die Künstler), Kunsthändler und die zentralen Instanzen der Bewertung und Verbreitung von kulturellen Artefakten wie Kritiker, Kuratoren, Herausgeber von Kunstbänden, kulturelle Stiftungen und nicht zuletzt die Kulturkonsumenten zu nennen. Über den Innovationsschub in der Malerei von Tigua, die zuvor vor allem einen rituellen Gebrauch bei der Bemalung der Trommeln für die Corpus Christi-Feiern hatten, gibt es zwei Erzählungen mit unterschiedlicher kultureller Perspektive. Die erste kommt aus dem kulturellen Hintergrund der comunidades indígenas. Juan Toaquiza, der als Begründer der Malerei aus Tigua gilt, berichtet wie er – getroffen von der Krise der kleinbäuerlichen Landwirtschaft – sich auf den Weg zu einem Schamanen in Santo Domingo machte. Dieser gibt ihm die Vision, eine andere Arbeit zu suchen. In der gleichen Zeit nähert sich die Kunst(-handwerk)händlerin Olga Fisch den comunidades an. Olga Fisch ist eine Jüdin, die im Zweiten Weltkrieg aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Ecuador geflohen war. 2 Sie spielte die entscheidende Rolle dabei, die Kunst aus Tigua auf den Kunstmarkt zu bringen. Gleichzeitig regte sie die Künstler in den comunidades zu Innovationen an, darunter vor allem, nun nicht mehr allein auf die Trommeln, sondern auf einen mit Leder bespannten Bilderrahmen zu malen. Auf diese Weise entstanden polivalente Werke, die sowohl die identitären und geographischen Imaginationen der indigenen Gemeinschaften wiedergeben, als auch mit ihrer »naiven« und authentischen Ästhetik den Geschmack auf den europäischen und US-amerikanischen Kunstmärkten trafen. Auch ist der Einfluss ausländischer Forscher – zumeist Sozialanthropologen – zu nennen, die die Malerei aus Tigua in das akademische Feld übersetzten und – wie im Fall von Jean Colvin (2004) – auch Bildbände veröffentlichten und Ausstellungen im Ausland organisierten. Vor allem aber sprachen diese Kunstobjekte den Geschmack der internationalen Touristen an, die ihre Sehnsucht nach Exotismus, dem Natürlichen und einem idyllischen Landleben in den Bildern erfüllt sahen. Auf nationaler Ebene waren es zuerst die kulturellen Eliten, die sich – in einem beschleunigten Prozess der Modernisierung – auf die Suche nach ihren kulturellen und nationalen Wurzeln machten. Als »beherrschter Teil der herrschenden Klasse« (Pierre Bourdieu) suchten sie teilweise die Nähe zur entstehenden indigenen Bewegung. Der Erfolg der Malerei aus Tigua unter den ausländischen Touristen, dessen zunehmende Verwendung in der Werbung von Tourismus-Unternehmen und der wachsende Kunsthandwerksmarkt in Quito riefen auch in der ecuadorianischen

2 Die andine Perspektive dieses Zusammentreffens wird erzählt in Muratorio (2000: 59-60), während die Vorstellung einer Entdeckung der Kunst sich in Matheus (o.J.) findet.

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Mittelklasse eine steigende Akzeptanz der Malerei von Tigua hervor. Es ist gerade dieser Umweg über den internationalen Erfolg, der eine weitere nationale Akzeptanz befürwortete, so dass die Malerei von Tigua heute weitgehend als integraler Bestandteil des kulturellen Erbes Ecuadors angesehen wird. Der nationale Konsument kann auf diese Weise mit dem positiven Bezug auf diese Kunstform sowohl seine nationale als auch – paradoxerweise – seine kosmopolitische Einstellung deutlich machen. Im politischen Feld bewirkt diese punktuelle Akzeptanz des Indigenen als Teil des Nationalen eine Infragestellung der sonst weitgehend rassistisch-hispanistischen Kultur. Die Kulturproduzenten und Kunsthändler reagieren auf diese steigende Nachfrage insofern, als dass sie eine »Marke« aus Tigua kreierten. So ist eine Differenzierung zu beobachten, nach der einerseits Kunsthandwerk für den touristischen Markt produziert wird. Damit ging allerdings auch eine Standardisierung von Motiven und Farbmustern einher, die immer mehr zu stereotypisierten Szenen indigenländlichen Alltagslebens führte. Auf der anderen Seite konnten einige Künstler einen eigenen Stil kreieren, was die Malerei von Tigua immer mehr in den Bereich der Kunst rückte. Die translokale Verbindung mit den transnationalen Konsumenten führt aber nicht nur zu einer Kommodifizierung und Musealisierung der Kultur der Kichwa aus Tigua, sondern verstärkt die Neu-Verortung der comunidades indígenas im nationalen Imaginarium. In diesem Sinne kann diese Malerei als eine parallel zu den indigenen Mobilisierungen verlaufende Widerstandsform verstanden werden. Auf diese Weise werden diese Räume an der Randlage des Nationalstaates im nationalen Imaginarium aufgewertet, womit sich auch die »Topographie der Macht« (Ferguson 2007) in Richtung des Indigen-Ruralen verschiebt. Um die geopolitischen Imaginationen in den Bildern aus Tigua zu verstehen, sollen im Folgenden – in Anlehnung an Blanca Muratorios (2000) temporale Klassifikation – unterschiedliche Muster der Raumrepräsentation herausgearbeitet werden. Als erstes können Darstellungen der Räume des Alltagslebens identifiziert werden. Hierbei handelt es sich um auto-ethnographische Repräsentationen, die lokale Orte wie Felder und Berge, aber auch die inneren Räume von Häusern aus der Perspektive der comuneros zeigen. Doch sind diese alltagsweltlichen Räume keineswegs als in sich abgeschlossene Raumcontainer zu begreifen, vielmehr sind in mehreren Bildern Darstellungen translokaler Räume beispielsweise die Wege zu Schamanen in Santo Domingo. Dies kann in andinen Raumbegriffen, die Raum nicht als umgrenzt verstehen, sondern von relationalen Räumen ausgehen, die über

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die Kontrolle eines Maximums von ökologischen Stockwerken organisiert sind (Condarco und Murra 1987), begriffen werden. 3 Zweitens finden sich Darstellungen von utopischen Räumen. Diese Utopien nehmen oftmals Bezug auf eine idealisierte prä-koloniale Vergangenheit, bei der die historischen Widersprüche – so handelt es sich bei vielen inkaischen Niederlassungen in der Region um Mitmacuna, die von den Inkas zur Bevölkerungskontrolle eingesetzt wurden – unberücksichtigt bleiben. Der Rückgriff auf das Inkaische und Prä-Koloniale etabliert eine Linie der Kontinuität zwischen jenen Zeiten und der unsrigen, wobei die mestizisch-weiße Herrschaft als kurzes Intermezzo zwischen indigener Vergangenheit und indigener Zukunft gedeutet wird. Räumliche Elemente, landmarks wie der Vulkan Cotopaxi, werden hierbei zu Erinnerungsorten und unterstreichen durch eine Strategie der Naturalisierung die Kontinuität indigener Präsenz. Unter den utopischen Darstellungen gibt es Versuche der historischen Rekonstruktion prä-kolonialer Alltagswelten, aber auch auf den Kunsthandwerksmarkt ausgerichtete Werke im New-Age-Stil. Drittens ist in den Motiven der Malerei aus Tigua eine kritische Bezugnahme und Aneignung geopolitischer Repräsentationen des Nationalstaates festzustellen. Diese Dimension ist für die hier verfolgte Argumentationslinie der Politisierung und De-Kolonialisierung von besonderer Bedeutung. Vor allem über nationale »Logos« wie die Nationalfahne und über deren Darstellung in öffentlichen Gebäuden (besonders in der Schule) wird das Nationale in das Lokale eingeschrieben. Dies zeigt sich auch in folgendem Bild des Künstlers Francisco Toaquiza aus dem Jahr 2004. Die dargestellte Szene zeigt, wie die Nationalfahne – als ein Symbol des Nationalstaates – in das synkretistische Ritual des Bändertanzes integriert wird. In dem Bild wird die Nationalfahne von einem Berg umrahmt, der für die Indígenas dieses Gebietes ein heiliger Ort ist. Auf diese Weise ist das Nationale im Lokalen integriert, und gleichzeitig ist das Nationale integraler Bestandteil einer umfassenderen Kosmovision. Diesen Gedanken weiterführend kann auch der hier dargestellte Bändertanz als politisch-symbolisches Ritual aufgefasst werden, in dem die Beziehung der lokalen indigenen Gemeinschaften mit dem Staat imaginiert wird. Um das Bild auf dem Hintergrund andiner Kosmovisionen in seinem geopolitischen Gehalt interpretieren zu können, greife ich auf die Interpretation Sallnows zur Aneignung des Staates in der Moralökonomie der indigenen comunidades in Cusco zurück. Wir

3 Colloredo-Mansfield (2003) zeigt, wie die Migration von Tigua nach Quito, Latacunga und Otavalo, von den Indígenas nicht als Dualismus zwischen Land und Stadt interpretiert wird, sondern im Sinne der – im Kolonialteil dieser Arbeit vorgestellten – andinen Raumlogik, die von Translokalität, der Komplementarität mehrere Räume und der Konstruktion von sozialen Räumen über Verwandtschaftsbeziehungen bestimmt ist.

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können davon ausgehen, dass der zentrale Stab im Bändertanz die Sonne symbolisiert. (Colvin 2004: 93) Insofern können die Bänder als Darstellung der Sonnenstrahlen interpretiert werden. Die Sonne war für die Inkas die höchste Gottheit, was sich auch in die politische Symbolik übersetzte, galt doch der Inka als Sohn der Sonne. Wie Sallnow (1991) am Beispiel Cuscos zeigte, nimmt in den postkolonialen Gesellschaften der Staat die Rolle des Inkas ein. Abb. 5: Die Nation in der indigenen Gemeinschaft

Quelle: Toaquiza, Francisco, Baile de Cintas, 2004, in Colvin (2004: 92.)

Analog hierzu können wir argumentieren, dass in dem Bild die Nationalfahne – als Symbol des Staates an der Stelle der Sonne – auf dem Stab platziert ist. Der Staat tritt an die zentrale Stelle eines komplexen Systems von Verpflichtungen, Reziprozität und Umverteilung, was in der andinen Moralökonomie begründet ist. In der performativen Ausdrucksform des Rituals wird besonders dieser Austausch und die Zirkulation zwischen zentralem Staat und lokalen Gemeinschaften zum Ausdruck gebracht. Auch hier lässt sich wieder eine Analogie zu dem dargestellten politischen Ritual herstellen. Die in den Bändern symbolisierten Sonnenstrahlen stellen eine Verbindung zwischen Zentralstaat und peripheren indigenen Gemeinden – die comuneros halten die Bänder in ihren Händen – dar, die in der andinen Moralökonomie durch reziproke Verpflichtungen bestimmt ist. Dabei muss besonders auf die staat-

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liche Pflicht zur Umverteilung verwiesen werden, da hier die comuneros die Sonnenstrahlen empfangen. Auf der Folie dieser Lesart ist es kaum überraschend, dass die Sonne/der Staat im Zentrum des Bildes platziert ist. Doch wird diese Zentralstellung durch die etwas weiter links angeordnete Abbildung des Vulkans Cotopaxi – gemäß dem andinen Prinzip der Dualität – relativiert. In Hinblick auf die geopolitische Imagination lässt sich diese Anordnung als eine Neuverortung des Indigenen in der Nation verstehen. Der Cotopaxi, als eine andine Gottheit, ergänzt hier als duales Prinzip die Sonne – das Zentralstaatliche wird durch das randständige Indigene des Andenhochlandes komplementiert. Damit kommt es insofern zu einer Verschiebung innerhalb der »Topographie der Macht« als dass der Vulkan nun selber zu einem alternativen Symbol eines erweiterten Nationalstaates wird, in dem das ländliche Andenhochland zu einem zentralen und integralen Bestandteil der Nation wird. Über diese mimetische Inkorporation nationalstaatlicher Symbole in den lokalen lebensweltlichen Raum der indigenen Gemeinschaften hinaus, zeigen andere Bilder, wie der Staat sich – über seinen Repräsentanten – performativ in den Randzonen von Staatlichkeit manifestiert und vergegenwärtigt. In verschiedenen Bildern aus Tigua wird gezeigt, wie Staatspräsidenten – beispielsweise Rodrigo Borja (Ribadeneira 1990: 41) oder León Febrés Cordero (Ribadeneira 1990:53) in die lebensweltlichen Räume eindringen, der erste in das Innere eines Hauses und der zweite in die Landschaft der comunidad. In anderen Bildern gehen die geopolitischen Imaginationen weit über diese lokalen Räume an den Rändern des Staates hinaus und zeigen den Beitrag der indigenen Bewegung zur Staatsformation. Hiermit werden die indigenen Völker als kollektive Akteure im Zentrum der Nation verortet. Dabei kommt es zu einem geopolitischen Szenenwechsel – von den ländlichen Alltagswelten hin zu den urbanen mestizisch-weißen Machtzentren. So werden die weiß-mestizischen Provinzstädte, Straßenblockaden der indigenen Bewegung sowie die indigenen Aufstände in der Hauptstadt Quito dargestellt. Das Gemälde von Rodrigo Toaquiza aus dem Jahr 2001 zeigt die räumlichen Widerstandspraktiken der indigenen Bewegung. Im Zentrum des Bildes ist die Blockade der Panamericana – eines der zentralen räumlichen Protestmittel der Bewegung – dargestellt. Die Protestsituation wird in diesem Bild allgemein zu einem Konflikt zwischen dem weiß-mestizischen Urbanen und dem indigenen Ruralen stilisiert. Das Urbane wird hier durch moderne Gebäude und Hochhäuser sowie Bauten aus der kolonialen Altstadt repräsentiert. Die hegemoniale geopolitische Machtordnung wird durch die Einfügung von Nationalfahnen auf den Gebäuden der Hauptstadt verdeutlicht. Die Hauptstadt wird als ökonomische und politische Machtzentrale des Nationalstaates gesehen. Während die Hochhäuser Modernität und die ökonomische Macht darstellen, von der die Indigenen ausgeschlossen sind, verweisen die Kolonialbauten auf die Kontinuität post-kolonialer Tiefenstrukturen,

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wie v.a. den Rassismus. Die Stadt wird als geschlossener, feindlicher Raum dargestellt, fast wie eine Festung, die nicht offen für die Inklusion der indigenen Bevölkerung ist. Abb.6: Indigener Aufstand

Toaquiza, Rodrigo, ohne Titel, 2001, in Colvin 2004: 115.

Diesen Räumen sind jeweils unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zugeordnet, die als antagonistische Kräfte aufeinandertreffen. Zu dem urbanen Raum gehört die politische Elite – symbolisiert durch den damaligen Präsidenten Gustavo Noboa –, die durch Militärkräfte vor der indigenen Mehrheit geschützt werden. Das Ländliche oder Indigene dagegen wird als offener Raum dargestellt, der sich durch bestellte Felde und grüne Weiden auszeichnet. Die mit Ponchos und Hüten bekleideten Indigenen werden als protestierende Einheit und – gegenüber der weißen Elite – als Bevölkerungsmehrheit dargestellt. Es fällt auf, dass die Mehrheit der im Bild dargestellten Nationalfahnen auf der Seite der indigenen Demonstrationen zu finden ist, die damit ihre Verbundenheit mit der Nation zum Ausdruck bringen. Unter den Demonstranten steht die Nationalfahne neben der whipala, der Regenbogenfahne der indigenen Bewegung, ohne einen Gegensatz darzustellen. Ganz im Gegenteil kommt hier zum Ausdruck, dass es zwischen dem Indigenen und dem Nationalen keinen Gegensatz, sondern vielmehr eine enge Verbindung gibt. Dieser Eindruck wird durch die Parolen, die die indigenen Demonstranten auf Spruchbändern mit

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sich führen, bestärkt. So wird auf einigen Transparenten die Verbundenheit von Indigenen und Mestizen angerufen »Keine Übergriffe mehr auf die Brüder des ecuadorianischen Volkes«. Und neben den Hochrufen auf die CONAIE finden sich auch populare, interethnische Forderungen gegen die neoliberale Politik der Regierung. Der politische Antagonismus wird durch die Personalisierung im Bilde verstärkt, so stehen sich symbolisch der Präsident Ecuador, Gustavo Noboa, und der Präsident der CONAIE, Antonio Vargas, gegenüber. Die Mestizen dagegen sind in einer Art Wartezustand zwischen den antagonistischen Blöcken, was sich symbolisch darin ausdrückt, dass sie sich in den durch den Konflikt gestoppten Bus und dem Auto befinden. Im Hintergrund des Bildes wiederholt sich der Konflikt zwischen weißen urbanen Eliten und Indigenen im Lokalen. Inmitten des ländlichen Gebietes wird eine typische Provinzstadt im spanisch-kolonialen Stil dargestellt, die ebenfalls wie eine Festung erscheint. Dieser nähert sich eine Gruppe indigener Demonstranten, um mit dieser lokalen Macht zu brechen. Wie auch in den anderen Bildern bestimmen die Vulkane – hier unter anderem der Pichincha– die Imagination nationaler Landschaft. Wobei in diesem Fall durch den austretenden Rauch die soziale Konfliktivität durch die Referenz zur Natur und der Gefahr eines Vulkanausbruches gespiegelt und überhöht wird. Diese Konfliktivität ist nun nicht nur in den Bildern dargestellt, vielmehr stellen die Bilder selbst im Sinne von signifiying practices konfliktive Infragestellungen der hegemonialen geographischen Imaginationen der Nation dar. Blanca Muratorio (2000: 58) hat zu Recht argumentiert, dass die Bilder trotz der Tendenz zur Vermarktung verstanden werden können als eine wirkmächtige Bildsprache, als visueller Diskurs, der den sozialen Organisationsprozess indigener Bewegungen begleitet und verstärkt. Wenn in Hinblick auf den indigenen Organisationsprozess die identitätspolitische Strategie der Mimesis von zentraler Bedeutung war – was in der Gründung der comunas, der räumlichen Organisation der Bewegung, sowie der Machtnahme des municipio seinen Ausdruck findet –, so ist die Malerei von Tigua von einer davon abweichenden Logik der Alterität gekennzeichnet. Mit der Darstellung räumlicher Alltagspraktiken, der Skizzierung anti-hegemonialer geographischer Imaginarien und der Infragestellung und Aneignung des staatlichen Raumes stellen diese Kulturproduktionen ein Medium der Reflexion über die eigene Verortung der indigenen Gemeinschaften im nationalen Panorama dar. Die Bilder zeigen, dass trotz der staatlichen Assimilationstechniken auch andere Räume mit anderen Logiken, Welten und Lebensformen existieren, die gleichermaßen das Recht beanspruchen, integraler Bestandteil der Nation zu sein. Weit davon entfernt, den Staat durch Desintegration oder gar Sezession zu schwächen, zeichnen sich diese geographischen Imaginationen vielmehr dadurch aus, dass die Indigenen in der Selbstwahrnehmung als Protagonisten im Prozess post-kolonialer Staatsformation gesehen werden.

Das Ende von Kolonialität oder Kolonialität ohne Ende

In der Verfassung von 1998 wurde der ecuadorianische Staat grundlegend als »ein sozialer Rechtsstaat, der souverän, unabhängig, demokratisch, pluri-kulturell und multiethnisch ist.« (Constitución política de la república del Ecuador 1999) definiert. Damit wurde die indigene Bevölkerung erstmals nach der Unabhängigkeit in ihrer kulturellen Differenz und als integraler Bestandteil des ecuadorianischen Staates anerkannt, was gleichzeitig als Bruch mit konservativen und liberalen, an europäischen Vorbildern orientierten geopolitischen Imaginarien der homogenen Nation zu begreifen ist. Angesichts des Ausschlusses der indigenen Bevölkerung aus dem politischem Raum im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts können diese Veränderungen in ihrer Reichweite kaum überschätzt und durchaus als Revolution in der politischen Kultur des Landes bezeichnet werden. Mit dieser Verfassungsänderung reihte sich Ecuador in eine lateinamerikaweite Konjunktur der Anerkennung ethnischer Differenz ein. So gab es in den 1990er Jahren in mehreren Ländern Verfassungsänderungen – so in Kolumbien (1991), Peru (1993), Bolivien (1994), Venezuela (1999) –, die den indigenen Völkern erheblich mehr Rechte zustanden und die betreffenden Staaten als multikulturell und pluri-ethnisch definierten. Darüber hinaus wurde die ILO-Konvention 169 von Kolumbien (1991), Bolivien (1991), Peru (1994), Ecuador (1998) und Venezuela (2002) unterzeichnet. International gipfelte die Konjunktur der Indigenität, 1 die sich in dem internationalen Jahr der indigenen Völker (1993) und den UN-Dekaden für die indigenen Völker der Erde (1995-2005 sowie 2005-2015) ausdrückte, in der 2007 verabschiedeten UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker. Wie kaum eine andere politische Bewegung in Ecuador hat es die indigene Bewegung in den 1990er Jahren vermocht, die Sicht- und Teilungsprinzipien der sozi-

1 Mit der Globalisierung der »indigenen Frage« ist das Konzept der Indigenität aufgekommen, das – jenseits des aktuellen Aufmerksamkeits-Booms – auch neuer Reflektionen zum Andenraum angestoßen hat. (de la Cadena und Starn 2007, Canessa 2012, Kaltmeier 2017)

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alen Welt derart grundlegend zu verändern, dass Plurikulturalität, Multilingualität und in der Verfassung von 2008 sogar Plurinationalität und die Rechte der Pachamama – der Mutter Erde – in die Verfassung Einzug gehalten haben. (Quintero 2009: 75-92) Diese Veränderungen resultieren aus der von der indigenen Bewegung getragenen Konjunktur der Dekolonialisierung. Entgegen der in vielen Arbeiten zur indigenen Bewegung seit den 1970er Jahren vertretenen These, dass diese Bewegungen neu aus dem Zusammentreffen von kirchlichen Akteuren und indigenen Gemeinschaften entstanden seien, wurde hier argumentiert, dass eher von eine Überlappung sozialistischer Indio-Bewegung und neuer Indígena-Bewegung gesprochen werden kann. In den nach der Agrarreform abflauenden Mobilisationszyklus der sozialistischen und kommunistischen indigenen Bauernbewegung trat die neue indigene Bewegung ein. Durchaus kann argumentiert werden, dass die FEI es nicht mehr vermochte, die indigenen Anliegen in den nationalen Raum zu übersetzen und zu vertreten. Ein Hauptproblem bestand darin, dass es aus diesem politischen Zusammenhang keinen Vorschlag für die Zeit nach der Hacienda gab. Hier setzte der neue Mobilisationszyklus ein, der auf dem erfolgreichen Kampf gegen die Hacienda aufbaute und den Aufbau indigener Organisationen betrieb. Hier ist nun kein radikaler Bruch mit dem sozialistischen Mobilisationszyklus festzustellen, vielmehr gab es hier durchaus, wie am Beispiel Yanaurco mit dem Einfluss der Fadi und der Comisión de Haciendas zu sehen war, eine Fortdauer linker Mobilisierung. Wenngleich sich mit den Katechisten und den späteren Casas Campesinas und indigenen Organisationen eine neue Gruppe von dirigentes ausbildete, so gab es zwischen dieser und der vorangegangenen Generation einen engen Austausch, der zum Teil durch Verwandtschaftsbeziehungen bestimmt war. So war beispielsweise Rafael Salazar, ein dirigente, der mit der FEI zusammenarbeitete, der Vater des späteren Präsidenten der Jatarishun, Jorge Salazar. Es scheint, dass sich in den indigenen Organisationen hauptsächlich diejenigen Familien durchsetzten, die bereits in der Kolonialzeit, vor allem aber in der Hacienda einflussreich waren. Aus der Perspektive der Sozialgeschichte und der sozialen Bewegungstheorie ist zu fragen, wie es dazu kam, dass ausgerechnet die unsichtbare, einflusslose und rassistisch diskriminierte Gruppe der Indigenen zu einem der stärksten antihegemonialen politischen Akteuren in Ecuador werden konnte, also eine Gruppe, die wie Boaventura de Sousa Santos schreibt »deren Präsenz in der Geschichte von der eurozentrischen kritischen Theorie nicht vorgesehen war. « (Santos 2010: 36) Theoretisch sind hiermit auch Fragen nach der geopolitischen Reichweite von Gesellschaftstheorien verbunden, die lokal im Westen entwickelt wurden, die aber universelle Gültigkeit beanspruchten. So gut Konzepte wie Arbeiterklasse, Mittelschicht, Gewerkschaften, politische Parteien angewendet werden können, um gesellschaftliche Dynamiken der westlichen Moderne zu analysieren, so können mit diesen Konzepten die von Kolonialität geprägten gesellschaftliche Konfliktlagen

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nur unzureichend erfasst werden. In der in historischen Konjunkturen immer wieder erneuerten und veränderten Kolonialität bleibt die Möglichkeit der Bildung eines politischen Antagonismus zwischen Kolonialisierten und Kolonisatoren latent. Dies gilt umso mehr, so lange es keine Begleichung der historischen Schuld gibt. Deshalb sind in von Kolonialität geprägten Gesellschaften gerade jene subalternen Akteure in den Blick zu nehmen, die – wie indigene Völker – einen politischen Antagonismus an dieser gesellschaftlichen Konfliktlinie bilden können. Die besondere Konfliktivität der Mobilisierungen seit den 1990er Jahren ist dabei auch darauf zurückzuführen, dass es die indigene Bewegung vermochte, andere Konfliktlagen aufzugreifen. Sozialstrukturell kann argumentiert werden, dass die neoliberale Wende der 1980er Jahre gesellschaftliche Polarisierungs- und Verarmungsprozessen mit sich brachte, die einerseits das objektive Verschwinden der Arbeiterklasse beförderte und andererseits zu einer Differenzierung von Lebensstilen beitrug. (Boris 1998: 20-26) Diese sozio-strukturellen Veränderungen waren ab Ende der 1980er Jahre und verstärkt in den 1990ern Jahren begleitet von symbolischen und diskursiven Brüchen, die mit dem Kollaps des realexistierenden Sozialismus und der Unterdrückung durch Militärdiktaturen klassenkämpferische Ansätze an den Rande des »Unsagbaren« drängten. Von dieser symbolischen und soziostrukturellen Krise war auch die Parteienlandschaft betroffen, deren sozialistisch-, sozialdemokratisch- ja auch christdemokratisch-orientierte Parteien in eine sozialstrukturell und ideologisch-bedingte Repräsentationskrise gerieten, was in Ecuador den historisch ohnehin einflussreichen Populismus verstärkte. (Quintero 2005, Andrade 2003) Auf der anderen Seite waren breite, verarmte Bevölkerungsgruppen von politischer Teilhabe, im Sinne von Repräsentation im politischen Feld, ausgeschlossen. In dieses identitätspolitische Vakuum stießen die indigenen Bewegungen, die sich seit den 1970er Jahren in Lateinamerika untergründig formiert hatten und in den 1990ern eine zunehmende Sichtbarkeit erzielten. Im Gegensatz zu den als korrupt angesehenen Berufspolitikern genossen sie allgemein, auch in der Gesamtbevölkerung, wegen der ihren zugeschriebenen hohen politische Moralität und Unverbrauchtheit ein hohes Ansehen, das sie zum Teil in politisches Kapital umsetzen konnten. 2 Ihr Ansehen wurde gestärkt durch eine schon seit den 1980er Jahren bestehende Verquickung mit dem ökologischen Diskurs, eine Verbindung zu den

2 1995 wurde mit der Partei Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik - Nuevo País der »politische Arm« der ecuadorianischen Indígena-Bewegung gegründet. Bemerkenswerterweise stammt ein Großteil der Stimmen (landesweit 10,8 Prozent (1996) und 9,22 Prozent (1998) aus dem urbanen Milieu (v.a. Quito) und ein nur geringerer Anteil aus den indigenen comunidades. Guerrero und Ospina nennen drei Pools, aus denen die ca. 10 Prozent der Stammwähler für Pachakutik stammen, das Mitte-Links-orientierte urbane Milieu, die Nichtwähler und die ländlichen comunidades. (Guerrero und Ospina 2003: 199)

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zivilgesellschaftlichen Diskursen des Kampfes um Rechte und durch eine antineoliberale Positionierung. Insofern kann für Ecuador argumentiert werden, dass die indigene Mobilisierung ihre Kraft gerade daraus bezog, dass von der indigenen Bewegung nicht nur partikulare, enge Gruppeninteressen, sondern allgemeine Belange subalterner Bevölkerungssegmente vertreten wurden. »Indígena« bezeichnete somit nicht allein eine ethnische definierte Gruppe im Sinne ethnologischer Klassifikation, sondern den Pol der Subalternen in einem System (rassistischer) Herrschaft. Anschließend an die politische Philosophie von Jacques Rancière kann das Konzept »Indio« somit als eine politische Subjektivierungsform begriffen werden, die den stigmatisierenden Begriff des Gegners aufnimmt, ihn umdreht, um »daraus eine offene Subjektivierung der Ungezählten zu machen, einen Namen ohne eine mögliche Verwechselung mit einer gesellschaftlichen Gruppe, mit irgendeinem Identitätsausweis.« (Rancière 2002: 135) Die Massenproteste zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die mit Parolen wie »Nada sólo para los indios« (Acosta et al. 2001) geführt wurden, brachten die fundamentalen Ansprüche nach Demokratisierung und gesellschaftlicher Umverteilung zum Ausdruck. Soziologisch gewendet kann argumentiert werden, dass die IndígenaBewegung durch die Distinktion zu den herrschenden politischen Eliten die Einführung neuer, häretischer Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt und auf Grund der durch die Massendemonstrationen erreichten Sichtbarkeit politisches Kapital gerade auch unter mestizischen Gruppen akkumulieren konnten, was ihre Machtposition im politischen Feld verstärkte und wiederum Rückkoppelungseffekte auf die Gemeinschaftsbildung hatte. So nahm die indigene Bewegung die anti-hegemoniale Führungsrolle auch im politischen Feld an, indem sie 1995 mit dem Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik Nuevo País (MUPP-NP) eine politische Bewegung gründete, die ein Jahr später in Allianz mit linken und sozialdemokratischen Parteien an den Wahlen teilnahm und mehr als 20% der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Die Beteiligung von Pachakutik an der Regierung von Lucio Gutiérrez (2003-2005), der mit Unterstützung der indigenen Bewegung die Regierung Mahuad gestürzt hatte, war zweischneidig. Einerseits besetzten Indigene erstmals in Ecuador Ministerien, andererseits wurde aber die Politik Gutiérrez als Verrat wahrgenommen, da er ein antineoliberales Programm und – Gutiérrez kommt aus dem Tiefland – einen Bruch mit den bislang vorherrschenden Eliten aus Hochland und Küste versprach, letztlich aber die vorherrschende neoliberale Politik weiterführte. In der indigenen Bewegung kam es so zu Spaltungen und zu einem politischen Legitimationsverlust, vor allem unter der nicht-indigenen Bevölkerung. Die Anerkennung zentraler kultureller Forderungen in den 1990er Jahren erfolgte in einer politischen Kontextstruktur, die stark vom Neoliberalismus geprägt war. In Ecuador – wie auch in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern – lässt

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sich hier eine Verquickung von Neoliberalismus und Neo-Indigenismus beobachten. Bemerkenswert ist, dass die Forderungen der indigenen Bewegung nach kultureller Anerkennung partiell erfüllt wurden, während die Forderungen, die Verteilungsgerechtigkeit und soziale Veränderungen betrafen, ignoriert wurden. (vgl. hierzu die Analyse der Diskussion um die Verfassung von 1998 bei Andrade 2007) Vielfach ist darauf hingewiesen worden, dass neo-indigenistische Anerkennungspolitiken als spezifische Kooptationsstrategien des Staates betrachtet werden können, die darauf zielen, radikale politische Bewegungen – wie die CONAIE – zu befrieden. (Bretón 2005) Dazu wurden nicht nur die herkömmlichen paternalistischen und klientelistischen Formen der Kooptation genutzt, sondern auch neue Regierungstechniken produziert. Im Zuge neo-indigenistischer Regierungstechniken erfolgte eine partielle Anerkennung kultureller Rechte, Bevölkerungsgruppen wurden – zum Teil mit essentialistischen Konzepten – ethnisiert und entsprechende Programme wurden auf die derart konstruierten Zielgruppen und Räume zugeschnitten. (Ibarra 1992) Die unterschiedlichen Regierungsstrategien haben gemein, dass sich die indigene Bevölkerung – in den Grenzen des staatlich gesetzten Rahmens – selber regierte, wobei das soziale Kapital indigener Gemeinschaften – so das entsprechende Weltbank-Konzept seit Mitte der 1990er Jahre – genutzt werden sollte. (Carroll 2002, Bebbington und Torres 2001, sowie kritisch Martínez 2005, Kaltmeier 2008, Bretón 2005) Dabei kam es lateinamerikaweit zur Etablierung neuer neo-indigenistischer staatlicher Institutionen, welche die traditionellen indigenistischen Vermittlungsinstanzen ersetzten. 3 Auch der ecuadorianische Staat bewies gegenüber den Anerkennungsforderungen der indigenen Bewegung eine erstaunlich große Offenheit, während er die in allen Aufständen präsenten Forderungen nach Umverteilung oder Transformation

3 Zu nennen sind in Chile die CONADI, in Ecuador CODENPE und selbst in Mexiko ersetzt seit 2003 die Comisión Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indígenas das traditionsreiche Instituto Nacional Indigenista. Auch in Peru wurde das 1946 gegründete Instituto Indigenista Peruano 1996 unter der Fujimori-Regierung aufgelöst. 2001 kam es dann vor allem unter dem Druck der Tiefland-Indígenas in Koalition mit der Weltbank zur Gründung der Comisión Nacional de Pueblos Andinos, Amazónicos y Afroperuanos (CONAP). Dieses wurde 2005 unter der Regierung von Alejandro Toledo, dessen Frau – eine belgische Anthropologin – das Indígena-Thema zur Chefsache machte, durch das Instituto Nacional de los Pueblos Andinos, Amazónicos y Afroperuanos (INDEPA) ersetzt. In den meisten Fällen haben diese Behörden nicht den Rang eines Ministeriums, unterstehen direkt dem Präsidenten, stellen »etno-desarrollo« in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten und entwickeln Partizipationsmechanismen für die indigene Bevölkerung. In Venezuela wurde von der Chávez-Regierung ein Ministerium für indigene Völker geschaffen, an dessen Spitze die ehemalige Präsidentin der nationalen Indígena-Organisation CONIVE steht.

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des gesellschaftlichen Modells – abgesehen von den Aufständen, die zum Sturz eines Präsidenten führten – unbeachtet ließ. Über den pluriethnischen und multiethnischen Charakter des Landes gab es in den Debatten zur Verfassung von 1998 keine nennenswerten Widerstände, eine von Iindigenen geführte staatliche Instanz für interkulturelle, bilinguale Bildung (DINEIB) wurde eingerichtet und die neu geschaffene staatliche Indígena-Behörde CODENPE übernahm sogar das ethnische Klassifikationsschema der CONAIE. Im gleichen Jahr begann in Ecuador das von der Weltbank konzipierte Pilot-Projekt PRODEPINE, das mit Rückgriff auf das Konzept des Sozialkapitals an den regionalen Organisationen der Indígena-Bewegung ansetzte, um diese zu professionalisieren und zur eigenverantwortlichen Konzeption und Durchführung von Entwicklungsprojekten anzuregen. (Bretón 2005) Das Modell des »Regieren durch Gemeinschaft« (Rose 2000) gewann insofern an Bedeutung, als dass Entwicklungstechniker in den comunidades starke soziale Bindungen vermuteten, die für Entwicklungsprojekte und zur politischen (Selbst-)Kontrolle der Indigenen genutzt werden konnten. (Martínez 2005) Damit wechselt aber auch der Schauplatz; zum einen werden die Bewegungen auf ethnische Ansprüche reduziert und zum anderen werden ihre Ansprüche nicht mehr im politischen Feld verhandelt, sondern eine Frage technokratischer Anwendung, Abwicklung von Projekten und polizeilicher Verwaltung. Die Bewegungsorganisationen (comunidades, OSG, Dachverbände, etc.) werden nicht mehr als politische Akteure gesehen, sondern als Entwicklungsagenturen angerufen. Entwicklung fungiert hier als »anti-politicsmachine« (Ferguson 1990). Probleme wie die Entfremdung zwischen dirigentes und der Basis, Korruption, oder der Verlust des politischen Profils der Bewegung waren die konkreten Folgen an der Basis, während strukturell keine Verbesserung der Armutsraten durch Entwicklungsprojekte erzielt werden konnte (Bretón 2001). Und so traf die CONAIE im Juli 2005 die Entscheidung, eine geplante Verlängerung des Programms mit der Begründung abzulehnen, dass diese »keine Entwicklung der indigenen Völker« vorangebracht hätte und es die »Entideologisierung« der Bewegung und »Kooptation« der Führungspersönlichkeiten bewirkt hätte. 4 Dies wirkte nun freilich nicht allein auf die lokale Ebene zurück, denn hier bezogen OSGs wie die Jatarishun ihr symbolisches Kapital nun gerade aus der Tatsache, erfolgreich Entwicklungsprojekte durchführen zu können. An der Ausarbeitung eines Projektantrags der Jatarishun für eine internationale Organisation der Entwicklungszusammenarbeit war ich selber beteiligt. Hier wurde deutlich, wie sehr auch eine OSG, die federführend bei den Aufständen der 1990er und 2000er Jahre war, von modernisierungstheoretischen Entwicklungsvorstellungen geprägt ist, und von wie geringer Bedeutung –

4 Boletín ICCI-ARY Rimay, Año 7, No. 76, Julio del 2005, Editorial La CONAIE, dice no al Banco Mundial http://icci.nativeweb.org/boletin/76/editorial.html

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vor allem auf der Ebene der dirigentes– alternative, auf Nahrungssicherheit basierende Entwicklungsvorstellungen waren. Statt auf ein »andines agro-ökologisches System« mit Fruchtwechsel und Mischkultur zu setzen, wurde agrotechnologischer Fortschritt in Form von Monokultur und Verbesserung der Milchviehrassen favorisiert. Insofern waren hier deutlich auch Brüche zwischen dem kritischen Diskurs der Leitungsebene der CONAIE und den lokalen Anliegen der OSGs festzustellen. Politisch hatte der indigene Mobilisationszyklus Mitte der 2000er Jahre seinen Zenit überschritten. In Ecuador wurde dies an dem Konflikt um die verfassungsgebende Versammlung – deren Einberufung eine zentrale Forderung der CONAIE gewesen war – deutlich. Schon unter den Abgeordneten der verfassungsgebenden Versammlung waren die indigenen Organisationen – im Gegensatz zur nahezu zeitgleich verlaufenden verfassungsgebenden Versammlung in Bolivien – wenig vertreten, und ihre Anliegen wurden über interethnische Allianzen vor allem von dem Präsidenten der Versammlung, dem mestizischen Intellektuellen Alberto Acosta, vertreten. In der Versammlung traten dann aber Konflikte zwischen Correa auf der einen und der indigenen Bewegung und Acosta auf der anderen Seite zu Tage, die sich in der Folgezeit verschärfen sollten. Es kam zum Bruch, so dass Alberto Acosta als Präsident der verfassungsgebenden Versammlung zurücktrat. Die CONAIE entzog Correa den Regierungsstab, den sie ihm bei dessen Amtsantritt in einer symbolischen Zeremonie in Zumbahua übergeben hatte, und alle drei relevanten landesweiten Indígena-Organisationen – die CONAIE, die sozialistische FENOCIN und die evangelikale FEINE – verbündeten sich gegen Correa. In dem Konflikt können zwei Hauptstreitpunkte identifiziert werden. Als erstes vertrat Correa eine andere Vorstellung der Rekonstruktion von Staatlichkeit. Während die indigene Bewegungen ein neo-korporativistisches Modell (Ospina 2011) bevorzugten, das neben den individuellen Persönlichkeitsrechten auch kollektive Rechte betont und diesen einen Ort im Staatsapparat zuweist, vertritt Correa ein liberales Staatsbürgermodell, das einzig auf individuellen Rechten gegenüber dem Staat beruht. Entsprechend schaffte Correa die Instanzen der ethnischen Anerkennungspolitik der 1990er Jahre, wie die Dirección Nacional de Educación Intercultural y Bilingüe (DINEIB) ab und beschränkte CONDENPE. Diese staatlichen Instanzen hatten zuvor einen hohen Grad an Autonomie und waren keinem Ministerium direkt zugeordnet, ihre Administration erfolgte größtenteils durch die Indigenen. Der zweite Konfliktpunkt betrifft die Wirtschaftspolitik. Correa verfolgt ein dem linken desarrollismo verpflichtetes Wachstums- und Entwicklungsmodell, das ökologische Erwägungen trotz der Verfassungsänderung hintanstellt und ganz in der gegenwärtigen Konjunktur des Neo-Extraktivismus, eine auf Ausbeutung der Naturressourcen basierenden Wirtschaftspolitik, in Lateinamerika steht. Hier gibt es vor allem Konflikte um das Bergbaugesetz (Ley de Minería) und um die Erdölför-

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derung, wie sie beispielhaft im Konflikt um den Nationalpark Yasuní im Gebiet des Ishpingo, Tibutini und Tambucocha (ITT), der von der Vereinten Nationen zum Schutzgebiet erklärt wurde, zum Ausdruck kommt. Während die Indigenen auf den Schutz der Pachamama und ihre Autonomierechte drängen, betont die Regierung Correa die Notwendigkeit der Ausbeutung um gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Über diese inhaltlichen Streitpunkte hinaus kam es mit der Regierung Correa und dessen politischer Bewegung Alianza País zu einer politischen Fragmentierung der indigenen Bewegung im Lokalen – so auch in Saquisilí –, da dirigentes aus politischem Opportunismus und individueller Strategie in die Reihen der Regierungspartei wechselten. Die vormals enge Kopplung von indigener Bewegung und Pachakutik wurde aufgebrochen und deren hegemoniale Stellung in Saquisilí abgelöst. Die indigene Bewegung steht damit am Scheideweg von ethnischer Singleissue-Bewegung und gesamtgesellschaftlichen Akteuren im politischen Feld. León Zamosc und Nancy Grey argumentieren, dass in Ländern mit einem hohem Anteil indigener Bevölkerung wie Bolivien, Guatemala und – mit Einschränkung – Ecuador das quantitative Argument der Demographie es ermöglicht, auf nationaler Ebene Einfluss zu nehmen, was in den Ländern mit einem geringen Anteil indigener Bevölkerung schwieriger ist, so dass diese indigenen Gruppen eher Modelle lokaler Autonomie und partieller Anerkennung vorziehen. (Grey und Zamosc 2005) Eng mit diesem Argument verbunden ist die Gegenüberstellung von Hoch- und Tiefland-Indígenas – besonders in den Andenländern. Hier liegen eine unterschiedliche demographische Dynamik und Geschichte interkultureller Beziehungen vor. Während erstere früh vor allem über das Hacienda-Regime und den Bergbau in kapitalistische Ausbeutungssysteme integriert wurden und Kontakte zur Arbeiter- und Bauernbewegung entwickelten, sind die Tiefland-Indígenas später mit Folgen kapitalistischer Modernisierung konfrontiert worden. Zudem liegen unterschiedliche politisch-kulturelle Logiken vor. Während die andinen Hochland-Indígenas in das hierarchisch-organisierte Inka-Reich integriert waren, lebten Tiefland-Indígenas, eher in »sociedades de cacicazgos« in denen herrschaftsverhindernde Mechanismen zu finden sind. Dies mag ein Faktor sein, weswegen die Andenbewohner sich als »Staatsfreunde« eher an den Staat richten, während die »Staatsfeinde« (Clastres 1976) im Tiefland auf Autonomie bedacht sind. Die erste Option wäre, als pressure-group für indigene Forderungen im politischen Feld zu agieren, um dort ethnische Partikularinteressen zu vertreten. Damit würde die Bewegung ein kleines, aber relativ homogenes Milieu des sozialen Raums repräsentieren, das in einem geschlossenen Gemeinschaftskonzept vertreten wäre. Wahrscheinlich wäre, dass der Staat mit einer begrenzten Anerkennungspolitik zur Befriedigung der Interessen bei Beibehaltung der herrschenden gesellschaft-

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lichen Ordnung reagieren würde, womit auch die Bedeutung der Bewegungen im politischen Feld schmelzen würde. Bei Schwächung der Bewegung – wie dies aktuell unter der Regierung Correa der Fall ist – schienen zunächst eher Rückzugsstrategien zu überwiegen. Der Kampf um Hegemonie im politischen Feld wurde zurückgestellt, und bei gleichzeitig geringer werdender Attraktivität der indigenen Positionierung für mestizische Sektoren erfolgte eine Beschränkung auf indigene comunidades. Es handelte sich dann um eine anti-hegemoniale Strategie, die nicht auf die Ausweitung von Machtpositionen im politischen Feld bedacht ist, sondern um die Sicherung des Zusammenhalts von lokalen Gemeinschaften, die unter diesen Bedingungen als Akteure im politischen Feld nicht mehr in Erscheinung treten. Diesem Ansatz entsprechend setzte sich in der CONAIE nach dem Bruch mit der Regierung Correa zunächst die Vorstellung eines dualen Staates durch, der in Teilen der Bewegung durchaus auch als Erneuerung des kolonialen Systems der zwei Republiken diskutiert wurde. (Kowii, persönliche Mitteilung 2006) Seinen stärksten Ausdruck fand diese Position unter dem Eindruck des Scheiterns der Zusammenarbeit mit Correa in der vorgetragenen Erklärung vom Oktober 2010, in der die CONAIE u.a. fordert: »Den plurinationalen Staat im Inneren jedes Volkes und jeder Nationalität auszuüben, und zwar über die kommunitären Regierungen und in voller Ausübung der kollektiven Rechte an Land und Territorium sowie in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Recht, Naturressourcen, Biodiversität, Wasser, Páramos, und anderer, die das Sumak Kwasay wichtig sind.« (CONAIE, 26.10.2010)

Zudem wurde den staatlichen Instanzen die Einmischung in indigene Territorien verboten. Die zweite Option der indigenen Bewegung besteht in der Ausweitung der Hegemonie, was vor allem bedeutet, über die indigene Identifizierung hinaus auch andere, nicht spezifisch indigene subalterne Milieus im politischen Feld zu repräsentieren. Dies ist für die indigene Bewegung allerdings nicht ohne Risiko, denn die hegemoniale Ausweitung im Sinne einer »Indianisierung der Volksbewegung« (Gabriel 1997) bedeutet gleichzeitig eine De-Indianisierung der IndígenaBewegung. 5

5 Somit stehen sich idealtypisch zwei Positionen entgegen, eine die den indigenen Anspruch betont und eine zweite, die den subalternen Anspruch betont. Diese Unterscheidung ist keine reine akademische Übung, da beide Positionen unterschiedliche Ansprüche an die indigene Bewegungen und ihr Agieren im politischen Feld herantragen. Während es in der ersten Position um eine Verbesserung der Lebenssituation der indigenen Bevölkerung geht, die sich von der Restbevölkerung abgrenzt, beerbt die zweite Position die Arbeiterbewe-

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War in den 1990er Jahren bis 2006 die gemeinsame Abwehrreaktion auf neoliberale Politik ein Ansatzpunkt für interethnische Allianzen, so ist diese Option seit dem Antritt der Regierung Rafael Correa, seit 2007, verschlossen. Dies zeigte sich bei den Wahlen 2013. Hier hatte Patchakutik in Koalition mit der linksgerichteten Movimiento Popular Democrático (MPD) das Correa-kritische, linke Wahlbündnis Unidad Plurinacional de Izquierdas gegründet, das mit dem Spitzenkandidaten Alberto Acosta antrat und nur 3,9 % der Stimmen erhielt, während Rafael Correa mit 57 % der Stimmen seine dritte Amtszeit antreten konnte. Wenngleich die Regierung Correa nun schon mehr als fünf Jahre im Amt ist, so scheint die Organisation der Alianza Pais doch weitgehend auf die Person Rafael Correas ausgerichtet zu sein, so dass die Zukunft der Bewegung im Falle eines möglichen Abtritts Correas offen ist. Die indigene Bewegung dagegen ist – trotzt der vorübergehenden Krise – die am besten organisierte und mobilisierungsstärkste soziale Bewegung Ecuadors. Jenseits dieser konjunkturellen Dynamik stellt sich hier auch die Frage nach der Fortdauer von Kolonialität. Im Verlauf dieser Arbeit konnte herausgearbeitet werden, wie die interne Kolonialisierung über das Hacienda-Dispositiv Kolonialität über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg zementiert hatte. Wenngleich die Agrarreform ein (wohl nicht intendiertes) Machtvakuum produzierte, das von den indigenen Gemeinschaften genutzt wurde, so blieb die grundlegende Verteilung von Land und Ressourcen ebenso unberührt wie der Ausschluss von politischer Partizipation, die erst mit der Wahlrechtsänderung 1978 gewährleistet wurde. Im gesellschaftlichen Imagniarium setzte sich der liberale Stereotyp fort, so galten die Indigenen weiterhin als faul, ungebildet, trunksüchtig und unzivilisiert. (Prieto 2004, de la Torre 1999) Diese bis Ende der 1980er Jahre ungebrochene Fortdauer von Kolonialität geriet mit den Mobilisierungsprozessen der 1990er Jahre und der massiven Konjunktur der De-Kolonialisierung in die Krise. Als erstes ist hier die Infragestellung des rassistischen ethnischen Klassifikationsschemas zu nennen. Hier ist keine einfache Umkehrung der ethnischen Hierarchie zu konstatieren, vielmehr führte die indigene Bewegung mit Plurinationalität ein eigenes Konzept im identitätspolitischen Feld ein. Die Genealogie dieses Konzeptes ist eng mit der Entstehung der neuen Indígena-Bewegung in Form der CONAIE verbunden. Luis Macas, ein »dirigente histórico« der CONAIE stellt heraus, wie bei den Treffen, die zur Gründung des indigenen Dachverbandes führten, bereits 1984 das Konzept der »nacionalidades« gewählt wurde. (Macas 2009: 92) Dieses findet sich auch in der Selbstbezeichnung der CONAIE als Dachverband der indigenen Nationalitäten wieder. Die Wahl des Nationen-Begriffes ist als selbstbewusste Abgrenzung von dem damaligen Begriff

gung in dem Anspruch, neoliberaler Politik entgegenzutreten und eine soziale Revolution anzuführen, an der weitere subalterne Gruppen beteiligt sind.

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der ethnischen Minderheit zu begreifen (Lucero 2003) und bietet zudem Anschlüsse an das Völkerrecht. In Ecuador differenzierte sich das Konzept der indigenen Nationalitäten mit der weiteren Anerkennungspolitik aus und fand im Rahmen der 1998 gegründeten Indígena-Behörde CODENPE auch offizielle Anerkennung. Während es 1988 noch acht nacionalidades waren, die staatlich anerkannt werden sollten, waren es zehn Jahre später bereits dreizehn, die sich im Falle der größten nacionalidad, der Kichwa des Hochlandes, in 14 Pueblos unterteilte. (Guerrero und Ospina 2003, Lucero 2003) Es scheint allerdings, dass das Nationen-Konzept bereits aus der Zeit des sozialistischen Mobilisierungszyklus‘ herrührt. Denn in Anschluss an Stalins Nationen-Konzept und Mariáteguis Deutung des »indigenen Problems« bezeichnete bereits die kommunistisch-indigene Zeitung Nucanchic Allpa die »indigenen Völker als unterdrückte Nationen«. (zitiert nach Becker 2008: 94) Marc Becker argumentiert in diesem Sinne, dass das Nationen-Konzept bereits in den 1930er Jahren an der Schnittstelle politischer Kommunikation zwischen städtischen Linken und indigenen comunidades entstand (Becker 2008: 171-172), wobei es als politisches Konzept vor allem innerhalb der Linken Verbreitung fand und von den comunidades nur zögerlich angeeignet wurde. Vor diesem Hintergrund ist zu betonen, dass mit dem Nationen-Konzept keine separationistische Vorstellung verbunden ist und auch im Akronym der politischen Bewegung Pachakutik-MUPP ein direkter Verweis auf die »nationale Einheit« als Ziel enthalten ist. Es handelt sich hier um die Vorstellung eines föderalen Staates, der an Vorbildern wie Kanada orientiert ist. Es geht darum, die Gleichwertigkeit der Kulturen in räumliche Neben- und Miteinander zu fassen, anstatt auf eine fortlaufende Entwicklung nationaler Homogenität über Assimilationzu setzen. Doch ist die Fortdauer von Kolonialität nicht zu unterschätzen, und so sind auch die Anerkennungspolitiken durchaus ambivalent zu bewerten. Die institutionellen Veränderungen (z.B. Verfassungsänderungen mit der Anerkennung kultureller Rechte, Multikulturalismus, bilinguale Bildung) müssen nicht per se als Ausdruck staatlicher Anerkennung von Interkulturalität verstanden werden. So argumentiert Catherine Walsh für die 1990er Jahre, dass der Staat die ethnische Diversität strategisch in den Staatsapparat inkorporierte, während er sie gleichzeitig als externen Partikularismus jenseits des Nationalstaatlichen repräsentierte. (Walsh 2002: 7) So entsteht das Problem des »mainstream-multiculturalism« (Fraser 2001), der bestimmten diskriminierten Gruppen besondere Rechte und Ressourcen zuweist, aber nicht das System rassistischer Diskriminierung ändert. Der Multikulturalismus bleibt unvollständig, da er sich allein an die »Minoritäten« richtet, ohne die politische Kultur der gesamten Gesellschaft und das Gemeinschaftsbild zu verändern. In diesem Sinne sind wir mit dem Paradox konfrontiert, dass gerade der Staat auf die »Indianisierung« der indigen-popularen Bewegungen drängt, um deren subalternen Charakter zu beseitigen und um sie auf ethnische Anliegen der Anerkennung zu reduzieren. Sie sollen »zählbar« (Rancière 2002) und damit für polizeiliche Techni-

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ken der Integration ohne Veränderung der Grundstrukturen verwaltbar gemacht werden. Die reale Durchsetzungsfähigkeit von Plurikulturalität zeigt sich letztlich an der Frage der Souveränität – vor allem in der Raumkontrolle. Entgegen der in der Politikwissenschaft geführten Debatte um failed states oder eine Fragmentierung des Staates, ist – wie Boaventura Sousa Santos herausstreicht – im Andenraum der homogene Staat eben nicht vorauszusetzen. Vielmehr ist in Hinblick auf Kolonialität das Argument der historischen Gerechtigkeit anzuführen, mit dem auch die normativen Prämissen in der Staatsdebatte umzukehren wären: »Eigentlich gibt es diese Territorien vor dem modernen Staat, so dass nicht sie, ihre Autonomie rechtfertigen müssen, sondern der Staat muss die Grenzen, die ihr im Namen des nationalen Interesses zieht, rechtfertigen.« (Santos 2010: 140) Dies scheint mir ein wichtiger Hinweis für die Debatte um die Neugründung von Staat und Nation im Andenraum zu sein, zumal im historischen Rückblick darauf verwiesen werden muss, dass das Modell eines homogenen Nationalstaats in Ecuador nie durchgesetzt werden konnte und stattdessen Souveränität an die indigenen Kaziken, Hacendados oder auch Kirchen und NGOs delegiert bzw. diesen überlassen wurde. Und auch als geopolitisches Imaginarium war diese Vorstellung des homogenen Nationalstaats nur in kurzen geschichtlichen Phasen – vor allem als Antwort auf die Bedrohungen von außen – handlungsleitend für die politische Praxis. Insofern ist ein föderales, plurikulturales Staatsmodell ein zentraler Baustein in der aktuellen Neugründung des Staates im Andenraum. Damit Konzepte und Praktiken wie Interkulturalität und Plurinationalität tatsächlich eine grundlegende Transformation der von Kolonialität geprägten politischen Kultur bewirken können, müssen sie eben nicht nur auf die Gruppe der Indigenen wirken, sondern sich auch an die mestizischen Gesellschaftsgruppen richten und deren Einstellungen verändern. Dazu scheint es unter der Bürgerrevolution von Rafael Correa allerdings zurzeit kaum Ansatzpunkte zu geben. (Altmann 2013, Martínez Novo 2014) Anders stellt sich die Problemlage in Hinblick auf die Anerkennung indigener Territorialität dar. Hier existiert weniger ein gesellschaftlicher Konflikt um die Ethnisierung von Territorien, sondern einer um die Ressourcenkontrolle. (Santos 2010: 142) So hat auch der neo-desarrollistische Staat Correas keine Bedenken, indigene Territorien dann zu akzeptieren, wenn es sich um eine Fortsetzung von Kolonialität im Sinne der Ethnisierung von Armut handelt. Konfliktiv wird die Frage der Raumkontrolle erst dann, wenn es sich um ressourcenreiche Gebiete handelt. Dies betrifft vor allem die für die Forst- und Ölindustrie interessanten Gebiete des amazonischen Tieflandes. Die Hochlandgebiete der andinen Sierra, in denen der Großteil der andinen Bevölkerung konzentriert ist, ist dagegen – abgesehen von den als Wasserspeicher relevanten páramos – ökonomisch irrelevant. Oft sind diese Gebiete – wie auch Saquisilí – von hohen Armutsraten und Migration gekennzeichnet.

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In diesen Gebieten wird es in absehbarer Zeit wohl keine grundlegenden Konfliktlinien zwischen Staat und indigenen Gemeinschaften geben. Stattdessen werden diese Gebiete aber wohl weiterhin von den bereits bestehenden Scharmützeln zwischen unterschiedlichen Instanzen – wie OSG und juntas parroquiales (Schurr 2009) – oder zwischen politischen Parteien und unterschiedlichen religiösen Bindungen geprägt sein. Sofern sich nicht – wie im Fall der Jatarishun seit den 1980er Jahren in Saquisilí – eine regionale hegemoniale Kraft ausbildet. Für die indigene Bewegung, vor allem für die CONAIE, stellt sich aber ein weiteres grundlegendes raumpolitisches Problem. Die Organisationsstruktur der CONAIE basiert auf einer Mimesis an die staatliche administrative Ordnung, deren kleinste – aber zentralste – administrative Einheit die comunidades bzw. comunas sind. Diese sind Ausdruck der Kämpfe zwischen Staat, indigenen Gemeinschaften und Hacienda und somit ein interkulturelles Produkt mit einer territorialen Politik der Verortung. Dies wird in dem Maße problematisch, in dem die Migration in die Städte zunimmt und ein Großteil der indigenen Bevölkerung des Hochlandes nicht mehr in comunidades lebt und in diesen organisiert ist. Von einigen der indigenen Bewegung nahestehenden Intellektuellen wird in diesem Zusammenhang eine neue Raumlogik des Ethnoscape angeführt, die an die prä-kolonialen señorios und die archipelare Raumlogik anknüpft. Hier wäre dann nicht mehr die territoriale Verortung in der comuna, sondern die verwandtschaftlichen Netze im Sinne sozialer Räume die Grundlage für die Organisation der Bewegung. Zwar ist diese Überlegung keineswegs für die politische Umsetzung ausgereift, doch sie verweist nachdrücklich darauf, dass die Organisationsstruktur der CONAIE in die Jahre gekommen ist und deutlichen Reformbedarf hat. Die Fortführung und Erneuerung von Kolonialität ist in erheblichem Maße von den jeweils hegemonialen Eliten abhängig. Durchgängig sind in Ecuador die Elite des Hochlandes – die sich nach der Krise der Hacienda im Bankensektor erneuert hatte – und die export-orientierte Elite der Küste. Während die erste der Hauptträger der ethnischen Klassifikation Mestizen/Weiße versus Indigene ist, so stellt auch die Elite der Küste die ethnische Leitdifferenz nicht in Frage und definiert sich über die regionale Differenz von Serranos und Costeños. Die Indigenen aber sind – anders als in Bolivien, wo im Zuge der Regierung des Movimiento als Socialismo (MAS) unter dem indigene Präsidenten Evo Morales ein Austausch der Eliten stattgefunden hat – in keiner Situation hegemonial geworden. Insofern hat es in Ecuador keinen Bruch mit Kolonialität gegeben, wohl aber deutliche Fissuren. Dies zeigt sich in der zunehmenden sozialen Differenzierung, so dass indigene Intellektuelle, die soziologisch als »zurückgesetzte Mittelschichten« begriffen werden können, einen sozialen Aufstieg vollzogen haben. Dieser soziale Aufstieg ist zum Teil dem zunehmenden Bildungsniveau, den Erfahrungen mit NGO und vor allem auch der Umwandlung von politischem Kapital in ökonomisches zu verdanken. Doch politisches Kapital ist fragil, und aktuell haben viele diri-

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gentes der CONAIE ihre Posten im Staatsapparat verloren, ohne dass dies – abgesehen von der traditionell durch Textilproduktion und Kunsthandwerk bekannten Stadt Otavalo – durch ethnic entrepreneurship ausgeglichen werden könnte. Von Aníbal Quijano bis Sousa Santos wird das Argument vorgetragen, dass Kolonialität und Kapitalismus untrennbar miteinander verwoben sind. Während dies für die historische Genese in den Amerikas durchaus zutrifft, sind jedoch die Erneuerung beider Komplexe verschiedenen Logiken und Rhythmen unterworfen. So haben die 1990er Jahre gezeigt, dass es keinen grundlegenden Konflikt zwischen der Anerkennung kultureller Differenz und der partiellen Überwindung kolonialer Dispositionen in der politischen Kultur und der Vertiefung des Kapitalismus – seinerzeit in Form von neoliberaler Strukturanpassung – gab. Dagegen gibt es eine deutliche Kluft zwischen einem linkem Entwicklungsstaat, wie er von Rafael Correa angestrebt wird, und indigener Bewegung, da der Staat im Bereich der Administration und der Ressourcenkontrolle eine stärkere Lenkung beansprucht, die mit den Autonomieansprüchen der indigenen Bewegung kollidiert. In der politischen Rhetorik gibt es dabei eine Fortführung des liberalen Diskurses der Exklusion der Indigenen. So werden die Indigenen wieder als ein »sujeto pre-civíco« (Prieto 2004) degradiert, die die staatlichen Institutionen missverstehen und missachten. So wirft Correa der indigenen Bewegung vor, »einen anderen Staat zu machen, wo die gewählten, legitimen Autoritäten und Institutionen nicht anerkannt werden, sondern nur die indigene Führungsriege […]. Das ist Barbarei« (Correa zitiert nach Santos 2010: 182) Dabei scheut er nicht davor zurück, auf die aus dem 19. Jahrhundert stammende rassistische Differenz von Zivilisation versus Barbarei zurückzugreifen. Dies macht deutlich wie sehr – trotz aller Gesetzesänderungen – noch immer koloniale, rassistische Dispositionen in der politischen Kultur latent vorhanden sind, die in Konfliktfällen abgerufen werden können. Institutionell allerdings sind die in der Verfassung und in internationalen Abkommen gemachten Ansätze zur DeKolonialisierung mittelfristig wohl kaum umkehrbar. Doch auch in anderer Form ist Kolonialität aus der politischen Kultur in Ecuador nicht verschwunden. Gerade im Imaginären gibt es ein hohes Erneuerungspotential von Kolonialität, wie der aktuelle Boom um Kolonialität in Architektur, Stadtplanung und Tourismus zeigt. Die Erneuerung des historischen Stadtzentrums von Quito als Magnet für (inter-)nationale Touristen und der Bau eines Shopping Centers in Hacienda-Form zeigen an, wie sehr Kolonialität marktfähig geworden ist. Bezeichnenderweise werden bei diesen Inszenierungen von Kolonialität Verweise auf Bedeutungsinhalte wie Rassismus, Gewalt und Ausbeutung getilgt, so dass Kolonialität zu einem empty signifier wird. Diese Form der sinnentleerten, komodifizierten Kolonialität kann in Bezug zu den aktuellen Retro-Moden und der postmodernen Nostalgie als Retro-Kolonialität begriffen werden. (Kaltmeier 2011b) Identitätspolitisch ist sie insofern relevant, als dass sie der sich in der Krise befind-

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lichen Mittel- und Oberschicht Angebote zur Identifizierung und kulturellen Distinktion liefern kann. Für die indigene Bewegung hingegen scheint mit der formalen Durchsetzung von Plurinationalität in der Verfassung das semantische Feld der Anerkennung ausgeschöpft zu sein. Allenfalls indigene gesellschaftliche Leitkonzepte wie die Vorstellung des Sumak Kawsay, des »guten Lebens«, vermögen es, eine gesamtgesellschaftliche Debatte um Dekolonialisierung anzustoßen. (Acosta und Martínez 2009b) Parallel dazu scheint es für eine weitere Konjunktur der Dekolonialisierung allerdings auch notwendig zu sein, die Frage aufzuwerfen, wie die materiellen Lebensbedingungen der (indigenen) Bevölkerung verbessert werden können, ohne in ein desarrollistisches Entwicklungsmodell der 1970er zurückzufallen.

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Postcolonial Studies Floris Biskamp Orientalismus und demokratische Öffentlichkeit Antimuslimischer Rassismus aus Sicht postkolonialer und neuerer kritischer Theorie September 2016, 444 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3590-4

Ulrike Hamann Prekäre koloniale Ordnung Rassistische Konjunkturen im Widerspruch. Deutsches Kolonialregime 1884-1914 2015, 386 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3090-9

Karin Hostettler, Sophie Vögele (Hg.) Diesseits der imperialen Geschlechterordnung (Post-)koloniale Reflexionen über den Westen 2014, 326 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2343-7

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Postcolonial Studies Kien Nghi Ha Unrein und vermischt Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen »Rassenbastarde« 2010, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1331-5

Julia Reuter, Paula-Irene Villa (Hg.) Postkoloniale Soziologie Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention 2009, 338 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-906-0

Markus Schmitz Kulturkritik ohne Zentrum Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation 2008, 434 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-975-6

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Postcolonial Studies Peter W. Schulze Strategien ›kultureller Kannibalisierung‹ Postkoloniale Repräsentationen vom brasilianischen Modernismo zum Cinema Novo 2015, 276 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2476-2

Patrick Helber Dancehall und Homophobie Postkoloniale Perspektiven auf die Geschichte und Kultur Jamaikas 2015, 304 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3109-8

Enrique Alcántara Granados Stigma »Indio« Zur Struktur und Semantik Indigener Exklusion in Mexiko 2014, 256 Seiten, kart., 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2790-9

Carena Brenner Die Ethnologie und die Politik des Raums Bedeutungsproduktion im ethnographischen Film 2014, 328 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2637-7

Robert Born, Sarah Lemmen (Hg.) Orientalismen in Ostmitteleuropa Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg 2014, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2697-1

Gesine Müller, Natascha Ueckmann (Hg.) Kreolisierung revisited Debatten um ein weltweites Kulturkonzept

Cassis Kilian Schwarz besetzt Postkoloniale Planspiele im afrikanischen Film 2012, 400 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2142-6

Patricia Purtschert, Barbara Lüthi, Francesca Falk (Hg.) Postkoloniale Schweiz Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien 2012, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1799-3

Julia Verse Undoing Irishness Antirassistische Perspektiven in der Republik Irland 2012, 412 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1682-8

Shadia Husseini de Araújo Jenseits vom »Kampf der Kulturen« Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien 2011, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1646-0

Eva Bischoff Kannibale-Werden Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900 2011, 382 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1469-5

Burkhard Schnepel, Gunnar Brands, Hanne Schönig (Hg.) Orient – Orientalistik – Orientalismus Geschichte und Aktualität einer Debatte 2011, 312 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1293-6

2013, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2051-1

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