Verbote (in) der Kunst : Positionen zur Freiheit der Künste von Wagner bis heute. 9783761872079, 3761872070

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Verbote (in) der Kunst : Positionen zur Freiheit der Künste von Wagner bis heute.
 9783761872079, 3761872070

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Vom Nutzen und Nachteil der Provokation Thea Dorn im Dialog mit Feridun Zaimoğlu
Diskussion
Wie politisch korrekt muss Kunst in Deutschland sein? Eugen Gomringer im Dialog mit Lucian Hölscher
Diskussion
Kunstfreiheit, das Grundgesetz und das Ermöglichen von Kunst in Zeiten der Globalisierung Gerhart Baum im Dialog mit Charlotte Seither
Diskussion
"Nie sollst du mich befragen" Warum eigentlich nicht? Detlef Brandenburg
Verbotene Oper Schönheit und Machtgebot Bernd Feuchtner Das Frageverbot und die moderne Gesellschaft Zu Richard Wagners "Lohengrin" Ute FrevertFrageverbote und Denkverbote im Wagner-Kult des Nationalsozialismus Otto Strobel und die Richard-Wagner-Forschungsstätte Hans Rudolf Vaget
Diskussion
Freiheit durch Begrenzung "Verbote" in der Musik um 1600 und die Kunst der Entscheidung Klaus Lang
Das Verbotene suchen Gibt es noch "Vorschriften" in Neuer Musik? Lydia Jeschke
Diskussion
"der verschwundene hochzeiter" Klaus Lang im Dialog mit Marie Luise Maintz
Im Gespräch Eleonore Büning, Paul Esterhazy, Lydia Jeschke, Klaus Lang AnmerkungenDiskurs Bayreuth 2018
Die Autorinnen und Autoren
Personenregister

Citation preview

Katharina Wagner Holger von Berg Marie Luise Maintz (Hrsg.)

VERBOTE (IN) DER KUNST Positionen zur Freiheit der Künste von Wagner bis heute DIS KURS – BAY REUTH 2

VERBOTE (IN) DER KUNST Positionen zur Freiheit der Künste von Wagner bis heute

Herausgegeben von Katharina Wagner, Holger von Berg und Marie Luise Maintz

Bärenreiter Kassel . Basel . London . New York . Praha

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

eBook-Version 2019 © 2019 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG , Kassel Redaktion: Marie Luise Maintz Lektorat: Jutta Schmoll-Barthel Korrektur: Daniel Lettgen, Köln Innengestaltung: Dorothea Willerding Satz: EDV  +  Grafik Christina Eiling, Kaufungen Umschlaggestaltung und Collage: +christowzik scheuch design isbn 978-3-7618-7207-9 dbv 250-01 www.baerenreiter.com

I n h a lt VII Vorwort 1 V o m N u t z e n u n d N a c h t e i l d e r P r o v o k at i o n Thea Dorn im Dialog mit Feridun ZaimoĞlu

12 D i s k u s s i o n 15 W i e p o l i t i s c h k o r r e k t m u s s K u n s t i n D e u t s c h l a n d s e i n ? Eugen Gomringer im Dialog mit Lucian Hölscher 26 Diskussion

3 4 K u n s t f r e i h e i t, d a s G r u n d g e s e t z u n d d a s E r m ö g l i c h e n v o n K u n s t i n Z e i t e n d e r G l o b a l i s i e r u n g Gerhart Baum im Dialog mit Charlotte Seither 46 Diskussion

55 »Nie sollst du mich befragen« Warum eigentlich nicht? Detlef Brandenburg

81 V e r b o t e n e O p e r Schönheit und Machtgebot Bernd Feuchtner

1 0 3 D a s F r a g e v e r b o t u n d d i e m o d e r n e G e s e l l s c h a f t Zu Richard Wagners »Lohengrin« Ute Frevert 1 0 8 F r a g e v e r b o t e u n d D e n k v e r b o t e i m Wa g n e r - K u lt d e s N at i o n a l­s o z i a l i s m u s Otto Strobel und die Richard-Wagner-Forschungsstätte H a n s R u d o l f Va g e t

1 19 D i s k u s s i o n

1 3 4 F r e i h e i t d u r c h B e g r e n z u n g »Verbote« in der Musik um 1600 und die Kunst der Entscheidung Klaus Lang

1 41 D a s V e r b o t e n e s u c h e n Gibt es noch »Vorschriften« in Neuer Musik ? Ly d i a J e s c h k e

1 51 D i s k u s s i o n 1 5 7 » d e r v e r s c h w u n d e n e h o c h z e i t e r « Klaus Lang im Dialog mit Marie Luise Maintz 1 6 2 I m g e s p r ä c h E l e o n o r e B ü n i n g , P a u l E s t e r h a z y, Ly d i a J e s c h k e , K l a u s L a n g 1 7 0 a n m e r k u n g e n 1 7 7 D i s k u r s B ay r e u t h 2 0 18 1 7 9 D I E A U T O R I N N E N U N D A U T O R E N 1 8 6 p e r s o n e n r e g i s t e r

Vorwort

Richard Wagner befand sich im Schweizer Exil, als Lohengrin 1850 in Weimar uraufgeführt wurde. Das Musikdrama enthält in seiner märchenhaften Handlung als zentrales Motiv das Frageverbot. Nicht frei reden zu können oder fragen zu dürfen, führt in den Kern aktueller weltweiter Debatten von Gesellschaften im Umbruch, in denen kein Grundrecht mehr sicher scheint. Ein Verbot spielt auch in der alten Sage, die Klaus Lang in seiner Oper der verschwundene hochzeiter wiedererzählt, eine wesentliche Rolle. Beide Werke hatten 2018 in Bayreuth Premiere, Letzteres als erste Uraufführung der Festspiele seit Parsifal. Eine thematische Koinzidenz, die den Gegenstand des zweiten Diskurs Bayreuth motivierte: Verbote (in) der Kunst. Wichtiger denn je erscheint der Diskurs, der im Rahmen der Bayreuther Festspiele Programm ist. Die Auseinandersetzung, die anknüpfend an das Werk und die vielschichtige Figur Richard Wagners jährlich über neue Themen geführt wird, soll auch stets auf aktuelle Fragen zielen. Das Motiv des Verbots führt ins Zentrum dieser gesellschaftlichen Debatten. Im vorliegenden Buch sind Positionen schlaglichtartig zusammengefasst: zu den Grenzen der künstlerischen Freiheit und der Provokation, zur politischen Korrektheit, aber auch zu Fragen der Ästhetik, zu politischen Implikationen des Werks von Richard Wagner. Dass Eugen Gomringer in seinem Beitrag die Frage stellte, ob über Kunst demokratisch abgestimmt werden könne, dass Gerhart Baum auf die Gefährdung der normativen Grundlage unserer Gesellschaft aufmerksam macht, auf die Zersetzung von Demokratie und Freiheit im Prozess der Globalisierung, dass die Komponistin Charlotte Seither auf das Desiderat einer Freiheit zur Kunst hinweist, sind einige Positionen dieser Debatte. Den Referenten gilt besonderer Dank für die vielschichtige Diskussion, dem Richard Wagner Museum und seinem Direktor Sven Friedrich für die Kooperation, der Lektorin Jutta Schmoll-Barthel und dem Bärenreiter-Verlag für die engagierte Betreuung dieser Publikation. Katharina Wagner, Holger von Berg, Marie Luise Maintz V o r w o r t | VII

Vom Nutzen und Nachteil d e r P r o v o k at i o n Thea Dorn im Dialog mit Feridun ZaimoĞlu

T H E A D O R N   Es waren zwei widersprüchliche Erfahrungen, die ich im Frühjahr

gemacht habe, die mir das Thema dieses Bayreuther Diskurses so spannend erscheinen ließen: zum einen die Hysterien rund um die MeToo-Debatte. Als plötzlich ein Gedicht von einer Hochschulfassade entfernt werden musste – Eugen Gomringer hat die Auswirkungen dieser Debatte gewissermaßen am ­eigenen Textleib erfahren –, als Schauspieler aus Filmen herausgeschnitten bzw. aus Serien herausgeschrieben wurden, als eine Ausstellung abgesagt und Bilder in Museen abgehängt wurden. Vorgänge, die mich allesamt fassungslos und wütend gemacht haben. Zum anderen die ECHO -Musikpreisverleihung, bei der die Rapper Kollegah und Farid Bang ausgezeichnet wurden und auf­ traten. Von ihnen stammt unter anderem die Song-Zeile »Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen«. Meine spontane Reaktion hier: Ich fand es grundverkehrt, dass die beiden ein solches Forum bekommen haben. Seither frage ich mich: Was ist los in meinem Wertekosmos? Warum bin ich bei den zuerst genannten Fällen entschieden bereit, die Freiheit der Kunst gegen die Moralisierer zu verteidigen, während ich mich im zuletzt genannten Fall auf Seiten der Moralisierer wiederfinde? Als ich anfing, darüber nachzudenken, mit welchem Kollegen ich am liebsten über dieses Thema diskutieren möchte, wusste ich schnell: Es muss Feridun Zaimoğlu sein. Wir kennen uns seit über zwanzig Jahren, 1994 bzw. 1995 haben wir unsere Debüts im selben Verlag veröffentlicht. Auf der Frankfurter Buchmesse saßen wir damals am Rotbuch-Stand herum, wenn mich nicht alles täuscht, warst du von Kopf bis Fuß mit Silberschmuck, Marke »Kette und Schlagring«, behängt, ich hatte mich in schwarze Lederkluft geschmissen. V o m N u t z e n u n d N a c h t e i l d e r P r o v o k at i o n | 1

F E R I D U N Z A I M O ğ L U   Ich hatte lange Haare, komische Halbmondkoteletten

und trat, glaube ich, immer im Anzug auf. In Anzügen, die mir nicht so gut standen … T H E A D O R N   Jedenfalls hatten wir beide Debütwerke geschrieben, die auf unterschiedliche Weise zum Skandal taugten. Mein erster Roman, Berliner Aufklärung, war ein Kriminalroman, der manchen Leuten deutlich zu gewalttätig, zu blutig war. In einer Rezension stand recht unverblümt, dass eine junge Frau, die so was schreibt, in die Psychiatrie gehört. Heute frage ich mich: Wollte ich mit meinem Erstling provozieren? Die Antwort ist: nein. Ich saß nicht am Schreibtisch und dachte: »Was könnte ich jetzt machen, damit möglichst alle auf die Barrikaden gehen und toben?« In gewisser Weise war ich naiv. Das heißt, ich war überrascht, dass dieser Text, der einzig und allein meiner Ausdrucksnot und Ausdruckslust entsprungen war, Leute dermaßen verstörte. Ich vermute, ich hatte schlicht unterschätzt, welches Aggressionspotenzial in diesem Roman steckt – sowohl was mich selbst als Autorin angeht als auch welche Aggressionen ein solches Buch bei manchen Lesern geweckt hat. Das dürfte durchaus etwas mit dem guten alten Geschlechterkampf zu tun gehabt haben. Frauen als Opfer, das ging immer, auch in den 1990ern. Aber weibliche Romanfiguren, die sich mit Männern prügeln oder ihnen auch mal ein Ohr abbeißen, das gehörte in die Rubrik »too much«. Im Rückblick frage ich mich natürlich selbst, warum ich damals solche Szenen geschrieben habe. Offenbar musste eine tiefe Wut raus, die ich im normalen, bürgerlichen Leben nicht loswurde. Und noch immer würde ich sagen: Den Zorn, den Hass, das Destruktive zu sublimieren, ist eine der nobelsten Funktionen von Kunst. Nun aber die gleiche Frage an dich. Dein erstes Buch hieß Kanak Sprak. 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft. Wolltest du provozieren? F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   Man muss sich vorstellen: Als Kieler wird man eher als Teichmolch angesehen. Ich war und bin immer noch eine periphere Existenz. Das Buch enthält Gespräche, die ich anonymisiert und teilweise gewisser­ maßen aus dem Gedächtnis rekonstruiert habe. Ich schrieb wie ein Wahnsinniger. Meine Verhältnisse waren natürlich nicht bürgerlich. Ich wohnte in einem Sechs-Quadratmeter-Zimmer, hatte kein Geld. Und um zu schreiben, habe ich mir dann eine Schreibmaschine von einem Kumpel ausgeliehen. Provozieren, Provokation? Ich habe mir überlegt, wie man diesen Begriff vielleicht ins Deutsche übersetzen könnte, und ich kam auf das Wort »Aufreizung«. Habe ich das wirklich gewollt: die Leute aufreizen? Mir ging auf die N ­ erven, 2|

dass in der deutschen Gegenwartsprosa so eine Blutleere herrschte. Ich dachte: »Himmelherrgott, die Geschichten, die Verhältnisse da draußen in Deutschland sind doch um einiges spannender als die Erlebnisberichte von erlebnisarmen Mittdreißigern.« Mir ging es eigentlich nur um den Ausdruck der saftigen deutschen Sprache, nämlich von einem, der aus dem Abseits geschnellt kommt, doch nicht als Provokateur. Ich bin kein Konzeptkünstler. Übrigens: Ich dachte, es würde bei diesem Buch bleiben. Doch wurde mir vorgeworfen: »Herr Zaimoğlu, das haben Sie erfunden.« Das war ein großes Kompliment für mich. Wovon haben sie sich provoziert gefühlt? Plötzlich hieß es, das sei Black Consciousness in der Übertragung auf deutsche Verhältnisse. Hier haben wir deutsche Afroamerikaner, Türkischstämmige, die sehr freche, sehr obszöne und vulgäre Dinge von sich geben, also Positionsmonologe. Aber provozieren wollte ich, naiv, wie ich bin, gar nicht. T H E A D O R N   Wir behaupten also beide, dass wir damals mit unseren Büchern nicht im Geringsten provozieren wollten. Da wir uns hier ja ohne Moderator unterhalten, hake ich selbst nach: Kaufe ich uns diese Haltung der Unschuldslämmer wirklich ab? Oder anders gefragt: Ist Provokation nicht eins der schönsten Vorrechte der Jugend? Wir waren damals noch vergleichsweise jung, in unseren Zwanzigern, und, wie gesagt, wir fielen allein schon durch unser Äußeres auf. In solchen Kampfmonturen lief man normalerweise nicht auf der Frankfurter Buchmesse herum. Provokation heißt ja zunächst einmal, dass ich meinen Mitmenschen signalisieren will: »Das, was ihr von mir erwartet, liefere ich nicht. Ich bin nicht so, wie ihr mich gern hättet.« Wenn man Provokation auf diese Weise versteht, bin ich mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob wir nicht doch auch provozieren wollten. Und ob diese Verweigerung nicht der richtige Kern von Provokation ist. Ja, vielleicht muss man sogar sagen, dass alle echte Kunst mit einer Provokation beginnt, indem sie sagt: »Ich verweigere mich euren Erwartungen. Ich nehme mir die Freiheit, die Welt gänzlich anders zu sehen als ihr.« Das Problem mit der Provokation fängt doch erst dort an, wo von Anfang an auf den Skandal geschielt wird, wo die Provokation nicht die Begleiterscheinung einer radikalen, künstlerischen Sicht ist, sondern zum Hauptzweck wird. Als mein erstes Buch draußen in der Welt war, habe ich begriffen, dass es oder ich – so genau lässt sich das ja nicht auseinanderhalten  – auf manche provozierend wirkt. Die anfängliche Unschuld, die ich mir für den Schreibprozess tatsächlich noch zugestehe, war damit weg. Und das ist der gefährliche Moment. In dem du begreifst: »Aha, V o m N u t z e n u n d N a c h t e i l d e r P r o v o k at i o n | 3

Provokation erzeugt Aufmerksamkeit, Provokation klappt.« Wenn du daraus den Schluss ziehst, die Rolle des Provokateurs in Zukunft aktiv zu übernehmen, bist du als Künstler verloren. Dann bleibt dir irgendwann nichts anderes übrig, als auf dem Podium den Hitlergruß zu zeigen oder sonst einen krassen Quatsch zu machen. Das ist ja das nächste Gefährliche an der Provokation: Du musst die Dosis ständig erhöhen. Ich glaube, ich neige generell nicht besonders zu Suchtverhalten. Vielleicht hat mich das davor bewahrt, auf den Provokations-Aufmerksamkeits-Trip zu gehen. Wie hast du auf den Moment reagiert, in dem dir klar wurde, dass du als Provokateur oder »Aufreizer« wahrgenommen wirst? Fühltest du dich da versucht, zu sagen: »Okay! Jetzt geb’ ich euch den Provokateur erst recht, wickle mir noch drei Ketten um den Arm, lasse mir die Koteletten noch ein bisschen schärfer rasieren und gebe in meinen Texten noch mehr Zunder?« F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   Mein Vater rief an und sagte im Flüsterton: »Mein Sohn, ich werde einen Teufel tun und diese Texte deiner Mutter übersetzen.« Irgendwann hat er es doch gemacht, weil meine Mutter wirklich herzlich darum bat. Ein paar Tage später saß sie in Hamburg im Literaturhaus und freute sich, weil der Saal voll war. Es hatte sich herumgesprochen: der Provokateur, der Antibürgerliche, derjenige, der bei der Lesung nicht sitzen bleibt, der mit anderen Mitteln versucht, den Klang und Sang in die Worte zu bringen und nicht die übliche Trinkwasserlesung im drögen Ton von sich gibt. Erst war sie begeistert: »So viele hübsche Damen,« sagte sie, »die Geld dafür bezahlt haben.« Sie war aber erschrocken, als ich anfing, und sagte nach der Veranstaltung: »Das war das letzte Mal, dass ich zu einer Veranstaltung von dir komme. Das fällt immer auf die Mutter zurück. Die Leute werden sagen, du bist nicht gut erzogen.« T H E A D O R N   Das ist interessant. Etwas ganz Ähnliches hat mein Vater, als er das erste Mal bei einer Lesung von mir gewesen ist, auch gesagt. »Was sollen die Leute denken, was die für einen Vater hat !« F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   Unanständigkeit bedeutet das Gegenteil von Wohler­ zogenheit. Wieso erwähne ich das? Weil das immer wieder ins Feld geführt wurde: Wir sind doch nicht im Germanistikseminar. Wie kann man nur mittelstandsneurotische Prosa als deutsche Sang- und Klangkunst darbieten? Nein, ich wollte im Sinne des Ungestüms dunkler deutscher Romantik ausbrechen, und das habe ich mit Nachdruck getan. Denn es gab innerhalb des Literaturbetriebs Anfeindungen, und auch außerhalb. Es wurde zuweilen lebens­gefährlich. Ich kam auf die Anti-Antifa-Liste der Nazis – wir reden von 4|

den 1990ern. Man tut heute ja so, als gäbe es das erst heute. Dann habe ich aber folgenden Fehler gemacht: Als man mich einlud in die Talkshows im Fernsehen, wunderte ich mich, wieso ich zum Prügelknaben wurde. Alle droschen auf mich ein. Aber dann habe ich die Provokation genossen. Das reizte mich auf, und ich wurde wilder. T H E A D O R N   Das wäre genau die Provokations-Eskalations-Spirale, von der ich gesprochen habe. Denn, das nächste Problem: Lässt man sich auf dieses Spiel ein, riskiert man ja ständig, sich dümmer, plakativer, gröber zu machen, als man eigentlich ist. Dieses »Immer-noch-eins-fester-druff« gehorcht derselben Logik wie die dämlichen, unproduktiven Zankereien in der Familie. Ich zumindest hatte bei meinen Eltern ziemlich früh herausgefunden, welche Tasten ich anschlagen muss, um sie zum Ausflippen zu bringen. In der Pubertät habe ich es daheim zur echten Provokationsvirtuosin gebracht. Hätte ich dieses »Talent« später auf die große Bühne, die Gesellschaft, übertragen – ich wäre ein fürchterlicher Provokationskasper geworden. F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   Ich ärgerte mich, es war Wut. Man darf nicht vergessen: Es ging um Literatur, um Kunst, darum, mit Brüchen zu arbeiten, mit Sprechgesang zu kommen. Ich hatte die Nase voll. Nach der Lesung hieß es: »Herr Zaimoğlu, es kommt bestimmt aus ihrer Kultur.« Ich dachte: Watt? Fünf Monate war ich alt, als ich von meiner Mutter ins Land getragen wurde, ich wurde deutsch sozialisiert, und dann dachte ich: »Ihr Deppen! Minnesang, Grimmelshausen, Grimm’sche Märchen, Luther – was kann ich dafür, wenn ihr das vergessen habt, dass deutsche Sprache nicht auf einer Frequenz hingemurmelt wird. Deutsch hat etwas mit Furor zu tun, mit Ungebärdigkeit, mit Bildern.« Doch wurde ich deswegen zum Kasper, weil ich mich in die politischen Gespräche zerren ließ. Plötzlich war ich der Häuptling der ­Kanaken. Man sprach gar nicht mehr über Literatur … Es war eine furchtbare Zeit, wo Häuser angezündet wurden. Es gibt ein bundesdeutsches Kontinuum der ­Nazi-Anschläge in den letzten dreißig, vierzig Jahren. Und ich dachte, ich muss auch darüber Auskunft geben. Ich verließ das, worum es mir eigentlich ging, nämlich: ungebärdig zu bleiben und deutsche Geschichten zu schreiben. Ich habe das leider erst nach drei Büchern gemerkt. T H E A D O R N   Lass uns über Kunst und die Wut der Ausgegrenzten sprechen. Wenn ich deine literarische Entwicklung richtig deute, ist dir irgendwann klargeworden, dass es dich und dein Schreiben in eine Sackgasse führen würde, wenn du dich in einer Art ästhetischem Migrations-Ghetto v­erschanzen V o m N u t z e n u n d N a c h t e i l d e r P r o v o k at i o n | 5

­würdest. Im Gegenteil: Du zeigst den deutschen Literaten, dass du beispielsweise von »ihrem« Luther mehr begreifst als die allermeisten, die zwischen Flensburg und Freiburg geboren sind. Falls dies überhaupt eine Provokation darstellt, würde sie also eher darin bestehen, die deutsche Literatur auf ihrem eigenen Feld zu schlagen, anstatt zu sagen: »Deutsche Literatur, du kannst mich mal, ich pflege meinen Ghetto-Sound.« Damit sind wir direkt bei der Frage, welchen Weg Rapper wie Farid Bang oder Kollegah eingeschlagen haben. Ich muss gestehen, dass ich als alte Wagnerianerin keine Hip-Hop- und Rap-Hörerin bin. Das ganze Genre ist mir einigermaßen fremd. Natürlich weiß ich, dass es in den USA in den 70er-Jahren entstanden ist, dass es schnell zu einer der zentralen Kunstformen von Angry Young Black Men wurde  – zornige junge Frauen tauchten wohl erst später auf. Dass es darum ging und geht, ein neues Ghetto-Selbstbewusstsein auszudrücken, nach dem Motto: »Weiße Mehrheitsgesellschaft, du nennst uns ›Nigger‹? Weißt du was? Ab sofort nennen wir uns selbst ›Nigger‹! Und sind stolz darauf!« Im Grunde ist das eine ganz ähnliche Strategie, wie du sie in Kanak Sprak verfolgt hast. In deinem Buch kommen ja auch türkisch-deutsche Rapper zu Wort, die sich selbstbewusst »Kanaken« nennen, das Schmähwort also gewissermaßen zum Ehrentitel umdrehen wollen. Ich bin skeptisch, dass das eine kluge Strategie ist, aber vielleicht hören wir uns zunächst mal ein paar Zeilen von Farid Bang und Kollegah an, damit wir eine konkretere Vorstellung davon bekommen, worum es eigentlich geht. Ich vermute, ich bin nicht die einzige hier, die von diesem Genre wenig bis gar keine Ahnung hat. Deshalb habe ich den Text von einem Rap mitgebracht: »Ave Maria«. Magst du vorlesen? F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   »Ich bin in der Betonsiedlung Don Vito / Konto minus, doch im Louis-Vuitton-Karton Mios / G‑G‑Gangsterboss, Penthouse-Loft mit Skylineblick /« Das ist doch Blödsinn! »Dein Chick ist ’ne Broke-AssBitch, denn […]« Nein, das lese ich nicht! Womit wir es hier zu tun haben, ist schlechter Sprechgesang. Darin ist jede Frau eine »Bitch«. Irgendwann gab es den Gangster-Rap im sogenannten »Ghetto«  – wir haben keine Ghettos hier in Deutschland –, die Frau ist nichts anderes als ein Statussymbol. Und was gilt in der Gangster-Rap-Szene? Es geht nicht um bürgerlich oder nicht-­ bürgerlich. Es geht darum: Sprache hier ist keine Sprache. Das ist Gestammel, kein gutes. Man muss Grenzen ziehen und hart dagegen angehen: Wir ­reden von Auschwitz, von Konzentrationslagern! Man hätte dazwischengehen müssen. Ich verstehe wohl, dass man auch in der Kunst und in der Musik 6|

mit Ekel, mit Gewalt, mit Herabwürdigung anderer spielt. Doch geht es um Millionen von Seelen, ermordete Menschen. Das ist auch nicht emotional, sondern man muss im Namen dieser Millionen von Seelen sich so eine widerliche Geschichte verbitten. T H E A D O R N   Du beziehst dich auf den anderen Song, um den es die meiste Aufregung gegeben hat, in dem die Zeile mit den »Auschwitz-Insassen« vorkommt. Auch ich halte so etwas für grobe, platte Niedertracht. Möglicherweise ist es sogar ein Fall für die Justiz, die öffentliche Verharmlosung des ­Holocaust kann immerhin ein Straftatbestand sein. Aber ich fürchte, das eigentliche Problem liegt jenseits dieser gezielten Provokation, dieses grell ausgestellten Tabu-Bruchs. Ich habe mir im Netz ein etwas längeres Video von Kollegah angeschaut. Es heißt Apokalypse. Großzügig formuliert, kommt es mit einem gewissen Kunstanspruch daher. In Form eines Vierakters, der bis in vorbib­lische Zeiten zurückgeht, wird erzählt, wie sich das Erzböse im Kampf mit dem Guten befindet. Am Schluss, im letzten Akt, wenn die Erde vom Bösen befreit ist, gibt es diese Phantasie: »Die Menschen auf der Erde leben friedfertig zusammen / Man sieht, wie Buddhisten, Muslime und Christen / Gemeinsam die zerstörten Städte wiedererrichten.« Da könnte einem auf­ fallen, dass eine zentrale Religion fehlt, nämlich das Judentum. Und wenn man außerdem in dem dazugehörigen Video sieht, dass der, der sich da als Erlöser zelebriert – natürlich niemand anders als Herr Kollegah selbst –, im Zuge seiner Erlösermission in einen Bankenturm fliegt, in dem er dem Teufel begegnet, der zufällig einen Ring mit Davidstern trägt – wenn man all dies zusammennimmt, dann muss man sich doch fragen, ob sich in diesem ganzen Song nicht ein viel tiefer sitzender Antisemitismus ausdrückt, als in der krassen Zeile, über die sich alle aufgeregt haben. Damit sind wir bei einem anderen Problem: Was wird in unserer Öffentlichkeit skandalisiert, und was kann unbehelligt unter dem Radar hindurchschwirren, weil es die überdeutlich ausgestellte Provokation vermeidet, obwohl es mindestens so problematisch ist? Bezeichnenderweise wurde das Apokalypse-Video erst nach dem ECHO -­ Skandal gesperrt. F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   Es gibt andere Rapper, die mit ihren Videoclips oder mit ihren Textzeilen für Schlagzeilen gesorgt haben, und dann klingelte die Kasse. Man darf nicht vergessen: Das sind die Melodien der Zwölf- bis Fünfzehnjährigen. Und man darf auch nicht vergessen, dass diese Menschen, die dann von Missverständnissen sprechen, doch Konzeptkunst machen. Diese Leute sagen: V o m N u t z e n u n d N a c h t e i l d e r P r o v o k at i o n | 7

»Wir sind die wilden Söhne Deutschlands. Andere halten den Mund, andere verbieten uns den Mund, und wir tun das nicht.« Das ist ja nicht nur im Rap so. Es gab auch die Böhse Onkelz. Man erinnere sich an diese ganzen rechten Bands, die damit kokettiert haben, dass sie gegen die Dressur zur Unmündigkeit und zur Unfreiheit kämpfen. T H E A D O R N   Liegt nicht genau darin die Tragik einer offenen, liberalen Gesellschaft? Dass irgendwann nur noch die als Provokateure auftreten können, die diesen offenen, liberalen Geist verhöhnen? In früheren Jahrzehnten richteten sich die meisten Provokationen gegen überkommene Autoritäten, besonders gern gegen die Kirche. Martin Kippenberger etwa verursachte 1990 noch ­einen riesigen Skandal, als er in Bozen seinen gekreuzigten Frosch ausstellte: Politiker sind in Hungerstreik getreten; der Papst hat sich eingemischt. Ich habe mir unlängst wieder die Uraufführung von Peter Handkes Publikumsbeschimpfung angeguckt. Das Publikum anno 1966 tobte vor Empörung. Die damaligen Provokateure zielten darauf ab, eine bürgerlich verkrustete oder in früheren bundesrepublikanischen Jahren eine durchaus noch braun eingefärbte Bevölkerung zu reizen – genau das klappt heute nicht mehr. Wie bereits gesagt: Ich halte es für ein Privileg der Jugend, provozieren zu wollen und zu dürfen. Wenn das aber nur noch geht, indem ich in die allerletzten Tabuzonen vorstoße, die sich eine offene, liberale Gesellschaft zu Recht bewahrt, dann geht das auf Kosten der Menschlichkeit. Liberale Eltern provoziere ich nicht, indem ich mir die Haare grün färbe. Liberale Eltern provoziere ich, indem ich sexistische, homophobe, antisemitische Songs höre. Das gleiche Dilemma setzt sich in der Politik fort. Bis vor Kurzem war die Provokation das bevorzugte Mittel der Linken, der Aufmüpfigen. Heute sitzen die größten Provokateure in der AfD. F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   Es ist tatsächlich so. Wenn etwas langweilig, wenn etwas anständig ist, darüber wird wenig gesprochen. Das Gute, das Edle, das Anständige, das sind geronnene Worte, und man möchte eigentlich etwas anderes machen: einen wilden Tanz. Jetzt gucken sie sich an und sagen: »Wir kündigen dieses Verständnis. Wir gehen nicht mit – mit Verlaub – offenem Hosenstall herum, sondern wir zeigen den Hitlergruß.« Oder: »Wir führen keine Hottentotten-Tänze auf, sondern wir gehen auf Hatz.« Das heißt, die Provokation ist mittlerweile zur widerlichen Eselei geworden. Und da muss man sich überlegen, ob das nicht zwangsläufig in jeder Provokation enthalten ist. Auch im Literaturbezirk gibt es einige Identitäre, die kommen dann mit 8|

seltsamen Ansichten, sind aber im Grunde genommen nur Schreckgespenster im Feuilleton. Nur: Das da draußen gibt es schon seit den 1980ern, es ist kein neues Phänomen. Die braune Provokation geht weiter und keimt. Da kann man nicht mit Wohlanständigkeit kommen. Meine Frage an dich: Wie kann man dem begegnen? Mit Verboten? T H E A D O R N   Vielleicht würden Verbote abschreckend wirken auf die bürgerlichen Kreise, die seit einer Weile nach rechts tendieren. Aber für die, die provozieren wollen, würde das Verbotene nur noch aufregender. Ich fürchte, der einzige Weg ist zu erklären, dass die freiheitliche, liberale Ordnung, die wir verteidigen, keine kleinkarierte, vermuffte Spießerordnung ist, gegen die man mit gutem Grund rebellieren sollte. Wir müssen mit Leidenschaft davon sprechen, wieso diese Ordnung humaner ist als die allermeisten Ordnungen, die die Menschheit sonst ausprobiert hat. Gegen ein autoritäres System den Aufstand zu proben, indem man als Agent Provocateur auftritt, zeugt von der Sehnsucht nach Freiheit oder Gerechtigkeit. Gegen ein liberales System zu rebellieren, zeugt von autoritären Sehnsüchten. Wir müssen genau hinschauen, wo Provokationen eine Öffnung der Köpfe und Herzen bewirken wollen. Und wo Provokationen den Weg in ein Abseits eröffnen, dass kein emanzipato­ risches Neuland ist, sondern der alte Sumpf. F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   Wobei ich aber unterscheiden will zwischen den Provokateuren in der Kultur, die noch diesen bürgerlichen Anstand haben, und den politischen Provokateuren der Unterschicht. Ich spreche von den Radau-­ Brüdern, von der Unterschicht, der ich entstamme. Ich rede von den Identitären, die sagen: »Das ist nicht mein Staat. Und ich möchte diesen Staat zerstören. Dieser Staat hat mir Fremde vor die Nase gesetzt. Wenn ich die Fremden zerstöre, zerstöre ich einen Teil dieses Staates. Eure Grundordnung, eure Spiele spielen wir nicht. Unsere Sprache ist die Gewalt.« Man kann jedoch die Gesetze ausschöpfen und wirklich rote Linien ziehen, auf die Regeln der demokratischen Gesellschaft verweisen. Ich bin in diese Gesellschaft hineingekommen, und dieses Land hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Diese Dankbarkeit ist für mich selbstverständlich. Es gibt da draußen ein großes Volk von Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, die gewissermaßen alles aufgekündigt haben und sagen: »Wie können wir euch provozieren? Indem wir euren Humanismus zum Teufel jagen.« T H E A D O R N   Lass uns zum Schluss nochmals die Blickrichtung wechseln. In welchem Verhältnis stehen die Provokationen von Leuten, die auf den V o m N u t z e n u n d N a c h t e i l d e r P r o v o k at i o n | 9

­ umanismus pfeifen, zu den Skandalen beziehungsweise Skandalisierungen H im Zuge der MeToo-Debatte? Auf den ersten Blick könnte man die Situation für paradox halten: Böse Buben à la Kollegah hauen immer derber auf die Trommel, während brave Mädchen immer mehr als unzumutbare Provokation wahrnehmen und deshalb verbieten lassen wollen. Auf der einen Seite werden die Grenzen des Sagbaren ständig erweitert – auf der anderen Seite sollen die Räume des Sagbaren immer enger und noch enger gemacht werden, damit sich bloß ja niemand verstört oder beleidigt fühlt. Mir ist zum Beispiel schleierhaft, wie man das skandalisierte Gedicht von Eugen ­Gomringer ­Avenidas y flores so lesen kann, dass Frauen sich dadurch bedroht fühlen müssten, oder es gar als Androhung sexueller Gewalt verstehen. Ist es ein gesellschaftlicher Zufall, dass immer gröber zugelangt wird, während gleichzeitig das Mimosenhafte gepflegt wird? Oder ist das ein gefährliches Ping-Pong, das einzig und allein dazu führt, dass beide Seiten sich aufschaukeln, dass der Hysterie-Level insgesamt steigt? F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   In diesem Falle halte ich das für Grobianismus. Man hat es mit höheren Töchtern zu tun, die an der Universität plötzlich mit Zwang alles durchsetzen. Grobianismus meine ich dahingehend, dass sie Empfindsamkeit durch Empfindlichkeit ersetzen. Empfindlichkeit ist aber etwas anderes. Sie führt die jungen Menschen dazu, mit Weltkennzeichnungsprosa, mit Verboten, mit einer neuen Prüderie zu kommen. Bevor diese Political-­ Correctness-Debatten aufkamen – MeToo ist ja ein Beispiel –, hat man mich auch angegriffen. Ich sei nicht politisch korrekt; ich würde mit Worten kommen, die andere Leute aufreizen. Eine Gruppe von Türkischstämmigen hat gesagt, dass ich sie nicht so bezeichnen könne. Es gilt zu klären, inwiefern das eine gepflegte Hysterie ist. Früher waren es ja die gescholtenen Bürger, die völlig aufgebracht über ein Kunstwerk im Park oder Kunst am Bau waren und das Ganze skandalisierten. Oft genug war leider das Kunstwerk potthässlich. Das hat man nicht erwähnt, sondern es skandalisiert und diejenigen, die sich dagegen aussprachen, als Spießer bezeichnet. Wieso bezeichnet man diese, die heute mit einem linken Impetus kommen, nicht so? Wer mit Prüderie kommt, mit Verboten, wer sich die Empfindsamkeit verbietet, wer gewissermaßen nicht verstanden hat, worum es in der Literatur, in der Dichtung, in der Kunst geht – nämlich um Schönheit –, ist ein junger Spießer. Wo in Gottes Namen ist in diesem Gedicht irgendetwas Verletzendes und Verletzliches? Genauso, wie sie nicht empfindsam, sondern empfindlich sind, haben sie das Verletzliche in diesem Gedicht nicht entdeckt, sondern das Verletzende. 10 |

T H E A D O R N   Liegt das Problem für die Kunst nicht darin, dass sie eine bestimmte Art von Wahrnehmungsbereitschaft erfordert? Für mich beginnt Kunst dort, wo sich ein Feld an Deutungsmöglichkeiten eröffnet, wo die Suche nach einer eindeutigen Botschaft falsch und lächerlich ist. Das erfordert natürlich ein Publikum, das souverän genug ist, der Kunst mit offenem Blick zu begegnen. Im Zuge der MeToo-Skandalisierungen erleben wir jedoch, dass Kunstwerke auf eine vermeintliche »Message« reduziert werden  – die dann auch noch beleidigend oder verletzend sei. Ich halte diese Reduktion, die immer eindimensionaler werdende Wahrnehmung, für eine Bedrohung der Kunst. Und letztlich hat das Ganze auch etwas immens Neurotisches, ja sogar Paranoides: Anstelle des offenen Blicks wird propagiert, alles, womit man konfrontiert wird, nur noch unter der Perspektive zu betrachten, ob man sich dadurch beleidigt oder verletzt fühlen könnte. Ich glaube, jetzt wird mir auch der strukturelle Unterschied klarer zwischen den skandalisierten Kunst­werken im Zuge von MeToo und dem ECHO -Skandal. Vielleicht muss ich es so krass ausdrücken: Die einschlägigen Songs, um die es bei Kollegah und Farid Bang geht, erfüllen aus meiner Sicht nicht das Mindestkriterium von Kunst, nämlich ein Feld an Deutungsmöglichkeiten zu eröffnen. Mir scheinen sie eindimensionales Selbstermächtigungsgetöse zu sein. Ein Gedicht wie das von Eugen Gomringer hingegen wurde im Zuge seiner Skandalisierung künstlich eindimensional gemacht. Und damit natürlich auch krass missverstanden. F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   Wir haben es mit Gesinnung zu tun, eine geronnene Idee in den Köpfen der Menschen. Eindimensional ist nicht das Kunstwerk – in diesem Falle das Gedicht –, eindimensional sind diese Menschen. Deshalb habe ich versucht, den Bezug herzustellen zu den Empörten von früher: »Dieses Kunstwerk verschandelt doch …« Damals hat man von Spießern, von Kunstfeinden gesprochen. Auch bei dem Gedicht von Gomringer gab es eine heftige Reaktion. Aber man sollte bitteschön die fehlgesonnenen jungen Spießerinnen und Spießer benennen. Komischerweise hat man das nicht in die Debatte eingebracht. Es geht nicht um Idee und Ideologie, es geht um eine neue Ruppigkeit: »Es passt mir nicht; es schmeckt mir nicht.« Je hysterischer ich werde, desto mehr ist dies mit einer Paranoia verbunden. Wenn ich überall in meiner Umgebung den Feind markiere, auf dass ich mich verletzt fühle, dann gelingt mir das auch. Aber was gelingt? Eine geistige Verlumpung und Verengung. Dem liegt eine Wahrnehmungsverzerrung zugrunde. Denn hier sind die neuen Spießer unterwegs. V o m N u t z e n u n d N a c h t e i l d e r P r o v o k at i o n | 11

Diskussion GERHART BAUM, Thea dorn und FERIDUN ZAIMOĞLU

G E R H A R T B A U M   Es geht natürlich nicht nur um Hirngespinste, sondern es

geht um fundamentale Veränderungen unserer Gesellschaft. Die AfD hat um 15 Prozent, und der Gauland ist kein junger Priester … Die große Unsicherheit, die die Gesellschaft befallen hat, geht tief in das Bürgertum hinein. Man muss fragen, ob dies auf Dauer Einfluss auf die Kunstfreiheit hat. Wie nehmen diese kulturfeindlichen Kräfte, etwa wenn sie in den Stadtparlamenten sind, Einfluss auf die Freiheit der Kunst? Die Situation, die Sie mit den jungen Leuten geschildert haben, ist auch durch eine Zeitenwende bedingt. Diese heißt Internet. Die Rekrutierung der jungen AfD-Leute geschieht durch das Internet, auch durch Songs im Internet, durch rechtsradikale Aufputsch-Songs, die sie sich zu eigen machen. Da muss man in gewisser Hinsicht einiges als Kunst akzeptieren – auch wenn es widerlich und abstoßend ist. Die Grenzen der Kunst sind sehr weit gesteckt. Unser Grundgesetz lebt in der Erinnerung der Nazi-Barbarei. Bei der Kunstfreiheit lässt das Verfassungsgericht einen weiten Spielraum. Aber sie kommt in die Nähe der Meinungsfreiheit. Das Spannungsverhältnis zeigt sich zum Beispiel mit dem Gesetz, dass den Hass im Internet bekämpfen will. Aber Sie haben vollkommen recht: Bei der Leugnung von Auschwitz hört es auf – sie ist aus gutem Grund strafbar, ebenso der Gebrauch von Nazisymbolen. Das Zweite ist eine Frage: Mich interessiert, wie es Ihnen ergangen ist: Literatur provoziert nicht selten. Wen würden Sie heute dazurechnen? Ein ­Augen öffnendes Buch für mich war Thomas Manns Doktor Faustus, der ja auch einen Bezug zu dem Ort herstellt, an dem wir uns befinden. Das war damals ein Buch, das viele Deutsche provoziert hat. Aus der Musik Wurzeln für die Barbarei abzuleiten, das hat nicht jeder akzeptiert. F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   In der Literatur fällt mir als Provokation Maxim Biller ein, der ein Buch mit dem Titel Esra geschrieben hat. Dieses Buch wurde 12 |

verboten. Es ging um die Grenzen der Freiheit der Kunst. Vom Verfassungsgericht wurde entschieden, wo die Grenze zu ziehen ist, wenn die Persönlichkeitsrechte betroffen sind, wenn auf infame Art und Weise Schlafzimmergeschichten hineingeschrieben werden. In diesem Fall ging es um zwei Frauen. Ist die Verletzung der Intimsphäre eine Provokation? Es ist keine. Es gab eine Zeit, in der Männer sich als Provokateure toll fühlten, wenn sie besonders genital betonte Prosa geschrieben haben. Diese Zeiten sind vorbei. T H E A D O R N   Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Baum, sagen Sie, dass Doktor Faustus aus Ihrer Sicht für die Leser im Nach-Nazi-Deutschland eine erhellende und heilsame Provokation dargestellt hat. Dem würde ich zustimmen. Und Sie werfen die Frage auf, wann wir zum letzten Mal eine Provokation erlebt haben, die wir für die heutige Zeit als erhellend oder heilsam einschätzen würden. Ich glaube, hier hat die Kunst gleich mehrere Probleme. In gewisser Weise war die gesamte Avantgarde gleichbedeutend mit Provokation. Denken Sie etwa daran, was bei zahlreichen Uraufführungen von Schönberg oder Berg in Wien los gewesen ist. Da tobte das bürgerliche Publikum. Aber heute flippt doch kein Konzertpublikum mehr aus, nur weil Neue Musik gespielt wird. Im Gegenteil. Die Avantgarde hat ihr Provokationspotenzial verloren. Die letzten Provokationen, bei denen ich dachte, »das ist ja großartig, was da passiert!«, waren in der Frankfurter Oper in den 80ern, während der Ära Gielen. Ich saß in jeder Vorstellung von Hans Neuenfels’ Inszenierung von Aida. Da konnten Sie erleben, wie sich Frankfurter Bildungsbürger in pöbelnde Hooligans verwandelt haben. Obwohl die Inszenierung keine Provokation um der Provokation willen gewesen ist, sondern klug offengelegt hat, was in diesem Werk alles steckt. Aber das ist über 30 Jahre her. Ebenso ist es fast unmöglich geworden, durch ästhetische Abstraktion zu provozieren. Zwar werden Gemälde von Barnett Newman immer mal wieder aufgeschlitzt, weil jemand das schiere Rot-Gelb-Blau nicht erträgt. Das tun aber einzelne Verwirrte, das ist kein gesellschaftlicher Empörungsstrom. Wie vorhin bereits gesagt: Ich glaube, wir haben es mit einer Tragik zu tun. Die Provokateure im Namen der Freiheit haben – zumindest in den westlichen Gesellschaften – in den letzten Jahrzehnten so große Geländegewinne gemacht, dass sie heute als die Etablierten dastehen, den Mainstream bestimmen. Etwas platt ausgedrückt: Der Mainstream hat sein Bett nach links verlagert. Deshalb ist es kein Wunder, dass die Provokateure heute ihre Pfeile eher vom Gelände rechts des Flusses abschießen. Das wiederum verleitet manch ehemals Linken dazu, D i s k u s s i o n | 13

die Seiten zu wechseln oder rechten Provokateuren zu applaudieren, weil er immer noch glaubt, dass erst einmal jede Provokation etwas Gutes ist. Ich halte das für einen Fehlschluss. Angesichts der heutigen Bedrohungen unserer Freiheit, unserer Kunstfreiheit, müsste es gelingen, den Blick in zwei Richtungen zu schärfen: Wir dürfen nicht zulassen, dass immer mehr Vorgänge oder Kunstwerke skandalisiert werden, die eine offene Gesellschaft aushalten muss, wenn sie sich nicht in einen neurotischen Kindergarten verwandeln will, in dem ständig jemand heult, weil ihn ein anderer an den Haaren gezogen hat. Auf der anderen Seite müssen wir uns den neo-autoritären Feinden der offenen Gesellschaft entgegenstellen. Wenn sie uns provozieren, hat das nichts Heilsames, sondern ist in der Tat ein Angriff auf unsere Grundwerte. Alles, was wir jetzt noch brauchen, ist die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. F E R I D U N Z A I M O Ğ L U   Ein Schlusswort? Wie schön lächerlich ist das, wenn der Radikale, der Wilde von einst, ich, jetzt zum unbedingten Befürworter der bürgerlichen Kultur geworden ist?

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Wie politisch korrekt muss Kunst in Deutschland sein? Eugen Gomringer im Dialog mit Lucian Hölscher

L U C I A N H Ö L S C H E R   Bevor ich in die Diskussion einsteige, möchte ich Ihnen

zunächst das Gedicht von Eugen Gomringer vorstellen, das über Jahre hinweg die Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin geschmückt hat und dessen Entfernung wir heute diskutieren: avenidas Alleen avenidas y flores Alleen und Blumen flores Blumen flores y mujeres Blumen und Frauen avenidas Alleen avenidas y mujeres Alleen und Frauen avenidas y flores y mujeres y un admirador

Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer

Ich habe die in der letzten Runde angelaufene Debatte über dieses Gedicht bis zu einem bestimmten Punkt mit Zustimmung verfolgt, und zwar genau bis zu dem Punkt, an dem es um die Studentinnen der Alice Salomon Hochschule ging, die Kritik an dem Gedicht Eugen Gomringers übten. Ich kenne diese Studentinnen nicht und habe auch das Gedicht erst vor einiger Zeit kennengelernt. Anders als meine Vorredner kann ich mich aber in die Situation einer 23-Jährigen hineinversetzen, die dieses Gedicht liest und denkt: »Ne! Das ist nicht meine Form, wie ich mit Männern zu tun haben will. So will ich nicht bewundert werden.« Das ist eine Reaktion, die ich von meiner Hochschule kenne. Ich habe auch durch einen eigenen Lernprozess, den ich durchlaufen W i e p o l i t i s c h k o r r e k t m u s s K u n s t i n D e u t s c h l a n d s e i n ? | 15

habe, gemerkt, wie produktiv ein solcher Widerstand sein kann. Ich nehme diese Kritik also zunächst einmal ernst, ohne sie meinerseits zu teilen. Doch macht mich die Diskussion, die hier geführt wird, auf einen allgemeineren Punkt aufmerksam, der für die öffentliche Diskussion um das Gomringer-Gedicht wie um viele massenmedial geführte Diskussionen ähnlicher Art typisch sein dürfte: Was machen wir eigentlich in einer solchen Situation? Wir substituieren das, was uns an direkter Information über die Ursprungskontroverse fehlt, durch eigene Eindrücke, eigene Erfahrungen. Das konnte man an der öffentlichen Debatte um Gomringers Gedicht in extenso studieren: Da war auf der einen Seite von Demütigung und Sexismus, auf der anderen von Zensur und Bedrohung der Kunstfreiheit die Rede. All dies sind Kontexte, die die Kritik der Studentinnen an der Alice Salomon Hochschule gar nicht aufgemacht hatte, die aber jetzt von anderen hineingetragen wurden, um die Kritik zu verurteilen. Es geht mir hier nicht darum, diese hier zu unterstützen: Ich selbst finde Gomringers Gedicht überhaupt nicht anstößig. Vielmehr geht es mir darum, darauf aufmerksam zu machen, dass es in solchen Debatten meiner Meinung nach eine große Rolle spielt, mit welchen eigenen Erfahrungen, mit welchen eigenen Themen und Ängsten wir in sie hineingehen. Doch nun zu meinem eigentlichen Thema: der Bedeutung von Normen der »Political Correctness« für die Wirkung von Kunst im öffentlichen Raum. 1. Wenn wir eines aus dem Streit lernen können, der um Eugen Gomringers Gedicht avenidas entbrannt ist, dann dies: Alle Kunst kann zum Gegenstand politischen Streits werden. Es gibt keine an sich unpolitische Kunst, allenfalls eine Kunst, die sich als unpolitisch versteht. Es fragt sich nur, ob es für den Streit um Kunst sinnvollerweise Regeln des Austrags geben kann und soll. Für politische Konflikte im engeren Sinne der Grundsätze und Gesichtspunkte politischer Entscheidungen ist dies unbestritten: Wir brauchen Regeln des Austrags solcher Konflikte, damit diese überhaupt produktiv, das heißt mit Aussicht auf mehrheitsfähigen Konsens geführt werden können. Aber gilt dies auch für Kunstkonflikte? Im Blick auf religiöse Konflikte sind wir aus historischer Erfahrung mit Recht skeptisch, ob solche Debatten zielführend sein können. Es gibt gerade in Deutschland eine Tradition religiöser Konflikte, die uns gezeigt hat, dass es sehr schwierig ist, eine klare Grenze zwischen Erlaubtem und nicht Erlaubtem zu ziehen. Der Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat, Religion und 16 |

Politik ist daher wichtig, wenn auch immer wieder neu auszulegen. Das liegt nicht nur am weitreichenden Geltungsanspruch von Religionen, sondern am Wesen der religiösen Symbolisierung von Wirklichkeit überhaupt: Religiöse Symbole wie »Gott« und »Kreuz« kann man, muss man aber nicht, für sich nutzen. Viele sehen sehr Verschiedenes in ihnen symbolisiert. Auch Kunst lebt, da stimme ich Thea Dorn zu, von deren Deutungs­ offenheit, von ihrer Vieldeutigkeit. Gerade die Art der Symbolisierung, die dort vorgenommen wird, macht Kunst aus. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass etwas, was am Anfang überhaupt nicht als vieldeutig erschien, wie der vorhin zitierte Rappertext, nach und nach oder wenn es zu einer öffent­ lichen Debatte kommt, eine bislang nicht intendierte Vieldeutigkeit entfaltet. Wir bewegen uns mit solchen Fragen in einem Raum, den zu definieren oder gar zu ordnen sich liberale Gesellschaften oft schwertun: einem Raum, in dem keine festen gesellschaftlichen Normen, etwa staatliche Gesetze, gelten und der doch das Kollektiv der Gesellschaft insgesamt umfasst, der alle angeht. Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das Dilemma, das sich bei der Gestaltung dieses Raums auftut, in seinem bekannten Diktum offengelegt: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.«1 2. In den Raum dieses Unregulierbaren und doch politisch Lebenswichtigen stößt seit den 1980er-Jahren das Schlagwort der »Political Correctness« vor. Entstanden ist es in den Vereinigten Staaten in den frühen 1980er-­ Jahren, zu einer Zeit, als an den dortigen Universitäten liberale Gruppen das Recht gesellschaftlicher Minderheiten auf Gleichberechtigung mithilfe einer nicht-­diskriminierenden Sprache durchzusetzen versuchten: also etwa darauf W i e p o l i t i s c h k o r r e k t m u s s K u n s t i n D e u t s c h l a n d s e i n ? | 17

a­chteten, dass »nigger« jetzt als »black people« und behinderte Menschen nicht mehr als »mad«, sondern als »handicapped« bezeichnet wurden. Über die Sprache hoffte man so auch das Denken und Verhalten der Menschen beeinflussen zu können. Der Widerspruch gegen diese Art von Sprachpolitik, die vor allem von Konservativen, aber auch von manchen Liberalen selbst als Eingriff in die persönliche Autonomie empfunden wurde, äußerte sich im neuen Schlagwort der »Political Correctness«. Ende der 1980er-Jahre kam das Schlagwort nach Deutschland, wo es eine erweiterte Karriere im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit erlebte: Wir erinnern uns noch an die zahlreichen Fälle der damaligen Zeit, in denen vor allem Politikern ihr sprachlich unkorrekter Umgang mit dieser Vergangenheit vorgeworfen wurde: Bundestagspräsident Jenninger etwa stürzte am 9. November 1988 über seine Gedenkrede zum 50. Jahrestag der Judenpogrome, die bis dahin unter dem verharmlosenden Begriff einer »Reichskristallnacht« firmierten. 1993 musste auch der von Helmut Kohl gestützte Steffen Heitmann seine Kandidatur für das Bundespräsidentenamt zurückziehen, weil er sich sprachlich inkorrekt über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen geäußert hatte. 1998 traf derselbe Vorwurf den Schriftsteller Martin Walser, als er in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels die »Instrumentalisierung« der Dauerpräsentation deutscher Schande als jederzeit einsetzbare »Moralkeule« anprangerte. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Was bei deren Analyse auffällt, ist, wie stark die »Grenzen des Sagbaren« – auch dies ein Neologismus dieser Jahre – von Fall zu Fall jeweils neu gezogen wurden. Was in dem einen Zusammenhang gesagt werden konnte, durfte in einem anderen Zusammenhang nicht gesagt werden: Die Situation, wer da zu wem sprach, die Aufnahme in den Massenmedien und die Interessen von deren Lesern spielten auf immer wieder neue Weise eine entscheidende Rolle. »Political Correctness«, so lässt sich daraus ableiten, ist offenbar kein festes Regelkorsett, sondern ein fluides Instrument zur Beurteilung von politischen Situationen. Walser zum Beispiel profitierte bei der Ahndung seiner gezielten sprachlichen Unkorrektheit von dem politischen Schonraum, den Künstler schon früher für sich in Anspruch genommen haben und den damals etwa Bundeskanzler Gerhard Schröder auch ausdrücklich mit dem Satz anerkannte, dass ein Schriftsteller sagen dürfe, was »ein deutscher Bundeskanzler nicht sagen darf«.2 18 |

Doch warum sollten eigentlich für Künstler andere Regeln gelten als für Nichtkünstler? Gilt nicht das Grundrecht der Meinungsfreiheit für alle, nicht nur für Künstler? Haben sich Politiker und Künstler nicht gemeinsam an Grenzen des Sagbaren zu halten, wenn es die denn gibt? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Interviews mit Verantwortungsträgern aller Art, vom Journalisten und Dramaturgen bis hin zum Schulleiter und evange­lischen Superintendenten, haben mir damals, kurz nach der Jahrtausendwende, vor Augen geführt, dass »politisch korrekte« Ausdrucksweise in der Bundesrepublik bei den meisten als unabdingbare Voraussetzung für ein öffentliches Amt gilt. Da hatte sich also die Bedeutung des Begriffs »politisch korrekt« in sein Gegenteil verkehrt: Ursprünglich sollte er eine Freiheit einfordern, nämlich die, sich nicht immer politisch korrekt ausdrücken zu müssen. Aber was in der Bundesrepublik, jedenfalls bei der von mir befragten mittleren Führungsschicht, ankam, war eher das Gegenteil. Doch was ist »politisch korrekt« und wohin führt uns eine solche ­Maxime? Da könnte man zunächst denken, es sei eine gute Faustregel, sich bei den Betroffenen selbst zu erkundigen, die von einer politischen Rede möglicherweise verletzt sein könnten. Doch dies kann auch zu unerwarteten Ergebnissen führen: 2008 erreichte mich zum Beispiel kurz nach Erscheinen meines Buches über »Political Correctness«3 der Anruf einer Münchener ­Boulevard-Zeitung, die meinen Rat einholen wollte: Sie störte sich an der Errichtung einer Stelle der Katholischen Kirche in Bayern zur Betreuung von »Zigeunern«, das heißt eigentlich nicht an deren Errichtung, die allgemein begrüßt wurde, sondern an deren Bezeichnung: nicht als Betreuungsstelle für Sinti und Roma, sondern eben für »Zigeuner«. Das Problem war nur, dass die Betroffenen, wie mir gesagt wurde, auf Anfrage diese Bezeichnung selbst gar nicht ablehnten, sondern ihr ausdrücklich zustimmten. Befragt warteten sie mit der Auskunft auf, Sinti und Roma seinen schließlich nur zwei der Stämme, um die es hier gehe. »›Zigeuner‹ ist das einzige, was uns alle umfasst.« Das heißt, die Betroffenen waren ganz zufrieden, unzufrieden waren diejenigen, die die Bezeichnung »Zigeuner« in deren vermeintlichem Interesse für diskriminierend hielten. Und so lautete die Anfrage an mich: »Wer sagt uns denn jetzt, was richtig ist und was nicht?« Und als diese Frage abgehandelt war, wurde ich weiter gefragt: »Darf man eigentlich in Deutschland noch von ›Juden‹ sprechen?«

W i e p o l i t i s c h k o r r e k t m u s s K u n s t i n D e u t s c h l a n d s e i n ? | 19

Man sieht, die Betroffenen nach ihrer Meinung zu fragen, ob sie eine Bezeichnung als diskriminierend empfinden oder nicht, ist hilfreich, führt aber manchmal zu unerwarteten Ergebnissen. Historisch gesehen sind sowieso manche ursprünglich als diskriminierend gemeinten Fremdbezeichnungen zu Eigenbezeichnungen aufgestiegen, die von den Betroffenen mit Stolz getragen wurden und werden: Die »Schwulen« sind dafür ein heute aktuelles Beispiel. Fragt sich also auch, wie man sich zum Protest der »betroffenen« Studentinnen der Alice Salomon Hochschule in Berlin verhalten soll, die Eugen Gomringers Gedicht Avenidas als diskriminierend abgelehnt und seine Entfernung von der Hochschulfassade veranlasst haben: Sind sie uns autoritatives Urteil im Horizont der Me-too-Debatte? Oder nur eine Stimme unter anderen? Jedenfalls gilt: Worüber wir zu streiten haben, lässt sich nicht im Vorhinein festlegen, auch nicht in der Kunst. Es gibt Regeln des Anstands, wie man persönlich miteinander umgehen sollte, aber keine Denk- und Interpretationsbarrieren, die festlegen, was man angreifen darf. Im Ausland, etwa in Israel oder auch in England, begegnet man immer wieder Stimmen, die uns Deutschen einen zu engen, einen zu ängstlichen Umgang mit dem vorwerfen, was uns als politisch erlaubt, noch innerhalb des Spektrums dessen erscheint, was unsere Gesellschaft politisch aushält. Da ist vermutlich etwas dran, schon deshalb, weil wir auch die Grenzen der Eingrenzbarkeit des Sagbaren beachten müssen: Keine Norm politisch korrekter Rede konnte zum Beispiel über die Jahrzehnte hinweg den latenten Antisemitismus in Deutschland wesentlich unter 30 Prozent drücken. Politisch korrektes Reden verbürgt auch noch kein politisch korrektes Denken und Handeln. Das wussten schon Joseph Goebbels und seither alle Sprachpolitiker in Deutschland. Doch sind wir gebrannte Kinder, Erfahrungsträger vergangener Generationen, in denen sich politisch falsch zu äußern lebensgefährlich, jedenfalls dauerhaft rufschädigend sein konnte. Das hat Ängste vor dem Zusammenhalt unseres Gemeinwesens hinterlassen, das sich auch heute noch immer wieder grundsätzlich infrage gestellt sieht. E U G E N G O M R I N G E R   Ich muss mich zuerst positionieren. Ich bin sehr selten in Bayreuth, außer es geschieht Kunst hier im Kunstmuseum – und zwar Konkrete Kunst oder Konstruktive Kunst. Ich komme aus Rehau; dort wohne ich seit vielleicht 30, 40 Jahren. Ich bin nach Zürich, Bern, Südamerika gekommen und auch wieder nach Südamerika zurückgekehrt. Aber in Rehau, dem Kältepunkt von Deutschland, der auf jeder Wetterkarte die niedrigste 20 |

­ emperatur hat, ist es im Winter sehr kalt. Warum spreche ich darüber? Ich T tue das deswegen, weil in Rehau ein ganz anderes Klima, ein ganz anderes Kunstklima herrscht als das, welches ich hier antreffe. Ich habe schon einige Male die Bayreuther Festspiele besucht, aber immer eingeladen und nicht ganz richtig überzeugt. Darum die folgenden Zeilen: Ich bin in Ihrer Runde der mit Richard Wagners Mythologie vermutlich am wenigsten Vertraute. Erst spät, nach Bekanntschaft mit anderen Kulturkreisen, fand ich und verschaffte mir Zugang zu seiner Denkweise – genauer: seit dem Jahr 1967, als ich zum Kulturbeauftragten an Philipp Rosenthals Seite in die Porzellanstadt Selb berufen wurde. Danach fand ich jedoch durch eine besondere Begebenheit fast schon intimen Charakters Zugang zur Nomenklatura der Bayreuther Mythologie. Die junge Dame, die ich später heiratete und die als meine Frau und als Germanistin meine enge Mitarbeiterin ist, fragte ich in einem gegebenen Moment nach ihrem Vornamen, worauf ich den Namen »Nortrud« zu Ohren bekam. Ich war noch so ungeübt, dass mir zu Nortrud nie Ortrud eingefallen wäre. Aber immerhin fragte ich schmunzelnd weiter, ob sie denn nicht mit Brangäne verwandt wäre. Sehr weit reichte also meine Familiarität mit dem Werk des Meisters noch nicht. Der kurze Namensaustausch ist uns bis heute ein kleines Versteckspiel um geheimnisvolle Namen geblieben. Nein, mit der Ortrud hat meine Nortrud nun nichts gemein. Allerdings ist die Intonationslücke doch noch nicht vollständig geschlossen worden. Ich müsste bei Wagner im Einzelnen noch gehörig nachsitzen. Unser kulturelles Verständnis für Freiheit der Gestaltung entspricht unserer langjährigen Verbundenheit mit den Meistern des Bauhauses. Über die Auseinandersetzung mit der Kunst des Bauhauses komme ich zu den Fragen, wie sich die Künste und die Öffentlichkeit vertragen, welches kulturelle Verhalten sich mit demokratischem Verständnis verträgt und umgekehrt. Die Fragestellungen sind gewohntes dialektisches Übungsgut der Geschichte, sollten jedoch in jedem Ernstfall mit aktuellen Argumenten belegt werden. Das dürfte nun der Fall sein, wo mein Gedicht avenidas in spanischer Sprache an der Wand der Alice Salomon Hochschule in Berlin-Hellersdorf jedermann ansprechen kann – noch.4 Die streng limitierte Konstellation trägt das ­Signum von Kandinskys »Geistigem in der Kunst«, gerade weil sie so knapp angelegt ist und auf charakterliche Details verzichtet zugunsten der freien Wahrnehmung des Lesers oder der Leserin. Das war – und ist anscheinend W i e p o l i t i s c h k o r r e k t m u s s K u n s t i n D e u t s c h l a n d s e i n ? | 21

noch immer – das, was das neue Gedicht der Konkreten Poesie weitergetragen hat, zuerst als Bestandteil von Übungen an der Ulmer Hochschule für Gestaltung, dem Nachkriegstreffpunkt internationaler Sprachexperimente, dann durch meine Aufnahme in die Berliner Akademie der Künste auf persön­ lichen Wunsch des Wagner-Kenners Hans Mayer, schließlich durch Studenten der Kunstakademie Düsseldorf. Mit Unterbrechungen waren der Konkreten ­Poesie und mithin dem spanischen »admirador« auch Türen geöffnet bei der Industrie, wo die Knappheit der Aussage analoge Bedürfnisse weckte. Also war im Großen und Ganzen der Einstieg der Konkreten Poesie geglückt. Nur in der Alice Salomon Hochschule mit mehrheitlich weiblichen Studierenden für die Ausbildung in sozialen Berufen war die Ablehnung so weit gediehen, dass das Gedicht durch Entscheidung des akademischen Senats entfernt werden muss. Das heißt, dass durch verschiedene Weisen der Wahrnehmung am Ende über die Bedeutung eines Gedichts demokratisch abgestimmt wird. Diesen Punkt gilt es, einzubringen. Ich bin, wie gesagt, etwas überrascht worden von dem ersten Telefonat, dass man Streit bekäme mit mir wegen dieses Gedichts. Dieses Gedicht ist Ausdruck einer sehr langen kulturellen Entwicklung. Man könnte natürlich auf Stéphane Mallarmé zurückverweisen, auf seine Konstellationen, auf den Symbolismus der Literatur, schließlich auf die Bauhaus-Begegnungen und auf die mit dem Nach-Dada. Nach Dada kam genau genommen die Konkrete Kunst  – nicht unbedingt gegen Dada gerichtet, aber doch bemerkenswert unterschiedlich, nämlich international exponiert. Aus diesem Kreis entstand dann schließlich das Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie. Es entstand in Rehau, glücklicherweise – auf das interessanterweise an der Autobahn als Modellstadt Bayerns mit einem Schild hingewiesen wird. Rehau ist eine Stadt, die aussieht wie eine südamerikanische Stadt. Eine spanische Stadt in Südamerika war angelegt mit einer Plaza de Armas in der Mitte und rund herum Militär, Rathaus und so weiter. Ganz ähnlich könnte man Rehau heute auch sehen, als orthogonal definiert. Dazu passt nun eigentlich sehr gut die Konkrete Kunst, also Konstruktive Kunst, die ja auch mit dem Orthogonalen sehr verliebt und bekannt ist. Das ist also ungefähr die Umgebung, in der solche Gedichte entstehen. Dieses Gedicht avenidas entstand 1951 in Bern, man kann sagen als Ausdruck einer neuen Entscheidung, Gedichte, Lyrik zu machen. Es war nicht provokativ gemeint. Aber ich habe mit großer Freude mitgehört, was alles 22 |

provokativ sein kann. Also, wir wollten nicht provokativ sein, sondern verbessern. Heißt etwas anders machen also schon provokativ sein? Das ist eine andere Frage. Also, man wollte einfach eine neue Sprache erarbeiten für Lyrik. Und das war damals die knappe Sprache, die zum Teil heute noch wirkt. Das heißt, heute ist es eine große Menge von jungen Lyrikerinnen – ich arbeite jetzt gerade an einem neuen Reclam-Verzeichnis –, woraus zum Beispiel eine hervorsticht, die jetzt sagen würde: »schreibe einen text. heute. entferne sämtliche lügen.« Das ist die Sprache, die heute gesprochen wird, »schreibe einen text. heute. entferne alle lügen.« Man kann sich dann über das Lügen unterhalten, wenn man will. Aber man weiß schon, was damit gemeint ist. Gemeint ist bei uns in der Architektur das große Gegenbeispiel der Zisterzienser; seit 40 Jahren besuche ich mit meiner Frau sämtliche Abteien der Zisterzienser in Europa, weil wir fasziniert sind von den Elementen. Es gibt um uns herum Luft und Licht. Wie stellen wir uns gegen Licht dar? Da kommt der Kunstgedanke auf: Wir bauen eine Mauer, um zu wohnen. Das ist das erste Gedicht, das ist der erste Schutz, das erste Kunstwerk – eine Mauer bauen. Dann die nächste Frage: Wie lässt man das Licht durch die Mauer? Wie kommt das Licht in den Raum hinein? Es entsteht die symbolische Frage: Mit welchen Symbolen können wir uns eigentlich beide zugänglich machen, Mauer und Licht? Dies war ein kurzer Nebenweg, meine Damen und meine Herren, um vorzustellen, wie man denken kann als Lyriker, wie man heute mit dieser knappen Sprache, die ja doch eine weltweite Verbreitung und auch viele Nachahmer im kleinen Kreise gefunden hat, umgeht und aus welchem Kreis dieses bekannte Gedicht über »flores y mujeres« stammt. Ich bin nun interessiert an der Frage und ihrer Beantwortung, weil wir damit eigentlich fast nie etwas zu tun hatten: Feminismus? Ja natürlich. Ich habe eine Tochter, die 50 Jahre jünger ist als ich, und habe mehrere Söhne, ­Enkel und Urenkel. Mit Enkelinnen ergibt sich reichlich Unterhaltung. Aber Feminismus oder »Political Correctness« ist nie ein richtiges, geschärftes Thema zwischen uns. Uns hat immer neurologische Ästhetik viel mehr inte­ ressiert. Das ist mehr unser Feld – Neurologie und Ästhetik, die Perfektion der Ästhetik. Also, es sind andere Fragen, die wir uns stellten. Aber jetzt habe ich gelernt, zuzuhören, oder werde lernen, zuzuhören, was wir eventuell falsch gemacht haben – nicht falsch gemacht, aber weshalb wir einfach durch die Anwesenheit unserer Person und unserer Gegenstände provokativ wirken. Gut, danke! W i e p o l i t i s c h k o r r e k t m u s s K u n s t i n D e u t s c h l a n d s e i n ? | 23

L U C I A N H Ö L S C H E R   Unter den in dieser Runde aufgeworfenen Fragen will ich

eine herausgreifen und zur Diskussion stellen: Ist die Kritik der Studentinnen der Alice Salomon Hochschule gerechtfertigt angesichts der Tatsache, dass Eugen Gomringer sein Gedicht in ganz anderen Zeiten verfasste? Damals, vermute ich, haben sich noch nicht viele Frauen, wenn überhaupt welche, an der Haltung dieses »Bewunderers« der Frauen gestoßen. Müssen wir diese andere Situation der frühen 1950er-Jahre nicht auch heute in Rechnung stellen, wenn wir diskutieren, ob dieses Gedicht Frauen diskriminiert? E U G E N G O M R I N G E R   Danke! Ja, ich kann nur sagen, meine erste Reaktion, als ich von dem Anfang des Skandals gehört habe, war eigentlich: »Diese Ignoranten!« Ich habe sie also als Ignoranten bezeichnet, als Unwissende, die nicht wissen. Ich habe übrigens gerade das schöne Buch hier;5 das ist das erste Buch der Konkreten Poesie; darin ist das spanische Gedicht avenidas aus dem Jahr 1953 enthalten; dieses Buch war damals keine Provokation; es wurde dann jedoch zu einer Provokation, aber nicht von uns beabsichtigt; es sollte auch niemand provoziert werden; es war einfach der Ausdruck unserer Sinnesweise. Es hat mich sehr berührt, dass diese jungen AStA-Mitglieder keine Ahnung hatten, woher das Gedicht kam. Vor einer Kritik hätte ich nachgeforscht, recherchiert. Woher kommt denn dieses seltsame Gedicht, das nur ein paar Wörter permutiert und eine Struktur hat ohne irgendwelche charakterlichen Definitionen der einzelnen Elemente und so weiter? Ich fand also, dass es eine gewisse Unkenntnis und sogar Dummheit ist, wenn man das nicht macht, bevor man eine andere Generation angreift, an der einem etwas nicht gefällt. Das habe ich empfunden. L U C I A N H Ö L S C H E R   Haben Sie sich einmal mit denen unterhalten? Sind Sie mit ihnen in Kontakt gekommen? Gab es einen Austausch? E U G E N G O M R I N G E R   Ja. Die Vermittler waren eigentlich der Rektor, die ­Vize-Rektorin und drei Professoren. Wir haben sie eingeladen, zu uns zu kommen nach Rehau zu Kaffee und Kuchen. Das hat alles wunderbar geklappt. Die Leute waren besorgt und sogar teilweise unserer Meinung. Sie haben gesagt, es tue ihnen leid. Aber wir haben dann natürlich auch kräftig entgegnet: »Ja, muss denn ein Rektor einer solchen Schule sich das so gefallen lassen? Kann er denn nicht ein autokratisches Wort sprechen?« Und die Antwort war in diesem Fall: »Nein.« Das ging also nicht. Es liefe seinen immer und immer wieder genannten demokratischen Weg. Ich habe noch nie so viel über demokratische Wege nachgedacht, wie seit einem Jahr. Denn als Schweizer, der ich 24 |

ja auch zum Teil bin, sind die direkte Demokratie mit dem Referendum und so weiter für mich lebendige Begriffe. Da kenne ich mich aus. Aber nun war das auch demokratisch und der Rektor und die anderen Besucher, die bei uns waren, fühlten sich anscheinend nicht übergangen, sondern sie haben demokratisch einfach nicht im Wege gestanden. L U C I A N H Ö L S C H E R   Als ich die Zeitungsartikel im Internet verfolgt habe, habe ich mich gefragt, wo diese Debatte eigentlich ihren Ort hat. Man braucht ja mit dem AStA der Alice Salomon Hochschule nicht einer Meinung sein und kann doch feststellen, dass die öffentlichen Kritiker die Stellungnahme des AStAs in ganz andere Zusammenhänge gerückt haben. So kommt man meines Erachtens nicht auf den Kern der Debatte. Vielmehr beobachten wir eher so etwas wie ein Ringen um die Kontexte, in denen diese Debatte anzusiedeln sind. E U G E N G O M R I N G E R   Ja, Sie haben recht. Aufgefallen ist mir dann auch, dass man nicht die Wörter im Allgemeinen, auch nicht die einzelnen Wörter betrachtet hat, sondern dass man auch das Klima, die Atmosphäre, die da mit wenigen Wörtern entstanden ist, beurteilt hat. Und ich glaube, die Wahrnehmung der Atmosphäre, die durch diese Struktur entstanden ist, hat ganz entschiedene Beurteilungen gefunden. Das habe ich aus der Presse erfahren. Man kann also (das ist erlaubt; selbstverständlich machen das alle Ästhetiker) einen solchen Zustand verschieden beurteilen, verschieden wahrnehmen. Die Frage ist dann: Kann man abstimmen über Wahrnehmungsfragen? Das ist eine schwierige Frage, die, glaube ich, alle, die mit der Kunst zu tun haben, immer wieder beschäftigt. Die andere Frage ist die Wort-Frage. Wie geht man um mit diesen wenigen Wörtern? Dazu haben sich merkwürdigerweise nicht so viele Leute gemeldet  – auch nicht aus den intellektuellen Wort-Kreisen, deren es nicht so viele gibt – wie etwa Michael Lentz, der sich der Frage kritisch angenommen hat. Aber sonst haben wir wenig gemerkt von dieser Art, als wäre das eine heiße Sache, sich mit den wenigen Wörtern abzugeben und zu sagen: Die haben ja eigentlich doch gar keine Ausdrucksweise an sich. Sie beinhalten nichts; da ist keine Semantik. Und trotzdem spielen sie miteinander. Da kommt ein ganz anderer Effekt hinein. Man muss sich umstellen in seinem kulturellen Verständnis.

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DISKUSSION G E R H A R T B A U M , T h e a d o r n , U T E F R E V E R T, S V E N F R I E D R I C H , EUGEN GOMRINGER, FLORIAN HÖLSCHER, LUCIAN HÖLSCHER, RENATE LIESMANN-BAUM, MARINA VON ASSEL

U T E F R E V E R T   Ich bin dankbar, dass Sie einen anderen Ton in die Debatte

gebracht haben als den, den wir am Ende der letzten Diskussion hier erlebt haben – einen weniger hysterischen und selbstgefälligen Ton. Die Studentinnen an der Alice Salomon Hochschule – es sind im übrigen keine höheren Töchter, sondern Aufsteigerkinder aus vielfach migrantischen Familien  – als Spießer und prüde abzuqualifizieren, ist überheblich und selbstgerecht. Ich kann unschwer nachvollziehen, dass sich junge Frauen von dem Gedicht provoziert und unangenehm berührt fühlen. Frauen und Blumen zu analogisieren, hat ja in der politischen, sozialen und kulturellen Sprache des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine lange Tradition. Wenn Frauen Blumen oder wie Blumen sind, dann kann man sie bewundern, an ihnen riechen, sie verschenken. Man kann sie auch pflücken und brechen, wie Emilia Galotti. Immer aber sind Frauen, ebenso wie Blumen, Objekte. Dass sich Frauen heute nicht mehr als Objekte verstehen wollen, ist nur zu begrüßen. Anfang der 1950er-Jahre war man vielleicht noch nicht so weit. Inzwischen aber sind Frauen sensibler für alle Arten von Objektivierung und damit verbundener Herabsetzung geworden, und sie legen ein größeres Selbstbewusstsein an den Tag. Sie wollen sich eben nicht mehr nur pflücken, brechen, verschenken und bewundern lassen. Im Übrigen finde ich es irreführend, das, was mit Ihrem Gedicht passiert ist, als Ausdruck von Kunstverbot in dieser Republik darzustellen. Das Gedicht wurde weder zensiert noch verboten, es ist nach wie vor in der Welt und dort sichtbarer als je zuvor. Die Hochschule selber informiert darüber, man findet es im Internet, man kann es in Bibliotheken lesen oder käuflich erwerben, man kann es deklamieren, ohne dafür ins Gefängnis gesteckt zu werden – unter Verbot stelle ich mir etwas anderes vor. 26 |

E U G E N G O M R I N G E R   Dieses Gedicht, das 1953 in meinem ersten Buch erschien,

entstammt dem Stadion Wankdorf in Bern. Was hat das Gedicht mit dem Stadion Wankdorf, mit der Fußballweltmeisterschaft 1954 zu tun? Ich habe das gestern in einem längeren Artikel geschrieben. Wir haben schon länger im Stadion Wankdorf in einem Büro im Uhrturm gearbeitet, und zwar wegen des respektablen Umfangs der Architektur. Wir brauchten eine große Architektur und fanden in Bern keine andere als das Stadion Wankdorf. Dort entstand das Gedicht, und es war erwünscht, dass das Stadion im Zusammenhang mit dem Gedicht erwähnt wird. Warum auch nicht? T H E A D O R N   Ich halte es für einen äußerst problematischen Trend, sich jegliche Kunst, die einen verstört, vom Leibe halten zu wollen. Offensichtlich bin auch ich eine Frau – und die Kunst, mit der ich großgeworden bin, ist zu, sagen wir, 95 bis 99 Prozent von Männern geschaffen worden. Das kann ich natürlich bedauern, und ich tue dies auch, und ich freue mich über jede Künstlerin, die ich für mich entdecke. Aber ich wäre weder ein glücklicherer Mensch noch ein gefestigterer Charakter noch selbst eine bessere Künstlerin geworden, wenn ich bei jedem von einem männlichen Autor verfassten Satz, den ich für frauenfeindlich gehalten hätte, aufgequiekt und gerufen hätte: »Tut das weg! Das verstört mich! Das kränkt mich!« Eine solche Haltung ist doch infantil. Ich kann jemanden wie Richard Wagner gern für das Frauen­bild, das sich durch seine Werke zieht, kritisieren oder meinetwegen auch ablehnen. Aber erstens sollte ich mich zuvor damit ernsthaft, ich betone ernsthaft, auseinandergesetzt haben. Und zweitens darf ich deshalb nicht rufen: »Pfui, weg damit! Wie furchtbar, wenn noch ein anderes Fräulein durch solch künstlerische Grobheiten verletzt werden müsste.« Wir stellen damit nicht nur die Kunstfreiheit massiv infrage, sondern wir infantilisieren und pathologisieren uns selbst. Ich möchte kurz noch das aufgreifen, was Sie, Herr Gomringer, zu Beginn angesprochen haben  – dass es sich hier offensichtlich auch um ein Generationen-Thema handelt. Ich glaube, diese Einschätzung ist sehr richtig. Wie oft höre ich von jüngeren Frauen, von jüngeren Feministinnen den Satz: »Ihr habt euch solche männlichen Sprüche vielleicht noch gefallen lassen. Wir tun das nicht mehr.« Damit es keine Missverständnisse gibt: Ich bin die Letzte, die bereit ist, Sexismus mit einem ergebenen Lächeln einfach so hinzunehmen. Aber ich halte es für fatal, wenn Vorgänge, Kunstwerke nur noch unter der Perspektive betrachtet werden: »Holla, war da schon wieder was sexistisch?« Das macht die Dinge erschreckend eindimensional und führt außerdem zu einem p ­ aranoiden Blick. D I S K U S S I O N | 27

Ja, Wagner war ein Sexist – und er war ein großer Künstler. Ich frage mich, wie junge Menschen irgendeine Art von psychischem Immunsystem entwickeln wollen, wenn sie verlangen, dass alles, was sie verstören könnte, von i­hnen ferngehalten wird. An manchen amerikanischen Colleges ist dieser Trend mitt­ lerweile so grotesk, dass Professoren Seminar-Lektüren, die einzelne Studenten erschüttern könnten, mit einer sogenannten »Trigger«-Warnung ver­sehen müssen. Wenn wir damit anfangen, können wir gleich die gesamte Kunst in die Tonne treten. Denn um Gottes Willen, Heidenröslein! »Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n …« Ist das nicht mindestens so verstörend wie das Gedicht von Eugen Gomringer? Jeder hat das Recht, sich von diesem oder jenem gekränkt zu fühlen. Aber niemand hat das Recht, zu verlangen, dass deshalb dieses oder jenes eingekastelt oder mit einem Warnmarker versehen gehört. Diese Art von willkürlicher, subjektiver Ausweitung der Tabuzone ist für eine offene Gesellschaft tödlich. L U C I A N H Ö L S C H E R   Lassen Sie mich unsere Diskussion noch einmal aus der Distanz betrachten: Wir sind uns darin einig, dass wir von den persönlichen Erfahrungen der Frauen ausgehen müssen, die Gomringers Gedicht avenidas kritisiert haben. Wir sind vielleicht nicht ihrer Meinung bei der Beurteilung des Gedichtes, aber wir haben sie erst einmal so zu nehmen, wie die Kritik gemeint war: nicht als Zensur, sondern als Äußerung der Betroffenen von jungen Frauen, die sich gegen den Blick eines Mannes, wie er hier angesprochen wird, zur Wehr setzen. Etwas anderes ist es, wenn wir das Gedicht für sich, auf einer rein inhaltlichen Ebene beurteilen. Das ist doch auch, worauf Sie, Herr Gomringer, sich beziehen. Sie haben Ihr Gedicht in die Geschichte der Konkreten Poesie eingereiht. Darauf bezog sich ja auch die Ehrung, die mit seiner Veröffentlichung auf der Fassade der Hochschule verbunden war. Denn in ihm wollte man ja die Konkrete Poesie insgesamt als poetische Form ehren. Und so stellt sich mir die Frage: Wenn man eine solche Ehrung ausspricht, darf man sie dann wieder zurücknehmen? Ich denke, nein. Nach meiner Auffassung ist dort ein Denkmal errichtet worden. Was aber wird aus einem Denkmal, wenn man plötzlich sagt: Wir stellen an diese Stelle einen Wechselrahmen, wo mal das und mal jenes ausgestellt wird? Das geht nicht, das läuft auf eine Rücknahme, ja eine Aberkennung der Ehrung hinaus. Mit Denkmälern haben wir in Deutschland eine lange, problematische Tradition. Wie viele Denkmäler haben wir, mit denen wir uns nicht mehr 28 |

identifizieren? Da stellt sich immer die Frage: Machen wir sie weg oder lassen wir sie stehen? Ich war immer der Meinung: Wir müssen sie stehen lassen – auch wenn wir Widerspruch gegen ihre ursprüngliche Intention einlegen. Kommt es zu unterschiedlichen Deutungen und Kontextualisierungen wie zum Beispiel beim Niederwalddenkmal am Rhein, am Deutschen Eck in ­Koblenz oder gar beim Kyffhäuserdenkmal bei Mühlhausen in Thüringen, dann legen sich verschiedene Ebenen der Deutung übereinander, die ein Zeugnis von der geschichtlichen Tiefe des deutschen Gemeinwesens ablegen. Es gibt dann nicht mehr nur eine Lesart, sondern mehrere, auch kontroverse Les­arten, die alle abrufbar bleiben. Wegmachen ist immer der schlechteste Umgang mit Denkmälern … Z w i s c h e n r u f :   Der Lenin ist weg. Ja, die Lenin-Denkmäler der alten DDR sind heute weg. Aber Sie wissen, es gibt einen Künstler, Rudolf Herz, der mit dem großen Lenin-Denkmal, welches in Dresden vor dem Bahnhof stand, vor einigen Jahren durch Europa fuhr; »Lenin on Tour« hieß seine Performance. Die Köpfe der Dreiergruppe fuhren auf einem Sattelschlepper über die Alpen und später quer durch ­Europa bis nach Finnland, machten also Lenin mobil und brachte die Leute überall zum Nachdenken. Insofern ist auch Lenin noch da. R E N AT E L I E S M A N N - B A U M   Man muss doch unterscheiden, ob dieses Gedicht an einem Ort präsentiert wird, an dem jeder vorbeigeht und es wahrnehmen muss, weil es eben einfach in der Öffentlichkeit steht, oder ob man es in einem Buch liest, in einer Enzyklopädie meinetwegen über Konkrete Poesie oder überhaupt über Poesie von »Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n« bis heute. Das ist, denke ich, ein Unterschied. Die Art der Wahrnehmung ist eine total andere. Und ich bin nicht der Meinung, dass das ein Zurücknehmen der Ehrung ist, sondern vielleicht einfach der Worte. Übrigens: Mir persönlich gefällt das Gedicht sehr gut. Aber ich möchte auch nicht jeden Tag daran vorbeigehen und es lesen und empfinden müssen, ob ich will oder nicht. Es gibt ja auch nirgendwo eine Wand, wo dransteht »Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n«. Da würde man sich auch sagen: Muss das denn sein? Es reicht doch, wenn es in einem Buch geschrieben steht. M A R I N A V O N A S S E L   Wer bestimmt, was in den öffentlichen Raum darf ? Wer bestimmt das 50 Jahre später? Wer bestimmt, wie die Architektur aussieht, welche Dekoration an so alten Gebäuden sein darf? Muss man etwas abschlagen, nur weil es jemandem nicht gefällt? Da würde ich Frau Dorn auf jeden Fall D I S K U S S I O N | 29

Recht geben. Ich finde, wir müssen lernen, uns damit auseinander­zusetzen. Wir können das diskutieren, und jeder natürlich hat das Recht, sein Empfinden dazu zu äußern – zu haben sowieso. Aber es ist eine ganz wichtige Frage, wie man mit dem Ding an sich umgeht, weil das Ding ja auch ein Stück Geschichte von uns allen ist. Auch dieses Gedicht von Eugen G ­ omringer ist ein Stück unserer Geschichte, ein Teil der Kunst, ein Teil der Konkreten ­Poesie. Und das wegzunehmen aus dem öffentlichen Raum, halte ich auch für sehr bedenklich. E U G E N G O M R I N G E R   Ich persönlich begreife, dass etwas untergeht. Ich sehe das an meinem eigenen Altersempfinden und meiner eigenen Entwicklung, wie sich das und das langsam verändert. Und wenn man von Denkmälern spricht, dann glaube ich, überlässt man die Denkmäler den neuen Generationen und dem, was diese damit machen. Auch wenn sie womöglich einen Kopf absägen oder sonst etwas verändern – das können sie. Man kann das auch gar nicht verhindern. Die Entwicklung läuft ja ohnehin seit 20, 30 Jahren völlig anders: Sie ist digital. Es gibt eine ganze Reihe guter Lyriker in Deutschland, ganz findige Köpfe. Aber die viel interessantere und weitergehende Frage ist schon längst: Was macht ihr mit dem Digitalen? Gibt es digitale Poesie? Ja. Das gibt es. Aber ich persönlich finde die langweilig. Fast jeden Tag erscheint ein Feuilleton in Deutschland das Analoge. Man sucht analoges Verhalten. Was das in dieser riesigen digitalen Oberfläche, die überall mehr oder weniger gleichartig ist, diese Algorithmen, die sich auf der Oberfläche ausbreiten? Wie können wir denn Analoges erkennen? Ich glaube, gerade ein solches Gedicht – ich will es jetzt weiter nicht in den Himmel schreiben – ist schon ein Anhaltspunkt – und ich setze das jetzt einmal provokativ ein –, es ist ein Anhaltspunkt gegen die digitale Überschau des Ganzen, der wir heute ausgeliefert sind. Denn hier haben wir es nur mit ganz wenigen spanischen Wörtern, die jeder Mensch eigentlich begreifen kann oder lernen kann, zu tun. Übrigens ist das Buch ja auch voller englischer Gedichte, französischer Gedichte und deutscher Gedichte; das habe ich alles zusammengefasst. Es ist durchaus möglich, dass dieses spanische Gedicht da fast zufällig die spanische Sprache vertritt. Ich meine, es gibt Möglichkeiten, auch Denkmäler auf ganz andere Weise zu umgehen, von mir aus: veralten zu lassen. Da habe ich persönlich überhaupt nichts dagegen. Der Alterungsprozess ist da. L U C I A N H Ö L S C H E R   Ich darf das Stichwort der Provokation aufgreifen: Was wird eigentlich aus der Provokation, wenn sie zu normal wird, wenn sie nie30 |

mand mehr provoziert? Und von welcher Provokation sprechen wir eigentlich: von der der Frauen oder der, die die Konkrete Poesie auslösen wollte? Provokationen wollen Grenzen verletzen, aber welche Grenzen? Was für den einen eine Grenze ist, ist es für den anderen noch lange nicht. Und was vor Zeiten einmal eine Grenze war, wird es heute oft gar nicht mehr sein. Wir haben alle sehr verschiedene Provokationen im Kopf. G E R H A R T B A U M   Ich war Mitglied der Kunstkommission bei den Neubauten des Parlaments. Das war ein Trauerspiel, weil nämlich ein Teil der Kollegen seinen persönlichen Geschmack an die Stelle des Respekts vor der Kunst gestellt hat. Dieses Gedicht von Ihnen, Herr Gomringer, verdient Respekt. Ein Kunstwerk! Damit kann man machen, was man will  – es bleibt jedenfalls ein Kunstwerk. Ein anderes Beispiel: Nehmen Sie die Umhüllung des Reichstags, das Projekt von Christo. Da haben die Abgeordneten abgestimmt, ob das Kunst ist oder nicht – per Votum! Da kamen auch Argumente wie: Verhöhnung dieses Staatssymbols, Steuergeldverschwendung. Natürlich muss ausgewählt werden, es muss aber nicht jedem gefallen. Aber Kunst dennoch zu akzeptieren bedeutet immer auch Respekt vor der Minderheit, Respekt vor dem Künstler. Die Abstimmung verlief damals ganz knapp. S V E N F R I E D R I C H   Herr Hölscher, ich danke Ihnen erst einmal dafür, dass Sie den Mut gehabt haben, hier die Position derjenigen zu vertreten, die nicht anwesend sind, nämlich die Studierenden vom AStA. Ich habe mich da natürlich auch gefragt: Was hat mich eigentlich geärgert an dieser ganzen Geschichte? Dass die jungen Damen sich da provoziert fühlen? Nein! Über Wahrnehmung – das hat Herr Gomringer richtig gesagt, das halte ich für sehr wichtig – kann man nicht abstimmen, nicht einmal demokratisch, und über Wirkungen eben auch nicht. Das heißt, wir müssen das ernst nehmen. Was mich geärgert hat, ist die Debatte, die sich daran angeschlossen hat. Ich habe mir gesagt: Ja, sollen die da doch mit ihrer Fassade machen, was sie wollen. Das ist doch eigentlich egal. Aber dass sich hier an einem – wie ich übrigens finde, poetisch sehr dichten und ästhetisch ansprechenden – Gedicht, einem kurzen Gedicht, eine derartige Debatte entzündet, als ginge es hier um den Weltfrieden, das hat mich geärgert, und das hat mir auch Angst gemacht, weil ich mich gefragt habe: Was ist denn eigentlich, wenn das der Standard wird – bei der Diskussion über Kunst wohlgemerkt. Es ist ja nicht einmal ein politisches Statement; es ist ein Kunstwerk. Auf der einen Seite ist es ja auch eine Interpretation, sich dadurch provoziert zu fühlen. Es ist ja kein klares D I S K U S S I O N | 31

Statement. Auf der anderen Seite – Herr Zaimoğlu hat es gesagt – ist heute frauenfeindlicher Rap gang und gäbe. Da werden Frauen als »bitches« bezeichnet. Und kein Mensch regt sich darüber auf, nicht wirklich jedenfalls. Es muss dann schon Auschwitz her, damit man einmal aufmerkt, was da eigentlich abgeht. Man kann natürlich aber auch dann sagen, das sei durch die Kunstfreiheit gedeckt. Und am Ende – das Stichwort fiel schon – Bilderstürmerei. Das gab es im Mittelalter. Es gibt Islamisten, die christliche Statuen sprengen, weil sie sich dadurch provoziert und verletzt fühlen. Wenn wir die Befindlichkeiten der Wahrnehmung von jedem Einzelnen zum Standard machen, dann können wir 95 Prozent unserer Bibliotheken leeren und auf den Marktplätzen unserer Städte verbrennen – wir haben ja gewisse Erfahrung damit – und können uns im kollektiven Verstummen üben. F L O R I A N H Ö L S C H E R   Es wurde schon erwähnt, dass ein Gedicht, welches man aus dem öffentlichen Raum entfernt, nicht totgemacht wird. Sondern es lebt weiter. Aber wenn man – ich unterrichte selbst in einer Bildungsinstitution – einen Text an einer Wand einer Bildungsinstitution anbringt, läuft das natürlich immer auch Gefahr, so etwas wie Leitbild-Charakter zu bekommen. Und das ist dann schon etwas ganz anderes, als wenn das nur ein Denkmal ist. Ich glaube, diesen Aspekt sollte man in der Debatte nicht ganz vergessen. Die andere Sache möchte ich noch erwähnen. Es wurde schon über den Kontext gesprochen. Ich finde es sehr richtig, dass man Kunstwerke, auch gerade musikalische Kunstwerke, aber auch Gedichte, aus dem Kontext heraus interpretiert. In der Musik ist es bis zu einem gar nicht so fernen Zeitpunkt ja üblich gewesen, dass man gar keine alte Kunst rezipiert hat. Bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist überhaupt keine Alte Musik gespielt worden, und man hat es auch nicht für nötig befunden. Wenn aber jetzt heute so viele alte Kunst rezipiert wird, setzt das ja voraus, dass man diese Kunstwerke in einem gewissen Maße für aktuell hält. Sonst würde man sie nicht wieder anschauen. Und damit müssen die Kunstwerke, die auch für nachfolgende Generationen sprechen wollen, auch damit rechnen, zu altern und vielleicht auch ungewollt in neue Kontexte zu geraten. Dies ist ein Risiko, das ein Kunstwerk durchaus auch mit Mut und mit Freude eingehen kann, dass man es irgendwann anders liest. Es ist eine völlig andere Frage, ob es dann immer noch unbedingt einen Platz im öffentlichen Raum haben muss.

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L U C I A N H Ö L S C H E R   Ich habe vorhin emphatisch zugestimmt, als die Vieldeutigkeit der Kunst als erwiesen bezeichnet wurde. Damit soll die Situation, in der wir diskutieren, nicht beschwichtigt werden. Es ist wichtig, dass Kunst – auch dieses Gedicht, ob gewollt oder nicht – uns überhaupt ermöglicht, uns über strittige Themen, auch über Geschlechterverhältnisse auseinanderzusetzen. Und ich würde für mich daraus den Schluss ziehen, dass es einen Unterschied macht, ob man inhaltlich scharf Gegenposition bezieht oder ob man dazu sagt: »Das muss weg!« Dem würde ich keineswegs zustimmen. Es muss die Chance erhalten bleiben, dass wir darüber diskutieren und streiten. Und das ist nur möglich, wenn der Auslöser der Provokation erhalten bleibt, nicht verschwindet.

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K u n s t f r e i h e i t, d a s G r u n d g e s e t z u n d das Ermöglichen von Kunst in Zeiten der Globalisierung Gerhart Baum im Dialog mit Charlotte Seither

G E R H A R T B A U M   Das Grundgesetz, unsere staatliche Ordnung, ist ja nicht

vom Himmel gefallen. Wir sind 1945 von den Schrecken des Dritten Reiches befreit worden, und uns wurde die Chance gegeben, eine Demokratie aufzubauen auf der Grundlage einer freiheitlichen Verfassung. Das war mitunter nicht einfach, viele haben gezögert und wollten einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Mord sollte verjähren. Kaum einer wollte wissen, was die Barbarei, der Völkermord an den Juden, der verbrecherische Angriffskrieg bedeutet haben. Wir Jüngeren aber wollten alles wissen. Es sollte kein Schlussstrich gezogen werden, sondern eine Aufarbeitung stattfinden. Bis heute setzen wir uns zum Nutzen unserer Demokratie mit unserer Vergangenheit offen und kritisch auseinander. Das unterscheidet uns von vielen anderen Völkern. Das Grundgesetz ist geprägt von der Erfahrung der Barbarei, man wollte bewusst ein neues freiheitliches Staatswesen aufbauen. Gleich Artikel 1 garantiert die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Sie ist das sittliche Leitprinzip, das unser Verhältnis zum Staat und auch zwischen den Bürgern bestimmt. Nicht nur eine schöne Absichtserklärung, sondern ein einklagbares Grundrecht. Davon habe ich mehrfach Gebrauch gemacht. Das heißt also: Wir Bürger können uns auf dieses Grundgesetz verlassen. Und das Bundesverfassungsgericht bringt – sehr verantwortungsbewusst – das Grundgesetz auch immer wieder zum Sprechen. Bisweilen ist es vor dem Hintergrund einer veränderten Verfassungswirklichkeit sogar weiterentwickelt worden, auch auf dem Gebiet, das wir heute hier diskutieren, dem der Kunstfreiheit. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 bestimmt die Werteorientierung heute. 70 Jahre ist das her. Es ist das erste Dokument, 34 |

das die Völker in dem gemeinsamen Bewusstsein zum Schutz der Menschenwürde verbindet. Dass diese dennoch weltweit vielfach verletzt wird, wissen wir. Aber es hat sich immerhin daraus ein Völkerrecht gebildet, das diesen Leitprinzipien folgt. Nehmen wir allein das Folterverbot. Oder ein Beispiel aus neuester Zeit: Die Vereinten Nationen befassen sich mit den freiheitsfeindlichen Entwicklungen des Internets. »The Right to Privacy in the Digital Age« heißt die letzte Entschließung der Generalversammlung und sie reagiert damit auf neue Angriffe auf die Freiheitsrechte, die unsere Gesellschaft und auch die Kunst bedrohen. Auch unser Verfassungsgericht verteidigt den Raum, der im Grundgesetz vorgegeben ist. Artikel 5: Die Kunst ist frei. Und das ist ein Grundrecht, das – anders als das Grundrecht auf Meinungsfreiheit – nicht eingeschränkt werden darf. Das gilt! Demokratie ist Freiheit, Kunst ist Freiheit. Kunst hat ihren Ort in der Demokratie. Das ist unser Verfassungsverständnis. Einschränkungen sind nur möglich, wenn es um die Grundrechte anderer geht, als Persönlichkeitsschutz. Denken Sie an die Auseinandersetzung um Klaus Manns Buch Mephisto, das in der Tat wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten nicht weiter publiziert werden durfte. Ich habe heute Zweifel, ob diese Maßnahme wirklich gerechtfertigt war – Gründgens war mit den Nazis ja tief verstrickt. Aber, wie gesagt, es gibt eine Grenze der Kunstfreiheit, eben dort, wo Persönlichkeitsrechte anderer verletzt werden. Aber es gibt keine Grenze, was die Inhalte angeht – generell. Ich verweise auf das sogenannte »Zombie-Urteil«, wo sich das Gericht intensiv mit der Frage auseinandersetzt, ob Darstellungen von Gewalt möglich sind und wie weit sie gehen dürfen. Zusammengefasst zum Artikel 5 des Grundgesetzes: Die Freiheit der Kunst ist generell keinen Beschränkungen unterworfen. Auch das ist eine Erfahrung aus der Nazi-Zeit – darum wissen wir alle: Entartete Kunst, Bücherverbrennungen. Und wir haben ja zwei Diktaturen zu verarbeiten: nicht nur die Nazi-Diktatur, sondern auch die DDR . Diktaturen sind grundsätzlich kunstfeindlich! Warum? Sie fürchten das freiheitliche Denken, das der Kunst entsprießt, und schränken sie ein. Deshalb ist die Freiheit der Kunst für eine Demokratie sozusagen konstitutiv: ein Versuchsraum zur freien Entfaltung und zum freien Wirken, ein Maßstab für das innere Erwachsen-Sein einer Gesellschaft. Freie Kunst ist immer Ausdruck einer lebendigen Demokratie, gibt Denkanstöße und Anregungen zum Hinterfragen und Weiterdenken – Kunst K u n s t f r e i h e i t, d a s G r u n d g e s e t z u n d d a s E r m ö g l i c h e n v o n K u n s t | 35

ist zu verstehen als geistige Nahrung, die emotional und intellektuell zur Entwicklung des Individuums, zur Bildung seiner Persönlichkeit, bis hin zur Entwicklung einer Gemeinschaft beiträgt. Helmut Lachenmann drückt das so aus: »Demokratie scheint mir nur dort liebenswürdig, lebenswürdig, verteidigungswürdig und so auch für die Gemeinschaft positiv vermittelbar zu sein, wo ein wie immer auch begründetes Gemeinschaftsbewußtsein sich verbindet mit dem Gedanken an unsere Geistfähigkeit, unsere Reflexionsfähigkeit, unsere Öffnungsfähigkeit.« Und es gibt auch ein sehr schönes Zitat von Heinrich Böll: »Kunst ist die einzig erkennbare Erscheinungsform der Freiheit auf dieser Erde«. Sollte in unserem Land die Kunstfreiheit eingeschränkt werden, wäre das rechtlich nicht einfach. Eine Einschränkung wäre in hohem Maße begründungsnotwendig. Und wie weit die Meinungsfreiheit gehen darf, das wurde schon diskutiert. Sie unterliegt in der Tat stärkeren Einschränkungen, wie beispielsweise die strafrechtlichen Sanktionen gegen die »Auschwitz-Lüge«. Wir haben den rechtlichen Rahmen abgesteckt, und nun ist die Frage, wie wir ihn ausfüllen. Wir haben ein Kunstfördersystem, das sich von anderen Staaten unterscheidet. Nehmen Sie beispielsweise die Vereinigten Staaten von Amerika. In Deutschland wird Kunst staatlich gefördert durch Gemeinden, Länder, Bund. Das heißt, wir haben ein Fördersystem, das nicht abhängig ist von Sponsoren, die gegebenenfalls inhaltlich Einfluss nehmen wollen, sondern wir haben ein System, das das Ermöglichen von Kunst in seiner Vielfalt im Auge hat, das allerdings in hohem Maße abhängig von öffentlichen Haushalten ist. Und das betrifft auch die Haushalte der Rundfunkanstalten, was beispielsweise im Bereich der Musik besonders spürbare Auswirkungen haben kann. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat einen Kulturauftrag. Das ist in dem letzten Gebührenurteil noch einmal deutlich geworden. Die Richter haben deutlich gemacht, dass Information, Bildung, Kultur die Kernaufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind. Nur so sind Gebühren gerechtfertigt. Dass dieser Auftrag nicht ausreichend erfüllt wird, ist immer wieder eine Gefahr. Man denke an bestimmte Einschränkungen bei Sendungen oder beispielsweise an die skandalöse Vernichtung des SWR -Orchesters. So schön die Grundsätze sind und so schön oft die Reden, schrittweise wird immer wieder der Kulturauftrag zugunsten der quotenträchtigen Unterhaltung umgangen. Aber ich habe in meinem Leben auch erfahren: Lauter Protest verhindert bisweilen Schlimmeres – beispielsweise weitere Orchester einzustampfen oder 36 |

das Programm auf noch seichtere Unterhaltung hin zu orientieren. »Was hat die Quote mit Kunst zu tun«, frage ich immer wieder den Intendanten des Westdeutschen Rundfunks, wo ich im Rundfunkrat mitwirke. Nichts hat die Quote mit Kunst zu tun! Wenn die Kunst Quote macht, ist das ja schön, aber das darf nicht die Voraussetzung sein. Dass dieses Kunstfördersystem – wie beschrieben – funktioniert, ist eine wichtige Voraussetzung für die Unabhängigkeit der Kunst. Auch eine zusätzliche private Förderung ist in vielen Fällen wichtig. Wir haben beispielsweise eine Zunahme von Stiftungen, die sich der Kunst widmen und auch Anstöße geben. Aber es darf nicht so weit gehen, dass die öffentliche Hand ihre Förderung mit Hinweis auf Stiftungen einschränkt. Und es darf auch nicht passieren, dass ein Stifter der Öffentlichkeit seinen Willen aufoktroyiert. Zum Beispiel, er stifte seine Sammlung nur, wenn ein neues Museum gebaut wird. Und so weiter. Da sollte es Grenzen geben. Die Kunst – wie kommt sie zum Tragen? Wer wählt förderungswürdige Projekte aus? Gute Praxis ist, dass man Jurys einschaltet. Aber man kann nicht alles fördern, auch wenn es förderwürdig ist. Da kommt dann schnell Einfluss von staatlicher Seite ins Spiel. Welche Politiker entscheiden worüber? Wir sind uns ja im Klaren darüber, dass wir – auch die, die wir hier sitzen – eine Minderheit darstellen. Diejenigen, die Kunst wollen und brauchen und für notwendig halten, sind in dieser Gesellschaft eine Minderheit und darauf angewiesen, dass die Mehrheit sie respektiert. Ich werde nie vergessen, wie der frühere Bundespräsident Herzog einmal gesagt hat: »Diese Ausstellung ist ja schrecklich! Da würde ich privat nie hingehen. Aber ich weiß, dass diese Kunst für einige Menschen wichtig ist, und deshalb gehe ich hin.« Wichtig für andere – also dieser Respekt der Mehrheit gegenüber der Minderheit ist Wesensmerkmal unserer Demokratie. Heute müssen wir uns allerdings fragen, ob durch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen nicht Gefahren für unser freiheitliches Denken aufziehen – etwa durch die AfD, die sich in Sachen Kunst ja bereits entsprechend äußert. Ich denke auch an Österreich. Was hat die FPÖ jahrelang betrieben? Sie hat die Freiheit der Kunst angegriffen. Sie wollte nur bestimmte Dinge sehen und hören und gelesen wissen. Wir müssen jetzt auf der Hut sein und achtgeben, ob nicht schleichend sich etwas in Richtung Zensur entwickelt, und sei es nur zu einer Veränderung des kulturellen, des politischen Klimas.

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Alles, was wir hier über unseren wunderbaren deutschen Verfassungsraum sagen können, gilt ja nicht allgemein. Wir leben in einer Zeitenwende. Das Internet verändert alles: die Wissenschaft, die Kommunikation, die Politik, unsere Köpfe. Und die Frage ist, welchen Einfluss nimmt diese Entwicklung auf die Freiheit der Kunst? Auch im Zuge der Globalisierung gibt es neue Spannungsverhältnisse. Denken Sie einmal an die Diskussion über TTIP . Von Donald Trump kann man ja das Schlimmste auch in dieser Hinsicht nur befürchten. Der Mann sagt ja, er sei stolz darauf, dass er kein Buch liest. Und das nimmt man ihm auch ab. Unsere Wahrnehmung ist verändert, das steht fest. Aber wie weit? Ich halte jetzt einmal Fragen fest, die wir später diskutieren müssen: Wie weit wirkt das Internet auf unser Kulturverständnis ein? Was können und was wollen wir noch wahrnehmen? Gerade die jungen Leute reagieren sehr stark auf das Internet. Vieles in der Wahrnehmung erscheint verkürzt, auch die Diskussionen. Das Netz ermöglicht keinen Meinungsaustausch, der in die Tiefe geht. Alles bleibt an der Oberfläche. Ein Meinungsaustausch, der – mitunter von Hass geprägt  – zum Shitstorm wird. Dagegen müssen wir etwas unternehmen. Der deutsche Gesetzgeber versucht jetzt, mit einem Gesetz – mit dem furchtbaren Namen »Netzwerkdurchsetzungsgesetz«  – gegen Hass vorzu­gehen. Facebook und andere Netzwerke werden verpflichtet, bestimmte Dinge zu löschen – was andererseits wieder bedenklich nahe an die Beschränkung von Meinungsfreiheit herankommen kann. Dies alles sind Versuche, die – wie Timothy Garton Ash gesagt hat – »Kloake des Internets« auszutrocknen. Trotz alledem, unsere Frage bleibt: Welche Wirkung hat das Internet auf Kunst, auf Kunstrezeption, auf die Art der Wahrnehmung der Kunst? Das muss diskutiert werden. Insgesamt befinden sich die Menschen in einer großen Unsicherheit. Es stimmt ja nichts mehr. Die Welt ist in Unordnung. Und auch in unserem Lande gibt es viele Menschen, die unsicher sind, deren Verhalten nicht von Mut geprägt ist, sondern von diesem widerlichen Dämon der Angst, der die freie Gesellschaft zu zersetzen droht. Die Angst ruft nach Sicherheit, und das ist ein zweifelhafter Zufluchtsort. Denken Sie an die Diskussion über Heimat oder die immer wieder auftauchende Diskussion über die Leitkultur. Was ist das? Wer bestimmt das? Wo grenzen wir uns gegen wen ab? Oder wen grenzen wir aus? Ich habe in Dresden als Zwölfjähriger noch die Plakate gesehen: »Ein Volk. Ein Reich. Ein Führer.« Das Völkische ist wieder da. Und der Fremden38 |

hass. Denken Sie an den unglaublichen Erfolg der Bücher von Thilo Sarrazin. Er ist ein geschickter Rassist! Und der Rassismus nagt an unserer Gesellschaft. Wie gehen wir damit um? Wie gehen wir mit den großen Herausforderungen um, der Migranten-Revolution, den entfesselten Finanzmärkten? Unsere normative Ordnung ist bedroht. Was bedeutet das alles für die Freiheit der Kunst? Die alten Unterscheidungen zwischen links und rechts gibt es so nicht mehr. Vielleicht kann man sagen: hier die Nationalisten und dort die Internationalisten. Es ist doch geradezu verrückt. Die Welt wächst und befindet sich in einem Globalisierungsprozess, auch Europa. Und viele Menschen wollen zurück in die Vergangenheit, zur ihrer Heimat oder – wie Zygmunt Bauman sagt – zum »Stammes­ feuer«, wo man sich abends versammelt und die Vergangenheit preist. Die Vergangenheit kennt man, sie ist kein Risiko. Die Zukunft ist das Risiko und erfordert Mut. Die Frage ist außerdem: Welche Rolle spielt die Kunst bei diesen wirklich existenziellen Bedrohungen, die ja weit über unsere sehr heimische Situation, weit über den Opernplatz in Dresden hinausgehen, wo die Leute sich übrigens bereits vor 2015 versammelt haben? Es gibt eine fundamentale Systemkritik, der wir ausgesetzt sind. Die Demokratie, die Medien, alles wird einer zersetzenden Kritik unterworfen. Trump hat gewonnen, indem er Ressentiments gegen den angeblichen Sumpf in Washington geschürt hat. Einige Gruppen in unserem Lande wollen die Demokratie nicht mehr akzeptieren, jedenfalls nicht in dieser Form. Herr Orbán sagt: »Ich bin der Anhänger einer illiberalen Demokratie.« Brauchen wir die Liberalität gar nicht mehr?! Die Aufklärung ist in einer Defensive, die Liberalität ist in einer Defensive, und wieder ist die Frage: Welche Rolle spielt in dieser sich verändernden Welt die Kunst und die Kultur? Was können die Künstler beitragen? Was können die Intellektuellen in unserem Lande beitragen, um zu erklären, was unser Wertesystem für unser Volk bedeutet? Der Fremde – jeder vierte Deutsche ist es – ist ein Brandsatz für die extreme Rechte. Wie gehen wir damit um? Der Fremde als Bote nega­tiver Nachrichten. Der Fremde bringt ja keine guten Nachrichten mit, der kommt aus irgendeiner Zone, wo es wahnsinnig schlecht um die Menschen bestellt ist. Die vielen Herausforderungen kann ich nur anreißen, um unser Wohlfühlen in der Schutzzone des Grundgesetzes etwas zu relativieren. Auch wenn es Grenzen hat: Wir müssen das Grundgesetz aktiv leben – auch in der Kunst. K u n s t f r e i h e i t, d a s G r u n d g e s e t z u n d d a s E r m ö g l i c h e n v o n K u n s t | 39

C H A R L O T T E S E I T H E R   Kunstfreiheit und der staatliche Auftrag, Kunst zu fördern, hängen eng miteinander zusammen, man kann ihre Bedeutung nicht hoch genug einschätzen. Nur ein Staat, der Kritik nicht scheut, wird die Freiheit der Kunst hochschätzen  – und diese auch aktiv verteidigen, wenn sie gefährdet erscheint. Wo Kunst also widerständig ist, wo sie Fragen stellt, Missstände aufzeigt, wo sie ästhetische Kategorien aufstellt und genau darin Aufklärung leistet, dort ist sie wirklich frei: Wenn, und das eben ist die Bedingung, wenn der Staat auch die sozialen und strukturellen Rahmenbedingungen dafür schafft, dass Kunst auch entstehen kann. Hier also schließt sich der Kreis: Während es einerseits Aufgabe des Staates ist, die Freiheit der Kunst aktiv zu gewähren, so muss er andererseits auch aktiv fördernd für das Entstehen von Kunst eintreten, wo diese an strukturelle und wirtschaftliche Bedingungen geknüpft ist. Wir brauchen die Opernhäuser. Wir brauchen das subventionierte, von merkantilen Zwecken losgelöste Staatstheater. Wir brauchen die staat­ lichen Sinfonieorchester, die Musikschulen, die freien Ensembles, aber auch die Förderstrukturen, durch die neue Werke entstehen können. Die Freiheit der Kunst, wie wir sie in einer demokratischen Gesellschaft hochschätzen, ist also immer auch an die Freiheit zur Kunst gebunden. Nur wer auch frei ist, Kunst zu machen, kann diese auch realisieren. Hier genau setzen unsere Fördersysteme an, hier durchdringen sich Kunstfreiheit und fördernde Verantwortung des Staates für die Kunst. Es ist also das eine nicht denkbar ohne das andere: Freiheit und Förderverantwortung  – sie durchdringen einander wechselseitig in einer demokratischen Gesellschaft. An dieser Stelle ist es aufschlussreich, den Begriff der Kunstfreiheit mit der Frage zu verknüpfen: »Welchen Status haben Künstler in einer Gesellschaft? Welche Rolle spricht ihnen der Staat zu?« Betrachtet man verschiedene Gesellschaftssysteme, so lässt sich in der Tat ein starkes Gefälle beobachten. Wo Kunstfreiheit hoch entwickelt ist, dort mag dem Status von Künstlern gleichwohl wenig Bedeutung zukommen. Demgegenüber kann in Gesellschaften, in denen die Kunstfreiheit unterminiert ist, die Bedeutung der Künstler durchaus hoch sein. Hier wird es spannend, die wechselseitige Wertigkeit zu betrachten: Wie geht ein Staat mit seinen Künstlern um? Wie hängen Kunstfreiheit und der Status der Künstler in ihrer Aufgabe, mit ihren Mitteln Aufklärung zu schaffen, zusammen? Kunst trägt dazu bei, dass eine Gesellschaft sich weiterentwickelt. Darin genau besteht ihre Aufgabe, wenn sie nicht bloß unterhaltend sein will. Naturgemäß ist hier die zeitgenössische Kunst die Stell-

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schraube, an der sich Einspruch, Zwischenruf, Reflexion oder konstruktive Spiegelung entzünden: Kunst schafft immer Aufklärung, mit ihren Mitteln. Wir sind es, die Kreativen, die Mittel an der Hand haben, die anderen nicht zur Verfügung stehen. Das kann und muss immer eine Herausforderung sein, ein Pfund, das sich einbringen lässt – äquivalent zu anderen Disziplinen, wie Journalismus, Wissenschaft, Politik, die auf ihre Weise über Instrumente verfügen, mit denen sie etwas bewirken können. Nils Weber, der Soziologe, hat auf anschauliche Weise konstatiert: »Nur Kunst ist Kunst.« Zugleich enthält dieser Satz stets auch eine Mahnung: Die Mittel, die wir als Künstler an der Hand haben, einzugreifen mit dem, was wir tun, die müssen wir auch nutzen. Wir dürfen kein Jota davon abweichen, weil nur wir, die Künstler, über genau diese Mittel verfügen. Und wir müssen die Dinge, die wir tun, so gut machen, wie es nur immer geht. Darin genau liegt unsere Verantwortung. Als Kreative möchte ich zwei Ebenen der Kunstfreiheit unterscheiden. Die erste ist die intimere Ebene, die Kunstfreiheit gegenüber dem Werk. Auch wenn der Auftraggeber einen bestimmten Rahmen vorgibt (nicht selten betrifft dies ja Anlass und Uraufführungskontext eines neuen Werkes), so muss ich als Künstlerin dennoch frei sein in den künstlerischen Inhalten. An dieser Schnittstelle  – zwischen Künstler und Kunstwerk  – hat der Staat nichts zu suchen. Es kann und darf nie Aufgabe eines Staates sein, zu definieren, was Kunst ist und was keine Kunst ist. In der Kunst ist alles möglich. Was aus all diesen Möglichkeiten gewählt wird, das entscheidet einzig der Künstler. Die zweite Ebene von Kunstfreiheit betrifft die Freiheit zur Kunst. Hier müssen wir den Denkraum noch gehörig erweitern: Ist Kunstfreiheit letztlich nicht immer auch ein soziales Privileg? Anders gefragt: Wie viel persönliche Einschränkung kann und muss ein Künstler akzeptieren, um am Kunst­machen festhalten zu können? Ich lebe in Berlin, wo sehr viel Kunst im prekären Raum entsteht. Wenn man über Demokratie spricht und über die Frage: »Was leisten Künstler für die Gesellschaft?«, dann muss man sich auch der Tatsache stellen, dass Kunstfreiheit nicht selten auch auf der Preisgabe persönlicher Freiheiten gründet. Wer tagsüber kunstfremd jobben muss, um abends seine eigentlichen Inhalte realisieren zu können, wer sich einlässt auf eine Niedrigrente und die Bedingungen einer begrenzten Grundsicherung, der zahlt einen hohen biographischen Preis. Und: Wie etwa gehen wir – gerade auch im Demokratie­ diskurs  – um mit dem Gender-Pay-Gap, was sagt dieser aus über die Entwicklung unserer Gesellschaft? Schweden hat hier nachahmenswerte Modelle K u n s t f r e i h e i t, d a s G r u n d g e s e t z u n d d a s E r m ö g l i c h e n v o n K u n s t | 41

aufgezeigt, wie sich Teilhabe unter den Geschlechtern auf konstruktive Weise gestalten lässt. In Sachen Gendergerechtigkeit liegt Deutschland innerhalb der EU auf Platz 26 von 28 EU-Staaten. Faktisch machen es also 25 Länder besser als wir. Wenn wir über Demokratie und Kunstfreiheit sprechen, dann müssen wir auch an dieser Stelle genauer hinschauen: Wo lässt sich an Stellschrauben so drehen, dass Kunstfreiheit auch partizipativ verfügbar ist, dass also der Staat dafür Sorge trägt, dass sich die Karriereoptionen von Männern und Frauen in der Kunst äquivalent gestalten? Mit zwei Thesen möchte ich abschließen. Erstens: Was Kunst ist, und was sie nicht ist, dies darf niemals vom Staat definiert werden. Es steht einem Staat niemals zu, darüber zu befinden, was die Inhalte von Kunst sein mögen, oder auch, was gute oder schlechte Kunst sei. Was Kunst ist, dieser Diskurs obliegt einzig der Zivilgesellschaft und damit uns allen, die wir Künstler, Journalisten, Wissenschaftler, Konzertbesucher oder anders Partizipierende sind. Die Aufgabe des Staates beschränkt sich also einzig darauf, einen Rahmen zu bilden, dass Kunst entstehen und sich entfalten kann. Meine zweite Abschlussthese entspringt der ganz persönlichen Erfahrung, auch im kompositorischen Prozess: Freiheit gibt es niemals umsonst. Freiheit muss man sich immer erarbeiten. Ich finde es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wo Unfreiheit eigentlich existiert. Freiheit ist nicht einfach vorhanden, sie entsteht, indem die Unfreiheit erkannt und beseitigt wird. Es gibt viele, gerade auch aktuelle gesellschaftliche Prozesse, in denen ich mir als Künstler wünsche, dass Unfreiheit erkannt und überwunden wird. In diesem Sinne möchte ich zwei Begriffe von Freiheit unterscheiden: den passiven Freiheitsbegriff – Kunstfreiheit als die Abwesenheit von Hindernissen. Dieser besagt: »Kunst ist frei, wenn sie nicht von etwas anderem eingeschränkt wird.« Man kann Kunstfreiheit aber auch proaktiv denken und auf einer zweiten Ebene denken: Dann meint sie nicht nur die Abwesenheit von Hindernissen, sondern ein Proaktives, das selbst eingreift und sich die Bedingungen schafft, die es braucht. Wenn wir nicht selbst denken und handeln, dann tun es andere für uns. Kunst erarbeitet den Raum, in dem wir anderen nichts mehr überlassen, was uns von der eigenen Auseinandersetzung abhält. G E R H A R T B A U M   Sie haben die Frage angesprochen, was sich subkutan für Staatseinflüsse zeigen. Ich erinnere mich: Ich habe einmal eine Ausstellung mitgefördert über die Reflexion der RAF in der Kunst, in den »Kunstwerken« in Berlin, damals von Biesenbach, der jetzt am MOMA in New York tätig ist, 42 |

kuratiert. Und die Bundesregierung hat sich geweigert, diese Ausstellung mitzufinanzieren. Sie sah darin eine Sympathie-Veranstaltung für die RAF , was nun wirklich nicht der Fall war. Uns interessierte die Reflexion der bildenden Kunst im Hinblick auf dieses Zeitgeschehen. Es war Kunst – und die Haltung der Regierung war indirekte Kunstzensur. Die Künstler, die nicht an der Ausstellung teilgenommen haben, also andere, haben Kunstwerke gespendet, und die wurden dann versteigert. Damit war die Finanzierung gesichert. Erwähnt sei auch das merkwürdige Verhältnis des Staates zur zeitgenössischen Musik. Die Staatsakte werden garniert von Beethoven, Haydn oder anderem gängigen Repertoire. Bei dem, was ein heute lebender Künstler komponiert hat, da scheut sich der Bundestag oder irgendein anderes Gremium bei Preisverleihungen. Er wagt es nicht, den Bürgern, die literarische Neuerscheinungen lesen und moderne Kunst an den Wänden haben oder als Kirchenfenster akzeptieren, das Neue in der Musik zu Gehör zu bringen. Und so hören sie es nie – es sei denn, sie besuchen ein Konzert. Wir haben die Situation, in der die Art, wie der Staat Kunst fördert, immer wieder hinterfragt werden muss. Ich habe einmal einer Juryentscheidung folgend dem Filmemacher Herbert Achternbusch einen Preis verliehen zu dem Film Das Gespenst. Das wollte die CSU nicht, und als mein Nachfolger Zimmermann ins Amt kam, hat er diesen Preis nicht vergeben. Von einem Verwaltungsgericht wurde er dann dazu gezwungen. Aber es wurde Einfluss genommen: »Wir wollen Achternbusch keinen Preis geben. Er verletzt unsere religiösen Gefühle.« Es ging um das Thema, nicht um die Kunst selber. Das sind bedenkliche zensurähnliche Eingriffe. Was wird bei den beschränkten Mitteln gefördert? Wer wählt aus? Da ist eine Gefahrenstelle, da müssen wir aufpassen. Sie haben jetzt sehr intensiv über die Frage der Ermöglichung von Kunst gesprochen. Sie sind in den GEMA -Gremien. Ich würde gerne von Ihnen erfahren: Wie ist das denn heute mit dem Urheberrecht? Das erodiert doch auch, das ist doch eine wichtige Einnahmequelle. Und dann würde ich gerne von Ihnen auch noch erfahren: Wie machen das die Schweden? Können Sie uns ein Beispiel nennen? C H A R L O T T E S E I T H E R   Zum Urheberrecht: Eine Studie, die 2015 in Auftrag gegeben wurde, zeigt, dass sich das Einkommen von Komponisten zu etwa zwei Dritteln aus Lizenzeinnahmen rekrutiert. Nur ein Drittel des Einkommens – das ist ein Durchschnittswert – setzt sich dabei aus anderen Einnahmen, aus Auftrags- und sonstigen Honoraren, zusammen. K u n s t f r e i h e i t, d a s G r u n d g e s e t z u n d d a s E r m ö g l i c h e n v o n K u n s t | 43

In Sachen Gendergerechtigkeit können wir auf Schweden als Best-­ Practice-Modell blicken: Neben der Tatsache, dass Jurys und Gremien der öffentlichen Hand weitgehend paritätisch besetzt werden müssen, gibt es für die Wirtschaft die sogenannte Transparenzpflicht. Unternehmen müssen veröffentlichen, wie hoch das durchschnittliche Einkommen von Männern und Frauen ist. Dies ist deshalb so aufschlussreich, weil es vor Augen stellt, in welcher Weise Frauen gerade auch an Stellen mit hohem Einkommen beteiligt sind. In den unteren Lohnsegmenten muss man sich in Deutschland um den Frauenanteil keine Gedanken machen. Es geht aber eben darum, wieweit Frauen, die inzwischen ja die besseren Examina an den Universitäten ablegen und mittlerweile auch die Mehrheit der Studierenden bilden, auch in den hohen Lohnsegmenten zu finden sind. Würden wir auch hier in Deutschland wichtige Stellen stets äquivalent nach Männern und Frauen besetzen, würde sich die Schere des Gender-Pay-Gap schnell schließen lassen. In Schweden wird dieser Prozess seit mehr als 30 Jahren konsequent bestritten – mit Erfolg. Zur paritätischen Gremienbesetzung und der Transparenzpflicht der Einkommen tritt schließlich noch ein drittes Tool: qualifizierende Maßnahmen, die Frauen auf jeder Stufe ihrer Fortbildung begleiten. Schauen wir also in andere Länder, so stellen wir fest, dass dort erheblich mehr Universitäten, Rundfunkanstalten, Wirtschaftsunternehmen und Theater von Frauen geleitet werden. Man muss sich klarmachen, dass alleine die Präsenz dieser Frauen schon einen enormen Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. So geht Demokratie. G E R H A R T B A U M   Sie haben ja mit Recht die Freiheit zur Kunst zum Thema gemacht. Was wird da unterlassen? Was kann man besser machen? Ich bin Vorsitzender des Kulturrates in Nordrhein-Westfalen; da sind die Kulturschaffenden aller Bereiche vereint. Wir sehen, dass das Land sich jetzt etwas bewegt hat. Wir haben eine Kulturministerin, die Erfahrung hat auf diesem Gebiet: Frau Pfeiffer-Poensgen, die im Bund eine Kulturstiftung geleitet hat. Und wir sehen, dass die Institutionen da existieren – die großen Institutionen, die Opernhäuser und so weiter. Dann gibt es aber noch die freie Szene. Sie ist ein Problemfall. Wie fördern wir die freie Szene? Kommt sie unter die Räder? Wie können wir etwas fördern, was einzelne Menschen oder einzelne Gruppen zum Teil unter Selbstausbeutung in Bewegung setzen? Die machen das, weil sie selber an einem Projekt, an einem Thema unglaublich interessiert sind, und kommen dann an eine Grenze, wo sie Förderung brauchen. Da können Sie mit relativ wenigen Mitteln sehr viel bewirken. Die Förderung der freien 44 |

Kulturszene muss meines Erachtens ein besonderer Schwerpunkt sein neben der Lebenserhaltung der Institutionen. Das geschieht in NRW besser. Das Land fängt zum Beispiel die Tariferhöhungen auf und fördert auch direkt die freie Szene. Sie haben von dem Künstler gesprochen, der bei ­Mc­Donalds jobbt. Ja, was sagt man dem? Die Künstlersozialversicherung setzt voraus, dass ein künstlerischer Beruf ergriffen wird. Was sagt man dem Mann? »Van Gogh hat zu seinen Lebzeiten kein einziges Bild verkauft? Nimm dir das einmal als Beispiel. Wenn es dir ernst ist, dann mach weiter.« Ich bin da ziemlich hilflos. Was sagen Sie? C H A R L O T T E S E I T H E R   Die Künstlersozialversicherung ist ein wichtiger Schritt. Aber sie ist bei Weitem noch nicht gut genug ausgestattet, um die freie Szene auch angemessen absichern zu können. Das Rentenniveau für freie Künstler liegt durchschnittlich noch immer bei der Grundsicherung – das ist entschieden zu wenig. Ein weiterer wichtiger Schritt hat sich mit der Initiierung des Musikfonds vollzogen. Auch hier zeigt sich jedoch: Der Förderbedarf ist deutlich höher als die Mittel, die zur Verfügung stehen. Was wir dringend brauchen, ist die weitere Aufstockung des Musikfonds. Prekäre Zustände finden sich auch an vielen anderen Stellen. Wir dürfen auch dort nicht müde werden, auf Realitäten hinzuweisen, wo sie sich der öffentlichen Wahrnehmung vielleicht eher entziehen. Die GEMA -Sozialkasse etwa übernimmt die Kosten für eine Beerdigung, wenn Hinterbliebene diese nicht bezahlen können. Wer sich in der Berliner freien Szene bewegt, der erfährt jeden Tag, wie Miete, Krankenversicherung und Lebensunterhalt zu Themen werden, die viel mehr Raum einnehmen im Bewusstsein von Künstlern, als man diesen eigentlich zugestehen möchte. Wenn wir Kunst betrachten, dann müssen wir dies immer mitdenken. Nur ein Teil von Kunst entspringt der etablierten Hochkultur. Wenn wir über Demokratie nachdenken, dann müssen wir auch hierfür ein Bewusstsein entwickeln. G E R H A R T B A U M   Ich höre immer wieder, dass das Internet die Künstler durch Erosion des Urheberrechts zum Teil enteignet. Das ist offenbar eine große Gefahr.

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Diskussion G E R H A R T B A U M , T H E A D O R N , S V E N F R I E D R I C H , LY D I A J E S C H K E , CHARLOTTE SEITHER, MARINA VON ASSEL

T H E A D O R N   Ich bin auch davon überzeugt, dass Kunst und Demokratie

Geschwister sein können. Aber ich möchte einmal daran erinnern, dass sie das nicht sein müssen. Kein Shakespeare, kein Goethe, kein Richard Wagner, kein Dostojewski haben unter demokratischen Bedingungen gearbeitet. Das meiste von dem, was wir als große Kunst betrachten, ist unter nicht-­ demokratischen Bedingungen entstanden. In diesem Zusammenhang sei an den schönen Satz von Schönberg erinnert: »Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen.« Wir sollten, glaube ich, einmal grundlegender fragen: »Warum schaffen Menschen Kunst? Und warum gibt es andere Menschen, die sich für diese Kunst öffnen und diese Kunst als Rezipierender, als Zuschauer, als Leser, als Hörer in ihrem Leben brauchen?« Das hat natürlich ganz zentral etwas mit unserem Menschenbild zu tun. Die größte Erosion und die größte Bedrohung für die Kunst, die wir gerade erleben, ist der radikale Umbau durch die Hochtechnologien, durch Algorithmisierung unseres Menschenbilds. Für mich hat Kunst immer bedeutet: Ich fange an, zu erkennen, dass ich ein Wesen bin, das Kräften unterworfen ist, die ihm nicht gefallen, das endlich ist, das leidensanfällig ist. Ich weiß, ich kann in der realen Welt nur sehr bedingt etwas daran ändern – und eröffne mir deshalb die Kunst als den Raum, durch den ich in eine andere Welt eintreten kann. Das macht die Kunst für mich zu einem noch engeren Nachbarn der Religion als der Demokratie. Sie ist ein metaphysischer Trostraum, in den ich fliehen kann. In dem Moment, in dem die Menschheit technologisch an einem Punkt ist, an dem Konzerne mir für all mein Unbehagen etwas anbieten können, nach dem Motto: »Ich habe da einen Algorithmus, der sagt dir, wo’s langgeht«, »Ich habe da eine Pille, die befreit dich von allen Sorgen«, »Du selbst kannst dich zu dem optimieren, was immer du sein willst« – in diesem Moment hat Kunst keinen Ort mehr. 46 |

Ich glaube, dass sich für Kunst nur Menschen öffnen können, die mit Kunst großgeworden sind, die mit Kunst in Berührung gekommen sind, die erfahren haben  – Herr Baum hat den Begriff »Respekt« erwähnt –, dass es komplizierte Werke, komplizierte Texte gibt, bei denen man sein Unverständnis erst einmal auf die eigene Kappe nehmen sollte. Diese Haltung stirbt aus. Die heutige Haltung ist, egal ob im Konzertsaal oder bei Lesern: »Verstehe ich nicht. Ist kompliziert. Bäh, weg damit!« Das reicht bis tief in unser Bildungssystem hinein. Ich kriege Zustände, wenn ich höre, dass inzwischen in verschiedenen Bundesländern diskutiert wird, ob man Autoren wie Fontane oder Thomas Mann an Schulen nur noch in vereinfachtem Deutsch lesen soll. Das wäre das Ende jeglicher Möglichkeit, in diesem Land noch Literatur zu schreiben, die mehr sein will als freundliche, eingängige Unterhaltung. Wir gehen Zeiten entgegen, in denen es nicht mehr darum geht, ob wir hier oder dort noch einen Fördertopf geöffnet bekommen. Ich glaube, wir sind in Zeiten, in denen es ums Ganze geht. LY D I A J E S C H K E   Es gibt eine neue Studie zur künstlichen Intelligenz als Kompositionslieferant. Man hat herausgefunden, dass von entsprechend gut gefütterten künstlichen Algorithmen Kompositionswettbewerbe heute in aller Regel gewonnen würden. Ein Computer kann wie Bach komponieren, und Musikspezialisten haben die Maschine in einem amerikanischen Testlauf nicht als solche identifizieren können. Er kann aber auch komponieren wie ein zeitgenössischer Komponist, wenn man ihn entsprechend füttert. Wohin kommen wir da mit der Kunst? Ich könnte in einer Jury vielleicht auch nicht entscheiden, ob hinter der Einreichung ein komponierender Mensch steckt; übrigens auch nicht, ob ein Mann oder eine Frau komponiert hat. Es ist trotzdem interessant, wie die Dinge immer noch in alter Weise funktionieren. Ich bin eigentlich keine Verfechterin von Quoten, weil ich daran glaube, dass sich das Gute durchsetzt. Aber ich wundere mich doch über die noch immer existierenden Mechanismen: dass etwa im Theater in den gleichen Positionen, etwa für Regie oder Bühnenbild, Frauen nur etwa 75 Prozent der Gagen gezahlt werden. Zudem gibt es aktuelle Untersuchungen zur Entscheidungsfindung im künstlerischen Bereich. Männliche Jury- oder Kommissions­ mitglieder wählen in aller Regel Männer aus; weibliche Entscheidungsträger etwa zu gleichen Anteilen Männer und Frauen. Das heißt statistisch, dass eine paritätische Besetzung einer Jury noch immer keine ausbalancierten Ergebnisse erzielt. D i s k u s s i o n | 47

Vermutlich ist heute vor allem Ermutigung nötig: Ermutigung zur Kunstproduktion überhaupt. Sonst schreiben wir irgendwann einen Kompositionswettbewerb aus und erreichen damit nur noch, dass die Leute ihre Algorithmen anwerfen. G E R H A R T B A U M   Ich habe noch einmal über Ihre Bemerkung nachgedacht, Frau Dorn: Auch in Nicht-Demokratien ist große Kunst entstanden. Ich kaue daran herum. Ich setze dagegen, dass in den Diktaturen, die wir kennen, keine große Kunst Chancen hat. Denken Sie einmal an Schostakowitsch und die Stalin-Zeit – es gibt viele Beispiele besonders in der Musik! Sie können natürlich dichten und Sie können einen Roman schreiben. Was hat der Bulgakow für Schwierigkeiten gehabt! Das brauchen wir nicht zu vertiefen. Goethe war ein Weltbürger, und er hatte die Gunst eines gleichgesinnten Landesherrn – übrigens bis auf einen Fall, als er für seine Parteinahme für Fichte in Jena zurechtgewiesen wurde. Gut, darüber muss man nachdenken. Aber ich finde, Ihre Überlegung, der Algorithmus übernimmt das alles, ist ja eigentlich toll. Irgendwann wird der Algorithmus uns eine neue Mozart-Oper schreiben. Das wird er können, jedenfalls annähernd. S V E N F R I E D R I C H   Ich möchte auf zwei Dilemmata hinweisen: Das eine betrifft das Thema Kunstfreiheit. Wir reden hier über den Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft. Was sagt die Kunstfreiheit über eine Gesellschaft aus und was ist das für eine Gesellschaft, die Kunstfreiheit nicht zulässt? Es ist festzustellen, dass der gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit von Kunst überhaupt und über die Freiheit von Kunst abnimmt. Das heißt, der Legitimationsdruck von Kunst und Kultur nimmt zu, was dann im Ergebnis dazu führt, dass Fragen gestellt werden, die eigentlich nicht mehr konform sind. Was Sie, Herr Baum, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk den Quotendruck nannten, das kennen wir im Museum auch: die Besucherzahlen als rein ökonomische Quantifizierung. Und dann gibt es auch entsprechende Übergriffigkeiten seitens der politischen Kaste, weil natürlich der Politiker gewählt werden muss von einer Mehrheit, die das kulturelle Angebot nicht nutzt. Wie kommen wir aus diesem Dilemma zwischen Demokratie und Kultur heraus? Gibt es da überhaupt einen Ausweg? Braucht man nicht einen konsequenten Minderheitenschutz? Der zweite Punkt ist das Internet. Wir sehen, dass das Internet ein ziemlich genaues Abbild unserer Welt ist. Diese redaktionellen Vermittler sorgen dafür, dass wir eine gefilterte Welt wahrnehmen. In diesem Zusammenhang: 48 |

Urheberrecht. Es ist wieder eine Urheberrechtsnovelle im EU-Parlament ausgebremst worden, die den Schutz der Urheber, der Verwertungsgesellschaften und der Verlage im Internet dadurch stärken soll, dass man die Portale, die bisher jede Haftung abgelehnt hatten für das, was ins Internet gestellt wurde, mit in die Haftung nimmt. Wir stehen natürlich vor der Frage, ob wir tatsächlich schon in der Cyborg-Welt angekommen sind, wo wir unsere Verantwortung an einen Algorithmus delegieren und uns möglicherweise am Ende einem Zensursystem unterwerfen, das wir gar nicht mehr unter Kontrolle haben. C H A R L O T T E S E I T H E R   Die Begriffe lassen sich klären: Demokratiefähigkeit meint ja nicht zuletzt auch den Hunger nach Demokratie, also die Fähigkeit, anders denken zu können, als ein Staatssystem dies vielleicht vorgibt. Die Fähig­keit eines Systems zur Demokratie sagt ja nichts darüber aus, ob die Demokratie schon erworben ist oder nicht, sondern gerade umgekehrt, dass sie als Horizont existiert. Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: Ich war in der letzten Woche in Moskau. Da gibt es – 2015 ins Leben gerufen – eine Theaterbühne, die sich ausschließlich zeitgenössisch-experimentellen Musiktheaterproduktionen widmet. Es ist fantastisch, was da gemacht wird ! Ich kann sagen, dass ich die Demokratiefähigkeit an diesem Ort, wo der Staat doch viele antidemokratische Repressionen ausübt, als geradezu spektakulär empfunden habe. Es ist klar, dass in Gesellschaften, in denen in der Geschichte die Kunstfreiheit unterdrückt worden ist, das Bedürfnis nach Kunst mitunter umso größer wurde und Künstler sehr oft eine wichtige Funktion eingenommen haben. Es ist also wichtig, den Begriff der »Demokratiefähigkeit« zu verstehen als etwas, was die Gesellschaft verknüpft mit den Bedingungen der Kunstfreiheit. Das Zweite: Sie haben die Quote angesprochen. Mir ist bis zum heutigen Tag ein Rätsel, warum Kunst immer wieder »vermessen« wird. Ich habe nie verstanden, welche Aussagekraft eine Quote beim Rundfunk letztlich haben soll. Alle Dinge, die wichtig sind in unserem Leben, sind letztlich nicht messbar. Sie können ja gerne Quoten messen für irgendwelche Zwecke. Von diesen aber Rückschlüsse zu ziehen darauf, was gesendet werden soll und was nicht, ist mir als Denkform vollkommen fremd. Ein plakatives Beispiel: Stellen Sie sich vor, jemand würde die Forderung erheben: »Es dürfen alle Lokale in Deutschland nur noch Currywurst mit Pommes anbieten.« Warum? Weil man statistisch ermittelt hat, dass dies das beliebteste Essen der Deutschen ist. Es ist doch vollkommen absurd, von dem, was ist, abzuleiten, was jetzt zu gelten hat. Warum die Quote in der Kultur überhaupt eine Rolle spielt, das ist mir D i s k u s s i o n | 49

absolut unverständlich. Kultur kann immer nur als Injektion fungieren. Sie können Quoten messen, aber dass dies dazu führt, dass man den kulturellen Auftrag etwa der Rundfunkanstalten relativiert, das kann ich definitiv nicht nachvollziehen. Zur Provider-Haftung: Am gefährlichsten finde ich zwei Tendenzen. Die eine ist, zu sagen: »Weil viele etwas nutzen, zählt der Urheberschutz des Einzelnen weniger, als wenn nur einer etwas nutzt.« Wenn Sie in ein Konzert gehen, dann wird ein Stück gespielt, dann hören das vielleicht 30 Leute. Das Argument »Ja, das sind aber Millionen, die etwas klicken«  – dass dies den Schutz des einzelnen Kreativen aushöhlen soll, nur weil dem jetzt viele andere gegenüberstehen, dies empfinde ich als eine hoch gefährliche Implosion des Urheberschutzes nach innen. Und das Zweite ist die noch viel größere Gefahr: Es geht um Wahrnehmung. Kunst lehrt uns die Wahrnehmung. Jeder Hörer schult in einem Konzert seine ganz eigene Wahrnehmung. Wie wir Dinge auf die uns ganz eigene Weise sehen und hören, das ist mit das Kostbarste, was wir besitzen. Donald Trump hat vor wenigen Wochen einen grauenhaften Satz verlauten lassen: »All das, was ihr in den Medien lest, ist gar nicht wahr.« Im übertragenen Sinne: »Wahr ist nur, was ich euch sage.« Wo wir dem, was wir selbst hören und fühlen also nicht mehr glauben können, weil andere uns sagen, was wir stattdessen denken und empfinden sollen, dort ist die Funktion von Kunst gänzlich abgeschafft. G E R H A R T B A U M   Also auf das Letztere: Ja ! Sie müssen das ertragen, dass es Leute gibt, die behaupten, Künstler zu sein, und Schrott produzieren. Das filtert sich ja irgendwann heraus. Wissen Sie, ich kann mit dieser angeblichen Arroganz umgehen. Die wird ja nicht lange dauern. Da gibt es viele Gegenkräfte gegen solche Arroganz. Wer trifft da die Entscheidung? »Das ist ein arroganter Künstler; der möchte eine lebenslange Förderung, und im Grunde macht er nicht das, was wir eigentlich von ihm erwarten.« Da kommen wir auf ein ganz gefährliches Terrain, würde ich sagen. Natürlich gibt es auch ein Anspruchsdenken, und das wird man von Fall zu Fall dann beurteilen können. Aber das Kunstförderungssystem würde ich wegen dieser Haltungen nicht infrage stellen wollen. Und Kunst ist ja nicht eine x-beliebige Subvention. Sie können sagen: »Wir machen jetzt für die Getreidebauern eine Subvention, weil es so trocken ist.« Die Kunst ist aber kein Subventionsempfänger im eigentlichen Sinne, sondern sie ist Nährboden für gesellschaftliche Entwicklungen. Auch wenn es der Gesellschaft nicht gut geht, muss Kunst stattfinden  – also 50 |

nicht nur in Schönwetterzeiten. Ich weiß genau, was Sie meinen. Aber da begeben Sie sich auf ein ganz gefährliches Terrain, meine ich. Dann ist die Frage nach dem Legitimationsdruck gestellt worden, dem Sie ausgesetzt sind. Was ist Quote? Quote ist natürlich in einzelnen Fällen berechtigt. Die Rundfunkanstalten nehmen Geld und müssen eine gewisse Akzeptanz in der Gesellschaft haben. Sie müssen gute Unterhaltung machen, den Sport zeigen, was mich persönlich eigentlich gar nicht interessiert. Ich beobachte den Haushalt der Rundfunkanstalten. Wie viel geben sie dafür aus? Hat das noch irgendeine Relation zu dem anderen? Eine Quote bei einer Talkshow ist auch nicht schlecht, aber nicht allein entscheidend. Manche haben ein Quotendenken im Gehirn – das alles überdeckt. »Ja wir haben eine gute Quote.« Sie gucken am nächsten Morgen nach den Quoten, wie verrückt, und ziehen daraus dann gefährliche Schlussfolgerungen. Und der Legitimationsdruck ist natürlich da: bei dem Museum mit den Besuchern, bei den Konzerten – wie viele gehen da rein in ein bestimmtes Konzert? Und dann kommt diese Marktorientierung, die wirtschaftliche Effizienz. Wir fördern Kunst in Köln, weil das die Stadt nicht nur schmückt, sondern es gut ist für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt. Das ist das Argument, das Sie immer wieder hören – Marketing. »Wir brauchen eine Oper, weil wir hier noch Ansiedlung von Firmen brauchen.« Das wird ganz anders begründet, als wir das hier tun. Sie haben von der Demokratiefähigkeit gesprochen. Ich bin so alt­ modisch, dass ich der Meinung bin: Alle Menschen sind demokratiefähig. Ich habe in meinem Leben so viele Diktaturen besucht und überall Menschen getroffen, die so denken wie wir. Die wollen nicht früh morgens von der Geheimpolizei verhaftet werden. Sie wollen nicht gefoltert werden. Sie wollen nicht wegen ihrer politischen Überzeugungen ins Gefängnis kommen. Es gibt ein menschliches Urbedürfnis nach Freiheit, nach Demokratie. Überall ist das der Fall. Dass andere Kulturen anders ticken, das gibt es sicherlich in bestimmten Bereichen. Aber in den Urbereichen der Menschenrechte ist das eine völlig falsche Annahme. Dann ist gefragt worden nach der Zensur mittels staatlicher Förderung. Ich habe den Bundestag als Bauherr erwähnt. Es gab einige, ganz wenige Abgeordnete, die für jedes einzelne Kunstwerk gekämpft haben. Dort, wo der Staat selber baut oder wo er Geld ausgibt, ist er in Gefahr, den persönlichen Geschmack von Abgeordneten des Staatsrats oder des Bundestages zum Maßstab zu machen. Gut, dass es eine Förderung der Neuen Musik gibt. Es gibt D i s k u s s i o n | 51

Ausnahmeerscheinungen wie etwa Betty Freeman, die in Kalifornien lebte und etwa Lachenmann gefördert hat, ein einsames Vorbild. In den USA ist die Förderung bildender Kunst einfacher, sehr schwierig ist die der Musik. Wer bestimmt das Programm der Metropolitan Opera oder der Konzerte in New York? Da sind es mitunter zwei reiche Witwen, die sich eine bestimmte Inszenierung mit den und den Leuten wünschen. Das möchte ich nicht hier in Deutschland. Mäzene sollen finanzieren, aber nicht das Programm bestimmen. LY D I A J E S C H K E   Ich möchte noch eine Anmerkung zu dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk machen, weil das ja mein tägliches Geschäft ist. Wir sind als Rundfunkanstalten Teil der Nahrungskette der Kunstverbreitung, nicht nur weil wir Komponisten beauftragen, sondern auch als Multiplikatoren für die Stücke. Ich beobachte da eine große Bedeutungsverschiebung vom Sender zum Empfänger hin. Und dabei kommt die Quote ins Spiel. Alle Sender haben Abteilungen zur Medienforschung, die zählen, die auswerten oder auch Umfragen machen. So gibt es inzwischen eine serviceartige Orientierung, auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, hin zum Empfänger. Das führt dann, was die Neue Musik, aber auch die sogenannte E-Musik überhaupt angeht, zu starken Limitierungen. Wenn sich etwa bei der Analyse von Sehund Hörverhalten im Fernsehen herausstellt, dass ein E-Musik-Thema die Quote sinken lässt, dann verschwinden solche Themen. Auch viele Kulturprogramme im Hörfunk haben schon auf solche Studien reagiert. Das heißt für mich als Redakteurin für Neue Musik und für viele Kollegen: Wir müssen viel intern diskutieren – und gelegentlich auch subversiv unterwegs sein, wenn wir etwas Spezielles trotzdem gut platzieren wollen. Wir brauchen inzwischen viel Fingerspitzengefühl und Handwerkszeug, um noch Verbreiter auch von dem zu sein, was aktuell passiert. Nicht ganz einfach! Ich habe keine Lösung. Ich wollte das Problem nur noch einmal zuspitzen. M A R I N A V O N A S S E L   Ich denke, Markt und Wert eines Werkes haben nichts miteinander zu tun. Die können korrelieren, müssen sie aber nicht. Herr Baum, ich unterstreiche Ihr sehr emphatisches Plädoyer für Demokratie und für die Freiheit. Aber sind wir im Moment nicht in einer Situation, wo wir eine Pseudodemokratie erleben, also Kräfte, die versuchen, demokratische Tools zu nutzen, um das Gegenteil zu erreichen? Wie gehen wir gerade in der Kultur damit um, dass uns jetzt die hässliche Seite der Pseudodemokratie überall begegnet und uns immer weismacht: »Das ist ein demokratisches Urteil«, die Mehrheit aber sagt, dass das alles ganz anders sein muss? 52 |

G E R H A R T B A U M   Das ist in der Demokratie-Diskussion ganz essenziell. Wie

wird die Minderheit geschützt? Kann die Mehrheit, darf die Mehrheit alles? Selbst das Grundgesetz setzt Grenzen. Aber die Politik muss sich selber auch Grenzen setzen. Eine Demokratie ist so viel wert, wie sie mit Minderheiten umgeht. Dieses Spannungsverhältnis  – die Mehrheit entscheidet und die Minderheit muss sich fügen  – ist latent in der Demokratie verankert. Das ist nicht einfach. Und was Frau Jeschke über die Sender sagt – ich habe einmal bei einer Initiative mitgewirkt, die hieß »Das ganze Werk«. Wir wollten nicht, dass immer diese Häppchen gesendet werden: »Dritter Satz aus dem Streichquartett von so und so …« Furchtbar! Lieber keine Musik als solche Häppchen hintereinander. Aber es gibt natürlich auch tolle Beispiele. Das gesamte Donaueschingen-Programm ist im Sender zu hören, mit allem drum und dran, mit den Einführungen! Die Sender haben hier eine Aufgabe, das für viele Menschen Unangenehme zu transportieren. Wo sollen die jungen Leute das denn erfahren, wenn sie es nicht irgendwo hören können, wenn sie nicht hingeführt werden? Ich will noch eine Bemerkung machen: Was bewirkt eigentlich das Internet im Hinblick auf unser Wahrnehmungsvermögen? Was geschieht da in der Gesellschaft, in unseren Köpfen? Wie wird heute kommuniziert? Wie setzt man sich auseinander? Wir sitzen hier und diskutieren; wir sehen uns; wir haben eine Körpersprache; wir diskutieren die Dinge aus; wir lösen Kontroversen auf in Kompromissen. Das ist alles nicht mehr so selbstverständlich. Da gibt es »ja« oder »nein« und dann »Followers« und dann folgt man oder man folgt nicht. Diese Wirkung auf die Befindlichkeit, auf die Wahrnehmungsfähigkeit, auf die Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft – das steht uns alles noch bevor. Dass das Internet politisch manipuliert, wissen wir inzwischen. In Amerika wäre Trump nie an die Macht gekommen ohne das Internet. Die haben die Daten gekauft, und dann haben sie die Unentschlossenen angesprochen. Meine Frage ist: Welche Daten haben sie denn gehabt? Woher haben sie denn gewusst, dass jemand unentschlossen ist? Das heißt, sie haben, die Algorithmen haben die Daten durchforstet. Alle unsere Daten sind da vorhanden – nicht nur ob jemand Babywindeln braucht, sondern wie er politisch denkt. Und dann haben sie anderthalb Millionen Leute angesprochen, die im Zweifel waren, Frau Clinton zu wählen oder nicht. Diese Cambridge Analytica mit den Facebook-Daten … Das sind Veränderungen, die wir wahrnehmen. Aber die Veränderungen, die wir noch gar nicht richtig ausgelotet D i s k u s s i o n | 53

haben und wahrnehmen, stehen uns alle noch bevor, und auch die Wirkung auf die Kunstrezeption. Wie wird Kunst wahrgenommen und welche Kunst? Und was geht möglicherweise unter? M A R I N A V O N A S S E L   Das betrifft ja vor allem auch die Bilderwelt. Die Kunstgeschichte ist mittlerweile eine Bildergeschichte geworden. Es geht eigentlich gar nicht mehr darum, über Kunst zu reden  – die Frage »Was ist das?« –, sondern um das allgemeine Bilderrepertoire, das uns in der Welt umgibt. Da ist das Internet schon in der Wissenschaft und in der bildenden Kunst angekommen.

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»Nie sollst du mich befragen« Warum eigentlich nicht ? Detlef Brandenburg

I Wagners Kunst des politischen Versteckspiels » H i e r g i lt ’ s d e r K u n s t«

Ich habe diesen Text, in dem es um sinistre Tabus und politische Versteckspiele in Wagners Opern und um Wagners Opern herum gehen soll, unter das Motto »Hier gilt’s der Kunst« gestellt. Eine Parole, die ja zunächst wenig zu tun hat mit dem fatalen Frageverbot aus dem Lohengrin, dem dieses Symposium sein Generalthema verdankt. Im Gegenteil: Das »Hier gilt’s der Kunst« ist in seiner ursprünglichen Gestalt kein Verbot, sondern eher eine Ermunterung, die die Nürnberger Patrizierstochter Eva dem geehrten Meister und gestandenen Witwer Hans Sachs zuteilwerden lässt. Evas Situation, so wie Wagner sie in seinen Meistersingern von Nürnberg ausbreitet, hat allerdings eine gewisse Ähnlichkeit mit Elsas Not zu Beginn des Lohengrin, auch wenn es hier nicht gleich um Mord und Totschlag geht. Vom Vater als Preis eines Wettsingens der Meistersinger ausgelobt, ist das junge Mädchen dazu verdonnert, dem Sieger als liebevolle Gattin in die möglicherweise schon etwas alterswelken Arme zu sinken. Jedenfalls hatte zu Beginn der Oper der Aufmarsch der Meistersinger, die allein Zutritt zum Wettsingen haben, wenig Anlass zu einer optimistischen Einschätzung von deren Durchschnittsalter gegeben. Zu allem Überfluss hatte Eva erfahren müssen, dass auch der Stadtschreiber Beckmesser, Merker der Meistersinger-Zunft und Hagestolz im Spätfrühling, um sie werben und wettsingen würde. Auch Eva braucht also dringend jemanden, der sie aus Not errettet. Und da sie gerade keinen Schwanenritter zur Hand hat, ermuntert sie halt den Hans Sachs zum Preislied, trotz dessen Einwands, er sei ja wohl ein bisschen zu alt für ein so taufrisches Fräulein: »Ei, was ! Zu alt? Hier gilt’s der Kunst, wer sie versteht, der werb’ um mich.«1 » N i e s o l l s t d u m i c h b e f r a g e n « | 55

Wenn man den geschilderten Hintergrund mitbedenkt, bekommt das scheinbar harmlose Geplänkel, in das diese Textstelle eingebettet ist, einen ­bitterironischen Unterton, den man überspitzt auch so übersetzen könnte: »Ihr Meistersinger im besten Mannesalter interessiert euch ja sowieso nur für euer verstaubtes ästhetisches Regelbuch. Wie es einem jungen Mädchen bei euerm Wettsingen ums Herz zumute ist, das ist euch völlig einerlei. Aber gut – wenn es denn schon so ein Singemeister mit Fusselbart sein muss, na dann doch lieber den Hans Sachs als den Sixtus Beckmesser!« Implizit macht Eva damit allerdings klar, dass ihr Interesse nun gerade nicht der Kunst gilt, sondern der Verhinderung einer für sie unerträglichen Mesalliance. Und so, wie Wagner später, in der vierten Szene des dritten Aufzugs, das Tête-à-pied schildert, bei dem Meister Sachs der verzweifelten Braut in spe die Schuhe anmisst, kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass auch Hans Sachs sein Herz  – oder zumindest eine Hälfte davon – an diese listige und energische junge Frau verloren hat. Aber glücklicherweise hat er ja Tristan und Isolde gelesen … Bei Hans Sachs liegt also zumindest eine doppelte Motivation vor, dem rettenden Ritter von Stolzing das Feld zu überlassen: Einerseits hat ihn dessen erstes Preislied gelehrt, dass es jenseits der Meisterregeln eine intuitive Kunst gibt, der es zwar an der Form mangelt, die sich aber viel vitaler, viel empathischer darstellt als die angestaubte Meisterkunst. Andererseits macht ihn seine ent­sagende Liebe zu Eva hellsichtig für die latente Grausamkeit eines Preissingens, bei dem ein junges Mädchen als Preis der Kunst unglücklich verkuppelt wird. Auch hier also muss der fahrende Ritter es richten, nicht als Schützer von Brabant zwar, aber als neuer Meistersinger von Nürnberg, der, inspiriert durch seine Liebe zu Eva und instruiert vom Altmeister Hans Sachs, die Singekunst aus ihrer beckmesserhaften Erstarrung befreit und genau dadurch dafür sorgt, dass das gute Nürenberg in Deutschlands Mitten aufs Neue blühe und gedeihe. Und wenn am Ende anstelle des »heil’gen röm’schen Reichs« die »heil’ge deutsche Kunst« ausgerufen wird – dann tritt zur Liebe und zur Kunst ­unversehens die Politik aus der Gasse, von der zwar nie die Rede war, der aber letztlich dieses ganze Versteckspiel galt: der Erneuerung des politischen Gemeinwesens durch Kunst und Liebe. Um diesen seltsamen, bei Wagner immer wieder aufscheinenden Dreiklang soll es im Folgenden gehen.

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Lohengrins Frageverbot

Dass sich auch im Lohengrin die Politik versteckte, kann man dieser Oper ­wahrlich nicht nachsagen. Die historische Verortung ist relativ klar auf das Jahr 933 datierbar, in dem König Heinrich I . bei Ritteburg die Ungarn besiegte. Seine Einigung der zerstrittenen ostfränkischen Stämme ließ sich in Deutschland um 1850 herum als Spiegelbild der liberal-demokratischen National­bewegung und ihres Ziels eines geeinten deutschen Reichs lesen und gegen Metternichs Restauration in Stellung bringen.2 Vor diesem Hinter­ grund treten auf: der König und sein Heerrufer, die sächsischen, thürin­ gischen und brabantischen Grafen sowie Edle, Edelfrauen und Edelknaben, Mannen, Frauen und Knechte  – die ganze politische Nomenklatura eines mittelalterlichen Staatswesens ist mit dröhnender Oberflächlichkeit präsent. Wie oberflächlich, das hat Heinrich Mann seinen Lesern im Roman Der Untertan auf unnachahmliche Weise unter die Nase gerieben. Und auch hier gibt es diese merkwürdige Parallele von Liebe und Kunst, wie der Romanheld Diederich Heßling durchaus wohlgefällig feststellt, weil ihm das die Möglichkeit eröffnet, dem gottgesandten Ritter einerseits untertänigst zu huldigen und sich andererseits vor seiner ihm angetrauten Guste selbst als rettender Ritter in Szene zu setzen. Diederich wird geradezu hineingesogen in die Erwartung des Wunders, die Wagner so effektvoll inszeniert: »Man mußte schon mit etwas Außerordentlichem rechnen; die Musik tat das Ihre, sie machte einen geradezu auf alles gefaßt. Diederich hatte den Mund offen und so dummselige A ­ ugen, daß Guste heimlich einen Lachkrampf bekam. Jetzt war er soweit, alle w ­ aren soweit, jetzt konnte Lohengrin kommen. Er kam, funkelte, schickte den Zauberschwan fort, funkelte noch betörender. Mannen, Edle und der König unterlagen alle derselben Verblüffung wie Diederich. Nicht umsonst gab es höhere Mächte … Ja, die allerhöchste Macht verkörperte sich hier, zauberhaft blitzend. Ob Schwanen- oder Adlerhelm: Elsa wußte wohl, warum sie plumps vor ihm auf die Knie fiel. Diederich seinerseits blitzte Guste an, ihr verging das Lachen. […] ›So soll es sein!‹ sagte Diederich und nickte auf die kniefällige Elsa hinab – indes Guste, die Lider gesenkt, in reuevoller Unterwerfung gegen seine Schulter fiel.« Am Ende, so vermerkt es der Erzähler, war Diederich »durch alle diese Katastrophen, die Wesensäußerungen der Macht waren, erhoben und tief befriedigt«.3

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Das ist zweifellos eine grandiose Parodie. Aber es ist natürlich auch eine gezielte satirische Fehlinterpretation von Wagners Werk  – weil sie nämlich Lohengrin als Repräsentanten einer restaurativen politischen Macht missinterpretiert und weil sie den von Wagner intendierten politisch-gesellschaftlichen Impuls genau da sucht, wo der bei Wagner selten zu finden ist: an der Oberfläche, in den akklamierenden Chören, in der Staatsakt- und FestwiesenFeier­lichkeit, den aufgeplusterten »Habt acht«- und »Hört, hört«-Ansprachen, die sich an Mannen oder Meistersinger richten. »Das Politische« im Sinne der gesellschaftlichen Botschaft, um die es Wagner wirklich geht, versteckt sich aber fast immer in den Tiefenstrukturen seiner Werke und hat auf den ersten Blick wenig mit »Politik« im wörtlichen Sinne tun. Im Gegenteil: Es richtet sich geradezu gegen den äußerlichen politischen Pomp der Staatsakte, der Diederich Heßling so gut gefällt. Und man sieht hier auch bereits einen Grund für das politische Versteckspiel, das Wagner mit seinen Zuschauern betreibt: Wagners »Politik« ist Anti-Politik. »Politisch« ist sie in dem Sinne, dass sie auf eine Verbesserung der Gesellschaft, des Gemeinwesens, des Staates, des »deutschen Reiches« zielt. Aber sie ist zugleich anti-politisch, weil sie von einem tiefen Misstrauen, ja von einer Aversion gegen die traditionellen politischen Institutionen geprägt ist. Und genau unter diesem Aspekt lohnt es, sich das fatale Frageverbot, um das sich dieses Symposium dreht, noch einmal genauer anzuschauen. Fraglos dein! Eine Teenager-Liebe?

Rufen wir uns zunächst die einschlägigen Formulierungen in Erinnerung:4 Elsa, soll ich dein Gatte heißen, soll Land und Leut’ ich schirmen dir, – soll nichts mich wieder von dir reißen, mußt Eines du geloben mir: – So fängt es an, und es lohnt sich schon hier festzuhalten, dass Lohengrin den Frageverzicht zur Bedingung nicht nur seiner Ehe mit Elsa macht, sondern auch seiner von ihm einzunehmenden politischen Funktion: »soll Land und Leut’ ich schirmen dir«. Über Land und Leute den militärischen und rechtlichen Schirm zu halten: Das ist nach mittelalterlicher Standesideologie die klassische Funktion des Landesfürsten – mithin eine politische Funktion. 58 |

Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam’ und Art! Elsa (mit großer Innigkeit zu ihm aufblickend) Mein Schirm! Mein Engel! Mein Erlöser, der fest an meine Unschuld glaubt! Wie gäb’ es Zweifelschuld, die größer, als die an dich den Glauben raubt? Wie du mich schirmst in meiner Not, so halt’ in Treu’ ich dein Gebot! Lohengrin (Elsa an seine Brust erhebend) Elsa! Ich liebe dich! (Beide verweilen eine Zeitlang in der angenommenen Stellung) Die Männer und Frauen (leise und gerührt) Welch holde Wunder muß ich sehen? Ist’s Zauber, der mir angetan? (Lohengrin geleitet Elsa zum König und übergibt sie dessen Hut) Ich fühl das Herze mir vergehen, schau’ ich den hehren, wonnevollen Mann! Ist das nicht schön: Er liebt sie, obwohl sie so arg beschuldigt wurde; und sie liebt ihn, nicht weil er reich oder berühmt ist, nein, im Gegenteil: Kein Mensch kennt ihn, den wonnevollen Mann, nur um seiner selbst willen wird er geliebt. Fast wie damals auf dem Schulhof – da muss einem doch das Herz »vergehen«, oder? Peter Konwitschny hatte diese Geschichte vor Jahren in Hamburg tatsächlich mal als Märchen von und für pubertierende Pennäler in ihrem Kassenzimmer inszeniert.5 Man sieht: Völlig abwegig ist das nicht. D a s F r a g e v e r b o t, d a s k e i n e s i s t

Aber schauen wir genauer hin. Dann stellt man beispielsweise fest, dass das Frageverbot eigentlich gar kein Verbot ist – eher schon eine Bitte, doch auf die fatale Frage zu verzichten. Denn Elsa darf sie ja durchaus stellen, mehr noch: Gerade sie hat ein exklusives Recht dazu. Ihr kann Lohengrin die Frage nicht » N i e s o l l s t d u m i c h b e f r a g e n « | 59

nur nicht verbieten; er muss ihr sogar, und nur Elsa allein, Rede und Antwort stehen. Dieses Recht verdankt Elsa der Liebesbeziehung zu Lohengrin. In der Liebe, da ist Wagner Romantiker, kann es nur Vertrauen und Aufrichtigkeit geben. Sie ist in dieser Hinsicht nicht hintergehbar. Das wäre als private ethische Norm auch plausibel. Verstörend wird die Sache aber, wenn man auf die schaut, die selbst dann keine Antwort erwarten könnten, wenn sie sich zu fragen trauten. Das sind die Edlen von Brabant und ihre Mannen: Denen mutet Lohengrin zu, in eine politische Beziehung zu ihm einzutreten, ohne zu wissen, woher er kam der Fahrt, und wie sein Nam und Art. Und keineswegs in irgendeine Beziehung: Als Elsas Gatte tritt er in die Rechte des Herzogs von Brabant ein. Er will zwar nicht Herzog heißen, und dafür gibt es in Wagners politischem Konstrukt auch einen guten Grund. Damit würde er sich nämlich genau in die herkömmliche politische Ordnung eingliedern, die Wagner zutiefst zuwider war. Aber wenn er unter dem Titel »Schützer von Brabant« die Lehensgefolgschaft der Mannen im Krieg gegen die Ungarn beansprucht, dann tritt er, Herzog oder nicht, passgenau in dessen Privilegien ein. Das ist nach mittelalterlicher Vorstellung ohne standesrechtliche Legitimation schlechterdings unmöglich. Vor diesem Hintergrund ist der Verzicht auf die Frage nach »Nam und Art« alles andere als ein sentimentaler privater Liebesbeweis. Er ist eine unge­ heuerliche politische Zumutung. Wagner ist da historisch bemerkenswert präzise: Wer im Mittelalter wem etwas zu sagen hatte und von wem etwas beanspruchen konnte, entschied sich exakt daran, woher er kommt (mit welchen Territorien er belehnt wurde), von welcher Art er ist (Stand der Familie in der Lehenshierarchie) und welches sein Name ist (Stellung in der familiären Erbfolge).6 Genau diese Auskunft verweigert Lohengrin – während Ortrud und Telramund gern darauf verweisen, dass Ortrud »des Friesenfürsten ­Radbods letzter Spross« sei und dass »Radbods alter Fürstenstamm« dereinst wieder über Brabant herrschen werde. Lohengrins Herrschaft als »Schützer« von ­Brabant dagegen stützt sich einzig darauf, dass die »Mannen« ihm aufgrund seines Charismas akklamieren und dass die Erbin des Herzogtums seiner Ausstrahlung als Mann erliegt. Lohengrin legitimiert sich durch seine Aura. Das aber ist eine Wirkung, wie sie Wagner vor allem der Kunst zugeschrieben hat. Und tatsächlich (da stimmt Heinrich Manns Parodie haargenau): Die brabantischen Männer und Frauen reagieren auf Lohengrin wie die Opernbesucher auf eine Wagner-Vorstellung: 60 |

Wie faßt uns selig süßes Grauen, welch holde Macht hält uns gebannt! […] Wie ist er schön und hehr zu schauen, den solch ein Wunder trug an’s Land! Auf dieser Grundlage wird Lohengrin vom König mit den politischen Privi­ legien eines Herzogs belehnt. Auch hier wieder formuliert Wagner bemerkenswert präzise:7 Der Heerrufer Und weiter kündet euch der König an, daß er den fremden, gottgesandten Mann, den Elsa zum Gemahle sich ersehnt, mit Land und Krone von Brabant belehnt; doch will der Held nicht Herzog sein genannt – ihr sollt ihn heißen: Schützer von Brabant!

Lohengrin: Die ästhetische Utopie auf zwei Beinen

In diesem Zusammenhang wird neben der politischen auch die inhaltliche Motivation des Frageverbots schlagend klar. Dann man könnte ja argumentieren, dass es doch gar nicht so schlimm wäre, wenn die Mannen erführen, wer Lohengrin wirklich ist. Als Gralsritter ist er ja der Repräsentant einer Übermacht schlechthin, der als Streiter für Elsas Unschuld die allerhöchste Legitimation hätte, und dem niemand die Herrschaft über das Reich oder die Führerschaft im Kampf verweigern würde. Das stimmt natürlich. Aber genau das ist für Wagner das Problem. Gerade weil der Gral in der von Wagner hier aufgespannten Mittelalter-Mythologie eine transzendente Macht von unbedingter Autorität ist, wäre die Anerkennung des Gralsritters als Führer, wie man heute sagen würde, »alternativlos«; sie wäre die Unterwerfung unter eine Macht, der man die Anerkennung schlechterdings nicht verweigern könnte. Das ist das Ideal, das Diederich Heßling in Lohengrin verkörpert sieht. Aber genau darauf zielt Wagner dezidiert nicht. Wagner geht es vielmehr um eine Anerkennung in Freiheit. Und die ist für ihn nur durch die Kunst, aber nicht durch die Repräsentation einer alles bezwingenden Macht denkbar. Die Kunst » N i e s o l l s t d u m i c h b e f r a g e n « | 61

vermag die Menschen im Innersten zu ergreifen und zu bewegen, so, wie es die Mannen es gegenüber Lohengrin erleben. Damit diese Wirkung sich frei entfalten kann, gilt das Gebot, das Lohengrin in der Gralserzählung formuliert: … so hehrer Art doch ist des Grales Segen, enthüllt muß er des Laien Auge fliehn: – des Ritters drum sollt Zweifel ihr nicht hegen, erkennt ihr ihn – dann muß er von euch ziehn. – Genau deshalb ist diese Szene eben keine Restauration autoritärer Herrschaftsverhältnisse, sie ist auch keine Restitution einer politischen Institution. Was die Zuschauer hier erleben, ist nach den Maßstäben des Mittelalters eine ­Revolution: Es ist die Außerkraftsetzung einer ständischen Legitimation von Herrschaft und damit des geltenden Herrschaftsprinzips generell. Hier wird nicht einfach ein anderer Chef für denselben Laden gesucht. Hier wird das ganze Legitimationsverfahren von politischer Herrschaft selbst außer Kraft gesetzt. Es ist ein interessanter Seitenaspekt, dass Wagners Held Siegfried schon im mittelalterlichen Nibelungenlied – und keineswegs erst in Wagners Ring ! – so ein Revolutionär ist. Schon damals, um 1200 herum, wurde diskutiert, ob der Stand und die Herkunft eines Mannes eine ausreichende Legitimation für dessen Herrschaftsprivilegien ist oder ob nicht zumindest komplementär auch eine Legitimation durch persönliche Fähigkeiten hinzutreten müsste.8 Frisch eingetroffen am Hof zu Worms, begrüßt Siegfried den durch seine Herkunft zweifelsfrei als König legitimierten Gunter mit folgenden Worten:9 Nu ir sît sô küene,  als mir ist geseit, sone rúoch ich, ist daz iemen  líep óder leit ich will an iu ertwingen,  swaz ir muget hân lánt únd bürge  daz sol mir werden untertân Ich übersetze wieder mit charakteristischer Freiheit: »Also – wenn ihr wirklich so kühn seid, wie mir zugetragen wurde, dann ist es mir jetzt aber so was von egal, ob ich hier irgend jemandem auf die Füße trete oder nicht! Ich will euch mit Gewalt abnehmen, was auch immer euch zu eigen ist ! Land und Burgen, das soll mir untertan werden.« Wenn Siegfried sich an einem Königshof so einführt, dann stellt auch er, ähnlich wie Lohengrin, die ständische Herrschaftslegitimation infrage und gründet seinen Herrschaftsanspruch auf 62 |

seine individuelle Qualifikation – allerdings, anders als Lohengrin, nicht als Künstler, sondern als Kämpfer. Von hier aus kann man dann das ganze Nibelungenlied durchaus lesen als die Schilderung der Katastrophe, die aus dieser Verletzung einer gottgewollten Ordnung resultiert  – während die Minne­ romane Hartmanns von Aue umgekehrt genau darauf zielen, dass Geburt und Herkommen keineswegs ausreichen, um als vollendeter Mann zu gelten, sondern dass man sich vor seiner Minnedame durch Aventiuren persönlich als vollwertiger Ritter qualifizieren muss. Bei Lohengrin ist es allerdings eben gerade nicht Kampfkraft, welche die Mannen beeindruckt – auch wenn die natürlich außer Frage steht; es ist nicht Lohengrins Schwert, sondern seine ästhetische Erscheinung:10 Seht! Seht! Welch ein seltsam Wunder! Wie? Ein Schwan! Ein Schwan zieht einen Nachen dort heran! Ein Ritter drin hoch aufgerichtet steht. Wie glänzt sein Waffenschmuck! Das Aug’ vergeht vor solchem Glanz! […] Seht, näher kommt er schon heran! An einer goldnen Kette zieht der Schwan! […] Ein Wunder! Ein Wunder! Ein Wunder ist gekommen, ein unerhörtes, nie geseh’nes Wunder! Das ist kein furchtbarer Streiter, der da kommt. Selbst seine Waffen werden als »Waffen-Schmuck« bezeichnet. Lohengrin ist eine ästhetische Revolution auf zwei Beinen, quasi die Inszenierung seiner Person als Kunstwerk. Und auch das Bild des Schwans ist ja bei Wagner (selbst wenn man die Anspielung auf die Schwanenritter-Sage und den allerdings erst 1440 gegründeten, stark kontemplativ ausgerichteten Schwanenritter-Orden in Rechnung stellt) kein kriegerisches, sondern ein idyllisches Emblem – als welches es prompt seinen Weg ins deutsche Liedgut und in den Heimatfilm genommen hat, bis hin zur Fischerin vom Bodensee, die ach so schöne Maid, juchhee, deren Refrain lautet: »Ein weißer Schwan ziehet den Kahn / mit der schönen Fischerin, auf dem blauen See dahin.« So kann’s einem gehen, wenn man seine politische Utopie allzu kunstvoll verpackt.

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»Hier gilt’s der Kunst. Wer sie versteht, der werb um mich!« Das könnte auch Lohengrin mit Fug und Recht von Elsa fordern. Aber während die kesse Eva in den Meistersingern fast ein bisschen zu gut versteht, welches Spiel da gespielt wird, versteht die wankelmütige Elsa im Lohengrin von diesem Spiel leider zu wenig. Und weil Wagner die Neigung hatte, seine politische Utopie nicht nur an die Kunst, sondern immer auch an die Liebe als den humanen Affekt schlechthin zu delegieren (deshalb ist auch der letzte Akt Siegfried so furchtbar lang geworden), scheitert im Lohengrin mit der Liebe auch die Kunst und mit der Kunst auch die politische Utopie einer Gesellschaft jenseits dynastischen Zanks und ständischer Streiterei. Zwischen Romantik und Linkshegelianismus

Wie gesagt: Darin, dass es bei Wagner immer die Kunst und die Liebe richten sollen, ist er ein Romantiker. Aber schon im Lohengrin ist es ein in die Zukunft gerichteter Romantiker, der bald die romantische Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung unter linkshegelianischen Vorzeichen fortschreiben wird  – wobei Feuerbach für ihn zu einem zentralen Gewährsmann wurde. Wenn Feuerbach das sinnliche Erleben und nicht die haarspalterische Vernunft als Quelle der Wahrheit identifiziert, findet Wagner darin seine Theorie des Kunsterlebens wieder. Er folgt Feuerbach auch darin, dass er den Glauben als Ausdruck einer gleichsam anthropologischen Disposition zur Liebe interpretiert – um dann allerdings die Kunst als die modernere symbolische Repräsentation dieser anthropologischen Grundposition an die Stelle des Glaubens zu setzen und damit wiederum bei Hegel zu bleiben. So erklärt es sich, dass bei Wagner neben der Kunst immer auch die Liebe die Antipodin der bestehenden politischen Ordnung ist. Sie ist per se revolutionär – und damit fast immer auch ein politisches Statement. Im Ring wird sie vollends zum Vehikel für die frühsozialistische Kritik am Kapitalismus als lieblos – deshalb muss Alberich der Liebe entsagen, um sich den goldenen Ring der Macht zu eigen zu machen. Aber auch den Widerwillen gegen die politischen Institutionen seiner Zeit teilt Wagner nicht nur mit Anarchisten wie Bakunin, sondern ebenso mit vielen Romantikern – eine Reaktion auf die restaurative, letztlich gegen das Bürgertum gerichtete institutionelle Politik des Vormärz. Wenn sich also Wagner etwa ab 1840 unter dem Einfluss von Feuerbach, später auch von Proudhon, Bakunin und zeitweise Marx zuneh64 |

mend von der Romantik entfernt – Lohengrin war gewissermaßen seine letzte in diesem Sinne romantische Oper –, dann nimmt er dabei doch wesentliche romantische Motive mit. Und selbst unter dem Einfluss Schopenhauers (1854 liest er Die Welt als Wille und Vorstellung) übernimmt er dessen metaphysischen Weltver­neinungsPessimismus keineswegs vollständig, sehr wohl aber die Vorstellung, dass die Musik – im Sinne Wagners: das Gesamtkunstwerk – das An-sich-Sein der Welt auszudrücken vermag. Auch von dieser Basis aus also kann er die tiefere Wahrheit der Kunsterfahrung über das depravierte Machtspiel der »Politik« stellen. Die auratische Kommunikationskraft der Kunst und der humane Affekt der Liebe waren die beiden Phänomene, an die Wagner die gesellschaft­liche Höher­entwicklung der Menschheit delegierte, solange er an diese glaubte. Deshalb hat er auch das Festspielhaus zu Bayreuth erbaut – nach dem Vorbild des griechischen Theaters, in dem sich die Polis als gesellschaftliche Einheit erfuhr. Wagner erhoffte sich von den Bayreuther Aufführungen eine ähnliche gesellschaftsbegründende Wirkung: Auch er wollte mit seiner Kunst eine Art Polis stiften. Und das ist natürlich, ungeachtet von Wagners Absage an die Politik im Lohengrin und anderswo, gleichwohl eine politische Intention. Wagner verneint die real existierende Politik im Namen einer politischen Utopie, die er auf den kulturellen Faktor Kunst und auf den anthropologischen Faktor Liebe gründet.11 Fa z i t

Bevor ich von der Werkinterpretation zur Wagner-Rezeption übergehe, möchte ich an dieser Stelle vier Dinge festhalten: 1. Wenn Wagner seinem Opernpublikum Szenen realer Politik vor Augen führt, gibt es allen Grund zur Vorsicht. Wagners politische Utopie wird genau dort in der Regel nicht zu finden sein. Deshalb sollte man Wagners expliziter Darstellung von Politik, wie glanzvoll sie auch immer daherkommt, nicht auf den Leim gehen, sonst endet man da, wo Heinrich Mann seinen Roman­ helden Diederich Heßling platziert hat. Wagners politische Intentionen liegen meistens jenseits dessen, was er als Politik explizit herausstellt. 2. Wer Wagner in seinen politischen Ambitionen stellen will, sucht sie am besten da, wo sich Wagner dezidiert unpolitisch gibt – in seinen Liebesgeschichten oder in seiner Kunstphilosophie. » N i e s o l l s t d u m i c h b e f r a g e n « | 65

3. Wagners Frageverboten ist nicht zu trauen. Denen seiner Familie aber auch nicht. Als Akt des Verbietens sind sie in aller Regel suspekt. Und das Verbotene ist unter Umständen genau das, worauf es ankommt. 4. Wenn Wagner behauptet: »Hier gilt’s der Kunst« – dann gilt es, auf der Hut zu sein! Denn meist gilt’s hier der Politik.

II Politische Versteckspiele um Wagner herum I n B ay r e u t h g i lt ’ s d e r K u n s t

Auch dieses zweite Kapitel möchte ich mit einem Zitat beginnen. Nicht mit einem Zitat aus Wagners Werk allerdings, denn jetzt soll es ja nicht mehr um Werkinterpretation, sondern um Rezeptionsgeschichte gehen. Folglich also mit einem Zitat aus Wagners Umfeld: »Im Interesse einer reibungslosen Durchführung der Festspiele bitten wir, von Gesprächen und Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel freundlichst absehen zu wollen. HIER GILT’S DER KUNST ! « Das stand 1951, bei der Wiederaufnahme der Bayreuther Festspiele nach dem Zweiten Weltkrieg, auf Plakaten und Handzetteln rings um das Bayreuther Festspielhaus.12 Vielleicht hätten die beiden Enkel sich genauer daran erinnern sollen, was hinter diesem Zitat ihres Großvaters so alles steckt – siehe oben. Denn auch hier wieder entpuppt sich dieses »Hier gilt’s der Kunst« als, allerdings im Gegensatz zu Evas kesser Aufmunterung unfreiwillig ironische, Apologie einer stur auf ihr ästhetisches Ritual fixierten Festwiesenkultur. Mögen Zigtausende ermordet worden sein  – gefallen nannte man das damals euphemistisch –, mögen Städte in Trümmern und die Moral der Nation zuschanden liegen, aber: »Hier gilt’s der Kunst«! All diese anderen unerfreulichen Dinge, die da mal gewesen sein mögen in einer »dunklen Zeit« – sie sollten ganz schnell vergessen sein, auf dass sie auch im Dunklen bleiben. Das heißt nichts anderes, als dass sich auch hier, wo ausdrücklich die Abwesenheit der Politik erbeten wird – dass sich gerade hier eine politische Haltung par excellence dokumentiert. Insofern sind die beiden Enkel mit diesem ihrem politischen Versteckspiel wahrhaft die Erben ihres Großvaters. In der Kontinuität der Bayreuther Festspielgeschichte gelesen, entlarvt sich dieses Zitat sogar selbst, denn es ist ein verräterischer Tritt in den Fett66 |

napf. Hier oben am Grünen Hügel hatte sich 18 Jahre zuvor schon einmal jemand Äußerungen jenseits der Kunst verbeten: »Auf ausdrücklichen Wunsch des Herrn Reichskanzlers wird gebeten, innerhalb des Festspielhauses von Kundgebungen, die nicht dem Werk Richard Wagners gelten, abzusehen.« Der frisch gewählte Herr Reichskanzler hieß damals, 1933 – Adolf Hitler. Das ist wahrlich eine verräterische Kontinuität.13 D a s » N u r d e r K u n s t« -Ta b u

Noch haarsträubender wird die Forderung, wenn man bedenkt, was sich seit etwa 1883 in Bayreuth abgespielt hatte. Unter Cosima Wagners Leitung und unter der intellektuellen Führung zunächst Hans von Wolzogens und ab 1888 dann zunehmend auch Houston Stewart Chamberlains, der 1909 vollends nach Bayreuth übersiedelte, entwickelten sich die Festspiele und deren Publizistik (insbesondere die Bayreuther Blätter) zum Zentrum eines antisemitischen Proto-Nationalsozialismus, der quasi die Blaupause für die nationalsozialis­ tische Rassenideologie lieferte.14 Man darf vermuten, dass es eher diese ideologische Publizistik war und weniger Wagners komplexe M ­ usik, geschweige denn sein linkshegelianischer Antikapitalismus zur Zeit der Ring-Konzeption, die den Onkel Wolf ab 1926 immer wieder hierherlockten. Onkel Wolf, so wurde Adolf Hitler im Kreis der Familie Wagner genannt. Wenn der seine Lieblingsmusik hören wollte, suchte er die von ihm selbst in Auftrag gegebene Führerloge im Münchner Gärtnerplatztheater auf und lauschte dort der ­Lustigen Witwe. Als ideologische Steigbügelhalter aber waren Cosima, später auch Winifred sowie der Bayreuther Kreis für Hitler von unschätzbarem Wert. Udo Bermbach hat das in seinen wegweisenden Untersuchungen detailliert herausgearbeitet.15 Nach 1945 aber und unter den Augen der deutschen Besatzungsmächte war das nun wirklich eine im höchsten Maße kompromittierende Vorgeschichte. Sie musste 1951 unter allen Umständen unter den Teppich gekehrt werden. Und deshalb war das Bayreuther Politikverbot unter dem Motto »Hier gilt’s der Kunst« ein vehement politisches Dekret. Es war die rhetorische Inkarnation der Verdrängungs-Ideologie des werdenden Wirtschafts-Wunderlandes Bundesrepublik Deutschland. Dass dieses Dekret nur aufrechterhalten werden konnte, wenn die Bayreuther Ästhetik ihrerseits zu politischen Äußerungen keinen Anlass gab, lag auf der Hand. Aber auch diese Ästhetik hatte bereits vor 1951 am Grünen » N i e s o l l s t d u m i c h b e f r a g e n « | 67

­ ügel eine gewisse Tradition. In ihrem Buch über Wieland Wagner weist H Ingrid Kapsamer nach, wie Wieland in seinen Neu-Bayreuther Inszenierungen Tendenzen der abstrakten Vorkriegs-Avantgarde der 20er-Jahre wieder aufgriff.16 Interessanterweise wies aber schon der Bayreuther Ring von 1933 von Heinz Tietjen, Wilhelm Furtwängler und Emil Preetorius, den in den folgenden Jahren die komplette NS-Nomenklatura abzusitzen hatte, in seiner abstrahierenden Bühnenästhetik kaum direkte Bezüge zur Politik auf – auch nicht zur NS-Ideologie. Auch deshalb konnte Tietjen – inzwischen von den West-Alliierten in seinem Entnazifizierungsverfahren vollständig rehabilitiert  – seine Ring-Ästhetik 1951 in Berlin bruchlos weiterentwickeln.17 Was die NS-Größen vielleicht nicht direkt anstrebten, aber zumindest tolerierten, das war genau diese Ästhetik des vermeintlich Unpolitischen, des Absehens von aktuellen Themen, die ihre Selbstinszenierung im Umfeld der Bayreuther Aufführung jedenfalls nicht störte. Die politische Kunst der 1920er-Jahre, die ja geblüht hatte, die Kunst des Naturalismus, Brechts, der Kabaretts, der Revuen – die allerdings hatten die Nazis durch Verbot, Vertreibung und Mord gründlich ausgerottet. Diese unpolitische Kunst also, die gerade als unpolitische schon den politischen Interessen der NS-Machthaber Vorschub geleistet hatte  – sie wurde nach 1951 weiterhin gebraucht. Wieland und Wolfgang Wagner lieferten sie: ein neo-antikisch-zeitloses Theater im Dämmerlicht auf einer schwebenden Welten-Scheibe, in dem die Archetypen des Allgemein-Menschlichen, der Psychologie C. G. Jungs entsprungen, ihre zeitlos gültigen Schicksale durchlitten. Dieses politische Versteckspiel funktionierte perfekt, als Verdrängung nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart. Die West-Integration Deutschlands als Frontstaat gegenüber dem sich formierenden »Ostblock«; das Wirtschaftswunder unter tätiger Mithilfe der ehemaligen Nazi-­Eliten in Wirtschaft, Verwaltung und Politik; die Wiederbewaffnung Deutschlands; die Nicht-Aufarbeitung der Schuld der NS-Generation  – von all diesen politischen Themen konnte man auf dem Grünen Hügel ungestört »absehen«. Denn dort galt’s der Kunst, die dazu passte.

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D i e h i s t o r i s c h e M o t i vat i o n d e s » N u r d e r K u n s t« -Ta b u s

Vom Standpunkt einer aufgeklärten historischen Vernunft aus wird man die Wiederauferstehung Neu-Bayreuths kaum anders als so bewerten können. Allerdings würde eine »aufgeklärte« historische Vernunft, die ihre eigenen Maßstäbe verabsolutiert und so die Historizität ihres Gegenstandes negiert, in einen ihrerseits ahistorischen Dogmatismus verfallen. Ja: Der Geltungsanspruch einer kritischen Hinterfragung dieses »unpolitischen« Bayreuther Neuanfangs bleibt unhintergehbar. Gleichwohl muss man sich auch Rechenschaft darüber ablegen, wo dieser Neuanfang seine Motivation im historischen Kontext hernehmen konnte. Hätte er die nicht gehabt, hätte er sich kaum als so wirkungsmächtig erweisen können. Woher also wuchs der Norm des Unpolitischen in der Kunst nach allem, was politisch passiert war in Deutschland, historische Macht zu? Die Antwort auf diese Frage hat Thomas Mann in seinem Epochenroman Doktor Faustus dem humanistisch gebildeten, während der NS-Zeit in der »inneren Emigration« ausharrenden Erzähler Serenus Zeitblom in den Mund gelegt (oder genauer: in die Feder diktiert):18 Es war das Erlebnis eines umfassenden, grundstürzenden Bankrotts in militärischer, wirtschaftlicher, kultureller und moralischer Hinsicht. Die Menschen hatten auf einen Schlag alles verloren, an das sie bisher geglaubt hatten. Dies auch deshalb, weil das Gleichschaltungs-Dogma der Nazis buchstäblich alle gesellschaftlichen Bereiche auf ihre Ideologie ausgerichtet und damit bis ins tiefste Innere politisiert hatte. Mit der Folge, dass nach dem militärischen Zusammenbruch Deutschlands die gesamte deutsche Gesellschaft und Kultur nazistisch infiziert und korrumpiert war. Dass das intellektuelle Deutschland daraus nach 1949 den Schluss zog, zumindest aus der Kunst fortan alle Politik herauszuhalten, ist historisch verständlich. Dabei konnte man im Übrigen an den Verdruss des deutschen Vormärz und des Biedermeier an der Politik anknüpfen – da also, woher auch Wagners anti-politische Attitüde ihre Impulse bezog. »Da draußen, stets betrogen, saust die geschäft’ge Welt, schlag noch einmal die Bogen um mich, du grünes Zelt.« So hat Eichendorff den deutschen Wald besungen, und schon bei ihm war das ein ästhetischer Wald. So wie Eichendorffs lyrisches Ich in den Wald, so flohen die deutschen Nachkriegsbürger in die unpolitische Kunst.

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D i e F l u c h t v o r d e r P o l i t i k i n s T h e at e r

Und sie flohen besonders gern ins Theater. Ich habe mich mit diesem Phänomen der Theaterbegeisterung zwischen den Ruinen am Beispiel Dortmunds19 genauer auseinandergesetzt: Da waren Menschen, die in Trümmern hausten, keine Arbeit hatten, zerrissene Familien, zerrüttete Finanzen, politisch vollkommen desorientiert – und statt als erstes neue Siedlungen zu bauen, flickten diese Menschen mit notdürftigsten Mitteln ihre Theater wieder zusammen, die versprengten Künstler sammelten sich, es gab erste Aufführungen. Und genau in diesen Aufführungen erfuhren sie so etwas wie einen vermeintlich von keiner Politik mehr korrumpierten gesellschaftlichen Zusammenhalt. Richard Wagner wäre womöglich begeistert gewesen von diesem ästhetischen Aufbruch, für den es aber auch pragmatische Gründe gab: Die Alliierten hatten in ihren Besatzungszonen politische Versammlungen verboten. Als gesellschaftliche Gemeinschaftserfahrung standen den Menschen also zunächst nur das Theater und der Gottesdienst zur Verfügung. Wenn man sich die Berichte über diese allerersten Aufführungen anschaut, erfährt man, wie die Menschen in den Dramen, und zwar gerade in den »Klassikern«, keine germanischen Herrenmenschen und semitischen Untermenschen mehr wiederfanden, sondern Archetypen des »Allgemeinmenschlichen«, einer zu aller Zeit gültigen, durch die historischen Wechselfälle des Politischen nicht korrumpierbaren, in Ewigkeiten gültigen Conditio humana. So konnten sich die Serenus Zeitbloms der deutschen Bevölkerung, also die bürgerlichen Mitläufer der Nazis, nachträglich in die Opferrolle ­hineinstilisieren. Waren es nicht die Nazis gewesen, die »Kräfte einer dunklen Zeit«, die die »heil’ge deutsche Kunst« für ihre perversen Zwecke missbraucht, entweiht, in den Schmutz gezogen hatten?! Nun aber konnte man im Theater wieder befreit aufatmen, konnte das Wahre, Schöne, Gute reinigen vom Dreck der Politik und sich endlich wieder zu den ewigen Werten bekennen. Auf ins Theater also, und an den Türen galt allenthalben die Parole: Hier gilt’s der Kunst! Politische Hunde müssen draußen bleiben. Was auf diese Weise errichtet wurde, das war ein nahezu zwei Jahrzehnte lang wirkungsmächtiges Tabu. Eine Politisierung der Kunst erschien geradezu als Wiederkehr der »Gleichschaltung« unter neuen Vorzeichen. Und es gab auch ein Frageverbot, unausgesprochen aufrechterhalten von all den Honoratioren, die sich da in den ersten zwei Jahrzehnten der aus Ruinen auferstandenen Bundesrepublik Deutschland in den Premieren ihrer Stadt- und 70 |

Staatstheater in bemerkenswerter Vollzähligkeit und Kontinuität versammelten: Nein, es durfte nicht gefragt werden, woher sie in diese Gegenwart gefahren kamen und wie in jenem anderen, dem Dritten Reich ihr »Nam und Art« gewesen war. Selbst den Alliierten kam dieses Frageverbot nicht unge­ legen. Nachdem der »Morgenthau-Plan« einer Re-Agrarisierung Deutschlands aufgegeben wurde (nur als anti-westliche Propaganda übriggebliebener Alt-­ Nazis war ihm noch ein sinistres Fortleben beschieden) und man sich an der Grenze zum »Ostblock« einen Staat wünschte, der den Kapitalismus machtvoll repräsentierte und schlimmstenfalls auch als militärische Knautschzone dienen mochte, war klar, dass der Entnazifizierung der Deutschen pragmatische Grenzen gesetzt werden mussten.20 Wer das deutsche Wirtschaftswunder wollte, der kam ohne die Funktionseliten der Nazis schlechterdings nicht aus. Und so überdauerten sie allenthalben: An den Schulen und in den Gerichten, in der Wirtschaft und in der Beamtenschaft, in der bösen Politik – und leider auch in den schönen, wahren und guten Theatern.21 »Nie sollst du mich befragen …« 1975 hat sich der Plakatkünstler Klaus Staeck auf seine Weise dieses Frageverbots angenommen. Damals entwarf er ein Plakat, das das lächelnde Wahlkampfgesicht des damaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Hans Filbinger, zeigte, darunter der Schriftzug: »Seit 1933 pausenlos in Sorge um Deine innere Sicherheit.« Das Plakat nahm Bezug auf die von Rolf Hochhuth aufgedeckten Todesurteile an Deserteuren, die Filbinger kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs unterschrieben hatte. In der damaligen Bundesrepublik war das ein beispielloser Tabubruch einer politischen Kunst, die Teile der bundesrepublikanischen Funktionseliten völlig zu Recht als unmittelbare Bedrohung ihrer gesellschaftlichen Raison d’être wahrnahmen. Entsprechend radikal reagierten sie. D e r B r u c h d e s » N u r d e r K u n s t« -Ta b u s : C h é r e a u u n d a n d e r e

Es ging bei diesem Tabubruch aber keineswegs nur um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Diese Aufarbeitung war Teil jener in sich äußerst heterogenen gesellschaftlichen Bewegung, die man gemeinhin unter dem Begriff »Achtundsechzig« zusammenfasst und die auch das Theater grund­ legend veränderte.22 Die strengen Klassengegensätze, die trotz aller Prosperität das Wirtschaftswunder-Deutschland prägten, die Autoritätsgläubigkeit, die kritiklose Amerika-Gefolgschaft im Kalten Krieg, die sexuelle Prüderie, die » N i e s o l l s t d u m i c h b e f r a g e n « | 71

e­ rzkonservative Werteorientierung, die Omnipotenz der Wirtschaft und des Kapitals, die Verdrängung sozialer Ungerechtigkeit – all das geriet in den kritischen Fokus einer jungen Generation, die nun auch begriff, dass die unpolitische Attitüde in weiten Teilen des Kulturbetriebs nichts anderes war als ein Instrument zur Unterdrückung missliebiger Diskussionen. In diesem Kontext geriet auch die »dunkle Zeit« ins kritische Scheinwerferlicht, zum blanken Entsetzen der Generation Filbinger. Solche kritischen Fragen wurden von einer neuen Generation junger Regisseure, von denen nicht wenige übrigens aus der DDR in die Bundes­ republik gekommen waren, vehement ins Theater getragen. Die vorgeblich unpolitische Ästhetik des Ewig-Menschlichen erschien unter diesen Vorzeichen immer mehr als eine Kunstform des Verschweigens, ja mehr noch, der Repression, die half, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verschleiern. Demgegenüber machte eine neue sozialkritische, von Hans Mayer oder Theodor W. Adorno inspirierte Kunst- und Literaturwissenschaft klar, dass man in den Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts und deren Aufbegehren gegen aristokratische Suprematie unverhoffte Bundesgenossen finden konnte. Von da aus erschien das Postulat des Unpolitischen in der Kunst als seinerseits zutiefst politisch und verfälschend, weil es zu einer Entschärfung der Werke von Verdi, Wagner oder Mozart geführt hatte, die diesen Werken wenig angemessen war. Regisseure wie Patrice Chéreau, Hans Neuenfels oder Götz Friedrich brachen mit dieser bildungsbürgerlichen Tabuisierung des Politischen. Und die Reaktionen auf Chéreaus Bayreuther »Jahrhundert-Ring« (ab 1976)23 oder auf ­Neuenfels’ »Feudeleimer-Aida« an der Oper Frankfurt 198124 waren in ihrer Heftigkeit (beide Premieren standen aufgrund von Morddrohungen, tumultuösem Protestlärm und politischen Interventionen kurz vor dem Abbruch) keineswegs durch das ästhetische Missfallen allein zu begründen. Hier wurde die gesellschaftliche Deutungshoheit über die Kunst selbst ausgekämpft – und mit der Kunst die Deutungshoheit über die deutsche Geschichte und Gegenwart. Chéreaus Bayreuther »Jahrhundert-Ring« enthielt im engeren Sinne noch nicht einmal irgendwelche denunziatorischen Ansätze gegenüber den Opernfiguren oder den politischen Akteuren der gesellschaftlichen Gegenwart. Es genügte, dass Chéreau überhaupt den historisch-politischen Gehalt der Ring-­ Tetralogie kenntlich machte: Wotans Verantwortungslosigkeit als Regent und »Hüter der Verträge«, die Lieblosigkeit von Alberichs kapitalistischen Welt­eroberungsplänen. In diesen und anderen Anspielungen wurde plötzlich 72 |

­ agners Orientierung an linkshegelianischen Geschichtsbildern kenntlich. W ­Allein das war für die Bayreuther Zuschauer eine unerträgliche Ungeheuerlichkeit. Und die Proteste waren vermutlich auch deshalb so hysterisch, weil sofort spürbar wurde, dass Chéreaus Deutungsansatz eben nicht der aufgesetzte Blödsinn war, zu dem man ihn am liebsten erklären wollte. Es fand Widerhall in Wagners Werkstrukturen. Den Rechtgläubigen fehlten die Argumente, ihnen blieb nur der Schaum vorm Mund. Und den versprühten sie im Übermaß. Wagner p o s t m o d er n

Dieser neue Ansatz eines politisch-emanzipatorischen Theaters war von enormer Wirkungsmächtigkeit und brachte den Bühnen in den folgenden Jahren eine ungeahnte künstlerische Blüte und übrigens auch eine neue Zuschauer­ resonanz. Zu Recht durften sie sich als Brennpunkte aktueller gesellschaft­ licher Diskurse fühlen. Das Aufbrechen der alten Frageverbote erwies sich als wirkungsvolle und zudem als künstlerisch ertragreiche Kommunikations­ strategie. Allerdings war die Klarheit der Stellungnahmen oft erkauft durch ein zwar hochintellektuell untermauertes,25 gegenüber der Komplexität der globalen Wirklichkeit aber auch wieder simplifizierendes Denken. Zentrale Axiome dieser politischen Haltung waren der Glaube an die Autonomie der aufgeklärten politischen Subjekte, an die »Machbarkeit« und Zielgerichtetheit der Geschichte und an die diskursive Verifizierbarkeit wahrer politischer Aussagen. Diese Eindeutigkeiten gerieten gegen Ende der 90er-Jahre unter zunehmenden Legitimationsdruck vonseiten postmoderner Gesellschafts- und Geschichts­ modelle.26 Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und vor dem Hintergrund einer Aufweichung des Eurozentrismus in der Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie verloren die aufgeklärt-kritischen Utopien von Achtundsechzig an Bindewirkung. Thesen vom »Ende der Geschichte« machten die Runde, neue Sub­jektivitätskonzepte dekonstruierten die Identität des Subjekts, es blieb nur ein heterogenes Agglomerat, das in disparaten Kommunikationszusammenhängen unterschiedliche Ich-Konstruktionen ausprägte. Und der Gedanke des Fortschritts geriet unter Druck, weil man erkannte, dass unterschiedliche Epochen und unterschied­ liche Kulturen ihre je eigenen, zueinander ­inkompatiblen Wahrheiten hervorbrachten, sodass der von Adorno und ­anderen ­postulierte normative Fortschrittsbegriff in Kunst und Gesellschaft seine Glaubwürdigkeit einbüßte.27 » N i e s o l l s t d u m i c h b e f r a g e n « | 73

Das befreite die Theater einerseits aus dem Korsett einer den narrativen Gehalt der Werke politisch »aktualisierenden« Gleichsetzungs-Ästhetik. An deren Stelle trat ein oft sehr verspielter, anti-narrativer, assoziativer Eklekti­ zismus. Und das Theater, das sich so erfolgreich gegen die prägenden ­Tabus Nachkriegs-Deutschlands zur Wehr gesetzt hatte, lernte auf unvermutete ­ Weise die Tücken der Tabulosigkeit kennen. Jetzt schien alles möglich, aber nichts mehr verbindlich. »Anything goes« war die Devise,28 damit einher ging ein Rückzug der Theater aus den ihrerseits immer mehr erlahmenden gesellschaftlichen Diskursen. Deutschland wiedervereint, Berlin wieder Hauptstadt, Helmut Kohl wieder Bundeskanzler – in einem Interview hat Michael Mersch­ meier, damals Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift Theater heute, diese Zeit der 90er-Jahre mal als »die große Verdumpfung« bezeichnet.29 Die Politik der »Alternativlosigkeit« dämmerte herauf, die dann in ­Angela Merkel als Sachzwang-Verwalterin ihre vollendete demokratische Repräsentantin fand. Die verspielte ästhetische Tabulosigkeit der Postmoderne aber erwies sich damit als perfekte Verblendung eines neuen Tabus, das die gesellschaftlichen ebenso wie die künstlerischen Diskurse immer mehr bestimmte: Der Gesellschaft ­waren ihre verbindlichen Utopien abhandengekommen und mit diesen auch die Basis, den Status quo kritisch zu hinterfragen. Wieder einmal galt die Kunst vor allem der Kunst – von politischen Fragen sah man freundlichst ab. Es liegt auf der Hand, dass das schlechte Zeiten für Wagner sein mussten – für einen Komponisten, der in seinen Opern so fundamental wie kaum ein anderer die politische Wirklichkeit infrage gestellt und ihr seine ästhe­ tische Utopie entgegengesetzt hat. Man könnte das durchaus so interpretieren, dass Wagner selbst zum Opfer eines nahezu globalen Tabus zu werden drohte; eines Tabus, das die Sachzwänge neoliberaler Kapitalwirtschaft vor Hinterfragung schützte. Bis zur Mitte der 80er-Jahre hatte die linke »Kritische Theorie« auch den Wagner-Regisseuren als Basis ihrer utopischen Gegenentwürfe dienen können. Nachdem aber »der Sozialismus« (so lauten ja bis heute die ideologischen Verkürzungen) versagt hatte, fehlt diese Basis für eine fundamentale Systemkritik, auf die doch Wagners Opern zielen. Dieser Mangel war vielen Inszenierungen anzusehen. Die einen machten weiter wie bisher. Da war Wotan noch immer als Konzernlenker der Walhalla AG unterwegs, aber das blieb pure Konfektion und regte niemanden mehr auf oder an, über Alternativen nachzudenken. Andere erhoben immerhin das Problem post74 |

moderner Indifferenz zum Thema ihrer Inszenierungen, was aber leicht in eine Selbst­referenzialität des Kunstwerks führt, die nun gewiss Wagners Intentionen nicht entspricht. Und eine weitere Strömung promovierte die reichen Innovationen der postmodernen Ästhetik zur Hauptsache und spielt virtuos auf den so geschaffenen szenischen Klaviaturen: L’art pour l’art. Der Beginn dieser Periode fiel ausgerechnet zusammen mit der Jahrtausendwende, deren Sinn die Theater vorzugsweise mithilfe von Wagners Ring des Nibelungen zu erschließen suchten – und reihenweise scheiterten. Ich möchte dazu auf vier herausragende Ring-Inszenierungen kurz eingehen, die sich von vielen anderen dadurch unterschieden, dass sie auf ganz unterschiedliche Weise diese Situation zumindest reflektierten: rosalies Bayreuther »Designer-Ring« von 1994 ff. Regie: Alfred Kirchner, Musikalische Leitung: James Levine30 Dieser Ring, in erster Linie geprägt von rosalies Bühnenbildern, ist bissig angefeindet worden: als »Designer-Ring« und Ausdruck einer Interpretationsverweigerung mit den Mitteln einer selbstgenügsamen Ästhetik der bildenden Kunst, die vor allem aufs Dekorative ziele. Er wäre also im eben erläuterten Sinne ein Beispiel für die L’art-pour-l’art-Strömung der Postmoderne, wobei die von rosalie geschaffene Bildlichkeit aber immerhin von faszinierender Musikalität war. Wer diesen »Designer-Ring« auf diese Strömung festlegen wollte, übersähe allerdings die sehr konkreten Verweise auf das Gebrauchs- und Konsumdesign der 90er-Jahre, die rosalie der Materialität und Bildlichkeit ihrer Bühne eingeschrieben hatte. Insofern könnte man diesen Ring auch als das intendierte Abbild einer Zeit lesen, in der längst Design und Konsum gesellschaftlich prägender waren als politische oder weltanschauliche Standpunkte. So gelesen, wäre auch er in seiner ganzen »unpolitischen« Attitüde wieder ein politisches Statement – allerdings eines, das lediglich feststellt, ohne Stellung zu beziehen, und damit eben doch hinter Wagners Intentionen zurückbleibt. Der Stuttgarter Ring von 1999 ff. Regie: Joachim Schlömer, Christof Nel, Jossi Wieler / Sergio Morabito, Peter Konwitschny Bühne: Jens Kilian, Karl Kneidl, Anna Viebrock, Bert Neumann31 Die Stuttgarter Dramaturgie unter dem damaligen Intendanten Klaus ­Zehelein lieferte 1999/2000 die Metatheorie zu den Problemen des Wagner-Inszenierens » N i e s o l l s t d u m i c h b e f r a g e n « | 75

in Zeiten der Postmoderne – und zog eine radikale Konsequenz: Zehelein verwies auf die zunehmende Unglaubwürdigkeit des Anspruchs, die Welt in ihrer Totalität und die Geschichte in ihrer Ganzheit einem einzigen, kohärenten Erklärungsmodell zu unterwerfen, aber auch auf die durchaus diskontinuierliche Entstehungsgeschichte des Werkes selbst mit seinen Unterbrechungen und Brüchen. Dieser Situation wollte Zehelein gerecht werden, indem er den Ring vier verschiedenen Regisseuren anvertraute. Die allerdings nutzten die sich damit auftuenden Freiräume derart fulminant, dass man aus dem Staunen kaum herauskam  – vor allem über Jossi Wielers quietschkomischen Siegfried mit dem kurzweiligsten letzten Akt aller Zeiten, der, wie ironisch immer, die Hoffnung auf ein doch noch gutes Ende der Geschichte evozierte; und über Peter Konwitschnys fulminante Götterdämmerung mit Luana DeVol als Brünnhilde, die das Schicksal dieser Heldin so tieftragisch ausspielte, dass darin womöglich der implizite dialektische Appell erwuchs, dass es so eben gerade nicht enden dürfe. Worin fast schon wieder der Ansatz einer Überwindung postmoderner Disparatheit liegen könnte. Jürgen Flimms Bayreuther »Jahrtausend-Ring« von 2000 ff. Regie: Jürgen Flimm, Bühne: Erich Wonder32 Im Jahr 2000 zu Bayreuth kündigten Jürgen Flimm und sein Team den ganz großen Aufschlag mit der Gegenthese zur Postmoderne an: Nach Chéreaus »Jahrhundert-Ring« sollte nun der »Jahrtausend-Ring« folgen, nach den Belanglosigkeiten und dekorativen Oberflächlichkeiten der Postmoderne sollte es endlich wieder ein Ring aus einer Hand und einem Guss sein, mit Haltung, Botschaft und politischer Sinngebung. Und was sah man? Man sah ein handwerklich über weite Strecken exzellent inszeniertes Panorama abgenutzter Sinnangebote und ein Stranden in der Unverbindlichkeit. Klarer als hier war selten zu sehen, dass der politische Ansatz, der nach Achtundsechzig die Theater inspiriert hatte, 2000 nicht mehr trug. Wotans Konzernzentrale, Alberichs Aldi-Tüte, der Lift nach Nibelheim, all die Versuche, aktuelle politische Hintergründe des Handlungszusammenhangs offenzulegen – sie verpufften in einer Regie, die das Politische nur mehr aus verbrauchten Metaphern bezog, ungeachtet einer in vielen Details starken Personenführung. Damit war klar, dass ein Rückfall hinter die in Stuttgart formulierten Thesen der Inko­härenz sowohl der Werkstruktur wie auch der aktuellen Interpretationshorizonte nicht die Lösung sein konnte. 76 |

Kirsten Harms’ Kieler Ring von 2000 ff. Regie: Kirsten Harms, Bühnenbild: Bernd Damovsky33 Aber was blieb dann noch? Nun  – vielleicht würde man ja im Werk selbst fündig, indem man allen Rezeptionsballast beiseiteschiebt und es ohne vorschnelle Bebilderung in seiner Struktur befragt? Dies war der Ansatz von Kirsten Harms und ihres Ausstatters Bernd Damovsky. Harms war damals Operndirektorin in Kiel und noch nicht Intendantin der Deutschen Oper Berlin; und auch wenn das in Berlin bis heute kaum einer glauben will – aber in Kiel sind ihr großartige Inszenierungen gelungen. Ihr Ring war eine davon. Zu Beginn: Die Bühne schwarz und leer, das komplette Ensemble mit Dirigent, Regisseurin, Bühnenbildner, Sängern saß an einem langen Arbeitstisch, wie bei einer ersten Konzeptionsprobe. Hinten hingen Kostüme bereit, die Sänger fanden sich gleichsam versuchsweise, tastend in ihre Rollen. Diese Schwebe zwischen Ein- und Aussteigen blieb immer erhalten, für das Bühnenbild sorgte allein die effektvolle Bewegung der kompletten Bühnenmaschinerie mit Zügen, Versenkungen, Drehscheibe, Scheinwerfer-Batterien. Die Ratlosigkeit, der Flimm und sein Team zum Opfer gefallen waren, machte Harms zum Thema, ja zum Eingeständnis. Und trotzdem waren die vier Vorstellungen in ihrer zwischen Identifikation und Distanz schwebenden, dabei aber genau ausgefeilten Personenführung grandiose Abende. Die Regie schien zu sagen: Ja, nach allem, was mit Wagners Ring schon erzählt wurde, fällt es uns schwer, noch etwas Neues zu sagen. Aber seht doch: Das Werk ist großartig – lasst uns auf die Suche gehen! Abgesang auf die Postmoderne

Insgesamt betrachtet, waren die vier Inszenierungen, jede auf ihre Weise, ein Abgesang auf die Postmoderne. Kirsten Harms ging zurück zum Werk; rosalie projizierte das Werk auf die Ästhetik des Zeitgeistes; im Rahmen der post­ modernen Stuttgarter Diskontinuitäts-Konzeption befragte vor allem Peter Konwitschny die Götterdämmerung sehr substanziell nach den utopischen Spuren, die noch im Scheitern Brünnhildes zu finden sein mochten; und Jürgen Flimm und seine Berater hatten zumindest insoweit den richtigen Instinkt, als die Theater sich nach 2000 tatsächlich wieder auf den Rückweg in die Gesellschaft und in die gesellschaftliche Relevanz machten mit all den Mitteln, die sie in den postmodernen Jahren des Experimentierens und » N i e s o l l s t d u m i c h b e f r a g e n « | 77

S­ pielens entwickelt hatten, aber ohne den ideologischen Theorieballast und die Dogmatisierungen von Achtundsechzig. Die Theater wurden nun selbst zu Forschern an der gesellschaftlichen Wirklichkeit, luden »Experten des Alltags« auf die Bühne, beauftragten Autoren mit Recherchen in der Realität, sie spielten nicht mehr nur Stücke, sondern Projekte oder Romanbearbeitungen, Kinodramatisierungen und zogen deren epische Gesellschaftspanoramen dazu heran, um die darin transportierten Gesellschaftsbilder zu befragen. Das hochfahrende »Hier gilt’s der Kunst«: Im Theater der sozialen Intervention, das heute die Spielpläne bestimmt, hätte es keine Chance mehr. Allerdings hat das Theater neue Tabu-Debatten zu führen. Blackfacing, Cultural Appropriation, die Darstellung sozialen Leids durch wohlsituierte Staatsschauspieler – ausgerechnet das Prinzip der Repräsentation selbst, das so prägend ist für das westliche Theater seit Sophokles, ist zuletzt mit Tabu-Postulaten belegt worden. Allerdings blieb die Oper bislang sowohl von den neuen sozial intervenierenden Spielformen des Theaters wie auch von diesen Tabus weitgehend verschont. Liegt das daran, dass die »Experten des Alltags« nur selten singen können und die Oper in der spezifischen Künstlichkeit des singenden Menschen gleichsam Schutz vor kurzschlüssigen Gleichsetzungen von Darsteller und Dargestelltem findet? Das wäre nicht unbedingt Anlass zu Optimismus. Neueren Untersuchungen zur Publikumsstruktur ist zu entnehmen, dass das Durchschnittsalter des Opernpublikums deutlich über dem Altersdurchschnitt der Bevölkerung liegt und auch schneller steigt als dieser.34 Insgesamt, so lässt sich feststellen, büßt die Gattung Oper an Reichweite in der Bevölkerung ein.35 Das heißt: Auch die Oper muss nach der Postmoderne neue ästhetische Verfahren und Formate entwickeln, die ihr die gesellschaftliche Relevanz, die sie im Verlaufe ihrer Geschichte auf immer wieder neue Weise erreicht hat, auch in Zukunft verschaffen. Wie das vor dem Hintergrund der postmodernen Ästhetik aussehen könnte, haben in den letzten Jahren zwei herausragende Bayreuther Inszenierungen gezeigt: Stefan Herheims Parsifal-Inszenierung,36 in der dem Regisseur über die Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte des inszenierten Werks auch der Bogenschlag bis in die politische Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland gelungen ist; und Frank Castorfs Bayreuther Ring von 2013.37 Auch wenn unter dem Aspekt von Tabu und Frageverbot der Parsifal vielleicht das ergiebigere Werk wäre, möchte ich hier, anschließend an die vier bereits kurz skizzierten Ring-Inszenierungen, doch mit der letzteren Produktion schließen. 78 |

Castorf behandelte die vier Libretti Wagners im Grunde genau so, wie er an der Berliner Volksbühne Romanvorlagen von Dostojewski oder Tolstoi behandelt hatte: Er reproduzierte nicht narrative Zusammenhänge, sondern überlagerte sie mit Assoziationen zur unmittelbaren Gegenwart, wobei er auch hier seinen beiden Maximen treu blieb, dass sich die inhumanen Tendenzen einer Gesellschaft am krassesten in deren untersten Schichten zeigen und dass ein Regisseur nur das machen soll, wozu er auch wirklich Lust hat. Für sich genommen wäre dieser Ansatz zu Wagners Musik ein Desaster geworden – er wurde es nicht, weil sich Castorf nach Bert Neumanns frühem Tod einen Bühnenbildner gesucht hatte, dessen Arbeitsweise sich konträr, aber genau dadurch auch komplementär zu seiner eigenen Arbeitsweise verhält. A ­ leksandar Denić vergegenwärtigte in seinen faszinierend vielschichtigen Bühnenbildern und den Videos von Andreas Deinert den kohärenten Überbau zu Castorfs Assoziationen. Er versinnbildlichte eine Geschichte von Naturausbeutung, Kapitalismus und Geldgier, rätselhaft und in den historischen A ­ ssoziationen oft ziemlich gesucht (jedenfalls für einen westeuropäisch geprägten Zuschauer, der mit dem Thema Ölförderung eher die US-amerikanischen Stahlgitter-Türme verbindet als jene gewaltigen hölzernen Ungetüme, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts in der Gegend von Baku am Kaspischen Meer das schwarze Gold zutage förderten), bei genauer Recherche jedoch stimmig bis ins Detail. So verschaffte Denić Castorfs Assoziationen den bei Wagner unbedingt nötigen Rückhalt. Das war, ähnlich wie bei Herheims nicht minder grandiosem Parsifal, die Überwindung der Postmoderne mit postmodernen Mitteln. Damit wurde auch das Kapitalismus-Thema wieder virulent und bildete so den tragenden Hintergrund für all die verkommenen, brutalen, tückischen Typen aus Castorfs subkulturellem Charakter-Inventar, wie man es auch schon in anderen Inszenierungen von ihm gesehen hat. Castorf musste das aber gar nicht mehr im Sinne einer simplen aktualisierenden Gleichsetzungsästhetik auspinseln. Es genügten die psychologische Typologie und ein paar handfeste Bildverweise wie das Bild der New Yorker Börse in der Götterdämmerung. Der Zuschauer sah sich einem Assoziationsraum gegenüber und keinem kapitalismuskritischen Schaubild – einem Assoziationsraum, der dank Denićs Bildverweisen aber nicht ins Beliebige abdriftete, sondern immer seinen thematischen Grundriss behielt. Und Wagners politische Utopie? Wo versteckt sie sich diesmal? Schwer zu sagen. Die Zeit der großen Utopien ist nicht wiedergekommen. Und die » N i e s o l l s t d u m i c h b e f r a g e n « | 79

Kunst tut sich heute auch schwer, die Rolle der großen Erlöserin zu spielen, die Wagner ihr einst zugedacht hatte. Ist Partizipation der Weg dorthin? Erlösung nicht mehr für die Menschheit, noch nicht mal für »die« Gesellschaft, aber immerhin doch für jene, die das Theater durch Teilhabe erreicht? Wagner und Partizipation konnte ich immer schwer zusammenbringen. Aber wie vor drei Jahren der Opernregisseur Florian Lutz die Zuschauer im Holländer zu Besatzungsmitgliedern gemacht hatte38  – das war für manche Beobachter ein klarer Tabubruch, für andere aber ein Theatererlebnis von seltener Faszinationskraft. Die Utopie lag im Erlebnis selbst, musste folglich im Erlebten nicht mehr positivistisch vor Augen gestellt werden. Das wäre eine neue Art von politischem Versteckspiel in einer Zeit, in der die politischen Utopien, ja überhaupt die politischen Programme und Ideen an Bindekraft einbüßen. Ich habe unlängst mit Paul-Georg Dittrich, Vertreter einer, wie ich finde, sehr verheißungsvollen Generation junger Opernregisseure, darüber gesprochen, wie ein neues Musiktheater der gesellschaftlichen Relevanz aussehen könnte. Dittrich meinte, vielleicht müsste man heute weniger die Utopien als vielmehr die Dystopien in den Opern herausarbeiten  – diese dann aber so krass darstellen, dass das Publikum im Widerspruch zu dem, was es da ansehen muss, selbst nach alternativen Lösungen sucht. Den Schluss von Konwitschnys Götterdämmerung oder von Castorfs Bayreuther Götterdämmerung könnte man durchaus in diese Richtung interpretieren.

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Verbotene Oper Schönheit und Machtgebot Bernd Feuchtner

»Da auf einmal fällt auf ihn ein blendendes Licht, er steht sozusagen in welthistorischer Bedeutung da.« So phantasierte Hans Pfitzner im Jahr 1915 über die Rolle seines Opernhelden Palestrina. »Eine geistige Herkulestat wird vollbracht: auf Machtgebot Schönheit zu erzeugen.«1 Pfitzners Traum sollte für Paul Hindemith, Dmitri Schostakowitsch, John Adams und viele andere Komponisten des 20. Jahrhunderts zum Albtraum werden: Im Rampenlicht zu stehen konnte tödlich werden. Wer aber schwang die Keule? Pfitzner hoffte wohl tatsächlich, dass die Macht den Musik-»Revoluzzern« Schönberg und Busoni das Handwerk legen würde, um die »natürliche« Musik zu retten, wofür er die westliche Dur-Moll-Harmonik hielt. Mit seinem Pamphlet Futuristengefahr lieferte er ihnen 1917 die Vorlage. Und Hitler stimmte ihm zu. Schon 1923 verbrüderten die beiden sich auf dem Boden ihres gemeinsamen Judenhasses. Zehn Jahre lang musste Pfitzner noch dabei zusehen, wie die »neue« Musik mehr und mehr Verbreitung fand, dann konnte er mit Befriedigung verfolgen, wie ihr der Stempel »Entartet« aufgedrückt wurde. Und wer schnitt den Stempel? Das Machtgebot hatte nun zwar den Feind geschlagen, doch neue Schönheit entstand daraus nicht  – der Nationalsozialismus hat keine nachhaltige Kunst hervorgebracht, dafür aber zahllose Denunzianten. Die Nazis löschten alles Widerständige aus und belieferten die Massen mit Klischees, um sie gefügig zu halten. Alle freien Gedanken und alles Fremde waren damit ebenfalls ausgelöscht. Das Denken und Fühlen wurde dem Nationalen untergeordnet. Ein Ständestaat sollte das Industriesystem gegen den Aufstand der Massen absichern. Die Energie, die in Russland in die Revolution geströmt war, wurde so umgebogen in die Erhaltung des Kapitalismus. Doch wer waren seine Agenten? V e r b o t e n e O p e r | 81

Der Fall »Mathis der Maler« Am bekanntesten wurde der Skandal um Paul Hindemiths Mathis der Maler, der 1934 auch zu einem Fall Furtwängler wurde.2 Hindemith war zu diesem Zeitpunkt Professor an der Berliner Musikhochschule und wollte eigentlich vom NS-Staat akzeptiert werden. Mit dem Oratorium Das Unaufhörliche auf einen Text des Nazi-Sympathisanten Gottfried Benn hatte er sich der neuen Ideologie bereits angenähert. Richard Strauss kooptierte ihn für die Reichsmusikkammer, und Hindemiths Bostoner Symphonie wurde in Berlin erfolgreich aufgeführt. Auf der anderen Seite spielte Hindemith an Heiligabend 1933 im Untersuchungsgefängnis Moabit auf der Bratsche Stücke von Bach, wo zu jener Zeit unter anderen auch sein Schwager Hans Flesch einsaß. Und dass seine Frau Gertrud Jüdin war, konnte den Komponisten auch nicht ruhig schlafen lassen. Am 27. Februar 1934 dirigierte Wilhelm Furtwängler die Berliner Philharmoniker bei Hindemiths Mathis-Symphonie, und am 25. November publizierte er einen Artikel in der Deutschen Allgemeinen Zeitung, in dem er für den Komponisten eintrat. Doch mit der Wirkung hatte er sich verschätzt. Der Berliner Lokal-Anzeiger vom 7. Dezember 1934 berichtete von einem Auftritt von Goebbels vor Kulturschaffenden im Sportpalast, wo er Furtwänglers Bekenntnis zurückwies und Hindemith als »atonalen Geräuschemacher« bezeich­nete.3 Zum Auftakt der Veranstaltung schmetterten die Bläser der Staatskapelle Fanfaren, danach spielten die Philharmoniker Beethoven. Dann rezitierte der Staatsschauspieler Lothar Müthel aus Mein Kampf. Es folgten Auszüge aus Pfitzners Kantate Von deutscher Seele. Zum Abschluss donnerten die vereinten Kulturschaffenden »Deutschland erwache !« und »Heil !« In seiner Rede führte Goebbels aus: »Technische Meisterschaft entschuldigt nicht etwa, sondern verpflichtet. Sie zu rein motorischer, inhaltsloser Bewegungsmusik missbrauchen, heißt des über jeder wahren Kunst waltenden Genius spotten. Es ist dann bequem und billig, zu behaupten, es handele sich dabei um schnell hingeschriebene Gelegenheitswerke. Das ist es ja, dass Gelegenheit nicht nur Diebe, sondern auch atonale Musiker macht, die, um der Sensation zu dienen und dem Zeitgeist nahezubleiben, nackte Frauen auf der Bühne in obszönsten und kitsch-gemeinsten Szenen im Bade auftreten lassen und sie dabei zur Verspottung eines feigen Geschlechts, das zu schwach ist, sich dagegen aufzulehnen, mit den misstönenden Dissonanzen 82 |

einer musi­kalischen Nichtskönnerei umgeben. Unsere altdeutschen Meister werden sich dafür bedanken, in solchem Zusammenhang genannt zu werden. Und wenn sich die musikalische Jugend in Deutschland dazu bekennt, so ist das nur ein Beweis dafür, wie notwendig es ist, rücksichtslos und ohne Furcht vor absterbenden Kunstcliquen und -claquen, die uns unter Anwendung von geistigem Terror solches als Offenbarung des ewigen Genius aufschwätzen wollen, dagegen anzugehen. Wir jedenfalls vermögen weder Vorwärtsweisendes noch Zukunftsträchtiges dabei zu entdecken; wir verwahren uns auf das energischste dagegen, diesen Künstlertypus als deutsch angesprochen zu sehen, und buchen die Tatsache seines blutsmäßig rein­germanischen Ursprungs nur als drastischen Beweis dafür, wie tief sich die jüdisch-intellektualistische Infizierung bereits in unserem eigenen Volkskörper festgefressen hatte.«4 Hitler hatte sich schon 1929 über Hindemiths komische Oper Neues vom Tage beschwert, weil die Heldin Laura darin eine Arie »nackt« in der Badewanne singt. Furtwängler bat nun Goebbels um Entlassung als Vizepräsident der Reichsmusikkammer und als Chef der Berliner Philharmoniker und Göring um Entlassung als Operndirektor der Berliner Staatsoper. Nach einem Gespräch mit Goebbels am 28. Februar 1935 bedauerte Furtwängler in einer öffentlichen Erklärung »die Folgen und Folgerungen politischer Art, die an meinen Artikel geknüpft worden sind, um so mehr, als es mir völlig ferngelegen hat, durch diesen Artikel in die Leitung der Reichskunstpolitik einzugreifen, die auch nach meiner Auffassung selbstverständlich allein vom Führer und Reichskanzler und dem von ihm beauftragten Fachminister bestimmt wird«.5 In der Ausstellung »Entartete Musik« wurde Paul Hindemith 1936 als »Theoretiker der Atonalität« und »jüdisch versippt« beschimpft. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits in die Türkei abgesetzt, um in Ankara ein Musik-Konservatorium aufzubauen. Die 1935 fertiggestellte Oper wurde von den Nazis verboten und stattdessen 1938 in Zürich uraufgeführt. Die Art, wie sich Hindemiths »altdeutscher Meister« den Mächtigen (hier vertreten durch den Kardinal Albrecht von Brandenburg) anschmiegt, hätte den Nazis nicht missfallen – wenn sie sich denn mit dem Werk beschäftigt hätten. Auch die Rolle der Frau war in ihrem Sinne: Ursula unterwirft sich dienend dem Werk des Mannes. Und in Hindemiths Musik konnte von Atonalität und Geräuschmacherei schon längst keine Rede mehr sein. Doch die Nazis hatten nun mal ihr Hindemith-Bild, verziehen ihm sein freches Frühwerk nicht – und für ihre Hetze waren Tatsachen nebensächlich. V e r b o t e n e O p e r | 83

Der Fall Walter Abendroth Einer der schlimmsten Hetzer war der Musikkritiker Walter Abendroth, ein erklärter Rassist und Antisemit: »Hatte ein Wagner seine tief durchdachten, wissensreichen Aufsätze über Deutsche Kunst und deutsche Politik, Das Judentum in der Musik, Was ist deutsch? und manches andere zu diesem Gedankenkreise in den Wind geschrieben? Und sahen wir nicht selber ringsumher in das Gehege des geistig-künstlerischen Lebensgebietes Kräfte einbrechen, die, von rein politischen Willensmächten gelenkt, den Geist vergifteten und zersetzten, die Kunst entwurzelten und zerstörten?«6 Abendroth war Pfitzner-Fan und legte eine Biographie vor, die heute immer noch in vielen Bibliotheken steht. Sie ist so mit der nationalsozialistischen Ideologie durchtränkt, dass es dem Autor nicht gelang, die wirklichen Qualitäten und die Entwicklung der Pfitzner’schen Musik zu erkennen und zu beschreiben. Das Buch ist wertlos. Im Berliner Lokal-Anzeiger jubilierte er schon am 27. April 1933 über den »gereinigten Tannhäuser«: »Na also! Der allgemeine Protest, den ­Klemperer-Fehlings Tannhäuser-Attentat bei Publikum und Presse – mit Ausnahme einiger an der Pflege deutscher Kultur uninteressierter Blätter – hervorgerufen hatte, ist nicht umsonst gewesen. Endlich sieht man die Oper wieder, wie der Meister gewollt hat, dass wir sie sehen.« In Heft 7 der Deutschen ­Kultur-Wacht 1933 schrieb Abendroth: »Wer wurde nicht als Wagner-Interpret in schön bebilderten Artikeln gefeiert ! Das fing mit Klemperer, Kleiber, ­Brecher, Horenstein an und endete mit Schmonzes, Tacheles und ich weiß nicht wem.« In Die Musik schrieb er 1934: »Wir haben uns jetzt in Deutschland befreit von jenem überall in Europa umgehenden Kulturverfallsprodukt, das unter dem Namen ›Neue Musik‹ der arteigenen, volkseigentümlichen Kunstmusik am Leben fraß und gerade bei uns schon fast alle gesunden Keime zerstört, die etwa noch vorhandenen jedenfalls auf einen allerkleinsten Lebensraum zurückgedrängt hatte. Dass diese ›Neue Musik‹ ihrem Geiste und Wesen nach nicht nur deshalb unvolkstümlich sein musste, weil sie jedes natürliche Bedürfnis nach Wohllaut und Schönheit, Sinn und Verstand durchaus unbefriedigt ließ, sondern vielmehr noch deshalb, weil sie wissentlich und absichtlich jede Bezogenheit auf gesundes Fühlen und Wollen, wie es in einem starken, selbstbewussten Volke lebt, verachtete und lächerlich machte, liegt auf der Hand. Sie war ein Fäulnisbazillus, den volksfeindlicher Zersetzungswille mit 84 |

Witz und Berechnung dem Kulturkörper eingeimpft hatte. Suchen wir eine Erklärung dafür, dass dieser Bazillus in so erschreckendem Maße um sich greifen konnte, so kommen wir – abgesehen von der Bereitschaft einer allgemein missgeleiteten Schicht entwurzelter Intellektueller – auf eine bestimmte musikgeschichtliche Situation zurück: die Komponisten (nicht nur die deutschen, aber natürlich besonders die deutschen) seufzten unter dem erdrückenden Gewicht des Namens und des Geistes Richard Wagner.«7 1935 hetzte Abendroth gegen die »undeutschen« Opern von Richard Strauss und erteilte Lektionen in Ahnenkunde: »Ferdinand Hiller, in dessen Hause der jüngere Wagner freundschaftlich verkehrte und der außerdem als Freund Robert Schumanns und vieler kerndeutscher Musiker bekannt ist, war allerdings Jude. Seine Frau aber war (entgegen Wagners späterer Behauptung) keine jüdische, sondern eine reine Polin. Beider Tochter Antonie war also bereits nur Halbjüdin. Sie heiratete den Vollblut-Holländer James Kwast. Ein Kind dieser Ehe war Frau Mimi Pfitzner, welche somit als Tochter eines Voll-Germanen und einer Halbjüdin zu gelten hat, also unter keinen Umständen als ›Jüdin‹ bezeichnet werden kann.« 1936 konnte er das Internationale Musikfest Baden-Baden als befreites Gebiet melden: Wo sich »früher gemeinsamer Wille gegen volk- und blutbedingtes Kunstschaffen« durchgesetzt hatte, herrscht nun die »neue Weltanschauung als künstlerische Zucht« und eine »gesunde Geistigkeit«. 1937 gab er wieder Unterricht über den Zusammenhang von Musik und Rasse: »Der Vorwurf der ›Gelehrsamkeit‹, welcher von südlichen Völkern so oft gegen deutsche Musik erhoben wird, hat hierin seinen rassisch tief bedingten Grund. Wir müssen diesen Vorwurf daher mit Ruhe entgegennehmen; denn sich ihm zu beugen und diese ›Gelehrsamkeit‹ abwerfen zu wollen, das wäre Verrat am ­Eigensten.« 1939 schlug er gegen Tanzmusik aus: »unverkennbares Erbteil einer kranken, absinkenden Zeit, sollte in Deutschland keinen Raum mehr haben«. Im gleichen Jahr legte Abendroth seine Vorstellung von Opernspiel­ plänen vor: Sie müssten »überhaupt erst wieder ein Opernpublikum schaffen, nachdem das alte, frühere, zum Teil gestorben, zum Teil durch die Experimentierwut und die Werkentstellungskünste der Nachkriegszeit abgeschreckt und vertrieben worden war.« Die Berliner Volksoper habe Erfolg mit Fidelio, Entführung und Cornelius’ Barbier: der »Beweis für die Möglichkeit, gewisse Meistertaten des deutschen Opernschaffens, die sich in der Gunst des ›tradiV e r b o t e n e O p e r | 85

tionellen‹ Opernpublikums nur einen recht bescheidenen und kühlen Platz erobern konnten, einer unverbildeten kunstempfänglichen Volksgemeinschaft durchaus genauso nahezubringen, wie Anderes, das eben auf alle Fälle gleich ›durchschlägt‹.« Nach der Befreiung 1945 war es in der Musik nicht anders als in den anderen Bereichen der Gesellschaft: Die alten Nazis blieben in wichtigen Stellungen und trugen das vergiftete Gedankengut an die nächste Generation weiter. Walter Abendroth war Feuilletonchef der Zeit von 1948 bis 1955, danach ihr Musikkorrespondent in München. Über Schönbergs Erwartung schrieb er noch 1963: »Aufpeitschung des Uferlos-Gefühligen zum Pathologischen im klinischen Sinne.« Der Nachruf des liberalen früheren Chefredakteurs Josef Müller-Marein auf Walter Abendroth 1973 in der Zeit wunderte sich darüber, »dass man nach dem Kriege an seiner Haltung im ›Dritten Reich‹ zweifeln konnte.« Und das, obwohl bereits 1963 die grundlegende Untersuchung Musik im Dritten Reich von Joseph Wulf erschienen war, der unsere Zitate entnommen sind. Fred K. Prieberg schrieb in seinem Buch Musik im NS-Staat: »So haben fast alle Komponisten nach 1945 in Autobiografien und biografischen Angaben gegenüber Lexikonredaktionen und Musikschriftstellern ihre einstigen politisch textierten oder zu politischen Anlässen komponierten Werke totgeschwiegen, übrigens unter verständnisvoller Duldung der Redakteure, Biografen, Musikwissenschaftler, die offenbar Wichtigeres zu tun hatten, als der historischen Wahrheit zur Ehre zu verhelfen.«8

Der Fall »Lady Macbeth von Mzensk« Ein Jahr nach dem Verbot von Mathis der Maler durch die Nazis wurde auch in der Sowjetunion eine Oper verboten: Unter dem Titel Chaos statt Musik kritisierte die Parteizeitung Prawda im Januar 1936 Dmitri Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk.9 Damit war die Ausradierung der revolutionären Avantgarde abgeschlossen. Die »Argumente«, die gegen Schostakowitsch vorgebracht wurden, unterscheiden sich kaum von denen der Nazis gegen ­Hindemith: –– die Musik ist disharmonisch –– Gepolter, Geprassel, Gekreisch, Kakophonie – dieser »Musik« zu folgen, ist schwer 86 |

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nicht einfach und verständlich wahnwitziger Rhythmus statt Ausdruckskraft hat nichts mehr mit symphonischen Klängen zu tun Negierung der Oper = »linke« Kunst, negiert den natürlichen Klang kleinbürgerliche formalistische Verkrampfung Loslösung von der wahren Kunst grob, primitiv und vulgär grob naturalistischer Stil genießbar nur für Ästheten, die ihren gesunden Geschmack verloren haben Forderung sowjetischer Kultur, Grobheit und Primitivität zu verbannen Erfolg bei der ausländischen Bourgeoisie, kitzelt deren perversen ­Geschmack

Der anonyme Prawda-Artikel endete mit der Warnung »Das ist ein Spiel mit ernsthaften Dingen, das übel ausgehen kann.« Für viele seiner Kollegen war es schon übel ausgegangen, sie wurden ermordet oder ins Lager gesteckt. Mit Argumenten sich zu wehren war unmöglich, denn der Artikel arbeitete mit den alten bürgerlichen Kunstklischees und zielte damit auf die Ausschaltung alles Widerständigen. Denn Widerstand gegen die brutale Durchsetzung des Industriesystems wollte die stalinistische Partei keinesfalls dulden – bei dem, was in der Sowjetunion geschah, konnte von Kommunismus gar keine Rede sein, lediglich von der Entwicklung eines Kapitalismus mit Staatsmonopol. Die kritische Theorie des dialektischen Materialismus wurde zur Ideologie umgebogen. Auf künstlerischem Gebiet wurde dafür die Theorie des Sozialistischen Realismus ausgearbeitet. Das Denken und Fühlen der Menschen wurde den Kategorien des Klassenkampfs unterworfen. Diese Ideologie benebelte die Köpfe nicht weniger als die Religion, die Marx als Opium für das Volk bezeichnet hatte. Sie diente der Sicherung der Herrschaft, Gedankenfreiheit war ihr gefürchteter Gegner. Ihre Agenten waren Scharen von Schriftstellern, Musikwissenschaftlern und Dramaturgen. Schostakowitsch fand aber Wege durch die Hintertür, um die Herrschenden zu überlisten. Unter den Sechs englischen Liedern, die er 1942 in der Übersetzung durch Boris Pasternak vertonte, findet sich auch Shakespeares Sonett Nr. 66, veröffentlicht im Jahre 1609.

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Tir’d with all these, for restful death I cry, As, to behold desert a beggar born, And needy nothing trim’d in jollity, And purest faith unhappily forsworn, And guilded honour shamefully misplaced, And maiden virtue rudely strumpeted, And right perfection wrongfully disgraced, And strength by limping sway disabled, And art made tongue-tied by authority, And folly (doctor-like) controlling skill, And simple truth miscall’d simplicity, And captive good attending captain ill: Tired with all these, from these would I be gone, Save that, to die, I leave my love alone. Getarnt als Kritik an der feudalen englischen Gesellschaft des Elisabetha­ nischen Zeitalters, prangert Schostakowitschs Lied die Unterdrückung an; in Stefan Georges Übertragung lauten die zentralen Verse: Und Kunst geknebelt von der obrigkeit Und Geist vorm doktor Narrheit ohne recht Und Einfachheit missnannt Einfältigkeit Und sklave Gut in dienst beim herren Schlecht. Zahlreiche Schriftsteller haben sich an Nachdichtungen versucht.10 Eine besonders schöne und zeitgemäße Version lieferte 1979 Ronald M. Schernikau: ihr kotzt mich an, ich würd jetzt gerne gehn. dass sie mein staunen immer noch bescheiden nennen und hinter lachen nicht die armut sehn und freien mut nicht, nur die lüge kennen und schamlos ihr geschwätztes konservieren und liebstes nur zum zoten finden und über unrecht, uns und unglück nicht mehr friern und über jede art, uns einzubinden und die verfolgten dieser zeit bei tische mit verbieten 88 |

und herren sind und schrecklich unentzweit dass alle aufrechten aus ihrer welt gerieten und so gefahr mir droht: gewöhnung ist nicht weit. und wie gesagt: ihr kotzt mich an; doch mir zum gehn fehlt dieser dort schweigende und redende und mir so liebe mann. Dieser Liederzyklus lag dem Komponisten auch im Alter noch am Herzen, wie die Herausgabe einer Fassung für Kammerorchester als op. 140 im Jahr 1973 beweist, als Stalin schon 20 Jahre tot war. Mehr noch, in seiner Michel­ angelo-Suite op. 145 vertonte er 1974 auch Sonette des Renaissance-Künstlers, die sich gegen den Machtmissbrauch der Päpste wenden. Mit den Worten Michelangelos kritisierte Schostakowitsch die Funktion der Kunst im Herrschaftsgefüge. Die Suite wird eröffnet von dem Satz Wahrheit auf ein Sonett an den Papst Julius II . aus dem Jahr 1512: O Herr, wenn je ein Spruch die Wahrheit sagte, So ist es der: Wer hat, will nimmer geben. Die Schwätzer ließest du sich dreist erheben Und lohntest jedem, der zu lügen wagte. Ich bin’s, der treuen Dienst dir nie versagte, War, wie der Strahl dem Lichte, dir ergeben; Doch so vergeudet war mein rüstig Streben, Dass, was ich tat, dir minder stets behagte. Zu deinen Höhen hofft’ ich aufzusteigen, Gerecht wie mächtig würdest du verschmähen, So dacht’ ich, je dein Ohr dem Hass zu neigen. Doch nein, der Himmel lässt es ja geschehen, Dass echter Wert missachtet sei auf Erden: Vom dürren Baum nur soll geerntet werden. Auch wenn Stalin tot war: Die Lüge herrschte noch im Sowjetreich, und allzu viele logen mit, um ihren Anteil an der Beute zu sichern.

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Der Fall Römische Kirche Michelangelo hatte seinem Auftraggeber, dem kriegerischen Papst Julius II ., auch vorgeworfen, aus Kelchen Schwerter zu schmieden  – dies Sonett findet sich ebenfalls in Schostakowitschs Michelangelo-Suite. Der Papst war auch nichts als ein irdischer Herrscher, der auf die Ausweitung seiner Macht aus war, und das rückte freisinnige Kreise von Künstlern und Denkern wie ­Michelangelo in die Nähe der Reformation. Die Luft der Freiheit wehte aber nicht nur politisch: Zur gleichen Zeit schrieb Baldassare Castiglione an seinem L ­ ibro del Cortegiano, dem Buch des Höflings, in dem er die Bildung in den schönen Künsten als ebenso wichtig darstellte wie Gewandtheit im Umgang mit Frauen. Diese Haltung hatten sich auch kunstsinnige Herrscher wie Giuliano di Lorenzo de’ Medici, Herzog der Toskana, zu eigen gemacht, dem Machiavelli seinen Principe widmete  – wenn schon Unterdrückung, dann wenigstens in eleganten Formen. Freilich schloss diese neue höfische Kunst die arbeitende Bevölkerung vom Schönen aus. Sie zierte Adelsschlösser. Auch die Musik, die sich jetzt entwickelte, wurde in Palästen aufgeführt. So war es für Papst Clemens IX . ein einfaches Spiel, im Jahr 1667 das Auftreten von Frauen auf römischen Opernbühnen zu untersagen, denn man kannte sich untereinander, und die musikbesessenen Kardinäle besuchten sich gegenseitig in ihren Palazzi. Clemens kannte sich aus; er hatte als Kardinal Rospigliosi 1631 den Text zu Stefano Landis Il Sant’Alessio verfasst und sogar Libretti für Buffo-Opern geschrieben, so noch für Antonio Maria Abbatinis La comica del cielo zur sechsmaligen Aufführung im Palazzo Rospigliosi im Karneval 1668. Das römische Verbot von Frauen auf der Bühne war kein ehernes Gesetz, das ein ganzes Zeitalter verdunkelte. Seltsamerweise fand die Kirche es aber nicht anstößig, wenn Jungs mit schönen Stimmen kastriert wurden. Oft war es gar nicht deren Aufgabe, Frauen auf der Bühne zu ersetzen, sondern sie schmetterten Arien kriegerischer Helden. Mit dem Teatro San Cassiano war in Venedig 1637 das erste öffentliche Opernhaus eröffnet worden, dem im Lauf des Jahrhunderts ein weiteres Dutzend folgte. In Rom war es die abgedankte Königin Christine von Schweden, die 1671 mit dem Teatro Tordinona am Tiber die Eröffnung des ersten Opernhauses initiiert hatte. Unter Papst Clemens X . durfte es auch Sängerinnen beschäftigen, bis es 1675 wieder schloss und erst 1690 wiedereröffnet wurde. 90 |

1692 folgte das Teatro Capranica, doch 1697 untersagte Papst Innozenz XII . sämtliche Opernaufführungen in Rom und ließ die verbliebenen drei Theater Roms unbrauchbar machen. Clemens XI . bestätigte das Verbot, ließ aber für Karneval 1704 Ausnahmen zu. Nicht alle hielten sich sklavisch an das päpstliche Verbot: Als 1708 Margherita Durastante unter Arcangelo Corellis Leitung im Palazzo Ruspoli bei einer halbszenischen Aufführung von Händels Oratorium La resurrezione als Maria Magdalena auftrat, ging der Papst nicht nur gegen die Sängerin vor, die in der Folgeaufführung durch den Kastraten Filippo ersetzt wurde, sondern rügte auch die Form des Oratoriums als getarnte Oper. Schon 1710 wurde aber Caldaras Oratorium La castità al cimento auch mit weiblichen Sängern aufgeführt, und mit der Wiedereröffnung des Teatro delle Dame im Jahr 1717 war es dann mit dem Frauenverbot vorbei. Die Begründung des päpstlichen Frauenverbotes war vor allem moralisch; es sollte dem »Verfall der Sitten« in Rom entgegenwirken. Da die Herrschaft des Papstes damals politisch unangefochten war und die römischen Adelsfamilien sich das Amt wechselseitig zuschacherten, konnte es nur um die Durchsetzung von Herrschafts-Ideologie gehen. Die Gedanken wurden von eifrigen Klerikern penibel kontrolliert. Die Adeligen waren aber nicht mehr unter sich, sondern ein bürgerliches Publikum begann sich heranzu­bilden. Es entwickelte auch eine eigene Gedankenwelt, die von der Kirche nicht mehr umstandslos zu unterdrücken war. Drastische Mittel wie die Ketzerverbrennung Giordano Brunos im Jahr 1600 standen den Päpsten zwar nicht mehr zur Verfügung, aber die Gedankenkontrolle gab die Kirche noch lange nicht auf.

Der Fall Massenkultur Hans Pfitzner schrieb seine Oper Palestrina während des Ersten Weltkriegs – für die Fertigstellung der Komposition ließ er sich an der Straßburger Oper beurlauben und von seinem Vize Otto Klemperer vertreten. In dieser Oper feiert er den Renaissance-Komponisten dafür, dass er dank der Inspiration durch die alten Meister seine Missa Papae Marcelli habe komponieren können, deren Genialität das Tridentiner Konzil 1562 zur Anerkennung des polyphonen Stils gezwungen habe, der wegen seiner Textunverständlichkeit in die Kritik geraten war. V e r b o t e n e O p e r | 91

Schön wär’s gewesen! Der originale Palestrina hatte seine Messe dem klugen Papst Marcellus gewidmet, der aber schon nach drei Wochen im Amt starb. Dessen konservativer Nachfolger Paul IV . entließ Palestrina aus der Sixtinischen Kapelle. Erst das Konzil von Trient und Papst Pius IV . rehabilitierten Palestrina, der sich mittlerweile europaweiter Anerkennung erfreute. E. T. A. Hoffmann begann ein Jahrhundert vor Pfitzner an der romantischen Palestrina-Legende zu stricken, die Pfitzner in seiner Oper zu einer antimodernen Polemik umbaute. Pfitzner sah sich selbst als Retter der »wahren Musik« vor den »Futuristen« – seine Karikatur der streitenden Kardinäle im Konzilsakt gab die Politiker der Verachtung preis. Nicht ihnen, nur dem genialen Künstler schob Pfitzner das Rettungswerk zu. Was aber gab es zu retten? Pfitzner sah die nationale Kunst gefährdet durch eine internationale Verschwörung der Fortschrittler. Er übersah, dass die Welt sich geändert hatte. Durch Film, Radio und Schallplatte wurde die Musik in einem ganz neuen Maße zur Ware, und dies global. Es entstand eine Unterhaltungsindustrie, die die Massen fest in ihrem manipulierenden Griff hielt, während die »ernste« Musik sich aufspaltete: Die alte wurde tendenziell ebenfalls zu einem Medium der verwalteten Welt, die neue zur Spezialistensache. Der Beruf des Dramaturgen entstand, um die Kluft zwischen einem Publikum, das nicht mehr selbst musizierte, und der museal gewordenen Musik zu überbrücken. Versuche wie die Hanns Eislers, die Musik für eine dem Anspruch nach fortschrittliche politische Bewegung nutzbar zu machen, scheiterte mit dem Scheitern der kommunistischen Bewegung. Im Jahrhundert der Ideologien entkam auch die Musik selbst nicht der Ideologie. Richard Wagner war der erste Komponist, der seine Musik extensiv erklärte. Zwar hatten auch Robert Schumann und Hector Berlioz Musik wortreich erklärt, und schon Benedetto Marcello hatte mit Il teatro alla moda11 eine wüste Polemik gegen seinen Konkurrenten Vivaldi verfasst. Doch Wagner war der Erste, der ideologisch argumentierte, als Nationalist wie als Antisemit. Damit legte er eine Spur, die sich durch das 20. Jahrhundert zog. Ob »deutsche Musik« oder »proletarische Musik« – beides waren Kampfbegriffe, denen eigentlich jede Substanz fehlte. Und gerade weil sie inhaltlich nicht gefüllt waren, wurden sie zur Waffe der ideologischen Scharfrichter.

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Der Fall »Die Verurteilung des Lukullus« Der Kulturkampf der Nazis war kaum vorbei, als in der Sowjetischen Besatzungszone der Kulturkampf der Kommunisten begann. Der Hauptvorwurf gegen Paul Dessaus Oper Die Verurteilung des Lukullus bei der Uraufführung in Ostberlin 1951 war denn auch ihr Pazifismus. Die Uraufführung unter Leitung von Hermann Scherchen im Admiralspalast, der Ersatzspielstätte der zerbombten Staatsoper, wurde vom Volksbildungsministerium der DDR nur als geschlossene Veranstaltung zugelassen und war dennoch ein großer Erfolg. Das ZK der SED kritisierte Dessaus Oper: »Die Musik der Oper Das Verhör des Lukullus ist ebenfalls ein Beispiel von Formalismus. Sie ist meist unharmonisch, mit viel Schlagzeugen ausgestattet, und erzeugt ebenfalls Verwirrung des Geschmacks. Eine solche Musik, die die Menschen verwirrt, kann nicht zur Hebung des Bewusstseins der Werktätigen beitragen, sondern hilft objektiv denjenigen, die an der Verwirrung der Menschen ein Interesse haben. Das aber sind die kriegslüsternen Feinde der Menschheit.« Die SED versuchte bei dieser Kampagne einerseits den russischen Direktiven zu folgen, die 1948 im Zug der Schdanow-Kampagne bei den erneuten Verurteilungen von Schostakowitsch, Prokofjew und vieler anderer Künstler formuliert worden waren. Andererseits begann sie im Kalten Krieg zwischen gerechten und ungerechten Kriegen zu unterscheiden, und zur Kampagne gegen den imperialistischen Westen wollte Brechts Antimilitarismus schlecht passen. Bertolt Brecht hatte im schwedischen Exil 1940 unter dem Titel Das Verhör des Lukullus ein Hörspiel geschrieben, in dem dem römischen Feldherrn Lukullus vor dem Totengericht der Prozess gemacht wird. Mehrere seiner Opfer sagen gegen Lukullus aus, und am Ende zieht sich das Gericht zur Beratung zurück. Die eindeutigere Zweitfassung, die Brecht und Dessau nach der Parteikritik erstellten und mit dem Titel Die Verurteilung des Lukullus versahen, endet mit dem Urteil: »Ins Nichts mit ihm!«12 Und so setzte sich das Werk auch gegen den Parteiwillen durch  – allein Dessaus Gattin Ruth Berghaus inszenierte es fünf Mal. Schon 1952 dirigierte Hermann Scherchen in Frankfurt die westdeutsche Erstaufführung und im bewegten Jahr 1968 studierte Hans Gierster den Lukullus in Nürnberg ein.

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Der Fall »Johann Faustus« Im Jahr 1953 geriet Hanns Eisler ins Visier der Kunstrichter. Er hatte sein selbst verfasstes Libretto für eine Johann Faustus-Oper 1952 im Aufbau-Verlag veröffentlicht.13 Im Mai und Juni 1953 (also nach Stalins Tod) wurde es in der Berliner Akademie der Künste auf drei Diskussionsabenden heftig kritisiert. Man warf Eisler vor, er habe die »Grundfrage unseres patriotischen Kampfes nicht tief genug durchdacht«, sonst hätte er Faust »als Heldenfigur des leidenschaftlichen Kampfes gegen die deutsche Misere« dargestellt.14 Dazu kam eine Pressekampagne gegen Eisler, bei der man dessen Faust zum Entsetzen von Bertolt Brecht und Walter Felsenstein an die Seite der »Renegaten« Slánský, Rajk und Tito (abweichlerische Parteiführer in der Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien; die ersten beiden waren hingerichtet worden) stellte – das war lebensgefährlich. Das Urteil sprach SED -Chef Walter Ulbricht persönlich, der erklärte, man werde es nicht zulassen, dass eines der bedeutendsten Werke Goethes zur Karikatur gemacht wird, wie in Eislers sogenanntem Faustus15 – Ulbricht fehlte sogar die Fähigkeit, zwischen Werk und Stoff zu unterscheiden. Adorno war überzeugt, dass Eisler dem Schauprozess und der Hinrichtung nur dank Stalins Tod entging, wie er 1968 seinem Verleger Siegfried Unseld schrieb.16 Hanns Eisler war aus dem amerikanischen Exil bewusst in die Ostzone Deutschlands zurückgekehrt. Mit der Komposition der DDR -Nationalhymne oder der Neuen Deutschen Volkslieder auf Texte von Johannes R. Becher glaubte er dem neuen Staat ausreichend nützlich gewesen zu sein. Er selbst schilderte seinen Helden so: »Nicht die Zeiten sind schlecht – Du bist schlecht. Wenn Du schwankst – ist es Deine Schwäche; erkenne sie, und Du kannst sie überwinden. – In den Schatten der riesigen Bauernrevolution tritt ein Mensch. Er ist der Sohn eines Bauern – wie Thomas Münzer, wie Luther. Er leidet unter den unerträglichen Zuständen; die Revolution zieht ihn an. Er schwankt, er läuft hin und zurück und schließlich verkauft er sich an die Herren. Er schließt den Teufelspakt. Aber die einmal erkannte und erfahrene Wahrheit lässt sich nicht wegdrängen. Was immer er auch unternimmt, er geht zugrunde. – Das ist der Inhalt des Faustus, und das ist seine Moral.«17 Doch das Neue Deutschland vom 14. Mai 1953 stellte Eislers Text dar als »pessimistisch, volksfremd, ausweglos, antinational«. Der Komponist habe die Einflüsse des heimatlosen Kosmopolitismus noch nicht überwunden. Viele 94 |

kluge Menschen haben viel Energie investiert, um Eisler ideologisch geradezubiegen. Wieder werden »Argumente« ins Feld geführt, die inhaltlich gar nicht zu füllen sind: Was ist gesund, menschlich, deutsch usw.? Aber so ungefüllt sind sie wieder ideale Mittel, die Menschen zu verhetzen oder zu quälen. Es geht ja nicht um die Musik, sondern um Herrschaftssicherung durch eine Ideologie.

Der Fall Kulturrevolution Selbst im fernen China wurden die Künstler mit den gleichen Methoden an die Kandare gelegt. Mao Tse-tung übernahm die Prinzipien des Marxismus auf seine Weise, doch nicht weniger dogmatisch: –– Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen. –– Wir befinden uns im Stadium der Revolution der Arbeiterklasse. –– Die Kultur muss den Klassencharakter enthüllen, den Arbeitern, Bauern und Soldaten dienen, den Zentralismus durchsetzen, die Massenlinie befolgen. Im Februar 1966 fand eine »Beratung über die Arbeit in Literatur und Kunst in der Armee« statt, wo auch die Lage der chinesischen Operngattungen unter­sucht wurde: »Die Schriften des Vorsitzenden Mao Über die Neue Demokratie, Reden bei der Aussprache in Yenan über Literatur und Kunst und Brief an das Theater für Peking-Opern in Yenan nach dem Besuch der Oper ›Gezwungen, sich den Rebellen auf dem Liang-Berg anzuschließen‹ sind die vollständigsten, umfassendsten und systematischsten historischen Zusammenfassungen dieses Kampfes zwischen den zwei Linien an der Kulturfront. In diesen Schriften sind die marxistisch-leninistische Weltanschauung und Theorie über Literatur und Kunst übernommen und entwickelt.«18 Nach der Kulturrevolution war außer den wenigen »Musterstücken« nicht viel übrig von der reichen Tradition des Landes. Doch auch darauf hatte die »Beratung« eine Antwort: »Es gibt Leute, die behaupten, in den revolutionären modernen Peking-Opern seien die Traditionen und die fundamentalen Kunstfertigkeiten der Peking-Oper verlorengegangen. Die Tatsachen beweisen gerade das Gegenteil: In den revolutionären modernen Peking-Opern wurden die Traditionen der Peking-Oper in kritischer Weise übernommen, und dies ist ein wirkliches Hervorgehenlassen des Neuen durch kritische Aufnahme V e r b o t e n e O p e r | 95

aus dem Alten. In Wirklichkeit wurden die fundamentalen Kunstfertigkeiten der Peking-Oper nicht fallengelassen, sondern sie reichen nicht mehr aus. Diejenigen, die nicht dazu dienen können, das heutige Leben wiederzugeben, sollen und müssen fallengelassen werden. Um das heutige Leben schildern zu können, müssen wir uns dringend darum bemühen, die fundamentalen Kunstfertigkeiten der Peking-Oper auf Grund der Erfahrungen unseres wirklichen Lebens zu verfeinern, neuzuschaffen, schrittweise zu entwickeln und zu bereichern. Diese Tatsachen sind gleichzeitig ein schwerer Schlag für die Konservativen verschiedener Schattierungen sowie für solche Ansichten wie die der ›Kassenschlager‹-Theorie und der Theorie der ›Exportunfähigkeit ­revolutionärer Stücke‹.«19 Jedes Land habe seinen eigenen Faschismus, sagte Primo Levi, und Madeleine Albright zitiert ihn zustimmend in ihrem bemerkenswerten Buch Faschismus. Eine Warnung.20 Die Feinde der Vielfalt sind zahlreich. In jedem Land kämpfen andere Interessengruppen um die Herrschaft, und alle haben ihre eigenen Ideologien, mit denen sie ihre Ansprüche mehr oder weniger rabiat rechtfertigen. Mit diesen Ideologien lenken sie Massenbewegungen, die ihnen als Basis zur Machtergreifung dienen, und setzen dabei an einer tatsächlichen oder nur eingebildeten Not der Unterdrückten an. Mussolini, Hitler, Franco, Horthy und dergleichen nutzten die Orientierungslosigkeit der Arbeitslosen und der Kriegsheimkehrer, um sie zu Rassismus und Nationalismus, Hass und Neid anzustacheln und dann in die sichere Katastrophe zu jagen. Aber auch all die Volksbefreier, alle diese verehrten Helden endeten als versteinerte Herrscher: Mao, Castro, Chávez, Mugabe, Ortega, Lula – die Liste ist noch länger. An die wirklichen Probleme, die den globalen Konflikten zugrunde liegen, ging keiner von ihnen heran. Die Pöbelherrschaft wurde schon in der Antike als eine Entartung der Demokratie verstanden: Im 2. Jahrhundert vor Christus bezeichnete Polybios die Ochlokratie als die Herrschaft des Eigennutzes und der Habgier. In seinem Politikos schrieb Platon, jede am Gemeinwohl orientierte Herrschaftsform habe ein nur an den Interessen der Herrschenden orientiertes Gegenstück,21 und in diesem Sinne äußerten sich auch Aristoteles22 und Rousseau (mit den Begriffen der »volonté générale« und »volonté de tous«). Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, warnte in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung (26. Juli 2018): »Populismus untergräbt die Grundannahmen unserer pluralen Demokratie. Populistische Politiker gehen von 96 |

einem homogenen Volk aus und geben vor, genau zu wissen, was dieses Volk will. Sie sehen sich selbst als unmittelbare Repräsentanten des Volkes. Wer sie kritisiert, ist daher ein Feind des Volkes und muss bekämpft werden. Das ist dann schnell jeder, der nicht der Mehrheitspartei zugehörig ist. […] Es ist ja eine interessante Frage, warum es in der Geschichte immer wieder zu Situationen kommt, in denen Menschen Führer wählen, die dazu neigen, nicht auf sie zu hören und die Rechte der Einzelnen mit Füßen treten. – Was ist Ihre Erklärung dafür? – Angst vor der Zukunft spielt hierbei sicherlich eine wichtige Rolle. Nicht wenige Menschen empfinden die globalisierte Welt des digitalen Zeitalters als Bedrohung für das eigene Leben. Die Arbeitswelt verändert sich, die Geschwindigkeit erhöht sich, der Leistungsdruck wird größer, die Flexibilitätserwartungen steigen, die politische Lage erscheint unübersichtlicher, sicher geglaubte Wahrheiten werden porös. All das wirkt verstörend und verunsichernd: Man verliert ein Stück Heimat. Deshalb ist das Bedürfnis sehr groß, wieder in eine vorstrukturierte, überschaubare Welt eintauchen zu können.«23 Doch es ist einfach, Trump oder Gauland, Hitler oder Stalin, Ulbricht oder Mao zu verachten. Wer aber sind die Ausführenden? Wer hat die Massenmörder möglich gemacht? Wer schwang die Keule gegen die Künstler? Wir reden immer wieder von den Opfern, aber wer waren die Schreibtischtäter? Im Fall von Hans Pfitzner waren es Paul Cossmann mit den Süddeutschen Monatsheften und Walter Abendroth mit seiner breiten Publikationspalette, die gegen seine angeblichen Feinde vernichtend zu Felde zogen. Schostakowitsch wurde von Boris Assafjew und vielen anderen prominenten Musik­ wissenschaftlern denunziert. Es war peinigend, beim Kölner Schostakowitsch-Symposium 1985, bei dem mir ebenso die Rede verboten wurde wie Detlef Gojowy, einen so klugen Gelehrten wie Juri Keldysch zu erleben, wie er die ideologische Fahne hochhielt. Paul Dessau und Hanns Eisler hatten treue Feinde im Dichter und DDR -Kulturminister Johannes R. Becher oder in Wilhelm Girnus, dem Leiter der Abteilung Schöne Literatur und Kunst im ZK der SED . Überall fanden sich Intellektuelle, die sich als Knechte hergaben und die physische wie psychische Vernichtung von Künstlern ideologisch absicherten. Sie sind genauso zu verachten wie die großen Verbrecher, denn die Mitläufer machten deren Verbrechen erst möglich. Sie zwangen der Öffentlichkeit auch ein verlogenes Bild der Kunst auf und würdigten sie zum Klischee herab. Wie befreiend wirken da Geister wie der Schriftsteller Witold Gombrowicz, dem das beste Bonmot zum »Formalismus« gelang: »Nichts fürchte ich V e r b o t e n e O p e r | 97

mehr als Aal. Naive, geradlinige Aufrichtigkeit in der Literatur taugt nichts. […] Je künstlicher man ist, desto mehr kann man aufrichtig sein, die Künstlichkeit gestattet dem Künstler, sich den schamhaften Wahrheiten zu nähern.«24 Solchen Autoren ist die Dialektik von Wahrheit der Kunst und Unbe­ hagen in der Kultur bewusst, weil sie gegen Ideologien immunisieren kann. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Romans Pornographie schrieb er 1963: »Es gibt auch eine Unreife, zu der uns die Kultur hinneigen lässt, wenn sie uns überschwemmt und es uns nicht gelingt, uns zu ihrer Höhe empor­zuschwingen. Wir werden von jeder ›höheren‹ Form infantilisiert. Der Mensch, durch seine Maske gequält, wird sich heimlich und zum eigenen Gebrauch eine Art von Unter-Kultur fabrizieren: eine Welt, mit den Abfällen der höheren Kulturwelt konstruiert, eine Domäne des Plunders, der unreifen Mythen, der uneingestandenen Leidenschaften, […] eine sekundäre Domäne der Kompensation. Dort ist es, wo eine schamhafte Poesie geboren wird, eine gewisse kompromittierende Schönheit.«25 Die Propagandisten des »Wahren, Guten, Schönen« und der Ewigkeitswerte sind Rosstäuscher. Die meisten Ideologen sind außerdem prüde und nutzen die sexuellen Ängste vieler Menschen zum Zweck von Unterdrückungs­ maßnahmen. In seinem Tagebuch schrieb Gombrowicz: »Ich glaube an keine nicht erotische Philosophie. Ich traue keinem entsexualisierten Gedanken.«26 Diese Haltung teilte er mit Theodor W. Adorno, der sich als Vertreter einer hedonistischen Philosophie sah.27

Der Fall »The Death of Klinghoffer« All das ist ferne Vergangenheit. Billig, sich darüber zu entrüsten. Wie sieht es heute aus? Nach dem 11. September 2001 ereilte John Adams das gleiche Schicksal, das Schostakowitsch 1936 erfahren hatte: Auf der Titelseite des Feuilletons der New York Times forderte Richard Taruskin am 9. Dezember unter dem Titel Music’s Dangers and the Case for Control das Verbot von Adams’ zehn Jahre alter Oper The Death of Klinghoffer (1991). Taruskin verwendete ausschließlich politische Argumente – der prominente Musikwissenschaftler verzichtete unter der Parole »Von den Taliban lernen!« auf jede ästhetische Betrachtung der Oper, argumentierte also wie einst die Stalinisten und Nazis. Der Anschlag 98 |

auf das World Trade Center wurde zum Beginn des Rechtspopulismus von George W. Bush und Donald Trump. Das Ziel war die geistige Entwaffnung der Menschen – Denkverbote sollten kritische Analyse blockieren, Herrschaft durch Ideologie abgesichert werden. Immerhin löste der Taruskin-Artikel eine breite Debatte aus.28 In diesem Fall übernahm die Parole »Terrorismus« die Funktion, die die Parole »Klassenkampf« bei den Stalinisten gehabt hatte. Damit macht man jede Debatte platt. John Adams wurde als Terror-Unterstützer und außerdem zusammen mit seiner jüdischen Librettistin Alice Goodman als Antisemit gebrandmarkt. Damit war an weitere Aufführungen seiner Oper nicht mehr zu denken. Das Boston Symphony Orchestra sagte die Aufführung von ­Klinghoffer-Auszügen ab. Proteste von Pressure Groups veranlassten den Met-Direktor Peter Gelb, 2014 die Kino-Übertragung der Klinghoffer-Produktion der Metropolitan Opera abzusagen. Der RBB berichtete in seinen Nachrichten dann von der Aufführung »der als antisemitisch kritisierten Oper«.29 Dass dies ohne die Zusatzinformation, wer kritisiert und warum, Rufmord ist, wollte der Sender nicht einsehen. Richard Taruskin ist ein sehr meinungsfreudiger Professor in Berkeley, der auch zur Schostakowitsch-Debatte in den USA bemerkenswerte Beiträge geleistet hat. Ohne die Musik näher zu untersuchen, schlug er sich auf die Seite derjenigen, die in Schostakowitsch weiterhin den kommunistischen Staatskomponisten sehen wollten, in Taruskins Worten: »perhaps Soviet ­Russia’s most loyal musical son«.30

Der Fall »Florencia en el Amazonas« Doch auch im deutschsprachigen Bereich sind die Opern von John Adams seltene Gäste. Keines der drei Berliner Opernhäuser hat auch nur eine Aufführung gewagt. Intendanten, Dramaturgen, Professoren, Redakteure und Kritiker haben ihre Vorurteile, der Musikbetrieb ist träge. Wie lange hat es gedauert, bis die Opern von Britten den Weg auf unsere Bühnen fanden? Wie lange, bis man Schostakowitsch ein wenig ernster nahm? Wann wird Arvo Pärt als ernstzunehmender Komponist akzeptiert sein? »Es tut nicht weh«  – »Wo sind die Brüche?«, so heißen die schönen Klischees der Kritik, als Totschlaghammer eingesetzt gegen alles, was den V e r b o t e n e O p e r | 99

Dogmen nicht entspricht. Schönheit steht unter Generalverdacht und unterliegt einem stillen Verbot. Als wir in Heidelberg mit großem Erfolg die wunderschöne Oper Florencia en el Amazonas aufführten, die der mexikanische Komponist Daniel Catán nach Motiven aus dem Roman Die Liebe in den Zeiten der Cholera von Gabriel García Márquez geschrieben hatte, wurde sie von der überregionalen Kritik ignoriert. Von der FAZ kamen zwar gleich zwei geschätzte Kollegen, doch der eine sagte bedauernd, das sei das falsche Stück gewesen, und die andere schrieb einen gnadenlosen Verriss. So spielte kein anderes Theater die Oper nach. Ist dies nicht auch eine Form von Verbot? Vor allem ist es heuchlerisch, wenn die Musik selbst nur oberflächlich in Augenschein genommen wird und nicht die Chance einer ernsthaften Betrachtung bekommt. Nixon in China hatte ich 1988 durch einen herben Verriss im Hessischen Rundfunk kennengelernt. Wie oft wurde die Oper seitdem im deutschen Sprachraum aufgeführt? Amerikanische Kunst muss sich gegen besondere Vorurteile behaupten. Am Salzburger Landestheater begeisterte sich das Pu­ b­likum für die europäische Erstaufführung der Oper The Passion of Jonathan Wade von Carlisle Floyd, eine Leidensgeschichte aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Doch die überregionale Presse schwieg das Werk tot – mit einer Ausnahme: im Deutschlandradio hörte man: »Das herablassende Etikett epigonal gegenüber der amerikanischen Oper trifft keineswegs zu.« Als die Deutsche Oper Berlin Floyds Susannah aufs Programm setzte, schoss sich die Kritik darauf ein: »die in Deutschland schon dreimal gescheiterte Susannah«  – »musikalisch ist das Werk nichts weniger als originell«  – »dünnblütig, dass sie keinen ganzen Opernabend trägt«  – »wenig Dramatik, wenig Dynamik, kaum Klangfarben bietet Floyds zähflüssige Partitur.« Und dennoch: »Das Premierenpublikum feierte Susannah und alle beteiligten Künstler mit stehenden Ovationen.« Das Publikum wird gleich mit für dumm erklärt. Nicht anders bei der glänzenden Premiere von Korngolds Das Wunder der Heliane am gleichen Haus etliche Jahre später. Die Berliner Presse erklärte das Werk mehrheitlich zum Schmarren: Dass Beifall geklatscht wurde, sei das eigentliche Wunder des Abends, schrieb ein übelgelaunter Kritiker. Was ist der Grund für die schlechte Laune? Einerseits eine Angst vor der Schönheit, die sich aus unverdauter Nazi-Kritik speist und auf ein Trauma verweist. Andererseits ein Gefangensein in der Prosperitätsfalle. Wirtschaft und Politik wollen uns weismachen, dass nur stetige Prosperität – Wachstum und 100 |

Fortschritt – unseren Wohlstand garantieren. Der Musikbetrieb ist dem gleichen Fortschrittswahn verfallen. Daran ist nicht Adorno schuld, der ein erklärter Parteigänger der Schönberg-Schule war und den Deutschen nach der Befreiung von den Nazis ihre Kultur zurückbrachte. Schuld sind höchstens seine unkritischen Nachplapperer. Aber auch die sind schon Geschichte: Adorno ist seit 50 Jahren tot, und heute ist jeder selbst für seine Urteile ­verantwortlich. Mit welchen Argumenten will man einem mexikanischen Komponisten vorwerfen, dass er kein Nazi-Trauma hat? Warum will man immer noch ignorieren, dass die Minimal Music eine wichtige Musikgattung des 20. Jahrhunderts war und das Publikum ein Recht auf Information hat  – und auf den Spaß? Warum stellt der Musikbetrieb sich die Geschichte immer noch eingleisig vor und grenzt Komponisten wie Korngold aus? Die avantgardis­ tische Musik hat hervorragende Kunstwerke hervorgebracht, aber das war doch nicht alles. Nur das Theater wird überleben, das Vielfalt bietet. Aus welchem Grund aber wird die Schönheit mit Verbot belegt? Aus schlechtem Gewissen darüber, Teil des wohlausgestatteten bürgerlichen Kultur­ betriebs zu sein. Roland Barthes war da auf der richtigen Spur: »Wenn es nur noch eine einzige, ein und dieselbe menschliche Natur gibt, kann sich die Bourgeoisie ungehindert ent-nennen. Gewiss gibt es Revolten gegen die bürgerliche Ideologie. Sie sind identisch mit dem, was im allgemeinen Avantgarde genannt wird. Aber diese Revolten sind von der Gesellschaft her gesehen begrenzt, sie können ihr wieder einverleibt werden. Zunächst, weil sie von einem Teil der Bourgeoisie ausgehen, von einer kleinen Gruppe von Künstlern und Intellektuellen, die kein anderes Publikum haben als die in Frage gestellte Klasse selbst und die dieser durch das Geld verpflichtet bleiben, dessen sie bedürfen, um sich ausdrücken zu können. Außerdem lassen diese Revolten sich immer nur von einer scharfen Unterscheidung zwischen ethischer und politischer Bürgerlichkeit leiten. Von der Avantgarde wird der Bürger in der Kunst und in der Moral in Frage gestellt, der Krämer und Philister, wie in den schönsten Zeiten der Romantik; eine politische Infragestellung gibt es jedoch nicht.31 Unerträglich ist der Avantgarde an der Bourgeoisie ihre Ausdrucksweise, nicht aber ihr Status. Nicht, dass sie diesen Status unbedingt billigt, aber sie klammert ihn aus. So heftig auch die Provokation ist, letztlich übernimmt sie doch den Verlassenen Menschen, nicht aber den Entfrem­ deten Menschen, und der Verlassene Mensch ist letzten Endes doch der Ewige Mensch.32«33 V e r b o t e n e O p e r | 101

So überwinden die Ideologen ihr schlechtes Gewissen. Seit der Elfenbeinturm wohl dotiert ist, lässt sich dort gut leben. Man kann lässig den Daumen senken und die Massen verachten, die man der Kulturindustrie überlässt. Die technische Reproduzierbarkeit der Kunst hat das ja so einfach gemacht. In der demokratischen Gesellschaft werden aber Theater für mündige Bürger gebraucht. Denen darf die Oper ruhig auch mal Freude und Spaß schenken. Umso lieber strengen sie sich dann beim nächsten Avantgarde-Abenteuer ­wieder an.

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Das Frageverbot und die moderne Gesellschaft Zu Richard Wagners »Lohengrin« Ute Frevert

Mit dem Frageverbot in Wagners Lohengrin haben sich viele Deuter und Exegeten auseinandergesetzt. Schon anlässlich der Uraufführung 1851 schrieb ein Rezensent, Elsa habe recht gehandelt, als sie das Frageverbot nicht akzeptierte. Sie habe damit den priesterlichen Herrschaftsgestus zurückgewiesen, mit dem Lohengrin ihr gegenüber aufgetreten sei. Adolf Stahr, so hieß der Rezensent, sah den Helden der Oper also als Verkörperung einer Priesterkaste, die das Volk  – und damit auch Elsa  – absichtlich in Unwissenheit hielt, um desto unumschränkter und eigenwilliger herrschen zu können. Mit ihrer Frage habe Elsa deutlich gemacht, dass sie sich davon emanzipieren wollte und auf der Gleichrangigkeit von Priester und Laien bestand.1 Eine andere Interpretation erkennt in Lohengrin den absoluten Künstler – absolut im Sinne eines christlichen Kunstideals, das die Kunst außerhalb der wirklichen Welt verortet, als eine Art Refugium in einem »fernen Land, unnahbar euren Schritten«, so Lohengrin in der »Gralserzählung«. Als der Künstler dieses Land verlässt und sich, getrieben von der Sehnsucht nach Liebe und Verständnis, zu den Menschen begibt, erleidet er Schiffbruch und geht an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde: Einerseits will er Liebe und Verständnis, andererseits Glauben, nämlich »das Weib, das an ihn glaubte«.2 Einen solchen Glauben bezeichnete Wagner 1849, in Die Kunst und die Revolution, als menschliches »Zugeständnis seiner Elendigkeit, und das Aufgeben aller Selbsttätigkeit«.3 Er ist vom Aberglauben kaum zu unterscheiden. Eben diese abergläubische Anbetung findet Lohengrin beim Volk von Brabant, das ihn als wundertätigen Heilsbringer fraglos verehrt. Elsa aber fragt und glaubt nicht. Damit erlöst sie, so die These, Lohengrin von seiner tranD a s F r a g e v e r b o t u n d d i e m o d e r n e G e s e l l s c h a f t | 103

szendentalen, romantisch-christlichen Kunstauffassung – und vernichtet ihn zugleich, weil er sich unfähig zeigt, die Erlösung anzunehmen. Das unterscheidet ihn von seinem Schöpfer, der 1851 in seiner Mitteilung an meine Freunde schreibt, Elsa habe ihn »zum vollständigen Revolutionär gemacht. Sie war der Geist des Volkes, nach dem ich auch als künstlerischer Mensch zu meiner Erlösung verlangte«.4 Ich will diese Interpretationen nicht kommentieren, sondern eine pro­ saischere und politischere Deutung des Frageverbotes anbieten. Dazu greife ich auf Max Webers Typologie legitimer Herrschaft zurück. Lohengrin gehört eindeutig dem Typus des Charismatikers an. Er ist von Gott gesandt und handelt vorbildlich, indem er für die Ehre einer von allen verlassenen Fürstentochter eintritt. Er bewährt sich durch außeralltägliche, übernatürliche Kräfte und Wunder (seine Ankunft und sein triumphaler Sieg im Zweikampf ), und er gewinnt dadurch die freiwillige Anerkennung der Anwesenden. Sie verwandeln sich in hingebungsvolle Anhänger und vertrauen ihm als »Führer« ihr eigenes Schicksal und das des ganzen Landes an. Wie alle charismatischen Führer verlangt auch Lohengrin Vertrauen, absolutes, blindes, persönliches Vertrauen. Nie soll Elsa ihn nach seinem Namen, seiner Herkunft und Abstammung fragen. Nur seine Präsenz zählt – und das Versprechen einer gemeinsamen Zukunft. Das klingt geradezu postmodern, als ob sich hier eine radikale Subjektivität entfaltet, die ohne Vergangenheit, ohne Legitimitätsbeweis auskommen will. Urplötzlich erscheint da jemand auf der geschichtlichen Bühne, der sich seiner erkennungsdienstlichen Behandlung verweigert. In einem vormodernen Kontext – die Oper spielt schließlich im Mittelalter – wäre das eine ungeheure Provokation, ein Bruch jeglicher Konvention und Tradition. Die ständische Gesellschaft beruht auf erklärten Zuordnungen, die jeden Einzelnen in eine Kette von Verwandtschaften und sozialen Referenzen stellt. Der Adel achtet peinlich genau auf diese Abstammungskontinuität, aber selbst im städtischen Bürgertum und bei Bauern spielt sie eine wichtige Rolle. Das macht es Fremden so schwer, dauerhaft Zugang zu finden. Nur wenn sie sich familial-genealogisch ausweisen können, sind sie willkommen. Schon im ausgehenden Mittelalter taten Reisende gut daran, schriftliche Identifikationspapiere bei sich zu tragen. Sobald sie den Kreis ihrer nächsten Umgebung verließen, in der sie persönlich bekannt waren, mussten sie sich auf Misstrauen und Nachfragen einstellen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts 104 |

hatte derjenige, der ohne offizielle Ausweisdokumente unterwegs war, mit beträchtlichen Strafen zu rechnen. Der moderne, bürokratisierte Flächenstaat des 19. Jahrhunderts inten­ sivierte und verfeinerte diese Dokumentation und Identifikation seiner ­Bürger. In einer wohlgeordneten Verwaltung, befand Johann Gottlieb Fichte 1796, herrsche die »Hauptmaxime«: »Jeder Bürger muß allenthalben, wo es nötig ist, sogleich anerkannt werden können, als diese, oder jene bestimmte Person.«5 Dazu gehörte zuallererst ein fester Name. Seit dem 11. Jahrhundert hatte sich allmählich die Praxis entwickelt, dem ersten oder Taufnamen einen zweiten oder Nachnamen hinzuzufügen. Er konnte auf die Familie verweisen, aber auch auf den Herkunftsort oder den Beruf. Bis ins 17. Jahrhundert allerdings blieb der Taufname am wichtigsten, rechtlich gesehen sowie im Alltagsgebrauch. Er wurde in die Kirchenbücher eingetragen, die seit dem frühen 16. Jahrhundert angelegt wurden und die neben der Geburt auch Eheschließungen und Todesfälle dokumentierten. Seit 1875 monopolisierte der Staat (in Deutschland) diese Aufgabe; zugleich war jeder Bürger verpflichtet, seinen solcherart verbrieften Namen in allen offiziellen Transaktionen und Korrespondenzen zu benutzen und nicht nach Gusto zu ändern. Was bedeutete es angesichts solcher Praktiken, seinen Namen nicht zu nennen und die Frage nach Herkunft und Status schlichtweg zu verweigern, wie es Lohengrin tat? Im wirklichen Leben des vormodernen ebenso wie des modernen Europas wäre sein Verhalten undenkbar gewesen. Möglich wäre es, wenn überhaupt, nur in einer Einwanderergesellschaft wie den USA , wo sich Menschen immer wieder neu erfinden konnten und können. Aber selbst dort mussten und müssen sie sich benennen und Geschichten über sich erzählen, selbst wenn diese falsch, erfunden und nicht nachprüfbar sind. Solche Geschichten handeln vom Ursprung, von Herkunft, von Entwicklung. Nur sie geben Menschen etwas Unverwechselbares, Individuelles. Menschen ohne Geschichte und Geschichten sind wie Un-Personen oder Über-Menschen, die man vielleicht bewundern und verehren, aber nicht ­lieben kann. Ähnlich steht es mit Vertrauen. Auch Vertrauen ist an Geschichten gebunden. Blindes, absolutes Vertrauen ist genau genommen ein Ding der Unmöglichkeit. Um zu vertrauen, brauchen Menschen Informationen, Erfahrung oder vertrauensrelevante Zeichen, die sich zu einem klaren Profil des Vertrauensnehmers verdichten. Bevor man jemandem etwas Wichtiges Das Frageverbot und die moderne Gesellschaft

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a­nvertraut, zieht man in der Regel Erkundigungen über diese Person ein. Einem völlig unbeschriebenen, wildfremden Menschen zu vertrauen, der jede Auskunft über sich verweigert, widerspricht dem für Vertrauen zentralen Gebot der Transparenz. Eine Person, die nichts von sich preisgibt, weckt kein Vertrauen, sondern Misstrauen. Offenheit, nicht Frageverbote, ist die Grundlage von Vertrauen, wie es seit dem 19. Jahrhundert als persönliche und poli­ tische Gefühlshaltung geschätzt und gesellschaftsfähig wird.6 Wagners Elsa aber soll blind vertrauen, ohne Wissen, ohne Namen und ohne Geschichten. Anfangs tut sie das auch, im Überschwang der Dankbarkeit und Liebessehnsucht. »Mein Held, mein Retter! Nimm mich hin; dir geb ich alles, was ich bin!« So spricht die Ideal-Frau: von träumerischer Vorahnung beseelt, vom Wunder gefestigt, in jubelnder Hingabe an ihren »Erlöser«. Aber letztlich entpuppt sich Elsa als durch und durch moderne Figur: Sie will wissen. Das gläubige Vertrauen in persönliche Zeichen – Lohengrins Schönheit, seine edle Gesinnung, sein uneigennütziger Einsatz für ihre Ehre und ihr Recht: All das reicht auf die Dauer nicht aus. Elsa möchte eine Geschichte hören, die Herkunft und Entwicklung des Geliebten erfahren. Nicht dass sie an ihm zweifelte – so weit verfängt Ortruds Strategie nicht. Aber sie ahnt ein dunkles Geheimnis, eine Not, eine Gefährdung, in der sie ihm beistehen will. Sie möchte, so kann man es sehen, gleichziehen, etwas zurückgeben von dem, was sie von Lohengrin erfahren hat: Rettung und Erlösung. Lohengrin jedoch entzieht sich diesem Wunsch. Die Bedingung seiner Existenz in der Welt ist die fraglose Hingabe, das blinde Vertrauen anderer. Zwar lässt er sich vordergründig auf Elsas Reziprozitätserwartung ein. Als sie ihn bittet, auch ihr zu vertrauen und sich ihr zu öffnen (»O mach mich stolz durch dein Vertrauen, daß ich in Unwert nicht vergeh! Laß Dein Geheimnis mich erschauen, daß wer du bist, ich offen seh!«), kontert er mit dem Argument, er habe ihr bereits vertraut, indem er sich ihr als Streiter zur Verfügung gestellt habe, ohne die Anklage überhaupt nur geprüft zu haben: »Höchstes Vertraun hast du mir schon zu danken, da deinem Schwur ich Glauben gern gewährt.« Das aber ist nicht mehr als eine Scheinbehauptung. Denn schließlich war er ja, wie er später erklärt, vom Gral »in ferne Land’ entsendet, zum Streiter für der Tugend Recht ernannt« worden. Er wusste also von Anfang an, dass Elsa unschuldig war, ohne dass es seines persönlichen Vertrauens ­bedurfte. 106 |

Die Beziehung der beiden ist damit durch eine extreme Asymmetrie geprägt, die dem modernen Liebesideal diametral entgegengesetzt ist. In der wahren, echten Liebe herrscht, das wusste auch Wagner, das Prinzip der Gleichheit. »Die Liebe des Schwachen zum Starken«, schrieb er in Die Kunst und die Revolution, »ist Demut und Furcht; die Liebe des Starken zum Schwachen ist Mitleid und Nachsicht: nur die Liebe des Starken zum Starken ist Liebe, denn sie ist freie Hingebung an den, der uns nicht zu zwingen vermag.«7 Freie Hingebung aber vermag Lohengrin nicht aufzubringen. Statt­ dessen stellt er Bedingungen, die von einer wahrhaft Liebenden gar nicht erfüllt werden können. Lohengrin bricht damit drei Prinzipien, die für Liebe und Vertrauen zentral und konstitutiv sind: das Prinzip der Gleichheit, das der Transparenz und das der Gegenseitigkeit. Mit dem Frageverbot tappt er gewissermaßen in die selbstgestellte Falle. Vertrauen in der modernen Welt wird nicht bedingungs- und zeitlos geschenkt. Es ist weder einseitig noch blind. Und es bedarf, wie hier, der Offenlegung dessen, was eine Person unverwechselbar macht: ihr Name und die damit verbundene Geschichte. Um noch einmal den Bogen zur Politik zu schlagen: Auch zu Wagners Zeiten, die schon geprägt waren von einem neuen demokratischen Politikverständnis und modernen politischen Kommunikationsformen, gab es politische Charismatiker, die von ihren Anhängern verehrt wurden. Ferdinand Lassalle ist ein Beispiel unter vielen. Aber sie alle waren weder namen- noch herkunftslos. Sie alle haben Geschichten über sich erzählt, nicht immer wahrheitsgetreu, aber doch plausibel, nachvollziehbar. Eben das machte sie für ihre Anhänger vertrauens- und manchmal sogar liebenswürdig. Auf die Idee, Frageverbote zu erlassen, kamen sie nicht. Es hätte das Ende ihrer politischen Karriere bedeutet.

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Frageverbote und Denkverbote im W a g n e r - K u lt d e s N at i o n a l ­s o z i a l i s m u s Otto Strobel und die Richard-Wagner-Forschungsstätte H a n s R u d o l f Va g e t

Ossietzky, Wagner und die deutsche Geschichte Als am 30. Januar 1933 die Zukunft Deutschlands den Phantasien und Obsessionen eines fanatischen Wagnerianers überantwortet wurde, stellte Carl von Ossietzky dem Land eine düstere Prognose: Deutschland sei im Begriff, eine Wagner-Oper zu werden. Er deutet an, wie das zu verstehen sei, wenn er schreibt: »zum zweiten Mal«.1 Damit spielt er auf den Ersten Weltkrieg an, der bekanntlich in dumpfer Nibelungentreue und in enthusiastischer Furchtlosigkeit à la Siegfried rauschhaft begrüßt worden war. Ossietzky war ein aufmerksamer Seismograph der deutschen Mentalitätsgeschichte. Es war ihm nicht entgangen, dass Wagner nicht im »Kranichflug« über Deutschland hinweggezogen war, sondern sich dort niedergelassen habe; noch heute niste besagter Kranich »mitten im Land«. Das Bild von dem großen Vogel, dem Deutschland ein Nest gebaut hat, ist nicht so weit hergeholt wie es scheinen mag. Das Land war in hohem Maße Wagner-gesättigt. Wagner-Opern dominierten die Spielpläne der deutschen Theater. Allein für das Jahrzehnt von 1901 bis 1910 sind sage und schreibe 17 365 Aufführungen nachgewiesen.2 Ein solcher geistig-seelischer Sättigungsgrad konnte nicht verfehlen, Spuren in den Köpfen der Menschen zu hinterlassen. Allerdings ist in den Jahren der Hitler-Herrschaft die Anzahl der Wagner-Aufführungen um ein Drittel zurückgegangen.3 Aber ein solcher Rückgang minderte Wagners Kultstatus keineswegs  – gewiss nicht in den Augen Hitlers, der sehr bewusst und unbeirrt als der Oberpriester des WagnerKults agierte. 108 |

Entscheidend für eine plausible Einschätzung der politischen Wirkung Wagners in Deutschland ist die Tatsache, dass in den Dekaden vor 1933 ­Wagner-Opern auf den deutschen Bühnen dominierten und so die Empfänglichkeit für Wagner’sche Mythologeme und Klischees weckten und pflegten. Wie Fritz Stern argumentierte, waren in den letzten Jahren der Weimarer Republik die Erwartung eines Retters und die Hoffnung auf einen Heiland weit verbreitet; sie verhalfen Hitler zu seinem Erfolg.4 Man darf realistischerweise vermuten, dass eine solche kollektive Geistesverfassung mitgeprägt war von Lohengrin, Hans Sachs, Siegfried und Parsifal, den Wagner’schen Charismatikern – Gestalten, die retten, führen, befreien oder erlösen. Für ein sozialpsychologisches Verständnis der deutschen Geschichte sind somit weniger die zwölf Jahre des Dritten Reichs relevant als das Halbjahrhundert von Wagners Tod bis zu Hitlers Machtübernahme. Nicht zufällig waren jene fünf Dekaden die Inkubationszeit des Nationalsozialismus. Einen Niederschlag fanden die Tausende von Wagner-Aufführungen zumindest in den Köpfen unzähliger Wagnerianer, denn das menschliche Ohr ist, wie Ossietzky sehr wohl wusste, »ein williges Organ, durch das Ohr lässt sich der Kopf am leichtesten betrügen«.5 Carl von Ossietzky, dem 1935 der Friedensnobelpreis zuerkannt wurde und der ein Opfer der NS-Diktatur wurde, ahnte bereits zu Beginn von Hitlers Herrschaft, dass er das Land in einen Zweiten Weltkrieg führen werde. Und er fürchtete, dass auch der kommende Krieg wiederum im geistigen Bann von Wagner-Phantasien geführt werden würde. Betrachtet man die jüngere deutsche Geschichte durch das Prisma der Wagner’schen Mythen, so will es in der Tat scheinen, als habe sie sich nach einem fatalen Wagner’schen Skript entfaltet. Reflektiert etwa Deutschlands Streben nach Weltherrschaft über alle ökonomischen und geopolitischen Faktoren hinaus nicht auch den Kampf um das »Welt-Erbe«, um das es im Ring des Nibelungen letztlich geht? Und ist der enorme Widerhall, den Lohengrin im Wilhelminischen Reich fand, nicht auch dem gefälligen, politischen Gehalt dieser Märchenoper geschuldet? Ein im wahrsten Sinne des Wortes erträumter Charismatiker, ausgestattet »mit überirdischer Kraft«, kommt »aus Glanz und Wonne« nach Brabant, von einem Schwan im Nachen gezogen, restituiert die gestörte Erbfolge des Landes, stabilisiert das Reich und verheißt dem König zum Abschied einen »großen Sieg«. Wie hätte eine solche Oper keinen Anklang finden können? Das 1871 gegründete Deutsche Reich F r a g e - u n d D e n k v e r b o t e i m W a g n e r - K u lt d e s N at i o n a l ­s o z i a l i s m u s | 109

war der Parvenü unter den europäischen Mächten und war von daher für die Verherrlichung und Auratisierung der Reichsidee in dieser romantischen Oper besonders empfänglich. Kaiser Wilhelm II., ein Wagner-Verehrer, der sich gelegentlich im Schwanenhelm sehen ließ, und unzählige seiner Untertanen kompensierten dieses gefühlte Manko des Zu-spät-Gekommenen mit aufgesetzter Großmannssucht und Suprematiestreben. Heinrich Mann hat in Der Untertan, seinem unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Roman, mit satirischem Scharfblick vorgeführt – bezeichnenderweise am Beispiel Lohengrin –, welche politischen Resonanzen Wagner zum Schwingen zu bringen vermochte: »Tausend Aufführungen einer solchen Oper«, so Diederich Heßling, die geballte Verkörperung des wilhelminischen Untertanengeists, »und es gab niemand mehr, der nicht national war«.6 Wie für Ossietzky steht für Heinrich Mann die unterschwellige politische Langzeitwirkung von Wagners Bühnenwerken außer Frage. Auch Hitlers Ergötzen an diesem Werk, das bei den Festspielen von 1936 eine prunkvolle Neuinszenierung erlebte, speiste sich aus der Verherrlichung der Reichsidee.7 In Wagners Lohengrin beruht die Zukunft des Reiches auf seiner Wehrhaftigkeit, und seine Mission erfüllt sich mit dem Sieg über »des Ostens Horden« – ein Sieg, der möglicherweise erst »in fernsten Tagen« errungen werde. Hier wird also das Deutsche Reich als eine militärisch und rassisch definierte Macht gesehen – durchaus konform mit Hitlers Vorstellungen. Im »Dritten Reich« fand jedoch ein weiteres Thema dieser populären Oper einen konkreten Niederschlag: das Frageverbot. Die Bedingung, die Lohengrin für seine Rettungsaktion stellt – »Nie sollst du mich befragen« – wird im gleichen Atemzug verschärft: »noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam’ und Art.« Nicht nur Lohengrins Name wird mit dem Frageverbot belegt, sondern auch seine Herkunft und Identität. Letztlich handelt es sich also um ein Denkverbot: Über gewisse Fragen darf nicht einmal nachgedacht werden, damit die Aura des charismatischen Retters keine Minderung erleide. Mit einem Wort: »Des Ritters drum sollt Zweifel ihr nicht hegen.«

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Die Richard-Wagner-Forschungsstätte Damit sind wir bei der Richard-Wagner-Forschungsstätte. Diese wenig beachtete, weil in ihrer Bedeutung unterschätzte Einrichtung war im Bayreuth der Hitler-Jahre für Denkverbote über Wagner zuständig. Konzipiert war das Bayreuther Forschungsinstitut als Kontrollinstanz, befugt, darüber zu entscheiden, worüber mit Bezug auf Wagner geschrieben, gesprochen und gedacht werden durfte. So absurd und närrisch uns ein solches Unterfangen heute anmutet, es verdient unser Interesse durchaus, denn es hat zwei ganz unterschiedliche Gesichter. Auf der einen Seite verrät diese staatliche Einrichtung, wo die wunden Punkte des Wagner-Kults im Dritten Reich zu suchen sind, das heißt seine Anfälligkeit für Unterminierung, seine Neuralgien, denn grundsätzlich gilt: Eine Diktatur greift zu Verboten, um Bedrohungen abzuwehren, sobald sich welche abzeichnen. Der breiten Öffentlichkeit mögen solche Bedrohungen völlig gleichgültig bleiben, weil sie keine Bedrohung wahrnimmt. Dies hindert den Diktator jedoch nicht, prophylaktische Maßnahmen zu treffen, wenn das Sanctissimum seiner Existenz und seines Selbstverständnisses infrage gestellt wird. Auf der anderen Seite aber markiert die Richard-Wagner-Forschungsstätte im bewegten Nachleben des Ring-Schöpfers einen Meilenstein, der wohl nur deshalb nicht als die Wende zu dem heutigen Selbstverständnis der Wagner-Forschung erinnert wird, weil sie mit dem Imprimatur Hitlers behaftet und befleckt ist. Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass erst in der Richard-Wagner-Forschungsstätte offiziell damit begonnen wurde, Wagners Nachlass unabhängig von den Interessen und Empfindlichkeiten der Wagner-Familie mit wissenschaftlichen Methoden zu erschließen. Freilich bedeutete dies nicht, dass Person und Werk Wagners aus ihrer ideologischen Inanspruchnahme durch Hitler und den offiziellen Wagner-Kult gelöst wurden. Somit verkörpert die Bayreuther Forschungsstelle einen Grundkonflikt der deutschen Wagner-Rezeption nicht nur im Dritten Reich, sondern insgesamt – den Konflikt von Ideologie und Philologie. Die Forschungsstätte wurde am 22. Mai 1938 zum 125-jährigen Geburtstag des Komponisten per Führererlass offiziell ins Leben gerufen.8 Bezeichnend für ihren Sonderstatus war die Entscheidung, die Forschungsstelle nicht dem Propagandaministerium zu unterstellen, sondern der Reichskanzlei.9 Damit F r a g e - u n d D e n k v e r b o t e i m W a g n e r - K u lt d e s N at i o n a l ­s o z i a l i s m u s | 111

war das Bayreuther Institut Chefsache, und Hitler fand sich nun auch – über seine Rolle als de facto Kodirektor der Bayreuther Festspiele hinaus – in der Rolle des Oberherrn der Wagner-Forschung. So wenig er diese Rolle tatsächlich erfüllen konnte, sie ist im Kontext einer Diktatur, in der der Wagner-Kult offiziellen Charakter hatte, durchaus als eine konsequente Ergänzung seiner Rolle als Oberherr der Wagner-Festspiele zu begreifen. Zum Leiter der Forschungsstätte wurde Otto Strobel (1895–1953) bestellt, der Archivar Wahnfrieds und seit 1931 Herausgeber des offiziellen Festspiel­ führers. Strobel verfasste in Abstimmung mit Winifred Wagner, der Festspiel-Leiterin, die Richtlinien für die zu schaffende Kontroll- und Zensurinstanz. Das ausschlaggebende Argument war vermutlich ihre Klage, die schon damals, lange vor der weltweiten Explosion der Wagner-Studien, glaubwürdig klang, nämlich dass das Schrifttum über den Komponisten kaum noch überschaubar sei, dass »nur ein kleiner Bruchteil dessen, was über Wagner geschrieben worden ist, wirklichen Wert besitzt« und dass überhaupt »Wagner als Gesamterscheinung« jetzt erst in den Blick der Forschung gelange.10 In einer derart unübersichtlichen, aus Bayreuther Sicht bedrohlichen Situation sollte die Forschungsstätte eine ordnende, richtende und richtungweisende Funktion ausüben. Die aus Wahnfried hervorgegangene Initiative wurde von Hitler gutgeheißen. Es wurde vereinbart, dass ihm regelmäßig die Jahresberichte der Forschungsstelle vorzulegen waren. Allerdings bekam Winifred Wagner nicht in allen Stücken ihren Willen. Mit ihrem anmaßenden Vorschlag, ein »Druckverbot für alle die Veröffentlichungen über RW « zu erwirken, »die nicht in Zusammenarbeit mit der Forschungsstätte zustande gekommen sind«, und »Neuveröffentlichungen über Richard Wagner, insoweit sie nicht durch die Forschungsstätte herausgegeben werden, sowohl im Buchhandel als auch in der Presse zu verhindern«, hatte sich die Hitler-Intima deutlich übernommen.11 Das ging selbst den Zensur-Profis in den zuständigen Ministerien zu weit. Auch Hitler hielt den Wunsch Wini­ freds »nicht für erfüllbar.«12 Bemerkenswert ist jedoch die bizarre Begründung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda. Goebbels, dem die Unabhängigkeit der Bayreuther Festspiele von seiner Reichskulturkammer seit je ein Dorn im Auge war, gab zu verstehen, dass es zwar »ohne Weiteres« möglich sei, »Zensur für Veröffentlichungen über Richard Wagner einzuführen«, dies aber im vorliegenden Fall unangebracht sei. Wenn nämlich »das Schrifttum über einen großen Deutschen unter die Aufsicht eines Archivars« gerate, 112 |

so wäre damit »die freie Entwicklung des kulturellen Lebens gefährdet und die Arbeiten eines der wichtigsten Schrifttumsgebiete auf das Niveau von Archivräten« herabgedrückt.13

Die Frage von Wagners »rassischer« und ethnischer »Reinheit« Der von Goebbels abschätzig als Archivrat bezeichnete Otto Strobel war der Kopf und das Herz der Forschungsstätte. Er hatte in München eine ordent­liche akademische Ausbildung genossen und eine wegweisende ­Dissertation über den Schaffensprozess bei Wagner verfasst.14 Der Blick in Wagners Werkstatt blieb der von Ideologie relativ unbeschwerte Grundimpuls seiner Forschungen. Ein selbstbewusster Vertreter des strikten Positivismus in der Musik­ wissenschaft, misstraute er der Legendenbildung aus zweiter, aber auch aus erster Hand. Was allein zählen sollte, waren die dokumentarisch belegbaren Fakten. Strobels bedeutendste Leistungen waren die fünf Bände umfassende, von 1936 bis 1939 erschienene Edition des Briefwechsels zwischen Wagner und König Ludwig II . und darüber hinaus die Katalo­gisierung von Wagners zahlreichen Kompositionsskizzen, womit eine ­unentbehrliche Grundlage für die musikwissenschaftliche Analyse der Werke geschaffen wurde. Otto Strobel und seine Frau Gertrud waren bereits 1931 Mitglieder der NSDAP geworden. Sie teilten die von Winifred und Siegfried Wagner vorgegebene Begeisterung für Adolf Hitler einschließlich der Judenfeindschaft im Geiste Houston Stewart Chamberlains. Strobel konnte tief in die antisemitischen Saiten greifen und verschmähte es auch nicht, sich anti-jüdischer Verschwörungstheorien zu bedienen. Schon in seiner Begründung zur Schaffung einer Kontrollinstanz für das deutsche Wagner-Schrifttum verweist er auf die »planmäßige Zersetzungsarbeit« jüdischer Autoren, die dem Publikum ein »übelgemeintes« Bild von Wagner vorsetzten und sich angeblich auf diese Weise für den »Fehdehandschuh« revanchierten, den Wagner den Juden mit seiner Schrift über das Judentum in der Musik hingeworfen hatte.15 Bei so viel Eifer in der Bekämpfung des »verderblichen« Einflusses von Juden auf die deutsche Kultur konnte es nicht ausbleiben, dass Strobel in das »Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland« berufen wurde und dort Sitz im Beirat der »Forschungsabteilung Judenfrage« hatte.16 Konsequenterweise befasste sich die Richard-Wagner-Forschungsstätte F r a g e - u n d D e n k v e r b o t e i m W a g n e r - K u lt d e s N at i o n a l ­s o z i a l i s m u s | 113

vordringlich mit zwei fundamentalen Glaubensartikeln der quasi offiziellen, reinen Lehre: der »rassischen« Reinheit der Abstammung Richard Wagners sowie der Reinheit seiner Deutschheit als Künstler. Als Nationalsozialist war Strobel von der Legitimität der sogenannten Rassefrage überzeugt; als Philo­ loge war er jedoch nicht gewillt, pseudowissenschaftliche Erklärungen zu ­akzeptieren. Die Frage von Wagners Stammbaum trieb ihn um. Gewappnet mit dem Führererlass, bedrängte er jahrelang Stadt- und Kirchenarchivare an den für Wagners Ahnentafel relevanten Orten, um auch dokumentieren zu können, wovon er und der Führer ohnehin schon felsenfest überzeugt waren: Wagners rein arische Abstammung. Zu diesem Thema – »Die Abstammung Richard Wagners. Legende und Wirklichkeit«  – plante er eine alle Zweifel beseitigende Dokumentation. Die Vorarbeiten dazu füllen 18 Aktenordner.17 Doch das Projekt kam zu keinem Abschluss; es blieb im Schlamm der Ahnenforschung stecken. Hier fragt man sich: Wozu der Aufwand zur Klärung eines Problems, das doch eigentlich keins war? Es scheint, hier schlagen chimärische, das Kartenhaus des völkischen Wagner-Kults bedrohende Ängste durch. Verursacht waren diese Ängste durch Besorgnis erregende Signale aus den eigenen Reihen. Hans F. K. Günther zum Beispiel, der tonangebende Rasse-Theoretiker des Regimes, orakelte von Wagners »gemischtartig[er] Erscheinung« und befand, dass der zentrale Wagner’sche »Erlösungsgedanke« eigentlich nicht »arteigen« sei.18 Offenbar hielt sich das Gerücht von Wagners jüdischer Abstammung selbst im Dritten Reich noch lange, denn im Frühjahr 1942 wurde Wini­ fred Wagner zu ihrem Entsetzen zugetragen, dass auf einem rassenpolitischen Lehrgang in Würzburg ein Vortrag mit dem Titel »Die jüdische Versippung der Familie Wagner« gehalten wurde.19 Die Brisanz solcher Pannen ist mit Händen zu greifen. Wenn es – mit den Worten Telramunds  – um Wagners »Reine« schlecht steht, dann wäre dem zentralen Dogma des Wagner-Kults der Boden unter den Füßen entzogen, nämlich dem von Chamberlain propagierten und von Hitler verinnerlichten Dogma, dass das Werk Wagners den schlagenden Beleg für die überlegene kulturschaffende Kraft der germanischen Rasse liefere. Hier tat sich also ein chimärisches Panikszenarium auf, das einen dringenden Handlungsbedarf schuf. Ein weiterer Handlungsbedarf galt der Makellosigkeit von Wagners »Deutschheit«. Dies war Strobels zweite Obsession, wie aus seinem Geleit114 |

wort im offiziellen Festspielführer 1933 zu ersehen ist. Neben Wagner, der von sich sagte, er sei »der deutscheste Mensch«, bedachte er auch Hitler mit dem Etikett des »Deutschesten aller Deutschen.«20 Auch die These von Wagners vollkommener Deutschheit war also ein Dogma, an dem nicht gerüttelt werden durfte, nicht zuletzt, weil sie indirekt auch die Deutschheit seines größten Verehrers zu verbürgen hatte. Zu den Aufgaben der Forschungsstätte zählte demnach, wie Strobel Hitler-fromm formulierte, die »Herbeiführung der unbedingten Eingliederung in die Reihe der großen Deutschen, die unserem Volke stets beispielhaft und richtunggebend vor Augen stehen sollen, und Abwehr aller tendenziösen Angriffe auf seine Persönlichkeit und sein Werk«.21 Nur so war die kultische Verehrung Wagners gerechtfertigt, nur so konnte Wagner die ihm zugedachte volkspädagogische Rolle erfüllen. Die Verfälschung von Wagners »Deutschheit« war Strobels Überzeugung nach das Werk von jüdischen und »jüdisch versippten« Wagner-Bewunderern, die einen angeblich »undeutschen«, sprich: kosmopolitischen, »Kultus« mit dem Tristan-Schöpfer trieben.22 Es ist nicht schwer zu erraten, an wen er dabei dachte – Autoren wie Paul Bekker, Ernst Bloch und vor allem Thomas Mann, der im Jargon der Nazis als »jüdisch versippt« galt und der in seinem großen Wagner-Essay von 1933 die Frage von Wagners Deutschheit im Geiste Nietzsches auf anstößige Weise kompliziert hatte. Diese Wagner-Interpreten bedeuteten jedoch keine unmittelbare Bedrohung für das angestrebte Deutungsmonopol Bayreuths, denn sie befanden sich im Exil. Doch wie Strobels gutes, kollegiales Verhältnis zu dem englischen Wagner-Biographen Ernest Newman zeigt, hatte er auch auf die internationale Wagner-Szene ein Auge.23 Wie kompliziert diese Frage in Wirklichkeit ist und wie wenig Wagner zu einer Vereinnahmung durch völkische Ideologien taugt, hat jüngst Dieter Borchmeyer eindrucksvoll dargelegt.24 Die Frage von Wagners Deutschheit – gerade weil sie weit über das Rein-Deutsche und Nichts-als-Deutsche hinausreichte, faszinierte besonders Thomas Mann. Unter Berufung auf Nietzsche und Baudelaire insistierte er, dass das Werk Wagners für völkische »Versimpelung im tiefsten untauglich« sei.25 Bezeichnenderweise war dies einer der drei Vorwürfe gegen ihn in dem fatalen »Protest der Richard-Wagner-Stadt München« vom April 1933, nämlich dass er Wagner ein »Zugleich von ›Deutschheit und Modernität‹ [Mondänität]« bescheinigt habe, was einer »Herabsetzung unseres großen deutschen Musikgenies« gleichkomme.26

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Ein zwiespältiges Erbe Schließlich stellt sich die Frage, welche Gründe Hitler haben mochte, der Schaffung einer Forschungsstelle wie dieser seine Zustimmung zu geben, und warum sein Interesse an ihrem Wirken bis zum Ende anhielt. Seinem wahnhaften Plan zufolge sollte nach dem Endsieg ein grandioser ästhetischer Staat errichtet werden.27 Dieser ideale nationalsozialistische Staat sollte in der Verehrung Richard Wagners sein geistiges Zentrum haben, da in Wagner wie in keinem anderen Fall die Genialität und kulturschaffende Kraft des deutschen Volks Fleisch geworden sei. Wie bereits 1933 sollten die Bayreuther ­Wagner-Festspiele auch nach dem siegreichen Krieg als »Kraftquelle für die seelische Erneuerung des erwachten Deutschland« dienen.28 Wiewohl Hitler kein Wort darüber verlor, konnte ihm nicht entgangen sein, dass die Empfänglichkeit für seinen Wagner-Kult in der real existierenden Volksgemeinschaft sehr begrenzt war, beschränkt auf Pomp und Inszenierung. Mehr als das bestens dokumentierte Banausentum der Parteigenossen musste ihm jedoch der Mangel an Resonanz in der Hitler-Jugend Sorgen bereiten, denn auf dieses sorgfältig aufgebaute Heer junger Deutscher beiderlei Geschlechts richteten sich die Hoffnungen des Regimes für den Fortbestand des Dritten Reichs und des Nationalsozialismus. Was nun die Kontinuität in dem privilegierten Bereich der Kultur betrifft, insbesondere den von Hitler vorgelebten Genie- und Wagner-Kult, so bestand offenbar wenig Grund, sich von der nachwachsenden Generation viel zu versprechen. Die 1922 gegründete Hitler-Jugend hatte ein geistiges Erbe angetreten, das weit zurückreichte und in dem viel von dem Geist der Jugendbewegung überlebte: der patriotische Idealismus, die Naturschwärmerei und leider auch ihr musikalischer Geschmack.29 Den nationalsozialistischen Nachfahren der Jugendbewegung ging der Klang einer Klampfe über alles. Die schlichten Tonfolgen auf einer Blockflöte bedeuteten ihnen mehr als Siegfrieds Hornruf, der Chorgesang mehr als aller Orchesterzauber und die deutschen Volkslieder mehr als die in jeder Hinsicht anspruchsvollen Kreationen Wagners. Ein genauer Beobachter dieser Situation, der Gestaltphilosoph, Sexual­ forscher und hochgradige Wagnerianer Christian Freiherr von E ­ hrenfels, sprach schon vor 1933 unumwunden von den »neuen Apostaten« des ­Wagner-Kults und konstatierte nüchtern, dass die »musikalische Jugendbewegung« alle M ­ usik nach Bach »grundsätzlich« ablehne.30 Ein gewiss schwerwiegender Faktor in 116 |

dieser Entfremdung der Jugend von Wagner ist in dem Puritanismus und dem Sauberkeitsideal sowohl der Jugendbewegten wie auch der Hitler-­Jugend zu erblicken. Gerade dafür hatte Ehrenfels ein untrügliches Gespür. Wie ­Nietzsche betonte er die Nähe des Tristan-Schöpfers zur französischen Romantik und sprach im Ton der Bewunderung von Wagners »undeutscher« Erotik. Die deutsche Jugend jedoch, so der Seufzer des Prager Sexualforschers, wende sich in keuscher Scham ab, wenn Wagner im zweiten Akt von ­Tristan und Isolde die Theaterbesucher an den »physiologischen Vorgängen einer Liebes­nacht« teilnehmen lasse. Trotz der Wahnhaftigkeit ihrer zentralen Bemühungen, darf das Fazit unserer kritischen Besinnung auf die Richard-Wagner-Forschungsstätte nicht völlig negativ ausfallen. Strobels philologische Leistungen als Wagner-­Forscher haben auch nach dem Dritten Reich Bestand.31 Von der Katalogisierung der Wagner’schen Kompositionsskizzen, die der späteren, internationalen Forschung vorarbeitete, war schon die Rede. Darüber hinaus fasste Strobel, passionierter Philologe, der er war, mehrere langfristige Großprojekte ins Auge: die kritische Edition der Schriften Wagners, die ungekürzte Veröffentlichung sämtlicher Briefe Wagners sowie eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Wagner-Zeitschrift. Es sind Desiderata und Pläne, mit denen die ­Wagner-Forschung noch heute befasst ist und noch lange befasst sein wird. Die Edition sämtlicher Briefe Wagners ist seit 1967 im Gange; sie ist gegenwärtig bis zum Jahr 1873 gediehen. Die kritische Edition der Schriften Wagners, die für die Wagner-Forschung ein markantes Ereignis zu werden verspricht, ist erst vor Kurzem in Angriff genommen worden und steht noch im Stadium der Vorarbeiten.32 Und eine seriöse wissenschaftliche, von Bayreuth unabhängige Zeitschrift für Wagner-Studien, das wagnerspectrum, gibt es in Deutschland erst seit 2005. In England erscheint seit 2006 The Wagner Journal, ein gleichfalls wissenschaftlichen Ansprüchen genügendes Periodikum.33 Wir haben es also, wie gezeigt, mit einem verlegen machenden historischen Phänomen zu tun, von dem die Wagner-Literatur bemüht scheint, möglichst wenig Aufsehen zu machen. Die Richard-Wagner-Forschungsstätte wird in der einschlägigen Literatur mit Fleiß ignoriert. Otto Strobel ist bislang nicht für wert befunden worden, in der maßgeblichen Enzyklopädie der deutschen Musikwissenschaft, Musik in Geschichte und Gegenwart, Aufnahme zu finden – ein Versäumnis, das jedoch in der aktualisierten Fassung der MGG korigiert werden soll.34 Hier scheint eine Berührungsscheu zu h ­ errschen, die F r a g e - u n d D e n k v e r b o t e i m W a g n e r - K u lt d e s N at i o n a l ­s o z i a l i s m u s | 117

im Kleinen die noch größere Berührungsscheu gegenüber Hitler und dem Hitler’schen Wagner-Kult reflektiert. Offenbar hat sich durch die als obliga­ torisch erachtete, demonstrative Distanzierung von allem, was vom National­ sozialismus berührt wurde, gleichsam durch die Hintertüre ein Denkverbot anderer Art eingeschlichen, das eine nüchtern abwägende Beurteilung erschwert. Dieses neue Denkverbot funktioniert nach dem Motto: Nie sollst du fragen, was Hitler mit Wagner zu tun hat, denn Hitlers Wagner stellt eine Verfälschung dar und ist keiner näheren Betrachtung wert. Doch der Wagner Hitlers ist mitnichten die krasse Anomalie und das isolierte Vorkommnis, das von seiner Vor- und Nachgeschichte abtrennbar wäre. Hitlers Wagner lässt sich nicht ausklammern; er ist auch unser Wagner, Bürde und Herausforderung zugleich. Eben dies gilt auch für die Richard-Wagner-Forschungsstelle.

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Diskussion P A U L E S T E R H A Z Y, B e r n d F e u c h t n e r , U t e F r e v e r t, S V E N F R I E D R I C H , L U C I A N H Ö L S C H E R , H a n s R . Va g e t, J O S S I W I E L E R

H A N S R . VA G E T   Ich möchte das Phänomen des Denkverbots und des Gesinnungsterrors thematisieren. Während meiner Studienzeit in Deutschland Anfang der Sechzigerjahre habe ich erlebt, dass es praktisch verboten war, im Seminar über Wagner zu reden. Das war eine Art von Denkverbot, das jeden, der es trotzdem tat, einem Faschismus-Verdacht aussetzte. Ein neuerer Fall von Denkverbot betrifft The Death of Klinghoffer von John Adams. Als diese Oper zehn, fünfzehn Jahre nach ihrer Uraufführung im Herbst 2014 an die Metropolitan Opera kam, gab es eine Riesenaufregung in New York. Die Anti-Defamation League hatte zum Boykott und zu einer großen Demonstration am Tag der Premiere aufgerufen. Rudy Giuliani, der vormalige Bürgermeister von New York, machte sich zum Sprecher der Protest­bewegung. Er gab an, ein großer Musik- und Opernliebhaber zu sein. Er habe sich die Oper von John Adams genau angesehen und sei zu dem Schluss gekommen, sie sei Israel-feindlich und damit antisemitisch. Das ganze Lincoln Center war abgesperrt. Man konnte die Absperrung nur mit hochgehaltener Karte passieren. Als ich meinen Weg durch das Spalier schmähender und spuckender Protestler machte, wurde mir andauernd »shame, shame, shame on you!« entgegengerufen. Die Aufregung draußen gab der Aufführung einen Adrenalinschub, denn als die Musik einsetzte, erschallte ein großer, gequälter Schrei durchs Auditorium – »Nooooo!« Die Aufführung konnte ohne weitere Störung zu Ende gebracht werde, doch die Anti-Defamation League hatte ­einen halben Sieg errungen. Die Met hatte vorab die Live-Übertragung, die das Werk zahllosen Interessierten in zahllosen Ländern zugänglich gemacht hätte, abgesagt. Worum ging es bei diesem Streit? Es wurde die Behauptung lanciert, dass in dieser Oper Terroristen und Juden, Palästinenser und I­sraelis moralisch gleichgesetzt würden. Mit einer derart emotional und D i s k u s s i o n | 119

politisch ­aufgeladenen These lassen sich leicht Massen bewegen, zumal wenn man das infrage stehende Werk nicht kennt. Es ist ein Phänomen, welches wir, wie ich finde, aus der deutschen Geschichte kennen. B E R N D F E U C H T N E R   Tatsächlich versucht dieses Stück, die Tragik dieses Konfliktes zu formulieren. Es unter dem Schlagwort des Terrorismus fertigzu­ machen, ist einfach nur verwerflich. Das ist politische Propaganda. Und wenn der Boykott dieser Oper jemanden diskreditiert, dann diejenigen, die protestiert haben. 2001 stand das am Anfang des »Kampfes gegen den Terrorismus«, sozusagen als ideologische Flanke. Leider ist The Death of Klinghoffer in Europa kaum rezipiert worden, wie auch Nixon in China, ein geniales Stück, musikalisch hinreißend, philosophisch tief. Man kann diesen Umstand auch im Kontext einer Arroganz der Musik Amerikas gegenüber sehen. U T E F R E V E R T   Es gibt eine Tradition des Anti-Amerikanismus, die sich bis heute durchzieht und die vor allem mit dem Argument der Kulturlosigkeit arbeitet. Man ist seit den 1920er-Jahren neidisch auf die USA . Denn um 1900 waren Deutschland und die USA in vielen Bereichen noch Konkurrenten, danach wurde Deutschland überholt in den Bereichen Ökonomie, Technologie und Militär. Das wird dann kompensiert mit dem Hinweis darauf, die USA hätten in puncto Kultur nichts zu bieten. Die Nazis haben dann später den Swing verboten, und auch die beiden Nachkriegsgesellschaften – Bundesrepublik und DDR  – stellten sich in diese unrühmliche Tradition. Was aus den USA komme, sei »Schmutzkultur« wie Rock’n’Roll, der die Jugend verderbe. Gegen diese Abwertung hat die Jugend dann aufgemuckt – nicht erst 1968. P A U L E S T E R H A Z Y   Eine Anmerkung zu dem Amerika-Aspekt: Ich bin in Wien aufgewachsen und habe selbst dort Anfang der 1970er-Jahre eine ganz andere Seite von Amerika kennengelernt über den Wiener Aktionismus, nämlich John Cage und Morton Feldman. Man darf nicht vergessen, dass wir in Europa – im Gegenteil – teilweise mit ganz großen Augen nach Amerika geschaut haben und da die eigentliche Avantgarde gesehen und auch, glaube ich, erkannt haben. U T E F R E V E R T   Immer aber ging es um einen gesellschaftlichen »Kulturkampf«, um die Definitionsmacht: Was ist eigentlich Kultur? Was ist Hochkultur, was ist niedere oder »Schmutzkultur«? Wer bestimmt das, mit welchen Folgen? In beiden deutschen Nachkriegsstaaten kam da in den späten 1950er- und 1960er-Jahren einiges in Bewegung, die konservative Spielart des Antiamerikanismus sah sich konfrontiert mit glühenden Bewunderern der amerikanischen 120 |

(Protest-)Avantgarde – nicht nur in Bezug auf die E-Musik, sondern auch bei Folksängern wie Woody Guthrie, Pete Seeger und Joan Baez. B E R N D F E U C H T N E R   Aber das war doch dann auch ein politischer Protest gegen das konservative Deutschland. Man hat sich gegen diese Verkrustungen, gegen dieses Säbelrasseln, »Für deutsches Land das deutsche Schwert!« und dergleichen mehr gewandt. Natürlich kam die ganze »Make love, not war !«-Bewegung aus Amerika, und die Rockmusik stand für Befreiung; das ist unbestritten. Um noch einmal auf Otto Strobel und seine Bedeutung in der ­Wagner-Forschung zu kommen: Es ist das Gleiche wie mit Walter Abendroth. Man fragt sich, weshalb kluge Leute politisch so dumm sein konnten. H A N S R . VA G E T   Strobel war wie viele Intellektuelle ein von der völkischen Ideologie Überzeugter. Ich rede von einem Typ von Intellektuellen, die ­national-konservativ waren und die den Wagner-Kult trugen. Hitler hätte ja niemals den Erfolg als Wagnerianer haben können, wenn er kein Echo aus der Gemeinde gehabt hätte, die den Wagner-Kult konstituierte. Dazu gehörte die Mehrzahl der deutschen Musikwissenschaftler, dann sehr viele, die im Kulturbetrieb tätig waren, also Redakteure, Intendanten und so weiter, und dann eben das Wagner-gläubige Volk. Man kann nur schätzen, wie viele das waren. Jedenfalls gehörten dazu auch die Leute, die jedes Jahr nach Bayreuth kamen. Diese Wagner-Verehrer haben wie Strobel aus idealistischer Überzeugung gehandelt. Der Idealismus wurde hier von Wahnfried aus durch ­Houston ­Stewart Chamberlain massenweise verströmt. Er stellte sich als ein Idealist dar, der über den Fachwissenschaften steht, der allein den Überblick hat und der – als Engländer – die Deutschen dazu bringen wollte, ihre eigene Größe und ihre eigene historische Mission zu verstehen und zu würdigen. Das haben sich viele junge Deutsche damals gläubig angehört. Diese sind dann aus Idealismus und Anhänglichkeit an die völkische Ideologie zu Nazis geworden. B E R N D F E U C H T N E R   Wenn jemand Rassist und Massenmörder wird, kann man dann nicht sagen, dass er ein bisschen dumm war? H A N S R . VA G E T   Der Zulauf, den Hitler hatte, stammt ja nicht daher, dass er gesagt hat: »Irgendwann einmal, wenn ich die Macht habe, werde ich alle Juden ermorden.« Davon war ja zunächst nicht die Rede. Der Satz im Programm der NSDAP von 1919 »Nur Deutsche sind Angehörige des deutschen Reiches« ist der eigentlich antisemitische Paragraph in diesem Dokument. Das haben die Leute damals nicht ernst genommen. Und viele von denen, die sich zu Hitler vor 1933 D i s k u s s i o n | 121

und unmittelbar danach in der Zeit seiner Erfolge bekannt haben, haben diesen Aspekt der Ideologie entweder nicht gekannt oder absichtlich ignoriert. B E R N D F E U C H T N E R   Abendroth beschreibt, dass Hitler 1923 Hans Pfitzner am Krankenbett besucht hat und sie sich über den Antisemitismus ausgetauscht haben und darüber, dass man die Juden ausrotten müsste. U T E F R E V E R T   Haben sie wirklich über »Ausrottung« gesprochen? In der Regel benutzte man damals Begriffe, die das im Unklaren ließen, was man genau mit Juden anstellte. Meistens wurde der Begriff des »Säuberns« (des deutschen Kulturlebens von dem jüdischen Einfluss) verwendet. Das »Säubern«  – wir kennen das heute noch von der »ethnischen Säuberung«  – ist ein Code­ begriff dafür, dass man den »reinen Volkskörper« von einer »Ekelpopulation«, die wahlweise als Ungeziefer und Parasiten bezeichnet wird, trennt. Wie man anschließend mit dem »Ungeziefer« umgeht, wird nicht weiter ausgeführt, da schont man die Nerven. Und noch ein Wort des Widerspruchs, Herr Vaget: Der Antisemitismus ist von Anfang an ein ganz wichtiger Pfeiler der NS-­Propaganda gewesen, er war ein extrem massenwirksames Überzeugungs­ element. Er hat die Intellektuellen überzeugt, die tief neidisch waren – ich beharre immer wieder auf dem Begriff des Neides, sowohl bei den Anti-Amerikanisten als auch bei den Antisemiten –, neidisch auf die angeblichen Erfolge der Juden. Sie haben gezählt, wie viele jüdische Dirigenten, Musiker, Theaterregisseure, Schriftsteller etc. es gab. Das waren immer mehr als der jüdische Bevölkerungsanteil von knapp einem Prozent, und dann hieß es: »Die besetzen überall die wichtigen Plätze – unsere Plätze.« Angesichts einer hohen Akademikerarbeitslosigkeit in den 1920er-Jahren war das ein beliebtes Argument, denn in dem Moment, in dem man die Juden los war, war man selber besser dran. Diese Haltung war jedoch nicht auf Akademiker beschränkt. In den Novemberpogromen von 1938 vergriffen sich alle möglichen »Volksgenossen« am Eigentum ihrer jüdischen Mitbürger, und von der »Arisierung« jüdischen Vermögens profitierten sehr viele. Der von Neid und Bereicherungswünschen getriebene Antisemitismus war perfekt massentauglich und wirkte wie sozialer Kitt. Ohne ihn kann man den Nationalsozialismus in seiner Breitenwirkung und Ausstrahlung nicht verstehen. H A N S R . VA G E T   Ich muss mich ungenau ausgedrückt haben. Denn eines der Hauptargumente, die ich in meinem Buch entfalte, ist eben, dass Hitler nicht erst 1919 zum Antisemiten wurde, sondern sich schon in seinen Wiener Jahren und in den Münchener Jahren vor 1914 eine antisemitische Ideologie 122 |

angeeignet hat. Das Argument, das alles sei erst 1919 bei ihm aufgetaucht, halte ich nicht für überzeugend. Und sie war dann auch sofort Teil des ersten Parteiprogramms, und es wurden natürlich – das möchte ich unterstreichen – Codewörter benutzt. Der antisemitische Code umfasst ein erstaunlich weitreichendes Vokabular. Viele Dinge, die harmlos klingen, können sich im Kontext eine antisemitische Dynamik entwickeln wie zum Beispiel der Begriff der »Deutschheit«. Warum war im Dritten Reich und zum Beispiel für Hans Knappertsbusch in dem »Protest der Richard-Wagner-Stadt München«, die ja eine Denunziation Thomas Manns war, der Begriff der »Deutschheit« so wichtig? Das klingt harmlos, aber es hatte einen antisemitischen Subtext. Und dafür könnte man viele weitere Beispiele anführen. B E R N D F E U C H T N E R   Ein anderes Beispiel im Zusammenhang mit Hans ­Pfitzner könnte ich erwähnen. Er ist Ende des 19. Jahrhunderts nach Berlin gegangen, hat dort am Stern’schen Konservatorium unterrichtet und schrieb dann an seinen Schulfreund Paul Cossmann, der Jude war. Er war nicht nur Schulfreund von Pfitzner, er hat ihn gefördert, sehr viel für ihn getan. Er gründete die Süddeutschen Monatshefte, die unter anderem damit berühmt wurden, dass darin auch die Dolchstoß-Legende propagiert wurde. Es gibt diese berühmte Karikatur mit dem deutschen Soldaten, dem man in den Rücken gestochen hat. Paul Cossmann bekam von Pfitzner 1898 einen Brief, in dem er beschreibt, wie es ihm in Berlin geht und dass er sich im Übrigen dort zum Antisemiten herausgebildet hätte. Dort hätte man das alles so deutlich vor Augen, dass das gar nicht anders ginge. Cossmann ist dann 1905 zum Protestantismus konvertiert und hat weiterhin eine rechtsextreme Politik gemacht. Bruno Walter war mit Pfitzner sehr eng befreundet und hat seine Musik gefördert. Als er sich nach dem Krieg in einem Brief bei Pfitzner erkundigte, wie es ihm ginge, fragte er auch: »Was ist denn eigentlich aus Paul Cossmann geworden?« Und Pfitzner schrieb darauf: Cossmann sei in Theresienstadt »sanft entschlafen«. H A N S R . VA G E T   Die Sache ist noch viel schlimmer. Er verteidigt ja den ­Holocaust. U T E F R E V E R T   Ich würde gerne noch einen anderen Aspekt einbringen. Es wurde viel darüber gesprochen, dass Kunst nicht zuletzt deshalb Kunst sei, weil sie deutungsoffen ist und mehr als eine Lesart zulässt. Wenn wir heute die Festspiele besuchen, sind wir Teil eines internationalen Publikums, das nach Bayreuth pilgert. Wir haben Wagner-Vereine seit den 1870er-Jahren nicht nur im Deutschen Reich, sondern überall auf der Welt. Das heißt: Wagner ist D i s k u s s i o n | 123

kein rein deutsches Phänomen, er spricht Menschen an sehr verschiedenen Orten mit sehr verschiedenen Hintergründen an. Darunter waren schon im Kaiserreich auch viele Juden. Meine Frage ist: Was ermöglichte es ihnen und was ermöglicht es einem jungen Israeli von heute, in Wagner etwas zu s­ ehen, was sie anzieht? Wie lässt sich die Deutungsoffenheit bei Wagner fassen, die ihn attraktiv macht auch für Menschen, die sich von seinem Antisemitismus – der sich ja auch ganz klar in der Musik findet – angewidert und bedroht ­fühlen? Warum werden die Meistersinger auch von jenen geliebt, die er dort so ­verhöhnt? H A N S R . VA G E T   Ich sage etwas ganz Idealistisches: Ich kenne sehr viele amerikanische Juden, die in den meisten Fällen auch Wagnerianer sind. Ich sollte einmal an einem Wagner-Kongress in Israel teilnehmen, der dann nicht zustande kam wegen des Widerstands, der sich dort aufgebaut hatte. Ich kenne keine jungen Israelis, ich kenne nur junge amerikanische Juden. Aber die Frage ist natürlich sehr wichtig: Was kann ein junger amerikanischer Jude an Wagner finden? Nach den Beobachtungen, die ich gemacht habe, kann man am ehesten damit zurande kommen, wenn man sich vorstellt, dass Wagner eine Quelle, der Ursprung der ganzen Fantasy-Kultur ist, die jetzt Hollywood dominiert. Wer sich auf ihn einlässt, kommt zu der Erkenntnis, dass bei Wagner wie bei Shakespeare die menschliche Seele in ihren Stärken und in ihren Abgründen wie in einem Vergrößerungsglas zu sehen ist. Und da spielt die Frage »antisemitisch oder nicht« eine untergeordnete Rolle. Die wird nicht übersehen. Aber es ist eine Tatsache, dass die ästhetische Erfahrung eine solche Gewalt ausüben kann auf die, die Ohren haben zu hören, und für die, die sich einfach davon ansprechen lassen. Und die lassen sich davon ansprechen, weil sie Fantasy-Filme gesehen haben. The Lord of the Rings und all diese Dinge kommen im Grunde genommen ja von Wagner her. Das ist ein Zugang zu Wagner – auch für jüdische Leser und Hörer. U T E F R E V E R T   Aber das passt nicht recht zu Ihrer – aus meiner Sicht viel zu teleologischen – Sicht, wonach Wagner gewissermaßen die Blaupause geliefert hat für das Deutsche Reich und dessen Sendungsbewusstsein; das mussten die Politiker dann nur noch marionettenhaft nachspielen. H A N S R . VA G E T   Das würde ich niemals sagen. Wagner war doch gegen das Reich. U T E F R E V E R T   Sie haben aber gesagt, diese Gier nach Weltmacht, nach einem Platz an der Sonne sei letztendlich das »Welterbe« gewesen. Da habe ich schon den Bernhard von Bülow gesehen, wie er nach der Weltherrschaft greift. 124 |

H A N S R . VA G E T   Ich habe Mutmaßungen vorgetragen über die versteckte, über

die heimliche Verkettung von deutscher Geschichte und Wagner. Deswegen habe ich diese ungeheuren Aufführungszahlen genannt. Gemeint war das so, dass sich die deutsche Geschichte und die Leute, die Entscheidungen treffen – also Politiker auf der lokalen und auf der nationalen Ebene –, mit Wagner im Kopf davon leiten oder führen lassen können. Aber dass es eine Blaupause sei … – nein ! U T E F R E V E R T   Aber das ist eine gefährliche Mutmaßung – die zudem historisch nicht gedeckt ist. Die Bürger des Kaiserreichs hatten nicht nur Wagner im Kopf. Verdi wurde Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Opernbühnen häufiger gespielt als Wagner, Bizets Carmen stand in der Aufführungsstatistik immer ganz oben. Auch im Kopf politischer oder ökonomischer oder kultureller Entscheidungsträger hatte viel mehr als Wagner Platz. Außerdem wussten sie zwischen Kunst und Welt zu trennen und gaben sich nicht der romantischen Illusion hin, die Welt nach dem Vorbild der Kunst gestalten zu wollen, nach dem Motto: »Wir schmieden jetzt mal wieder das Deutsche Reich und ziehen gen Osten.« Im Übrigen: Wenn man sich den Ring anschaut, wird da nichts geschmiedet. Da fällt alles an Reich zusammen. H A N S R . VA G E T   Ich verstehe diese Argumente sehr gut, aber sie greifen nicht, finde ich. Denn die Leute, die im Wagner-Kult Entscheidungsträger wurden, hatten fast nur Wagner im Kopf. Die gingen nicht zu Puccini und zu Rossini. Sie kannten die vielleicht auch, aber sie haben sich nicht davon bilden lassen. Das entscheidende Bildungserlebnis für diese Leute einschließlich Hitler war eben Wagner und nicht Rossini. S V E N F R I E D R I C H   Was ich zunächst sagen will, bezieht sich auf die alte ­Richard-Wagner-Forschungsstätte, die diesen Alleinvertretungsanspruch hatte. Ich bekenne offen, dass es mir schon gelegentlich, wenn ich die Produkte dessen lese, was Franz Wilhelm Beidler, ältester Enkel Richard Wagners, so schön die Wagner-Literatur der »Unbefugten« genannt hat, in den Fingern zuckt. Dabei denke ich jetzt nicht an die Hervorbringer, an die Sie vielleicht denken, ich meine zum Beispiel die relativ unerträglichen Postillen der »Deutschen ­Richard-Wagner-Gesellschaft«, die sich in der Diktion kaum von dem unterscheiden, was wir bei Walter Abendroth lesen können. Aber der Umstand, dass wir jetzt hier zusammensitzen, mag belegen, dass ich diesem Zucken ­bisher nicht nachgegeben habe. Das wäre ja auch nachgerade unmöglich  – Gott sei Dank  ! D i s k u s s i o n | 125

Wo Herr Brandenburg den Finger in die Wunde gelegt hat, und was wir im letzten Jahr hier anlässlich des 100. Geburtstags von Wieland Wagner mit der Ausstellung und dem Symposium auch getan haben, ist, dieser relativ unreflektierten, unhinterfragten Wieland-Wagner-Idolatrie, die im Wagnerianismus gerade hier in Bayreuth bis zum letzten Jahr fröhlichste Urstände gefeiert hat, zumindest eine gewisse Kritik entgegenzusetzen. Wenn wir uns beispielsweise klarmachen, dass das, was hier in den 1950er-Jahren passiert ist, ja nicht bemerkt werden wollte … Es gab von dem schon genannten Franz Wilhelm Beidler die »Bedenken gegen Bayreuth«, wo er genau diese Kritik schon formuliert, die Kritik am Weitermachen, als sei nichts gewesen, diesem Rückzug in einen Ästhetizismus, der aber nolens volens immer auch politisch ist. Ich bin mir relativ sicher, dass Wolfgang sowieso nicht, aber auch Wieland Wagner sich dessen nicht bewusst gewesen ist, dass auch das »Hier gilt’s der Kunst« eine politische Aussage ist. Aber wenn man sich dann klarmacht, dass gerade hier in Bayreuth völlig unbeanstandet bis in die 1970er-Jahre hinein die Wagner-Exegeten des Dritten Reichs hochgehalten wurden … Als ich hier vor 25 Jahren anfing, wurde mir noch wärmsten Herzens Curt von Westernhagen anempfohlen für meine persönliche Wagner-Bildung, oder Zdenko von Kraft. Hans Severus Ziegler war ja Leiter der Volkshochschule bis in die 1970er-Jahre; das nahm man eher augenzwinkernd zur Kenntnis – bis hin zu Winifred Wagner selbst, im Großteil der Bayreuther Bürgerschaft hochverehrt bis zu ihrem Tod 1980: »Naja, da war mal was mit Hitler, aber das ist ja lange her.« Insofern zeigt sich schon, dass das nicht irgendwie nur ein historischer Mythos ist, sondern dass uns das eigentlich bis in die Gegenwart hinein begleitet und wir vermutlich ganz gut daran tun, vom Exorzismus nicht abzulassen. L U C I A N H Ö L S C H E R   Meine Frage geht über dieses sehr berechtigte Interesse an der Aufarbeitung der Wagner-Rezeption im Dritten Reich hinaus. Sie richtet sich an diejenigen, die sich seit Längerem mit der Wagner-Rezeption und der Rolle derjenigen beschäftigen, die im Dritten Reich an Wagners Interpretation mitgewirkt haben: Wie muss man das verstehen? Ich habe Ihre Diskussion so wahrgenommen, dass es lange gedauert hat, bis man den Anteil Richard Wagners am Dritten Reich herausgearbeitet hatte. Mich aber interessiert darüber hinaus: Was bedeutet das eigentlich für die Interpretation von Richard Wagner heute? Ich sehe – bei Ute Frevert etwa –, dass es ein Bedürfnis gibt, für Wagners Werk wieder eine neue Offenheit der Interpretation zurückzugewinnen, die 126 |

von den Verengungen, die vor allem im Dritten Reich vorgenommen worden sind, Abstand hält. Das verstehe ich sozusagen als Erweiterung des politischen Interpretationsraums. Allerdings sind es offenbar dieselben, die noch vor Kurzem die Verstrickungen Wagners ins Dritte Reich aufgearbeitet haben, jetzt aber sagen: »Es gibt auch noch ganz andere Lesarten Wagners, etwa in den Vereinigten Staaten. Wir können Wagners Werk auch als Vorgeschichte von ganz anderen Dingen als der Vorbereitung des Dritten Reichs verstehen.« Das heißt, es stehen hier nicht zwei Gruppen gegeneinander – die einen, die sagen: »Ja, wir müssen ihn als Vorkämpfer des Dritten Reiches betrachten«, und die anderen, die sagen, »Halt ’mal! Das ist eine Lesart neben anderen, es gibt auch noch viele andere Lesarten.« Nein, es sind dieselben, die das eine und das andere sagen. Was bedeutet das nun eigentlich für eine heute zeitgemäße Aufführungspraxis von Wagners Werken? Welche Rolle spielt dann eigentlich die frühere Aufarbeitung der faschistischen Implikationen Wagners für eine solche kulturell offenere Perspektive? Ist die antifaschistische Kritik jetzt sozusagen Makulatur, soll sie keine wesentliche Rolle mehr bei der erstrebten »offeneren« Interpretation Wagners spielen? Welchen Stellenwert hätte eine solche antifaschistische Kritik an Wagner etwa in einer Lesart, die sich auf den F ­ antasy-Charakter von Wagners Werken konzentriert? Wird der Antisemitismus plötzlich zu einem Element von Wagners Fantasy-Konstruktion? H A N S R . VA G E T   Die Verbindung zwischen der Bayreuther Ideologie und dem Nationalsozialismus wurde nicht erst sehr spät entdeckt, sondern schon in den 1930er-Jahren im deutschen Exil. Ich verweise auf eine Debatte zwischen Thomas Mann und dem jungen amerikanischen Historiker Peter Viereck. Das Buch von Viereck heißt Metapolitics. From the Romantics to Hitler. Es war die erste philosophisch und historisch geschulte Darstellung des verderblichen Potenzials der Wagnerischen Ideologie. Was Sven Friedrich über das Nachleben der alten Nazi-Seilschaften hier in Neu-Bayreuth gesagt hat, das stimmt absolut! Die Frage, die sich heute stellt – und das halte ich für eine wichtige Frage: Welchen Stellenwert hat die Anerkennung des antisemitischen Potenzials bei Wagner heute in unserer Diskussion? Das Schlimmste, was in der Wagner-Diskussion vorkommen kann, ist, dass man diese Dinge leugnet oder absichtlich ignoriert. Davon gibt es immer wieder Fälle; wenn man sich vor allem in der älteren Wagner-­Literatur umschaut, liest man das immer noch. Das Entscheidende ist, dass man sich D i s k u s s i o n | 127

zur Kontinuität der problematischen Wagner-Tradition in Deutschland bekennt und nicht so tut, als könne man das »Dritte Reich« ausklammern. Das ist Teil der Deutschen Geschichte, und der Wagner-Kult war ein Faktor im Siegeszug der Hitler-Bewegung Ende der Weimarer Republik und Anfang des »Dritten Reiches«. Das Schlimmste ist, wenn man das als nicht dazugehörig ausklammert und argumentiert, Hitlers Wagner beruhe auf ­einem Missverständnis und stelle somit eine Verfälschung dar. Und ich muss immer wieder betonen: Es ist nicht Hitler allein. Sondern es ist das Zusammenspiel, die S­ ynergie zwischen dem Wagner-Kult und Hitler. Das war historisch entscheidend. Das kann man nicht ausklammern, das kann man nicht verbannen aus der Geschichte. Das muss anerkannt werden. Dann wird der Blick frei für eine Wagner-Tradition, die eben geistig nicht in Bayreuth verankert ist, sondern in Paris. Das ist der Wagner von Charles ­Baudelaire, von Friedrich Nietzsche. Nietzsche ist ein besonders interessanter Fall: Die Nazi-Ideologen wollten Nietzsche für sich einspannen. Aber die Tatsache, dass Nietzsche am Ende von Wagner abgefallen ist, war ein großer Stolperstein und hat dazu geführt, dass Nietzsche zum Beispiel bei Strobel und Abendroth – glaube ich auch – als ein Nobody behandelt wird, der da nichts zu sagen hat oder der sich getäuscht hat über die tiefe »Deutschheit« Richard Wagners. L U C I A N H Ö L S C H E R   Das ist keine Antwort auf meine Frage. Sie haben es so geschildert, als ob man gewissermaßen durch Anerkennung dieser faschistischen Implikationen frei würde für eine Lektüre von Baudelaire oder Nietzsche. Warum wird man dadurch eigentlich frei? B E R N D F E U C H T N E R   Man wird natürlich nicht frei. Das sind dialektische Dinge, die immer gleichzeitig wirksam sind. Aber trotzdem: Wir wären nicht hier, es würde nicht Wagner aufgeführt, wenn da nicht immer noch etwas drinnen wäre, was uns alle fasziniert, was uns in unserem Innersten beschäftigt und woher wir immer wieder neue Inspirationen bekommen. Yuval Sharon zum Beispiel zeigt, dass Elsa plötzlich aufbegehrt und Lohengrin nicht nur von Glanz und Wonne redet, sondern sich in Schmerzen krümmt, weil er gehen muss. So nebensächlich das vielleicht sein mag  – jeder findet wieder irgendetwas anderes darin. Und gestern war die Rede von »etwas ist überwunden«, Zuständen, die wir überwunden glauben. Ich glaube, es ist nie etwas überwunden. Es kommen immer wieder neue Generationen auf die Welt, die genauso dumm sind, wie wir es waren, als wir auf die Welt gekommen sind. 128 |

Und die das alles noch einmal repetieren müssen. Und deswegen sind diese Probleme nicht aus der Welt zu schaffen. J O S S I W I E L E R   Ich kann mich dem nur anschließen. Es geht um komplexe Werke. Und diese Werke rufen nach Interpretation, seit sie auf der Bühne sind. Sie sind für die Bühne geschrieben worden. Und wenn sie nicht eine hohe künstlerische Qualität und eine Relevanz hätten, würden wir uns mit ­ihnen nicht beschäftigen. Jede Zeit und jeder Künstler findet seine eigene Umsetzung, seine szenische Versinnlichung dafür, seine eigene Interpretation. Ich habe in den 1970er-Jahren in Tel Aviv Theaterregie studiert. Ich hatte keine Ahnung von Wagner. Es gab aber einen Freund, der sich viel mit ihm beschäftigt hatte und einen kleinen Wagner-Kreis gründete. Wir haben den Ring gehört, gemeinsam, quasi heimlich, und haben uns darüber ausgetauscht. Vieles hatte ich damals nicht verstanden. Ich will damit nur sagen: Es gibt nie eine Antwort auf ein Kunstwerk für eine bestimmte Gesellschaft. Man sollte sich die Geschichte immer vergegenwärtigen: Sie schwingt immer mit. So, wie wir uns hier und jetzt unterhalten, wird dies möglicherweise auf andere Menschen einwirken, die sich ihre Gedanken dazu machen werden, gerade auch die Künstler, die diese Werke interpretieren. Man hat in den 1970er-Jahren in Israel versucht – weil Sie das angesprochen haben –, Konzerte zu veranstalten, wo die Ouvertüre aus Der fliegende Holländer gespielt werden sollte, und es dann aber nicht dazu kam. Ich kann mich noch ganz gut daran erinnern. Ja, das sind empfindliche Momente auch in der Rezeptionsgeschichte. Man musste und wollte Rücksicht nehmen und eine Sensibilität entwickeln für die Menschen, die den Holocaust überlebt hatten und für die diese Musik einfach existenziell negativ besetzt war – das konnte und kann man nachvollziehen. Diese Empfindlichkeit hat sich verändert heute; es besteht nach siebzig Jahren eine andere Toleranz. Und so wird jede Gesellschaft, ob nun in Israel oder wo auch immer, anders auf diese Werke reagieren. Das Wichtige ist aber, dass wir sie weiter interpretieren und dass wir Kunst, die auch zu einer Zeit negativ besetzt war und politisch benutzt wurde, oder das, was angeblich in der Kunst nicht sein darf – ich erinnere an das Heidenröslein, da mussten wir gestern alle schmunzeln –, nicht für die Zukunft verbannen. Das wäre das Schlimmste. Wir brauchen »nur« ein Geschichtsbewusstsein, um die Werke für jede Zeit neu zu interpretieren. P A U L E S T E R H A Z Y   Ich habe mich in den letzten Jahren sehr viel mit der Zeit von 1877 bis zum Ende der beiden Kaiserreiche beschäftigt; ich habe sehr viel D i s k u s s i o n | 129

Presse gelesen, hauptsächlich Wiener und Prager Presse. Und es ist natürlich völlig richtig, was Herr Vaget sagt: dass Wagners Werk durch diese unendlich vielen Aufführungen extrem präsent war und auch wirklich im intellektuellen Leben fast aller Familien Tagesgeschäft war. Aber was total zu kurz kommt, ist, dass es eine Zweiteilung gab. Wir reden immer über die Wagnerianer, aber wir reden nie über die Anti-Wagnerianer, die eine mindestens so große Fraktion waren. Ich weiß das selbst aus meiner Familie. Großvater und Großmutter waren getrennt; da gab es dann die Brahmsianer, die das ganz anders gesehen haben in der Nachfolge von Eduard Hanslick. Und nach 1933 ist das eigentlich Schlimme, dass diese Seite der Wagner-Rezeption natürlich verschwindet. Und ich finde das interessant: dass es damals ein schmunzelndes Gesellschaftsspiel war, Wagnerianer gegen Anti-Wagnerianer, und man konnte nicht sagen, welche die größere und stärkere Partei war. Das ist eigentlich das grundlegend Tragische: dass das weg ist. Und das ist auch nicht mehr wieder herzuholen. H A N S R . VA G E T   Das zeigt aber, dass es durchaus möglich ist, eine Musik-­ Idolatrie zu betreiben, die nicht auf Wagner fixiert ist. Was Sie die Brahm­ sianer nennen, waren ja auch Barockmusik- und Kirchenmusikanhänger, die sehr stark in der deutschen Musikwissenschaft vertreten waren. Das waren nicht unbedingt alle Nazis. Aber sie stimmten in einem ganz wichtigen Punkt mit der Bayreuther Ideologie überein, nämlich dass die Exzellenz, die Ausnahmequalität der deutschen Musik ein Grund für den Führungsanspruch Deutschlands in der Welt ist. Das ist der gemeinsame Boden, auf dem die nicht-wagnerianischen Musikverehrer und Musikfreunde mit den Bayreuthianern und den Völkischen stehen. U T E F R E V E R T   Aber die deutsche Kriegsmaschinerie wurde nicht deshalb mobi­lisiert, weil man mit Wagner angeblich den größten Künstler der Welt hervorgebracht habe und deshalb ganz Europa unterwerfen dürfe. Vielleicht hat das eine oder andere verzagte bildungsbürgerliche Herz so getickt. Aber die Entscheidung zum Krieg folgte anderen Kriterien. Ich möchte noch eine kleine Anekdote zu dem Streit zwischen Wagnerianern und Anti-Wagnerianern beisteuern: Der Schwiegervater von Thomas Mann, Alfred Pringsheim, Mathematik-Professor in München, hat sich einmal mit einem Anti-Wagnerianer so gestritten, dass er ihm den Bierseidel auf den Kopf hauen wollte, woraufhin ihm der andere eine Duellforderung schickte. Es gibt übrigens eine interessante aktuelle Studie über Wagner-Verehrer und Verdi-Verehrer. Ergebnis: Die Wagner-Verehrer geben kein Geld aus. Das 130 |

sind alles sparsame Protestanten, die in billigen Hotels übernachten, ihre Fränkische Bockwurst essen und nicht viel dalassen. Demgegenüber schwelgen die Leute, die zu Verdi-Festspielen anreisen, in Opulenz und sind wahrscheinlich auch häufiger katholisch als protestantisch. Solche kulturellen Differenzen gab es schon im Kaiserreich. Und deshalb, ich wiederhole mich, kann man das Kaiserreich und die Weimarer Republik nicht als eine eindimensionale Pro-Wagner-Veranstaltung sehen. Zudem gab es vor 1933 selbst unter eingeschworenen Wagnerianern politische Varianz und Deutungsoffenheit, national ebenso wie international. In diesem Zusammenhang muss man auch daran erinnern, dass der Antisemitismus, den die Kosky-Inszenierung der Meistersinger so stark herausgearbeitet hat, nicht Wagners Monopol war. Es gab ihn und andere Spielarten des Rassismus auch bei vielen anderen wichtigen Personen der europäischen Kultur. Im Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus war jene Kultur generell von einem hohen Suprematiebewusstsein gekennzeichnet. Überall, in England, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Deutschland, erklang das gleiche selbstgerechte, überhebliche Lied: »Nur wir, nur der Deutsche, Franzose oder Engländer, kann die Welt regieren und Kultur und Zivilisation verbreiten.« Deshalb sehe ich die Aufgabe einer kritischen Wagner-Forschung – sowohl was die Exegese als auch was die Rezeption betrifft – auch darin, dass man ihn in den Kontext seiner Zeit stellt und ihn weder dafür verteufelt (»Wagner war an allem schuld«), noch ihn relativiert, nach dem Motto: »Die anderen waren auch nicht besser.« Wagner war nicht nur Teil einer deutschen, sondern auch einer europäischen Gesellschaft, die vollkommen davon überzeugt war, dass nur sie die Fähigkeiten besitzt, die Welt zu beherrschen. H A N S R . VA G E T   Das ist völlig richtig, was Sie sagen. Deutschland hat den Anspruch auf Weltherrschaft nicht erfunden. Wie vieles im Zweiten Reich war auch das Streben nach Weltherrschaft eine Imitation. Sie verweisen mit Recht auf den Anspruch Großbritanniens und Frankreichs, die Welt beherrschen zu dürfen. Das wurde aber in diesen beiden Ländern anders begründet als in Deutschland. Der englische Anspruch berief sich auf das englische Rechts­ system und auf die Literatur. Ich rede von der Rechtfertigung in den Köpfen der eigenen Leute. Es ist das britische Rechtssystem und dann natürlich auch noch der christliche ­Messianismus und weiteres. In Frankreich wurde der Anspruch anders begründet. Das Interessante an Deutschland ist eben, dass die Begründung für D i s k u s s i o n | 131

die Vormachtstellung und das Weltmachtstreben Deutschlands in der Musik liegt und nirgends anders. Das war das einzige kulturelle Gebiet, auf dem Deutschland mit einiger Aussicht auf Erfolg behaupten konnte, dass es führend sei in der Welt. L U C I A N H Ö L S C H E R   Es gab auch noch viele andere Gebiete: Die deutsche Universität etwa war als Modell für die universitäre Lehre in vielen anderen Ländern ein Exportschlager. Auch die deutsche theologische Tradition, die protestantische Theologie galt als einzigartig auf der Welt. Da würde einem auch noch anderes einfallen. Ich will aber damit nicht leugnen, dass die Musik in der Tat ein wichtiger Faktor in der Begründung von Deutschlands Weltmachtstellung war. H A N S R . VA G E T   Aber das Modell der deutschen, der Humboldt’schen Universitäten hat sich verbreitet, ohne dass deutsche Politiker den Erfolg des deutschen Modells als Begründung dafür angeführt haben, dass Deutschland zur Weltherrschaft berechtigt ist. Sie haben völlig recht: Der technische Fortschritt im 19. Jahrhundert in Deutschland, die Tatsache, dass die deutsche Industrie die englische eingeholt hatte – das spielt alles eine Rolle. Aber die Logik der Begründung in den Köpfen der Leute, warum Deutschland zur Weltherrschaft berechtigt sei, wurde in erster Linie hier im Bayreuther Kreis ausgeheckt und ausgekocht. Das ist historisch wirkungsmächtig geworden. Dass das nicht zentral ist, gebe ich gerne zu. Aber es ist wirkungsmächtig gewesen. U T E F R E V E R T   Ich muss als Historikerin widersprechen. Sie müssten mir nachweisen, dass Bernhard von Bülows Anspruch auf Deutschlands »Platz an der Sonne« auf den Ideen des Bayreuther Kreises aufbaute und sich daraus legitimierte. Nach meiner Kenntnis war die Argumentation viel komplexer. Man führte Deutschlands Industriemacht ins Feld, seine Bevölkerungszahl, seine militärische Stärke  – und fühlte sich von Großbritannien und Frankreich, den wichtigsten Kolonialmächten, ausgebootet und hintangesetzt. Die Kultur, die Musik, Wagner – das interessierte den Bayreuther Kreis, aber das waren keine Leitpfosten für die Personen, die in der Berliner Wilhelmstraße Politik gemacht und gestaltet haben. Da würde ich sagen: Bitte zeigen Sie mir die Dokumente, die beweisen, dass sie, angeführt von Wagners Posaunen und Trommeln, auf die Welt losgegangen sind! H A N S R . VA G E T   Das ist natürlich absurd. L U C I A N H Ö L S C H E R   Es gibt ein Zeugnis dazu: David Friedrich Strauß, Der alte und der neue Glaube, seit den 1870er-Jahren ein Bestseller. Er führt die Musik, 132 |

allerdings auch die Literatur, als eine spezifisch deutsche Kunst an. Das geschieht nicht nur in Bayreuth. H A N S R . VA G E T   Sie stellen mich viel teleologischer dar, als ich das, glaube ich, in meinen Arbeiten bin. Ich bin viel mehr daran interessiert, rote Fäden ans Licht zu ziehen und Zusammenhänge aufzuzeigen, ohne den Anspruch, dass dem ein teleologisches Denken zugrunde liegt. U T E F R E V E R T   Und ich plädiere dafür, sich im Sinne der Deutungsoffenheit auch an die verschütteten Wagner-Traditionen und -Rezeptionen zu erinnern. Dazu gehören etwa die kritischen Rezensionen eines Adolf Stahr aus den 1850er-, 1860er-Jahren. Das ist meilenweit von dem entfernt, was später zum Mainstream wurde. Aber selbst im Kaiserreich, dessen ganzer Stolz eine Armee war, die auf den Schlachtfeldern Frankreichs den deutschen Nationalstaat vorbereitet hatte, selbst damals gab es nicht nur säbelrasselnde Interpretationen und kulturimperialistische Aneignungen. Auch damit sollten wir uns verstärkt beschäftigen – nicht zuletzt auch um das zu erreichen, was die Lebendigkeit von Bayreuth verbürgt: dass man Wagner neu lesen kann, dass man ihn anders lesen kann und ihn nicht eindimensional-teleologisch verengen muss. H A N S R . VA G E T   Schön. Aber Adolf Stahr hat doch keine Wirkung gehabt. Das Wagner-Bild, das wirklich Geschichte gemacht hat, war das, was hier in Bayreuth ausgeheckt wurde. Natürlich gibt es eine alternative Tradition. Die hat Thomas Mann sozusagen ins Exil hinübergerettet, und die wurde dann von den Remigranten wieder lebendig gemacht. Das ist mir völlig klar. Ich stelle ja die ganze Geschichte der Wagner-Rezeption dar als einen Kampf ums Erbe. Zwei Lager – sehr vereinfacht, aber immerhin – lassen sich deutlich unterscheiden: diejenigen, die Bayreuth hörig waren, und die anderen, die an Paris, an dem französischen Wagner orientiert waren. Das sind grobe Linien, die aber im Großen und Ganzen stimmen. Es ist also nicht so monologisch und teleologisch, wie Sie das bei mir gesehen haben wollen. Ich wehre mich dagegen, dass das teleologisch aufzufassen ist. Ich stelle das dar als einen Kampf um das Wagner-Erbe. Und das bedeutet ja, dass es mindestens zwei verschiedene Interpretationen gibt.

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Freiheit durch Begrenzung »Verbote« in der Musik um 1600 und die Kunst der Entscheidung Klaus Lang

Ein zentraler Aspekt von Musik ist Zeit und Zeitlichkeit, das heißt ihre Erscheinungsweise in der Zeit. Es stellt sich aber die Frage, wie sich dies in konkreten kompositorischen Regeln, Geboten, Verboten niederschlägt, mit denen eine bestimmte Art von Klanglichkeit und Zeitwahrnehmung generiert werden soll. Wenn man sich allgemein mit der Zeit und den wissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt, die sich mit der traditionellen Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft befassen, stellt man fest, dass sich die philologischen, historischen oder hermeneutischen Geisteswissenschaften im Wesentlichen darauf konzentrieren, aus vorhandenen Quellen die Vergangenheit zu rekonstruieren oder zu deuten; die Naturwissenschaften zielen oftmals auf die Zukunft, denn ein Maßstab für die Validität von Hypothesen in Natur­wissenschaften ist es ja, Voraussagen über die Zukunft treffen zu können. Im Gegensatz zu diesen sozusagen »phantastischen« Geistesdisziplinen, die sich einerseits mit der Konstruktion von Vergangenheit oder der Projektion auf die Zukunft beschäftigen, liegt in der Kunst und speziell in der Musik der Fokus auf der sinnlich empirischen Erfahrung von Realität, wie sie sich im Jetzt unseren Sinnen darstellt, also auf Gegenwärtigkeit. Man könnte sagen: Die ambitionierte »Phantastik« der Wissenschaften steht im Gegensatz zum bescheidenen, nüchternen Realismus der Musik. Das, was wir als Musik wahrnehmen, kann man eigentlich nur als Schwingungen von Luft erklären. Und die Geschwindigkeit, also die Zeitlichkeit dieser Schwingungen, bestimmt, was wir wahrnehmen: Tonhöhe, Rhythmus, Klangfarbe et cetera. Wie wir diese verschiedenen Aspekte von Musik wahrnehmen, ist eine Funktion von Zeit. Und wenn Musik nicht als Transportmittel außermusikalischer Inhalte wie zum Beispiel Ideen, Begriffe, 134 |

Emotionen dient, wird ihr eigentlicher Kern erst freigelegt. Musik ist durch das Medium des Klanges wahrnehmbare Zeit; Musik ist hörbar gemachte Zeit. Und Zeit ist dann eben kein bloßer literarischer oder physikalischer Begriff mehr, sie kann als solche direkt erfahren werden. Kunst ermöglicht in dieser Form Erkenntnisse jenseits vom Begrifflichen. Die Frage ist nun, auf welche Weise man komponieren kann, um genau das zu erreichen. Wenn man dieser Frage nachgeht, wird man sehen, dass Komponieren und Kompositionslehre durch eines immer geprägt waren: durch ein komplexes System von Geboten und Verboten, durch Regelhaftigkeit. Ich möchte mich auf den Aspekt des Zeitlichen und die damit verknüpften Regeln konzentrieren und anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert zeigen, wie Gebote und Verbote entwickelt wurden mit der Absicht, ein bestimmtes musikalisch-klangliches Resultat zu erzielen, und zwar sozusagen von der kleinsten Einheit oder klanglichen Struktur bis hin zur großen Form eines Stücks. Das erste Klangbeispiel ist ein Triller. Das Interessante daran ist, dass er einer bestimmten Regelhaftigkeit unterworfen ist, die Girolamo Frescobaldi in einer Sammlung aus dem Jahre 1615 definiert. »Bei Trillern oder Passagen von Sprüngen oder Schritten soll man auf der letzten Note stehen bleiben, weil dadurch verhindert wird, dass man eine Passage mit der nächsten vermischt oder verwirrt.« Das heißt, ein Triller oder jede Form der Verzierung wird als ein Element gesehen, das den gegenwärtigen Augenblick ausschmückt, es wird dem Klang sozusagen hinzugefügt, welcher jetzt gerade da ist. Die Signifikanz dieses kleinen Gebots, wird klarer, wenn man es vergleicht mit dem, was Johann Joachim Quantz in seiner Flötenschule über ein ähnliches Phänomen schreibt, die 100 Jahre später entstanden ist. Ich spiele jetzt noch einmal den Triller von Frescobaldi und danach den Triller, so wie Quantz ihn darstellt.

Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu ­spielen (1752)

Das sind auf den ersten Blick sehr ähnliche Phänomene. Wenn man sich das genauer anschaut, dann sieht man weitreichende Unterschiede, schon in diesem kleinen Modell. Anders als Frescobaldi fordert Quantz, dass der Triller mit der oberen Nebennote beginnt. Das heißt, der Triller beginnt mit einer F r e i h e i t d u r c h B e g r e n z u n g | 135

Dissonanz, mit einem Vorhalt, und das impliziert in der Musiktheorie dieser Zeit, dass der obere Ton des Trillers vorbereitet sein muss. Er kann nicht einfach frei eingesetzt werden, sondern er muss vorbereitet sein, also verbunden sein mit dem vorhergehenden Akkord. Bei Frescobaldi endet der Triller, indem er ganz bewusst stehen bleibt, während bei Quantz der Triller mit einem Nachschlag endet, das heißt mit einer kleinen musikalischen Floskel. Sie dient dazu, das Ende des Trillers mit dem nächsten Akkord zu verknüpfen. Wir ­sehen anhand des Trillers ein vollkommen anderes Konzept von Zeitlichkeit: Bei Frescobaldi geht es darum, eine Verzierung dieses kleinen Augenblickes sozusagen isoliert darzustellen, während mithilfe des Trillers bei Quantz zwei oder drei Akkorde miteinander verknüpft werden sollen, um auf diese Weise eine Richtungstendenz herzustellen. Und das zeigt eine auch in anderen musi­ kalischen Parametern signifikante Veränderung der Regelsysteme zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Innerhalb von 100 Jahren hat sich eine komplett neue Vorstellung von dem entwickelt, was Klang bedeutet. Diese winzige Anweisung zur Ausführung von Verzierungen spiegelt den radikalen Wandel in der Vorstellung von musikalischer Zeit wider. Nach 1700 wird Klang benutzt, um einen direktionalen, teleologischen Fluss von Zeit herzustellen. Das heißt, in diesem kleinen Gebot, wie zu trillern ist, kristallisiert sich der Wandel der Musikästhetik innerhalb dieser 100 Jahre heraus. Das nächste kleine Beispiel, das ich spielen möchte, ist der Anfang des Stabat Mater von Giovanni Pierluigi da Palestrina. Interessanterweise gibt es davon eine Ausgabe von Richard Wagner. Und aus dieser Ausgabe werde ich jetzt ein paar Akkorde spielen. Das Hauptaugenmerk möchte ich nun auf die harmonische Struktur richten. Wir haben hier, in den ersten Takten der Partitur, eine Folge von eigentlich harmonisch miteinander nicht verbundenen Akkorden. Es gibt Akkorde, ohne irgendeine Richtungstendenz. Jeder Akkord in dieser Art von Stilistik kann zu jedem anderen Akkord führen. Als Gegenbeispiel eine Kadenz und eine Sequenz von Quantz. Hier haben wir Akkordfolgen, wo jeder Akkord automatisch in den nächsten Akkord führt. Das heißt, wir haben mithilfe genau dieses Mittels, nämlich der Vorhaltsdissonanz, der Dissonanz, eine regelhafte Akkordfolge, die einen Akkord immer als einen Schritt betrachtet, der zum nächsten Akkord führt. Auf diese Weise wird in der Musik eine Art von Zeitlichkeit etabliert, die es vorher nicht gegeben hat. Denn in der Musik von Palestrina oder seiner Zeit ist es für den Hörer nicht möglich, vorauszusehen, welcher Akkord als nächstes folgen wird, 136 |

Giovanni Pierluigi da Palestrina, Stabat mater (1736), Ausgabe von Richard Wagner (1848) F r e i h e i t d u r c h B e g r e n z u n g | 137

wohingegen in der Musik des Hochbarocks eigentlich für jeden, sobald man in die Quintfallsequenz einsteigt, klar ist, was als Nächstes kommen wird. Durch diese Art von Harmonik wird also eine bestimmte Art von Erwartungshaltung erzeugt, eine Regel etabliert, die den Hörer dazu führt, immer in eine bestimmte Richtung, nämlich nach vorne, zu denken, wohingegen es in der Musik der Renaissance genau diese Regelhaftigkeit nicht gegeben hat, die diese Richtungstendenz erzeugt in der Musik. Man könnte sagen: Beim Beispiel von Palestrina sowie beim Triller von Frescobaldi steht jeder Klang, jeder Akkord für sich selbst; das ist also ein zeitlicher Moment, in dem man sich befindet, wenn man ihn hört. Dahingegen ist die grundsätzliche Vorstellung von Harmonik im 18. Jahrhundert die, dass Musik in eine bestimmte Richtung geht, dass ein Akkord nicht für sich selbst steht, sondern dass der Sinn des Akkordes einfach in dem Eingebunden-Sein in diese Regelhaftigkeit der Akkordprogression liegt. Ein ganz wesentlicher Begriff, der dabei eine Rolle spielt, ist der Begriff der Dissonanz. In den folgenden Beispielen geht es um die Frage, was Freiheit und Strenge im Kontext der beiden Begriffe »Dissonanz« oder »Konsonanz« bedeutet. Sie stammen aus der Zeit um 1600 und sind eigentlich Orgeloder Cembalo-Stücke. Beide Stücke sind von Girolamo Frescobaldi um 1600 komponiert und sie unterscheiden sich fundamental voneinander. Das zweite Stück heißt: Ricercar ottavo, obligo di non uscire mai di grado, übersetzt: das achte Ricercar mit der Regel oder dem Verbot, dass man keine Sekundschritte verwenden darf. Frescobaldi gibt sich darin selbst die Regel, ein Stück ohne Sekundschritte zu komponieren – was insofern interessant ist, als der Sekundschritt das Ideal der Fortschreitung im 16. Jahrhundert war.

Girolamo Frescobaldi: Ricercar ottavo, obligo di non uscire mai di grado, aus: Toccate e partite d’ intavolatura, Libro 1 (1615)

Er komponiert hier ein Stück, das die fundamentalste Bewegungsrichtung des 16. Jahrhunderts auslässt, nämlich die Sekundschritte. Das andere Stück ist Frescobaldis Toccata ottava di durezze e legature, eine Komposition, die »­durezze e legature«, also Dissonanzen und Überbindungen, als zentrales musi­kalisches Merkmal hat. 138 |

Girolamo Frescobaldi: Toccata ottava di durezze e legature, aus: Toccate e partite d’ intavolatura, Libro 1 (1615)

Frescobaldis Toccata mit den Dissonanzen wirkt auf uns als etwas sehr Freies, Vagierendes, Unvorhersehbares. Die beiden Stücke sind genau an den entgegengesetzten Rändern der Ästhetik der Zeit: das eine bezieht sich hauptsächlich auf Dissonanzen, und das andere im Wesentlichen auf das nicht Verwenden von Sekundschritten. Eine Dissonanz im 16. Jahrhundert zu verwenden, bedeutet, dass eine Stimme in eine bestimmte Richtung fortgeführt werden muss. Der Komponist ist extrem gebunden: Die Dissonanz muss vorbereitet werden und in eine bestimmte Richtung weiterführen. Das ist das Interessante an dem Ricercar : Da keine Sekundschritte erlaubt sind, entsteht auch keine einzige Dissonanz. Alle Klänge sind reine Konsonanzen. Dabei lässt sich die Beobachtung machen, dass der Komponist durch die strenge Regel, nur Konsonanzen zu verwenden, extrem frei ist. Er kann völlig ungebunden von jedem Akkord zum nächsten wechseln, während er in dem dissonanten Stück, der Toccata, die uns so frei erscheint, eigentlich extrem gebunden ist. Denn nach den Regeln der Kompositionstechnik dieser Zeit bedeutet Dissonanz eben, dass man nicht frei ist, sondern in eine bestimmte Richtung gehen muss. Das führt mich zu der allgemeinen Beobachtung, dass die Begriffe »Konsonanz« und »Dissonanz« eigentlich immer nur Definitionsfragen sind. Was ist eine Konsonanz? Was ist eine Dissonanz ? Diese Grundregel für die Musik über Jahrhunderte ist etwas, was angesichts der Geschichte völlig relativ erscheint. Es gibt in unserer westlichen Musikkultur drastische Wechsel von dem, was man als Konsonanz und was man als Dissonanz empfunden hat. Wenn man andere Kulturen betrachtet, sieht man wiederum völlig andere Vorstellungen davon. Wie könnte man diese zentralen Kategorien in der Musik allgemeiner definieren und nicht nur über die Frage, welche Intervalle erklingen? Man könnte Dissonanz auch als einen musikalischen Zustand definieren, in dem man eben nicht frei ist, sondern in eine bestimmte Richtung gehen muss. Das heißt, Stimmen oder Akkorde mit Dissonanzen sind unfrei im Gegensatz zu F r e i h e i t d u r c h B e g r e n z u n g | 139

den konsonanten. Genau diese Hierarchisierung des Tonraums in freie und unfreie Zustände kann somit nicht nur auf Dissonanz und Konsonanz angewendet werden, sondern kann als eine wesentliche, grundsätzliche Vorstellung davon dienen, wie man eine musikalische Einheit etabliert. Das Konzept von Dissonanz und Konsonanz erzeugt eine Hierarchie oder eine Polarität von Klängen. In der Musik des 17. Jahrhunderts resultiert daraus Bewegung: das Fortschreiten aus einem statischen in einen bewegten Zustand oder umgekehrt aus der Spannung der Dissonanz in die Ruhe. Ein Künstler oder seine Generation entwickeln dieses Regelwerk aus Prinzipien, Verboten und Geboten bewusst oder unbewusst weiter. Und diese Regeln werden in der Folge als natürlich bezeichnet. Aber Klang an und für sich hat keine ihm innewohnende Bedeutung oder Richtungstendenz. Bedeutung kommt einzig und allein aus dem definierten System von Geboten und Verboten. Musik ist überhaupt nichts Universelles oder Allgemeingültiges. Die Bedeutung von Klängen stammt aus der Hierarchie von Geboten und Verboten, die einem musiktheoretischen System immanent sind. Erst durch Gesetze und Verbote wird in einem musikalischen Kontext Freiheit wahrnehmbar. Wenn wir zurückkehren zu der Musik aus dem 16./17. Jahrhundert, könnte man sagen, dass die Funktion von Dissonanz ist, Bewegung zu generieren. Später wurde sie dann als Teil der musikalischen Rhetorik als ein Werkzeug benutzt, um außermusikalische Inhalte zu transportieren. Das Interessante ist, dass die beiden Stücke von Frescobaldi schwerlich einem bestimmten, gleichen Stil oder Komponisten zugeordnet werden können. Ein weiterer Aspekt von Regelhaftigkeit von Musik, von Kontrapunktik ist: Bei einer Musik, die sehr stark einer Regelhaftigkeit unterliegt, geht es im Gegensatz zur späteren Musik eben nicht um den Ausdruck der Persönlichkeit des Komponisten, sondern um die Darstellung von klanglichen Phänomenen. Es geht auch nicht um eine utopische, transzendente Situation oder den Ausdruck einer Subjektivität, wie man sie im Kontext der Musik des 19. Jahrhunderts erfährt, sondern ganz im Gegenteil: Dadurch dass sich die Musik diesen strengen Regeln unterwirft, ist sie genau das, was sie ist. Sie ist Klang. Und eben das ist es, was man wahrnimmt, wenn man diese Musik hört. Man ist in diesem Moment des Hörens, in dem Moment der Gegenwärtigkeit bei dem Klang. Denn der Klang führt nicht von sich weg, sondern ist nur in sich selbst.

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Das Verbotene suchen Gibt es noch »Vorschriften« in Neuer Musik ? Ly d i a J e s c h k e

Tatsächlich sieht man sie immer seltener: die Klassiker unter den Beschränkern unserer Alltagswelt. Dass das Rasen Betreten verboten sei, mutet heute offenbar selbst vielen Stadtgartenhütern oder Schlossverwaltern überholt an, spießig irgendwie und im falschen Sinne exklusiv. In dieser Hinsicht ist die Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten offener geworden. Das Übertreten zumindest der Rasenkante scheint mehr oder minder konsensfähig (obwohl Amazon für Notfälle noch immer verschiedene solche Schilder im Angebot hat). Was nach dem Betreten passiert, ist damit allerdings noch nicht gesagt. Ist dann, einmal auf der Rasenfläche angekommen, tatsächlich alles erlaubt? Federballspielen oder sogar Fußball? Picknick oder auch Grillen? Herumsitzen oder Zelten? »Kunstwerke beantworten keine Fragen«, hat Leonard Bernstein einmal gesagt, »sie verursachen sie.« Und tatsächlich sind es die Werke der Neuen Musik, die mich zu diesen »Rasen«-Fragen nach den ausgesprochenen und vielleicht unausgesprochenen Verboten führen. Das liegt, wenn man dem Kulturphilosophen Boris Groys folgt, schon in der Definition der Sache. Das Neue, sagt Groys, entsteht, wenn sich die Perspektive ändert, wenn alte Regeln plötzlich nicht mehr gelten. Das kann zu spektakulären Zusammenstößen führen, zu Provokationen, Protesten, gar zu Skandalen. Erst kürzlich ist ein dickes Buch erschienen, in dem die Autorin Anna Schürmer versucht, die gesamte Geschichte der Neuen Musik im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert anhand von Skandalen zu erzählen, aufgereiht sozusagen an der Perlenschnur der Aufreger qua Verstoß gegen die (oder gegen jeweils eine bestimmte) D a s V e r b o t e n e s u c h e n | 141

­Konvention. »Im historischen Rückblick deutet sich an, dass Skandale historische Schwellen und Umbruchphasen vom Alten zum Neuen markieren, wobei die Saalschlachten und Kontroversen als passagere Handlungsmuster interpretiert werden können: sie stellen ›performative Akte dar, über die sich Ordnungen erst etablieren.‹«1 Das scheint mir etwas zu kurz gegriffen. Nicht jeder öffentliche Aufreger ist künstlerisch interessant, und nicht jedes wichtige Kunstwerk war oder ist mit einem Skandal verbunden. Aber man könnte festhalten: Um etwas Neues zu machen, muss ich mich über bestehende Regeln hinwegsetzen. Und Regeln gibt es immer in der menschlichen Kultur, würde jetzt wieder Boris Groys anführen: Regeln und Traditionen, aufgehoben im kulturellen Gedächtnis. »Das Neue ist nur dann neu, wenn es nicht einfach nur für irgendein bestimmtes individuelles Bewusstsein neu ist, sondern wenn es in Bezug auf die kulturellen Archive neu ist. Zu diesem historischen Gedächtnis haben nicht nur der Autor, sondern auch sein Kritiker gleichermaßen Zugang. Deshalb kann man das Neue individuell beurteilen und zugleich eine öffentliche Diskussion darüber führen.«2 Das aber versetzt uns alle in gewisser Weise in die Lage des Schloss- oder Stadtverwalters: Auch wenn es nicht auf dem Schild steht: Welche Rasen­ nutzung finden wir, die Community der Musikhörer und -besprecher, tatsächlich akzeptabel ? Auf die (jetzt zum letzten Mal strapazierte) Grünflächen­ nutzung bezogen, könnten solche differenzierten, aber vielleicht doch nicht wirklich überzeugenden oder durchsetzungsfähigen Auflistungen dabei herauskommen. Sie wären stets lokal und dem jeweiligen Kontext angepasst. Diese begegnete mir zufällig dieser Tage auf dem Weg zu einer Veranstaltung der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Und damit an einem Ort, der vielleicht mehr als irgendein anderer jahrzehntelang das Reglement und sogar so etwas wie einen Verbotskanon der Nachkriegsavantgarde verhandelt hat. Doch das ist längst Geschichte. Die Schilder »Oktavparallelen«, »Wiederholungen« oder auch allgemein »Tonalität verboten« stehen spätestens seit der sogenannten Postmoderne auch in Darmstadt oder Donaueschingen nur noch irgendwo im Archiv herum. Das Akzeptable oder eben auch nicht mehr Akzeptable in der Neuen Musik heute festzustellen  – dabei hilft uns Hörern, immer aufs Neue die Kunst selbst. Denn wir spüren, wenn etwas wehtut, wenn ein Musikstück so weit aus den Erwartungen herausfällt, dass es uns aufregt, stört, die Stirn in 142 |

Falten legt, den Puls erhöht, vielleicht auch einen Fluchtreflex auslöst. Und ich würde noch einen Schritt weitergehen und behaupten: Die Neue Musik ist immer auch darauf aus, genau diese Schmerzgrenze zu erkunden. Heute ist sie es womöglich vielfältiger und bemühter als früher, als für die anerkannte Komponistenzunft oder später zumindest noch für die sogenannte Avantgarde das Reglement noch klarer war. Ein paar Beispiele für diese Suche nach dem (womöglich doch noch immer) nicht Akzeptierten in der Neuen Musik. Sie stammen aus allerjüngster Zeit, und wir bewegen uns dabei, wie schnell klar wird, heraus aus den Kompositionsregeln und mehr oder weniger direkt hinein in die Situation der Aufführung. S c h m e r z g r e n z e 1 :  »DIY or DIE. « Keine Frage: Die Professionalisierung der

Interpreten Neuer Musik befindet sich heute auf einem Gipfelpunkt. Lange vorbei die Zeiten, in denen Musiker, die im klassisch-romantischen Betrieb nicht reüssierten (womöglich weil es ihnen an technischem Können fehlte), sich – so sagte es zumindest die üble Nachrede – auf die Alte oder Neue Musik verlegten. Im Gegenteil: Das spieltechnische Niveau und die Breite der in­ strumentalen und gesanglichen Möglichkeiten sind in den Ensembles und bei D a s V e r b o t e n e s u c h e n | 143

den Solisten, die viel Neue Musik aufführen, vermutlich so hoch wie kaum irgendwo anders. Vieles, das lange als »unspielbar« galt und von Komponisten vielleicht sogar extra so angelegt wurde, wird heute einwandfrei dargeboten. Die Voraussetzungen für neue Stücke sind entsprechend attraktiv. Dagegen kann eigentlich kaum jemand etwas haben. Trotzdem ist es wohl kein Zufall, dass sich zugleich ein anderer, genau gegenläufiger Trend in den Neue-Musik-Festivals beobachten lässt: die vorgeführte Un-Perfektion. Der Komponist oder die Komponistin tritt dabei gern selbst in Erscheinung und macht etwas, was er oder sie offensichtlich nicht besonders gut kann. Der norwegische Komponist Trond Reinholdtsen zum Beispiel singt bei einem Konzert der Darmstädter Frühjahrstagung ein schier endloses, ­melodiös wie textlich ungereimtes Lied über irgendetwas (»Tomorrow I must go to Barcelona, I don’t know what to say …«). In seinem heimischen Wohnzimmer führt er ansonsten mit selbstgebastelten Masken und Puppen die No-­ Budget-»Norwegische Taschenoper« aus dem Stegreif auf und schickt d ­ eren Aufnahmen in die Welt. Die irische Komponistin Jennifer Walshe macht auf der Bühne unbeholfene gymnastische Übungen zwischen musikalischen Einlagen, die polnische Komponistin Jagoda Szmytka betrachtet sich konsequent selbst als Gesamtkunstwerk und begreift ihr geschminktes Dasein auf wie auch abseits der Bühne als Teil des Stücks – und damit auch alles, was sie tut. Auch sie singt gern: DIY or DIE , uraufgeführt beim Festival Eclat 2017, dazu saß sie auf einer großen Schaukel im Glitzer-Ambiente. »Di It Yourself – Or Die«: Es ist ein bestimmter Toleranzgrad, auf dem sich diese trashigen Aufführungen bewegen. Schaffen sie mit dem dilettantisch agierenden Autor eine ironische Distanz oder vielleicht mit Hartnäckigkeit oder einer eigenen Virtuo­sität des Rollenwechsels gar eine eigene Welt mit besonderen Gesetzen? Im Fall von Jagoda Szmytkas Stück blieb das eher zweifelhalft – und ärgerte die Neue-­Musik-Community. »Kunst und Musik sollen eine Manifestation des Lebens sein«, sagt Jagoda Szmytka in ihren Begleittexten und propagiert die künstlerische ­ »Selbst­verwirklichung ohne Autoritäten«. Dada und Fluxus können da, wie auch bei Reinholdtsen oder Walshe, als Vorläufer gelten – allerdings handelt es sich bei den genannten Projekten um Einzelaktionen bestimmter Künstler, die individuell Aspekte aus dem Bereich der Performance in die Musikdarbietung integrieren, weniger um einen Zusammenschluss zu einer »Bewegung« mit wieder eigenen Gesetzen. In Berlin scheint man dieser Tage gleichwohl einen 144 |

Jagoda Szmytka: DIY or DIE . vaudeville in 5 parts with 5 extensions (2017) (Foto: Lydia Jeschke)

inzwischen verbindenden Trend zum Dilettantismus auszumachen, jedenfalls in der Planung des ersten Berliner Festival für aktuelles Musiktheater (BAM ). »Ein Kennzeichen nahezu aller präsentierten Projekte«, schreiben die Veranstalter in der Ankündigung, »bildet die Sehnsucht, die Grenzen herkömmlicher Professionalisierung zu überwinden und traditionelle Berufsbilder zu hinterfragen.« Die Infragestellung der traditionell sortierten Berufsbilder führt uns zu einer zweiten Schmerzgrenze der Neuen Musik, die heutige Komponisten austesten. S c h m e r z g r e n z e 2 :   Genre-Verwirrung. Nicht nur der Kritiker der FAZ , Max

Nyffeler, war aufgebracht, als er über die im Juni 2018 zu Ende gegangene Münchner Biennale für Neues Musiktheater berichtete. »Bei einem Unternehmen, das die herkömmlichen Darbietungsformen erfolgreich unterläuft, komponierte Musik zur marginalen Beigabe macht oder gleich durch maus­ D a s V e r b o t e n e s u c h e n | 145

generierte Lautsprechergeräusche ersetzt, erscheint die Inanspruchnahme des traditionellen Begriffs ›Musiktheater‹ seltsam deplatziert.«3 Und ein Kollege von der Süddeutschen Zeitung lieferte die Definition für diesen »Etikettenschwindel« (Nyffeler) gleich verärgert mit: Für ihn sei »Musiktheater« schließlich immer noch ein von mehreren Instrumenten begleitetes Gesangsstück. Über die Qualität der einzelnen Produktionen in München sagt dies eigentlich nichts aus – es waren sehr interessante darunter. Wohl aber darüber, wie die Arbeiten durch die Nichterfüllung der Erwartungen an das Genre Oper /  Musik­theater erfolgreich eine Schmerzgrenze touchierten. Häufiger noch geschieht dieser Grenzentest, indem Elemente der Popmusik im Rahmen der Neuen Musik auftauchen. Seit den 2000er-Jahren gab es von Olga Neuwirth, Bernhard Gander und anderen zum Teil virtuose Versuche, diese traditionell gut bewachten Genregrenzen anzunagen. Als Idee, könnte man sagen, ist das in der Welt der Neuen Musik angekommen. Zu viele, zu aktuelle oder zu wenig ironisierte oder distanzierte Poppigkeiten können allerdings im Rahmen zeitgenössischer »ernster« Musik noch immer schmerzen. Geschafft hat den Grenzentest der australische Komponist Thomas ­Meadowcroft bei den Donaueschinger Musiktagen 2017 – in einer Vehemenz, die ihn wohl selbst überrascht hat. Sein erfolgreich übertretenes Genre-Verbot im Neue-Musik-Festival: funktionale Musik. Meadowcrofts neues Orchesterstück The News in Music spiegelte die Geschichte der Nachrichten-Jingles in vor allem US -amerikanischen Fernsehsendern. Ein Aufreger, der vor Ort mit ungewöhnlichen Buh-Stürmen und im Nachhinein mit den mit Abstand meisten Klicks im Internet quittiert wurde. Wieder ist es also der Kontext der Aufführung, der offenbar noch immer ungeschriebene Vereinbarungen oder »No-Gos« enthält. Die Suche nach dem Verbotenen kann dabei auch ganz direkt die ­Bedingungen der Rezeption dieser Aufführung betreffen. So bei den Schmerz­ grenzen Nr. 3 bis 5, die die Grundbedürfnisse und die Physis des Konzert­ besuchers angehen. Einfach zusammengefasst sind diese Bedürfnisse üblicherweise Sehen, Hören, Sitzen. S c h m e r z g r e n z e n 3 – 5 :   Sehen, Hören, Sitzen. Einen irritierenden Angriff

auf die Erwartung des Hörers, im Konzert oder Musiktheater die Interpreten auch sehen zu können, unternahm bereits seit den 1950er-Jahren die nur über 146 |

Lautsprecher eingespielte Tonbandmusik. Aber immerhin sah man da noch Lautsprecher und den Aufführungsraum. Weniger ist möglich: Wenn Georg Friedrich Haas heute ein Streichquartett oder Szenen einer Oper schreibt, die komplett im Dunkeln gespielt und gehört werden müssen, irritiert das zunächst die Musiker (beim Einstudieren) und dann auch das Publikum. Als die Regisseurin Sabrina Hölzer das zum Prinzip erhob und eine Serie von »Dunkel­konzerten« konzipierte, erreichten sie Kultstatus. Ähnlich ausgereizt scheinen die dennoch immer wieder unternommenen Versuche, die Schmerzgrenze der physikalischen / physiologischen Hörbarkeit zu erreichen – sei es nach oben oder nach unten. Ein Konzertveranstalter, der den schwedisch-israelischen Komponisten Dror Feiler einlädt, hat eventuell wegen gesundheitlicher Vorschriften und der zu erwartenden Dezibel-Zahl einen Vorrat an Ohrstöpseln bereitzuhalten. Wer den Belgier Antoine Beuger auf das Programm setzt, hört vielleicht eine ganze Weile lang kaum mehr als nichts. Beides ist im heutigen Musikbetrieb absolut repertoirefähig  – und man muss schon etwas mehr aufbieten, wenn man an dieser Grenze noch schockieren will, wie etwa der japanische Performer Vomir, der in einer aggressiven Kombination der Schmerzgrenzen 3 und 4 in einem französischen Neue-­Musik-Festival die Hörer dunkle Plastiksäcke über die Köpfe stülpen ließ, um sie anschließend dauerhaft und sehr laut mit Weißem Rauschen zu beschallen. Und die Sitz- bzw. Aussitzbarkeit? Morton Feldmans in den 1980er-­Jahren entstandenes Streichquartett mit einer Spieldauer von sechseinhalb Stunden schien in diesem Sinne grenzwertig. Heute veranstaltet man Langzeitaufführungen mit ganz anderem Ausmaß als Grenzerfahrungstest, zum Beispiel beim Festival MaerzMusik in Berlin, das »The long now«, das ­Dauer-Konzert, zum Markenzeichen machte und 2018 unter anderem ein 30-Stunden-Konzert von Terre Thaemlitz veranstaltete. »Wir laden Sie ein, Tag und Nacht und Tag mit und in dem ›längsten Album der Geschichte‹ zu verbringen«, hieß es in der Ankündigung für diese Berliner Uraufführung der kompletten Version von Soulnessless. Der künstlerische Angriff auf die Ausdauergrenze des Rezipienten wird hier bereits im Vorfeld zum Marketing-Tool umfunktioniert. Ebenso wie insgesamt das kritische Potenzial des Künstlers bzw. der Künstlerin. Denn die amerikanische Transgender-Komponistin Terre Thaemlitz »kombiniert ­einen kritischen Blick auf Identitätspolitik – Gender, Sexualität, soziale Klasse, Sprache, Ethnizität, Rasse  – mit einer fortlaufenden Analyse D a s V e r b o t e n e s u c h e n | 147

der sozio-­ökonomischen Bedingungen, unter denen Musik gegenwärtig produziert und vertrieben wird.«4 Damit sind wir schon bei einem sechsten und letzten und zugleich besonders aktuellen Schmerzpunkt auf diesem kurzen Ausflug in den zeitgenössischen Musikbetrieb und seine Empfindlichkeiten: S c h m e r z g r e n z e   6 :   Political Correctness bzw. Incorrectness. Auch diesen

Schmerzpunkt haben Komponisten und Komponistinnen aufgespürt – zum Beispiel indem sie in einem Workshop bei den Darmstädter Ferienkursen 2016 vorgerechnet haben, wie verschwindend wenig weibliche Komponisten dort und in anderen Neue-­Musik-Festivals über die Jahre gespielt worden sind. Oder indem der schwarze Musiker und Komponist George Lewis immer wieder auf den weiß-männlich-europäischen Kulturkolonialismus verweist. Allerdings geschehen diese Verweise in aller Regel diskursiv – seltener kompositorisch. Es wird also viel geredet, auch von den Festivalmachern: Ein viertätiges Symposium bei den diesjährigen Ferienkursen widmete sich unter dem Titel »Defragmentation« all diesen Unwuchten im herrschenden Musikbetrieb; ein weiteres thematisierte »Democracy«, ein wieder anderes »Decolonization in music«. Hier geht es weniger darum, was ein Musikstück sagt – oder zu sagen versucht. Das mögliche Verbot liegt bereits davor: In der Entscheidung des Kurators oder Auftraggebers, welcher Komponist (mit welchem Geschlecht, welcher sexuellen Vorliebe, sozialen oder globalen Herkunft, welcher Hautfarbe …) überhaupt etwas sagen darf (oder eben nicht). Auch auf diese Schmerzgrenze des politisch Unkorrekten hin lässt sich komponieren, wie bislang einzelne Beispiele zeigen. Allerdings thematisieren diese konzeptionellen Stücke dann eben auch das Ermöglichen / Kuratieren von Musik und erst in zweiter Linie die Musik selbst. Als Johannes Kreidler 2009 in dem Stück »Fremdarbeit« für einen kleinen Teil seines eigenen ­Kompositionshonorars einen chinesischen Komponisten und einen indischen Programmierer anheuerte, die ihm die dann uraufgeführte Musik komplett erstellten, sorgte das für den erhofften Furor: »Darf der das?!« In seiner Konzert­installation »Free Darmstadt« versuchte Martin Schüttler dieser Tage, die Geschichte der Ferienkurse nicht nur musikalisch aufzuarbeiten, sondern er komponierte sie im politisch korrekten Sinne um: In seinen Collagen aus den in Darmstadt seit 1946 aufgeführten Werken gibt es Gender Equality (also jeweils gleich viele Komponistinnen und Komponisten) und auch kontinen148 |

Martin Schüttler: Free Darmstadt (Foto: Martin Sigmund)

tale Quotenregelungen. Eine interessante Umkehrung des Mechanismus also: Der Musikbetrieb hat das ideell Verbotene praktiziert, und die Komposition thematisiert das durch die nachträgliche Korrektur. Diese Korrektur kann dann wieder sogar ganz praktische Konsequenzen für das Werk haben, wie ein allerjüngstes Beispiel zeigt: Da hatte der Komponist Robert Maximilian Helmschrott in einem Interview zu verstehen gegeben, dass sein brandneues Orgelwerk über den Dreißigjährigen Krieg mit einem integrierten Gedicht gegen die Flüchtlingspolitik Horst Seehofers Position beziehen würde. Die Uraufführung im Ingolstädter Dom, terminiert für den 29. Juli 2018, wurde von Veranstaltern und Kirchenoberen daraufhin kurzfristig abgesagt  – verboten. Ein lokaler Protest war die Reaktion und ein kleines Aufflackern der Debatte um die Freiheit der Kunst in Presse und ­sozialen Medien. Inzwischen sind wir, das ist klar, ziemlich weit weg von dem, was einstmals ein kompositorisches Ge- oder Verbot im Sinne eines tonsetzerischen Regle­ments bedeutete. Dies aufzustellen (oder nicht), bleibt heute jedem Komponisten selbst überlassen. »Publik«, also fürs Publikum offen dargelegt, D a s V e r b o t e n e s u c h e n | 149

wird es meist nicht. Und wo der Betrieb mit äußeren Konventionen winkt, droht oder zum Angriff lockt, entsteht so im Inneren des Komponierens eine große Freiheit des privaten Reglements. Es gibt sie also noch, die Verbote im Zusammenhang mit Neuer Musik. Und zwar, grob sortiert, auf drei Ebenen: Zum einen sind die Kompositionen seismographisch den ausgesprochenen und unausgesprochenen gesellschaftlichen Tabus auf der Spur. Als Werke Neuer Musik sind sie außerdem immer auch damit beschäftigt, alte Reglements zu testen und durch neue, zeitge­ mäßere zu ersetzen. Und als Musik folgen sie, jedes Werk in sich, einer eigenen Ordnung oder Unordnung, einem strukturellen Spiel mit Ge- und Verboten. Was wir als Hörer von all dem wahr- und mitnehmen, was uns anregt oder schmerzt und was wir diskutieren, bestimmt am Ende, wie es weitergeht mit der Rasennutzung respektive der Musikkultur. Zeit, den eingangs nur unvollständig zitierten Satz von Leonard Bernstein noch komplett anzufügen: »Kunstwerke beantworten keine Fragen: Sie verursachen sie; und ihre wesentliche Bedeutung liegt im Spannungsfeld der widersprüchlichen Antwort­möglichkeiten.«5

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DISKUSSION E L E O N O R E B Ü N I N G , F L O R I A N H Ö L S C H E R , Ly d i a J e s c h k e , Klaus Lang, CHARLOTTE SEITHER

LY D I A J E S C H K E   In unseren beiden Statements bewegen wir uns im Inneren

und im Äußeren der Komposition. Ich habe mich vor allem mit dem Drumherum beschäftigt und dem, was unsere Reaktion bedeutet. Beschäftigt dich das als Komponist überhaupt? Wie hoch die Schwellen der Wahrnehmungsmöglichkeiten beim Publikum sind, wie der Kontext ist? K L A U S L A N G   Eher nicht. Doch die Fragen, die du aufgeworfen hast, stellt man sich natürlich. Was ich interessant finde: Vieles, das als Schmerzgrenze definiert wurde, ist es aufgrund des Kontextes, in dem man ein Stück präsentiert. Es gibt in anderen Ländern, in Indien oder in Afghanistan, Stücke, die tagelang dauern, wo die Menschen kommen und gehen, um das anzuhören. Im Kontext traditioneller indischer Musik ist eine 36-stündige Aufführung überhaupt kein Aufreger, sondern eigentlich der Normalfall. LY D I A J E S C H K E   Das könnte heißen, dass ein Komponist genau darüber nachdenkt, was er wo präsentieren will. Wir kommen später noch zu deiner neuen Oper der veschwundene hochzeiter, die in einem bedeutungsvollen Umfeld gespielt wurde: als die erste Uraufführung seit Parsifal bei den Bayreuther Festspielen. K L A U S L A N G   Jeder Komponist entscheidet selbst, in welcher Weise er sich diesen Fragen stellt. Für mich ist interessanter – aber das ist meine persön­ liche Vorstellung davon –, zu überlegen, wie man diese Fragestellungen in eine musi­kalische Struktur transformieren und übersetzen kann, wie man sozu­sagen diesen Konflikt oder diese Situation, in der man sich befindet, einschreiben kann in die Struktur des Stückes und nicht abhängig machen muss von der speziellen Aufführungssituation, in der es stattfindet. LY D I A J E S C H K E   Also würdest du sagen, dass die Strukturen, die du wählst, auch ein Spiegel von etwas sind, das du außerhalb der Musik beobachtest? Verstehst du sie auch als kritisches Moment oder als Kommentar? D I S K U S S I O N | 151

K L A U S L A N G   Genau. In der Uraufführung hier ist natürlich die Tatsache, dass

es bei dem Stück keinen Dirigenten gibt, die Musiker quasi als Individuen einzeln agieren und auch eine bestimmte Art von Freiheit in der Umsetzung der Partitur haben, auch ein Kommentar oder eine Reaktion auf diese Vorstellung von Personenkult, von Ich-Bezogenheit, wie sie rund um Wagner praktiziert wird. Der Punkt ist, dass man eben nicht versucht, an der Oberfläche eine Form von leicht erkennbarer Differenz zu schaffen, sondern dass man Inhaltliches in die Struktur des Werkes hineinschreibt. LY D I A J E S C H K E   Und man merkt es, oder man merkt es nicht. Ist es wichtig, dass man das wieder zurückübersetzt als Hörer? K L A U S L A N G   Ich denke mir alles Mögliche; das alles fließt in die Arbeit ein, und am Ende steht das Stück da. Ich will keinem Hörer oder Seher vorschreiben, was er darin wahrnehmen muss oder soll. Wir haben über diese Mehrdeutigkeit ja schon gesprochen. Ich habe für mich Gründe, und ich kann das in der kompositorischen Struktur nachweisen, aber für mich ist Musik kein Werbemedium, das eine Botschaft vermitteln möchte. LY D I A J E S C H K E   Also du hast nichts gegen die Freiheit der Rezipienten, etwas so oder anders zu deuten oder vielleicht dann auch in 20 Jahren wieder anders zu hören? K L A U S L A N G   Genau, das ist ein essenzieller Bestandteil von Kunst, und – um auf das, was ich vorhin etwa über Frescobaldi gesagt habe, zurückzukommen – die Tatsache, dass ein Stück nicht nur auf eine Weise lesbar ist, dass es eben nicht zu eng an diese ganz privaten Fragen des Komponisten anknüpft, also nicht einen subjektiven Ausdruck des Komponisten suggeriert, ermöglicht ja auch, dass wir heute noch ein Stück hören können, das vor 400 Jahren geschrieben wurde. Aber wir hören es natürlich vollkommen anders. Wir haben keine Vorstellung, wie die Menschen im 16./17. Jahrhundert Musik gehört haben, was das für sie bedeutet hat. Trotzdem hat die Komposition offenbar eine Qualität, die jenseits von diesen sozusagen oberflächlichen Wahrnehmungsphänomenen liegt. Das ist für mich essenziell: Dass es dadurch, dass sie eben keine eindeutige Botschaft hat, möglich ist, sie über Jahr­ hunderte und unterschiedliche gesellschaftliche Situationen hinweg immer noch wahrzunehmen und immer noch etwas daraus zu ziehen, was für uns Bedeutung hat. LY D I A J E S C H K E   Vielleicht könnte man sogar sagen: je weniger eindeutig, desto langlebiger das Stück? 152 |

K L A U S L A N G   Ich denke schon. Das Interessante ist ja auch, wenn man zum

Beispiel an für den Salon komponierte Musik aus dem 19. Jahrhundert denkt, wo es um einen »gefühligen«, scheinbar bekenntnishaften Ausdruck des Komponisten geht, dass die Stücke alle gleichen Mustern folgen. Dass sozusagen die persönlichsten Stücke einander immer am ähnlichsten sind. Dass aber bei hoch komplexen kompositorischen Verfahren wie bei Stücken von Johann Sebastian Bach, wenn man sie hört, nach zwei Noten sofort klar ist: Das ist ganz spezifisch von ihm, obwohl in einem gewissen Sinne ganz wenig von ihm ist, weil ja ein ganz strenger Kompositionsprozess zu diesen Formen geführt hat. Und diese sind dann hörbar. C H A R L O T T E S E I T H E R   Lydia Jeschkes Auflistung der No-Gos ist eine aufschlussreiche und wichtige Analyse. Mir ist anhand der Zusammenstellung nochmals eine Sache bewusst geworden: Die erwähnten Stücke haben eine veränderte Intention, sie wurden nämlich für das allererste Hören geschrieben. Sie gewinnen ihren Impact aus einem Reiz, den der Hörer noch nicht kennt und der damit, dass er ihn kennt, für ein zweites Hören schon nicht mehr ­interessant ist. Mir wird dabei bewusst, dass wir es hier mit veränderten Aufführungsbedingungen zu tun haben, die von vornherein auf eine Art »Einwegkultur« setzen, wie wir sie oftmals bei Festivals erleben. Etwas wird ausprobiert, damit es probiert ist, dann aber ist es auch gut, und niemand interessiert sich mehr dafür. Als Publikum habe ich persönlich nun nicht das Bedürfnis, mir ein Plastiktütenstück ein drittes, viertes und fünftes Mal anzuschauen und zu sagen: »Jetzt möchte ich nach Brüssel fahren, um dort zum 21. Mal die Interpretation dieses Stückes zu erleben.« LY D I A J E S C H K E   Ich muss fairerweise sagen: Ich habe das den Autorinnen und Autoren unterstellt. Bei mir kam es so an. Wenn wir jetzt eine Komponistin hier hätten, würde sie vielleicht sagen: »Ja. Aber ich arbeite weiter an dem Stück, und ich werde mich verändern. Dann wird es sich auch verändern.« Es ist aber vielleicht nicht die Intention des Komponisten oder der Komponistin, dass es nur einmal gespielt werden soll. C H A R L O T T E S E I T H E R   Die Frage, die sich mir stellt: Wie kommt das Bedürfnis zustande, ein Schubert-Streichquartett immer wieder hören zu wollen und dabei nie an den Punkt zu gelangen, an dem die Rezeption dieses Stückes als »schon erledigt« empfunden wird? Und wie verändert es uns als Hörer und als Gesellschaft, wenn das Mehrmals-hören-Wollen eines Stückes in der Konzeption des Stückes vielleicht gar nicht mit intendiert ist? D I S K U S S I O N | 153

LY D I A J E S C H K E   Sie meinen: Man muss den Aufreger beim ersten Mal produzieren, sonst ist das Stück weg aus der Geschichte? K L A U S L A N G   Es gibt ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber. Meine persönliche Haltung ist aber: Das, was mich am Komponieren am meisten interessiert, ist das Komponieren selber und nicht die Aufführung – weder die erste, noch die dritte. Für mich ist sozusagen der Prozess des Komponierens das, was mich am meisten fasziniert und was mich auch dazu bewegt, immer weiter zu komponieren, nicht die Frage, ob das mehrmals gespielt wird. Natürlich freue ich mich, wenn es aufgeführt wird. Es ist auch ganz essenziell für einen Komponisten, zu erleben, wie ein Stück nicht nur in seiner Vor­ stellung, sondern in der Aufführung funktioniert. Ich bin total froh, wenn Stücke mehrmals gespielt werden, aber es ist nicht das, was mich zum Komponieren bringt. E L E O N O R E B Ü N I N G   Möglicherweise hat Schubert ganz ähnlich gedacht darüber wie Sie, Herr Lang. Der Komponist denkt ans Komponieren. Woran sonst? Es ist ja einem Schubert-Quartett durchaus nicht von vorneherein einbeschrieben oder aufgebürdet, dass es noch 200 Jahre später aufgeführt, immer wieder neu und anders interpretiert, immer wieder angehört wird. Die Rezeption eines sogenannten klassischen Repertoirekanons, wie er sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat, ist ja nichts, was in der »Intention« der jeweiligen Komposition angelegt ist. Es ist vielmehr unser Problem, heute, die wir am Ende einer langen Geschichte des Historismus angelangt sind und feststellen müssen, dass uns inzwischen ein Stück Musik aus der fernsten Vergangenheit immer noch etwas zu sagen hat, und zwar scheinbar mehr, als eines, das gestern komponiert wurde. Das ist der Status quo, eine gefährliche und verrückte Situation. Denn einerseits handelt es sich um eine Realität, andererseits um einen Trugschluss oder, besser gesagt: um Betrug. Dieser Situation sind die zeitgenössischen Komponisten heute ausgesetzt. Sie komponieren, wenn sie beim Komponieren nicht nur ans Komponieren denken, sondern an ein Gegenüber, Zuhörer / Publikum / Markt, plötzlich gegen eine Konkurrenz an, die aus toten Kollegen besteht, lauter Gespenster der Vergangenheit. Lydia Jeschkes »sechs Schmerzgrenzen«, die ein Künstler (heute) übertreten muss, um möglicherweise Aufmerksamkeit zu erregen, haben übrigens alle mit einem Gebot bzw. Verbot zu tun, das ebenfalls Teil dieses Historismusproblems geworden ist: dem Originalitätsgedanken. Frescobaldi hatte sich

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dafür sicher noch nicht so interessiert. Schubert aber sehr wohl; und auch schon Quantz, höchstwahrscheinlich. Das Originalgenie tauchte nämlich erst relativ spät auf im 18. Jahrhundert. Dass ein Künstler originell sein und unbedingt etwas ganz Neues, bis dato noch Unerhörtes erfinden sollte, steht in einem krassen Widerspruch zum alten Selbstverständnis der Tonsetzer, die ein Handwerk in Tradition ausübten, das im Wesentlichen das Zusammensetzen von bereits Bekanntem praktiziert. Nichts anderes bedeutet, im Wortsinne, der Begriff »Komponieren«. »Copy and paste« gehörte dazu. Doch seit etwa 1800 stehen alle Kunstschaffenden im Banne des Geniegedankens und unter eben diesem Druck, originell sein zu müssen. Erfreulicherweise gibt es aber auch eine ganze Reihe von Komponisten, die sich diesem Druck entziehen. LY D I A J E S C H K E   Das war in dem Klavierabend von Florian Hölscher1 das Thema: das Übertreten des »Neu-Gebots« durch die Komponisten, die sich auf etwas Altes beziehen. F L O R I A N H Ö L S C H E R   Ich finde die Sorge unangebracht, dass der erste Reiz unseren ganzen Betrieb vernichten könnte, oder die Sorge über diese genannten »Einweg-Werke«. So etwas hat es ja schon relativ lange gegeben. Viele Menschen bewundern die Pelztasse [Le Déjeuner en fourrure] von Meret Oppenheim. Es ist witzlos, eine zweite Tasse oder einen Teller oder eine Schüssel mit Pelz auszukleiden. Das Kunstwerk ist eine Ikone geworden, und sie lebt von der Idee. Heute leben viele Kompositionen auch vom Konzept – viel mehr als von der Ausführung. Hier müssten wir den Werkcharakter genauer anschauen. Doch stellt das nicht unser Tun und auch unsere Profession infrage. Werke, die vom Konzept getragen sind, hat es schon sehr häufig gegeben. Eigentlich könnte ich mir fast vorstellen, dass auch Frescobaldi so gedacht hat, wenn er sagt: »Ich verwende keine Sekundschritte.« Das kennen wir aus der Literatur: Georges Perecs La Disparition, ein Roman, der ohne den Vokal E auskommt. Was mich eher besorgt, ist ein Tabu: dass nämlich insgesamt die Musik und das, was wir als etwas Musikalisches bezeichnen, aus dem Blick gerät. Ich beobachte bei vielen Festivals und Veranstaltern, dass sie sich für alles Mög­liche interessieren, aber nicht für die Musik. Und viele schreiben und tragen das auch noch auf ihren Fahnen. Das bereitet mir wirklich Sorgen. Ich hatte neulich ein sehr schönes Gespräch mit einem Komponisten, der sehr erfolgreich war mit seinen multimedialen Arbeiten. Als ich ihn fragte, ob er ein Stück für mein Ensemble schreiben möchte, sagte er zu, aber mit der Bedingung, dass er ein reines Instrumentalstück schreiben werde. Er habe keine D I S K U S S I O N | 155

Lust, sich um ein Konzept zu kümmern, ein Video zu produzieren, und dann, wenn es ans Komponieren ginge, der Abgabetermin schon überschritten sei. Er wolle nicht mehr schnell etwas zusammenschustern. Er schreibe für uns ein Stück, aber erst in sechs Jahren, und das sei rein instrumental. Ich glaube, dies sind Bewegungen in die eine und dann auch wieder in die Gegenrichtung. Ich habe die Hoffnung, dass sich das auch wieder einigermaßen einpendelt. Aber die Gefahr, dass insgesamt Musik vor lauter multimedialem Divertissement aus dem Blickfeld gerät, sehe ich tatsächlich.

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»der verschwundene hochzeiter« Klaus Lang im Dialog mit Marie Luise Maintz

Die Oper der verschwundene hochzeiter von Klaus Lang wurde am 24. Juli 2018 in einer Inszenierung von Paul Esterhazy bei den Bayreuther Festspielen uraufgeführt. Komponist und Regisseur hatten das Konzept für dieses Werk gemeinsam entwickelt. Ein Gespräch über die Komposition. M A R I E L U I S E M A I N T Z   der verschwundene hochzeiter ist als Oper bezeichnet,

und eines ihrer wichtigen Handlungsmomente ist die Erfahrung von Zeit. Wie stehst du zu der langen Tradition der Gattung? K L A U S L A N G   Eines der ersten Werke der westlichen Operngeschichte ist die Rappresentatione di Anima, et di Corpo von Emilio de’ Cavalieri von 1600. Interessanterweise ist die erste auftretende Figur »Il tempore«, die Zeit. Die »Zeit« als Thema ist ein Angebot, eine Möglichkeit, die Oper zu hören, ohne zu definieren, was ihr Hauptthema ist. In der Entwicklung der Gattung Oper gibt es keine Einheitlichkeit. Alle beziehen sich auf das antike Drama, doch in höchst unterschiedlicher Form. Die Aufgabe jeder Epoche und jedes Komponisten ist, durch die Werke, die komponiert werden, eine neue Definition für die Zeit zu schaffen, in der wir leben. Ein zentraler Aspekt der Gattung ist für mich, dass es um eine unmittelbare Erfahrung auf mehreren Ebenen gleichzeitig geht, um Raum, Licht, Klang, Sprache, also um verschiedenste Kunstformen, die sich gegenseitig tragen oder miteinander konkurrieren, die nicht durch ein entferntes Medium vermittelt werden. M A R I E L U I S E M A I N T Z   Welche Rolle spielt die Erzählung in der Oper? K L A U S L A N G   Sie ist eine Möglichkeit, aber keine unabdingbare Notwendigkeit. Der hochzeiter hat eine greifbare Geschichte, doch es gibt auch andere Stücke ohne klare Handlung. Ich sehe als Aufgabe, mit jedem Stück eine neue Definition der Möglichkeiten zu versuchen. Es gibt heute nicht mehr eine » d e r v e r s c h w u n d e n e h o c h z e i t e r « | 157

kompositorische Baukastenmethode wie im Barock, sondern ich muss jedes Werk formal neu denken. M A R I E L U I S E M A I N T Z   Wie steht der verschwundene hochzeiter innerhalb deiner Werkentwicklung? K L A U S L A N G   Ich möchte einen Vergleich aus der bildenden Kunst wählen. Zwei Genres haben immer eine starke Faszination auf mich ausgeübt: Ein Pol ist die abstrakte Farbflächenmalerei, beginnend mit Mondrian und fortgesetzt in der amerikanischen Tradition, der andere ist die Idee des Stilllebens, die Darstellung von ganz einfachen alltäglichen Gegenständen – sozusagen der Hyperrealismus im Gegensatz zu der totalen Abstraktion. Man könnte sagen, dass in meinen Werken für Musiktheater diese beiden Extreme immer vorhanden sind, so auch im hochzeiter. In diesem gibt es einerseits die Klangräume, die eine Erfahrung von Fülle, von sinnlicher Erfahrung von Klang darstellen. Dem ist die wie ein Stillleben auftauchende Geschichte des einfachen Märchens entgegengesetzt: die extreme Abstraktion gegenüber dieser schlichten einfachen Linearität in der Erzählung. M A R I E L U I S E M A I N T Z   Was ist mit dem Begriff des Dramas als Entwicklungsprinzip einer Handlung, etwa im Hinblick auf die antike Dramentheorie und Architektur eines Theaterstücks? So gibt es Ereignisse größter Intensität, die man als »dramatischen« Moment empfinden kann. K L A U S L A N G   Schön an der Geschichte ist ihre lakonische Qualität. Es gibt den Vorgang der Wanderung und Verwandlung der Figur, diese ist jedoch unspektakulär. Die Oberfläche ist schlicht und simpel, die inneren Vorgänge sind nicht deutlich abgebildet. Die Ungeheuerlichkeit des Eintretens in den zeitlosen Raum findet nach außen durch drei einfache Tänze und ein kurzes Gespräch statt. Die ganze Dramatik ereignet sich subkutan, nicht an der Oberfläche. Dieser Eintritt in die andere Zeit wird als ein Moment komponiert, wo sich die Klangcharakteristik für 30 Sekunden fundamental verändert. Er ist nicht leicht vorhersehbar, kommt aus dem Nichts. M A R I E L U I S E M A I N T Z   Die Sage enthält viele rätselhafte Elemente, die sich nicht auflösen. Interessant ist, an welcher Stelle du die Transformation, den Wechsel in eine andere Zeit platziert hast, nämlich beim Betreten des Hauses des Fremden, nach der Wanderung. Wie kam es zu dieser Entscheidung? K L A U S L A N G   Sie erschien mir am schlüssigsten, sie ist aber auch eine formale Entscheidung im Hinblick auf die Proportionen der Oper. Zu der Frage, wie Erkenntnis zustande kommt, wie man seine Sicht auf die Welt verändert, gibt 158 |

es eine schöne Beschreibung von Robert Musil: Ein Hund mit einem großen Stock im Maul versucht lange, durch eine Tür zu gehen, schließlich rutscht er wie durch Zufall hindurch und steht ganz verdutzt auf der anderen Seite. Der Aufstieg des Hochzeiters ist wie ein langsamer Transformationsprozess, so wie das Drehen des Hundekopfs. Der Hochzeiter stellt Fragen, die dann durch den Eintritt in die neue Zeit in einen Erkenntnisprozess münden. Mein Werk bietet eine Möglichkeit, die Sage zu lesen. Ich möchte kausale Schlüsse aus dem Märchen – etwa, dass der Fall durch die Zeit eine Folge dessen ist, dass der Hochzeiter zu lange tanzt – vermeiden und möglichst nur abbilden. Der Reiz war für mich, die Rätsel der Geschichte aufrechtzuerhalten. Die Oper ist eine Abbildung und Übersetzung in musikalische Kriterien, etwa in Zahlenproportionen, Intervallkonstellationen, Klangfarbenstrukturen, die das Märchen nicht hermeneutisch ausdeuten, sondern eine möglichst klare Darstellung sind. M A R I E L U I S E M A I N T Z   Wie geschieht diese Umsetzung in kompositorische Entscheidungen? K L A U S L A N G   Den inhaltlichen Strukturen entsprechen musikalische: So ist jedem der Räume eine andere Klangstruktur zugeordnet, die einfach erkennbar ist. Die Welt im Dorf ist durch Terzklänge ausgezeichnet, der Weg durch die Natur durch die Schichtung von Teiltonreihen, die Welt des Fremden durch Quinten und Quarten. Beim Eintritt in die Welt des Fremden hört man nurmehr eine komplett andere Klangstruktur, die in sich sehr statisch ist, keine Richtung hat, das ist ganz einfach hörbar: Sobald der Hochzeiter in einen anderen Raum eingetreten ist, klingt die Welt plötzlich ganz anders. Erklärt man die Konstruktion im Detail, so haben alle Zahlenproportionen, die sich auf Tempi oder Rhythmen beziehen, im Raum des Fremden die einfachen Teilungsverhältnisse 1:2:3:4, deren Summe die Zahl 10 ergibt, das Dorf die Zahlen 4 und 3, in Summe 7. Die kompositorische Arbeit übersetzt die Charakteristik der Figur und des Raums in Zahlenstruktur. Solche Prinzipien sind auch in Bewegungsstrukturen, Klangrichtungen und anderen Parametern vorhanden. Übrigens korrespondieren die drei Tänze im Haus des Hochzeiters mit denen des Fremden, die Zahl 3 ist in den Fragen, den Stationen auf der Wanderung enthalten. Den Tänzen liegt eine Sarabande um 1700, also 300 Jahre entfernt, zugrunde. M A R I E L U I S E M A I N T Z   In der Oper ist nicht der Sagentext vertont, sondern du hast einen eigenen Text geschaffen, der einen ganz besonderen Umgang mit » d e r v e r s c h w u n d e n e h o c h z e i t e r « | 159

Sprache darstellt, gipfelnd in den für uns nicht verständlichen Worten des Fremden. K L A U S L A N G   Der Text verweist auf den systematischen Umgang mit Sprache in der Barocklyrik. Indem ich strenge Sprachformen verwende, kann ich diese Prinzipien in Zahlen umsetzen und damit die Verknüpfung mit der Musik herstellen. Zahlen charakterisieren die Zeit, die Harmonik und den Text. Zum Beispiel: Es gibt im ganzen Libretto nur einsilbige Wörter, mit Ausnahme von »hochzeit« und »dreihundert«. Der Text vom Hochzeiter hat entweder dreisilbige oder siebensilbige Sätze, das entspricht den zeitlichen Proportionen 3 : 7, der Teiltonreihe 3 : 5 : 7. Der Fremde hat zehn oder vier Silben und entsprechende musikalische Konstellationen. (»Der Fremde: Ich bin hier fremd, Hochzeiter: Wer bist du?«). Die spezifische Form des Textes ist auch eine Charakteristik der Figur, übersetzt in klangliche Gestalt. Oder: Die Szene im Dorf beschreibt die Wiederkunft des immer Gleichen in der Permutation von einem eingeschränkten Vokabular. Die Sprache ist so klar wie die musikalische Struktur, folgt den gleichen kompositorischen Mitteln. M A R I E L U I S E M A I N T Z   Der Fremde hat eine eigene, für uns unverständliche Sprache. Wann tritt diese auf? K L A U S L A N G   Im Innersten seines Hauses, in der Mitte der Szene offenbart sich sein eigentliches Wesen. Ob er aus Sicht des Hochzeiters verwandelt ist oder dieser selbst, will ich in der Deutung offenlassen. Die Worte sind eine Spiegelung unserer deutschen Sprache, basierend auf einer einfachen Systematik, in der die Häufigkeit der Buchstaben umgekehrt ist, eine ganz simple Geheimsprache. Dass es sich um eine Spiegelung in der Mitte der Oper handelt, ist nicht zufällig. M A R I E L U I S E M A I N T Z   Die Partitur ist strukturiert durch instrumentale Teile, die »weiss« überschrieben sind. Was bedeutet das? K L A U S L A N G   Weiß ist die Summe aller Farben, aller Möglichkeiten, Begriffe wie das weiße Rauschen, weißes Licht ungebrochen alle Farben enthält, umschreiben dies. Der Ansatz ist, mit einem alles umfassenden Klang zu beginnen, aus dem sich wie aus einer Filterung die Szenen und Figuren herauslösen, wie aus einer Nebelfläche ab und zu die klaren Konturen eines Dorfes oder der Natur sichtbar werden. »weiss« sind Räume von einer klanglichen Fülle, die im Widerspruch zu den einfachen und klaren Strukturen der Szenen stehen, die dann jeweils bestimmte Elemente aus dieser Fülle herauslösen.

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M A R I E L U I S E M A I N T Z   In deiner Komposition entsteht ein Kontinuum, in dem

man das Gefühl von Zeit verliert. Es gibt zwar Zäsuren und Übergänge, doch innerhalb der Teile ist ein fließendes Bild vorhanden. Ist hier das Verlieren der Zeit komponiert? K L A U S L A N G   Musik ist in der Lage, den Hörer eine Zustandhaftigkeit erleben zu lassen  – und diese Möglichkeit interessiert mich besonders. Musik kann ein Raum sein, in dem man sich aufhält und nicht die klare, zielgerichtete Linearität verfolgt, die unser Leben heute auszeichnet, wo es um Beschleunigung, Pünktlichkeit geht, immer mehr in immer weniger Zeit zu erledigen. Funktion von Musik ist auch, dass sie eine andere Form von Existenz darstellt. M A R I E L U I S E M A I N T Z   Um einen Bogen zu schlagen, folgt die eigentlich erste Frage am Schluss: Wie bist du auf die Sage des Hochzeiters gestoßen, wie kam es zu der Entscheidung, genau diese zu komponieren? K L A U S L A N G   Vor ganz langer Zeit als Kind habe ich die Geschichte im Sagen­ buch gelesen. Sie blieb immer in Erinnerung. Jetzt war ein wichtiger Zeitpunkt, sie zu fassen und umzusetzen. Denn sie ist äußerst aktuell: Die Auseinandersetzung mit etwas Fremdem, das zu uns kommt, ist momentan das Hauptthema von Politik und Gesellschaft: die Frage, was es bedeutet, wenn man mit dem Fremden konfrontiert ist. Dies ist nun eine Interpretation der Sage: Erst dadurch, dass man sich mit dem Fremden auseinandersetzt, beschäftigt man sich mit sich selbst, dann fragt man, wer man selber ist. Indem der Hochzeiter etwa durch die Natur geht, seine Frage stellt und sich von dem Fremden die Antworten über die eigene Welt holt. Und schließlich ist er dann selber dadurch, dass er etwas gelernt hat, fremd in seiner eigenen Welt. Dies sind Themen, die im Moment für uns real und nah sind. M A R I E L U I S E M A I N T Z   Vielleicht lernt man auch in der Geschichte von den Bienen etwas über den Begriff der Freiheit? K L A U S L A N G   Das Schöne an der Geschichte ist, dass sie keine Weisheit verkündet. Sie wirft den Hochzeiter auf sich selber zurück. Es gibt nicht die Weisheit, die gepredigt wird, sondern nur die, die man selber finden kann, und um die finden zu können, muss man sich fragen, wer man ist. Das Fremde ist das, was einen dazu bringt, sich zu fragen, wer man ist.

» d e r v e r s c h w u n d e n e h o c h z e i t e r « | 161

im gespräch E l e o n o r e B ü n i n g , P a u l E s t e r h a z y, Ly d i a J e s c h k e , K l a u s L a n g

LY D I A J E S C H K E   Unser Thema ist die Oper der verschwundene hochzeiter in all

ihren Facetten. Zudem möchten wir über das Thema »Tabu und Verbot« sprechen. Klaus Lang möchte ich vorab um eine Zusammenfassung der Handlung der Oper bitten. K L A U S L A N G   Die Geschichte selbst ist eine Sage, ein Volksmärchen aus dem Voralpen-Gebiet in Niederösterreich, und spielt in einem Tal. Dort gibt es ein kleines Dorf und einen Hochzeiter, der durch das Dorf geht und alle einlädt, am nächsten Tag zu seiner Hochzeit zu kommen. Dabei begegnet ihm ein Fremder. Und da er in Einladungsstimmung ist, lädt er auch den Fremden ein. Am nächsten Tag findet die Hochzeit statt. Der Fremde kommt tatsächlich, feiert mit und erfreut sich an dem Essen, Trinken und an den Tänzen. Am Ende des Festes ist er so erfreut, dass er von sich aus den Hochzeiter einlädt, in drei Tagen zu seiner eigenen Hochzeit zu kommen und dort mitzufeiern. Als Hinweis darauf, wie er ihn finden könne, gibt er ihm die Anweisung, er solle aus dem Dorf hinaus einfach weiter gehen, und er würde dann schon hinkommen. Es gibt also im Wesentlichen diese zwei Personen. Der Fremde verschwindet dann wieder. In der nächsten Szene geht der frisch Vermählte durch das Tal immer höher hinauf auf der Suche nach dem Weg zur Hochzeit des Fremden. Dort begegnen ihm seltsame Dinge: Als Erstes sieht er eine fette Wiese mit ganz üppigem Gras, auf der aber ganz magere und ausgemergelte Kühe weiden. Er hält kurz inne und wundert sich, was das ist, versteht es natür­lich nicht und geht weiter. Er kommt zum nächsten Ort, schon weiter oben auf eine steinige Heide, wo kaum Gras wächst, aber wo ganz dicke, fette Kühe weiden. Auch dort wundert er sich, was es ist, versteht es aber nicht. Er geht dann weiter und trifft auf einen Platz, wo ein kleines Häuschen steht, in dem es ganz laut brummt und summt. Auch das schaut er an und versteht nicht, was es ist, zieht dann aber eine kleine Lade auf, aus der ganz viele 162 |

Bienenschwärme herauskommen. Nachdem er auch das wieder nicht verstanden hat, geht er weiter und findet das Haus des Fremden, der ihn einlädt, an der Hochzeit teilzunehmen. Teil des Festes sind wieder drei Tänze. Vor den Tänzen sagt der Fremde zum Hochzeiter: »Du sollst gerne tanzen. Aber sei vorsichtig! Tanze ja nicht länger, als die Musik spielt.« Der Hochzeiter aus dem Dorf tanzt also, und er ist so begeistert eingelullt von der Musik, dass er einfach vergisst, mit dem Tanzen aufzuhören, als die Musik endet. Das macht er zweimal und wird jedes Mal von dem Fremden ermahnt: »Vorsicht! Tanze ja nicht länger, als die Musik spielt.« Und der dritte Tanz? Der Hochzeiter schafft es in dem Fall, rechtzeitig aufzuhören. Dann ist die Hochzeit beendet. Der Hochzeiter fragt den Fremden: »Bevor ich jetzt gehe – könntest du mir bitte sagen: Was bedeuten diese dünnen Kühe, die dicken Kühe, die Bienen? Was hat es mit dem auf sich?« Daraufhin erklärt ihm der Fremde: »Die Bienen sind arme Seelen, die befreit wurden durch das Öffnen der Schublade. Die dicken Kühe waren arme Seelen, die schon fast erlöst waren, während die dünnen Kühe arme Seelen sind, die noch lange zu leiden haben.« Er geht den gleichen Weg wieder zurück, findet kaum mehr Bienen. Die dicken Kühe sind weg, aber die dünnen Kühe in der Nähe seines Dorfes sind noch fast vollständig da – so wie am Anfang. Daraufhin kehrt er in sein Dorf zurück und stellt aber fest, dass niemand ihn kennt und dass er niemanden kennt. Er geht in sein Haus, und die Leute, die dort wohnen, kennen ihn nicht, er kennt niemanden, und alle fragen sich: »Wer ist er jetzt?« »Wer bist du überhaupt?« »Was soll das?« Und darauf suchen sie in der Chronik des Dorfes und finden darin, dass vor 300 Jahren ein Hochzeiter drei Tage nach seiner Hochzeit sein Haus verlassen hat und nie wieder zurückgekehrt ist. In dem Augenblick, in dem er diese Geschichte hört, zerfällt der Hochzeiter zu Staub. E L E O N O R E B Ü N I N G   Das ist mithin ein Stoff, der sich auf ein Tanzverbot gründet, das ähnlich irrational und absurd ist, wie, zum Beispiel, im Lohengrin das Frageverbot. Warum soll der Hochzeiter nicht weiter tanzen? Warum soll Elsa nicht fragen? Und wieso sind die Strafen dann so drakonisch und existenziell? Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass diese zweite Hälfte der Story, nämlich der Zeitsprung und das Verschwinden des Hochzeiters, ein bekanntes Märchen ist und zugleich ein Gleichnis, mit einem religiösen Kontext. Es geht im Kern um einen apriorischen Gottesbeweis. Man kennt Sagen wie diese aus Österreich, in anderen Varianten auch aus dem Rheinland und in den nordischen Ländern. Etwa die Bergwerke zu Falun aus den ­Serapions­brüdern von i m g e s p r ä c h | 163

E. T. A. Hoffmann, da verschwindet auch ein Bräutigam, allerdings vor der Hochzeit und auch nur für 50 Jahre, auch er zerfällt zu Staub. Er hatte sich mit heidnischen Mächten eingelassen. Richard Wagner hatte das zu ­einem Li­bretto verarbeitet, das er gar nicht selbst vertonen wollte. Oder: Die Geschichte vom Mönch von Heisterbach, der im 13. Jahrhundert im Sieben­gebirge unterwegs war und zweifelnd über die Ewigkeit und Einzigkeit Gottes nachgrübelt, über das Petruswort: »Tausend Jahre sind vor dem Herrn wie ein Tag.« Er setzt sich auf einen Stein, schläft ein, wacht auf und wandert zurück ins Kloster. Als er sich im Chorgestühl auf seinen Platz setzen will, sitzt da schon ein anderer, und es sind 300 Jahre vorbei. Wie die Zeit vergeht! 3 Tage oder 300 Jahre oder 1000, egal! Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Diese Idee einer Zeitmaschine oder vielmehr, eines göttlichen Zeitmanagements ist etwas, das eigentlich nur in der Zeitkunst Musik unmittelbar dargestellt werden kann. Diesen Aspekt finde ich an der Oper von Klaus Lang ungeheuer faszinierend. Aber ist das überhaupt eine Oper? Da bin ich mir gar nicht so sicher … LY D I A J E S C H K E   Klaus Lang hat beschrieben, wie eine äußerliche Struktur in ein Musikstück hinein wirken kann: Hier geht es um einen Weg hin und zurück, bei der Rückkehr ist dann alles anders, weil man aus der Zeit gefallen ist. In diesem Stück ist der Zuschauer in einem Geschehen, dessen Richtung und Länge nicht vorhersehbar sind, gleichermaßen sowohl in der Musik als auch in der Szene. Es vollzieht eine ästhetische Bewegung, aber auch diese geht hin und zurück. Wenn in der Szenerie des Fremden alles schwarz-weiß wird, verändert sich die Musik, dann geht es wieder zurück. Wir Hörer und Zuschauer sind am Ende nicht zu Staub zerfallen, aber etwas ist anders, weil man diese Erfahrung gemacht hat. Dies ist archetypisch noch in einem anderen Sinne, nämlich in der Frage: Was macht Kunst mit uns? Oder: Was macht hier Musik­theater, was macht so eine Aufführung im besten Falle? Wir gehen hinein, wir erleben etwas, was eine eigene Zeitlichkeit, eine eigene Sphäre hat. Und wenn wir herauskommen, ist es dieselbe Straße wie vorher, auf die wir treten. Aber es hat sich etwas in der Wahrnehmung verschoben. Insofern würde ich sogar noch weitergehen und sagen: Es ist ein archetypisches Stück über Musik, über Aufführung. K L A U S L A N G   Natürlich ist diese Frage von Wahrnehmung von Zeit etwas, was ganz zentral in diesem Stoff eingeschrieben ist, diese verschiedenen Ebenen: die Alltagszeit, dieses Stillstehen und dann das Rasen der Zeit innerhalb von einem Moment, in dem man zu Staub zerfällt. Das war neben den anderen Aspekten der Geschichte der zentrale Punkt, der mich kompositorisch inter164 |

essiert. Ich möchte kurz auf die Frage nach Oper oder Nicht-Oper ein­gehen. Um 1600 entstand die Rappresentatione di Anima, et di Corpo von Emilio de’ Cavalieri, die zu den Gründungswerken der Operngeschichte zählt und von manchen als die erste Oper der Musikgeschichte bezeichnet wird. Dort ist die erste Figur, die auf die Bühne tritt, »Il tempore«, die Zeit. In Cavalieris ­Rappresentatione sind die Allegorien, die Personen, die keine psychologischen Figuren sind, ohne Entwicklungen, wie es auch in dem verschwundenen hochzeiter der Fall ist. Ich stelle hier einen ganz klaren Bezug zu dieser ursprüng­ lichen Vorstellung von Oper her. Und da der Begriff »Oper« unglaublich vielfältig ist und ich zwischen den Opern des späten 19. Jahrhunderts und ­Cavalieri kaum Gemeinsamkeiten finden kann, würde ich auch diese Arbeit als Oper sehen. der verschwundene hochzeiter trägt ganz viele Elemente von Oper in sich – natürlich in einer anderen Form als das Musiktheater des 19. Jahrhunderts. Trotzdem gehört es für mich eindeutig zu dieser Gattungsform. P A U L E S T E R H A Z Y   Lassen Sie mich den Begriff der Originalität aufgreifen. Klaus Lang hat gemeint, dass Originalität keine für ihn wesentliche Kategorie ist. Uns Regisseuren wird im Gegensatz dazu ein eher zwanghaftes Verhältnis zur Originalität unterstellt. Zu sehr stehen wir unter dem Druck, immerzu Neues erfinden zu müssen – übrigens regelmäßig mit dem Ergebnis, erst recht wieder beim Alten zu landen. Bei Uraufführungen scheint mir ohnehin ein besonderes Vorgehen ratsam zu sein. Und so sah ich auch in diesem Fall die Aufgabe weniger in der energischen Interpretation als in der behutsamen Abbildung des neuen Werkes, das meiner Ansicht nach den Oberbegriff »Oper« durchaus rechtfertigt: Oper als Markenzeichen für jenes Opus summum, das als einzige der schönen Künste Idee, Sprache, Klang und Bild zusammenführt und zwar in Zeiteinheit mit dem Publikum. Gemäß dieser Definition wäre der hochzeiter sogar Inbegriff einer Oper. Da bei diesem Stück die Musik alles bestimmt, war der naturgemäße Ausgangspunkt unserer Konzeption, dass sich das Publikum inmitten des Klanges wiederfindet. Ich habe in diesem Zusammenhang bei einem anderen Werk von Klaus Lang den Ausdruck »Hörtheater« gewählt, was in letzter Konsequenz die Aufgabe des Regisseurs ad absurdum führt. Wagners nur halb scherzhaft geäußerte Vorstellung von der »unsichtbaren Bühne« kommt einem dabei in den Sinn. Und tatsächlich beschreiten Bühne und Aktion beim hochzeiter keinen eigenständigen Weg. Wenn die meisten das Sichtbare nicht als Störung, sondern als Hilfe beim Hören empfinden, bin ich schon zufrieden. i m g e s p r ä c h | 165

Parallelen zur Arbeitsweise von Klaus kamen mir auf der Suche nach einem adäquaten Abbild entgegen. Wir teilen zum Beispiel aus ganz unterschiedlichen Gründen eine große Affinität zu Japan und zum japanischen Theater. Als Regisseur beschäftige ich mich von Berufs wegen damit, Zeit zu manipulieren. Die Frage, wie man mit Langsamkeit umgeht und gleichzeitig Langeweile umgeht, ist dabei ein zentrales Thema. Bei Richard Wagner zum Beispiel gibt es immer wieder Stellen, die unser inneres Zeitgefühl als extrem langsam wahrnimmt. Der Regisseur muss einen Weg finden, dieser Langsamkeit szenisch zu entsprechen, indem er sie auflöst oder verstärkt. Das vielleicht einzige Theater, dem es gelingt, auf der Bühne Langsamkeit ohne die Gefahr von Langeweile herzustellen, ist das japanische Nō. Es hat mich immer beeindruckt, wie lang die Ausbildung der Nō-Schauspieler, die meist aus jahrhundertealten Theaterfamilien stammen, dauert – teilweise Jahrzehnte. In den ersten Jahren der Ausbildung lernt ein Nō-Darsteller ausschließlich das Auftreten von links außen über einen Steg hin zur Bühne. Auch wir haben es uns geleistet, tagelang nur die Auftritte des Hochzeiters und des Fremden zu probieren, jeweils nur wenige Meter. Gemeinsam mit unseren Darstellern, den Brüdern Otto und Jiří Bubeníček, haben wir viel Zeit und Geduld investiert. Die beiden haben Jahre lang Hauptrollen im klassischen Ballett getanzt und mir versichert, dass die anderthalb Stunden des hochzeiter körperlich mit zum Anstrengendsten gehörten, was sie jemals gemacht haben. Mit zwei Protagonisten von solch physischer und konzeptioneller Präzision arbeiten zu dürfen, war einer der Glücksfälle dieser Produktion. Erst das hat uns in die Lage versetzt, an die Stelle von Originalität Genauigkeit zu setzen. Wenn man sich bemüht, unerbittlich genau zu sein, ist das nämlich der beste Schutz vor Originalität um jeden Preis. LY D I A J E S C H K E   Wie passt das rein inhaltlich und konzeptionell zur Geschichte von dem hochzeiter? In der Erzählung geht es ja eigentlich um Ungenauigkeit: Der Hochzeiter tanzt länger, als die Musik spielt; das Timing stimmt nicht. Zweimal schafft er es nicht, die Zeitvorgabe einzuhalten. Was heißt das? Ist das ein Misslingen? Löst das eigentlich aus, dass er hinterher einen Sprung über 300 Jahre hinweg macht? Oder rettet er sich gerade noch, weil er es beim dritten Mal dann doch einhält? Statt eines Dirigenten haben wir einen durchlaufenden Zähler des Metrums, die laufende Uhr, die die Musiker steuert: Das ist alles wunderbar exakt. In der Geschichte geht es ja darum, dass es genau an einer Stelle mal nicht stimmt. Wie kommt das zusammen? 166 |

P A U L E S T E R H A Z Y   Beim Inszenieren interessiert mich die Pointe eines Stücks

zunächst gar nicht. Im Gegenteil versuche ich erst während der szenischen Arbeit herauszufinden, was passieren könnte. Ich darf gar nicht sicher sein, dass Carmen am Ende der Oper stirbt. Schon als Ministrant bei der Liturgie in der Karwoche hatte mich das Unausweichliche der immer wieder erzählten Passionsgeschichte gestört, zu wissen, das geht schlecht aus. Es gibt das schöne Buch über griechische Mythologie von Robert Ranke-Graves, der Geschichten immer offen für mehrere Lösungen erzählt: »Manche sagen, Medea habe ihre Kinder ermordet; andere wiederum sagen …« Auch ich erzähle Geschichten gern so, dass die Pointe Nebensache ist. Daraus wird beim verschwundenen hochzeiter Prinzip. Wir erwarten eine Pointe  – aber sie trifft nicht ein. Ein Fremder lädt ein und stellt eine Bedingung: »komm’ in mein haus und iß und trink und tanz – doch nicht zu lang.« Kein psychologisch nachvollziehbares Verbot wie Lohengrins »Nie sollst du mich befragen.« Keine Pointe. Ich vermute, dass die Geschichte aus der Zeit der Gegenreformation stammt, hier also irgendein belehrender Zeigefinger erhoben wird. Aber die theologische Pointe erschließt sich auch nicht – Gott sei Dank. K L A U S L A N G   Das ist genau die Antwort, die ich auch geben würde – dass der Versuch meiner kompositorischen Arbeit die Darstellung dieser Geschichte war, nicht die Interpretation der Geschichte. Das heißt, man hört wirklich das zu lange Tanzen; es ist ja in der Musik da. Der Hochzeiter singt einfach zu lange, ganz banal. Aber es wird nicht bewertet, nicht interpretiert. Es ist einfach da. Was ich auch an dem Märchen so interessant finde: Es gibt die Moral am Ende nicht. Ich weiß nicht, was mir das Märchen eigentlich sagen soll. Das hat mich so fasziniert an der Geschichte: dass sie lauter Fragen eröffnet. Man sieht auch im Libretto, dass ein großer Teil eigentlich aus Fragen besteht und dass das eben das Wesentliche ist. Ich finde, gerade dadurch, dass man die Fragen einfach so darstellt, wie sie sind, dass man sie jetzt nicht überhöht oder verkürzt oder versucht, zu psychologisieren, sondern sie einfach in den Raum stellt, daraus zieht das Märchen für mich die Kraft. Sobald ich anfangen würde, das zu interpretieren, nehme ich dem Märchen das Lebendige. E L E O N O R E B Ü N I N G   Ja, die Geschichte ist am Ende vorbei, aber sie ist keineswegs abgeschlossen. Die Fragen sind immer noch offen. Das verleiht Ihrem Werk eine gewisse Statik, auch aufführungstechnisch. Das Publikum wird von der Musik umfangen, umrundet, denn etliche Akteure, Instrumentalisten und Sänger, befinden sich seitlich und im Rücken des Publikums, sie sind i m g e s p r ä c h | 167

g­ ewissermaßen unsichtbar. Das magische Bildertheater vorne, auf der Bühne, wirkt dagegen dank der Pepper’s-Ghost-Technik so ähnlich wie eine Installation, bewegt und unbewegt zugleich. Das passt, es stört den Zuschauer nicht weiter beim Zuhören. Ich würde also sagen, es handelt sich um eine Kreuzung zwischen einem Ritual, einer Installation, einem Oratorium. Aber von mir aus können Sie es auch gerne Oper nennen. Natürlich hat das Stück auch opernhafte Züge, im traditionellen Sinne, es ist eine Mischung aus allem. K L A U S L A N G   Ja, es heißt ja »Darstellung«, also eben nicht Interpretation, sondern »Rappresentatione«. Das entspricht meiner Haltung sehr. E L E O N O R E B Ü N I N G   Es gibt zwei ganz markante Stellen in dieser Musik, mit Clustern, laut und dissonant. Ich hatte das so verstanden, dass dies die Augen­ blicke sind, in denen wirklich im Zeitreisen-Sinne die Zeit springt  – der ­Zeitsprung. K L A U S L A N G   Dies war die Assoziation von einem Flugzeug, das in den Überschall eintritt und die Schallmauer durchbricht. Das waren die beiden Momente, wo musikalisch deutlich markiert wird: Jetzt sind wir in einem anderen Zeitraum. Plötzlich hört man nur Quinten, es folgt eine völlig andere klangliche Struktur – visuell klar und deutlich übersetzt in das Schwarz-Weiß. Die Musik stellt tatsächlich das dar, was das Märchen transportiert, einen Zeitschnitt. Und diese beiden Blöcke haben natürlich auch eine dramaturgische Funktion in der musikalischen Form, als Wendepunkte: Es sind ja Oktaven mit einem Glissando, und dann ändert sich die Harmonik. Das ist für mich der wesentliche Punkt. Die Musik übersetzt den Inhalt in eine musikalische Form. Und so würde ich alle meine Opern definieren: Sie sind eine Übersetzung der formalen Gestalt der Geschichte in eine klanglich-formale Struktur. P A U L E S T E R H A Z Y   Es gibt da noch eine Parallelität in unserer Arbeitsweise, wobei natürlich ich dem Komponisten folge und nicht umgekehrt er mir, nämlich dass wir eigentlich nur zwei Modi zulassen. Da ist einerseits die strenge Deduktion und Reduktion, also der Versuch, alles über – heute würde man Algorithmen sagen – Kategorien, die man sich vorher erarbeitet hat, zu bestimmen. Andererseits ist aber der totale Zufall mindestens genauso wichtig, der jederzeit eingreifen kann und genauso viel Einfluss auf das Geschehen hat wie die aufgestellte Regel. Und das ist total interessant. Da gibt es diese ­Repräsentation, das erwachsene, ritualhafte Abbilden, aber hinzu tritt eine kindische, sprunghafte Seite der Willkür. Klaus ist ein zutiefst ernsthafter Komponist, aber manche Sachen, die in der Oper vorkommen, sind total 168 |

­witzig, weil sie dem Zufall entspringen. Ein Beispiel: Die beiden Hauptpersonen der Oper heißen »Hochzeiter« und »Fremder«. Wer sich mit der Partitur beschäftigt, stellt fest, dass der eine den Leitton h und der andere den Leitton f  hat, also die beiden Anfangsbuchstaben. Ist das nur ein Wahnsinnszufall? Oder hat der Komponist da nachgeholfen? Strengste Form und völlige Willkür auf engstem Raum. Das macht das Schwere so bezaubernd leicht. K L A U S L A N G   Ich meine, das Schöne an h-f ist ja, dass sozusagen im klassischen Tonsystem der Tritonus die weitest mögliche Distanz darstellt. Das bildet natürlich auch wieder genau diese Situation ab. LY D I A J E S C H K E   Und er ist unendlich spiegelbar: Man kann das Intervall immer wieder nach oben und nach unten spiegeln. Es ist ja auch ein Spiegelkabinett, in dem wir uns befinden: Der Fremde sieht eigentlich so aus wie ein Spiegelbild des Hochzeiters, also eigentlich gar nicht fremd. P A U L E S T E R H A Z Y   Das ist doch das Fremdeste, das es gibt: man selber. Wer meine Inszenierungen kennt, weiß, wie gern ich mit Doubles arbeite, Spiegel­ bildern, Wiedergängern. Das ist so ein Ur-Vergnügen an Täuschung und Selbst­ täuschung. Aber man träumt natürlich vom wahrhaftigen Doppel­ gänger, den man nicht erst mit Kostüm und Maske herstellen muss. Und ich bin der Eingebung dankbar, nach eineiigen Zwillingen zu suchen. Gemeinsam mit den zusätzlichen Vervielfachungen durch die »Pepper’s-Ghost«-Erscheinungen betreten wir das makellose polyphone Spiegelkabinett der Partitur von Klaus Lang.

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Anmerkungen

Wie politisch korrekt muss Kunst in Deutschland sein? 1

Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt 1976, S. 60. 2 Der Tagesspiegel, 9. November 1998. 3 Lucian Hölscher (Hrsg.), Political Correctness. Der sprachpolitische Streit um die nationalsozialistischen Verbrechen, Göttingen 2008. 4 Eugen Gomringers Gedicht avenidas ist inzwischen von der Wand der Alice Salomon Hochschule Berlin-Hellersdorf entfernt und wurde im August 2018 durch ein Werk von Barbara Köhler ersetzt. Im Februar 2019 wurde es an einer Fassade der Wohnungsgenossenschaft »Grüne Mitte« Hellersdorf in der deutschen und der spanischen Version angebracht. 5 Eugen Gomringer, konstellationen, Bern 1953.

»Nie sollst du mich befragen« 1

Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, zweiter Aufzug, vierte Szene. Hier wie bei allen folgenden Textzitaten aus Wagners Libretti zitiert nach: Richard Wagner: Die Musikdramen, Hamburg 1971. 2 Vgl. dazu: Udo Bermbach: Blühendes Leid. Politik und Gesellschaft in Richard Wagners Musikdramen, Stuttgart 2003, S. 117 ff.

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3

Heinrich Mann: Der Untertan, 18. Auflage, München 1978, S. 267. 4 Richard Wagner: Lohengrin, erster Akt, dritte Szene, a. a. O. 5 Richard Wagner: Lohengrin. Musikalische Leitung: Ingo Metzmacher, Regie: Peter Konwitschny. Hamburgische Staatsoper 1998. 6 Siehe dazu: Karl Bosl: Die Gesellschaft in der Geschichte des Mittelalters, 4. Auflage, Göttingen 1984, bes. S. 25 ff. 7 Richard Wagner: Lohengrin, zweiter Akt, dritte Szene, a. a. O. 8 Vgl. Bosl, a. a. O. 9 Das Nibelungenlied, nach der Ausgabe von Karl Bartsch, herausgegeben von Helmut de Boor, 21. Auflage, Wiesbaden 1979, 3. Âventiure »Wie Sîfrit zu Wormze kom«, Strophe 110. 10 Richard Wagner: Lohengrin, erster Akt, zweite Szene, a. a. O. 11 Zu diesen hier nur sehr kursorisch angerissenen Zusammenhängen vgl. Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks, zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart / Weimar 2004. 12 Vgl. Bernd Buchner: Wagners Welttheater. Die Geschichte der Bayreuther Festspiele zwischen Kunst und Politik, Darmstadt 2013. Oswald Georg Bauer: Die Geschichte der Bayreuther Festspiele, Bd. II : 1951–2000, München 2016.

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Vgl. Sven Oliver Müller: Richard Wagner und die Deutschen. Eine Geschichte von Hass und Hingabe, München 2013. 1 4 Vgl. Udo Bermbach: Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker, Stuttgart / Weimar 2015. 15 Vgl. bes. Udo Bermbach: Richard Wagner in Deutschland. Rezeption und Verfälschungen, Stuttgart / Weimar 2011. 16 Ingrid Kapsamer: Wieland Wagner. Wegbereiter und Weltwirkung, Wien 2010. 1 7 Vgl. Detlef Brandenburg: Wahn und Welt. Politische Aspekte der Rezeption von Wagners »Ring des Nibelungen« in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945, in: wagnerspectrum 2006/1, Schwerpunkt: Der Ring des Nibelungen, S. 11 ff. 18 Vgl. dazu auch: Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, Frankfurt am Main 1984. 19 Detlef Brandenburg: Stadttheater zwischen Provinz und Emanzipation. Zur Ideologiegeschichte einer deutschen Theaterform, in: Franz-Peter Kothes (Hrsg.): 100 Jahre Theater Dortmund. Rückblick und Ausblick, Dortmund 2004, S. 28 ff. 2 0 Vgl. Wilfried Mausbach: Zwischen Morgenthau und Marshall. Das wirtschaftspolitische Deutschlandkonzept der USA 1944–1947 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 30), Düsseldorf 1996. 2 1 Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. Peter Longerich: Davon haben wir nichts gewusst! Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006.

2 2

Vgl. Gerd Koenen: Das Rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–77, Köln 2001. 2 3 Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Regie: Patrice Chéreau. Musikalische Leitung: Pierre Boulez. Bühnenbild: Richard Peduzzi. Dramaturgie: François Regnault. Bayreuther Festspiele 1976–1980. Vgl. Jochen Kienbaum: Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976–1980. Eine Untersuchung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk, München / Ravensburg 2001. 24 Giuseppe Verdi: Aida. Regie: Hans Neuenfels. Musikalische Leitung: Michael Gielen. Bühnenbild: Erich Wonder. Dramaturgie: Klaus Zehelein. Frankfurter Opernhaus 1981. 2 5 Den intellektuellen Überbau von Achtundsechzig lieferte die Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, in deren weiterem Umfeld sich neben Adorno alsbald auch weitere künstlerisch denkende Intellektuelle positionierten bzw. in der Rezeption positioniert wurden wie beispielsweise Ernst Bloch oder Hans Mayer. Vgl. Alex Demirović: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999. Thomas A. Mc  Carthy: Ideale und Illusionen. Dekonstruktion und Rekonstruktion in der kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1993. Emil Walter-Busch: Geschichte der Frankfurter Schule. Kritische Theorie und Politik, München 2010. 2 6 Zur genaueren Bestimmung dieses Begriffs siehe: Roger Behrens: Postmoderne, Hamburg 2004. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1988. WolfA n m e r k u n g e n | 171

gang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, 6. Auflage, Berlin 2002. 2 7 Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, München 1992. François Lyotard: La Condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979. Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, 3.  Auflage, Tübingen / Basel 2010. 2 8 Vgl. Aufbruch zur »Zweiten Moderne«. Interview mit Peter Ruzicka, in: Die Deutsche Bühne. Das Theatermagazin, 1983/3, S. 30. 2 9 Von der großen Verdumpfung. Interview mit Michael Merschmeier, in: Die Deutsche Bühne. Das Theatermagazin, 1997/7, S. 19. 30 Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Bayreuther Festspiele 1994–1998. Regie: Alfred Kirchner. Ausstattung: rosalie. Musikalische Leitung: James Levine. Vgl. Oswald Georg Bauer (Hg.): rosalie – Bilder zum Ring. Bayreuther Festspiele 1994–1998, Stuttgart 2000. 3 1 Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Das Rheingold. Regie: Joachim Schlömer. Ausstattung: Jens Kilian. Musikalische Leitung: Lothar Zagrosek. Stuttgart 1999 / Die Walküre. Regie: Christof Nel. Ausstattung: Karl Kneidl. Musikalische Leitung: Lothar Zagrosek. Stuttgart 1999 / Siegfried. Regie und Dramaturgie: Jossi Wieler und Sergio Morabito. Ausstattung: Anna Viebrock. Musikalische Leitung: Lothar Zagrosek. Stuttgart 2000 / Götterdämmerung. Regie: Peter Konwitschny. Ausstattung: Bert Neumann. Musikalische Leitung: Lothar Zagrosek. Stuttgart 2000. 3 2 Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Regie: Jürgen Flimm. Bühne:

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Erich Wonder. Bayreuther Festspiele 2000–2005. 3 3 Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Regie: Kirsten Harms. Ausstattung: Bernd Damovsky. Musikalische Leitung: Walter E. Gugerbauer und Ulrich Windfuhr. Theater Kiel 1997–2000. Vgl. Andreas K. W. Meyer und Christoph Munk (Hg.): Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen. Eine Kieler Inszenierung 1997–2000, Kiel 2001. 3 4 Eine Zusammenfassung dazu bietet: Karl-Heinz Reuband (Hg.): Oper, Publikum und Gesellschaft, Wiesbaden 2018. 3 5 Ich habe das anhand der Zahlen der Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins ausführlich untersucht. Mein Beitrag wird im Laufe des Jahres 2019 im Rahmen des DFG -Forschungsprojekts »Krisengefüge der Künste. Institutionelle Transformationsdynamiken in den darstellenden Künsten der Gegenwart« in der vom Forschungsinstitut für Musiktheater in Thurnau herausgegebenen elektronischen Zeitschrift ACT . Zeitschrift für Musik & Performance erscheinen. 36 Richard Wagner: Parsifal. Musikalische Leitung: Daniele Gatti. Regie: Stefan Herheim. Bühne: Heike Scheele. Bayreuther Festspiele 2008–2012. 3 7 Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Musikalische Leitung: Kirill Petrenko. Regie: Frank Castorf. Bühne: Aleksandar Denić. Bayreuther Festspiele 2013–2017. 3 8 Richard Wagner: Der fliegende Holländer. Musikalische Leitung: Josep Caballé-Domenech. Regie: Florian Lutz. Raumbühne: Sebastian Hannak. Oper Halle 2016.

Verbotene Oper 1

»Da sitzt ein Mann in Rom beinahe das ganze 16. Jahrhundert hindurch an ein und derselben Stelle, verlässt den Ort, wo er wirkt, sein ganzes Leben lang nicht. Je nach Laune und Beschaffenheit der regierenden Päpste bald gnädig, bald ungnädig behandelt, lebt dieses große Genie still und prunklos, von nichts belohnt als dem Gefühl seines Wertes, im Dunklen. […] Da auf einmal fällt auf ihn ein blendendes Licht, er steht sozusagen in welthistorischer Bedeutung da. Folgendes Ereignis tritt an ihn heran: eine ganze Kunstentwicklung, der vielstimmige Musikstil, droht vernichtet zu werden. Die unkünstlerische Welt, die, die sich draußen im Getriebe der menschlichen Interessen und Leidenschaften bewegt, ist im Begriff, die zahllosen Meisterwerke, die im Laufe der Zeit wie aus einem Geist geboren entstanden sind, nieder zu stampfen und der ewigen Vergessenheit anheim zu geben. Da ergeht an ihn, Palestrina, der Ruf: Rette die Musik! … Die große Stunde findet ihn groß, er schreibt das Werk, das die Rettung bringt. Eine geistige Herkulestat wird vollbracht: auf Machtgebot Schönheit zu erzeugen.« Hans Pfitzner, Palestrina. In: Hans Pfitzner, Reden, Schriften, Briefe. Unveröffentlichtes und bisher Verstreutes. Berlin 1955, S. 26. 2 Günther Metz: Der Fall Hindemith. Versuch einer Neubewertung, Hofheim / Ts. 2016. 3 Ebd., S. 59 f. 4 Joseph Wulf: Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt 1966/83, S. 378. 5 Ebd.

6

Walter Abendroth: Hans Pfitzner, Hamburg 1934, S. 58. 7 Die Musik XXVI /6 (März 1934), S. 413, zit. nach: Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt 2007, S. 9. 8 Fred K. Prieberg: Musik im NSStaat, Frankfurt 1982, S. 10. 9 Bernd Feuchtner: Dimitri Schostakowitsch, Hofheim / Ts. 2017, S. 61 ff. 10 Ulrich Erckenbrecht: Shakespeare Sechsundsechzig. Variationen über ein Sonett, Göttingen 1996. Hier sind 88 Über­setzungen gesammelt, darunter die von Stefan George und Ronald M. Schernikau. 1 1 Venedig 1720. Neuausgabe, übersetzt und herausgegeben von Sabine Rader­macher, Heidelberg 2001. 12 Paul Dessau / Bertolt Brecht: Die Verurteilung des Lukullus, Uraufführung 12. Oktober 1951 an der Staatsoper Berlin. 13 Hanns Eisler: Johann Faustus, Berlin 1952. 1 4 Alexander Abusch: Faust  – Held oder Renegat in der deutschen Nationalliteratur?, in: Die Debatte um Hanns Eislers »Johann Faustus«. Eine Dokumentation, hrsg. von Hans Bunge / Brecht-Zentrum Berlin, Berlin 1991, S. 47–61, hier S. 60. 15 Manuel Bauer: Der literarische Faust-Mythos. Grundlagen – Geschichte – Gegenwart, Stuttgart 2018, S. 324. 16 Theodor W. Adorno: So müsste ich ein Engel und kein Autor sein. Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld, Frankfurt 2003, S. 655. 1 7 Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers »Johann Faustus«, S. 363.

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Wichtige Dokumente der Großen Proletarischen Kulturrevolution, Peking 1970, S. 233. 19 Ebd., S. 240. 2 0 Madeleine Albright: Faschismus. Eine Warnung, Köln 2018, S. 8. 2 1 Platon, Politikos, 292a. 2 2 Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1160a. 2 3 Süddeutsche Zeitung, 26. Juli 2018. 24 Witold Gombrowicz und Dominique de Roux: Gespräche, Pfullingen 1969, S. 95. 2 5 Witold Gombrowicz: Pornographie. Roman (1960), München 2004. 2 6 Witold Gombrowicz: Kronos. Intimes Tagebuch, München 2015. 2 7 Etwa: Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie II . Vorlesungen WS  1962/63, Berlin 2016, S. 514 ff. 2 8 Bernd Feuchtner: Die KlinghofferDebatte, in: Opernwelt-Jahrbuch 2012. Englisch in: Thomas May: The John Adams Reader, Pompton Plains 2006, S. 299–312. 2 9 Mailwechsel des Autors mit Eckhard Stuff, Redaktionsleiter Kulturradio Nachrichten beim rbb, vom 14. 10. 2014. 30 Allan B. Ho und Dmitry Feofanov: Shostakovich Reconsidered. With an Overture by Vladimir Ashkenazy, London 1998, S. 293. 3 1 »Es ist bemerkenswert, dass die ethischen (oder ästhetischen) Gegner der Bourgeoisie in den meisten Fällen deren politischen Determinationen gleichgültig gegenüberstehen, wenn sie nicht überhaupt sich mit diesen verbunden fühlen.  – Umgekehrt vernachlässigen es die politischen Gegner der Bourgeoisie, deren Darstellungen zutiefst zu verurteilen, oft teilen sie diese sogar. Diese Spaltung beim Angriff nützt die Bourgeoisie, sie

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ermöglicht ihr, ihren Namen zu verwischen. Dabei dürfte die Bourgeoisie nur als Synthese ihrer Determinierungen und Darstellungen verstanden werden« (Anm. Barthes). 3 2 »Es kann auch ›wirre‹ Bilder des verlassenen Menschen geben (Ionesco zum Beispiel), das tut der Sicherheit der Essenzen keinen Abbruch« (Anm. Barthes). 3 3 Roland Barthes: Mythen des Alltags, Paris 1957, Frankfurt 1964, S. 126 f.

Das Frageverbot und die moderne Gesellschaft 1

Arne Stollberg, »Hartnäckig auf dem christlichen Standpunkte«: Wagners »Lohengrin« am Ende der absoluten Musik, in: Archiv für Musikwissenschaft, Jg. 65, H. 1, 2008, S. 45–60. 2 Richard Wagner, Eine Mittheilung an meine Freunde, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 4, Leipzig 1872, S. 285-418, Zitat S. 362. 3 Zit. nach Stollberg, S. 53, 48. 4 Ebd., S. 54. 5 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, in: Fichtes Werke, Bd. 2, Leipzig 1911, S. 299. 6 Ute Frevert, Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, München 2013. 7 Zit. nach Stollberg, S. 49.

Frageverbote und Denkverbote i m W a g n e r - K u lt d e s N at i o n a l s o z i a l i s m u s 1

Carl von Ossietzky: Richard Wagner, in: Richard Wagner. Das Betroffensein der Nachwelt. Beiträge zur Wirkungsgeschichte, hrsg. von Dietrich Mack, Darmstadt 1984, S.  163–168. Zuerst in: Die Weltbühne, 21. Februar 1933, S. 282–286.

2

Michael Walter: Hitler in der Oper. Deutsches Musikleben 1919–1945, Stuttgart 2000, S. 132 f. 3 Nach Erik Levi: Music in the Third Reich, New York 1994, S. 191 f., lag die Anzahl der Wagner-Aufführungen in Deutschland in der Spielzeit 1932/33 bei 1 837; in der Spielzeit 1939/40 bei 1 154. 4 Fritz Stern: National Socialism as Temptation. Dreams and Delusions. The Drama of German History, New Haven 1999, S. 147–191. 5 Ossietzky: Richard Wagner. Das Betroffensein der Nachwelt, S. 143. 6 Heinrich Mann: Der Untertan. Studienausgabe, hrsg. von Peter-Paul Schneider, Frankfurt am Main 1991, S. 354. 7 Vgl. die ausführliche Darstellung in Oswald Georg Bauer: Die Geschichte der Bayreuther Festspiele. Bd. I : 1850–1950, Berlin 2016, S. 554–568. 8 Text des Führererlasses in: Michael Karbaum: Studien zur Geschichte der Bayreuther Festspiele (1876–1976), Regensburg 1976. Teil  II : Dokumente und Anmerkungen, S. 121. Künftig: Karbaum II . 9 Vgl. die verdienstvolle, aus den Akten erarbeitete Studie von Stephen McClatchie: Wagner Research as »Service to the People«, in: Music and Nazism. Art under Tyranny, 1933–1945, hrsg. von Michael H. Kater und Albrecht Riethmüller, Laaber 2003, S. 150–169; ders.: Strobel, Otto, in: Cambridge Wagner Encyclopedia, hrsg. von Nicholas Vazsonyi, Cambridge 2013, S. 565 f. 10 Karbaum II, S. 118. 11 Ebd., S. 121. 12 Sebastian Werr: Heroische Weltsicht. Hitler und die Musik, Köln, Weimar, Wien 2014, S. 204. 13 Karbaum  II , S. 122 f.

14

Otto Strobel: Richard Wagner über sein Schaffen. Ein Beitrag zur »Künstlerästhetik«, München 1924. 15 Karbaum  II , S. 119. 16 Artikel »Otto Strobel«, in: Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2007. 1 7 Mc Clatchie: Wagner Research, S. 157 f. 18 Werr: Heroische Weltsicht, S. 198 f. 19 Ebd., S. 198. 2 0 Richard Wagner: Das braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1882, hrsg. von Joachim Bergfeld, Zürich 1975, S.  86. Siehe Bayreuther Festspielführer 1933, Bayreuth 1933, S. 7. 2 1 Karbaum  II , S. 120. 2 2 Ebd., S. 119. 2 3 Im Vorwort zu Band 3 seiner monumentalen Biographie schreibt Newman: »I desire to express my warm thanks for help of various kinds from Dr. Otto Strobel – at once the best-informed and most scrupulous of all Wagner editors, past or present.« Ernest Newman: The Life of Richard Wagner, Bd. III : 1859–1866, London und New York 1940, S. viii. 24 Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017. 2 5 Thomas Mann: Leiden und Größe Richard Wagners, in: Im Schatten Wagners. Thomas Mann über Richard Wagner. Texte und Zeugnisse 1895–1955, ausgewählt, kommentiert und mit einem Essay von Hans Rudolf Vaget, Frankfurt am Main 22005, S. 140. 2 6 Ebd., S. 235. Vgl. die Darstellung des Münchner Wagner-Protests, seiner Vorgeschichte und seiner Folgen in Hans Rudolf Vaget: »Wehvolles Erbe.« Richard Wagner in Deutschland: Hitler, A n m e r k u n g e n | 175

­nappertsbusch, Mann, Frankfurt am K Main 2017, S. 258–294 und 320–323. 2 7 Vgl. dazu besonders das Kapitel »The Master Builder« in Frederic Spotts: Hitler and the Power of Aesthetics, Woodstock und New York 2003, S. 311–385. 2 8 Siehe Vaget: »Wehvolles Erbe«, S. 198 f. 2 9 Vgl. dazu den Abschnitt »Wagner-Gegner im Nationalsozialismus« bei Reinhold Brinkmann: Wagners Aktualität für den Nationalsozialismus, in: Richard Wagner im Dritten Reich. Ein Schloß-­ Elmau-Symposium, hrsg. von Saul Friedländer und Jörn Rüsen, München 2000, S. 121–124; Michael H. Kater: Bürgerliche Jugendbewegung und Hitlerjugend in Deutschland von 1926 bis 1939, in: Archiv für Sozialgeschichte 17 (1977), S. 127–174; ders.: Hitler-Jugend, Darmstadt 2005. 30 Christian von Ehrenfels hatte bereits zum Wagner-Jubiläum 1913 ein Buch veröffentlicht: Richard Wagner und seine Apostaten, Wien und Leipzig 1913. Das Etikett »die neuen Apostaten« bezieht sich auf die jüngsten Erscheinungen, einschließlich der Hitler-Jugend; ders.: Wagner und seine neuen Apostaten, in: Der Auftakt 10 (1931), S. 5–12. Vgl. Werr: Heroische Weltsicht, S. 199 f. 3 1 Vgl. dazu Udo Bermbach: Richard Wagner in Deutschland. Rezeption – Verfälschungen, Stuttgart und Weimar 2011, S. 477–479. 3 2 Siehe Ulrich Konrad, Richard Wagner Schriften (RWS ). Historisch-kritische Gesamtausgabe. Dimensionen und Per-

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spektiven eines Editionsvorhabens, in: wagnerspectrum 1/2014, S. 205–236. 3 3 In London erschien von 1980 bis 2005, getragen von der Londoner Wagner Society, eine einfach Wagner betitelte Zeitschrift, in gewissem Sinn der Vorläufer des Wagner Journal. 3 4 Im Gegensatz dazu hatte das New Grove Dictionary of Music and Musicians keine Bedenken, Otto Strobel einen fair anmutenden Artikel aus der Feder von John Deathridge zu widmen.

Das Verbotene suchen 1

Anna Schürmer, Klingende Eclats. Skandale und Neue Musik, Bielefeld 2018, S. 33. 2 Boris Groys, Über das Neue, Frankfurt a. M. 2004, S. 44. 3 Max Nyffeler, Münchner Biennale: Mehr Theater als Musik, FAZ , 14. Juni 2018. 4 MaerzMusik. Festival für Zeitfragen 16.–25. März 2018, Vorschau Berliner Festspiele (Prospekt). 5 Leonard Bernstein, Erkenntnisse. Beobachtungen aus fünfzig Jahren, München 1983, S. 151.

Im gespräch 1

S. das Programm des Konzertes von Florian Hölscher vom 4. 8. 2018 auf S. 178.

DISKURS BAYREUTH 2018 K u r at o r i n : M a r i e L u i s e M a i n t z

der verschwundene hochzeiter. Oper von Klaus Lang Text von Klaus Lang nach einer österreichischen Sage Auftragswerk der Bayreuther Festspiele URAUFFÜHRUNG am 24. Juli 2018, Kulturbühne »Reichshof« Bayreuth MUSIK ALISCHE LEITUNG Klaus Lang KONZEPT, REGIE, RAUM Paul Esterhazy VIDEO Friedrich Zorn KOSTÜME Pia Janssen DER HOCHZEITER I – DARSTELLER Jiří Bubeníček DER HOCHZEITER II – DARSTELLER Otto Bubeníček DER HOCHZEITER – BASS Alexander Kiechle DER FREMDE – COUNTERTENOR Terry Wey ORCHESTER Ictus Ensemble, Einstudierung: Georges-Elie Octors Chryssi Dimitriou, Flöte / Dirk Deschee­maeker, Klarinette / Amit ­Dubester, Saxophon / Rozanne ­Descheemaeker, Horn / Senne La Mela, Trompete / Charlotte Van Passen, Posaune / Luca Piovesan, Akkordeon / Jean-Luc Fafchamps, Klavier, Harmonium / Gerrit Nulens, Tom De Cock,

Georges-Elie Octors, Schlagzeug / Igor Semenoff, Pieter Jansen, Clara Levy, George van Dam, Violine / Aurélie ­Entringer, Jeroen Robbrecht, Viola / Geert De Bièvre, François Deppe, Violoncello / Géry Cambier, Kontrabass / Wilfried van Dyck, Stage Management / Tom Pauwels, Artistic Advisor / Gerd van Looy, Direktor CHOR Cantando Admont, Einstudierung: Cordula Bürgi Johanna Kapelari, Rebecca Blanz, Ursula Baumgartl, Olga Czerwinski, Raimonda Skabeikaite, Barbara Wincor (­So­pran 1–6) / Justina Vaitkute, Valentina Jerenec, Johanna Zachhuber, Celine Wasmer, ­Anna-Maria Nunzer, Mirjam Künstner (Alt 1–6) REGIEASSISTENZ Felix Schrödinger VIDEOASSISTENZ Loretta Stats TECHNISCHE KOORDINATION Gerd Hess Mit großzügiger Unterstützung durch die Oberfrankenstiftung, die Ernst von Siemens Musikstiftung und die Gesellschaft der Freunde von Bayreuth e. V. Der Kompositionsauftrag wird finanziert durch die Ernst von Siemens ­Musikstiftung.

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Symposium

CLAUDE DEBUSSY

3.–5. August 2018 Verbote (in) der Kunst

Six Épigraphes antiques (1900/14)

Gerhart Baum, Detlef Brandenburg, Ele­onore Büning, Thea Dorn, Paul ­Esterhazy, Bernd Feuchtner, Ute Frevert, Eugen Gomringer, Lucian Hölscher, ­Lydia Jeschke, Klaus Lang, Hans R. Vaget, Feridun Zaimoğlu

Anklänge an B. A. Zimmermann (2018)

KONZERTE Konzert 1: 30. Juli 2018 Dominik Hellsberg, Karl Heinrich ­Niebuhr, Violine Ivan Bezpalov, Viola Margarethe Niebuhr, Violoncello Jendrik Springer, Klavier JOSEPH HAYDN

Streichquartett Hob. III :1 C-Dur, op. 76 Nr. 3 »Kaiserquartett« (1797) KLAUS LANG

schumanns geister. für Streichquartett und Klavier (2007)

ALBERTO POSADAS

LUCIANO BERIO

Wasserklavier (1965) KLAUS LANG

fließende Berge. für Klavier (2015) IGOR STRAWINSKY

Suite italienne für Violoncello und Klavier (1920/33) Konzert 3: 5. August 2018 Sophie Rennert, Mezzosopran Jendrik Springer, Klavier SERGEI PROKOFJEW

Fünf Gedichte nach Anna Achmatowa op. 27 (1916) ERICH WOLFGANG KORNGOLD

Four Shakespeare Songs op. 31 (1937–1941)

DMITRI SCHOSTAKOWITSCH HANNS EISLER

Streichquartett Nr. 4 D-Dur op. 83 (1949)

Lieder nach Bertolt Brecht

Konzert 2: 4. August 2018 Florian Hölscher, Klavier Arthur Hornig, Violoncello

Liederkreis op. 24 nach Heinrich Heine (1840)

ROBERT SCHUMANN

Produktionsassistenz DISKURS BAYREUTH 2018: Helena Rittler Die Abschrift der Gespräche erstellten Helena Rittler und Lena Alfter. Redaktionsassistenz: Lena Alfter

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Gerhart Baum  studierte Rechtwissenschaften in Köln und ist seit 1954 Mitglied der FDP . Er war Bundesvorsitzender der Jungdemokraten, Kommunal­ politiker in Köln, 30 Jahre Mitglied des FDP -Bundesvorstandes – davon neun Jahre als Stellvertretender Bundesvorsitzender. Von 1972 bis 1994 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und gehörte von 1972 bis 1982 – erst als Parlamentarischer Staatssekretär und ab 1978 als Bundesinnenminister – der sozialliberalen Regierung erst unter Willy Brandt, dann unter Helmut Schmidt an. Seit 1994 engagiert Baum sich in der internationalen Menschenrechtspolitik und ist wieder als Anwalt tätig. Sein Engagement galt stets auch der Kultur. Heute ist er unter anderem Vorsitzender des Kulturrates NRW , Vorsitzender des Fördervereins Kunstraum Fuhrwerkswaage in Köln, er war bis 2018 Vorsitzender des Kuratoriums »Musik der Jahrhunderte« in Stuttgart und wirkt als Förderer der Donaueschinger Musiktage. Gerhart Baum erhielt 2008 den Theodor-Heuss-Preis, 2009 den Erich-Fromm-Preis, 2010 den Giesberts-Lewin-Preis der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, 2012 die Silberne Stimmgabel des Landesmusikrates NRW und den Preis der Arnold-Freymuth-Gesellschaft, 2014 den Ehrenring des Rheinlandes und 2017 den Verdienstorden des Landes NRW . Detlef Brandenburg  ist Chefredakteur des Theatermagazins Die Deutsche Bühne, das vom Deutschen Bühnenverein herausgegeben wird. Er studierte Literaturwissenschaft, Philosophie, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte und arbeitete zunächst als Dozent am Institut für Literaturwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität Kiel sowie als freier Mitarbeiter verschiedener Rundfunk- und Printmedien. 1988 ging er zur Fränkischen Landeszeitung nach Ansbach, wo er ab 1989 das Feuilleton leitete, dann als Fachredakteur für Musik, Theater und Kulturpolitik zu den Kieler Nachrichten und schließlich zur Deutschen Bühne nach Köln. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen über Theater, Oper und Kulturpolitik (u. a. »Die Münchener D I E A U T O R I N N E N U N D A U T O R E N | 179

Biennale 1988–2014«), Autor des wagnerspectrums (dort u. a. »Wahn und Welt. Politische Aspekte der Rezeption von Wagners Ring des Nibelungen in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945«, Heft 1/2006) und wirkte in verschiedenen Fachjurys mit (u. a. beim deutschen Theaterpreis DER FAUST , European Opera Competition, Theaterpreis des Bundes, Fonds Experimentelles Musiktheater). Eleonore Büning  wurde in Frankfurt geboren und wuchs in Bonn auf. Sie studierte Musik-, Theater- und Literaturwissenschaft in Berlin sowie Musiktherapie in Hannover. Seit Ende der 1980er-Jahre schreibt sie über Musik und Musikverwandtes. Sie arbeitete unter anderem für die taz, die Weltwoche, den Rheinischen Merkur sowie für den Rundfunk. 1994 trat die promovierte Musik­wissenschaftlerin als Musikredakteurin in das Feuilleton der Zeit ein, von 1997 bis 2017 war sie Musikredakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Darüber hinaus engagiert sie sich seit 2011 als Vorsitzende des Preises der deutschen Schallplattenkritik. Thea Dorn,  geboren 1970, studierte Philosophie und Theaterwissenschaften in Frankfurt, Wien und Berlin und arbeitete als Dozentin und Dramaturgin. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane und Bestseller (u. a. Die Hirn­königin), Theaterstücke, Drehbücher und Essays (u. a. Die neue F-Klasse – Wie die Zukunft von Frauen gemacht wird ), mit Richard Wagner den Sachbuch-Bestseller Die deutsche Seele und zuletzt deutsch, nicht dumpf. Sie moderierte die Sendung Literatur im Foyer im SWR -Fernsehen und kuratierte unter dem Motto »Hinaus ins Ungewisse!« das »forum:autoren« beim Literaturfest München 2012. Der Film Männertreu, zu dem sie das Drehbuch geschrieben hat, wurde 2014 mit dem Deutschen Fernsehpreis als bester Fernsehfilm des Jahres und 2015 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Seit März 2017 ist sie festes Mitglied beim Literarischen Quartett. Paul Esterhazy,  geboren 1955 in Wien, studierte an der Universität seiner Heimatstadt Rechts- und Theaterwissenschaften; 1979 promovierte er zum Dr. jur. Seit 1980 war Paul Esterhazy als Dramaturg in Bielefeld tätig sowie als leitender Dramaturg am Freiburger Theater und am Nationaltheater Mannheim. 1993 bis 1996 war er Chefdramaturg für Oper, Schauspiel und Tanztheater am Staatstheater Darmstadt, 1996 bis 2000 Chefdramaturg der Oper 180 |

Bonn und für die von ihm initiierte international renommierte Reihe »bonn chance! Experimentelles Musiktheater« verantwortlich. 2000 bis 2005 war er Generalintendant des Theaters Aachen. Seit 1996 arbeitet er regelmäßig als Opernregisseur, wobei er sich neben dem Standardrepertoire besonders um Werke des Neuen Musiktheaters bemüht. Seine Inszenierung Weder noch (Verdi: Requiem / Feldman: Neither, 2008 Staatstheater Kassel) wurde für den deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie »Beste Regie Musiktheater« nominiert. 2009 bis 2011 war er Gastprofessor für Musikdramatische Darstellung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Bernd Feuchtner  lebt als freier Autor in Berlin. Zehn Jahre lang war er als Operndirektor und Chefdramaturg in Heidelberg, Salzburg und Karlsruhe tätig, davor 20 Jahre lang einer der profiliertesten Musik- und Tanz­­ Journalisten, als Redakteur bei Tagesspiegel und Opernwelt, frei unter anderem bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, dem HR und SWR tätig. Lehraufträge erhielt er in Frankfurt, Berlin, Heidelberg, Salzburg und Karlsruhe. Buchveröffentlichungen: »… Und Kunst geknebelt von der groben Macht …« Dimitri Schostakowitsch – Künstlerische Identität und staatliche Repression, Kassel 2002; Rudolf Barschai: Leben in zwei Welten, Hofheim 2015; Not, List und Lust – Schostakowitsch in seinem Jahrhundert, Hofheim 2017; Deutschstunde 1968 – Protokolle eines Schülers, Berlin 2018. Ute Frevert  ist seit 2008 Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-­ Gesellschaft und Direktorin am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, wo sie den Forschungsbereich »Geschichte der Gefühle« leitet. Die Historikerin lehrte von 2003 bis 2007 an der Universität Yale. Zuvor hatte sie Lehrstühle für Neuere Geschichte an den Universitäten Bielefeld und Kon­ stanz inne sowie an der Freien Universität Berlin. Ihre Publikationen in den Bereichen der Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte, der Emotionsgeschichte und der Geschlechtergeschichte wurden in zahlreichen Sprachen veröffentlicht. Ute Frevert ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina sowie der British Academy. Sie wurde 1998 mit dem renommierten Leibniz-Preis ausgezeichnet und erhielt 2016 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, da sie »in herausgehobener Weise und im europäischen und internationalen Kontext« über ihre wissenschaftliche Tätigkeit hinauswirkt. D I E A U T O R I N N E N U N D A U T O R E N | 181

Eugen Gomringer,  Kunstschriftsteller und Lyriker, wurde 1925 in Bolivien geboren und wuchs in der Schweiz auf. Während seines Studiums der Nationalökonomie, Kunst- und Literaturgeschichte kam er erstmals mit konkreter Kunst in Form von Bildern von Max Bill in Berührung. Gomringer ist Mitbegründer der Kunstzeitschrift Spirale mit Marcel Wyss und Dieter Rot und gilt als Erfinder der Konkreten Poesie. Seit den 1970er-Jahren führten ihn Vortragsreisen nach Zentral- und Südamerika sowie in die Vereinigten Staaten. Von 1978 bis 1990 lehrte er als Professor für Theorie der Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf, im Jahr 1995 wurde Gomringer zum Honorarprofessor für Ästhetik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Zwickau bestellt. Im Jahr 2000 gründete er das IKKP Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie in Rehau, das auch das Archiv Eugen Gomringer, mit Publika­ tionen von und über denselben, beherbergt. Im Jahr 2008 wurde ihm der Bayerische Verdienstorden verliehen, 2011 erhielt er den Alice Salomon Poetik Preis. Lucian Hölscher  ist Kultur- und Sozialhistoriker und wurde 1948 in Frankfurt geboren. Er lehrte von 1991 bis 2014 Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Universität Bochum. Dort war Hölscher seit 1994 am Aufbau des Instituts für Genozid- und Diasporaforschung beteiligt, dem er seither als Vorstandsvorsitzender verbunden ist. Von 2001 bis 2007 gehörte er als deutscher Fachvertreter für Geschichte der Tuning-Kommission der European University Association an, die die Implementierung des Bologna-Prozesses begleitete, 2002 bis 2011 dem Akademischen Senat der Ruhr-Universität Bochum. 2003 lehrte er als Gast an der Europäischen Hochschule in Florenz, 2007 an der Maison de Science de l’Homme in Paris. Forschungsschwerpunkte sind Religionsgeschichte der Neuzeit, Geschichte der Zukunft und historische Semantik. Neuere Veröffentlichungen: Die Entdeckung der Zukunft (1999), Geschichte der protestantischen Frömmigkeit (2005), Neue Annalistik (2003), Political Correctness. Der sprachpolitische Streit um die nationalsozialistischen Verbrechen (2008). Lydia Jeschke  wurde in Berlin geboren und studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Freiburg i. Br. 1993–1997 war sie am Aufbau des Archivio Luigi Nono in Venedig beteiligt, 1996 promovierte sie mit einer Arbeit über Prometeo von Luigi Nono. Sie hielt Vorträge und Lehrveranstaltungen an verschiedenen Institutionen; Publikationen für Zeitschriften, 182 |

Rundfunkanstalten, CD -Editionen und Buch­verlage vor allem zur Musik des 20./21. Jahrhunderts, Jurytätigkeiten u.a. für die Bundeskulturstiftung und den DAAD . 2002–2005 forschte und lehrte sie an der Freiburger Musikhochschule. Ab 1994 war Lydia Jeschke Mitarbeiterin der Donaueschinger Musiktage, ab 1998 freie Redakteurin für Neue Musik im SWR . 2007/08 übernahm sie die künstlerische Leitung der Konzertreihe Ars Nova des SWR . 2009 wurde sie Redaktionsleiterin Wort/Musik im SWR , 2015 Redaktionsleiterin Neue Musik und Jazz und künstlerische Leiterin SWR JetztMusik beim Eclat Festival Stuttgart. Seit 2001 ist sie außerdem Dramaturgin des Festivals Neue Musik Rümlingen. Klaus Lang  wurde 1971 in Graz geboren und lebt als Komponist und ­Konzertorganist in Steirisch Laßnitz. Seit 2006 hat er eine Professur an der Musikuniversität Graz inne und war 2008 Dozent für Komposition bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Er studierte Komposition, Musik­ theorie und Orgel an der Musikhochschule in Graz. Wichtige Lehrer waren Hermann Markus Preßl, Beat Furrer und Younghi Pagh-Paan. Er konzertiert als Organist mit alter, neuer und improvisierter Musik. Klaus Lang schreibt Werke für verschiedenste Besetzungen, darunter zahlreiche Auftragswerke für Festivals wie Wien Modern, steirischer herbst, IMD Darmstadt, Eclat Stuttgart, Maerzmusik Berlin, Takefu Festival (Japan), Lucerne Festival und Wittener Tage für neue Kammermusik. Einen besonderen Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens stellen seine Musiktheaterarbeiten dar. Ensembles wie das Klangforum Wien, das Arditti Quartett, das Ensemble ­intercontemporain, die Chöre des WDR und des SWR sowie das Grazer Orchester recreation und viele andere haben Werke Klaus Langs aufgeführt. MARIE LUISE MAINTZ  ist Musikwissenschaftlerin und Dramaturgin. Sie studierte in Bonn Musikwissenschaft, Germanistik, Italienisch und promovierte 1994 über die Schubert-Rezeption Robert Schumanns. Als Opern- und Konzert­dramaturgin war sie an der Staatsoper Stuttgart, der Alten Oper Frankfurt, am Staatstheater Darmstadt, der Oper Bonn sowie am Theater ­Aachen tätig. Sie arbeitet als Autorin und Dramaturgin, ist seit 2007 Projektleiterin für Zeitgenössische Musik und Dramaturgie beim Bärenreiter-Verlag Kassel und seit 2017 Kuratorin der Programmreihe »Diskurs ­Bayreuth« der Bayreuther Festspiele. D I E A U T O R I N N E N U N D A U T O R E N | 183

Charlot te Seither  ist als Komponistin bei internationalen Festivals zu Gast wie Wien Modern, Biennale Venedig, ISCM World Music Days ­Tongyeong oder BBC Proms. Als erste Deutsche gewann sie den Ersten Preis im Inter­ nationalen Kompositionswettbewerb »Prager Frühling«. 2009 erhielt sie das Stipendium des Bundeskulturministers für die deutsche Akademie Villa ­Massimo in Rom. Als Composer in Residence lebte und arbeitete sie auch in der Cité des Arts Paris, im Deutschen Studienzentrum Venedig, im ArtLab ­Johannesburg und in der Villa Aurora Los Angeles. Für ihr musikalisches Schaffen wurde sie 2010 mit dem Praetorius Musikpreis des Landes Nieder­sachsen ausgezeichnet. Als Kuratorin wirkt sie in internationalen Jurys und Gremien. Sie ist Mitglied im GEMA -Aufsichtsrat und im Präsidium des Deutschen Musikrats. Charlotte Seither ist Trägerin des Deutschen Musikautorenpreises 2014. Hans Rudolf Vaget,  geboren 1938, ist Professor of German Studies und Comparative Literature am Smith College (Northampton, Massachusetts). Schwerpunkte seiner Forschung sind Goethe, Wagner und Thomas Mann, zu denen er zahlreiche Arbeiten vorgelegt hat. Ehrungen: Thomas-Mann-­ Medaille (1994), Forschungspreis der Alexander von Humboldt Stiftung (2001), Fellow der American Academy Berlin (2012). Vaget ist Mitherausgeber der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns und war von 2005 bis 2013 Mitherausgeber der Zeitschrift wagnerspectrum. Feridun Zaimoğlu,  geboren 1964 im anatolischen Bolu, lebt seit seinem sechsten Lebensjahr in Deutschland. Er studierte Kunst und Humanmedizin in Kiel und schreibt für Die Welt, die Frankfurter Rundschau, Die Zeit und die FAZ . 2002 erhielt er den Hebbel-Preis, 2003 den Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt und 2005 den Adelbert-von-­ChamissoPreis. Im Jahr 2005 war er Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Im selben Jahr erhielt er den Hugo-Ball-Preis und 2007 den Grimmelshausen-Preis, 2008 den Corine-Preis für seinen Roman Liebesbrand, 2010 den Jakob-Wassermann-Literaturpreis und 2012 den Preis der Literaturhäuser. Im Jahr 2015 war er Stadtschreiber von Mainz, und 2016 bekam er den Berliner Literaturpreis. Nach seinen Bestsellern Leyla und Liebesbrand erschien Siebentürmeviertel, der Luther-Roman Evangelio und zuletzt Die Geschichte der Frau. 2016 erhielt Feridun Zaimoğlu die Ehrenprofessur des Landes Schleswig-Holstein. 184 |

Weitere Diskussionsteilnehmer:  Marina von Assel (Direktorin Kunst­ museum Bayreuth), Sven Friedrich (Direktor Richard-Wagner-Museum Bayreuth mit Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-­ ­ Stiftung Bayreuth), Florian Hölscher (Pianist, Professor an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main), Renate L ­ iesmann-Baum (ehemalige Leiterin des Musikreferats im Kulturamt Köln) und Jossi Wieler (Regisseur, ehemaliger Intendant Staatsoper Stuttgart).

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personenregister

Abbatini, Antonio Maria  90 Abendroth, Walter  84 ff., 97, 121 ff., 125, 128 Achternbusch, Herbert  43 Adams, John  81, 98f., 119 Adorno, Theodor W.  72f., 94, 98, 101, 171 Albright, Madeleine  96 Aristoteles 96 Ash, Timothy Garton  38 Assafjew, Boris  97 Bach, Johann Sebastian  47, 82, 116, 153 Baez, Joan  121 Bakunin, Michail Alexandrowitsch  64 Barthes, Roland  101 Baudelaire, Charles  115, 128 Bauman, Zygmunt  39 Becher, Johannes R.  94, 97 Beethoven, Ludwig van  43, 82 Beidler, Franz Wilhelm  125f. Bekker, Paul  115 Benn, Gottfried  82 Berg, Alban  13 Berghaus, Ruth  93 Berlioz, Hector  92 Bermbach, Udo  67 Bernstein, Leonard  141, 150 Beuger, Antoine  147 Biller, Maxim  12 Bizet, Georges  125 Bloch, Ernst  115 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  17 Böll, Heinrich  36 Borchmeyer, Dieter  115

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Brahms, Johannes  130 Brecher, Gustav  84 Brecht, Bertolt  93f., 178 Bruno, Giordano  91 Bubeníček, Jiří  166 Bubeníček, Otto  166 Bulgakow, Michail Afanassjewitsch  48 Bülow, Bernhard von  124, 132 Bush, George W.  98 Busoni, Ferruccio  81 Cage, John  120 Caldara, Antonio  91 Castiglione, Baldassare  90 Castorf, Frank  78 ff. Castro, Fidel  96 Catán, Daniel  100 Cavalieri, Emilio de’  157 Chamberlain, Houston Stewart  67, 113 f., 121 Chávez, Hugo  96 Chéreau, Patrice  71 ff., 76 Christine von Schweden  90 Christo (Christo Wladimirow ­Jawaschew)  31 Clemens IX . 90 Clemens XI . 91 Clinton, Hilary  53 Corelli, Arcangelo  91 Cornelius, Peter  85 Cossmann, Paul  97 Damovsky, Bernd  77 Deinert, Andreas  79 Denić, Aleksandar  79

Dessau, Paul  93, 97 DeVol, Luana  76 Dittrich, Paul-Georg  80 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch  46, 79 Durastante, Margherita  91 Ehrenfels, Christian Freiherr von  116 f. Eichendorff, Joseph von  69 Eisler, Hanns  92, 94 f., 97 Farid Bang (bürgerlich Farid Hamed El Abdellaoui)  1, 6, 11 Fehling, Jürgen  84 Feiler, Dror  147 Feldman, Morton  120, 147 Felsenstein, Walter  94 Feuerbach, Ludwig  64 Fichte, Johann Gottlieb  48, 105 Filbinger, Hans  71 Flesch, Hans  82 Flimm, Jürgen  76 f. Floyd, Carlisle  100 Fontane, Theodor  47 Franco, Francisco  96 Freeman, Betty  52 Frescobaldi, Girolamo 135 f., 138 ff., 152, 154 f. Friedrich, Götz  72 Furtwängler, Wilhelm  68, 82 f. Gander, Bernhard  146 Gauland, Alexander  12, 97 Gelb, Peter  99 George, Stefan  88 Gielen, Michael  13, 171 Gierster, Hans  93 Girnus, Wilhelm  97 Giuliani, Rudy  119 Goebbels, Joseph  20, 82 f., 112 f. Goethe, Johann Wolfgang von  46, 48, 94 Gojowy, Detlef  97

Gombrowicz, Witold  97 f. Gomringer, Eugen  1, 10 f., 15 f., 20, 24–31, 170, 178, 181 Gomringer, Nortrud  21 Goodman, Alice  99 Grimm, Jacob und Wilhelm  5 Grimmelshausen, Hans Jakob ­Christoffel von  5 Groys, Boris  141 f. Günther, Hans F. K.  114 Guthrie, Woody  121 Haas, Georg Friedrich  147 Händel, Georg Friedrich  91 Handke, Peter  8 Hanslick, Eduard  130 Harms, Kirsten  77 Haydn, Joseph  43, 82, 178 Heinrich I . 57 Heitmann, Steffen  18 Helmschrott, Robert Maximilian  149 Herheim, Stefan  78 Herz, Rudolf  19 Herzog, Roman  37 Hiller, Antonie  85 Hiller, Ferdinand  85 Hindemith, Gertrud  82 Hindemith, Paul  81 ff., 86 Hitler, Adolf  8, 67, 81, 83, 96 f., 108 ff., 121 f., 125 ff., 171 Hoffmann, E. T. A.  92, 164 Hölscher, Florian  155 Hölzer, Sabrina  147 Horenstein, Jascha  84 Horthy, Miklós  96 Humboldt, Alexander von  132 Innozenz XII . 91 Jenninger, Philipp  18 Julius II .  89 f. Jung, Carl Gustav  68

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Kandinsky, Wassili  21 Kapsamer, Ingrid  68 Keldysch, Juri  97 Kilian, Jens  75 Kippenberger, Martin  8 Kirchner, Alfred  75 Kleiber, Erich  84 Klemperer, Otto  84, 91 Knappertsbusch, Hans  123 Kneidl, Karl  75 Kohl, Helmut  18, 74 Kollegah (bürgerlich Felix Antoine Blume)   1, 6 f., 10 f. Konwitschny, Peter  59, 75, 83 ff. Korngold, Erich Wolfgang  100 f. Kosky, Barrie  131 Kraft, Zdenko von  126 Kreidler, Johanne  148 Kwast, James  85 Lachenmann, Helmut  36, 52 Landi, Stefano  90 Lenin, Wladimir Iljitsch  29, 95 Lentz, Michael  25 Levi, Primo  95 Levine, James  75 Lewis, George  148 Ludwig II . 113 Lula da Silva, Luiz Inácio  96 Luther, Martin  5 f., 94 Lutz, Florian  80 Mallarmé, Stéphane  22 Mann, Heinrich  57, 60, 65, 110 Mann, Thomas  12, 47, 69, 115, 123, 127, 130, 133, 171, 175, 184 Mao Tse-tung  95 f. Marcello, Benedetto  92 Marcellus 92 Márquez, Gabriel García  100 Marx, Karl  64, 87, 95 Mayer, Hans  22, 72, 171 Meadowcroft, Thomas  146

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Medici, Giuliano di Lorenzo de’  90 Merschmeier, Michael  74 Metternich, Joseph  57 Michelangelo Buonarroti  89 f. Morabito, Sergio  75 Morgenthau, Henry  71 Mozart, Wolfgang Amadeus  48 Mugabe, Robert Gabriel  96 Müller-Marein, Josef  86 Münzer, Thomas  94 Musil, Robert  159 Mussolini, Benito  96 Müthel, Lothar  82 Nel, Christof  75 Neuenfels, Hans  13, 72, 171 Neumann, Bert  75, 79 Neuwirth, Olga  146 Newman, Barnett  13 Newman, Ernest  115 Nietzsche, Friedrich  115, 117, 128 Nyffeler, Max  145 Oppenheim, Meret  155 Orbán, Viktor  39 Ortega Saavedra, José Daniel  96 Ossietzky, Carl von  108 ff. Palestrina, Pierluigi da  81, 91 f., 136 ff. Pärt, Arvo  99 Pasternak, Boris  87 Perec, Georges  155 Pfitzner, Hans  81 f., 84 f., 91 f., 97, 122 f. Pfitzner, Mimi  85 Pius IV . 92 Platon 96 Polybios 96 Preetorius, Emil  68 Prieberg, Fred K.  86 Pringsheim, Alfred  130 Prokofjew, Sergej  93, 178 Proudhon, Pierre-Joseph  64 Puccini, Giacomo  125

Quantz, Johann Joachim  135 f., 155 Rajk, László  94 Ranke-Graves, Robert von  167 Reinholdtsen, Trond  144 f. rosalie (bürgerlich Gudrun Müller)  75, 77 Rosenthal, Philipp  21 Rossini, Gioachino  125 Rousseau, Jean-Jacques  96 Salomon, Alice  15 f., 20 ff., 170, 182 Sarrazin, Thilo  39 Schdanow, Andrei Alexandrowitsch  93, 178 Scherchen, Hermann  93 Schernikau, Ronald M.  88 Schlömer, Joachim  75 Schönberg, Arnold  13, 46, 81, 86, 101 Schopenhauer, Arthur  65 Schostakowitsch, Dmitri  48, 81, 86 ff., 93, 98 f. Schröder, Gerhard  18 Schubert, Franz  153 ff. Schumann, Robert  85, 92 Schürmer, Anna  141 Schüttler, Martin  148 Seeger, Pete  121 Seehofer, Horst  149 Shakespeare, William  46, 87, 124 Sharon, Yuval  128 Slánský, Rudolf  94 Staeck, Klaus  71 Stahr, Adolf  103, 133 Stalin, Joseph  48, 87, 89, 94, 97 ff. Stern, Fritz  109 Strauß, David Friedrich  132 Strauss, Richard  82

Strobel, Gertrud  113 Strobel, Otto  108, 112 ff., 121, 128 Szmytka, Jagoda  144 Taruskin, Richard  98 f. Thaemlitz, Terre  147 Tietjen, Heinz  68 Tito, Josip Broz  94 Tolstoi, Leo  79 Trump, Donald  38 f., 50, 53, 97, 99 Ulbricht, Walter  94, 97 Unseld, Siegfried  94 Viebrock, Anna  75 Viereck, Peter  127 Vivaldi, Antonio  92 Voßkuhle, Andreas  98 Wagner, Cosima  67 Wagner, Siegfried  113 Wagner, Wieland  68, 126 Wagner, Winifred  67, 112 ff., 126 Wagner, Wolfgang  68, 126 Walser, Martin  18 Walshe, Jennifer  144 f. Walter, Bruno  123 Weber, Max  104 Weber, Nils  41 Westernhagen, Curt von  126 Wieler, Jossi  75, 119, 126 Wilhelm II . 110 Wolzogen, Hans von  67 Wonder, Erich  76 Wulf, Joseph  86 Zehelein, Klaus  75 f. Ziegler, Hans Severus  126

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