Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung: Studien zur chinesischen Geistesgeschichte [1. Aufl.] 9783839410486

Dieser Band ist eine anschauliche Einführung in die faszinierende und komplexe Geistesgeschichte Chinas, insbesondere in

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Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung: Studien zur chinesischen Geistesgeschichte [1. Aufl.]
 9783839410486

Table of contents :
Inhalt
Vorwort des Übersetzers und Herausgebers
Kapitel 1: Über das Verhältnis von Klassiker-Auslegung und philosophischer Konstruktion am Beispiel von Zhu Xis Kommentierung der Vier Bücher
1.1 Einleitung
1.2 Die anleitende Funktion der philosophischen Konstruktion: Klassiker-Auslegung im Kontext von Zhu Xis philosophischem System
1.3 Die Spannung zwischen Klassiker-Auslegung und philosophischer Konstruktion
1.3.1 Spannungen hinsichtlich der sprachlichen Gestalt
1.3.2 Spannungen hinsichtlich der Denkinhalte
1.4 Zu einem dynamischen Ausgleich zwischen Klassiker-Auslegung und philosophischer Konstruktion
1.5 Schluss
Kapitel 2: Zum Problem der Geschichtlichkeit im Kontext der konfuzianischen Klassiker-Auslegung
2.1 Problemstellung
2.2 Die Besonderheit der konfuzianischen Auslegungslehre und die Geschichtlichkeit des Interpreten
2.2.1 Das Problem der Praxis
2.2.2 Der existenzielle und erfahrungsmäßige Charakter der Auslegung
2.3 Die Geschichtlichkeit des Auslegers als Katalysator bei der Generierung des Sinns der kanonischen Schriften
2.3.1 Die Katalysatorfunktion der Geschichtlichkeit
2.3.2 Die Vermittlung durch die Kommentarliteratur
2.3.3 Die Frage nach dem Umgang mit der Geschichtlichkeit
2.4 Der Dialog zwischen kanonischer Schrift und Ausleger als Lebensquelle der Tradition
Kapitel 3: Zur Beziehung zwischen der Interpretation kanonischer Schriften und politischer Macht in Ostasien
3.1 Einleitung
3.2 Der Einfl uss politischer Macht auf die Auslegung der kanonischen Schriften
3.2.1 Die Durchsetzung neuer Bedeutungen konfuzianischer Kernbegriff e
3.2.2 Der Filter-Eff ekt politischer Macht im Kontext der Klassiker-Auslegung
3.3 Politische Interpretationen der kanonischen Schriften
3.4 Schluss
Kapitel 4: Der Körper im Konfuzianismus Ostasiens
4.1 Problemstellung
4.2 Der Herzgeist ›mitten im‹ Körper: Ein Überblick
4.3 Von der Selbstkultivierung zur sozialen und politischen Entwicklung
4.4 Sozialisierung des Herzgeistes und Politik des Körpers
4.5 Das Qi als Ausdruck einer ›Mitten-in-Physik‹ von Person und Kosmos
4.6 Schluss
Kapitel 5: Auslegungen des Buches Mengzi im modernen Konfuzianismus des 20. Jahrhunderts
5.1 Einleitung
5.2 Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Denken von Xu Fuguan, Tang Junyi und Mou Zongsan
5.3 Herzgeist und menschliche Natur bei Menzius: Neue Auslegungen
5.3.1 Tang Junyi
5.3.2 Mou Zongsan
5.3.3 Xu Fuguan
5.4 Lektüren von Menzius’ politischer Lehre im modernen Konfuzianismus
5.5 Schluss
Kapitel 6: Versuch einer Typologie: Konfuzianische Hermeneutik als Politik, Pilgerschaft und Apologetik
6.1 Konfuzianische Hermeneutik als Politik: Die songzeitlichen Kontroversen um das Buch Mengzi
6.1.1 Kontroversen um das Mengzi: Die Gründe
6.1.2 Kontroversen um das Mengzi: Die Inhalte
6.1.3 Politische Dimensionen konfuzianischer Hermeneutik
6.2 Konfuzianische Hermeneutik als Pilgerschaft: Wang Yangming
6.2.1 Wang Yangmings Auslegung des Mengzi
6.2.2 Wang Yangmings Hermeneutik als Pilgerschaft
6.2.3 Zwischenbetrachtung
6.3 Konfuzianische Hermeneutik als Apologetik: Dai Zhen
6.3.1 Der Ansatz Dai Zhens
6.3.2 Dai Zhens Auslegung des Mengzi
6.3.3 Kritische Diskussion
6.4 Schluss
Anhang
Glossar zentraler Begriff e
Textnachweise
Auswahlbibliographie

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Chun-chieh Huang Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung

2009-02-06 10-39-39 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b4201815296800|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 1048.p 201815296808

Editorial Die drei Schlüsselbegriffe Zeit, Sinn und Kultur bezeichnen ein Feld der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis, das unterschiedliche Disziplinen der Humanwissenschaften umgreift und ihnen zugleich ein thematisches Profil gibt. Es geht um Sinnbildung über Zeiterfahrung und das gesamte Spektrum ihrer theoretischen, methodischen und pragmatisch-funktionalen Ausrichtung. Im Zentrum der Reihe steht die Geschichtskultur in allen ihren Dimensionen und Ausprägungen. Dabei sollen weniger Einzelthemen der Fachdisziplinen behandelt werden als vielmehr die Grundlagen des historischen Denkens, seine Rolle in der menschlichen Lebenspraxis und seine diachron und synchron unterschiedlichen kulturellen Gestaltungen. Die Grenzen des Eurozentrismus überschreitend, können so neue Perspektiven der kulturellen Differenz wie der Interkulturalität im Bereich der Geschichtskultur eröffnet werden. Die Reihe wird herausgegeben von Egon Flaig, Daniel Fulda, Petra Gehring, Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen und Jürgen Straub.

Chun-chieh Huang ist Distinguished Professor für Geschichte und Dekan des Institute for Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences an der National Taiwan University in Taipeh. Er beschäftigt sich vor allem mit Fragen der konfuzianischen Geistesgeschichte sowie der Hochschulreform und Erziehung im Zeitalter der Globalisierung. Der Herausgeber Stephan Schmidt (Dr. phil.) ist zurzeit DFG-Stipendiat am Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der Academia Sinica in Taipeh.

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) T00_02 seite 2 - 1048.p 201815296816

Chun-chieh Huang

Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung Studien zur chinesischen Geistesgeschichte (hg. und übersetzt von Stephan Schmidt )

2009-02-06 10-39-39 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b4201815296800|(S.

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) T00_03 titel - 1048.p 201815296832

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: unter Verwendung von Kalligraphien des Zhu Xi Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1048-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum - 1048.p 201815296896

Inhalt Vorwort des Übersetzers und Herausgebers .......................... 9 Kapitel 1: Über das Verhältnis von Klassiker-Auslegung und philosophischer Konstruktion am Beispiel von Zhu Xis Kommentierung der Vier Bücher 1.1 Einleitung ........................................................................... 1.2 Die anleitende Funktion der philosophischen Konstruktion: Klassiker-Auslegung im Kontext von Zhu Xis philosophischem System ............................. 1.3 Die Spannung zwischen Klassiker-Auslegung und philosophischer Konstruktion ......................................... 1.3.1 Spannungen hinsichtlich der sprachlichen Gestalt .......................................... 1.3.2 Spannungen hinsichtlich der Denkinhalte ............ 1.4 Zu einem dynamischen Ausgleich zwischen Klassiker-Auslegung und philosophischer Konstruktion ..................................................................... 1.5 Schluss ............................................................................... Kapitel 2: Zum Problem der Geschichtlichkeit im Kontext der konfuzianischen Klassiker-Auslegung 2.1 Problemstellung ................................................................ 2.2 Die Besonderheit der konfuzianischen Auslegungslehre und die Geschichtlichkeit des Interpreten ................................................................... 2.2.1 Das Problem der Praxis .......................................... 2.2.2 Der existenzielle und erfahrungsmäßige Charakter der Auslegung ........................................ 2.3 Die Geschichtlichkeit des Auslegers als Katalysator bei der Generierung des Sinns der kanonischen Schriften ................................................ 2.3.1 Die Katalysatorfunktion der Geschichtlichkeit ..... 2.3.2 Die Vermittlung durch die Kommentarliteratur ... 2.3.3 Die Frage nach dem Umgang mit der Geschichtlichkeit ..............................................

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2.4 Der Dialog zwischen kanonischer Schrift und Ausleger als Lebensquelle der Tradition .......................... 87 Kapitel 3: Zur Beziehung zwischen der Interpretation kanonischer Schriften und politischer Macht in Ostasien 3.1 Einleitung .......................................................................... 93 3.2 Der Einfluss politischer Macht auf die Auslegung der kanonischen Schriften ...................... 95 3.2.1 Die Durchsetzung neuer Bedeutungen konfuzianischer Kernbegriffe ................................. 95 3.2.2 Der Filter-Effekt politischer Macht im Kontext der Klassiker-Auslegung ............................ 97 3.3 Politische Interpretationen der kanonischen Schriften .............................................. 104 3.4 Schluss .............................................................................. 111 Kapitel 4: Der Körper im Konfuzianismus Ostasiens 4.1 Problemstellung ............................................................... 4.2 Der Herzgeist ›mitten im‹ Körper: Ein Überblick ........ 4.3 Von der Selbstkultivierung zur sozialen und politischen Entwicklung ........................... 4.4 Sozialisierung des Herzgeistes und Politik des Körpers ........................................................... 4.5 Das Qi als Ausdruck einer ›Mitten-in-Physik‹ von Person und Kosmos ......................................................... 4.6 Schluss .............................................................................. Kapitel 5: Auslegungen des Buches Mengzi im modernen Konfuzianismus des 20. Jahrhunderts 5.1 Einleitung ......................................................................... 5.2 Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Denken von Xu Fuguan, Tang Junyi und Mou Zongsan ................................................................... 5.3 Herzgeist und menschliche Natur bei Menzius: Neue Auslegungen .......................................................... 5.3.1 Tang Junyi ............................................................... 5.3.2 Mou Zongsan .......................................................... 5.3.3 Xu Fuguan ..............................................................

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5.4 Lektüren von Menzius’ politischer Lehre im modernen Konfuzianismus ............................................ 172 5.5 Schluss .............................................................................. 181 Kapitel 6: Versuch einer Typologie: Konfuzianische Hermeneutik als Politik, Pilgerschaft und Apologetik 6.1 Konfuzianische Hermeneutik als Politik: Die songzeitlichen Kontroversen um das Buch Mengzi .............................................................. 6.1.1 Kontroversen um das Mengzi: Die Gründe .......... 6.1.2 Kontroversen um das Mengzi: Die Inhalte ........... 6.1.3 Politische Dimensionen konfuzianischer Hermeneutik .......................................................... 6.2 Konfuzianische Hermeneutik als Pilgerschaft: Wang Yangming .............................................................. 6.2.1 Wang Yangmings Auslegung des Mengzi ............ 6.2.2 Wang Yangmings Hermeneutik als Pilgerschaft ....................................................... 6.2.3 Zwischenbetrachtung ............................................ 6.3 Konfuzianische Hermeneutik als Apologetik: Dai Zhen ........................................................................... 6.3.1 Der Ansatz Dai Zhens ........................................... 6.3.2 Dai Zhens Auslegung des Mengzi ........................ 6.3.3 Kritische Diskussion .............................................. 6.4 Schluss ..............................................................................

189 190 194 201 204 206 214 217 220 221 223 230 233

Anhang Glossar zentraler Begriffe ...................................................... 237 Textnachweise ......................................................................... 247 Auswahlbibliographie ............................................................ 249

Vor wor t des Übersetzers und Herausgebers

Nicht nur die beeindruckende Entwicklung der chinesischen Moderne, sondern auch die Kultur und Geschichte dieses Landes stoßen derzeit in den westlichen Gesellschaften auf stetig steigendes Interesse. In akademischen Fachpublikationen und journalistischen Arbeiten wird das Phänomen China auf vielfältige Weise durchleuchtet und erklärt. Eine wachsende, aber immer noch sehr beschränkte Zahl von Experten versucht dem Heer von Nicht-Experten zu erklären, wo das moderne China herkommt und wo es hinstrebt. Bemerkenswert ist, wie dieses stetig wachsende Interesse des Westens an China offenbar keinen nachhaltigen Einfluss auf das eklatante Missverhältnis im Wissenstransfer zwischen beiden Kulturkreisen hat, welches auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften besonders auff ällig ist. Während in China seit über hundert Jahren die Zeugnisse westlichen Denkens übersetzt, rezipiert und in den eigenen Diskurs eingebracht werden, liegen von den denkerischen, literarischen und wissenschaftlichen Bemühungen chinesischer Autoren nur wenige verstreute Texte vor, die zudem oft zweitausendfünfhundert Jahre alt sind. Während im gegenwärtigen China jedes Jahr eine Flut von Übersetzungen erscheint, welche die aktuellen Diskurse aller möglichen Disziplinen in verschiedenen Sprachen nach China importieren, findet umgekehrt nichts auch nur annähernd Vergleichbares statt. Während jeder einschlägig gebildete Chinese die Namen Habermas, Rorty und Derrida kennt und bei Bedarf fast deren vollständige Werke in seiner eigenen Sprache lesen kann, dürften nur wenige westliche Akademiker in der Lage sein, den Namen eines einzigen

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zeitgenössischen chinesischen Gelehrten zu nennen, dessen Arbeiten ihnen ohnehin nur dann zugänglich sind, wenn entweder sie selbst Chinesisch lesen können oder der entsprechende Autor auf Englisch publiziert. Die Gründe für dieses Missverhältnis sind vielfältig und haben mit Überheblichkeit, dem fortgesetzten, wenn auch uneingestandenen Bestehen auf kultureller Hegemonie und einem Mangel an qualifizierten Übersetzern ebenso zu tun wie mit unterschiedlichen akademischen Gepflogenheiten sowie auf manchen Gebieten einem Mangel an herausragenden Arbeiten, die den enormen Aufwand der Übersetzung lohnen. Ein Gebiet, für das der zuletzt genannte Grund nicht zutriff t, ist das der chinesischen Geistesgeschichte. Hier stehen chinesische, taiwanische, japanische und koreanische Forscher in einer langen und ausdifferenzierten Tradition, die seit Jahrhunderten und bis heute unzählige Zeugnisse höchster Gelehrsamkeit hervorbringt, was von der kleinen Zahl der Spezialisten an westlichen Universitäten auch durchaus anerkannt wird. Dass dennoch auch auf diesem Gebiet so wenig Literatur den Weg zu uns findet, liegt eher daran, dass es sich eben um einen spezialisierten Fachdiskurs handelt, der Laien kaum zugänglich ist, selbst wenn sie sich grundsätzlich für Chinas Kultur und Geschichte interessieren. Dass zumal in Deutschland die Sinologie eine akademische Randexistenz ohne nennenswerte Breitenwirkung fristet, macht die Sache nicht leichter. Der vorliegende Band ist der eingestandenermaßen experimentelle Versuch, auf die hier skizzierte Problemlage anders denn bloß lamentierend zu reagieren. Er ist entstanden aus der einjährigen intensiven Zusammenarbeit zwischen Autor und Übersetzer von August 2007 bis Juli 2008 an der Taiwan National University. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter war ich während dieser Zeit am von Chun-chieh Huang geleiteten Program of East Asian Classics and Cultures beschäftigt und mit der Auswahl, Übersetzung und Bearbeitung der hier vorgelegten Aufsätze betraut. Das vom Autor anvisierte Ziel der Arbeit bestand von Anfang an darin, einem sinologisch nicht vorgebildeten, aber akademisch interessierten Publikum einen Zugang zur komplexen, vielschichtigen und im Westen weithin unbekannten chinesischen Geistesgeschichte zu eröff nen. Da die hier versammelten Arbeiten aber ursprünglich für eine ganz andere Leserschaft, nämlich taiwanische und chinesische

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Spezialisten auf dem entsprechenden Gebiet, verfasst worden sind, stand von vornherein fest, dass die Übersetzung zugleich eine Bearbeitung der Texte würde leisten müssen. Aufgabe dieses Vorwortes ist es, deutsche Leserinnen und Leser mit dem Autor, den Texten und den Umständen ihrer Entstehung und Bearbeitung bekannt zu machen und einige Hinweise für die Lektüre zu geben. Chun-chieh Huang ist derzeit Distinguished Professor für Geschichte an der Taiwan National University in Taipeh, ferner Dekan am Institute for Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences an derselben Universität und Direktor des oben genannten Forschungsprogramms. Außerdem ist er Fellow am Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der renommierten Academia Sinica in Taipeh. 1946 im Süden Taiwans geboren, hat er 1980 einen Doktortitel in Geschichte an der University of Washington in Seattle erworben und gehört heute im ostasiatischen Raum zu den führenden Spezialisten auf dem Gebiet der chinesischen Geistesgeschichte. Er befasst sich außerdem intensiv mit den Umwälzungen der taiwanischen Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten sowie mit Fragen der Hochschulreform und Erziehung im Zeitalter der Globalisierung. Als Autor von siebzehn Monographien, davon zwei in englischer Sprache, und Herausgeber oder Mitherausgeber von fünfzehn weiteren Büchern in verschiedenen Sprachen darf er zudem als ein äußerst produktiver Vertreter seiner Zunft gelten. Durch Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten in Asien, Europa und Nordamerika hat er reichhaltige Erfahrung im internationalen akademischen Forschungs- und Lehrbetrieb sammeln können. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen schließlich bezeugen die Anerkennung, die er unter Kollegen genießt. Wer weitergehende Informationen zum Werdegang des Autors und seinen Arbeiten wünscht, sei an dieser Stelle auf seine persönliche Website verwiesen (http://huang.cc.ntu. edu.tw), die auch in einer englischen Version einsehbar ist. Innerhalb des Gebietes der chinesischen Geistesgeschichte hat Chun-chieh Huang sich vor allem mit seinen Studien zum Konfuzianismus und insbesondere zur Rezeptionsgeschichte des Buches Mengzi (⬇⫸) einen Namen gemacht. Es handelt sich dabei um einen der wichtigsten Texte der gesamten chinesischen Tradition, der eng mit der Person des Menzius (⬇

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⫸, etwa 370-290 v. Chr.) verbunden ist, dem nach Konfuzius selbst vermutlich wichtigsten Konfuzianer des Altertums. Das Buch Mengzi versammelt Anekdoten, Aussprüche und Diskussionen des Menzius, wobei letztere oftmals Unterredungen mit politischen Machthabern seiner Zeit und Auseinandersetzungen mit anderen Gelehrten dokumentieren.1 Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden die Texte von Schülern des Meisters nach dessen Tod zusammengestellt. Der Einfluss des Mengzi war im chinesischen Altertum zunächst begrenzt, tritt aber in den Texten des sogenannten Neo-Konfuzianismus der Epochen Song (960-1279) und Ming (1368-1644) deutlich in Erscheinung und reicht über den chinesischen Kulturkreis hinaus nach Japan und Korea, wo Menzius’ Gedanken ab dem 16. und 17. Jahrhundert intensiv rezipiert wurden. Gerade dieser Aspekt, nämlich die Erforschung der konfuzianischen Geistesgeschichte im erweiterten Kontext Ostasiens, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Schwerpunkt in den Arbeiten von Chun-chieh Huang entwickelt und seinen Niederschlag gefunden in der Rede von pluralen Konfuzianismen, die das verbreitete Zerrbild vom monolithischen und geschichtslosen Konfuzianismus im Singular ersetzen oder wenigstens relativieren soll. Es entspricht der festen Überzeugung des Autors, dass es sich bei den Gedanken der konfuzianischen Tradition(en) zwar um genuin chinesisches Kulturgut handelt, welches aber in einem größeren Kontext zur Entfaltung gelangt ist und darüber hinaus heute eine globale Bedeutung besitzt, die freilich vielerorts noch der Anerkennung harrt. Insofern sollen die hier versammelten Arbeiten deutsche Leserinnen und Leser nicht nur mit einem Ausschnitt aus der gegenwärtigen Arbeit eines renommierten ostasiatischen Gelehrten bekannt machen, sondern sie auch und vor allem den Reichtum, den Wert und das denkerische Potential der konfuzianischen Tradition zumindest in Ansätzen verstehen lassen. Welche Wertschätzung der Autor selbst

1 | Die gängige deutsche Ausgabe bedient sich nach wie vor der von Richard Wilhelm (1873-1930) angefertigten Übersetzung und ist zuletzt in einer Neuausgabe unter dem Titel Mong Dsi, Die Lehrgespräche des Meng Ko, Köln: Diederichs 1982 erschienen. Die englische Standardübersetzung stammt von D.C. Lau: Mencius – A Bilingual Edition, Hongkong: Chinese University Press 2003.

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seinem Gegenstand entgegenbringt, wird aus den folgenden Seiten sicherlich deutlich werden. Die Auswahl von geeigneten Arbeiten aus einem so umfangreichen Werk wie dem von Chun-chieh Huang hat im Vorfeld der Publikation einige Zeit gekostet und war Thema vieler Gespräche zwischen Autor und Übersetzer. Leitend ist dabei stets eine bestimmte Vorstellung von der Verfasstheit der chinesischen Geistesgeschichte gewesen, die den Leserinnen und Lesern dieses Buches vermittelt werden soll, oder negativ formuliert: Es galt die Eigenart der chinesischen Tradition gegen gewissse Verzerrungen zu schützen, welche gerade in westlichen Studien häufig zu beobachten sind. Ausgehend von der abendländischen Tradition orientieren sich viele westliche Interpretationen an zwei leitenden geistesgeschichtlichen Paradigmen und präsentieren das chinesische Denken entweder als Gegenstück zur westlichen Philosophie oder als eine Form von Religion. Im ersten Fall wird der rationale, nüchterne und diesseitige Charakter vor allem des Konfuzianismus betont, im zweiten Falle werden metaphysische und soteriologische Leitvorstellungen in den Vordergrund gerückt, die in Daoismus und Buddhismus besonders prominent sind, aber auch im Konfuzianismus keineswegs fehlen. Keiner der beiden Varianten lässt sich vorwerfen, dass sie die Eigenart der chinesischen Geistesgeschichte gänzlich verfälsche, aber keine kann für sich in Anspruch nehmen, sie ausgewogen darzustellen, wobei insbesondere das an den monotheistischen Traditionen des Okzidents orientierte Vorverständnis von ›Religion‹ zu Missverständnissen einlädt. Als Alternative bot sich daher an, von problematischen Parallelisierungen zur abendländischen Philosophie und Religion weitgehend abzusehen und stattdessen in historischer Perspektive die Dynamik der Tradition selbst herauszuarbeiten, ausgehend von dem, was seit rund zweitausendfünfhundert Jahren den durchgängigen Bezugspunkt der chinesischen Geistesgeschichte darstellt: Ein bestimmtes Korpus von kanonischen Schriften, für die sich in sinologischen Arbeiten die Bezeichnung ›Klassiker‹ eingebürgert hat. Leider ist auch diese Bezeichnung mit ihren ästhetischen und gerade deutsche Leser an einen Abschnitt ihrer eigenen Geistesgesichte erinnernden Assoziationen problematisch. Sie wird auf den Seiten des vorliegenden Buches aus stilistischen Gründen manchmal gebraucht, in der Regel aber durch ›kanonische Schriften‹

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ersetzt. Das entsprechende chinesische Original lautet jingdian (䴻℠) und atmet den Respekt vor bestimmten alten Texten, die im Sinne einer anderen uns geläufigen Unterscheidung weder heilig noch profan sind. Was sie stattdessen sind, untersuchen die folgenden Seiten, indem sie vorführen, auf wie vielfältige Weise der Inhalt dieser Texte in China, Japan und Korea diskutiert, kritisiert, weiter entwickelt und angereichert wurde. So entsteht das Bild einer Tradition, die vom Altertum bis in die Gegenwart hinein alle wichtigen Fragen menschlichen Lebens und menschlicher Gemeinschaft unter Bezugnahme auf ein begrenztes Korpus von Schriften diskutiert, welche man mit einem Rilke-Wort als ›unerschöpflichen Gegenstand‹ bezeichnen könnte. Es ist dieser immer wieder geleistete Rückbezug, der die chinesische und ostasiatische Geistesgeschichte als dynamische Einheit konstitutiert und ihre Kontinuität ausmacht.2 Entgegen dem eben erwähnten und seit Hegel geläufigen Zerrbild von der statischen und daher geschichtslosen chinesischen Kultur ist es aber wichtig zu betonen, dass das Moment der Kontinuität Entwicklung und Veränderung keineswegs ausschließt. Die Autorität der kanonischen Schriften hat zwar verhindert, dass der Diskurs sich von ihnen im Ganzen emanzipiert hat,3 aber die wechselnden zeitgeschichtlichen Umstände und die Intentionen der Interpreten haben den Inhalt dieser Schriften in immer wieder anderem Licht erscheinen lassen, bisweilen in einem so radikal anderen, dass die interpretierten Texte kaum noch als dieselben zu erkennen sind – und dann wieder fallen die Unterschiede so subtil aus und werden von den Interpreten mit so feinsinnigen Mitteln zum Ausdruck gebracht, dass der unkundige Betrachter sie gar nicht bemerkt. Wir haben es also keineswegs mit einem dogmatischen Wiederkäuen von alters her überlieferter Einsichten und Überzeugungen zu tun, sondern mit einem denkerischen Diskurs, dessen Code einer gewissen Entschlüsselungsarbeit bedarf. Die folgenden Aufsätze bewegen sich in einem weit ge2 | Damit ist zugleich der Horizont umrissen, innerhalb dessen sich die Vielfalt verschiedener Konfuzianismen herausbilden konnte. Einen Konfuzianismus ohne Bezug auf die kanonischen Schriften des Altertums kann es demzufolge nicht geben. 3 | Bestrebungen dieser Art gab es meines Wissens vor dem 20. Jahrhundert nicht.

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steckten zeitlichen Rahmen, der vom Altertum bis ins 20. Jahrhundert reicht, und sie berühren Fragen der Ethik, Politik und Metaphysik, die in den kanonischen Schriften behandelt werden, ebenso wie Fragen der Rezeptionsgeschichte, der Philologie und Etymologie und der biographischen Umstände bestimmter Denker. Der Ansatz jedoch ist eindeutig ein historischer und verfolgt eher rekonstruierbare geschichtliche Prozesse als denkerische Spekulationen – im letzteren Bereich sind die Kompetenzen des Autors seiner eigenen Einschätzung zufolge beschränkt, d.h. er versteht sich ausdrücklich nicht als Philosoph, sondern als Ideengeschichtler. Zur eben angesprochenen Entschlüsselungsarbeit vermag er natürlich trotzdem einen Beitrag zu leisten, denn wie einige seiner Kollegen in Taiwan, China, Japan und Korea verfügt er kraft seiner Herkunft über eine Vertrautheit mit dem Textmaterial und eine sprachliche Kompetenz, die westliche Spezialisten auch durch intensives Training kaum erreichen können. 4 In diesem Sinne handelt es sich bei den vorliegenden Aufsätzen um Arbeiten, welche die chinesische Geistesgeschichte ›von innen‹ untersuchen, nämlich als eine Tradition, der sich der Autor durchaus emphatisch verbunden fühlt. Was nun die Bearbeitung der Texte im Prozess der Übersetzung betriff t, so hat sich auf verschiedenen Ebenen und aus verschiedenen Gründen die Notwendigkeit von Eingriffen in die Textgestalt ergeben. Der wichtigste Grund war die erwähnte Umstellung auf eine andere Leserschaft, nämlich von chinesischsprachigen Experten hin zu Nicht-Experten auf dem Gebiet der ostasiatischen Geistesgeschichte, welche zudem nicht die sprachliche Kompetenz besitzen, um mit Originaltexten zu arbeiten. Diese Umstellung hat zunächst die Einfügung zahlreicher Erklärungen erforderlich gemacht, um den Leser mit Informationen zu versorgen, deren Kenntnis der Autor bei 4 | Während gleichaltrige Kollegen auf dem chinesischen Festland in ihrer Kindheit und Jugend allerdings eher Marx und Mao Zedong studieren mussten, hat Chun-chieh Huang bereits während seiner Schulzeit – die in die Zeit intensiver Sinisierungsbemühungen im Anschluss an die japanische Kolonisierung Taiwans fiel – die kanonischen Schriften zu lesen und zu großen Teilen auswendig zu lernen begonnen.

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seinem ursprünglichen Publikum voraussetzen konnte. Diese Erklärungen sind in die laufenden Fußnoten eingearbeitet, aber jeweils zu Beginn als Anmerkung des Übersetzers gekennzeichnet. Ferner findet sich im Anhang ein Glossar zentraler Begriffe des chinesischen Denkens, die im Text immer wieder vorkommen, unter Umständen ohne dort auf eine für NichtExperten verständliche Weise erklärt zu werden. Dao (忻), Li (䎮) und Qi (㯋) sind Ausdrücke, ohne die die Inhalte des traditionellen chinesischen Denkens nicht expliziert werden können, die aber eine komplexe und für westliche Leser häufig schwierig zu fassende Bedeutung besitzen, welche zudem in verschiedenen Kontexten unterschiedlich akzentuiert ist. Hier waren also zusätzliche Erklärungen erforderlich, für welche die Verantwortung alleine beim Übersetzer liegt. Gelegentlich auftretende Überschneidungen zwischen den Erklärungen in den Fußnoten und im Glossar bitte ich ebenso zu entschuldigen wie Redundanzen in den Anmerkungen zu verschiedenen Kapiteln – diese resultieren aus dem Bemühen, den Leserinnen und Lesern die Kapitelfolge ihrer Lektüre freizustellen und die ursprünglich eigenständigen Texte jeweils für sich verständlich zu machen. Lediglich das letzte Kapitel setzt aufgrund seines zusammenfassenden Charakters eine gewisse Kenntnis des vorher Dargelegten voraus. Von diesen zusätzlichen Erklärungen abgesehen hat es sich zudem als notwendig herausgestellt, die Darstellung an einigen Punkten zu vereinfachen und von der Überlagerung durch Diskussionen zu befreien, welche für ostasiatische Spezialisten zwar von Bedeutung, für deutsche Leser ohne entsprechende Vorbildung aber kaum nachvollziehbar sind. Die Philologie der kanonischen Schriften und die Rekonstruktion ihrer Rezeption in Ostasien ist eine Wissenschaft mit über zweitausendjähriger Geschichte, die heute auf hohem Niveau und mit entsprechender Spezialisierung betrieben wird, so wie es bei uns etwa auf dem Gebiet der Altphilologie der Fall ist – eine Publikation wie die vorliegende, die sich ausdrücklich nicht auf ein sinologisches Fachpublikum beschränken will, muss hier schwierige Entscheidungen bezüglich der Art ihrer Präsentation treffen. Es galt, kurz gesagt, wissenschaftliche Seriosität und inhaltliche Substanz zu bewahren und trotzdem für Laien verständlich zu bleiben. Auch hierzu gab es ausführliche Gespräche zwischen Autor und Übersetzer; meine Rolle bestand vor allem

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darin, Passagen zu identifizieren, von denen ich annahm, dass sie ohne einschlägige Vorkenntnisse nicht verständlich oder schlicht uninteressant sein müssten und unter Umständen das Verständnis der größeren Zusammenhänge eher behindern als befördern würden. Gemeinsam haben wir dann überlegt, welche Form der Darstellung angemessen wäre. Viele Fußnoten mit Verweisen auf chinesische Sekundärliteratur und mit Beiträgen zu gelehrten Debatten über Detailfragen wurden schließlich gestrichen. Es versteht sich von selbst, dass der hier verfolgte Ansatz überhaupt nur möglich war, weil Chun-chieh Huang und ich ein Jahr lang unter demselben Dach gearbeitet haben und ein Arbeitsverhältnis pflegen konnten, wie es zwischen Autor und Übersetzer normalerweise nicht besteht. Auch zwei Lehrveranstaltungen zur chinesischen Geistesgeschichte, die wir im Sommersemester 2008 an der National Taiwan University gemeinsam durchgeführt haben, waren hilfreich bei meiner Bemühung, die Gedanken von Chun-chieh Huang zu verstehen und sie auch in der bearbeiteten Form der hier präsentierten Texte möglichst unverfälscht wiederzugeben. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Professor Huang meinen Dank auszusprechen für die alles andere als selbstverständliche Geduld und Offenheit, mit der er sich auf die Zusammenarbeit eingelassen und alle meine Fragen zu den Texten ausführlich beantwortet hat. Ein weiterer Unterschied, der den Austausch zwischen Akademikern des Westens und Ostasiens erschwert und mit dem auch die vorliegende Publikation einen eigenen Weg des Umgangs finden musste, betriff t den Stil gelehrter Texte. Chinesische Texte aus dem Gebiet der Geistesgeschichte zeichnen sich häufig durch sehr ausführliche Zitate von Quellentexten aus, mit denen Forscher ihre Vertrautheit mit dem behandelten Material und damit ihr eigenes Expertentum unter Beweis stellen. Die kritische Analyse und Diskussion fällt dagegen oft ausgesprochen kurz aus. Es fehlt gelegentlich die Zuspitzung auf eine prägnante These und die genaue Verfolgung eines Beweisschritts oder einer sorgfältigen Argumentation. Auf den westlichen akademischen Leser wirken solche Texte dann notgedrungen ›unwissenschaftlich‹ oder nicht ausreichend kritisch. Die Problemlage wird noch dadurch verschärft, dass bestimmte Hinweise, die in den chinesischen Quellentexten stecken – z.B. die Wortwahl, das Aufgreifen einer bestimmten Terminologie,

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die zugleich das Ergreifen einer Partei der Auseinandersetzung bedeutet – sich in der Übersetzung oft nur schwer wiedergeben lassen. Chun-chieh Huang, der den wissenschaftlichen Gepflogenheiten in seiner Heimat mit einer gewissen Ironie gegenübersteht und offen bekennt, in englischsprachigen Publikationen einen ganz anderen Stil zu pflegen als in seiner Muttersprache, war sich der Probleme zum Glück bewusst und hat auch hier vielen Änderungswünschen des Übersetzers zugestimmt. So wurden überlange Zitate gekürzt oder paraphrasiert, um den Kern der Aussage deutlich werden zu lassen. An einigen Stellen wurden Ergebnisse der mündlichen Diskussionen zwischen Autor und Übersetzer in den Text eingearbeitet, um Positionen klarer darzustellen. Zudem musste gelegentlich in den Aufbau der Texte eingegriffen und ein neues Arrangement der jeweiligen Unterabschnitte vorgenommen werden, um dem berechtigten Wunsch des Verlages nach einheitlichem Auf bau der Kapitel zu entsprechen. Alle diese Änderungen gegenüber den chinesischen Originaltexten wurden nicht eigens kenntlich gemacht, da dies die gesamte Textgestalt zu sehr mit weiteren Anmerkungen und Fußnoten belastet hätte. Autor und Übersetzer haben hierzu gemeinsam beschlossen, dass die wörtliche Treue der Übersetzung gegenüber vorliegenden Originaltexten sekundär ist gegenüber dem Bemühen, die Standpunkte des Autors möglichst klar und verständlich zu vermitteln. Probleme der Übersetzung im engeren Sinne freilich ließen sich so einfach weder lösen noch umgehen. Wer übersetzt, macht sich angreif bar – das gilt in besonderem Maße für das klassische Chinesisch mit seiner reduzierten Grammatik, in der soviel abhängt von der oft reichhaltigen und mehrschichtigen Semantik einzelner Zeichen. An vielen Stellen verlangt die Übersetzung ins Deutsche eine Festsetzung und damit Eingrenzung des Sinns, welche die gesamte Diskussion unverständlich zu machen droht, indem sie sie wie einen Streit um Worte aussehen lässt, zwischen denen inhaltlich kaum Unterschiede bestehen. Hier ist die Geduld der Leserinnen und Leser gefragt, die sich durch ein oft ungelenkes Deutsch kämpfen müssen, dem es abverlangt wird, Nuancen der Bedeutung wiederzugeben, die in unserer Sprache weit weniger prägnant sind als im Chinesischen. Zudem habe ich häufiger als üblich bestimmte Textpassagen, Kernausdrücke oder besonders idiomatische Formulierungen in Klammern oder Fußnoten auch

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im Original wiedergegeben, um denjenigen Leserinnen und Lesern, die eine gewisse Kenntnis der chinesischen Sprache besitzen, etwaige durch die Übersetzung entstandene Verzerrungen vor Augen zu führen. In den folgenden Texten werden chinesische Namen und Ausdrücke zumeist in der heute weithin geläufigen Pinyin-Umschrift wiedergegeben. Bei Namen steht gemäß der ostasiatischen Gepflogenheit der Familienname vor dem Vornamen. Ausnahmen für beide Fälle sind chinesische oder taiwanische Autoren, die in ihren fremdsprachlichen Publikationen ihre eigenen Namen in anderen Umschriftsystemen angegeben und dabei den Vornamen voranstellen – dies gilt insbesondere für den Autor der vorliegenden Texte, Chun-chieh Huang, welcher der hier verwendeten Umschrift und Schreibweise zufolge eigentlich Huang Junjie geschrieben werden müsste. Bei Ortsnamen wurden in der Regel etablierte Schreibungen beibehalten, so dass von ›Taipeh‹ statt von ›Taibei‹ und von ›Peking‹ statt von ›Beijing‹ die Rede ist. Wenn in Buch- oder Zeitschriftenartikeln Namen in einer anderen als der von mir verwendeten Transkription auftauchen, habe ich diese übernommen und dort, wo Missverständnisse drohen, die Pinyin-Schreibung in eckigen Klammern angefügt. Auch sonst – etwa in Zitaten – markieren eckige Klammern stets Hinzufügungen des Übersetzers, während alternative Übersetzungsvorschläge in runden Klammern stehen. Die bisherigen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass es sich bei der vorliegenden Publikation nicht nur um ein Experiment, sondern in vielerlei Hinsicht auch um einen Kompromiss handelt: Angesichts des eklatanten Mangels an zugänglichen Schriften ostasiatischer Experten, die ihre Kulturtradition und Wissenschaft auf ihre Weise und gleichsam in ihrer eigenen Stimme vertreten, sollte eine solche Stimme deutschen Lesern präsentiert werden, was aber nur sinnvoll möglich war durch eine bearbeitende Übersetzung, die neben dem sprachlichen noch eine Reihe weiterer Gräben zu überwinden half. Ihrer Natur nach sind Kompromisse freilich Vereinbarungen, die nicht jeden gleichermaßen zufriedenstellen, und das gilt zweifellos auch für die vorliegenden Übersetzungen. Gemeinsam mit dem Autor hoffe ich jedoch, dass es Leserinnen und Leser geben wird, die sich nach der Lektüre ermutigt fühlen, tiefer in die vielschichtige chinesische Geistesgeschichte

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hinabzusteigen und sich von ihrem Reichtum inspirieren zu lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, möchte ich im Folgenden weniger in der Rolle des Übersetzers als der des Herausgebers einige eigene Gedanken vorstellen, von denen ich hoffe, dass sie für das Verständnis der Ausführungen von Professor Chunchieh Huang hilfreich sind.

Die kanonischen Schrif ten des Konfuzianismus und die Grenzen ihrer wissenschaf tlichen Auslegung Wie oben bereits angedeutet, handelt es sich bei den kanonischen Schriften des Konfuzianismus nicht im Sinne unserer eigenen monotheistischen Tradition um heilige Texte. Sie wurden nicht geoffenbart, und niemand sah in ihnen die Botschaft einer jenseitigen Gottheit. Wenngleich die Autorschaft vieler Texte unbekannt ist und einige von ihnen traditionell Figuren zugeschrieben wurden, von denen wir heute nicht wissen, ob sie je gelebt haben – in einigen Fällen dürfen wir sicher sein, dass die angeblichen Autoren keine historischen Gestalten waren – gilt grundsätzlich, dass es sich um von Menschen verfasste Texte handelt. In diesem Sinne spricht wenig gegen das Attribut profan. Und dennoch wurden diese Texte über Jahrhunderte hinweg in einer Weise rezipiert und tradiert, die sich von unseren Erwartungen an den Umgang mit profanen Texten unterscheidet. Ihnen kommt eine Autorität zu, deren Quelle zwar nicht jenseitig ist, die aber dennoch einer bestimmten Form der Hinterfragung entzogen scheint. Dies gilt freilich nicht für alle diese Texte zu allen Zeiten in gleicher Weise, und die folgenden Aufsätze werden zum Beispiel die scharfen Attacken vorführen, welche songzeitliche Gelehrte gegen das Buch Mengzi geritten haben. Diese Attacken erfolgten dann aber unter Berufung zum Beispiel auf Konfuzius und beschuldigten Menzius der Heterodoxie, nämlich der Abweichung von bestimmten Doktrinen, welche sich in den Gesprächen des Konfuzius (Lunyu 婾婆) finden. Dies ist etwas anderes als eine Art der Argumentation, welche einem Text Schlussfehler, Inkonsistenzen, falsche Prämissen oder ähnliches nachweist, um damit seine Thesen als sachlich unzutreffend zu entlarven. Wieder muss hier die Einschränkung erfolgen: Auch für solche Auseinander-

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setzungen finden sich in der chinesischen Tradition Beispiele, aber der generelle Umgang mit den kanonischen Schriften war ein anderer. Da es nicht möglich ist, die verschiedenen kanonischen Schriften hier im Einzelnen inhaltlich vorzustellen, muss ich mich mit einigen allgemeinen Charakterisierungen begnügen. Die in Frage stehenden Texte verkörpern innerhalb der konfuzianischen Tradition so etwas wie die höchsten Formen menschlicher Weisheit und Moral. Sie wurden verfasst von Männern, die kraft der Exzellenz ihrer Anlagen, der Ernsthaftigkeit ihres Bemühens um Gelehrsamkeit und Integrität und schließlich wegen des so erreichten Ausmaßes moralischer Virtuosität in ihrer Person die höchsten Möglichkeiten des Menschseins verkörpern – die Tradition bezeichnet sie als Shengren (俾Ṣ). Sie sind die Vorbilder, denen jeder Konfuzianer aufgerufen ist nachzueifern, aber ihre Funktion innerhalb des konfuzianischen Weltbildes geht über die Manifestation individueller Größe hinaus: Sie personifizieren zugleich den Idealzustand einer umfassenden, menschliche Gemeinschaft, Natur und Kosmos integrierenden harmonischen Ordnung, d.h. sie garantieren deren grundsätzliche Möglichkeit und tragen das Menschenmögliche bei zu ihrer Realisierung. Sie beeinflussen ihr Umfeld in einer Weise, die den meisten Menschen nicht gegeben ist, bzw. welche die meisten Menschen aufgrund ihrer Unzulänglichkeit verfehlen. In der Art und Weise, wie die moralischen Virtuosen nach traditioneller Vorstellung diesen Einfluss ausüben, mischen sich konkrete Tätigkeiten wie etwa die Beratung von Machthabern oder die Unterweisung von Schülern mit einem weiteren Element, das ich mangels eines besseren Ausdrucks als Aura bezeichnen möchte. Die moralischen Virtuosen der Tradition – und damit auch die Texte, die sie (angeblich) geschrieben haben – besitzen eine Aura, die inspirierend und ermutigend wirkt auf diejenigen, die sich ihr aussetzen und für diese Aura empfänglich sind. Das Studium dieser Texte hat daher eine Qualität, die über das bloß kognitive Aufnehmen von Textinhalten hinausgeht. Um diesen wichtigen Punkt verständlich zu machen, ist zunächst anzumerken, dass der Konfuzianismus sich kaum über ein festes Set von Theorien oder Glaubenssätzen bestimmen lässt, was nicht nur daran liegt, dass er im Laufe seiner langen Geschichte ganz verschiedene Entwürfe vorgelegt hat, sondern

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vor allem daran, dass er bestimmt wird vom leitenden praktischen Interesse an der moralischen Kultivierung der einzelnen Person und der Errichtung einer stabilen, harmonischen Sozialordnung, die schließlich »alles unter dem Himmel« (tian xia ⣑ᶳ) umfasst. Die Hauptträgerschicht des Konfuzianismus im traditionellen China waren bekanntlich die sogenannten Beamten-Gelehrten, ausgebildet im Studium der kanonischen Schriften und deren ›essayistischer‹ (freilich strengen formalen Regeln gehorchender) Kommentierung und ausgewählt durch das dreistufige Prüfungssystem, dem Eingangstor zu einer Karriere innerhalb der kaiserlichen Verwaltung. Idealiter waren sie damit die Agenten einer stets im Werden begriffenen Ordnung, wie sie zur Zeit der weisen Herrscher Yao und Shun im frühesten Altertum bestanden hatte, in einigen Klassikern beschrieben war und für alle Zeiten als Modell eines Goldenen Zeitalters ihre orientierende normative Geltung behielt. Das Ziel des Konfuzianismus war und ist also keine Erlösung von der Welt, sondern das Erreichen eines perfekten Zustandes des Einzelnen und der Welt, für welchen es historische Beispiele gibt. Dass es sie gibt und dass sie tatsächlich historisch sind, ist eine Art Glaubensvoraussetzung, ohne die man im traditionellen China nicht Konfuzianer sein konnte – die kanonischen Schriften bürgten dafür, dass die Voraussetzung zu Recht gemacht wurde. Man könnte sagen, dass sie den Weg weisen, der zur Erreichung des Zieles führt, aber vermutlich ist eine stärkere Formulierung angemessener: Sie weisen ihn nicht nur, sie sind der Weg, denn diese Schriften zu studieren bedeutet unweigerlich, sich auf den Weg zu machen, sich also um ein Erreichen der praktischen Ziele des Konfuzianismus zu bemühen. Das »Studium« (xue ⬠) besteht nicht in einer distanzierten Kenntnisnahme von Textinhalten zum Zwecke von deren Analyse und Kritik, sondern in der Arbeit am eigenen Selbst, welches den Vorgaben der kanonischen Schriften entsprechend zu entwickeln ist – zumindest ist dies seinerseits ein Ideal gelehrter Konfuzianer, welche sich immer wieder mokiert haben über diejenigen, die das Studium der alten Texte nur mit dem Ziel betreiben, die zentralen Beamtenprüfungen zu bestehen und Karriere zu machen in der Verwaltung des Kaiserreiches. Aus der Sicht des einzelnen ernsthaften Gelehrten beginnt der Konfuzianismus also mit der grundsätzlichen Affi rmation der kanonischen Schriften, die fortan das bevorzugte Medium sei-

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ner moralischen Kultivierung darstellen. Wer grundsätzlich den Wert dieser Texte in Frage stellt und ihren Wahrheitsanspruch negiert, stellt sich außerhalb der Tradition. Die folgenden Aufsätze werden immer wieder auf dieses Moment einer Textpragmatik hinweisen, in der die kanonischen Schriften des Konfuzianismus nicht Gegenstand einer im uns geläufigen Sinne wissenschaftlichen Beschäftigung sind, sondern Sinnquellen, aus denen der Gelehrte schöpft. Man könnte es auch so formulieren, dass die kanonischen Schriften den Horizont bereitstellen, innerhalb dessen der traditionelle Gelehrte seine Weltsicht entwickelt. Die interessante Frage, die sich daraus ergibt und für den Umgang mit den vorliegenden Texten nicht irrelevant ist, lautet: Wie verhält es sich mit dem modernen Gelehrten und Universitätsprofessor, zum Beispiel dem Ideengeschichtler, dessen Arbeitskontext ein akademischer ist, der also eine wissenschaftliche Disziplin vertritt, die ihn auf gewisse Standards und Methoden verpflichtet? Wie verhält der sich, wenn er sich gleichzeitig als Konfuzianer versteht, zu den Objekten seiner Forschung – den kanonischen Schriften – die ihrem eigenen Anspruch nach vieles sind und sein wollen, bloße Objekte wissenschaftlicher Erforschung aber nicht? Was wird aus der konfuzianischen Textpragmatik, wenn die Texte eingebettet werden in den primär theoretischen Kontext moderner Wissenschaft? Diese Fragen sollen nicht auf eine dramatische Spaltung in der Identität des gegenwärtigen konfuzianischen Gelehrten hinweisen, wohl aber auf eine Spannung, die sich durch die vorliegenden Aufsätze zieht, ohne in ihnen jemals zur Sprache zu kommen. Niemand ist im heutigen China oder Taiwan noch Konfuzianer im Vollsinne des klassischen Beamten-Gelehrten, dessen geistiger Horizont ganz von den kanonischen Schriften der Tradition umgrenzt wurde. Kaum ein akademischer Gelehrter würde von sich behaupten, sein Leben ganz und gar auf die Perfektionierung der eigenen moralischen Natur ausgerichtet zu haben. Nur wenige Professoren betreiben neben dem Textstudium noch die traditionellen Künste der Kalligraphie, der klassischen Dichtung und Essayistik, ganz zu schweigen von traditioneller Musik oder dem Bogenschießen. Und dennoch: Es schwingt in den Texten von Chunchieh Huang und vielen – aber natürlich nicht allen – seiner Kollegen eine Emphase mit, eine Identifikation mit den großen Konfuzianern der Tradition und ihren schriftlichen Zeugnis-

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sen, die zur wissenschaftlichen Nüchternheit und sachlichen Kritik in keinem spannungslosen Verhältnis steht – meines Erachtens liegt hier ein Unterschied zu den Arbeiten westlicher Sinologen, die bei aller Wertschätzung für diesen Text oder jenen Denker kaum je zu einer Identifikation mit der geistigen Tradition des Konfuzianianismus insgesamt kommen. Der Anspruch der kanonischen Texte, das Leben des Einzelnen in fundamentaler Weise zu formen und den persönlichen Weg der moralischen Kultivierung anzuleiten, lässt sich für einen Autor wie Chun-chieh Huang nicht gänzlich abweisen und lässt sich folglich von der wissenschaftlichen Arbeit an den Texten nicht ausklammern. Anders gesagt: Die Texte verweigern sich der Reduktion auf bloß historische Dokumente, denn gerade diese Irreduzibilität macht ihren Charakter und ihren kulturformenden Wert aus. Allerdings: Historische Wissenschaft als solche vermag den Prozess der Kulturformung zu rekonstruieren und zu würdigen, sich dem Anspruch der Texte zu unterwerfen, ist sicherlich nicht ihre Aufgabe. Leserinnnen und Leser werden bei der Lektüre der folgenden Aufsätze feststellen, dass der Autor die Ideengeschichte des Konfuzianismus in ebenso kundiger wie kritischer Weise untersucht und sich dabei nicht scheut, etwa in politischen Grundsatzfragen eigene Standpunkte zu äußern, also seine Identität als Vertreter des modernen demokratischen Taiwan in den historischen Diskurs einzubringen. Auch die großen Kommentatoren der Tradition wie etwa Zhu Xi (㛙䅡, 1130-1200) oder Wang Yangming (䌳春㖶, 1472-1529) werden in ausgewogener Weise und im Stil einer sympathisierenden Kritik interpretiert. Die kanonischen Schriften selbst, vor allem die Gespräche des Konfuzius und das Buch Mengzi sind dagegen an keiner Stelle Gegenstand der Kritik des Autors. An einer aufschlussreichen Stelle seiner 2001 erschienen englischen Monographie, die sich der Überlieferungsgeschichte des Buches Mengzi widmet, klärt der Autor sein Verhältnis zu den Kommentatoren der Tradition, die das Mengzi in ganz verschiedener Weise ausgelegt haben: »To begin with, it is a historical fact that all the historical interpreters advanced their views by accusing others, whether contemporary or historical, of ›misunderstanding Mencius‹. Secondly, how did they judge others? By the impacts Mencius made on their contemporary lives. How did they receive Mencius’ impacts? By marshaling the

VORWORT | 25 best literary-critical apparatus of their days. Thirdly, this volume similarly marshaled the best literary-critical apparatus of my days to receive Mencius’ impact on me in my daily life, thereby critically appraising these historical interpreters. Fourth, those past interpreters did not have what I have, to be sure, and so I feel obliged to critically appraise their readings of Mencius.«5

Mehrere Punkte an diesem Credo erscheinen bemerkenswert: Zunächst das Fortwirken des Anspruchs der kanonischen Schriften, einen Einfluss auf das tägliche Leben dessen zu haben, der sie studiert. Der kritische Apparatus wissenschaftlicher Methoden ist vor allem ein Instrument, um diesen Einfluss zur Geltung zu bringen und seiner Art nach genau zu bestimmen – nicht etwa, um ihn abzuweisen. Sodann fällt auf, dass die Kritik sich ausschließlich auf bereits vorliegende Deutungen des Buches Mengzi richtet, nicht aber auf diese Schrift selbst. Der Interpret empfängt einen Einfluss durch dieses Buch und bedient sich dann der wissenschaftlichen Methoden seiner Zeit, um frühere Deutungen zu korrigieren, welchen diese wissenschaftlichen Mittel nicht zu Gebote gestanden haben. Schließlich: Dass auch den Verfassern des Mengzi diese Mittel nicht zur Verfügung gestanden haben und es folglich notwendig sein könnte, sie auf den Ursprungstext selbst anzuwenden, um Mehrdeutigkeiten herauszuarbeiten und Missverständnisse oder Widersprüche im Text selbst zu beseitigen, wird nicht gesagt. Nun ist zwar klar, dass jede Kritik an der Interpretation eines Textes eine eigene Interpretation desselben Textes voraussetzt, und insofern werden die wissenschaftlichen Mittel der Gegenwart natürlich auch in der Lektüre des Mengzi zum Einsatz gebracht, aber die Art und Weise, wie hier der kritische Fokus alleine auf die Kommentatoren gerichtet ist, erscheint mir dennoch charakteristisch. Andere Deutungen müssen kritisiert werden, um den Ausgangstext selbst zu verstehen – und der konfuzianische Vollsinn von Verstehen beinhaltet notwendig das stetige Bemühen, den Ansprüchen des Textes an das Leben des Einzelnen gerecht zu werden. Dass also die kanonischen Schriften hier von der Kritik weitgehend ausgenommen 5 | Chun-chieh Huang: Mencian Hermeneutics – A History of Interpretations in China, New Brunswick (USA) und London (UK): Transaction Publishers 2001, S. 267.

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bleiben, mag zum einen daran liegen, dass der Autor Historiker und kein Philologe oder Philosoph ist, dessen Erkenntnisinteresse folglich dem gilt, was im Laufe der Geschichte mit den kanonischen Schriften passiert ist, wie sie gelesen, interpretiert, kommentiert und tradiert wurden – es liegt aber auch daran, dass die Autorität dieser Schriften hier fortwirkt, und dies in einer Weise, die über die etwa von Gadamer betonte Autorität des Klassischen hinausgeht. Es handelt sich in letzter Konsequenz um eine moralische Autorität, welche in den kanonischen Schriften die Quelle eines kulturellen Sinnes sieht, der zusammen mit allem anderen schließlich auch die Maßstäbe bereitstellt, nach denen die Schriften selbst gelesen und verstanden werden müssen. Angesichts dieses für westliche Leserinnen und Leser ungewohnten Umgangs mit einem bestimmten Korpus von nichtheiligen Texten rate ich zu einer gleichsam doppelten Lektüre der folgenden Aufsätze. Einerseits handelt es sich um Texte aus der Hand eines ausgewiesenen akademischen Experten auf diesem Gebiet, dessen Kenntnis der Texte und der Zusammenhänge ihrer Überlieferung sich die weniger kundigen Leserinnen und Leser ruhig anvertrauen dürfen. Und andererseits sind es die Texte eines Vertreters der konfuzianischen Tradition, der beständig darum bemüht ist, den traditionellen – die moralische Kultivierung des Einzelnen anleitenden – Umgang mit bestimmten Texten herauszuarbeiten, welcher freilich über den Bereich der akademischen Arbeit hinausweist und Fragen der individuellen Lebensführung betriff t. Unter diesem zweiten Aspekt sind die Texte von Chun-chieh Huang wiederum einerseits Zeugnisse seiner ganz persönlichen Art und Weise, ein moderner Historiker und ein konfuzianischer Gelehrter zu sein, und andererseits sind die Texte typisch für eine bestimmte historische Konstellation innerhalb der konfuzianischen Geistesgeschichte, aber auch innerhalb der modernen globalisierten Welt insgesamt. Denn unter den vielen Brüchen und Umbrüchen, die der Konfuzianismus durchlaufen hat, stellt die Begegnung mit der vom Westen importierten modernen Wissenschaft sicherlich einen der größeren dar. Was das Label ›konfuzianisch‹, angewendet auf die modernen Gesellschaften Chinas, Taiwans, Koreas oder Singapurs oder auf bestimmte Werte oder Lebensstile in Ostasien heute noch bedeutet, ist alles andere als offensichtlich. Griffige Definitionen des Konfuzianismus sind nur

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um den Preis sträflicher Vereinfachung oder dogmatischer Blindheit zu haben. So bleibt also nur, sich dem Gegenstand in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit zu nähern und beides herauszufinden zu versuchen: Wie die konfuzianische Realität in der Vergangenheit ausgesehen hat und wieviel Strahlkraft davon heute noch ausgeht. Die folgenden Aufsätze untersuchen die Tradierung der kanonischen Schriften des Konfuzianismus im kulturellen Kontext Ostasiens und handeln damit immer auch von dem Streit gelehrter Männer darüber, was der Konfuzianismus ist und sein soll, was ihn ausmacht und wozu er gut ist – und sie handeln folglich auch von den Bemühungen eines heutigen akademischen Autors, für den es persönlich wichtig ist, auf diese Fragen eine eigene Antwort geben zu können. In diesem Sinne darf ich als Übersetzer und Herausgeber hoffen, dass das hier vorgelegte Buch auf beide der eben angesprochenen Fragen zumindest vorläufige Antworten bereithält und manche Leserinnen und Leser zur Suche nach weitergehenden Antworten animieren wird. Autor und Übersetzer möchten Professor Jörn Rüsen ihren Dank aussprechen für seine Unterstützung des Projekts und die Aufnahme des Buches in eine von ihm betreute Publikationsreihe. Außerdem gilt unser Dank dem transcript Verlag, insbesondere dem zuständigen Projektmanager, Herrn Alexander Masch, für die professionelle und verbindliche Betreuung des Publikationsprozesses.

Taipeh, im September 2008 Stephan Schmidt

1.

Über das Verhältnis von Klassiker-Auslegung und philosophischer Konstruktion am Beispiel von Zhu Xis Kommentierung der Vier Bücher

1.1 Einleitung

Anders als die Philosophen des Abendlandes haben chinesische Denker ihre Ideen häufig nicht in der direkten Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gegenstand entwickelt, sondern auf dem Wege der Kommentierung und Auslegung der kanonischen Schriften der Tradition. Ihre eigenen denkerischen Entwürfe entstanden also in enger Bezugnahme auf den traditionellen Kanon, aber gleichzeitig war die Lektüre dieser Schriften unweigerlich geleitet von eigenen denkerischen Interessen. Einerseits ging es den chinesischen Gelehrten also darum, durch das Studium der klassischen Schriften neue Einsichten zu gewinnen, andererseits haben sie im Lichte ihres gegenwärtigen Wissens und Denkens die alten Texte reflektiert und ihnen dadurch neuen Sinn abgewonnen. Wir können daher sagen, dass die Denker der chinesischen Tradition in Personalunion die Rollen von Philosophen und historischen Gelehrten gespielt und dadurch Textstudium und philosophische Reflexion miteinander verschmolzen haben. Entsprechend beinhaltet die literarische Form des Klassiker-Kommentars beide Momente, und zwar auf eine nicht wiederum formal unterschiedene Weise: Philosophische Reflexion vollzieht sich im Medium der Auslegung kanonischer Schriften, so dass das, was seiner literarischen Gattung nach als Kommentar auftritt, zugleich die Funktion einer philosophischen Abhandlung miterfüllt 1 – für 1 | Vgl. Chun-chieh Huang: »The Philosophical Argumentation by Historical Narration in Sung China: The Case of Chu Hsi [Zhu Xi]«. In: Thomas H.C. Lee (Hg.), The New and the Multiple:

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dieses zweite Moment steht hier der Ausdruck »philosophische Konstruktion« (zhexue jiangou ⒚⬠⺢㥳). Für den modernen Interpreten der Kommentarliteratur stellt sich in diesem Kontext unweigerlich die im vorliegenden Aufsatz am Beispiel des Zhu Xi (㛙䅡, 1130-1200) erörterte Frage, welche Anteile und Inhalte des Kommentar-Textes tatsächlich kommentierend und damit rekonstruierend sind und welche vorwiegend das Vehikel der philosophischen Standpunkte des Kommentators sind. Die Frage betriff t das Problem der ›Treue‹ der Kommentare zu den kanonischen Schriften und damit gleichzeitig das der Spielräume für Fortschritt und Entwicklung innerhalb der chinesischen Geistesgeschichte. Wer mit der Spezifik der chinesischen Kommentarliteratur nicht vertraut ist, mag leicht – wie etwa Hegel – den Eindruck bekommen, dass in China gar keine denkerische Entwicklung stattgefunden habe, weil diese in der Redundanz immer neuer Kommentare der ewig selben Texte gleichsam untergegangen sei. Bevor wir anhand der Kommentare des Zhu Xi herausarbeiten, dass dieser Eindruck täuscht, sind einige Angaben zur Entstehung einer solchen Literatur und philosohischen Tradition zu machen. Die Ursachen für die Spezifi k der chinesischen Kommentarliteratur sind vielfältig, aber der wichtigste Grund dürfte darin liegen, dass im Verlauf des ersten vorchristlichen Jahrtausends, nach dem achsenzeitlichen philosophischen Durchbruch (zhexue tupo ⒚⬠䨩䟜) der chinesischen Kultur, die Autorität der kanonischen Schriften etabliert wurde, so dass deren Inhalt als Orientierungspunkt für individuelle Ethik, die Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Einrichtung eines harmonischen Gemeinwesens2 unumstößliche Sung Senses of the Past, Hongkong: The Chinese University Press 2004, S. 107-120. 2 | Anmerkung des Übersetzers: Hier bezieht sich der Autor implizit auf einen Topos aus der kanonischen Schrift Die große Lehre (Da xue ⣏⬠), einem der hier im Zentrum stehenden Vier Bücher (Si shu ⚃㚠), dessen Eröff nungsparagraph den Gedanken einer harmonischen Ordnung zum Ausdruck bringt, worin individuelle, soziale, staatliche und schließlich kosmische Ebene inbegriffen sind. Die Errichtung und Aufrechterhaltung dieser Ordnung ist Aufgabe des Menschen, der bei sich ansetzt und von dort aus aufsteigend seinen Beitrag zur Ordnung des Ganzen leistet.

1.1 E INLEITUNG | 33

Geltung erlangte. Bereits in der sogenannten »Zeit der streitenden Reiche« (㇘⚳㗪ẋ, 475-221 v. Chr.) existierte der Ausdruck »Sechs Klassiker« (Liu jing ℕ䴻) der konfuzianischen Tradition, womit gemeint waren: Buch der Lieder (Shi jing 娑䴻), Buch der Dokumente (Shu jing 㚠䴻), Buch der Riten (Li ji 䥖姀), Buch der Musik (Yue jing 㦪䴻), Buch der Wandlungen (Yi jing 㖻 䴻) sowie die Frühjahr und Herbst Annalen (Chun qiu 㗍䥳). Auf dieser Grundlage aufbauend wurde in den folgenden Jahrhunderten die Kompilation und Kanonisierung der maßgeblichen Texte stetig vorangetrieben, differenziert und ergänzt. Neben die kanonischen Schriften selbst traten dabei umfangreiche Kommentarwerke, die ebenfalls systematisch kompiliert wurden, so dass schließlich in der Mingzeit (1368-1644) die Edition der Dreizehn Klassiker-Kommentare (Shisan jing zhushu ⋩ᶱ䴻 㲐䔷) erfolgte. Diese beständige Erweiterung des Kanons verstärkte die Tendenz chinesischer Denker, ›von den Klassikern her zu denken‹, d.h. die kanonischen Schriften zum Ausgangspunkt bei der Konstruktion eigener philosophischer Entwürfe zu machen. Der auf diese Weise entstandene mainstream innerhalb der chinesischen Philosophiegeschichte wird von Zhu Xi in einer Gedichtszeile zu folgendem Ausdruck gebracht: »Den Flusslauf fragend, woher sein reines Wasser kommt [wie es sein kann, dass sein Wasser so rein ist], wird man geführt zu seiner sprudelnden Quelle«.3 Trefflich gesagt! Nicht aus späteren Zuflüssen, sondern aus der ursprünglichen Klarheit der Quelle empfängt der Fluss der Tradition seine lebensspendende Kraft. Allerdings macht ein zeitgenössischer Gelehrter, Liu Xiaogan (∱䪹㔊), darauf aufmerksam, dass die Tätigkeit des Kommentators kanonischer Schriften und die schöpferische Arbeit des Philosophen ihrer äußerlichen Form nach betrachtet zwei unterschiedliche, einander geradezu wesensmäßig entgegengesetzte Typen intellektueller Aktivität darstellen: »Was die Arbeit des Kommentators verlangt, ist eine historische, philologische, objektive Ausrichtung (dingxiang ⭂⎹), bei der subjektive Standpunkte so weit wie möglich ausgeschlossen bleiben, 3 | ˬ⓷㷈恋⼿㶭⤪姙炻䁢㚱㸸柕㳣㯜Ἦ˭ In: 㛙⫸ℐ㚠 (Gesamtausgabe des Meisters Zhu [Zhu Xi]), Shanghai: Guji Chubanshe und Hefei: Anhui Jiaoyu Chubanshe 2002, Bd. 2, S. 286. Alle folgenden Originalzitate werden nach dieser Edition angeführt, jeweils unter dem Kürzel Gesamtausgabe mit Band- und Seitenzahl.

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während die schöpferische Arbeit des Philosophen auf einer persönlichen, aktuellen, subjektiven und kreativen Ausrichtung beruht.«4 Dies mag als methodologische Maxime zwar richtig sein, aber mit Blick auf die chinesische Geistesgeschichte müssen wir zunächst einmal feststellen, dass in ihr diese unterschiedlichen und entgegengesetzten Typen einander ergänzt und komplettiert haben. Sie sind nicht in idealtypischer Weise manifest hervorgetreten, sondern haben innerhalb der literarischen Gattung des Kommentars die aufeinander bezogenen Pole einer Spannung ausgebildet, welche die chinesische Geistesgeschichte durchzieht und ihre – von westlichen Beobachtern häufig übersehene – Dynamik bewirkt. Die Denker der chinesischen Tradition sind gerade auf dem Wege historisch, philologisch rekonstruierender und in diesem Sinne ›objektiv‹ ausgerichteter Auslegung der Klassiker der Konstruktion ihrer aktuellen, philosophisch konstruktiven und damit unweigerlich subjektiven Entwürfe nachgegangen. Zwischen beiden Arten geistiger Arbeit bestand ein sowohl zu Verschmelzung tendierendes wie auch von Spannungen getragenes Verhältnis, das zur Herausentwicklung einer dynamischen umfassenden Synthese in der literarischen Form des Kommentars geführt hat. Im Zentrum des vorliegenden Aufsatzes stehen die Kommentare des Zhu Xi (㛙䅡, 1130-1200) zu den konfuzianischen Vier Büchern, anhand deren das komplexe Verhältnis von KlassikerAuslegung und philosophischer Konstruktion untersucht werden soll. Im zweiten Abschnitt wird dargelegt, wie trotz der Verschmelzung zu einer gemeinsamen Form im Kern die philosophische Konstruktion eine die Klassiker-Auslegung anleitende Funktion (zhipeixing zhi zuoyong 㓗惵⿏ᷳἄ䓐) ausgeübt hat. Im dritten Abschnitt wird diskutiert, warum und auf welche Weise die Ausübung dieser anleitenden Funktion zu Spannungen zwischen beiden Ausrichtungen geführt hat. Der vierte Ab4 | Liu Xiaogan: »䴻℠娖慳ᷕ䘬ℑ䧖ℏ⛐⭂⎹⍲℞⢾⊾« (Zwei Arten von innerer Ausrichtung bei der Klassiker-Auslegung und ihre jeweilige äußere Anwendung). In: ᷕ⚳㔯⒚䞼䨞普↲ (Zeitschrift für die Erforschung Chinesischer Literatur und Philosophie), Nr. 26, Taipeh: Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der Academia Sinica 2005, S. 318.

1.1 E INLEITUNG | 35

schnitt schließlich analysiert die Möglichkeiten und Methoden einer dynamischen Synthese beider Ausrichtungen, bevor einige Schlussfolgerungen im fünften Abschnitt die Untersuchung beschließen.

1.2 Die anleitende Funktion der philosophischen Konstruktion: Klassiker-Auslegung im Kontext von Zhu Xis philosophischem System

Wir betrachten zunächst die erste Art von Beziehung zwischen philosophischer Konstruktion und Klassiker-Auslegung: Die anleitende Funktion, welche erstere gegenüber letzterer besitzt, und die in manchen Situationen so weit geht, dass sie die Koordinaten der Auslegung geradezu umstürzt. Die lebenslange Beschäftigung des Zhu Xi mit dem Verständnis der Vier Bücher und sein um die Begriffe Ti (橼ġ Körper, Wesen) und Yong (䓐ġ Anwendung, Funktion) sowie Li (䎮 Prinzip, geistiges Ordnungsmuster) und Qi (㯋ġ Atem, Stoff )5 kreisendes philosophisches System geben ein die chinesische Philosophiegeschichte und ihre Dynamik anschaulich repräsentierendes und typisches Beispiel. »Wenn wir uns über die alte Gelehrsamkeit verständigen, wird (unser Sinn) verfeinert, und indem wir uns im neuen Wissen üben, erlangt (unser Geist) Tiefe und Profundheit.«6 In diesem im Jahr 1178 verfassten Gedicht gibt Zhu Xi den Bemühungen 5 | Anmerkung des Übersetzers: Zur philosophischen Semantik dieser Ausdrücke vgl. das Glossar zentraler Begriffe im Anhang. 6 | ˬ冲⬠⓮慷≈怫⭮炻㕘䞍➡梲廱㶙㰰˭ġIn: Gesamtausgabe, Bd. 20, S. 4.

1.2 K L AS SIKER -A USLEGUNG | 37

seines Gelehrtenlebens prägnanten Ausdruck: Für ihn war die Tradition ein Kontinuum, in dem zwischen Gestern und Heute kein abstrakter Gegensatz bestand, sondern »neues Wissen« (xin zhi 㕘䞍) sich aus den Quellen der Tradition speiste und deren Gehalt verfeinerte. Dem ist aber hinzuzufügen, dass Zhu Xi trotz dieses Bekenntnisses zur Tradition in Wirklichkeit mit seinem neuen Wissen die »alte Gelehrsamkeit« (gu xue ⎌ ⬠) verdeckt und das Heute zum Maßstab der Auslegung des Alten gemacht hat. Seine Gesammelten Kommentare zu den Kapiteln und Sätzen der Vier Bücher (⚃㚠䪈⎍普㲐) dienen zwar dem Aufschluss des lebendigen Moments (kai shengmian 攳䓇 朊) der kanonischen Schriften, vermeiden aber nicht, am Ende die Alten (gu ren ⎌Ṣ)7 ihrer Unzulänglichkeiten anzuklagen. Anhand von Zhu Xis Gebrauch des Begriffspaares Ti-Yong (橼 䓐ġKörper/Wesen – Anwendung/Funktion) können wir dieses Muster seiner Auslegung der Vier Bücher analysieren. Zuvor allerdings ist zumindest eine grobe Skizze der wesentlichen Denkmittel von Zhu Xis Philosophie erforderlich. Zhu Xi bedient sich bei der Analyse von Wirklichkeit und Lebenswelt eines Denkschemas, das man als »Zerlegung von Einheit in Oppositionen« (yi fen wei er ᶨ↮䁢Ḵ)8 bezeichnen kann. Alle zentralen Begriffspaare des Zhu Xi entsprechen diesem Muster. Allerdings ist dem sogleich Zhu Xis Insistieren hinzuzufügen, dass dem scheinbaren Dualismus seiner Begriffe und der damit beschriebenen Phänomene tatsächlich Verhältnisse wirklicher Zusammengehörigkeit zugrunde liegen, dass also das geistig und zum Zwecke der Analyse in Oppositionen Zerlegte real eine Einheit bildet. Zhu Xi sagt: »Ost und West, oben und unten, Winter und Sommer, Tag und Nacht, Tod und Leben, sie alle sind einander entgegengesetzt und so aufeinander bezogen (xiangfan er xiangdui ye 䚠⍵侴䚠⮵ḇ).«9 Und er fügt verallgemeinernd hinzu: »Es gibt unter den Dingen keine, 7 | Anmerkung des Übersetzers: Dieser Ausdruck bezieht

sich in respektvoller Form auf die großen Denker der Tradition und die von ihnen hervorgebrachten Werke. 8 | Dieser Topos taucht bereits sehr früh auf, nämlich in den berühmten Angehängten Kommentaren (Xi ci zhuan 专录⁛) zum Buch der Wandlungen (Yi jing 㖻䴻), an den Zhu Xi bewusst anschließt. Vgl. Gesamtausgabe, Bd. 16, S. 2218. 9 | Gesamtausgabe, Bd. 16, S. 2006.

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die nicht einander entgegengesetzt sind und einander dadurch ergänzen (xiangfan yi xiangcheng 䚠⍵ẍ䚠ㆸ)«.10 All das lässt sich dahingehend verstehen, dass Zhu Xi Ti (橼ġKörper, Wesen) und Yong (䓐ġAnwendung, Funktion), Li (䎮ġPrinzip, geistiges Ordnungsmuster) und Qi (㯋ġAtem, Stoff ) seinem Denkschema gemäß zwar trennt, dass er aber gleichzeitig die unverbrüchliche Einheit beider jeweiligen Komponenten betont. Sein berühmtes Diktum »das Li ist eins, (aber) in Besonderungen unterteilt« (li yi fen shu 䎮ᶨ↮㬲), kommentiert er selbst folglich so: »Das sogenannte eine Li (䎮) zieht sich durch die Vielfalt hindurch und entfernt sich von dieser nicht«.11 Auch dieses Zitat verweist auf die reale dialektische Einheit der begriffl ich unterschiedenen Komponenten.12 Nach dieser Vorstellung von Zhu Xis wesentlicher Denkfigur können wir mit der Untersuchung seiner Auslegung der kanonischen Schriften fortfahren. Ausgangspunkt ist eine Stelle aus dem Buch Gespräche des Konfuzius (Lunyu 婾婆 1, 12), wo es heißt: »Youzi sagt: In der Ausübung/Anwendung (yong 䓐) der Riten steht die Harmonie an erster Stelle; dadurch zeichnet sich der Weg der alten Könige aus, und im Kleinen wie im Großen ist dem Folge zu leisten.« 13 Zhu Xi bedient sich bei seiner 10 | Gesamtausgabe, Bd. 16, S. 2007. 11 | Gesamtausgabe, Bd. 12, S. 1639. 12 | Liu Shuxian (∱徘⃰) vertritt zu Recht folgende Ansicht: »Vom Standpunkt der Metaphysik aus gesehen ist Zhu Xi ein Dualist, vom Standpunkt der Praxis aus gesehen ein Monist. Beide Seiten gehören bei ihm zusammen, und nur wenn man das beachtet, lässt sich sein Denken in seiner Gesamtheit (quanmao ℐ尴) erfassen.« Vgl. Liu Shuxian: »㛙䅡䘬⿅゛䨞䪇ᶨ⃫婾ㆾḴ⃫婾?« (Ist das Denken des Zhu Xi nun monistisch oder dualistisch?). In: ᷕ⚳ 㔯⒚䞼䨞普↲ (Zeitschrift für die Erforschung Chinesischer Literatur und Philosophie), Eröffnungsband, Taipeh: Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der Academia Sinica 1991, S. 181-198. 13 | Anmerkung des Übersetzers: Soweit nicht anders angemerkt, handelt es sich bei Zitaten aus den kanonischen Schriften um eigene Übersetzungen nach den gängigen Einteilungen in Kapitel und Abschnitte. Da Übersetzungen aus dem klassischen Chinesisch jedoch schwierig sind und vorliegende publizierte Fassungen sich bisweilen erheblich unterschieden, gebe ich an einigen Stellen Alternativen an, um dem Leser die Spielräume der

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Auslegung dieser Stelle der in Songzeit (960-1279) verbreiteten, aber zur Entstehungszeit der Gespräche noch nicht entwickelten Ti-Yong (橼䓐)-Lehre: »Was die Riten betriff t, so sind sie die geordnete Erscheinung des himmlischen Prinzips (tianli ⣑䎮) und die Regeln für die menschlichen Angelegenheiten. Was die Harmonie betriff t, so ist damit sorgsame Gelassenheit ohne Zwang gemeint. Obgleich jene Riten ihrem Wesen (ti 橼) nach zwar streng sind, so erwachsen sie doch aus dem sich von selbst erweisenden Prinzip/geistigen Ordnungsmuster (ziran zhi li 冒䃞ᷳ䎮), und sind deshalb in ihrer Anwendung (yong 䓐) von freier Gelassenheit, weshalb sie in der Tat an erster Stelle stehen. Dadurch zeichnet sich der Weg der alten Könige aus.« 14

Dieser Kommentar des Zhu Xi hat bedeutende Implikationen sowohl hinsichtlich der Rezeptionsgeschichte der Vier Bücher als auch in Bezug auf die Lehre des Zhu Xi selbst. Was Zhu Xi hier zu erbringen versucht, ist gewissermaßen eine tiefer ansetzende Erklärung für das, was in den Gesprächen lediglich in der Form eines Diktums zum Ausdruck gebracht wird. Der von Konfuzius bloß behauptete Zusammenhang von Ritenbefolgung und Harmonie wird von Zhu Xi unter Zuhilfenahme des oben vorgestellten Ti-Yong (橼䓐)-Schemas weiter expliziert: Auslegung vor Augen zu halten. Ralf Moritz übersetzt die obige Stelle so: »You-zi sprach: ›Bei der Anwendung der Riten, bei der Beachtung der Umgangsformen lege man vor allem Wert auf Harmonie. Der Weg der früheren Könige zeichnete sich dadurch aus, dass sie in den großen wie den kleinen Dingen des Lebens so handelten.‹« Konfuzius: Gespräche, übers. und hg. von Ralf Moritz, Stuttgart: Reclam 1998, S. 7f. Eine englische Übersetzung lautet: »Master You said: ›Achieving harmony is the most valuable function of observing ritual propriety. In the ways of the Former Kings, this achievement of harmony made them elegant, and was a guiding standard in all things large and small.‹« The Analects of Confucius: A Philosophical Translation, übers. von Roger T. Ames und Henry Rosemont Jr., New York: Ballantine Books 1998, S. 74. Die Gespräche des Konfuzius werden fortan unter dem Kürzel Gespräche angeführt. 14 | Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 167.

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Demnach führt Ritenbefolgung deshalb zu Harmonie, weil die Riten selbst Ausdruck einer harmonischen, den ganzen Kosmos umfassenden Ordnung sind. Die Riten manifestieren etwas, was als solches nicht phänomenal hervortritt, sondern sozusagen von innen her Zusammenhang stiftet und wofür der Ti (橼)-Teil des Schemas steht – eine Ebene, die im KonfuziusZitat nicht zur Sprache kam. Folgende zwei Punkte verdienen besondere Erwähnung: 1. Zhu Xis Kommentierung der obigen Zeile aus den Gesprächen stützt sich philologisch auf Stellen aus anderen kanonischen Schriften, deren Sprachgebrauch von Zhu Xi aufgegriffen wird. Die Charakterisierung der Riten als einer »geordneten Erscheinung« ( jie wen 䭨㔯) etwa findet sich sowohl im Buch Mengzi (⬇⫸) als auch im Buch der Riten (Li ji 䥖姀) und im Guanzi (䭉⫸). Zhu Xi schließt hier also an einen etablierten und gewissermaßen ›orthodoxen‹ Sprachgebrauch an und verschaff t seiner Deutung damit Legitimation. Allerdings ist zu beachten, dass Zhu Xis Auslegung bestimmte Gleichsetzungen vornimmt, die sich in dieser Form in der Tradition nicht finden: Die geordnete Erscheinung des himmlichen Li (䎮), d.h. die Gesetzmäßigkeit natürlicher Vorgänge, wird identifiziert mit den Regeln für die menschliche Angelenheiten, d.h. das »Wie es ist« (suoyi ran ㇨ẍ䃞) natürlich kosmischer Vorgänge wird identifiziert mit dem »Wie es sein soll« (suo dangran ㇨䔞䃞) zwischenmenschlicher Beziehungen, oder bündig: Sein und Sollen werden gleichgesetzt. Auf diesem Denkweg entwickelt Zhu Xi seine Auslegung der Vier Bücher, zum Beispiel sein Verständnis von Konfuzius’ berühmtem Zitat »Mit Fünfzig kannte ich den Befehl des Himmels« (wushi er zhi tianming Ḽ⋩侴䞍⣑␥),15 das von ihm so ausgelegt wird: »Befehl des Himmels, das bezieht sich auf die Verlaufsformen des Himmelsweges (tian dao ⣑忻), die alle Dinge bestimmen und aus denen die Dinge ihr ›Wie sie sein sollen‹ (suo yi dangran ㇨ẍ䔞䃞) empfangen.«16 Und noch an einer weiteren Stelle werden »Himmelsweg« (tian dao ⣑忻) – als Oberbegriff für die natürlichen Verlaufsprozesse des Kosmos – und »Befehl des Himmels« (tian ming ⣑␥), also die Normativität dessen, was aus menschlicher Sicht zu tun und zu unterlassen ist, 15 | Gespräche 2, 4. 16 | Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 75.

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miteinander konfundiert.17 Auf diese Weise steht der ›Befehl des Himmels‹ schließlich sowohl für natürliche Gesetzmäßigkeit als auch für die Normativität der menschlichen Angelegenheiten – eine Gleichsetzung von Sein und Sollen, die es im älteren Konfuzianismus nicht gibt. Zhu Xi bringt diesen Aspekt mit einer ganzen Reihe von terminologischen Neuprägungen zum Ausdruck, die sich alle des Schriftzeichens Li (䎮ġ Prinzip, geistiges Ordnungsmuster) bedienen18 und mit denen Zhu Xi nun den Inhalt und die Begrifflichkeit der Vier Bücher neu interpretiert.19 2. Zhu Xis Interpretation der Stelle aus den Gesprächen triff t eine Unterscheidung der Riten hinsichtlich des ihnen Wesentlichen (li zhi ti 䥖ᷳ橼) und hinsichtlich ihrer Anwendung/ Ausübung (li zhi yong 䥖ᷳ䓐), also hinsichtlich ihres Ti (橼)Aspekts und Yong (䓐)-Aspekts. Die auf das Wesentliche – im Sinne des »sich von selbst erweisenden Prinzips« (ziran zhi li 冒䃞ᷳ䎮) – gestützte Interpretation des Anwendungsaspekts ist dabei ganz in Zhu Xis eigenem Denken verwurzelt und ein Ausdruck seiner Philosophie. Oder anders gesagt: Was Zhu Xi als Implikationen des Ausspruchs von Konfuzius präsentiert und in eigener Begrifflichkeit expliziert, sind in Wahrheit Positionen, die vor allem er selbst vertritt. Die formale Spezifi k liegt im bereits eingangs kenntlich gemachten Muster der Interpretation als Zerlegung von Einheit in Oppositionen (yi fen wei er ᶨ ↮䁢Ḵ): Zhu Xi unterteilt die Riten in zwei Aspekte oder Seiten, die ein einheitliches Ganzes konstituieren. Seine Methode der 17 | Vgl. ebd., S. 641. 18 | Im Konfuzianismus der Vor-Qinzeit fi ndet sich lediglich eine Stelle bei Menzius, in der dieses Schriftzeichen in vergleichbarer Weise Verwendung findet (Mengzi 6A, 7). Siehe hierzu folgende Darstellungen von Wing-tsit Chan: »Neo-Confucianism: New Ideas in Old Terminologies«. In: Philosophy East and West, 17:1-4 (1967), S. 15-35; »Chu Hsi’s Completion of Neo-Confucianism«. In: Françoise Aubin (Hg.), Etudes Song in Memoriam Etienne Balazs, Série II, Paris: Mouton & Co. et École Pratique des Hautes Études 1973, S. 73-80; »The Evolution of the Neo-Confucian Concept of Li Principle«. In: Tsing-hua Journal of Chinese Studies, vol. 2 (1962), S. 123-149. 19 | Vgl. Wing-tsit Chan: Chu Hsi: Life and Thought, Hongkong: The Chinese University Press 1987, S. 49.

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Zerlegung von Einheit in Oppositionen beinhaltet also ebenso eine Konstitution von Einheit aus Oppositionen (he er wei yi ⎰Ḵ 䁢ᶨ), und es ist wiederum die Einheit dieser beiden Seiten, die man als Prinzip seiner Auslegung der kanonischen Schriften bezeichnen kann. Die Gleichsetzung von Sein und Sollen ist gewissermaßen die inhaltliche Entsprechung zu dieser Methode: Durch sein Denkschema wird Zhu Xi dazu geführt, in beiden sprachlich zu unterscheidenden Dimensionen eine tatsächliche Einheit zu sehen. In der Sichtweise des Zhu Xi ähnelt das Verhältnis von Ti (橼) und Yong (䓐) dem von innerer Essenz (benti 㛔橼)20 und Phänomen (xianxiang 䎦尉), d.h. beide können unterschieden werden, sind aber ontologisch nicht getrennt – es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass wir hier in wechselnden Begriffspaaren einem sich durchhaltenden Muster begegnen, so dass wir von einem Prinzip der Klassiker-Auslegung bei Zhu Xi sprechen können: Ausdrücke der Tradition werden in Oppositionen zerlegt, deren Zusammenspiel die innere Dynamik der geistigen, sozialen und historischen Wirklichkeit bildet. Die Vorstellung eines geordneten und in seiner Ordnung intelligiblen Kosmos übernimmt Zhu Xi dabei aus der konfuzianischen Tradition; die begrifflichen Mittel seiner Analyse aber entstammen nicht den kanonischen Schriften, sondern werden als eigener Beitrag in den Diskurs eingebracht, welcher dadurch natürlich eine veränderte Form annimmt. Auf dem Wege der KlassikerAuslegung in neuer Terminologie entsteht ein neuer Sinn, von dem nicht leicht zu sagen ist, ob er der Sinn der kanonischen Schriften oder eher der des Zhu Xi selbst ist, d.h. eher ein Spiegel der philosophischen Intentionen des Auslegers als die treue 20 | Anmerkung des Übersetzers: Dieser in der chinesischen Tradition wichtige und wörtlich so viel wie »Wurzel-Körper« bedeutende Begriff wird häufig mit »Sein« oder »Substanz« übersetzt, was insofern naheliegend ist, als er eine ähnlich grundlegende systematische Stelle im konfuzianischen Gedankengebäude einnimmt; es ist aber wichtig zu betonen, dass eine Substanzontologie in China nicht ausgebildet wurde und das Benti (㛔橼) sich auf einen dynamischen, von seiner phänomenalen Erscheinung nicht zu trennenden Kern der Wirklichkeit bezieht. Es liegt hier also kein Schema ähnlich dem aristotelischen von Substanz und Akzidenz vor.

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Wiedergabe im Dienst der alten Schriften. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, haben viele Gelehrte nach Zhu Xi seine Auslegung vor allem als Verzerrung empfunden, gegen die eine Wiederaneignung des ursprünglichen Sinns der kanonischen Schriften vorgenommen werden musste.

1.3 Die Spannung zwischen Klassiker-Auslegung und philosophischer Konstruktion

Mit Hilfe der eben vorgestellten Begriffspaare hat Zhu Xi eine Auslegung der Vier Bücher geschaffen, die ab dem Jahr 1313 kanonisch wurde. Fortan bildeten die von Zhu Xi edierten Vier Bücher zusammen mit seinen Gesammelten Kommentaren (Ji zhu 普㲐) die Textgrundlage für die Beamtenprüfungen, d.h. dieses Textkorpus wurde zum zentralen Wissensbestand, an dem die gesellschaftliche Elite ihre Bildung erfuhr und deren Beherrschung das entscheidende Kriterium bei der Rekrutierung der künftigen Beamten-Gelehrten bildete. Wir müssen uns daher jetzt fragen, zu welchen Spannungen die oben herausgearbeitete Tatsache geführt hat, dass Zhu Xis Auslegung der kanonischen Schriften gleichzeitig das Medium seiner eigenen philosophischen Konstruktion war. Zwei Ausprägungen dieser Spannungen sind hier zu unterscheiden:

1.3.1 Spannungen hinsichtlich der sprachlichen Gestalt Verallgemeinernd gesagt, ist Zhu Xis Sprache nicht die der kanonischen Schriften, sondern eine, die im geistigen Kontext

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des songzeitlichen Neo-Konfuzianismus21 geformt wurde. Das gilt insbesondere für seine aus dynamischen Oppositionen gebildeten Begriffspaare, die sich in den älteren Texten so nicht finden. Ein besonders repräsentatives Beispiel für die damit entstandene Spannung ist das im zweiten Abschnitt vorgestellte Verständnis der Riten – ausgehend von dem Zitat aus den Gesprächen des Konfuzius: »In der Ausübung der Riten steht die Harmonie an erster Stelle« – das von Zhu Xi mit Hilfe des TiYong (橼䓐)-Schemas analysiert und damit gleichsam in seinen songzeitlichen Sprachgebrauch übersetzt wurde. Ti-Yong (橼䓐) ist ein schillerndes und facettenreiches Begriffspaar, dessen Ursprung sich bis in das zweite nachchristliche Jahrhundert zurückverfolgen lässt.22 An seiner Entwicklung zu einer zentralen Kategorie des chinesischen Denkens haben außer Wang Bi (䌳⻤, 226-249) mit Seng Zhao (₏倯, 384-414) und Fa Zang (㱽啷, 643-712) auch zwei dem Buddhismus zuzurechnende Denker prominent mitgewirkt. Im neo-konfuzianischen Kontext begegnen wir dem Begriffspaar dann bei fast allen wesentlichen Denkern, wobei insbesondere der Beitrag von Zhu Xis engem Weggefährten Cheng Yi (䦳柌, 1033-1107) hervorzuheben ist, der als erster darauf bestanden hat, dass Ti

21 | Anmerkung des Übersetzers: Es handelt sich um eine häufig als konfuzianische ›Renaissance‹ bezeichnete Bewegung der Songzeit, in der die zu diesem Zeitpunkt bereits über tausend Jahre alten geistigen und textlichen Grundlagen der konfuzianischen Tradition rekonstituiert wurden. Entscheidende Impulse gingen dabei von dem in den vorangegangenen Jahrhunderten zur Blüte gelangten chinesischen Buddhismus aus, was – wie im Weiteren noch deutlich werden wird – gleichzeitig zu großen Spannungen innerhalb des Konfuzianismus und zu einem Streit um die Orthodoxie bzw. Heterodoxie bestimmter Auslegungen geführt hat. Vgl. einführend die Darstellung bei Rainer Hoffmann/Hu Qiuhua: Neokonfuzianer und Sinobuddhisten – Drei Studien zur Entstehung der Lixue-Philosophie in der späten Tang-Dynastie, Freiburg i.Br.: Arnold Bergstraesser Institut 1997. 22 | Für den folgenden Überblick vgl. den Eintrag »Ti-Yong« von Chen Rongjie (Wing-tsit Chan) in: ᷕ⚳⒚⬠录℠ (Wörterbuch der chinesischen Philosophie), hg. von Wei Zhengtong (杳㓧忂), Taipeh: Dalin Chubanshe 1981, S. 853.

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und Yong einen gemeinsamen Ursprung haben (ti yong yi yuan 橼䓐ᶨ㸸) und folglich eine dynamische Einheit bilden. Die hier knapp skizzierte Aufnahme von nicht-konfuzianischen Begriffen in den konfuzianischen Diskurs erregte den Unwillen einiger späterer, für eine größere Treue zum Sprachgebrauch der kanonischen Schriften eintretender Gelehrter, wie etwa des japanischen Konfuzianers der Tokugawa-Zeit (1600-1868), Ito Jinsai (Ẳ喌ṩ㔶, 1627-1705), der Zhu Xis Klassiker-Auslegung philologisch kritisierte. Ito gehört zur »Schule der alten Gelehrsamkeit« (Guxue pai ⎌⬠㳦), deren Anliegen es ist, durch intensives Textstudium gleichsam in die originale Gesprächssituation zwischen Konfuzius und seinen Schülern zurückzukehren, um so den ursprünglichen Sinn der Gespräche zu erschließen.23 Dies beinhaltet zugleich ein Festhalten am originalen Sprachgebrauch der Klassiker und eine Ablehnung von Übersetzungen in später entwickelte Terminologien. Ito Jinsai stützt sich auf das klassische Buch der Riten (Li ji 䥖姀) und betont, dass die Durchführung (yong 䓐) der Riten im Dienst der Harmonie stehe (li zhi yi he wei gui 䥖ᷳẍ␴䁢屜),24 weshalb Zhu Xis getrennte Bezugnahme auf Riten und Harmonie eine verhängnisvolle Trennung einführe, geradezu eine Perversion (guaili ᷾㇦) des Ursprungssinns.25 Das Zeichen für »Anwendung« (yong 䓐) hat nach Ito an der fraglichen Stelle keinen eigenständigen Sinn als Moment eines binären Begriffsschemas, son23 | Vgl. die Darstellung bei Koyasu Nobukuni (⫸⬱⭋恎): Ẳ

喌ṩ㔶̯ᶾ䓴ġ (Die Welt des Ito Jinsai), Tokio: Perikan Sha 2004, S. 310-330. 24 | Vgl. Chun-chieh Huang: ⽟ⶅ㖍㛔婾婆娖慳⎚婾 (Zur Geschichte der Auslegung der Gespräche des Konfuzius im Japan der Tokugawa-Zeit), Taipeh: Taida Chuban Zhongxin 2006, S. 107-144. Itos Traktat mit dem Titel 婾婆⎌佑 (Der ursprüngliche Sinn der Gespräche des Konfuzius) findet sich in einer von Kangi Ichiro (敊 ₨ᶨ恶)ġherausgegebenen Textsammlung: 㖍㛔⎵⭞⚃㚠姣慳ℐ㚠 (Gesamtausgabe der Kommentare berühmter japanischer Gelehrter zu den ›Vier Büchern‹), Tokio: Ho Shupan 1973, Abteilung 3. Alle im Text angeführten Zitate finden sich auf den Seiten 10f. 25 | Insofern das Buch der Riten etwas später kompiliert wurde als die Gespräche des Konfuzius ist die philologische Grundlage von Itos Kritik unter Zugrundelegung seiner eigenen Prämissen durchaus fragwürdig.

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dern erfüllt grammatisch die Funktion einer Partikel und ist inhaltlich ganz auf die Harmonie bezogen. Das Ti-Yong (橼䓐)Schema wird von Ito grundsätzlich abgelehnt, weil es seinen Platz in der Gelehrsamkeit der Songzeit habe und – das ist das Entscheidende – eigentlich ein Denkmittel der buddhistischen Tradition darstelle. Es steht für Ito deshalb außerhalb des sittlichen Kontextes des Konfuzianismus. Im Gegensatz dazu sieht Zhu Xi unter dem Einfluss des Cheng Yi (䦳柌, 1033-1107) in dem Begriffspaar keinen Fremdkörper, sondern eine Möglichkeit, den Sinn der kanonischen Schriften präziser zu fassen und sie gleichsam ›auf die Höhe der Zeit‹ zu bringen.26 Er nimmt dafür in Kauf, sich hinsichtlich der sprachlichen Gestalt seiner Auslegung von den kanonischen Schriften zu entfernen.

1.3.2 Spannungen hinsichtlich der Denkinhalte Die sprachlichen Unterschiede zwischen klassischem Original und zeitgenössischer Auslegung sind natürlich Indikatoren dafür, dass auch bezüglich der verhandelten Inhalte Unterschiede bestehen und dass die Auslegung den Sinn des Originals sich gleichsam in Eigenregie anzueignen versucht. Wir können dies anhand einer Stelle aus einer anderen in den Vier Büchern enthaltenen kanonischen Schrift veranschaulichen, nämlich dem für die konfuzianische Moralphilosophie bis heute überragend wichtigen Buch Mengzi (⬇⫸).27 Es handelt sich um die berühm26 | Anmerkung des Übersetzers: Zur intellektuellen Dynamik des songzeitlichen Neo-Konfuzianismus gehört ein Bewusstsein der Konfuzianer dafür, dass die buddhistischen Schulen der Zeit ein vergleichsweise differenzierteres Vokabular entwickelt hatten, um ihre Lehren philosophisch zu begründen und auszuformulieren. Anleihen, auch wenn sie nie offen zugegeben wurden, waren daher im Sinne intellektueller Selbstbehauptung geboten. Vgl. beispielsweise die Darstellung von A.C. Graham in seiner schon klassischen Studie Two Chinese Philosophers – Ch’eng Ming-tao und Ch’eng Yi-ch’uan, London: Lund Humphries 1958. 27 | Anmerkung des Übersetzers: Da im Chinesischen Buchtitel und Verfasser identisch sind, bediene ich mich der oben angegebenen Lautumschrift zur Wiedergabe des Buchtitels und nenne

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te Stelle in der Diskussion zwischen Menzius und Gaozi (Mengzi 6A, 3), in welcher ersterer seinen Grundsatz von der guten Natur des Menschen (xing shan shuo ⿏┬婒) vertritt, während letzterer als menschliche Natur (xing ⿏) bezeichnet, was dem Menschen von Geburt an eigen ist (sheng zhi wei xing 䓇ᷳ媪⿏) und nicht notwendig gut zu sein braucht. Bei der Auslegung dieser Stelle bedient sich Zhu Xi des anderen der eingangs genannten zentralen Begriffspaare seiner Lehre, nämlich Li (䎮 Ordnungsmuster, Prinzip) und Qi (㯋ġ Atem, Stoff ) – für ihn sind dies gleichsam die Grundkomponenten eines wiederum als dynamisch und unendlich vorgestellten Wirklichkeitsprozesses, einmal hinsichtlich seiner Intelligibilität und seines Wertcharakters (hierfür steht das Li 䎮) und zum anderen hinsichtlich seiner stofflichen, sinnlich wahrnehmbaren Phänomenalität (worauf sich das Qi 㯋bezieht). Zhu Xi schreibt: »Was die menschliche Natur (xing ⿏) betriff t, so ist sie das vom Himmel empfangene Li (䎮); was dagegen dem Mensch von Geburt an eigen ist (sheng 䓇) [d.h.: Was Gaozi mit dieser Formulierung meint], ist das vom Himmel empfangene Qi (㯋); die menschliche Natur ist nicht gestalthaft (xing er shang ⼊侴ᶲ), das Qi ist gestalthaft (xing er xia ⼊侴ᶳ) […]. Was nun das Qi betriff t, so bezieht es sich auf sinnliche Aktivität, hinsichtlich welcher der Mensch und andere Wesen gleich sind; was aber das Li betriff t, so ist es der Sitz der Tugenden, und wie könnten andere Wesen dies auch haben? Deshalb gibt es hinsichtlich der Natur des Menschen nichts, was nicht gut ist […]. Gaozi wusste nicht, dass mit der Natur das Li gemeint ist, sondern dachte, der Ausdruck beziehe sich auf das Qi.«28

Zhu Xi interpretiert also die Debatte zwischen Menzius und Gaozi im Rahmen seines Dualismus von Li (䎮) und Qi (㯋). Die Identifikation von Li und menschlicher Natur ist dabei wiederum ein Grundsatz, den er von Cheng Yis (䦳柌) Auslegung derselben Stelle übernimmt.29 Und ganz explizit schließt er an den Verfasser bei seinem im Westen üblichen latinisierten Namen ›Menzius‹. 28 | Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 396. 29 | Vgl. Cheng Yi/Cheng Hao (䦳柌/䦳栍): Ḵ䦳普 (Werke der Gebrüder Cheng), Bd. 1, Peking: Zhonghua Shuju 2004, S. 204 u. 292.

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Cheng Yi an, wenn dieser die ›Qi-Seite‹ des Begriffspaares mit einem weiteren Ausdruck belegt, nämlich dem der »natürlichen Anlagen« (cai ㇵ), und sagt: »Die natürlichen Anlagen sind eine Disposition (bing 䧇) des Qi, und das Qi kann klar oder trüb sein.«30 Die natürlichen Anlagen rücken hier also auf die stofflich-sinnliche Seite der menschlichen Konstitution und sind damit das, woran die moralische Erziehung und Kultivierung unserer Persönlichkeit sich abarbeiten muss, mehr oder weniger, je nach individueller Veranlagung. Diese Sicht auf die natürlichen Anlagen des Menschen steht aber inhaltlich in klarem Gegensatz zur Ausgangsstelle im Mengzi, wo Menzius sagt: »Wenn ein Mensch nicht gut ist, so liegt dies nicht an seinen natürlichen Anlagen.«31 Zhu Xi versucht zwar, die Unterschiede zwischen Menzius’ und Cheng Yis Verständnis der natürlichen Anlagen des Menschen durch eine wortreiche Erklärung zu übertünchen,32 doch scheitert dieser Versuch an der schwer zu bestreitenden Tatsache, dass bei Menzius die natürlichen Anlagen Fähigkeiten des menschlichen »Herzgeistes« (xin ⽫) sind, also eine unmittelbar geistig moralische Qualität besitzen. Wie der moderne Neukonfuzianer Mou Zongsan (䈇⬿ᶱ, 1909-1995) zeigt, sind die natürlichen Anlagen bei Menzius auf die Ebene der Vernunft bezogen und nicht auf die Sinne.33 Und noch eine ganze Reihe bedeutender Gelehrter unserer Zeit ist nach eingängigem Textstudium zu dem Schluss gekommen, dass Zhu Xis im Anschluss an Cheng Yi vorgenommene Auslegung der Klassiker – vor allem der Gespräche und des Mengzi – erheblich von Wortlaut und Sinn der Originale abweicht.34 30 | »ㇵ䧇㕤㯋炻㯋㚱㶭㽩«. Dieser Ausspruch des Cheng Yi wird von Zhu Xi zustimmend zitiert in: Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 400. Anmerkung des Übersetzers: Das hier mit »Disposition« wiedergegebene Schriftzeichen 䧇 (bing) lässt sich auch verbal verstehen im Sinne von »empfangen von« oder »verliehen von«. 31 | ˬ劍⣓䁢ᶵ┬炻朆ㇵᷳ伒ḇ˭Mengzi 6A, 6. 32 | Vgl. Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 400. 33 | Vgl. Mou Zongsan: ⚻┬婾 (Das höchste Gut), Taipeh: Taiwan Xuesheng Shuju 1985, S. 26. Mou interpretiert die in Frage stehende Stelle bei Menzius so: Wenn auch der Mensch Schlechtes tut, so bedeutet dies nicht, dass seine ursprüngliche Veranlagung daran Schuld wäre (vgl. ebd., S. 24). 34 | Stellvertretend sei hier noch der Geisteshistoriker Qian

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Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, wie Zhu Xi selbst seine Methode der Klassiker-Kommentierung beschreibt und welche Maxime er seiner Arbeit zugrunde legt. Dazu findet sich bei ihm folgende Aussage: »In der Hauptsache kommt es bei jeder Auslegung der Klassiker darauf an, gemäß dem sprachlichen Sinn der Weisen (shun shengxian yuyi 枮俾岊婆 シ)35 vorzugehen, die Gedankenverläufe [wörtl.: Blutadern (xue mai 埨傰)] und Verbindungen zu erkennen und diese auszulegen, ohne es zu wagen, eigene Intentionen und Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen.«36 Gemäß diesem Zitat ist Zhu Xi der Ansicht, dass seine die klassischen Autoren hinsichtlich sprachlicher Gestalt und Denkinhalten gleichsam in Gewahrsam nehmende (koujin ㈋ 䳏) Art der Auslegung ganz im Dienst des ursprünglichen Sinns der betreffenden Texte steht, aber wie wir an den obigen Beispielen gesehen haben, bleibt Zhu Xi in der Praxis dieser Richtschnur seiner Arbeit keineswegs immer treu. Ohne über seine persönlichen Intentionen mit Sicherheit befinden zu können, liegt es nahe, seine Auslegung als den Versuch zu verstehen, die Gespräche und das Buch Mengzi mittels einer Übersetzung in zeitgenössisches Vokabular nicht nur auszulegen, Mu (拊䧮, 1895-1990) angeführt, der diesen Standpunkt ebenfalls einnimmt. Siehe seine Ausführungen in Qian Mu: »⽆㛙⫸婾婆㲐 婾䦳㛙⫼⬇⿅゛㬏溆« (Diskussion der Abweichungen im Denken von Cheng Yi, Zhu Xi, Konfuzius und Menzius, ausgehend von Zhu Xis Kommentar zu den Gesprächen des Konfuzius). In: 拊屻⚃ ℐ普 (Qian Mu Gesamtausgabe in vier Bänden), Bd. 4, Taipeh: Lianjing Chuban Shiye Gongsi 1998. Die entscheidende Schlussfolgerung findet sich auf S. 272. 35 | Anmerkung des Übersetzers: Shengxian (俾岊) ist ein Ausdruck, der oft mit »Heiliger« übersetzt wird, was jedoch theologische Konnotationen in den chinesischen Kontext einführt, die zu Missverständnissen einladen. Es handelt sich hier um die durch Kultivierung und Übung zu moralischer Perfektion gelangten Meister der Tradition, deren wichtigster Konfuzius ist, und die ein die gesamte Tradition prägendes Rollenvorbild für die erzieherischen Bemühungen des Konfuzianismus abgeben. Vgl. den Eintrag zum weitgehend synonymen Ausdruck Shengren (俾Ṣ) im angehängten Glossar zentraler Begriffe. 36 | Gesamtausgabe, Bd. 15, S. 1717.

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sondern unter der Hand auch zu korrigieren und mit eigenen Standpunkten kompatibel zu machen. Das Denken von den kanonischen Schriften her, wie es für die chinesische Tradition typisch ist, verhindert also keineswegs das Aufkommen von Neuerung und Veränderung, nötigt aber die Autoren dazu, ihre eigenen Standpunkte in die durch ›Auslegung‹ korrigierten kanonischen Schriften einzufügen. Das Medium dieser Arbeit ist der Kommentar, der im Gestus der reinen Dienststellung zum Klassiker auftritt, dabei aber zugleich Spielräume ausschöpft, den Sinn der Texte gemäß eigenen Standpunkten zu modifizieren. Die Modifi kationen sind oft so subtil, dass man geneigt sein könnte, sie entweder ganz zu übergehen oder für unwesentlich zu halten, und die heftige Zurückweisung, die Zhu Xis Kommentar der Vier Bücher beispielsweise bei Ito Jinsai erfährt, dürfte sich zumal dem westlichen Beobachter nur schwer erschließen. Es geht dabei auch, aber nicht nur, um so etwas wie die Reinheit der konfuzianischen Lehre, nämlich um den Ausschluss von verfälschenden Elementen der buddhistischen oder daoistischen Tradition – welcher Ausschluss in der Geschichte des Konfuzianismus freilich nie wirklich gelungen ist. Zugleich stehen wesentliche Elemente des konfuzianischen Menschenbildes auf dem Spiel und damit die Grundlagen der konfuzianischen Moral- und Soziallehre, die ihrem Wesen nach erzieherisch ist und sich deshalb darüber verständigen muss, aus welchem ›Stoff‹ der Mensch als Subjekt und Gegenstand konfuzianischer Erziehungsbemühungen gemacht ist. Die Frage, in welcher Hinsicht und begrifflichen Fassung genau der Mensch gut ist und woran es liegt, dass er manchmal schlecht handelt, ist in diesem Zusammenhang keine Kleinigkeit, sondern betriff t das geistige Zentrum des Konfuzianismus direkt. Nach der Auffassung mancher Konfuzianer ist etwa der Buddhismus deshalb so gefährlich, weil sein Menschenbild für eine Erziehungs- und Kultivierungslehre konfuzianischen Zuschnitts keinen Ansatzpunkt bietet, weshalb eine Anlehnung an sein Vokabular die denkerischen und praktischen Intentionen der Konfuzianer zu vereiteln droht.37 Wir können allerdings 37 | Vgl. Charles Wei-hsün Fu: »Morality or Beyond: The NeoConfucian Confrontation with Mahayana Buddhism«. In: Philosophy East & West, vol. 23, no. 3 (1973), S. 375-396; sowie ders.: »Chu Hsi on Buddhism: A Critical Examination«. In: Wing-tsit Chan

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an dieser Stelle keine Diskussion darüber führen, inwiefern diese Befürchtungen gerechtigt waren oder sind, sondern müssen mit unserem Thema fortfahren.

(Hg.), Chu Hsi and Neo-Confucianism, Honolulu: University of Hawaii Press 1986, S. 377-407.

1.4 Zu einem dynamischen Ausgleich zwischen Klassiker-Auslegung und philosophischer Konstruktion

An dieser Stelle stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten, die in Zhu Xis Kommentaren zu den Vier Bücher zutage tretende Spannung zwischen Auslegung und philosophischer Konstruktion zu lösen (huajie ⊾妋), bzw. beide Momente in ein Verhältnis dynamischen Ausgleichs (dongtai pingheng ≽ン⸛ 堉) zu überführen.38 38 | Anmerkung des Übersetzers: Der deutsche Leser mag

sich an dieser Stelle außerdem fragen, weshalb eine Lösung oder gar Auflösung der herausgearbeiteten Spannung – die ja für die denkerische Dynamik der Tradition verantwortlich zu sein scheint – überhaupt erstrebenswert sein sollte. Dazu ist zweierlei zu bemerken: Zum einen vermittelt die Rhetorik des Autors an dieser Stelle etwas mehr Willen zu Harmonie und Verschmelzung als es seinen Intentionen entspricht, welche eher auf eine produktive Nutzbarmachung der Spannung hinauslaufen, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. Zum zweiten aber ist es – wie im Vorwort angedeutet – bis heute so, dass die kanonischen Schriften der Tradition bei vielen einschlägig Gebildeten eine Autorität besitzen, welche auch moderne Gelehrten dazu bringt, Abweichungen der späteren Kommentarliteratur eher als Verzerrungen zu kritisieren als sie als produktive Weiterentwicklungen zu würdigen. In Ansätzen zeigt sich hierin eine andere Spannung, nämlich die zwi-

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Wie der französische Hermeneutiker Paul Ricoeur dargelegt hat, ist die Hermeneutik stets darauf ausgerichtet, die kulturelle Distanz zwischen klassischen Texten und moderner Auslegung zu überbrücken.39 Auch in der chinesischen Geistesgeschichte gibt es zahlreiche Ansätze, die zeitliche, räumliche und sprachliche Distanz zwischen dem Text und seinem Interpreten zu überwinden. Zhou Guangqing (␐⃱ㄞ) hat in Bezug auf die Klassiker-Auslegung drei Arten von methodischen Ansätzen unterschieden, die einander natürlich nicht ausschließen, sondern ergänzen: 1.) Auslegung der Sprache: Hier geht es darum, durch genaue Analyse des jeweiligen Zeichengebrauchs in den kanonischen Schriften und der damit angezeigten Bezugnahme schen der modernen, aus der westlichen Kultur und Philosophie stammenden und für unsere wissenschaftlich technische Zivilisation grundlegenden Überzeugung, dass Fortschritt möglich und wünschenswert ist, und auf der anderen Seite dem Glauben an die kulturelle Überlegenheit der Klassiker gegenüber allem Späteren. Der Rang der kanonischen Schriften gründet ja gerade darin, dass sie die höchsten Möglichkeiten des Menschseins zum Ausdruck bringen, und es würde einem modernen konfuzianischen Gelehrten nicht leicht der Satz über die Lippen kommen, die Gespräche des Konfuzius seien der Korrektur oder Weiterentwicklung bedürftig. Von einer etwas anderen Seite betrachtet: Die moderne Beschäftigung mit den Grundlagen der ostasiatischen Kultur ist in den jeweiligen Ländern geleitet von einer gegen vielfältige Widerstände aufrechterhaltenen Grundüberzeugung: Dass die modernen Gesellschaften Ostasiens überhaupt noch in einem mehr als äußerlichen Sinn Teil der kulturellen Überlieferung zum Beispiel des Konfuzianismus sind. Diese Überzeugung verpfl ichtet mindestens zu dem Versuch, eine anschlussfähige, nicht augenscheinlich widersprüchliche Lesart der Tradition zu entwickeln – ein gewaltiges Unternehmen, dass etwa für Ironie im Sinne Rortys keinen Raum lässt, zumal es in einem nach westlichen Standards ausgerichteten akademischen Kontext stattfindet, in dem genau dieser Anspruch nicht nur uneinlösbar, sondern überholt erscheint. 39 | Siehe die Aufsatzsammlung von Paul Ricoeur: The Conflict of Interpretations – Essays on Hermeneutics, Chicago: Northwestern University Press 1974.

1.4 D YNAMISCHER A USGLEICH | 55

auf andere Texte Aufschluss über den intendierten Sinn zu gewinnen. 2.) Auslegung des historischen Kontexts: Dieser Ansatz erfolgt über historische Studien, die das geistige Umfeld, die Lebenswelt, die jeweiligen Adressaten der Texte usw. beleuchten und von dort zu erschließen versuchen, was in den kanonischen Schriften steht und wie es zu verstehen ist. 3.) Psychologische Annäherung: Dieser Weg nimmt eine aktive und praktische Annäherung des Interpreten zum Ausgangspunkt, nämlich den Versuch, die eigene Persönlichkeit durch die Klassiker-Lektüre zu bilden und sich von den Texten ansprechen zu lassen. 40 Zahlreiche Autoren der Tradition, wie beispielsweise die erwähnten Menzius und Zhu Xi, haben einen solchen Anspruch erhoben, demzufolge die Lektüre der kanonischen Schriften eine die gesamte

40 | Anmerkung des Übersetzers: Hinter diesem auf den er-

sten Blick nach naiver Emphase aussehenden Ansatz verbirgt sich ein wesentliches Moment des konfuzianischen Text- und Klassikerverständnisses, nämlich die im Vorwort als ›Textpragmatik‹ bezeichnete Ebene mit einem spezifischen Begriff von ›Verstehen‹, welcher über den bloß intellektuellen Nachvollzug von Textinhalten weit hinausgeht. Die Lektüre der kanonischen Schriften ist im Konfuzianismus ein wesentlicher Teil der individuellen Kultivierungsbemühung (gongfu ⶍ⣓). Sie ist weder ›schöngeistig‹ noch akademisch, sondern erhebt den normativen Anspruch, die Lebensausrichtung des Lesenden – der kein bloßer Interpret, sondern ein Schüler der gelesenen Texte ist – zu bestimmen. In diesem Sinne ähnelt die Klassiker-Auslegung eher der Bibel-Exegese als unserem Blick auf die Klassiker unserer philosophischen Tradition, etwa Platon oder Aristoteles. Auf den Punkt gebracht lautet der Anspruch, dass man Konfuzianer sein muss, um die kanonischen Schriften im hier skizzierten umfassenden Sinn ›verstehen‹ zu können. Leibliche, geistige und moralische Formierung sind Bestandteile einer unter anderem lesend erfolgenden Einübung ins Konfuzianer-Sein. Wie viel Spielraum der akademisch wissenschaftliche Diskurs über die Texttradition diesem durchaus radikalen Anspruch heute noch lässt, ist freilich eine andere Frage. Er scheint aber in Textstellen wieder der obigen immer noch durch und ist für unser Verständnis des Konfuzianismus wichtig.

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Persönlichkeit des Interpreten involvierende Übung und Erfahrung zu sein hat. 41 Die aufgelisteten Ansätze versammeln im Großen und Ganzen die hermeneutischen Methoden der chinesischen Tradition. Ihre Reichweite und Anwendbarkeit unterliegen bestimmten Beschränkungen, die hier nicht näher diskutiert werden können. Stattdessen möchte ich im Anschluss an Zhou Guangqings Kategorisierung zwei von ihm bereits erwähnte Aspekte noch einmal betonen. Der eine betriff t den zuletzt genannten Punkt, den ich im Anschluss an LaCapra als »dialogischen Ansatz« 42 (duihua fa ⮵ 娙㱽) bezeichnen möchte. Dieser verlangt vom modernen Leser/Interpreten, die klassischen Autoren als Gegenüber ernst zu nehmen in ihrem den historischen Abstand tranzendierenden Anspruch, uns heute etwas zu sagen zu haben. Auch wenn unsere historische, politische und soziale Situation nicht mehr identisch ist mit der, an welche die Autoren des Altertums sich seinerzeit gerichtet haben, lautet der Anspruch dennoch, dass in diesen Texten grundlegende Fragen des Menschseins verhandelt werden, denen wir uns nicht entziehen oder verweigern können – zumindest dann nicht, wenn wir diese Texte lesen, also den Versuch des Verstehens unternehmen. Dieser Anspruch ruht letztlich auf der Annahme eines universalen, d.h. allen Menschen individuell eigenen, aber gleichzeitig von allen Menschen geteilten Herzgeistes (xin ⽫)43 – eine Annahme, die uns 41 | Zhou Guangqing: ᷕ⚳⎌ẋ妋慳⬠⮶婾 (Abriss der antiken chinesischen Hermeneutik), Peking: Zhonghua Shuju 2002, S. 11f. 42 | Vgl. Dominick LaCapra: »Rethinking Intellectual History and Reading Texts«. In: History and Theory, vol. 19, no. 3 (1980), S. 245-276, ebenfalls aufgenommen in ders.: Rethinking Intellectual History: Texts, Contexts, Language, Ithaca and London: Cornell University Press 1983, S. 23-71. Siehe ferner ders.: »History, Reading, and Critical Theory«. In: American Historical Review, vol. 100, no. 3 (1995), S. 799-828. 43 | Anmerkung des Übersetzers: Dieser Kernausdruck der gesamten konfuzianischen Tradition bezieht sich umfassend auf die geistigen Fähigkeiten des Menschen, dabei intellektuelle und emotionale Komponenten umgreifend. Der Herzgeist ist der Sitz der Gefühle ebenso wie des Verstandes, und er ist deshalb gewisserma-

1.4 D YNAMISCHER A USGLEICH | 57

in der konfuzianischen Tradition bei so vielen wichtigen Autoren begegnet. Insofern wir Menschen sind – d.h. einen Herzgeist haben – sind die kanonischen Schriften für uns relevant. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass konfuzianisches Denken insgesamt unter dieser Prämisse steht: Dass der individuelle Herzgeist zwar konkret in Raum und Zeit situiert ist, dass es aber einen allgemeinen menschlichen Herzgeist gibt, der allen Menschen an allen Orten und zu allen Zeiten gemeinsam ist. Trotz dieses die historische Distanz transzendierenden Anspruchs lässt sich der zeitliche Abstand, der uns von den kanonischen Schriften trennt, aber nicht einfach negieren oder ignorieren. Daher füge ich als zweiten und komplementären Punkt den »historischen Ansatz« (lishi fa 㬟⎚㱽) hinzu. Man könnte auch von »Kontextualisierung« (mailuohua 傰䴉⊾) sprechen. Der Anspruch der klassischen Autoren wurde jeweils in konkreten historischen Umständen erhoben, denen gegenüber wir nicht die Augen verschließen können. Bestünde dieser Abstand nicht, wäre letztlich überhaupt nicht von ›Auslegung‹ zu sprechen, sondern von einer unvermittelten, direkten Bezugnahme – da es eine solche nicht gibt, ist das Hineinarbeiten in die Entstehungskontexte der Schriften gefragt, um in immer wieder neuer Aneignung dem Anspruch der alten Texte zu begegnen. Dabei ergeben sich freilich Spielräume der Auslegung, wie es sie im Verlauf der chinesischen Geistesgeschichte immer schon gegeben hat und weiter geben wird. Zhu Xi ist dafür ein besonders anschauliches Beispiel.

ßen das Organ menschlicher Moralität. Die nach konfuzianischer Auffassung moralisch vollendet kultivierten Weisen der Tradition zeichnen sich durch einen besonders entwickelten Herzgeist aus – »Ausschöpfung des Herzgeistes« ( jin xin 䚉⽫) lautet daher eine programmatische Umschreibung für ›moralische Kultivierung‹ – an den alle anderen Menschen Anschluss zu finden versuchen sollten, zum Beispiel durch die Lektüre der entsprechenden Schriften.

1.5 Schluss

Wie der chinesisch-amerikanische Autor Longxi Zhang (⻝昮 㹒) treffend festgestellt hat, können wir die chinesische Kulturtradition als eine Tradition der Auslegung und Hermeneutik begreifen, da sie eine lange, von ihren Anfängen bis heute um die Interpretation eines bestimmten Sets von kanonischen Schriften kreisende Tradition darstellt. 44 Die über zweitausendjährige chinesische Auslegungsgeschichte birgt in sich einen reichen Schatz an methodologischen Ressourcen, die es wert sind, ausgeschöpft zu werden. Zu beachten ist aber, dass die zentrale Frage der Klassiker-Auslegung in China nicht lautet oder gelautet hat ›Wie verstehen wir die Texte?‹, sondern: ›Wie lassen wir uns durch die Textlektüre so berühren, dass es zu einer Veränderung unserer Person kommt?‹ (ruhe shou wenben ganhua ⤪ỽ⍿㔯㛔デ⊾). Aus Sicht der Kommentatoren der Tradition ist die Kenntnisnahme der Textinhalte nur ein Mittel, um zur Verinnerlichung und Verwirklichung des Sinns der kanonischen Schriften zu gelangen, 45 d.h. die Auslegung wurde verstanden als ein Prozess, dessen ultimatives Ziel das Finden des richtigen Weges (dao 忻) im umfassendsten Sinne war. Nicht um bloße Gelehrsamkeit oder die Befriedigung intellektueller Eitelkeit ging es, sondern um Entwicklung und Ver44 | Siehe Longxi Zhang: The Tao and the Logos: Literary Hermeneutics, East and West, Durham: Duke University Press 1992. 45 | Vgl. Steven Van Zoeren: Poetry and Personality: Reading, Exegesis, and Hermeneutics in Traditional China, Stanford: Stanford University Press 1991, S. 112.

1.5 S CHLUS S | 59

vollkommnung der eigenen Persönlichkeit und damit um eine entsprechende Weiterwirkung auf die Gesellschaft. Daher war die hermeneutische Methodologie, die Anleitung zum richtigen Lesen, nicht zu trennen von einer Anleitung zum richtigen Leben. Von dieser Einbettung der chinesischen Hermeneutik in einen viel größeren lebensweltlichen und moralphilosophischen Zusammenhang konnte im vorliegenden Kapitel nur in sehr begrenzter Weise gesprochen werden. Was das Kapitel sich zu zeigen bemüht hat, ist die in der chinesischen Tradition vielfältig anzutreffende Spannung zwischen dem Text kanonischer Schriften und der philosophischen Kontruktion des jeweiligen Interpreten und Kommentators. Beide Momente lassen sich nicht trennen, und zwar deshalb, weil in China die Philosophen gewissermaßen zuerst Philosophiehistoriker waren, jedenfalls insofern sie sich in einem vom Anspruch und Geist der kanonischen Schriften durchdrungenen kulturellen Umfeld befanden und ihre Reflexionen nur von dort ihren Ausgang nehmen konnten. Ihre auf die Klassiker zurückblickende Auslegung war zugleich der Ausgangspunkt für die voranweisende eigene philosophische Konstruktion. Und umgekehrt: Die Probleme ihrer eigenen philosophischen Konstruktion wurden in die klassischen Texte zurückprojeziert – Spannungen der Auslegung waren in diesem Kontext unvermeidlich. Aus diesen Spannungen bezog die chinesische Geistesgeschichte einen Großteil ihrer oft übersehenen Dynamik.

2.

Zum Problem der Geschichtlichkeit im Kontext der konfuzianischen Klassiker-Auslegung

2.1 Problemstellung

Die Geistesgeschichte des konfuzianisch geprägten ostasiatischen Kulturraums besteht aus einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Fragen, Themen und Topoi, die in wiederum unterschiedlichen historischen, politischen und kulturellen Kontexten aufkamen und behandelt wurden. Der sogenannte Neo-Konfuzianismus der chinesischen Songzeit (960-1280), die stark konfuzianisch beeinflusste Kultur der japanischen Tokugawa-Zeit (1600-1868), die lange Chosen-Epoche (1392-1910) in Korea – sie alle, um nur drei prägnante Beispiele zu nennen, sind Ausprägungen einer geistigen Überlieferung, welche bei aller Unterschiedlichkeit dennoch verstanden werden müssen als Entwicklungen eines gemeinsamen Fundaments, nämlich eines Kanons von grundlegenden Schriften, die im Sprachgebrauch der vorliegenden Studie die ›kanonischen Schriften des Konfuzianismus‹ oder bisweilen abkürzend die ›Klassiker‹ genannt werden. Die Auslegung dieser Schriften durch konfuzianische Gelehrte bildet das geistige Fundament des ostasiatischen Kulturraums, und dieser konstante gemeinsame Bezugspunkt stellt seinerseits ein spezifisches Charakteristikum der Geistesgeschichte Chinas und Ostasiens in den vergangenen rund eintausend Jahren dar.1 Die enorme Vielfalt der Interpretationen, die von unterschiedlichen Denkern und Denkschulen zu verschiedenen Zeiten vorgelegt wurden, mag denjenigen, 1 | Siehe Daniel K. Gardner: »Confucian Commentary and Chinese Intellectual History«. In: Journal of Asian Studies, vol. 57, no. 2 (1998), S. 410f.

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der aus heutiger Sicht diesen Kontext zu verstehen und zu beschreiben sucht, an das chinesische Sprichwort »Tausend Berge, zehntausend Flüsse« (qianshan wanshui ⋫Ⱉ叔㯜) erinnern, das zunächst das Bild einer vielfältigen Landschaft zeichnet, dabei aber soviel bedeutet wie ›eine unüberschaubare Zahl von Hindernissen und Schwierigkeiten‹. Denn in der Tat beinhaltet die Auslegungsgeschichte der kanonischen Schriften Chinas eine ganze Reihe von methodologischen Problemen, von denen ein besonders wichtiges im Fokus der Aufmerksamkeit dieses Kapitels stehen soll: Der Terminus »Geschichtlichkeit« (lishixing 㬟⎚⿏) bezieht sich dabei auf die fundamentale Tatsache, dass sowohl die kanonischen Schriften selbst als auch die Kommentare und Auslegungen jeweils Produkte bestimmter Epochen sind, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit entstanden und von dieser Herkunft geprägt. Klassiker und Kommentar bzw. Kommentator besitzen also ihre jeweilige Geschichtlichkeit, und es stellt sich die Frage, ob der Kommentator, um in die Gedankenwelt des Klassikers einzudringen, sich zuvor einer Bemühung um die Dekonstruktion ( jiegou 妋 㥳) seiner eigenen Geschichtlichkeit unterziehen muss. Noch grundsätzlicher lässt sich fragen, was eine solche Dekonstruktion genau meint und ob sie überhaupt möglich ist. Diese Fragen stehen in einem besonderen Bezug zur ostasiatischen Kultur der kanonischen Schriften, aber sie haben darüber hinaus einen allgemeinen hermeneutischen Gehalt und wurden bekanntlich auch im Kontext der westlichen Hermeneutik vielfach diskutiert. Die vorliegende Studie ist nicht philosophischer, sondern geistesgeschichtlicher Natur und nähert sich dem Problem daher auf dem Wege der Untersuchung konkreter Beispiele aus der ostasiatischen Auslegungsgeschichte. Es geht darum zu verstehen, welche Dynamik die Auslegung bestimmter grundlegender Texte im ostasiatischen Kulturraum entfaltet hat und welche Rolle innerhalb dieser Dynamik das Problem der Geschichtlichkeit spielt. Wie schon im vorangegangenen Kapitel werden wir den Auslegungen und Kommentaren des Zhu Xi (㛙 䅡, 1130-1200) und den um die Angemessenheit dieser Kommentare kreisenden Debatten besondere Aufmerksamkeit widmen. Innerhalb dieses Kontextes hat der ebenfalls aus dem vorangegangenen Kapitel bekannte japanische Konfuzianer der Tokugawa-Zeit, Ito Jinsai (Ẳ喌ṩ㔶, 1627-1705), eine besonders sicht-

2.1 P ROBLEMSTELLUNG | 65

bare Rolle gespielt, indem er als Advokat einer Gegenbewegung gegen die zur Orthodoxie erklärten Editionen und Kommentierungen des Zhu Xi auftrat, welchen er vorwarf, den ursprünglichen Sinn der kanonischen Schriften durch Überlagerung mit eigenen philosophischen Intentionen verfälscht zu haben, wobei er sich vor allem auf Zhu Xis Auslegung des Buches Mengzi bezog. Itos hermeneutischer Grundsatz lautet: »Es ist nicht gestattet, eigene Intentionen (eigenen Sinn) in die Auslegung [der kanonischen Schriften] einfließen zu lassen« (bu keyi ji zhi yi jie zhi ᶵ⎗ẍ⶙ᷳシ妋ᷳ).2 Als allgemeine Maxime der Auslegung mag man das akzeptieren, aber insofern Sinn und Intention der kanonischen Schriften und des Interpreten natürlich Momente ihrer jeweiligen Geschichtlichkeit sind, stellt sich die Frage, ob und wie der Maxime auch praktisch nachzukommen sein soll. Muss der Interpret sein historisches Selbst ablegen und sich in eine Art »leeres Subjekt« (kongbai zhuti 䨢䘥ᷣ橼) verwandeln, damit er in die Gedankenwelt der kanonischen Schriften eintreten kann? Der neuzeitliche Gelehrte Cheng Shude (䦳㧡 ⽟, 1877-1944) scheint in seinen Gesammelten Auslegungen der ›Gespräche des Konfuzius‹ (Lunyu jishi 婾婆普慳) genau diesen Standpunkt zu vertreten, wenn er Zhu Xi auf ganz ähnlicher Grundlage wie Ito kritisiert und fordert, jede Auslegung müsse »bei der Auslegung der kanonischen Schriften gemäß der Zeit der Alten« ( jie jing xu an guren shidai 妋䴻枰㊱⎌Ṣ㗪ẋ)3 verfahren, also gleichsam geistig zurückgehen in den historischen Entstehungskontext der zu interpretierenden Texte. Es zeigt sich, dass die Frage nach der Geschichtlichkeit mitten hinein führt in die Dynamik der ostasiatischen Geisteskultur und dass eine bedeutende konfuzianische Strömung innerhalb dieser Kultur, von der hier nur zwei Vertreter unter vielen zu Wort ge2 | Itos Traktat mit dem Titel ⬇⫸⎌佑 (Der ursprüngliche Sinn des Buches Mengzi) findet sich in der bereits einmal herangezogenen von Kangi Ichiro (敊₨ᶨ恶Īġ herausgegebenen Textsammlung 㖍㛔⎵⭞⚃㚠姣慳ℐ㚠 (Gesamtausgabe der Kommentare berühmter japanischer Gelehrter zu den ›Vier Büchern‹), Tokio: Ho Shupan 1973, Abteilung 7. Das hier angeführte Zitat steht auf S. 284. 3 | Chen Shude: 婾婆普慳 (Gesammelte Auslegungen der ›Gespräche des Konfuzius‹), Neuauflage, Peking: Zhonghua Shuju 1990, Bd. 2, S. 819.

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kommen sind, die Geschichtlichkeit des Auslegers als ein Problem betrachtet hat, gleichsam ein Hindernis auf dem Weg zum ursprünglichen Sinn der kanonischen Schriften, welches es zu überwinden gilt. Diese für moderne westliche Leser vermutlich durchaus irritierende Problemstellung gilt es im Folgenden zunächst einmal weiter aufzuhellen, wozu einige grundsätzliche Worte zur Besonderheit der konfuzianischen Auslegungslehre erforderlich sind (Abschnitt 2.2). Danach soll untersucht werden, welches Potential die Geschichtlichkeit des Auslegers im Unternehmen der Entfaltung des Sinns4 der kanonischen Schriften besitzt (Abschnitt 2.3). Schließlich wird im vierten Abschnitt analysiert, wie sich in Ostasien der Dialog zwischen kanonischen Schriften und Auslegungen/Kommentaren vollzieht, und dafür argumentiert, in diesem Dialog die eigentliche Lebensquelle der Geisteskultur dieser Region zu sehen.

4 | Ich folge hier der Unterscheidung von E.D. Hirsch Jr., der »Sinn« (yihan シ㵝/meaning) als das versteht, was von einem Text repräsentiert wird, während Bedeutung (yiyi シ佑/significance) »names a relationship between that meaning and a person […].« E. D. Hirsch Jr.: Validity in Interpretation, New Haven: Yale University Press 1967, S. 8. Während die Bedeutung also beständiger Veränderung unterliegt, weil zum Beispiel der Autor seine Ansicht des Textes ändert, gilt dies für den Sinn des Textes nicht. Dieser bleibt gleich.

2.2 Die Besonderheit der konfuzianischen Auslegungslehre und die Geschichtlichkeit des Interpreten

Die Besonderheiten der konfuzianischen Auslegungslehre, auf die es mir ankommt, seien hier zunächst in Form dreier Thesen kurz benannt, bevor sie dann im Folgenden eine genauere Untersuchung erfahren: 1) Die konfuzianische Auslegungslehre begreift die Auslegung der kanonischen Schriften nicht primär als Erkenntnisproblem, sondern als praktisches Problem. 2) Die konfuzianische Auslegungslehre sieht den Gehalt der kanonischen Schriften in ihrem existenziellen (shicun de ⮎ ⬀䘬) und erfahrungsmäßigen (tiyan de 橼槿䘬)5 Charakter. 3) Daher ist die jeweilige Geschichtlichkeit eines bestimmten Auslegers im Kontext der konfuzianischen Auslegungslehre nicht nur unhintergehbar und unauflösbar, sondern sie hat 5 | Anmerkung des Übersetzers: Mit der etwas ungelenken

Übersetzung »erfahrungsmäßig« versuche ich den hier wichtigen Doppelsinn des Originals einzufangen, welcher darin liegt, dass die Auslegung mit der Erfahrung des jeweiligen Interpreten und Kommentators ›gesättigt‹ ist, und dass gleichzeitig die Lektüre der kanonischen Schriften ›erfahrungsbildend‹ sein soll, indem jeder Student versucht, die Welt im eigenen Leben so zu sehen, wie sie ihm in den Schriften präsentiert wird.

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eine direkte und positive Funktion in der Generierung von historischem Sinn. Gehen wir nun diese Thesen der Reihe nach durch.

2.2.1 Das Problem der Praxis In den vergangenen Jahren hat die Erforschung der chinesischen Zivilisation im Jahrtausend vor Beginn der christlichen Zeitrechnung einen enormen Aufschwung erfahren. Den Kern der zivilisatorischen Entwicklung dieser Zeit hat der in Amerika lehrende Historiker Yü Ying-shih (ἁ劙㗪) als »philosophischen Durchbruch« (zhexue de tupo ⒚⬠䘬䨩䟜) gekennzeichnet, der sich Karl Jaspers’ bekanntem Achsenzeit-Theorem zufolge in etwa gleichzeitig auch in Griechenland, Israel und Indien ereignet hat.6 Mit der Rede vom ›philosophischen Durchbruch‹ ist gemeint, dass in dieser Zeit ein neues vernunftgeleitetes Nachdenken über den Menschen und seine Stellung in der Welt aufkam, dass also der Mensch in neuer Weise Thema und Gegenstand der Reflexion und des Erkenntnisstrebens wurde. Dieser Durchbruch lässt sich in China besonders gut nachvollziehen, weil er in einer überschaubaren Anzahl von in diesem Zeitraum verfassten Schriften dokumentiert ist. Indem das entsprechende Schrifttum systematisch ediert und kanonisiert wurde, hat sich auf ihm auf bauend eine bestimmte Weltsicht herausgebildet, die zu Fragen der Kosmologie, der Gesellschaft und der materiellen Welt jeweils bestimmte Standpunkte bezieht. Der Konfuzianismus, der mit den sogenannten Sechs Klassikern (Liu jing ℕ䴻) und der gesamten Schriftkultur des Altertums in enger Beziehung steht, nimmt innerhalb dieser Weltsicht eine zentrale Stellung ein. Nach der Hanzeit (d.h. ab dem dritten nachchristlichen Jahrhundert) haben die kanonischen Schriften des Konfuzianismus ihren festen Platz im geistigen Universum Chinas eingenommen, deren Autorität durch 6 | Yü Ying-shih: »⎌ẋ䞍嬀昶Ⰼ䘬冰崟冯䘤⯽« (Entwicklungsstufen des antiken Wissens). In: ders.: ᷕ⚳⎌ẋ䞍嬀昶Ⰼ ⎚婾: ⎌ẋ䭯 (Geschichte der Entwicklungsstufen des chinesischen Wissens: Die Antike), Neuauflage, Taipeh: Lianjing Chuban Shiye Gongsi 1997, S. 4-108, bes. S. 32-36.

2.2 A USLEGUNGSLEHRE

UND

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den Unterricht an Akademien und die zentralen Beamtenprüfungen institutionalisiert, gefestigt und weitergegeben wurde. Auf diese Weise haben die Klassiker durch beinahe zwei volle Jahrtausende hindurch das geistige Leben der chinesischen Gelehrten bestimmt und zu einem unübertroffenen Reichtum an auslegenden und kommentierenden Schriften geführt. Aber, wie ich eben bereits betont habe, der entscheidende Punkt besteht darin, dass es sich bei dieser langen und erstaunlich kontinuierlichen Auslegungsgeschichte primär um eine praktische Aktivität (shijian huodong ⮎嶸㳣≽) handelt und nicht um ein Unternehmen zur Erlangung von Erkenntnis und Wahrheit. Genauer könnte man sagen, dass im Rahmen der chinesischen Auslegungslehre die Bemühung um Wissen und Erkenntnis (renzhi huodong 娵䞍㳣≽) nur ein Mittel darstellt, während die praktische Aktivität der Zweck ist, dessentwillen das Mittel eingesetzt wird. Anders formuliert, die Auslegung der kanonischen Schriften ist ein Prozess, der eine konkrete praktische Wirkung erzielen will, der also zu einer tatsächlichen Veränderung führen soll und nicht bloß zum Haben einer geistigen Erkenntnis. Die Veränderung kann dabei auf zwei Ebenen bzw. in zwei Dimensionen erfolgen, nämlich entweder im Bereich des Inneren (neizai lingyu ℏ⛐柀➇) oder im Bereich des Äußeren (waizai lingyu ⢾⛐柀➇). Mit dem ›Bereich des Inneren‹ ist die Person des Auslegers selbst gemeint, sein geistiger Zustand, den es an den Rollenvorbildern der kanonischen Schriften zu schulen gilt, in dem Bestreben, den moralisch vollendet kultivierten Persönlichkeiten (shengren 俾Ṣ) nahezukommen, die im Konfuzianismus gleichsam die höchsten Möglichkeiten des Menschseins verkörpern.7 Es handelt sich 7 | Anmerkung des Übersetzers: Was sich hier zeigt, ist der im Vorwort kurz angesprochene und für westliche Interpreten schwer zu fassende Status der kanonischen Schriften im konfuzianischen Kontext. Diese sind nicht wissenschaftliche oder proto-wissenschaftliche Traktate, in denen ein bestimmtes Wissen niedergelegt ist, das sich der Student oder Gelehrte nur aneignen muss. Sie sind auch nicht Medien einer göttlichen Offenbarung und damit eines den menschlichen Verstand übersteigenden ›höheren‹ Wissens, wie es in den Heiligen Schriften der monotheistischen Religionen vermittelt wird. Stattdessen sind sie nach konfuzianisch orthodoxer Auffassung Ausdruck der höchsten menschlichen Weisheit,

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hierbei also um eine moralische Kultivierung (gongfu ⶍ⣓) des Einzelnen durch das Studium der kanonischen Schriften. Im Medium des Kommentars artikuliert sich dabei die geistige Erfahrung des Interpreten, der sich den Inhalt der Schriften so aneignet, dass dieser gleichsam selbst zu einem Moment jener geistigen Erfahrung wird, d.h. ein Bestandteil der Lebenserfahrung des Interpreten – ein Zusammenhang, der im Konfuzianismus mit dem Ausdruck »Studium zur Bildung des Selbst« (wei ji zhi xue 䁢⶙ᷳ⬠) belegt wird. Der ›Bereich des Äußeren‹ verweist auf den sozialen, politischen und kulturellen Kontext, in welchem der Konfuzianer aufgerufen ist zu wirken und zur Entwicklung eines harmonischen Gemeinwesens beizutragen, das den normativen Vorstellungen der kanonischen Schriften gerecht wird.8 Konfuzianer der Tradition haben diesen Punkt hervorgehoben, indem d.h. sie entspringen den Köpfen von Individuen, die als Menschen einen beinahe übermenschlichen Grad der geistig moralischen Kultivierung erreicht haben, was sie in hervorragender Weise dazu befähigt, auch andere Menschen diesem Ideal näherzubringen, eben auf dem Wege des Studiums dieser die höchste menschliche Weisheit transportierenden Texte. Das Entscheidende dabei ist, dass ›Studium‹ im Vollsinne so etwas meint wie den tatsächlichen Nachvollzug der Erfahrungen, die in den jeweiligen Text Eingang gefunden haben, gleichsam das Nachgehen des gesamten Weges, an dessen Ende die Produktion des Textes stand. Der Wortlaut des Textes ist dafür nur der Einstieg, der Verweis auf all das, was ihm vorangegangen ist und ihn möglich gemacht hat und was in seiner internen Komplexität unendlich ist. Daher ist das Studium nicht beendet durch bloße Kenntnis des Textes, d.h. durch Kenntnisnahme des darin manifest Gesagten. Der Wortlaut ist die Oberfläche, durch welche hindurch der geistige Kosmos betreten wird, in welchem sich die moralische Kultivierung ereignet. Auf diese Weise bekommt für den gewissenhaften Studenten auch ein augenscheinlich simpler Sinnspruch einen Reichtum, der in jahrelanger geistiger Arbeit ausgekostet werden kann und muss, um dann eventuell in einen Kommentar zu münden, der augenscheinlich ebenso simpel und dabei hochgradig redundant ist, idealerweise aber einen ähnlichen geistigen Reichtum in sich birgt. 8 | Siehe Chun-chieh Huang: ⬇⫸⿅゛⎚婾: ⌟Ḵ (Abhandlungen zur Geschichte des menzianischen Denkens – Zweiter Band),

2.2 A USLEGUNGSLEHRE

UND

G E SCHICHTLICHKEIT | 71

sie den Konfuzianismus mit einem schwer zu übersetzenden Ausdruck als »Real-Lehre« bzw. »die Wirklichkeit betreffende Gelehrsamkeit« (shixue ⮎⬠)9 bezeichnet haben. Es handelt sich um eine Lehre mit primär ethisch moralischem Anspruch, d.h. jeder Konfuzianer ist aufgerufen aktiv mitzuwirken bei der praktischen Umsetzung von ethischen Maximen in gesellschaftliche Realität. Auf dieses praktische transformatorische Moment sowohl des Einzelnen wie des Gemeinwesens ist konfuzianisches Denken ausgerichtet.

2.2.2 Der existenzielle und er fahrungsmäßige Charak ter der Auslegung Mit dem zuletzt Ausgeführten sind wir bereits übergegangen zur zweiten These, die ohnehin in engem Zusammenhang zur ersten steht. Zu großen Teilen besteht der manifeste Inhalt der kanonischen Schriften in konkreten historischen Erfahrungsberichten und moralischen Maximen, welche direkt auf persönliche, alltägliche und zwischenmenschliche Lebenssituationen angewendet werden, d.h. die historische Erfahrung wird ethisch reflektiert, um aus ihr Normen und Pflichten für die Lebensführung des Einzelnen und der Gesellschaft zu gewinnen. Die alltägliche Existenz bekommt dadurch eine bestimmte Tiefendimension und einen kulturellen Kontext, denn sie wird verstanden im Lichte historischer Erfahrung, moralischer Signifi kanz und kosmologischer Spekulation, kurz: auf der Grundlage des

Taipeh: Academia Sinica Institut für Chinesische Literatur und Philosophie 1997, S. 481f. 9 | Anmerkung des Übersetzers: Der Ausdruck wird vom Autor an dieser Stelle etwas eigenwillig gebraucht. Er hat ursprünglich Prominenz erlangt im Denken der Qingzeit (1644-1911), wo er als Selbstbezeichnung von Philologen diente, die ihre Arbeit als »solide Gelehrsamkeit« – so eine andere Übersetzungsmöglichkeit von Shixue (⮎⬠) – ansahen und sie von der als »leeres Gerede« (kong yan 䨢妨) geschmähten Arbeit ihrer Opponenten abgrenzten, welche sich eher in philosophischen Spekulationen ergingen. Die entsprechenden Debatten kommen weiter unten im Abschnitt 2.3 kurz zur Sprache.

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gesamten inhaltlichen Spektrums der kanonischen Schriften. 10 Gleichzeitig wird sie unter den normativen Anspruch gestellt, den die kanonischen Schriften artikulieren – als Mensch zu existieren heißt in diesem Zusammenhang, im konkreten Hier und Jetzt der in den Klassikern versammelten Weisheit und 10 | Anmerkung des Übersetzers: Diese und die unmittelbar folgenden Ausführungen beziehen sich auf einen Zusammenhang, der bereits im ersten Kapitel kurz zur Sprache kam und dessen Wichtigkeit kaum überbetont werden kann: Die kanonischen Schriften artikulieren ein Weltbild, in dem, vereinfacht gesprochen, alles mit allem zusamenhängt, d.h. es gibt die Vorstellung eines großen Ganzen, für das Ausdrücke wie etwa »Kosmos« (yuzhou ⬯⭁) stehen und innerhalb dessen alle Dinge miteinander interagieren und korrelieren. Auf der Basis dieses Weltbildes hat zum Beispiel das chinesische Altertum Naturkatastrophen als Indikatoren dafür verstanden, dass eine Dynastie das »Mandat des Himmels« (tianming ⣑␥) und damit die Legitimation zur Herrschaftsausübung verloren hat. Eine spekulative Kosmologie war Bestandteil dieses Weltbildes, aber für das Verständnis des Konfuzianismus vermutlich wichtiger ist die Integration von zwischenmenschlichen Beziehungen und des gesamten sozialen Lebens in diesen Kontext. Das Ziel sind Balance und Harmonie des Gesamtzusammenhangs, und jede Handlung des einzelnen Menschen ist ein Beitrag, der entweder die Harmonie vergrößert oder beschädigt, d.h. der Kontext jeder privaten Handlung ist in letzter Konsequenz der soziale oder kosmische Gesamtzusammenhang, das große Ganze, und es ergibt sich aus diesem Kontext die geradezu unbegrenzte moralische Signifi kanz und Relevanz von individuellem Handeln. Ein wesentlicher Sinn der kanonischen Schriften besteht darin, dass in ihnen Handlungsweisen vorgeführt werden, deren Befolgung und Nachahmung zur Harmonie des Ganzen beizutragen vermögen. Um in zweifellos simplifizierender Weise einen Vergleich zum christlichen Weltbild anzustellen: Im Rahmen der christlichen Ethik ist jede gute Tat gleichsam ein Schritt hin zur eigenen Erlösung nach dem Tod und zur Erlangung ewigen Lebens. Im Konfuzianismus liegt die moralische Signifi kanz einer jeden guten Tat darin, dass sie einen unmittelbaren positiven Effekt auf den Zustand des großen Ganzen hat. In diesem Sinne profitiert von ihr nicht der Akteur nach seinem Tod, sondern es profitieren alle und sofort.

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Moralität entsprechen zu sollen; ein Zusammenhang, den ich mit den beiden Ausdrücken »Transzendenz« (chaoyuexing 崭崲 ⿏) und »Verwirklichung« (xianshixing 䎦⮎⿏) belegen möchte. Der Konfuzianismus ist gewiss keine Religion im Sinne der abendländischen monotheistischen Religionen und kennt keine Transzendenz im Sinne eines absoluten Jenseits, eines Reiches Gottes usw.; sehr wohl aber kennt er einen absoluten Anspruch an den Einzelnen als gesellschaftliches Wesen, seiner Verantwortung für das Ganze gerecht zu werden. In diesem Sinne ist die moralische Kultivierung des Einzelnen ein direkter Beitrag zur Verbesserung der Welt – und jede Verfehlung ein Schritt in die Gegenrichtung. In der alltäglichen Existenz sollen sich die moralischen Maximen und Reflexionen der Klassiker verwirklichen, d.h. sie sollen zu konkreten Handlungen werden, welche dann wiederum das alltägliche Lebensumfeld transzendieren, indem sie einen Beitrag leisten zur Harmonie oder Disharmonie, zur Balance oder dem Ungleichgewicht des Ganzen. Dies ist gleichsam der Vollbegriff des Ausdrucks »existenziell« (shicunde ⮎⬀䘬) im konfuzianischen Sinne. Es dürfte deutlich geworden sein, dass nach konfuzianischem Verständnis die Auslegung der kanonischen Schriften keine bloß äußerliche wissenschaftliche Analyse sein kann. Sie ist vielmehr eine die gesamte Existenz des Auslegers involvierende Übung, situiert in einem bestimmten sozialen und historischen Kontext. Sie ist eine Interaktion von Ausleger und Text, nämlich der Versuch, in den Inhalt des Textes so tief wie möglich einzudringen und sich dabei von diesem Inhalt durchdringen (shentou 㺚德) zu lassen, ihn zu einem Teil der eigenen Lebenserfahrung zu machen in einer Art von anreichernder Verschmelzung (rongshen 㹞㺚). Die Auslegung der kanonischen Schriften ist ›Erfahrungswissenschaft‹ – d.h. gleichzeitig »erfahrungsgesättigtes und erfahrungsbildendes Studium« (tiyan zhi xue 橼槿ᷳ⬠) – in diesem Sinne. Eine Konzeption von Auslegung, wie ich sie bis hierhin skizziert habe, begegnet uns in besonders deutlicher Form in den Schriften der songzeitlichen Neo-Konfuzianer. Wie groß auch immer die Unterschiede im Verständnis bestimmter Stellen der kanonischen Schriften etwa zwischen Denkern wie Zhu Xi (㛙䅡, 1130-1200) und Wang Yangming (䌳春㖶, 1472-1529) sein mögen, in ihrer Ansicht darüber, was Auslegung bedeutet und worin ihre Funktion besteht, stimmen beide überein.

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So ermahnt Zhu Xi seinen Mitstreiter Cheng Chongfu (䦳⃭ ⣓, 1135-1196), bei der Auslegung der kanonischen Schriften gehe es nicht um ein »isoliertes Erfassen von jeweils wörtlichem Sinn« (yi ci yi yi ᶨ娆ᶨ佑), sondern um die »Verwirklichung« ( jianlü 嶸Ⰽ) im eigenen Leben.11 Anders formuliert: Nicht akademische Virtuosität, sondern konsequente Ausrichtung des eigenen Lebens auf die Inhalte der kanonischen Schriften ist das, was durch das Studium dieser Schriften erlangt werden soll. Und Wang Yangming bekennt, dass er sich durch einen langwierigen und schwierigen Prozess schließlich den Sinn von Menzius’ Ausdruck »gutes Wissen« (liang zhi 列䞍)12 angeeignet habe, womit er sich natürlich nicht auf philologische Anstrengungen bezieht, sondern auf das Bemühen, diejenige Erfahrung zu erwerben, die Menzius mit diesem Ausdruck artikuliert – eine praktische Bemühung, deren Erfolg sich im Handeln zeigen muss.13 11 | Dieser kurze Text mit dem Titel »䫼䦳⃭⣓« (Antwort an

Cheng Chongfu) wird hier zitiert nach der Kompilation von Texten ⚃悐⎊↲⇅䶐䷖㛔 (Studienausgabe mit Werken zu den vier Abteilungen), Taipeh: Taiwan Shangwu Yinshuguan 1967, Abteilung 41, S. 701. Im Folgenden wird diese Kompilation zitiert unter dem Kürzel Studienausgabe. 12 | Anmerkung des Übersetzers: Dieser Ausdruck aus dem Buch Mengzi hat im Neo-Konfuzianismus eine geradezu paradigmatische Bedeutung für die konfuzianische Moralphilosophie erlangt. Er bezieht sich auf die grundsätzliche Fähigkeit jedes Menschen, zu wissen was zu tun ist; d.h. die Fähigkeit, in jeder bestimmten Handlungsituation zu erfassen, welche Handlung die moralisch gebotene und richtige ist. Diese Fähigkeit kann durch eigene egoistische Bestrebungen getrübt und verdeckt sein, aber das ändert nichts daran, dass sie Menzius und seinen Nachfolgern gemäß dem Menschen grundsätzlich eigen ist. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit moralischer Kultivierung, welche in diesem Sinne als die Bemühung zu verstehen ist, entgegen egoistischen Neigungen das eigene gute Wissen zu behaupten und ihm gemäß zu handeln. Sich wie Wang Yangming diesen Ausdruck »anzueignen« (delai ⼿Ἦ), bedeutet daher im Vollsinne genau das: Überwindung egoistischer Neigung, moralische Sensibilisierung, Herausbildung eines Habitus des guten Handelns. 13 | Die Stelle findet sich in Wing-tsit-Chan (Chen Rongjie 昛

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Im Mittelpunkt der konfuzianischen Auslegungslehre steht also die Person des Auslegers und nicht der bloße Wortlaut des Textes. Der amerikanische Sinologe Steven Van Zoren hat hierzu treffend festgestellt, dass Konfuzianer nicht fragen ›Was ist das Gute?‹, sondern dass sie letztlich vorausetzen, dass wir alle bereits wissen, was das Gute ist – das Gute im Sinne von: Was ich zu tun habe – weshalb für Konfuzianer eine andere Frage in den Vordergrund rückt, nämlich wie dieses Wissen sich in Handlungen umsetzen lässt und wie wir in uns eine Disposition kultivieren können, die uns das Gute tun lässt, gleichsam als notwendiger Ausdruck der Neigungen unserer innersten Natur.14 Die Antwort auf diese Frage lautet, dass wir den Gehalt der kanonischen Schriften zu verinnerlichen haben, nicht durch Kenntnisnahme eines Wortlautes, sondern durch praktische Übung. Diese Übung vollzieht sich in der Form eines Dialogs zwischen kanonischer Schrift und Ausleger. Wenn die kanonischen Schriften im oben skizzierten Verständnis als Quellen eines existenziellen Sinnes und einer persönlichen konkreten Lebenserfahrung gedacht werden, stellt sich umso dringender die Frage danach, wie es dem Ausleger möglich sein soll, diese Quellen anzuzapfen, wie sich also der Dialog mit den Klassikern vollziehen kann. Denn unvermeidlich steht jede Auslegung vor dem bekannten hermeneutischen Problem des Zeitabstandes, also der jeweiligen Geschichtlichkeit von Text und Ausleger, d.h. ihrer Verwurzelung in und Abstammung aus unterschiedlichen historischen Kontexten.15 Es gibt

㥖㌟) (Hg.): 䌳春㖶⁛佺抬娛姣普姽 (Annotierte und Kommentierte Ausgabe der ›Aufzeichnungen über die Unterweisung in der Tradition‹ des Wang Yangming), Taipeh: Xuesheng Shuju 1993, S. 345. 14 | Steven Van Zoeren: Poetry and Personality: Reading, Exegesis, and Hermeneutics in Traditional China, Stanford: Stanford University Press, 1991, S. 54 u. 111f. Vgl. außerdem Robert Eno: »Towards a History of Confucian Classical Studies«. In: Early China, no. 17 (1992), S. 204. 15 | In Bezug auf den Ausleger ließe sich natürlich auch einfach von ›Subjektivität‹ sprechen – ich wähle hier den Ausdruck ›Geschichtlichkeit‹, um die raumzeitliche Bestimmtheit der Subjektivität des Auslegers zu betonen.

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zwischen beiden einen Bruch (duanlie 㕟塪), und in irgendeiner Form muss jede Auslegung mit diesem Bruch umgehen. Wie wir oben gesehen haben, gibt es innerhalb der konfuzianischen Tradition Denker, welche die Notwendigkeit sehen, den hier kenntlich gemachten Bruch dadurch zu heilen und zu kitten, dass der Ausleger seine eigenen Intentionen und Standpunkte ausblendet, um ganz und gar in den Kontext der kanonischen Schriften einzudringen. Hierzu ist zu sagen, dass diese Forderung als eine Art regulative Idee ihre methodologische Berechtigung hat, dass ihre Realisierung aber an prinzipielle Grenzen stößt, auf welche in der vorliegenden Untersuchung eben der Ausdruck ›Geschichtlichkeit‹ verweist. Damit nämlich ist die unhintergehbare Bestimmtheit jedes Menschen durch denjenigen partikularen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Kontext angesprochen, in dem er sein Leben führt, d.h. die Gesamtheit der vielen komplizierten Faktoren, die seine historische Situation bestimmen. Jede Auslegungssituation, jede Begegnung von Ausleger und Text ist durch Geschichtlichkeit mitbestimmt, nämlich als die Perspektive des Auslegers auf den Text. Sich von dieser Bestimmung zu lösen ist unmöglich; keinem Menschen ist es gegeben, aus seinem Lebenskontext einfach herauszuspringen und alle Prägungen durch diesen abzuschütteln. Es reicht aber nicht aus, nur die Unmöglichkeit der Loslösung von der eigenen Geschichtlichkeit einzusehen, gleichsam als die negative Grenze der Bemühung, in den Sinnhorizont der kanonischen Schriften einzudringen; vielmehr gilt es positiv die Rolle der Geschichtlichkeit in der Generierung von Sinn zu verstehen – eine Rolle, die ich als die eines »Katalysators« (cuihuaji ⁔⊾∹) beschreiben und im folgenden Abschnitt näher untersuchen möchte.

2.3 Die Geschichtlichkeit des Auslegers als Katalysator bei der Generierung des Sinns der kanonischen Schrif ten

Die Intention dieses dritten Abschnitts ist eine dreifache: Zunächst gilt es, wie eben angekündigt, die katalytische Rolle der Geschichtlichkeit des Auslegers im Prozess der Auslegung herauszustreichen (2.3.1). Zum Zweiten gilt es zu erkennen, wie Auslegung sich nicht nur vollzieht in der Form eines geschichtlich situierten Dialogs zwischen den Kommentaren und den kanonischen Schriften, sondern auch als Bezugnahme eines Kommentators auf bereits vorliegende Kommentare (2.3.2). Und drittens schließlich ergibt sich angesichts der beständigen Möglichkeit von Verzerrungen und Fehldeutungen die Notwendigkeit, nach einem angemessenen Umgang mit den kanonischen Schriften zu suchen, nach einer Art von authentischer Auslegung also, welche sterile Repetition ebenso vermeidet wie eigenwillige Kreativität auf Kosten des ausgelegten Textes (2.3.3).

2.3.1 Die Katalysator funk tion der Geschichtlichkeit Wir hatten oben gesehen, dass die Situation der Auslegung zu verstehen ist als die Begegnung der Geschichtlichkeit des Auslegers mit der Geschichtlichkeit des Textes. Dabei gilt zunächst

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für jede Auslegung, dass sie die Geschichtlichkeit des Textes zur Kenntnis nehmen und sich sozusagen auf die Perspektive des Textes einlassen muss, indem sie den historischen Kontext seiner Entstehung als konstituierendes Moment seines spezifischen Sinns ernst nimmt. Hierfür finden sich in der chinesischen Auslegungsgeschichte unzählige Beispiele – ich verweise im Vorbeigehen auf dasjenige des konfuzianischen Gelehrten Xu Qian (姙嫁, 1199-1266), der eine Stelle des Buches Mengzi auslegt, in der Menzius auf die Frage, wodurch bzw. worauf das chinesische Reich als staatliche Einheit zu gründen (ding ⭂) sei, antwortet: »Durch/auf Einheit« (ding yu yi ⭂㕤ᶨ).16 Die Implikationen dieser augenscheinlich unscheinbaren Antwort werden von Xu Qian herausgearbeitet, indem er den politischen Kontext der sogenannten Zeit der Streitenden Reiche (403-222 v. Chr.) heranzieht, auf den Menzius Bezug nimmt, und damit erklären kann, welches politische System die Antwort des Menzius favorisiert.17 Dadurch wird das, was zunächst wie eine Binsenweisheit aussieht, zu einer konkreten Stellungnahme und einem praktischen Ratschlag. Hier wird also durch die Aufklärung der Geschichtlichkeit des Textes und eine historische Kontextualisierung der Sinn einer bestimmten Aussage konkretisiert. Der wichtigere Fall, der daher im Folgenden etwas ausgiebiger erläutert werden soll, ist aber derjenige, in dem die Geschichtlichkeit des Auslegers zu einem konstruktiven Moment der Auslegung wird, wo es also zu einem – hier noch nicht positiv oder negativ bewerteten – Hineinlesen (duru 嬨ℍ) von Sinn in den ursprünglichen Text kommt; denn offenbar entsteht hier die schwierige Frage, ob auf diese Weise die kanonische Schrift verfälscht oder authentisch ausgelegt wird. Betrachten wir als Beispiel wiederum die Auslegung einer Stelle aus dem Buch Mengzi (7A, 38), wo Menzius folgendes sagt: »Körper/Form und Erscheinung werden uns vom Himmel verliehen. Nur der moralisch vollendet Kultivierte (shengren 俾

16 | Vgl. Mengzi 1A, 4. 17 | Vgl. Xu Qian: ⬇⫸⎊婒 (Gesammelte Erklärungen zum

Buch Mengzi), aufgenommen in die Textsammlung 䃉㯪⁁滳⬇⫸ ⋩㚠 (Bibliothek mit zehn Werken zum Buch Mengzi), Taipeh: Yiwen Yingshuguan 1969, Abteilung 1, S. 4.

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Ṣ) vermag sich eine vollendete Form zu geben.«18 Diese beiden kurzen Sätze sind äußerst reich an Bedeutung, und es überrascht nicht, dass die verschiedenen Ausleger und Kommentatoren der chinesischen Tradition zu unterschiedlichen Zeiten mit sehr verschiedenen Deutungen aufgewartet haben, welche etwas über ihren jeweiligen geistigen Hintergrund und auch ihre ganz persönlichen Einstellungen verraten. Der hanzeitliche Gelehrte Tang Qi (嵇ⰸ, gest. 210 n. Chr.) geht in seiner Deutung von einem Gegensatz zwischen den beiden zuerst genannten Zeichen für »Körper/Form« (xing ⼊) und »Erscheinung« (se 刚)19 aus und sieht in ersterem einen Verweis auf die würdevolle Gestalt des Edlen oder Prinzen ( junzi ⏃⫸) und im 18 | ˬ⼊刚炻⣑⿏ḇ炻ょ俾Ṣ⼴⎗ẍ嶸⼊ˤ˭ Anmerkung des Übersetzers: Dieser im Mengzi isoliert und ohne Kontext stehende Satz – eingeleitet nur durch die Wendung »Menzius sagt« – enthält eine Reihe von flexiblen und mehrdeutigen Ausdrücken, die eine befriedigende Übersetzung erschweren, weshalb ich hier eine Reihe von alternativen Übersetzungen verschiedener Sinologen anführe: »Our body and complexion are given to us by Heaven. Only a sage can give his body complete fulfi llment.« D.C. Lau: Mencius – A Bilingual Edition, Hongkong: The Chinese University Press 2003, S. 305. »Form and color (our body) are nature endowed by Heaven. It is only the sage who can put his physical form into full use.« Wing-tsit Chan: A Sourcebook in Chinese Philosophy, Princeton/ NJ: Princeton University Press 1963, S. 80. Die Abweichungen der Übersetzungen untereinander spiegeln natürlich die unterschiedlich akzentuierten Verstehensmöglichkeiten, welche die Textstelle auch für chinesische Leser besitzt, und deren Bandbreite die weiteren Ausführungen andeuten werden. 19 | Anmerkung des Übersetzers: Die folgende Auslegung stützt sich auf weitere Bedeutungen dieses Zeichens Se (刚), das ursprünglich »Farbe«, »Gesichtsausdruck/Miene« und »Anblick« bedeutet, außerdem aber die spezifische Bedeutung »das schöne Äußere einer Frau« besitzt und im Zusammenhang damit wiederum für »Lust/Verlangen« stehen kann. Im Originalzitat wird von beiden, Xing (⼊) und Se (刚) behauptet, sie würden vom Himmel verliehen oder seien Teil unserer himmlischen (d.h. natürlichen) Ausstattung, aber nur vom Zeichen Xing (Körper/Form) heißt es im zweiten Satz, dass der moralisch Kultivierte ihn/sie zu vollenden vermöge.

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zweiten einen Verweis auf die verführerische – genauer: »dämonisch schöne« (yaoli ⤾渿) – Erscheinung der Frau des Prinzen. Und um diesen Gegensatz weiter zu erläutern, bedient er sich des im Konfuzianismus der Hanzeit populären Begriffspaars Yin-Yang (昘春), dessen erstes Zeichen für »weiblich, dunkel, negativ« steht, während das zweite »männlich, hell, positiv« bedeutet, was schließlich dazu führt, in der Mengzi-Stelle einen Ausdruck von Respekt für das männliche Yang und Herablassung für das weibliche Yin (zun yang yi yin ⮲春㈹昘) zu sehen. Schließlich, so Tang Qi, werde von Menzius im zweiten Satz nur von der Möglichkeit einer Vollendung des Körpers oder der Form (xing ⼊) gesprochen, nicht aber von einer Veredelung der Erscheinung (se 刚).20 Es erscheint einsichtig, dass eine solche Deutung der Originalstelle nur möglich ist, wenn erstens das Yin-Yang (昘春) Schema als Interpretament zur Verfügung steht und grundsätzlich Plausibilität besitzt, und wenn zweitens ein Autor gewillt ist, es in einer bestimmten Weise einzusetzen, um eine bestimmte Anschauung zu artikulieren. Ersteres Moment gründet im intellektuellen Umfeld einer Zeit und Gesellschaft, letzteres in der – natürlich ihrerseits von diesem Umfeld geprägten – individuellen Weltsicht eines Auslegers und Kommentators. Betrachten wir als nächstes eine ganz andere Auslegung derselben Stelle, diesmal vorgenommen von Zhu Xi (1130-1200). Dieser sieht überhaupt keinen Gegensatz zwischen den beiden Zeichen, sondern betont zunächst, dass alle Menschen einen Körper (xing ⼊) und ein bestimmtes Aussehen (se 刚) haben, als Momente ihrer sogenannten »Himmels-Natur« (tian xing ⣑ ⿏). Für die Gesamtheit der somit angesprochenen ›himmelsgegebenen‹ natürlichen Ordnung und ihrer Intelligibilität steht bei Zhu Xi wiederum der bereits im ersten Kapitel vorgestellte und im Denken des songzeitlichen Konfuzianismus zentrale Ausdruck Li (䎮ġPrinzip, geistiges Ordnungsmuster) – Zhu Xi spricht daher in seiner Auslegung der Stelle auch von einem »natürlichen« oder »sich selbst erweisenden Li« (ziran zhi li 冒䃞 ᷳ䎮). Worauf es nun für Zhu Xi ankommt bezüglich des zweiten Satzes aus dem Mengzi, ist, dass es vielen Menschen nicht gelingt, »ihr Li auszuschöpfen« ( jin qi li 䚉℞䎮), das heißt sie vermögen nicht, ihre natürlichen Anlagen zu einer kultivierten 20 | Vgl. Studienausgabe, Abteilung 13, S. 113.

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Persönlichkeit herauszubilden, orientiert am Rollenvorbild des im Zitat angesprochenen moralischen Virtuosen (shengren 俾 Ṣ), dem dies nämlich in beispielhafter Weise gelingt.21 Was bei Mengzi »vollendete« bzw. »verwirklichte Form« ( jian xing 嶸⼊) heißt, ist also für Zhu Xi überhaupt nicht etwas Äußerliches, geschweige denn spezifisch Männliches, sondern ein Ausdruck für die vollendete Natur des Menschen als Ziel seiner Kultivierungsbemühung. Was wir bereits im ersten Kapitel über Zhu Xi gesagt haben, bestätigt sich also auch hier: Sein vor allem unter dem Einfluss des Cheng Yi (䦳柌, 1033-1107) entwickeltes, um den Kernausdruck Li (䎮) herum aufgebautes philosophisches Vokabular führt in der Auslegung der kanonischen Schriften zu einem besonderen, zutiefst von Zhu Xis eigenem Denken und seiner Weltanschaung geprägten System konfuzianischer Philosophie.

2.3.2 Die Vermittlung durch die Kommentarliteratur Die hier vorgenommene Gegenüberstellung von verschiedenen Auslegungen einer bestimmten Textstelle aus einem konfuzianischen Klassiker darf natürlich nicht so verstanden werden, als wäre jede Auslegungssituation alleine dadurch charakterisiert, dass ein Kommentator sich, situiert in seiner Zeit, dem aus einer anderen Zeit kommenden kanonischen Text zuwendet – ein solches Verständnis liefe auf eine Ausblendung der Zwischenzeit und damit der Rolle der Kommentartradition selbst hinaus, d.h. auf ein Verkennen der Tatsache, dass bei jeder Begegnung eines Kommentators mit den kanonischen Schriften die bereits vorliegenden Kommentare mitbegegnen. Jeder Kommentator bezieht sich nicht nur auf den zu kommentierenden Text, sondern auch auf frühere Kommentare desselben Textes, d.h. jede Auslegung steht in einem Verhältnis des Dialogs (duihua guanxi ⮵娙斄Ὢ) zu anderen Auslegungen, an welche die aktuelle Auslegung anschließt oder welche sie kritisiert, welche

21 | Vgl. Zhu Xi: ⚃㚠䪈⎍普姣 (Gesammelte Kommentare zu den Kapiteln und Sätzen der ›Vier Bücher‹), Peking: Zhonghua Shujue 1983, Abteilung 13, S. 360.

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sie fortsetzt oder korrigiert, um es einmal schablonenhaft bei dieser Gegenüberstellung zu belassen. Wie groß der Einfluss eines früheren Auslegers und Kommentators auf seine Nachfolger ist, hängt häufig davon ab, in welchem Maße seine Auslegungen ihrerseits inneren Zusammenhalt und Systematik (yuanrongxing ℏ⛐⚻圵⿏) besitzen, d.h. inwiefern ein Kommentator in seinen Kommentaren verschiedener kanonischer Schriften ein einheitliches philosophisches System artikuliert. Im größten Maß ist dies in der chinesischen Geistesgeschichte dem eben angeführten Zhu Xi gelungen,22 dessen Kommentare (und Editionen) der kanonischen Schriften auch deshalb einen so überragenden und über Jahrhunderte anhaltenden Einfluss ausgeübt haben, weil sie ein umfassendes System konfuzianischen Denkens repräsentieren, das alle wesentlichen Schriften der Tradition zu integrieren vermochte. Auf Zhu Xis Edition gehen die konfuzianischen Vier Bücher zurück – bestehend aus Die große Lehre (Daxue ⣏⬠), Gespräche des Konfuzius (Lunyu 婾婆), Doktrin der Mitte (Zhongyong ᷕ⹠) und dem Buch Mengzi (⬇⫸), die zusammen mit Zhu Xis Gesammelten Kommentaren zu den Vier Büchern (Si shu ji zhu ⚃㚠普姣) im Jahr 1313 zur Textgrundlage der staatlichen Beamtenexamina wurden. Ab dem vierzehnten Jahrhundert verfügte China damit über ein kanonisiertes und gleichsam institutionalisiertes Verständnis seiner Tradition auf konfuzianischer Grundlage. Für alle späteren Kommentatoren hieß das, dass ihre eigenen Kommentare sich auf der Basis einer Kenntnis der Auslegungen des Zhu Xi auf die kanonischen Schriften bezogen und nur so auf sie beziehen konnten. Sie konnten Zhu Xi bestätigen oder attackieren, fortführen oder kritisieren, aber sie alle mussten sich mit ihm auseinandersetzen, denn seine Auslegungen waren der Standard (biaogan 㧁䪧), anhand dessen sich alle anderen zu positionieren hatten. Bereits kurz bevor Zhu Xis Kommentare offiziell zur orthodoxen Lesart des Konfuzianismus erklärt wurden, hat ein Gelehrter der späten Song22 | Vgl. Chun-chieh Huang: »⽆㛙⫸⬇⫸普姣䚳ᷕ⚳⬠埻⎚䘬 㲐䔷⁛䴙« (Ein Blick auf die Kommentartradition der chinesischen Gelehrtengeschichte ausgehend von Zhu Xis ›Gesammelten Kommentaren zum Mengzi‹). In ders.: ₺⭞⁛䴙冯㔯⊾∝㕘 (Konfuzianische Tradition und kulturelle Erneuerung), Taipeh: Dongda Tushu Gongsi 1983, S. 43-76.

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zeit, Tang Shunsun (嵇枮⬓, 1215-1276) bekannt: »Die Kommentare des Meisters Zhu zu den Vier Büchern sind subtil und fein in der Bedeutung, klar und streng in der Sprache, ganz wie die Klassiker selbst.«23 Und Wang Yangming (䌳春㖶, 1472-1529), der große mingzeitliche Opponent des Zhu Xi bekennt, welche Pein es ihm verursacht habe, sich im Verständnis der kanonischen Schriften in Opposition zu Zhu Xi zu befinden, wie sehr er in solchen Fällen seiner eigenen Lesart misstraut hat.24 Dieses Bekenntnis des Wang Yangming ist ein besonders vielsagender Beleg für den Rang der Deutungen des Zhu Xi und für die Tatsache, dass alle späteren Kommentatoren und Ausleger notgedrungen in einen Dialog mit seinen Auslegungen einzutreten hatten.

2.3.3 Die Frage nach dem Umgang mit der Geschichtlichkeit Die bisherigen Ausführungen haben den hier mit »Geschichtlichkeit des Auslegers der kanonischen Schriften« (妋䴻侭䘬 㬟⎚⿏) angesprochenen Problemkomplex als zweischneidiges Schwert enthüllt: Geschichtlichkeit ist nicht nur grundsätzlich unhintergehbar, sondern auch positiv notwendig beim Geschäft der Auslegung, insofern es dieser um eine Entfaltung des in den klassischen Schriften verborgenen Sinnpotentials (kaifa jingdian zhong qiancang de yihan 攳䘤䴻℠ᷕ㼃啷䘬シ㵝) geht. Gleichzeitig aber droht aus der Entfaltung eine Überdeckung zu werden, wenn die Auslegung zu stark von den philosophischen 23 | Tang Shunsun: ⚃㚠䰓䔷 (Zusammengestellte Kommentare zu den ›Vier Büchern‹), Taipeh: Xinxing Shuju 1947. Der Ausspruch findet sich im nicht mit Seitenzahlen versehenen Vorwort. 24 | Vgl. Wing-tsit-Chan (Chen Rongjie 昛㥖㌟) (Hg.): 䌳春㖶 ⁛佺抬娛姣普姽 (Annotierte und Kommentierte Ausgabe der ›Aufzeichnungen über die Unterweisung in der Tradition‹ des Wang Yangming), Taipeh: Xuesheng Shuju 1993, S. 253. Vgl. auch Wing-tsit Chan: »⽆㛙⫸㘂⸜⭂婾䚳䌳春㖶ᷳ㕤㛙⫸« (Zum Verhältnis von Wang Yangming zu Zhu Xi ausgehend von Wangs Text ›Abschließende Diskussion von Zhu Xis spätem Denken‹). In ders.: 㛙⫸ 婾普 (Gesammelte Aufsätze zu Zhu Xi), Taipeh: Taiwan Xuesheng Shuju 1982, S. 353-383.

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Intentionen des Auslegers geleitet wird – es stellt sich dann ein, was ich als »Tunneleffekt« (suidao xiaoying 晏忻㓰ㅱ) bezeichnen möchte, nämlich eine Verengung der Perspektive der Auslegung entweder durch eine Vereinseitigung des Inhalts oder durch eine unnötige Verkomplizierung. Entweder der Ausleger hat nur ganz bestimmte Teile des Originals vor Augen, anhand deren sich sein eigenes Denken ausführen und stützen lässt, oder er stülpt dem schlichten (supu 䳈㧠) Gedankengang der kanonischen Schriften ein eigenes und vergleichsweise kompliziertes Gedankengebäude über und verdeckt so den ursprünglichen Sinn. Die oben erwähnten Auslegungen einer Menzius-Stelle durch Tang Qi und Zhu Xi geben hierfür jeweils ein Beispiel: Während der erstere den Sinn der Stelle mit Hilfe des Yin-Yang (昘春) Schemas einengt auf einen bestimmten Gegensatz, projeziert Zhu Xi ein umfassendes System spekulativer Metaphysik in Menzius’ Ausspruch hinein und geht damit über das im Original Gesagte weit hinaus. In beiden Fällen fi ndet eine durch die Intentionen der Ausleger motivierte Entfernung (qugehua ⋨昼⊾) vom Original statt. Die Frage stellt sich, ob derartige Probleme aufgrund der Unhintergehbarkeit der Geschichtlichkeit ihrerseits unvermeidlich sind oder ob es Möglichkeiten und Wege gibt, die problematischen Effekte der Geschichtlichkeit zu vermeiden oder wenigstens abzuschwächen. Ich möchte zwei solcher Lösungswege vorschlagen. Den ersten haben wir bereits oben kennengelernt im beiläufigen Verweis auf Xu Qians (姙嫁) historische Kontextualisierung der Menzius-Stelle, in der es um die »Einheit« (yi ᶨ) als Mittel der Konsolidierung des Reiches ging. Hier hat ein Rückgang auf die Entstehungszeit und das Umfeld des betreffenden Werkes stattgefunden, um auf diese Weise unangemessenen Rückprojektionen eines späteren Auslegers entgegenzuwirken. Der historische Gelehrte Chen Yinke (昛⭭〒, 1890-1969) spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit eines »vertikal durchdringenden Blicks« (zongguan zhi yanguang ䷙ 屓ᷳ䛤⃱),25 womit die Verortung des Klassikers in seinem historischen Entstehungskontext ebenso gemeint ist wie die Be25 | Chen Yinke: »楖⍳嗕ᷕ⚳⒚⬠⎚ᶲℲ⮑㞍⟙⏲« (Begutachtung des ersten Bandes von Feng Youlans ›Geschichte der chinesischen Philosophie‹). In: 昛⭭〒⃰䓇㔯普 (Gesammelte Abhandlungen von Chen Yinke), Taipeh: Liren Shuju 1981, Bd. 2, S. 248.

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achtung des Rezeptions- und Entwicklungsprozesses, der sich zwischen diesem Kontext und dem der Auslegung abgespielt hat und zwischen beiden vermittelt. Der zweite Weg besteht in einem Rückgang auf den ursprünglichen Text der kanonischen Schriften. Im Verlauf der chinesischen Geistesgeschichte ist dieser Rückgang immer wieder erfolgt, um im Streit der verschiedenen Auslegungen einen Halt zu gewinnen, mit Hilfe dessen sich Streitfragen klären lassen. So nimmt Wang Yangming in seiner Schrift Abschließende Diskussion von Zhu Xis spätem Denken (㛙⫸㘂⸜⭂ 婾) ein intensives Studium des von Zhu Xi edierten Klassikers Die große Lehre (⣏⬠) in seiner ursprünglichen Textgestalt vor, um von dort aus Streitfälle der Interpretation zu untersuchen und zu zeigen, wie einige von Zhu Xis Eingriffen in den Text dessen Sinn verzerrt haben.26 In der Qingzeit (1644-1911) ist unter 26 | Anmerkung des Übersetzers: Was hier in zuversichtlicher Rhetorik als zweifacher Vorschlag zur ›Lösung‹ von Konflikten der Interpretation unterbreitet wird, dürfte den kritischen Leser kaum befriedigen, denn natürlich wird der Rückgang auf den Wortlaut des Klassikers kein letztes Urteil über den Sinn bestimmter Stellen erlauben, da es ja gerade die vom Wortlaut eröff neten Interpretationsspielräume sind, welche den Streit verschiedener Verstehensmöglichkeiten eröffnet haben – Spielräume, die von der zuvor als unhintergehbar bezeichneten Geschichtlichkeit nur noch erweitert werden und aus denen der Rückgang auf den Wortlaut natürlich nicht hinausführt. Ebenso wie bei der zuvor vorgeschlagenen historischen Kontextualisierung handelt es sich beim Rückgang auf den Wortlaut des Originals also nicht um eine Lösung des Problems der Geschichtlichkeit, sondern eher um eine Richtlinie für den heutigen Interpreten der kanonischen Schriften und ihrer Kommentare, mit dem Problem konstruktiv umzugehen. Der entscheidende Punkt ist der, dass jeder Ausleger aufgerufen ist, durch eigene Anstrengung und Gewissenhaftigkeit einer Willkür seiner Auslegung vorzubeugen und auf den Text zu hören statt ihn zum bloßen Vehikel eigener Standpunkte zu machen. Zu beachten ist zudem, dass es sich im Falle zum Beispiel der Auslegungen des Zhu Xi nicht nur um Kommentare, sondern auch um Editionen der Klassiker handelt, d.h. an manchen Stellen um Eingriffe eben in den Wortlaut des in verschiedenen Versionen vorliegenden ›Originals‹. In diesem Zusammenhang ist einerseits das Bestreben

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dem Titel der »Textphilologie« (kaojuxue 侫㒂⬠) diese Herangehensweise zu ihrer Blüte gelangt, und zwar auch als Gegenbewegung gegen das spekulative konfuzianische Denken der Songzeit und insbesondere, wie wir gesehen haben, des Zhu Xi, dem seine Kritiker vorgeworfen haben, die sorgsame Philologie der kanonischen Schriften zugunsten philosophischer Spekulation zu vernachlässigen.27 Was in diesen Debatten in Frage stand, war die Rolle der kanonischen Schriften im Prozess der moralischen Kultivierung, somit ihre Funktion im konfuzianischen Gemeinwesen und aufgrund dessen schließlich die Frage nach den Spielräumen der Auslegung. Die umfassenden metaphysischen Spekulationen des song- und mingzeitlichen NeoKonfuzianismus, dessen Autoren stets betonten, in ihrer Arbeit den Sinn der kanonischen Schriften auszulegen, die dabei aber zu untereinander in Spannung und Widerspruch stehenden Systemen kamen, wurden nun in der Qingzeit einer gründlichen Kritik unterzogen, die nicht philosophisch spekulativ, sondern textkritisch vorging – wohlgemerkt, es handelt sich hierbei nicht um starre Gegensätze, die einander strikt ausschließen und im Laufe der Geschichte ablösen, sondern um dynamische Entwicklungen, die einander wechselseitig durchdringen und beeinflussen und dabei verschiedene Facetten des hier behandelten Problems der Geschichtlichkeit enthüllen. verständlich, angesichts von miteinander im Streit liegenden Deutungen zunächst festzustellen, welches der Wortlaut der fraglichen Stellen denn nun ist, auch wenn andererseits wiederum klar sein dürfte, dass ein solches Bestreben angesichts des enormen Zeitabstandes zur Entstehung der jeweiligen Texte unentwirrbar mit Fragen der Interpretation verknüpft ist. Genauer: Die retrospektive Entscheidung für die eine und gegen die andere Variante des zu rekonstruierenden Originals ist ein Akt der Interpretation und beinhaltet einen Vorgriff auf den Sinn des gesamten Textes, mit dem die Rekonstruktion einer einzelnen Stelle schließlich zusammenstimmen muss. 27 | Vgl. hierzu die grundlegenden Ausführungen von Yü Ying-shih: »Some Preliminary Observations on the Rise of Ch’ing [Qing] Confucian Intellectualism«. In: Tsing Hua Journal of Chinese Studies, New Series XI, no. 1 und 2 (1975), S. 105-136. Siehe außerdem den Anhang zu diesem Artikel, »Intellectualism and Anti-Intellectualism in Chinese Intellectual History«, ebd., S. 137-144.

2.4 Der Dialog zwischen kanonischer Schrif t und Ausleger als Lebensquelle der Tradition

In diesem Abschnitt gilt es, noch einen Schritt weiter zu gehen in der Erklärung, wie innerhalb der chinesischen Tradition der Raum und Zeit transzendierende Rang der kanonischen Schriften verstanden und durch die Geschichte hindurch aufrechterhalten wurde – in diesem Zusammenhang von einer Bewegung der Transzendierung zu sprechen, bedeutet natürlich nicht, den Klassikern einen Ort außerhalb von Zeit und Geschichte zuzuweisen, sondern es will besagen, dass sie in China nie als bloße Zeugnisse einer bestimmten Zeit verstanden wurden, auch wenn, wie wir gesehen haben, die historische Kontextualisierung einen Einstieg in die Auslegung bieten kann. Was einen Klassiker zum Klassiker macht, ist die Nicht-Gebundenheit seines Sinns an einen bestimmten Kontext; letzterer bietet einen Einstieg in die Interpretation, aber der Sinn des Klassikers lässt sich durch Kontextualisierung nicht erschöpfen. Beim mingzeitlichen Konfuzianer Wang Yangming gibt es den Ausdruck des »beständigen« bzw. »ewigen Weges« (chang dao ⷠ忻), womit eine Art von Universalität bestimmter Normen und Wertvorstellungen und damit eine Konstante des individuellen und sozialen Lebens angesprochen ist – die kanonischen Schriften, könnte man bildhaft sagen, sind in China die »Gefäße« (rongqi ⭡☐), in denen der Sinn dieses beständigen Weges

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weitergegeben wird,28 welcher sich nicht fassen lässt als eine fest umgrenzte Erkenntnis oder ein bestimmtes Sachwissen, weil er in einem über die Zeit hinweg aufrechterhaltenen Gespräch mit den Texten immer neu angeeignet werden muss. Auch moderne Konfuzianer wie Xiong Shili (䄲⋩≃, 1885-1968) oder Ma Yifu (楔ᶨ㴖, 1883-1967) betonen in ihren Schriften den in diesem Sinn verstandenen Transzendenzcharakter der kanonischen Schriften. Wenn wir nun fragen, wie es kommt, dass bestimmte Schriften diesen besonderen Rang erlangen, dann werden wir verwiesen auf die Auslegungsgeschichte der Texte selbst und auf die Tatsache, dass es einen ununterbrochenen Prozess der Kommentierung und Auslegung gibt, welcher die Unerschöpflichkeit des Sinns der kanonischen Schriften veranschaulicht. Durch die gesamte chinesische Geistesgeschichte hindurch haben Denker die Antworten auf die wichtigsten Fragen des menschlichen Lebens in den Klassikern gesucht – auf diese Weise kam es zu einem kreativen Dialog (chuangzaoxing de duihua ∝忈⿏䘬⮵娙) zwischen den Autoren und den Auslegern der kanonischen Schriften bzw. zwischen kanonischer Schrift und Kommentar, und es ist dieser fortgesetzte Dialog, der den Zusammenhalt der chinesischen Geistesgeschichte stiftet. Die spezifischen Perspektiven der von verschiedenen Interpreten an die Klassiker gerichteten Fragen enthüllt immer neue Facetten und Dimensionen von deren Sinn, dessen Beständigkeit also keine Starrheit, sondern die Kontinuität der Neuaneignung ist. Erst durch die Auslegung und aufgrund ihrer jeweiligen spezifischen Perspektive – was wir in diesem Kapitel als ›Geschichtlichkeit‹ bezeichnen – wird der Sinn der Klassiker lebendig. Hier zeigt sich erneut, dass die Geschichtlichkeit in der Tat nicht nur unhintergehbar ist, sondern konstitutiv für den Sinngehalt der kanonischen Schriften. Wir haben im zweiten Abschnitt dieses Kapitels den Gehalt der Klassiker als einen existenziellen (shicunde ⮎⬀䘬) und erfahrungsmäßigen (tiyande 橼槿䘬) bezeichnet und dies in einem dialogischen Sinne so verstanden, dass die kanonischen Schriften nicht nur die Lebenserfahrungen eines Autors spiegeln und artikulieren, sondern dass auch die Lebenserfahrung 28 | Vgl. 䌳春㖶ℐ普 (Wang Yangming Gesamtausgabe), Bd. 1, Shanghai: Guji Chubanshe 1992, S. 254.

2.4 D IALOG

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des Auslegers durch diese Texte mit formiert wird, was sich dann wiederum in der Auslegung ausspricht. Mit ›Erfahrung‹ ist dabei freilich nicht eine bloße Abfolge von äußerlichen Begebenheiten gemeint, sondern ein innerer Prozess der Entwicklung des eigenen Herzgeistes (xin ⽫), d.h. eine Art spirituelle Pilgerreise (xinlu licheng ⽫嶗㬟䦳), und damit wiederum ist letztlich nichts anderes gemeint als moralische Kultivierung (gongfu ⶍ ⣓). Es handelt sich beim Gehalt der kanonischen Schriften also nicht um etwas, was wie eine Information einfach weitergegeben werden kann, sondern um etwas, was nur im Modus der Erfahrung überhaupt zugänglich ist. Anders gesagt: Erst in der Bereitschaft des Auslegers, mit seiner ganzen Persönlichkeit sich von der kanonischen Schrift ansprechen zu lassen, enthüllt sich deren Sinn. Nur so lässt sich aus der konkreten und partikularen Begebenheit, die im Klassiker berichtet wird – zum Beispiel ein historischer Vorgang – ein universaler, alle Menschen betreffender Gehalt gewinnen. Konfuzianische Texte bedienen sich häufig einer vergleichenden oder analogisierenden Darstellung, um Beispiele aus der chinesischen Geschichte für das Verständnis der Gegenwart fruchtbar zu machen. Oder es wird im Sinne einer kontra-faktischen ( fan shishixing de ⍵ḳ⮎ ⿏䘬) Kontrastierung verfahren und die Vergangenheit in idealisierender Weise dargestellt, um den Blick für Verfehlungen der Gegenwart zu schärfen. Der Sinn liegt jeweils nicht im Informationsgehalt über bestimmte Sachverhalte der Vergangenheit, sondern darin, dem Leser einen konkreten Maßstab für die Beurteilung seiner Gegenwart und seiner selbst vor Augen zu halten. Das ist der unreduzierbare normative Gehalt und Anspruch der kanonischen Schriften der chinesischen Tradition, dem sich jeder Interpret stellen muss. Wenn er das tut, gewinnen die Texte einen ihren Entstehungskontext transzendierenden universalen Gehalt. Der Sinn der vorstehenden Ausführungen war es, dem Leser einen Eindruck zu vermitteln, in welcher spezifischen Weise das Problem der Geschichtlichkeit innerhalb der chinesischen bzw. konfuzianischen Geisteskultur präsent ist, wie es sich auswirkt und wie es von verschiedenen Autoren behandelt wurde. Die chinesische Tradition versteht das Verhältnis von kanonischer Schrift und Ausleger als eines der Intersubjektivität (huwei zhutixing Ḻ䁢ᷣ橼⿏), das paradigmatisch zum Ausdruck

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kommt in dem Leitsatz »Die Sechs Klassiker legen mich aus, ich lege die Sechs Klassiker aus« (liu jing zhu wo, wo zhu liu jing ℕ 䴻姣ㆹ炻ㆹ姣ℕ䴻).29 Jeder Ausleger reflektiert sein Leben und seine Erfahrungen im Lichte der kanonischen Schriften und reflektiert deren Inhalt auf der Grundlage seiner Lebenserfahrung. Der aus diesem Prozess hervorgegangene Kommentar ist also das Produkt einer wechselseitigen Auslegung. Zwischen beiden Seiten gilt es das herzustellen, was oben als »dynamische Balance« (dongtaide pingheng ≽ン䘬⸛堉) bezeichnet wurde: Das Ausgelegt-werden des Auslegers durch die kanonischen Schriften bedeutet ein Hören auf die jeweiligen Texte und die darin artikulierten Normen der individuellen und sozialen Lebensgestaltung, mithin ein Moment der Formierung individueller Erfahrung durch einen bestimmten Text; die Auslegung des Textes durch den Ausleger beinhaltet demgegenüber ein Moment der Kreativität und der individuellen Aneignung des Textgehalts durch den Ausleger aufgrund seiner jeweiligen Geschichtlichkeit. Beide Momente sind notwendig für die Erhaltung einer lebendigen ›Klassikerkultur‹, die weder in der Repetition vergangener Texte erstarrt noch das Erbe der Vergangenheit an die Beliebigkeit aktueller Deutungen ausliefert.

29 | Anmerkung des Übersetzers: Das Motto geht zurück auf den songzeitlichen Neo-Konfuzianer Lu Xiangshan (映尉Ⱉ, 11391193). Zu beachten ist, dass zuerst die Auslegung des eigenen Selbst durch die kanonischen Schriften genannt wird und erst danach die Schriftauslegung durch das Subjekt.

3.

Zur Beziehung zwischen der Interpretation kanonischer Schrif ten und politischer Macht in Ostasien

3.1 Einleitung

Eine der wichtigsten Besonderheiten der konfuzianisch geprägten Kultur Ostasiens liegt in der engen Beziehung zwischen der Interpretation kanonischer Schriften und der Ausübung politischer Macht. Im Laufe der Geschichte haben konfuzianische Gelehrte stets versucht, den Gehalt der alten Schriften auf die Umstände ihrer Zeit anzuwenden und dadurch auf die politischen Machthaber einzuwirken, ihnen beispielsweise Zurückhaltung aufzuerlegen und so zu einer Verbesserung und Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse beizutragen. Wir können daher sagen, dass die Perspektive der Interpreten auf die kanonischen Schriften immer auch eine politische gewesen ist und dass Konflikte zwischen verschiedenen Les- und Auslegungsarten dieser Schriften häufig politische Ursachen und Implikationen hatten. Gleichzeitig standen natürlich auch die Interpreten in ihrer Arbeit unter dem Einfluss politischer Machtverhältnisse und haben dementsprechend den Texten zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen jeweils andere Bedeutungen zugesprochen. Dies ging gelegentlich so weit, dass unter dem Druck der Verhältnisse Interpreten den Sinn der kanonischen Schriften verfälscht haben, dass bestimmte Stellen zensiert oder die Aussagen der Texte sonstwie verdreht wurden. Ein wesentlicher Grund für die Dynamik der Auslegungstradition konfuzianischer Schriften liegt also im Selbstverständnis konfuzianischer Gelehrter begründet, die nicht lediglich Interpreten und Verwalter eines bestimmten Korpus von alten Schriften sein wollten, sondern durch ihre Arbeit Stellung

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bezogen zu politischen Fragen und Einfluss nehmen wollten auf den politischen Prozess. Ihr Leitgedanke und Ideal lag darin, die gesellschaftlichen Verhältnisse gemäß den normativen Vorstellungen der kanonischen Schriften zu ordnen, d.h. die Machthaber zu einer solchen Ordnung anzuhalten. In diesem Sinne stand ihre Arbeit von vornherein innerhalb des politischen Handlungsbereichs. Anhand einiger Beispiele aus dem Bereich des ostasiatischen Konfuzianismus wird dieses Kapitel das komplexe Beziehungsgefüge zwischen der Auslegung kanonischer Schriften und der Ausübung politischer Macht diskutieren.

3.2 Der Einfluss politischer Macht auf die Auslegung der kanonischen Schrif ten

In der Geschichte des ostasiatischen Konfuzianismus lassen sich zwei Weisen unterscheiden, in denen die politische Macht direkten Einfluss auf das Geschäft der Auslegung kanonischer Schriften genommen hat: Zum einen kam es vor, dass bestimmte Kernbegriffe aus den alten Schriften mit einer neuen und politisch unverfänglichen Bedeutung versehen wurden; zum anderen lässt sich eine Art »Filtereffekt« (guolü zuoyong 忶㾦ἄ 䓐) beobachten, den ich weiter unten näher erläutern werde.

3.2.1 Die Durchset zung neuer Bedeutungen konfuzianischer Kernbegrif fe Die Gespräche des Konfuzius sind ein Werk, das sich um die moralische Kultivierung der Persönlichkeit und die harmonische Ordnung des Staates dreht und beides als Mittel begreift, um einen Zustand umfassender Harmonie »unter dem Himmel« (tian xia ⣑ᶳ) herbeizuführen. In einem Abschnitt der Gespräche (6, 1) heißt es: »Der Meister spricht: ›Yong ist befähigt, den Sitz mit dem Gesicht nach Süden (nanmian ⋿朊) einzunehmen.‹« Der Ausdruck ›mit dem Gesicht nach Süden‹ ist äußerst signifi kant. Im chinesischen Altertum saßen politische Amtsinhaber bei der Audienz mit Untergebenen stets mit dem Gesicht nach Süden, d.h. die entsprechenden Räumlichkeiten waren so eingerichtet, dass der Amtsinhaber seinen Sitz auf der

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nördlichen Seite hatte, den Untergebenen gegenüber und mit dem Gesicht in südlicher Richtung. Da dies, wie gesagt, für alle Amtsinhaber auf den verschiedenen Stufen der politischen Hierarchie galt, könnte die Bemerkung in den Gesprächen sich auf das Amt des Königs, eines Feudalherren, Vasallen oder sogar das eines lokalen Präfekten beziehen.1 Die Art und Weise wie der Ausdruck ›mit dem Gesicht nach Süden‹ zu verschiedenen Zeiten ausgelegt wurde, kann uns also etwas über die Beziehung der jeweiligen Interpreten zu ihrem politischen Kontext verraten.2 Der hanzeitliche Gelehrte Liu Xiang (∱⎹, 77 v. Chr.-3 n. Chr.) schrieb: »Zu Konfuzius’ Zeiten gab es keinen erleuchteten König (Himmelssohn). Deshalb sagte Konfuzius ›Yong ist befähigt, den Sitz mit dem Gesicht nach Süden einzunehmen.‹ Wer mit dem Gesicht nach Süden saß, war der König (Himmelssohn) (⋿朊侭炻⣑⫸ḇ).«3 Diese Auslegung nähert sich also dem zeitgeschichtlichen Kontext des Konfuzius und interpretiert den Ausdruck ›mit dem Gesicht nach Süden sitzen‹ als Verweis auf das höchste politische Amt jener Epoche, das des Königs oder »Himmelsohns« (tianzi ⣑⫸). In der Tat waren alle Aktivitäten des Konfuzius auf dieses höchste politische Amt bezogen, sei es sein Unterricht für Schüler aus allen gesellschaftlichen Schichten, seine Aufforderung an die Schüler, sich moralisch zu kultivieren und innerhalb der staatlichen Verwaltung Verantwortung zu übernehmen oder schließlich seine 1 | Siehe Miyazaki Ichisada (⭖Ⲷⶪ⭂): 婾婆̯㕘䞼䨞 (Neue Studien zu den ›Gesprächen des Konfuzius‹), Tokyo: Iwanami Shoten 1975, S. 214. 2 | Auf diesen Zusammenhang hat bereits der konfuzianische Gelehrte Xu Fuguan (⼸⽑奨, 1904-1982) aufmerksam gemacht, allerdings ohne ihn weiter zu verfolgen. Siehe seinen Aufsatz »⚳⎚ ᷕṢ⏃⮲♜⓷柴䘬㍊妶« (Zur Frage der Verehrung von Persönlichkeiten in der chinesischen Geschichte). In ders.: ₺⭞㓧㱣⿅゛冯㮹 ᷣṢ㪲冒䓙 (Das politische Denken des Konfuzianismus und die Freiheit von Demokratie und Menschenrechten), Taipeh: Bashi Niandai Chubanshe 1979, S. 162. 3 | Liu Xiang: 婒剹 (Sammlung von Aussprüchen), hier zitiert nach der bereits im vorigen Kapitel herangezogenen Textedition ⚃ 悐⎊↲⇅䶐䷖㛔 (Studienausgabe mit Werken zu den vier Abteilungen), Taipeh: Taiwan Shangwu Yinshuguan 1967, S. 92.

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Edition der Frühlings und Herbst-Annalen (Chun qiu 㗍䥳) mit ihrer scharfen Kritik an rebellischen Ministern und verräterischen Generälen – alle diese Aktivitäten besaßen politische Relevanz und Brisanz. Im Übrigen findet sich der Ausdruck ›mit dem Gesicht nach Süden sitzen‹ in verschiedenen Texten aus der Zeit vor der Einigung des chinesischen Reiches im Jahr 221 v. Chr. und bezieht sich zumeist auf das Amt des Königs, nicht auf niedere Ämter in Bürokratie und Verwaltung. Erst in späteren Zeiten lässt sich eine Entwicklung beobachten, die den Ausdruck auch mit niederen Ämtern in Verbindung brachte – eine Entwicklung, die selbst bereits Ausdruck einer Einflussnahme von Seiten der Politik auf das Geschäft der Klassiker-Auslegung ist, gewissermaßen der Indikator für einen subtilen psychologischen Druck, der auf bestimmte Interpreten ausgeübt wurde. Die Brisanz der Bemerkung in den Gesprächen liegt offenbar darin, dass sie einem gewöhnlichen Gelehrten und Schüler des Konfuzius die Befähigung zum höchsten Staatsamt zuspricht und damit gleichzeitig die Befähigung des gegenwärtigen Amtsinhabers in Frage stellt. Diese Brisanz konnte dadurch abgemildert werden, dass die Bedeutung des Ausdrucks ›mit dem Gesicht nach Süden sitzen‹ ausgeweitet und verschoben wurde, so dass sie sich auf bestimmte niedere Ämter der Verwaltung bezog, nach denen ein gewöhnlicher Gelehrter durchaus streben konnte. Die kritische Spitze der Bemerkung des Konfuzius war damit gleichsam gebrochen. 4

3.2.2 Der Filter-Ef fek t politischer Macht im Kontex t der Klassiker-Auslegung Ein weiteres anschauliches Beispiel für politische Einflussnahme auf die Auslegung der kanonischen Schriften sind die Auslassungen des Lehrmeisters am japanischen Kaiserhof des 16. Jahrhunderts. In der Universitätsbibliothek der Universität Kyoto gibt es eine Sammlung von annotierten Texten des kaiser4 | Cheng Shude (䦳㧡⽟, 1877-1944) hat diesen Zusammenhang bereits schlüssig analysiert und auf den Punkt gebracht. Siehe seine Diskussion in: 婾婆普慳 (Gesammelte Kommentare zu den ›Gesprächen des Konfuzius‹), Bd. 2, Peking: Zhonghua Shuju 1990, S. 362.

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lichen Lehrmeisters Kiyohara Nobukata (㶭⍇⭋岊, 1475-1550), der im Oktober 1517 den Kaiser in einer Reihe von Vorlesungen über das Buch Mengzi unterrichtete. An diesen Manuskripten fällt auf, dass immer an denjenigen Stellen, an denen Menzius die Machthaber seiner Zeit kritisiert, ein Vermerk am oberen Ende der Seite platziert ist: »Verboten dem Kaiser vorzutragen« (yu du jin ji ⽉嬨䤩⽴).5 Die erste der verbotenen Passagen stammt aus Mengzi (2B, 7) und lautet: »In der Vorzeit gab es keine Vorschriften bezüglich innerer und äußerer Sargwand. In der mittleren Antike wurde vorgeschrieben, dass die innere Sargwand sieben Zoll dick zu sein habe, in Übereinstimmung mit der äußeren Sargwand. Dies galt für alle Menschen, vom Kaiser bis zum gewöhnlichen Mann. Es ist nicht nur eine Frage des Zurschaustellens nach außen, sondern der Kultivierung des inneren Herzgeistes.«

Offenbar geht es in dieser Passage um Beerdigungsriten, genauer um bestimmte Vorschriften bezüglich der Sarggestaltung, wobei weniger die Einzelheiten der Vorschriften interessieren, sondern ihr Tenor: Sie gelten für alle Menschen in gleicher Weise, unabhängig von der gesellschaftlichen Stellung des Toten.6 5 | Eine transkribierte Version dieser Manuskripte in der sogenannten Eisho-Editionġ ist im Internet einsehbar unter: http:// ddb.libnet.kulib.kyoto_u.ac.jp/exhibit. Siehe dazu Inoue Junri (ḽ ᶲ枮䎮): 㛔恎ᷕᶾ̨̬̿̋̒͌⬇⫸⍿⭡⎚̯䞼䨞ġ(Forschungen zur Geschichte der Akzeptanz des Buches Mengzi in Japan seit dem Mittelalter), Tokyo: Fuma Shoho 1973, S. 512-517. 6 | Anmerkung des Übersetzers: Der Kontext der zitierten Passage ist die Beerdigung der Mutter des Menzius. Angesichts dieses Ereignisses sieht sich Menzius mit einer kritischen Nachfrage seitens derjenigen Person konfrontiert, welche für die Herstellung des Sarges verantwortlich ist und anmerkt, das von Menzius vorgesehene Holz sei von übermäßig feiner Qualität. Offenbar deutet diese Nachfrage an, dass Menzius’ Mutter in einem Sarg beerdigt wird, der ihr gemäß ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht zusteht. Menzius’ Erwiderung lässt sich über die persönliche Verteidigung gegen angebliches Fehlverhalten hinaus auch als kritische Äußerung bezüglich der gesellschaftlichen Umstände verstehen; offensichtlich steht es mit diesen nicht zum Besten, wenn

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Im Manuskript des kaiserlichen Lehrmeisters streicht nun eine Rote Linie die drei Schriftzeichen »vom Kaiser« (zi tianzi 冒⣑ ⫸) aus und fügt einen Vermerk ein: »Diese drei Schriftzeichen sind bei der Lesung für den Kaiser auszulassen« (san zi yu du chu zhi ᶱ⫸⽉嬨昌ᷳ). Die zweite Passage findet sich in Mengzi (3A, 2) und lautet: »Ich habe etwas über die Beerdigungsriten [beim Tod der Eltern] gehört. Die Trauerzeit beträgt drei Jahre, in denen die Nachkommen Kleider aus rauem Hanfgarn tragen, mit Saum, und nichts als Reisschleim essen – diese Riten wurden in der Zeit der drei Dynastien eingehalten, und zwar von allen Menschen gleichermaßen, vom Kaiser bis zum gewöhnlichen Mann.«7

Wie in der Passage zuvor, findet sich auch hier eine Notiz, derzufolge die drei Schriftzeichen »vom Kaiser« dem amtierenden Kaiser nicht vorzutragen seien. Weniger politisch brisant, aber dennoch aufschlussreich sind zwei weitere Auslassungen, in denen es jeweils um die Regelung der Nachfolge im Falle des Todes eines Staatsoberhauptes geht – in beiden Fällen wurde den Anmerkungen im Manuskript zufolge darauf verzichtet, das Schriftzeichen ⳑ die Ausübung kindlicher Pietät gegenüber den verstorbenen Eltern unter den Verdacht der Anmaßung eines überzogenen sozialen Status gestellt wird. Der Verweis auf die »Kultivierung des inneren Herzgeistes« ( jin yu ren xin 䚉㕤Ṣ⽫) wäre dann als Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber den Eltern zu verstehen. D.C. Lau übersetzt den letzten Halbsatz entsprechend: »It is only in this way that one can express fully one’s fi lial love.« Mencius – A Bilingual Edition, Hongkong: The Chinese University Press 2003, S. 73. 7 | Anmerkung des Übersetzers: Der Kontext dieser Passage ist der Tod des Herrschers von Teng, angesichts welchem sein Sohn, der Kronprinz und Thronfolger, einen Abgesandten zu Menzius schickt, um sich bezüglich seiner Verpfl ichtungen für die Trauerzeit zu erkundigen. Menzius’ Auskunft lässt sich daher als Mahnung verstehen, auch als Thronfolger die rituellen Verpflichtungen für den Trauerfall einzuhalten – was wiederum nur die spezielle Anwendung der Maxime ist, dass auch der Herrscher des Staates den Normen zu gehorchen hat, welche in den kanonischen Schriften niedergelegt sind.

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(beng), das den Tod eines Kaisers bedeutet, im Unterricht vorzutragen. Die Beispiele zeigen, wie im Japan des sechzehnten Jahrhunderts der kaiserliche Lehrmeister den Originaltext des Mengzi sorgfältig auf Stellen untersucht hat, die das Machtbewusstsein oder die Pietät des Kaisers verletzen könnten. Solche Passagen wurden markiert und vom Vortrag vis-à-vis dem Kaiser gestrichen. Auch wenn dies zunächst nur den engeren Bereich des Unterrichts am Hof des Kaisers betriff t, lässt sich dennoch von einem politisch motivierten Eingriff in die Lektüre und Auslegung der kanonischen Schriften sprechen, diesmal im Sinne eines Herausfi lterns von sensiblen Stellen und der Weitergabe eines diesbezüglich bereinigten Textes. Kehren wir zum chinesischen Kontext zurück und betrachten ein Beispiel aus dem Bereich der kaiserlichen Beamtenprüfungen, das sich als Fall von »weichem Filtern« (rouxing de guolü 㝼⿏䘬忶㾦) verstehen lässt – das betriff t etwa die Auswahl der Themen für die Prüfungen der künftigen Beamtenelite, in welcher Auswahl sich politische Machtverhältnisse niederschlagen. Durch die Auswahl der Themen wurde die Aufmerksamkeit der Prüflinge auf bestimmte Aspekte des kanonischen Schriftguts gelenkt, naturgemäß auf Kosten anderer Aspekte. Es war in der Mingzeit (1368-1644), während welcher die kaiserliche Zentralgewalt am stärksten war, und während welcher sich Erscheinungsformen dieses weichen Filterns am deutlichsten zeigten – wieder betriff t das die Auswahl von Fragen zum Buch Mengzi. In der taiwanischen Nationalbibliothek in Taipeh finden sich Aufzeichnungen zu den Beamtenprüfungen in der Mingzeit, die insgesamt 66 Fragen umfassen, von denen 46 dem Buch Mengzi gelten.8 Drei Fragen betreffen das erste Kapitel, vier das zweite, sieben das dritte, sechs das vierte, zehn das fünfte, sieben das sechste und neun das siebte. Wenn wir uns die Fragen näher anschauen, stellen wir fest, dass mehr als die Hälfte von ihnen dem Bereich der inneren moralischen Kultivierung (neisheng ℏ俾) zuzurechnen sind; es geht hierbei um Stellen 8 | Das Material wurde publiziert unter dem Titel 㖶ẋ䘣䥹拚 ⼁䶐 (Kollektion von Aufzeichnungen zu den Beamtenprüfungen der Mingzeit), Taipeh: Xuesheng Shuju 1969.

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aus dem Mengzi, die politisch wenig brisant sind und keine prekären Ausführungen zur Herrschergewalt in sich bergen. Ein Beispiel ist die Passage aus Menzius (5B, 1), wo es heißt: »Konfuzius ist derjenige Weise, der alles Gute um sich versammelt. Das bedeutet mit Glocken zu beginnen und mit Jadehörnern zu schließen.«9 Passagen aus dem Mengzi, in denen Menzius seiner Überzeugung von der Souveränität des Volkes Ausdruck verleiht, wurden dagegen in den Beamtenprüfungen der Mingzeit komplett übergangen. Und diese Auswahl hat natürlich Auswirkungen darauf gehabt, wie die staatstragende Beamtenschicht das Buch Mengzi und andere kanonische Schriften der konfuzianischen Überlieferung wahrgenommen und gelesen hat. Ein deutlich schwerer wiegender Fall von Zensur, den ich daher als Beispiel für »hartes Filtern« (gangxing guolü ∃⿏ 忶㾦) anführe, ist aus der frühen Mingzeit bekannt, nämlich aus dem Jahr 1394, während der Regierung des Kaisers Zhu Yuanchang (㛙⃫䐳, 1368-1398). Dieser befahl dem an der kaiserlichen Akademie angestellten Gelehrten Liu Sanwu (∱ᶱ ⏦, 1312-1399), alle diejenigen Stellen aus dem Buch Mengzi zu zensieren, die als Verunglimpfung der kaiserlichen Herrschaft gedeutet werden könnten. Das Ergebnis dieser Zensur war die Edition einer verkürzten Ausgabe des Buches Mengzi, die unter dem euphemistischen Titel einer Auslese aus dem Mengzi (Mengzi jiewen ⬇⫸䭨㔯) erschien und fortan die unzensierte Ausgabe des Klassikers als Textvorlage bei den Beamtenprüfungen und der Ausbildung von Gelehrten ersetzte. Insgesamt 85 Pas9 | Anmerkung des Übersetzers: Der zweite Satz bezieht sich auf bestimmte musikalische Riten, die zu Beginn und zum Ende der Dienstzeit eines Beamten aufzuführen waren. So verstanden, bringt die Stelle zum Ausdruck, dass Konfuzius seine Verpflichtungen an einem Herrscherhof jeweils von Anfang bis Ende genau eingehalten hat. Die Passage ist Teil eines längeren Textstücks, in dem Menzius verschiedene weise Gestalten aus der konfuzianischen Literatur und ihre jeweiligen Einstellungen zum Dienst an Herrscherhöfen miteinander vergleicht. Konfuzius, der genau wie Menzius selbst ein scharfer Kritiker von Machtmissbrauch und Ungerechtigkeit war, wird hier also in der Rolle des ergebenen Fürstendieners dargestellt – und den Prüflingen zur Nachahmung empfohlen.

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sagen fielen der Zensur zum Opfer, deren inhaltliche Aussagen sich in folgenden Punkten zusammenfassen lassen: • gewöhnliche Menschen besitzen Würde und bestimmte Rechte • Bürger sollen sich für das Fehlverhalten von korrupten Ministern und despotischen Herrschern rächen • Bürger haben das Recht, gegen despotische Herrschaft aufzubegehren • alle Menschen haben ein Recht auf Leben • Bürger haben das Recht, die Herrschenden zu kritisieren • die gleichzeitige Einberufung zum Kriegsdienst und Beschlagnahme von Gütern ist abzulehnen • zusätzliche Steuern sind abzulehnen • Bürgerkrieg ist abzulehnen • bürokratische Intrigen sind verwerfl ich • die Regierung wird zu humaner Herrschaft und Unterstützung der Bevölkerung aufgerufen • der Herrscher ist verantwortlich für den Zustand der Gesellschaft.10 In seinem Vorwort zur verkürzten Ausgabe betont Liu Sanwu, dass Menzius’ Ansichten zu Politik und Herrschaft – zusammengefasst in dem Schlagwort »Das Volk ist die Wurzel« (min ben 㮹㛔) – zur Zeit der Herrschaft verschiedener Fürstentümer und Kleinstaaten seine Berechtigung gehabt habe, den Bedingungen der Einheit eines zentral regierten Kaiserreichs aber nicht mehr angemessen und daher abzulehnen sei. Er schreibt: »Wenn es nur einen Herrscher unter dem Himmel und ein Reich innerhalb der vier Meere gibt, müssen alle Menschen ihre Herrscher mit einem Herzen verehren. Wenn es einem Gelehrten nicht gelingt, den ursprünglichen Sinn der Lehre aufrecht zu erhalten und er daher unangemessen spricht und handelt, sind alle seine Worte und Taten falsch und nichtig.« 11 10 | Siehe Rong Zhaozu (⭡倯䣾): »㖶⣒䣾䘬⬇⫸䭨㔯« (Die verkürzte Ausgabe des Buches Mengzi des Taizu Kaisers [Zhu Yuanchang]). In: 嬨㚠冯↢䇰 (Studieren und Publizieren), Bd. 2, Nr. 2, Shanghai: Shenghuo Shuju 1947, S. 16-21. 11 | Liu Sanwu: »⬇⫸䭨㔯柴录« (Vorwort zur Auslese aus

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Wir sehen hier in aller Deutlichkeit, wie das humanistische Denken des Menzius unter bestimmten politischen Bedingungen als subversiv empfunden wurde und daher entsprechende Zensurmaßnahmen durch ruchlose Herrscher erleiden musste.

dem Mengzi). In: Chun-chieh Huang (Hg.): ⬇⬠⿅゛⎚婾: ⇠Ḵ (Abhandlungen zur Geschichte des menzianischen Denkens: Zweiter Band), Taipeh: Academia Sinica 1997, S. 538.

3.3 Politische Interpretationen der kanonischen Schrif ten

Nachdem wir einen Blick auf die Eingriffe politischer Machthaber in das Geschäft der Klassiker-Auslegung geworfen haben, sollten wir nun gleichsam den umgekehrten Fall betrachten und uns der Frage zuwenden, in welcher Weise im Verlauf der Geistesgeschichte Ostasiens konfuzianische Gelehrte ihre jeweilige Auslegung kanonischer Schriften benutzt haben, um politische Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Dies ist die andere Seite der eingangs kenntlich gemachten dynamischen wechselseitigen Beziehung zwischen Klassiker-Auslegung und politischer Macht. Wie ich bereits mehrfach betont habe, waren die sogenannten Klassiker im Rahmen der ostasiatischen Geistesgeschichte niemals bloß Gegenstand einer weltfremden Gelehrsamkeit im sprichwörtlichen Elfenbeintum, sondern wurden gelesen als konkrete und praktisch relevante Abhandlungen, die nicht nur das Leben der gewöhnlichen Menschen betrafen, sondern auch und gerade den Bereich politischer Herrschaft. In diesen Texten sehen wir stets die enge Verbindung, die im Altertum zwischen kulturellen Idealen – ausgedrückt in den kanonischen Schriften – und der Ausübung politischer Herrschaft bestand.12 Konfuzianische Gelehrte haben den Inhalt dieser Schriften als 12 | Siehe die Beiträge in Frederick P. Brandauer/Chun-chieh Huang (Hg.): Imperial Rulership and Cultural Change in Traditional China, Seattle: University of Washington Press 1994.

3.3 P OLITISCHE I NTERPRE TATIONEN

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direkte Anweisung für politisches Handeln verstanden und waren bestrebt, die Politik ihrer Zeit entsprechend zu lenken. Betrachten wir einige Beispiele. Der um die Zeitenwende aktive Gelehrte Zhang Yu (⻝䥡) war ein Spezialist für das Buch der Wandlungen (Yi jing 㖻䴻) und die Gespräche des Konfuzius (Lunyü 婾婆). Während der Regierung der Kaisers Cheng Di (ㆸⷅ) von 33-8 v. Chr. diente er sechs Jahre lang als Premierminister, und selbst nach dem Ende seiner Dienstzeit wurde er häufig an den Hof gerufen, um an wichtigen politischen Maßnahmen mitzuwirken. In den Jahren 16-9 v. Chr. kam es in China zu einer Reihe von Erdbeben und Verfinsterungen der Sonne, was Offizielle und gewöhnliche Bürger dazu brachte, Petitionen an den Kaiserhof zu richten, in denen Wang Mang (䌳卥, 45 v. Chr. bis 23 n. Chr.) als Usurpator kaiserlicher Macht für die Übel verheißenden Naturerscheinungen verantwortlich gemacht wurde.13 Der Kaiser stellte diese Schuldzuweisung jedoch in Frage und bat Zhang Yu um eine Stellungnahme. Der letztere befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in fortgeschrittenem Alter und fürchtete, sich mit einer kritischen Stellungnahme den Zorn des Wang Mang zuzuziehen. Seine Antwort fiel daher so aus: »Während der 242 Jahre der Frühjahr und Herbst Periode gab es über dreißig Verfinsterungen der Sonne und fünf Erdbeben, einige im Zusammenhang mit den Kämpfen zwischen Feudalherren, andere mit dem Vorrücken barbarischer Völker auf das Reich der Mitte. Die Ursachen für das Auf kommen von Desastern und außergewöhnlichen Erscheinungen sind jedoch zu tief, um sie im Einzelnen erkennen zu können. Aus diesem Grund hat Konfuzius selten von Schicksal gesprochen und ebenso wenig von Erscheinungen merkwürdiger Geister. […] Wenn aber [Konfuzius’ Schüler] 13 | Anmerkung des Übersetzers: Der Herrschaftsideologie des traditionellen China zufolge regierte der Kaiser mit einem vom Himmel verliehenen Mandat (tian ming ⣑␥). Bestimmte Naturerscheinungen wie Erdbeben, Dürren, Sonnenfinsternisse, Überflutungen und dergleichen wurden als Zeichen dafür gelesen, dass der Himmel dem regierenden Kaiser aufgrund von Fehlverhalten oder Misswirtschaft das Mandat zur Regierung entzogen hatte. Solche Erscheinungen stellten also die Legimität der Herrschaft in Frage.

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Zi Gong den Meister so selten über diese Dinge hat sprechen hören, wie können sich dann die oberflächlichen Gelehrten von heute nach Belieben darüber auslassen. Angemessen ist es für Eure Majestät, auf diese Erscheinungen und Unglücksfälle mit überlegter Politik (xiu zheng ᾖ㬋) und Güte zu reagieren und alles Glück mit Euren Untergebenen zu teilen. Dies ist die wahre Bedeutung der klassischen Schriften. Die Gelehrsamkeit von heute kümmert sich um nachrangige Dinge und Kleinigkeiten, dadurch zerstört sie den Weg (dao 忻) und führt die Menschen in die Irre. Solche Gelehrsamkeit sollte nicht praktiziert werden, sondern abgeschnitten (duan 㕟) gemäß der Weisheit der klassischen Schriften.« 14

In diesem hochpolitischen Dialog mit dem Herrscherhaus bezieht sich Zhang Yu auf drei Stellen aus den Gesprächen (9, 1; 7, 12 und 5, 13), die er anführt, um erstens den Herrscher gegen die Infragestellung seiner Legitimität zu verteidigen, zweitens und durch diese Verteidigung sich selbst vor dem Zorn des Herrschers zu beschützen und gleichzeitig und drittens den Herrscher an seine Verpflichtungen gegenüber seinen Untergebenen und an die Maßstäbe gerechter Herrschaft zu erinnern. All dies aber erfolgt nicht so, dass Zhang Yu eine eigene Meinung äußert oder sich auf seine Erfahrung als politischer Berater beruft, sondern es geschieht im Modus einer Herausarbeitung des Gehalts der kanonischen Schriften, in diesem Fall der Gespräche des Konfuzius. Erst aus diesem Bezug erhält Zhang Yus Stellungnahme ihre argumentative und autoritative Kraft. Ein weiteres Beispiel ist das des tangzeitlichen Beamtengelehrten Pei Xu (墜媅, Lebensdaten unbekannt), der als aufgeschlossener und weitblickender Mann galt. Während der Regierungszeit des Kaisers Dai (ẋ⬿, 762-797) hatte er das Amt des Kommissar für Salz und Eisen in der Gegend um Hedong inne. Während einer Dürre in der Gegend der kaiserlichen Hauptstadt Chang’an erreichte ihn die Nachfrage des Kaisers nach den Steuereinkünften für das entsprechende Jahr, worauf Pei Xu mit einem Zitat aus dem Buch Mengzi (1A, 1) antwortete: »Warum, König, musst du von Profit (li ⇑) sprechen? Wichtig sind vor allem Mitmenschlichkeit und gerechtes Handeln (ren 14 | Zitiert nach Ban Gu (䎕⚢, 32-92 n. Chr.): 㻊㚠 (Geschichte der Han), Neudruck, Peking: Zhonghua Shuju 2002, Abteilung 81, S. 3351.

3.3 P OLITISCHE I NTERPRE TATIONEN

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yi ṩ佑).« Mit dem Zitat einher ging Pei Xus Weigerung, die Nachfrage des Kaisers zu beantworten und der Vorschlag, der Herrscher möge sich in dieser Zeit mehr um die Belange der unter der Dürre leidenden Bevölkerung kümmern. Wie die offizielle Geschichte der Tang-Dynastie vermerkt, brachte dieses Verhalten dem Beamten schließlich eine Beförderung durch den Kaiser ein.15 In der Kommunikation des Herrschers mit seinen leitenden Beamten – die immer zugleich Gelehrte für die kanonischen Schriften waren – war der Rekurs auf die Schrifttradition gang und gäbe. Er diente jeweils dazu, der geäußerten Ansicht pro oder kontra einer bestimmten politischen Maßnahme oder Meinung Legitimation zu verleihen. An Beispielen dafür mangelt es nicht. Der politische Diskurs des tradionellen China wurde geführt im Lichte der normativen Vorgaben der alten Schriften. Nachdem wir zwei Beispiele betrachtet haben, in denen aus dem klassischen Schriftgut Anleitungen für gegenwärtiges politisches Handeln gewonnen wurden, werfen wir als nächstes einen kurzen Blick auf die ebenso häufige Praxis, gegenwärtige politische Standpunkte in die kanonischen Schriften hineinzulesen bzw. politische Auseinandersetzungen in die Interpretation der Texte hineinzutragen. Wiederum stellt die Auslegungsgeschichte des Buches Mengzi anschauliche Beispiele zur Verfügung – am anschaulichsten dürfte das der Rolle des Mengzi in den intellektuellen Debatten der Songzeit sein (960-1279).16 Der berühmte Reformer der Nördlichen Song (960-1126), Wang Anshi (䌳⬱䞛, 1021-1086) war ein großer Verehrer des Menzius, was seine Gegner Sima Guang (⎠楔⃱, 1019-1086) und Li Gou (㛶套, 1009-1059) in Opposition zum Buch Mengzi brachte. Diese Kritik wiederum brachte spätere songzeitliche Gelehrte – allen voran Zhu Xi (㛙䅡, 1130-1200) – dazu, die Positionen des Mengzi zu verteidigen. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die enge Verflechtung von Interpretation der Klassiker und politischen Streitfällen – etwa auf dem Gebiet der Militärorga-

15 | Liu Xu (∱䄎, 887-946): 冲Ⓒ㚠 (Alte Geschichte der Tang), Neudruck, Peking: Zhonghua Shuju 2002, Abteilung 12, S. 3567. 16 | Siehe hierzu die detailliertere Darstellung in Kapitel 6.1.

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nisation – im Einzelnen aufzuschlüsseln,17 daher müssen wir uns mit der allgemeinen Einsicht begnügen, dass die gelehrten Debatten über bestimmte Stellen aus dem Mengzi, die sich durch die gesamte Songzeit zogen, einen konkreten politischen Hintergrund18 hatten und nur vor diesem Hintergrund wirklich verständlich sind. Die Gründe für die enge Verflechtung von Klassiker-Auslegung und politischer Praxis liegen sowohl in der Struktur des sozialen und politischen Systems des traditionellen China wie auch im Inhalt der Klassiker selbst begründet. Die Beamten-Gelehrten des Altertums waren ihrer Ausbildung nach Experten in Fragen des traditionellen Schriftguts, waren aber praktisch als leitende Beamte mit der Lenkung der politischen Geschicke des Reiches betraut. In dieser Situation war es unvermeidlich, dass sie ihr praktisches Tun im Lichte der kanonischen Schriften reflektierten. Dies auch deshalb, weil die Schriften selbst ganz konkret Fragen der richtigen Verwaltung diskutieren und den Anspruch erheben, das politische Geschäft normativ zu orientieren und praktisch anzuleiten. All dies gilt, wohlgemerkt, für die Zeit nach der Etablierung einer zentralen Kaiserherrschaft in der Qin- und Hanzeit. Interessanterweise ist es aber so, dass die kanonischen Schriften selbst aus einer anderen, früheren Zeit stammen, in der China zersplittert war in eine Vielzahl von untereinander in Streit liegenden Staaten. Ungefähr vom sechsten bis dritten Jahrhundert v. Chr. durchlebte China gleichzeitig eine Periode der politischen Zersplitterung und der intellektuellen Blüte, in welcher sich der politische Diskurs des Konfuzianismus formierte, und zwar zu großen Teilen als Kritik an den politischen Machthabern der Zeit. Die Offenheit und Radikalität dieser Kritik klang in den Ohren späterer Gelehrte, die unter 17 | Siehe hierzu meine Ausführungen in: ⬇⫸⿅゛⎚婾: ⇠Ḵ (Abhandlungen zur Geschichte des menzianischen Denkens: Zweiter Band), Taipeh: Academia Sinica 1997, S. 129-190. 18 | Diesen erläutert Peter K. Bol: »Government, Society, and State: On the Political Visions of Ssu-ma Kuang [Sima Guang] and Wang An-shih«. In: Robert P. Hymes und Conrad Schirokauer (Hg.), Ordering the World: Approaches to State and Society in Sung Dynasty China, Berkeley: University of California Press 1993, S. 128-192.

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den Bedingungen eines autokratisch regierten und geeinten Kaiserreichs aufgewachsen waren, häufig schockierend, wie wir aus zahlreichen schriftlichen Zeugnissen wissen. So gibt es im Mengzi (1B, 8) einen kurzen Dialog über den für seine Ruchlosigkeit bekannten letzten Herrscher der Shang-Dynastie (1751-1112 v. Chr.), den Kaiser Zhou (䲪), der schließlich einen gewaltsamen Tod starb. Menzius’ Gesprächspartner – seinerseits ein politischer Herrscher – fragt daraufhin, ob das Töten eines edlen Machthabers (sha jun 㭢⏃)19 rechtens sei. Die Antwort des Menzius: »Derjenige, der die Mitmenschlichkeit schädigt (zei ren zhe 屲ṩ 侭), ist ein Schädling (zei 屲). Wer die Gerechtigkeit schädigt (zei yi zhe 屲佑侭), ist ein Zerstörer (can 㭀). Jemanden, der sowohl ein Schädling als auch ein Zerstörer ist, nennt man ›einen Gesetzlosen‹ (yi fu ᶨ⣓). In der Tat habe ich von der Bestrafung des Gesetzlosen Zhou gehört – von der Tötung eines edlen Machthabers ist mir nichts bekannt.«

Diese in ihren Implikationen glasklare Äußerung – die Tötung eines despotischen Herrschers ist ein Akt gerechter Bestrafung und kein Fall von sträflichem Ungehorsam – musste spätere Gelehrte schockieren. So bekennt der songzeitliche Gelehrte Zhang Jiucheng (⻝ḅㆸ, 1092-1159), bei der Lektüre dieser Stelle hätten ihm »die Haare zu Berge gestanden« (mao fa sen song 㮃檖㢖檮). Er vergleicht Menzius’ radikale Äußerung mit der wesentlich moderateren eines Schülers des Konfuzius, der die Schlechtigkeit des Kaisers Zhou als »nicht so schlimm« (bu ru shi zhi shen ye ᶵ⤪㗗ᷳ䓂ḇ) bezeichnet hatte, und gibt zu bedenken, dass auch Konfuzius selbst nie so weit gegangen sei, Kaiser Zhou einen Gesetzlosen zu nennen. Menzius’ Äußerung erscheint ihm »befremdlich« (guai ⿒) und lässt ihn zweifeln, ob das Buch Mengzi unter die »Werke der moralischen Virtuosen« (shengxian zhi shu 俾岊ᷳ㚠) zu rechnen sei; ein letztes 19 | Anmerkung des Übersetzers: Der hier mit »Machthaber« wiedergegebene Ausdruck ⏃ ( jun) ist positiv konnotiert und bedeutet soviel wie »Edler« – er verweist auf eine Verbindung von herausgehobenem sozialen Rang und Würdigkeit des Charakters. Die so gestellte Frage verlangt also unbedingt eine negative Antwort: Es ist nicht rechtens, einen edlen Herrscher zu töten.

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Urteil in dieser Frage traut er sich jedoch nicht zu.20 Auch außerhalb Chinas und zu späterer Zeit haben konfuzianische Gelehrte auf diese Passage aus dem Mengzi mit Zweifeln und offensichtlichem Unbehagen reagiert. Der koreanische Gelehrte Shin Kyo-sun (䓛㔁┬, 1786-1858) fragt sich, ob es angesichts von Zhous Stellung als Staatsoberhaupt und Befehlshaber über zehntausend Kampfwagen nicht überzogen gewesen sei, ihn einen ›Gesetzlosen‹ zu nennen und seine Ermordung eine ›Bestrafung‹.21 In solchen Fragen spiegelt sich der Bruch zwischen der Entstehungszeit des Mengzi und dem späteren Zeitalter zentralistischer Autokratie. Spätere Kommentatoren mussten folglich versuchen, diesen Bruch zu überbrücken.

20 | Zhang Jiucheng: ⬇⫸⁛ (Kommentar zum Buch ›Mengzi‹). Dieser Kommentar ist Teil der berühmten Textsammlung ⚃ ⹓ℐ㚠 (Komplette Werke der Vier Speicher) und wird hier zitiert nach folgendem fotografischem Nachdruck: Taipeh: Taiwan Yinshang Yingguan 1983, Bd. 196, Abteilung 4, S. 271f. 21 | Shin Kyo-sun: 嬨⬇⹕妻ġ (Unterweisung in der Lektüre des Mengzi). In: 杻⚳䴻⬠屯㕁普ㆸ (Komplette Sammlung koreanischer Studien zu den konfuzianischen Klassikern), Seoul: Syngkyunkwan University 1988, Bd. 45, S. 62-64.

3.4 Schluss

Anhand einiger Beispiele aus der ostasiatischen Geistesgeschichte haben wir im vorliegenden Kapitel das komplexe Beziehungsgefüge zwischen der Interpretation kanonischer Schriften und der Ausübung politischer Macht betrachtet. Gesehen haben wir dabei, dass erstens diese Schriften ihrem Inhalt nach immer schon auf den Bereich politischen Handelns bezogen waren und konkrete Anweisungen zur harmonischen Ordnung von Staat und Gesellschaft gaben. Zweitens haben wir gesehen, dass die Trägerschicht der konfuzianischen Tradition, die sogenannten Beamten-Gelehrten, in ihrer doppelten Identität als klassische Gelehrte und leitende Beamte fest in das Machtgefüge ihrer Zeit eingespannt waren; sie besaßen eine politische Funktion, und ihr Geschäft der Auslegung der kanonischen Schriften war Teil der Ausübung eben dieser Funktion. Was die Beispiele dieses Kapitels aber vor allem deutlich gemacht haben, ist, dass es bei aller Untrennbarkeit von KlassikerAuslegung und Politik in Ostasien zwischen beiden Bereichen ständig zu Konflikten kam. Konfuzianische Gelehrte beriefen sich auf die kanonischen Schriften, um ihre Kritik an den Machthabern und ihr Eintreten für eine gerechtere Politik zu artikulieren und zu begründen. Noch häufiger allerdings kam es zu einer Anpassung der Klassiker-Auslegung an bestehende Machtverhältnisse. Politisch brisante Ausdrücke wie das Sitzen ›mit dem Gesicht nach Süden‹ wurden entschärft, noch brisantere wie das Diktum von der Souveränität des Volkes teilweise ganz unterschlagen, um Konflikte mit aktuellen Machthabern zu vermeiden. Angesichts der strengen moralischen Maßstäbe

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der kanonischen Schriften, denen viele Machthaber sich nicht unterwerfen wollten, waren Spannungen aber unvermeidlich, und wenngleich es der Politik kurzzeitig immer wieder möglich war, eine ihr genehme Lesart der Klassiker durchzusetzen, wurden dadurch die moralischen Maßstäbe selbst nicht dauerhaft außer Kraft gesetzt. Der berühmte Konfuzianer der späten Ming- und frühen Qingzeit, Wang Fuzhi (䌳⣓ᷳ, 1619-1692), hat diesen Sachverhalt in der Unterscheidung zwischen »konfuzianischer Ordnung« (ruzhe zhi tong ₺侭ᷳ䴙) und »kaiserlich königlicher Ordnung« (di wang zhi tong ⷅ䌳ᷳ䴙) ausgedrückt.22 Die konfuzianische Ordnung repräsentiert hier eine ideale normative Ordnung und ist in den kanonischen Schriften niedergelegt. Sie orientiert die konfuzianischen Beamtengelehrten, deren Pflicht es ist, die Ordnung Wirklichkeit werden zu lassen, nämlich durch die Auslegungsarbeit an den Klassikern, welche das Ideal im allgemeinen Bewusstsein hält, und durch die konkrete Tätigkeit in der kaiserlichen Verwaltung, welche sich an den Idealen der alten Texte orientiert und sie versucht umzusetzen. Die kanonischen Schriften selbst sind in diesem Zusammenhang Texte, die immer von Neuem und unter wechselnden gesellschaftlichen Umständen dazu aufrufen, die zentralen Werte der Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit zur Grundlage des Handelns zu machen.

22 | Wang Fuzhi: 嬨忂揹婾 (Über die Lektüre des Klaren Spiegels [ für die Regierenden]), Neudruck, Taipeh: Heluo Tushu Gongsi 1976, Abteilung 15, S. 497.

4.

Der Körper im Konfuzianismus Ostasiens

4.1 Problemstellung

Im Zentrum der zeitgenössischen Forschung zur Philosophie des Körpers1 im Konfuzianismus Ostasiens stehen zwei Themen: Zum einen der Begriff »Herzgeist« (xin ⽫) in seiner stärker mentalen Bedeutung als Zentrum des Geistes und der intellektuell kognitiven Prozesse, mithin als Zentrum der konfuzianischen Kultivierungslehre soweit sie das Studium der kanonischen Schriften und die Textgelehrsamkeit betriff t; für diesen Forschungszweig sind vor allem die Arbeiten William Theodore de Barys repräsentativ.2 Das zweite Thema ist der konkrete menschliche Körper selbst und wurde behandelt 1 | Anmerkung des Übersetzers: In seinen englischen und

chinesischen Publikationen verwendet der Autor die Ausdrücke philosophy of body bzw. 幓橼⒚⬠ (shenti zhexue), für die sich im Deutschen eigentlich der Ausdruck ›Philosophie des Leibes‹ anbietet. Da damit jedoch zugleich eine bestimmte philosophische Tradition vor allem innerhalb der Phänomenologie angesprochen ist, auf die sich der Autor im vorliegenden Text nicht bezieht, und da die hier vorgestellten Charakteristika des konfuzianischen KörperDenkens sich von der Tradition der Leib-Philosophie erheblich unterscheiden, verwende ich hier den Ausdruck ›Leib‹ nur in einem philosophisch nicht prägnanten, konkret gegenständlichen Sinn, als alternative Übersetzung für body und 幓橼 (shenti). Der für die europäische Philosophie des Leibes so zentrale Unterschied zwischen ›Körper‹ und ›Leib‹ bleibt in diesem Text also unbeachtet. 2 | Siehe beispielsweise: William Theodore de Bary: Neo-Confucian Orthodoxy and the Learning of the Mind-and-Heart, New York:

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beispielsweise von Roger T. Ames, Yang Rubin (㣲₺屻), Wu Kuang-ming und Yuasa Yasuo.3 Im vorliegenden Kapitel sollen beide Themen miteinander verbunden werden zu einer Reflexion über das Verhältnis von Körper und Herzgeist im sozialen, politischen und spirituellen Kontext des Konfuzianismus. Einerseits gilt es, die Vertreter der Herzgeist-Forschung daran zu erinnern, dass der Geist (xin ⽫/mind) im Konfuzianismus, anders als in der Tradition des Abendlandes, zunächst ein körperliches Organ ist, nämlich das Herz (xin ⽫/heart); zum anderen sollen die Vertreter der Körper-Philosophie aufgerufen werden, die Tatsache zu beachten, dass das Zentrum des konfuzianisch gedachten Körpers wiederum das Herz ist, das in einer umfassenden, politische und spirituelle Dimensionen einschließenden Kultivierungsbemühung entwickelt werden soll – es ist in konfuzianischer Sicht vor allem das Organ der menschlichen Moralität, in deren Dienst seine kognitiven Funktionen zu treten haben. Der konfuzianisch thematisierte Körper ist keine bloß physische Größe, und seine Beziehung zur Seele stellt in der konfuzianischen Tradition kein philosophisch zentrales Problem dar; vielmehr wurde der Körper von den Konfuzianern immer schon als leiblich-geistige Einheit und als soziales ›Ding‹ gedacht. Das vorliegende Kapitel hat daher seinerseits zwei thematische Anliegen: Zum einen soll gezeigt werden, wie konkret körperlich der konfuzianische Herzgeist gedacht wird und folglich denkerisch eine ganz andere Problematik generiert als das Leib-Seele Problem der abendländischen Metaphysik. Der Herzgeist war von jeher in Ostasien viel eher Gegenstand einer

Columbia University Press 1981; ders.: The Message of the Mind in Neo-Confucianism, New York: Columbia University Press 1989. 3 | Siehe Roger T. Ames: »The Meaning of Body in Classical Chinese Philosophy«. In: Thomas P. Kasulis/Roger T. Ames/Wilam Dissanayake (Hg.), Self as Body in Asian Theory and Practice, Albany: State University of New York Press 1993; Yang Rubin (㣲 ₺屻): ₺⭞幓橼奨 (Der Körper im konfuzianischen Denken), Taipeh: Academia Sinica 1998; Kuang-ming Wu: On Chinese Body Thinking: A Cultural Hermeneutic, Leiden: E. J. Brill 1997; Yuasa Yasuo: The Body: Towards an Eastern Mind-Body Theory, Albany: State University of New York Press 1987.

4.1 P ROBLEMSTELLUNG | 117

»Mitten-in-Physik« 4: Das Zentrum einer dynamischen Einheit, die ihrerseits – und das zu zeigen ist mein zweites Anliegen – handelnd in harmonische Übereinstimmung gebracht werden muss mit ihrem politisch-sozialen und in letzter Konsequenz kosmischen Umfeld.

4 | Anmerkung des Übersetzers: Dieser Ausdruck geht im Deutschen sicherlich an die Grenzen des stilistisch Vertretbaren – es handelt sich um einen Notbehelf, der die von Xu Fuguan (⼸⽑奨) eingeführte und vom Autor übernommene chinesische Neuschöpfung ⼊侴ᷕ⬠ (xing er zhong xue) wiedergeben soll, welche angelehnt ist an den üblicherweise mit »Metaphysik« übersetzten Ausdruck ⼊侴ᶲ⬠ (xing er shang xue). Dieser bedeutet wörtlich soviel wie »Lehre von dem über den Formen«. In der Neuschöpfung Xu Fuguans wurde die Präposition »über« (shang ᶲ) durch die Präposition »(mitten) in« (zhong ᷕ) ersetzt, womit angedeutet werden soll, dass das, was die abendländische Metaphysik strikt scheidet und in Opposition zueinander setzt, von der chinesischen Tradition – soweit solche Verallgemeinerungen hier möglich sind – als dynamische Einheit gedacht wird. Die reichlich ungelenke ›Mitten-inPhysik‹ erschien mir gegenüber einer Anlehnung an den vom Autor im Englischen verwendeten Ausdruck ›meso-physics‹ als das kleinere Übel, da dieser sich nur durch den eingeführten Bindestrich von einer in den Naturwissenschaften bestehenden und um ganz andere Probleme kreisenden Forschungsrichtung unterscheidet. Xu Fuguans Einführung dieses neuen Terminus wird im folgenden Abschnitt zur Sprache kommen.

4.2 Der Herzgeist ›mitten im‹ Körper: Ein Überblick

Die Körperlichkeit des Herzgeistes ist ein zentrales Thema des Konfuzianismus seit Menzius, und eines, das sich fortgesetzt hat bis in die Gegenwart, in welcher chinesische Gelehrte dann vor der neuen Aufgabe stehen, die Spezifi k des Ausdrucks ›Herzgeist‹ herauszuarbeiten und diffizile Abgrenzungen vorzunehmen gegenüber bestimmten westlichen Begriffen wie ›Geist‹ und mind, die dem gleichen Gegenstands- oder Phänomenbereich entstammen, aber andere Konzeptionalisierungen vornehmen. Xu Fuguan (⼸⽑奨, 1903-1982), einer der wichtigsten Vertreter des Konfuzianismus im 20. Jahrhundert und ein Verehrer des Menzius hat diese Aufgabe erkannt und sich dazu wie folgt geäußert: »Wenngleich der Herzgeist in China als Teil der physiologischen Konstitution des Menschen, nämlich als eines der fünf körperlichen Organe angesprochen wurde, besteht seine Funktion darin, die Quelle (genyuan 㟡㸸) von Werten für das menschliche Leben (rensheng jiazhi Ṣ䓇₡ῤ) zu sein, so wie Ohren und Augen die Quelle von akustischer Wahrnehmung und Farbunterscheidung sind. Menzius bezeichnet Ohren und Augen als ›kleinen Körper‹ (xiao ti ⮷橼), weil ihre jeweilige Funktion klein/untergeordnet ist; das Herz bezeichnet er als ›großen Körper‹ (da ti ⣏橼), weil seine Funktion eine große/wichtige ist. Egal ob klein oder groß, sie beide sind Teil der physiologischen Konstitution des Menschen. Können wir das physiologische Herz als ›Geist‹ im Sinne des abendländi-

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schen Idealismus verstehen (shuo cheng xifang weixinlun de xin ma 婒ㆸ大㕡ⓗ⽫婾䘬⽫楔)? Handelt es sich beim idealistischen Geist um einen physiologischen Teil unseres Körpers? Es mag noch ein wenig [wörtlich: ein Schatten (yingzi ⼙⫸)] des Ausdrucks ›Herzgeist‹ der chinesischen Kultur erhalten bleiben, wenn wir ihn im Sinne des Materialismus verstehen, denn er besitzt eine physiologisch materielle Wurzel, und seine Funktion ist die eines gewissen physiologischen Organs [wörtlich: Teils] (shengli zhong mou yi bufen 䓇䎮ᷕ㝸ᶨ悐↮䘬ἄ䓐). Wenn wir den Herzgeist als aber ›Geist‹ im Sinne des Idealismus verstehen, bleibt von seinem Gehalt nicht einmal mehr ein Schatten zurück.«5

Xu Fuguan hat also die physiologische Basis und die Implikation der Herzfunktionen erkannt, zu welchen in philosophischer Sicht jedoch – was aus westlicher Perspektive zweifellos überraschen muss – vor allem die des Werturteils zählt. Wenn Xu formuliert »Was inmitten aller Formen besteht, nennen wir den Herzgeist« (xing er zhong zhe wei zhi xin ⼊侴ᷕ侭媪ᷳ⽫),6 dann steckt darin ein subtiler Bezug auf den bekannten Satz aus dem Buch der Wandlungen, der lautet »Was über allen Formen besteht, nennen wir den Weg« (xing er shang zhe wei zhi dao ⼊侴ᶲ侭媪ᷳ忻). Anders als das Dao ist der Herzgeist in China nicht Teil einer Metaphysik, sondern Zentrum eines Denkens inmitten der körperlichen und damit auch inmitten der sozialen und politischen Welt, eben einer Lehre, die Xu Fuguan als »Mitten-in-Physik« (xing er zhong xue ⼊侴ᷕ⬠) bezeichnet.7 Was uns nun hier vor allem interessiert, ist die genaue konzeptionelle Fassung des Ausdrucks ›Herzgeist‹, der so charakteristisch ist für das philosophische Denken Ostasiens. Wir müssen daher zunächst einen Blick werfen auf den locus classicus dieser Tradition, nämlich das Buch Mengzi (6A, 15), wo folgender Dialog zwischen Menzius und Gong Duzi (℔悥⫸) verzeichnet ist:

5 | Xu Fuguan: »⽫䘬㔯⊾« (Kultur des Herzgeistes). In ders.: ᷕ⚳⿅゛⎚婾㔯普 (Gesammelte Aufsätze zur chinesischen Geistesgeschichte), Taipeh: Xuesheng shuju 1985, S. 243. 6 | Ebd. 7 | Ebd.

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»Gong Duzi fragte: ›Obwohl wir alle Menschen sind, gibt es große Menschen und kleine8 – wie kommt das?‹ Menzius antwortete: ›Wer sich leiten lässt von jenen Teilen seines Körpers, die von größerer Bedeutung sind [wörtlich: wer seinem großen Körper folgt (cong qi da ti ⽆℞⣏橼)], der ist ein großer Mensch. Wer sich leiten lässt von jenen Teilen seines Körpers, die von geringerer Bedeutung sind [wörtlich: wer seinem kleinen Körper folgt (cong qi xiao ti ⽆℞⮷橼)], ist ein kleiner Mensch. [Gong Duzi] fragte: ›Obwohl wir alle Menschen sind, folgen manche ihrem großen Körper und manche dem kleinen – wie kommt das?‹ [Menzius] sagte: ›Die Organe des Hörens und Sehens denken (si ⿅) nicht und können auf Abwege geführt werden von äußeren Dingen. Wo ein Ding auf ein anderes einwirkt, folgt dieses jenem. Das Organ des Herzgeistes denkt; wenn es denkt, bekommt es [die Antwort]; wenn nicht dann nicht. Das ist, was der Himmel mir gegeben hat. Man muss erst seinen Standpunkt einnehmen [wörtlich: sich aufrichten] gemäß dem Großen (xian li hu qi da zhe ⃰ 䩳᷶℞⣏侭), dann kann das Kleine den Platz nicht besetzen. Auf diese Weise vermögen wir große Menschen zu sein [alternativ: das heißt es, ein großer Mensch zu sein (ci wei da ren er yi 㬌䁢⣏Ṣ侴 ⶚)].‹«

Menzius spricht in diesem Zitat den Herzgeist als ein körperliches Organ unter anderen an, lenkt aber die Aufmerksamkeit auf die charakteristische Fähigkeit des Herzgeistes, nämlich die zu denken, worunter an erster Stelle die Fähigkeit gehört, sich darüber klar zu werden, was man tun soll und was nicht. Ohne diese Fähigkeit lässt sich die hier zur Diskussion stehende Art von Größe schwerlich erlangen. Im Kontext des Zitats verbirgt sich hinter dem Ausdruck »denken« (si ⿅) offenbar einerseits ein Vermögen, das alle Menschen haben, insofern sie nämlich alle einen Herzgeist besitzen, andererseits aber genau die Fähigkeit, welche zu Unterschieden zwischen den Menschen

8 | Anmerkung des Übersetzers: Der Kontext und auch die Wortwahl im Chinesischen lassen zweifelsfrei erkennen, dass hier natürlich keine Unterschiede in der Körpergröße verhandelt werden, sondern sich die Debatte um das Problem individuell verschiedener moralischer Größe dreht.

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hinsichtlich ihrer moralischen Größe führt, da sie alle in unterschiedlicher Weise von diesem Vermögen Gebrauch machen. Drei Punkte sind hier also zu beachten: Erstens ist dieses Denken ein körperlicher Vorgang; der Herzgeist wird identifiziert mit dem, was Menzius den »großen Körper« (da ti ⣏橼) nennt. Zweitens, in der Ausübung dieses körperlichen Denkens liegt der Unterschied zwischen großen und kleinen Menschen. Drittens und folgerichtig müssen wir uns an unserem großen Körper orientieren, um große Menschen zu werden. Und diese Art von Orientierung ist ihrerseits bereits ein Denkakt in Menzius’ Sinne, nämlich kein abstraktes Theoretisieren über dieses oder jenes Problem, sondern die praktische Ausrichtung unserer Person an einem leitenden Ziel.9 Diese Fähigkeit ist für Menzius eine universal menschliche: Wir haben einen großen Körper, und deshalb haben wir auch die Möglichkeit, ein großer Mensch zu werden. Interessanterweise findet sich in den Bambusmanuskripten von Guodian10 ein Schriftzeichen, das es im heutigen Zeichenschatz des Chinesischen nicht mehr gibt, und das besteht aus den übereinander angeordneten Schriftzeichen für »Körper« (shen 幓, in manchen Kontexten auch soviel bedeutend wie »Selbst« oder »Person«) und »Herzgeist« (xin ⽫).11 Das Schriftzeichen scheint eine ähnliche Bedeutung gehabt zu haben wie das im Konfuzianismus so wichtige Zeichen ṩ (ren), das die 9 | Vgl. Arthur Waleys Ausführungen zum chinesischen Aus-

druck »denken« (si ⿅), der Akte des Beobachtens und des geistigen Kümmerns um etwas meint, Akte also, die jeweils auf den Beobachter selbst bezogen sind und ihn unmittelbar angehen. In: The Analects of Confucius, übers. von Arthur Waley, New York: Allen & Unwin 1939, S. 44-46. 10 | Anmerkung des Übersetzers: Ein Ort in der chinesischen Provinz Hubei, wo seit den frühen neunziger Jahren umfangreiche Ausgrabungen einen enormen Schatz an frühen, auf Bambustäfelchen geschriebenen Textdokumenten zutage gefördert haben, die zu den ältesten Zeugnissen der chinesischen Schrifttradition zählen. 11 | Siehe den Ausstellungskatalog der Stadt Jingmen zu den Bambusmanuskripten von Guodian: 勲攨ⶪ⌂䈑棐 (Städtisches Museum Jingmen) (Hg.): 悕⸿㤂⠻䪡䯉 (Bambustafeln aus dem Chu Mu Grab von Guodian), Peking: Wenwu Chubanshe 1998, S. 187.

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Bedeutung von »Mitmenschlichkeit«, »Humanität« trägt und damit auf das verweist, was den Menschen zum Menschen macht, bzw. was seine Menschlichkeit ausmacht. Wir können in diesem Dokument aus der Frühzeit der chinesischen Kultur einen Beleg für den zentralen Stellenwert des ›großen Körpers‹ und für die Kultivierung der ›großen Persönlichkeit‹ sehen, die in der konfuzianischen Tradition in der beispielhaften Figur des Edlen ( junzi ⏃⫸) repräsentiert ist. Betrachten wir dazu eine weitere Stelle aus dem Mengzi: »Das, dem der Edle gemäß seiner Natur folgt, nämlich Mitmenschlichkeit, Aufrichtigkeit, angemessenes Verhalten und Weisheit, ist verwurzelt in seinem Herzgeist. Es zeigt sich in seinem Gesicht und gibt diesem ein reines Aussehen. Es zeigt sich ebenso in seinem Rücken und setzt sich fort in seinen Gliedern und teilt sich mit ohne Worte (bu yan er yu ᶵ妨侴╣).« 12

Auch bei Xunzi (勨⫸, gest. 238 v. Chr.), dem großen Konfuzianer aus dem dritten und vierten vorchristlichen Jahrhundert, treffen wir auf Ausführungen zur Körperlichkeit des Herzgeistes. »Was der Edle lernt, dringt ein durch sein Ohr und setzt sich fest (zhu 䭠) in seinem Herzgeist, durchdringt seine vier Glieder und nimmt Gestalt an in seinen Handlungen. Noch das kleinste seiner Worte und die geringste seiner Bewegungen können als Beispiel 12 | Mengzi 7A, 21. Anmerkung des Übersetzers: Die hier genannten vier konkreten Namen für die moralische Natur des Edlen – Mitmenschlichkeit (ren ṩ), Aufrichtigkeit (yi 佑), angemessenes Verhalten (li 䥖) und Weisheit (zhi 㘢) – sind ein zentraler Bestandteil der menzianischen und aller sich später auf ihn berufenden konfuzianischen Ethik. Sie werden bezeichnet als die »vier Ansätze« (si duan ⚃䪗) bzw. wörtlicher »vier Keime«, die von Natur aus im menschlichen Herzgeist liegen und durch Kultivierung und Übung entwickelt werden müssen zu einem beständigen moralischen Charakter. Menzius’ Diktum, dass jeder Mensch ein moralisch kultivierter Edler werden könne, lässt sich also konkretisieren zu der Behauptung, dass im ›großen Körper‹ die notwendigen Ansätze im Keimstadium vorliegen. Vgl. auch Mengzi 2A, 6. Die vier Ansätze werden im folgenden Abschnitt zur Sprache kommen.

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und Anleitung ( faze 㱽⇯) dienen. Was der kleine Mensch lernt, dringt ein durch sein Ohr und tritt wieder aus durch seinen Mund. Mit nur vier Cun [⮠, 1/3 Dezimeter] zwischen Ohr und Mund, wie kann [das Gelernte] tief genug eingedrungen sein, um einen Körper von sieben Chi [⯢, 1/3 Meter] zu veredeln? In alter Zeit haben die Menschen um ihrer selbst willen gelernt, heute tun sie es mit dem Blick auf andere. Was der Edle lernt, veredelt ihn [wörtlich: seinen Körper, shen 幓]; was der kleine Mensch lernt, ist nur ein Mittel, um die Aufmerksamkeit anderer zu erpressen.« 13

Wir sehen in diesem Zitat, dass der Herzgeist von Xunzi als ein Teil der physiologischen Ausstattung des Menschen betrachtet wird, verbunden mit den Organen der sinnlichen Wahrnehmung und den Gliedern seiner köperlichen Bewegungen. Nicht der Gegensatz von Körper und Geist bzw. Leib und Seele wird dabei betont, sondern die natürliche Übersetzung von Inhalten des Herzgeistes in gesteuerte körperliche Handlungen.

13 | Burton Watson (Hg.): Hsün Tzu: Basic Writings, New York: Columbia University Press 1963, S. 20. Anmerkung des Übersetzers: Die deutsche Wiedergabe ist angelehnt an Watsons englische Übersetzung vor allem des letzten Satzes, den Watson so wiedergibt: »the petty [small] man uses learning as a bribe to win attention from others.« Im Original ist in größerer Konkretion und Lebendigkeit davon die Rede, dass der kleine Mensch seine Gelehrsamkeit »wie ein Opfertier gefangen nehme« (qin du 䥥䉊) – gemeint ist natürlich im Sinne Watsons, dass der kleine Mensch das Gelernte betrachtet als etwas, an dem ihm nur als einem Mittel zur Erreichung eigener Zwecke gelegen ist.

4.3 Von der Selbstkultivierung zur sozialen und politischen Entwicklung

Ein solches Verständnis des Herzgeistes lenkt unsere Aufmerksamkeit unweigerlich auf die Frage, wie die Kultivierung unseres ›großen Körpers‹ sich zu vollziehen hat und wie diese Bemühung eingebettet ist in einen umgreifenden sozialen und politischen Kontext. Die moralische Kultivierung ist zwar einerseits individuell, andererseits aber ist sie gerichtet auf eine Gemeinschaft, die sich nach Ansicht der frühen Konfuzianer schließlich auf »alles unter dem Himmel« (tian xia ⣑ᶳ) erstreckt. Der je eigene Herzgeist des einzelnen Menschen ist als das denkende Organ zugleich die Instanz, die jene umfassende Gemeinschaft realisiert. Der paradigmatische Ausdruck der von den Konfuzianern anvisierten Ausdehnung vom Herzgeist des Einzelnen zur Gemeinschaft im größtmöglichen Maßstab und zu einem harmonisch geordneten Kosmos, fi ndet sich in der berühmten Stelle im Klassiker Die große Lehre (Da xue ⣏⬠), wo diese Ausdehnung in acht Schritten von einer persönlichen Kultivierungsbemühung zum letztendlichen Ziel des geordneten Kosmos ausgeführt wird. Die ersten drei Schritte bestehen in der »Beobachtung/Untersuchung der Dinge« (ge wu 㟤䈑), der »Erlangung von Wissen« (zhi zhi 农䞍) und dem Erreichen einer »aufrichtigen Gesinnung« (cheng yi 婈シ), welche drei Schritte dann im vierten unter dem Titel »Aufrichtung des Herzgeistes« (zheng xin 㬋⽫) gleichsam zusammengefasst werden, bevor mit der »Kultivierung der Person« (xiu shen ᾖ幓), der »Ord-

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nung der Familie« (qi jia 滲⭞) und »der Regierung des Landes« (zhi guo 㱣⚳) schließlich zum letzten Schritt der »Harmonisierung von allem unter dem Himmel« (ping tian xia ⸛⣑ᶳ) übergeleitet wird. Der vierte Schritt erwähnt also den Herzgeist und der fünfte den hier mit »Person« wiedergegebenen Ausdruck 幓 (shen), der die körperliche Existenz des Menschen mit anspricht, sozusagen die ›Verkörperung‹ des Herzgeistes, also die notwendige Übersetzung einer inneren Haltung in äußere Handlung. Der mingzeitliche Konfuzianer Wang Yangming (䌳春㖶, 1472-1529) setzt in seiner Auslegung der Stelle folglich nicht bei den ersten drei Schritten, sondern beim Übergang vom vierten zum fünften, d.h. beim Verhältnis von Herzgeist und Person/Körper an. »Was ist die Person/der Körper (shen 幓)? Die körperliche Anwendung/Bewegung des Herzgeistes (xin zhi xingti yunyong ⽫ᷳ⼊橼 忳䓐). Was ist der Herzgeist? Der klare, intelligente Herrscher der Person/des Körpers (shen zhi lingming zhuzai 幓ᷳ曰㖶ᷣ⭘). Was heißt Kultivierung der Person/des Körpers (xiu shen ᾖ幓)? Das Gute tun und das Böse meiden. Vermag ich selbst (wu shen ⏦幓) dies zu tun? Zunächst muss der klare, intelligente Herrscher danach verlangen, das Gute zu tun und das Böse zu meiden, dann vermag die körperliche Bewegung dies auszuführen. Deshalb muss, wer seine Person kultivieren will, seinen Herzgeist aufrichten (zheng qi xin 㬋℞⽫).«14

Dieses Verständnis der Klassiker-Stelle befindet sich in Übereinstimmung mit dem Buch Mengzi, wo Menzius ebenfalls nicht die ersten drei Schritte als genaue Abfolge versteht, sondern davon ausgeht, dass es sich um verschieden akzentuierte Beschreibungen eines einzigen Vorgangs handelt, für den das Gedankenexperiment vom Kind auf dem Brunnen ein Beispiel 14 | Wang Yangming: ⣏⬠⓷ (Untersuchungen zur Großen

Lehre), hier zitiert nach einer von Chen Rongjie (昛㥖㌟, Wing-tsit Chan) besorgten Kompilation klassischer Texte: ᷕ⚳⒚⬠㔯䌣怠 䶐 (Ausgewählte Quellentexte zur chinesischen Philosophie), Taipeh: Juliu Tushu Gongsi 1993, Bd. 2, S. 789. Die Kompilation liegt auch auf Englisch vor: Wing-tsit Chan (Hg.), A Sourcebook in Chinese Philosophy, Princeton/NJ: Princeton University Press 1963. Hier findet sich das Zitat auf S. 665.

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gibt.15 In diesem Vorgang zeigt sich, was Menzius als den »Herzgeist, der kein Leiden anderer Menschen erträgt« (bu ren ren zhi xin ᶵ娵Ṣᷳ⽫) bezeichnet und dann mit Hilfe der »vier Ansätze« (si duan ⚃䪗) näher ausführt. Menzius plädiert dafür, das, was Teil unserer Natur ist und sich in bestimmten Situationen als unsere Fähigkeit zum Mitgefühl und zur Mitmenschlichkeit zeigt, zur bewussten Grundlage unseres Handelns zu machen – was ihn zum Beispiel zur politischen Maxime eines »Regierens, das kein Leiden anderer Menschen erträgt« (bu ren ren zhi zheng ᶵ娵Ṣᷳ㓧) bringt. Wir können nun auf die eingangs von Gong Duzi aufgeworfene Frage zurückkommen, wie angesichts des von allen Menschen geteilten Potentials zur Kultivierung des eigenen Selbst zu einem ›großen Menschen‹ erklärt werden kann, dass zwar einige Menschen diesen Kultivierungsweg einschlagen, andere aber nicht. Die Antwort des Menzius lautete bekanntlich, dass wir unseren Standpunkt einnehmen müssen ›gemäß dem Großen‹, d.h. gemäß unserem ›großen Körper‹, also dem Herzgeist. Damit ist angespielt auf eine grundsätzliche Entscheidung, der jeder Mensch in bestimmten Situationen wie der des Brunnenbeispiels gegenübersteht, wenn sich die eigene moralische Natur in eindeutigen Handlungsimpulsen meldet, denen 15 | Anmerkung des Übersetzers: In diesem Gedankenexperiment in Mengzi 2A, 6 konfrontiert Menzius seinen Debattengegner mit einer Situation, in der ein Mann in einem Dorf ein ihm fremdes Kind auf dem Rand eines Brunnens spielen sieht und in eins mit der Erkenntnis der Gefahr den Impuls verspürt, nach vorne zu stürzen und das Kind zu retten. Ob dies tatsächlich geschieht, wird nicht gesagt, aber ausdrücklich betont, dass es sich um eine Regung des Herzgeistes handelt, die frei ist von egoistischen Bestrebungen jeder Art (Erwartung von Belohnung, Anerkennung etc.). Menzius vertritt also einen moralischen Intuitionismus, demzufolge sich in bestimmten Situationen unwiderlegbar zeigt, dass die Fähigkeit zum moralischen Empfinden und Handeln uns von Natur aus gegeben ist und die entscheidende Aufgabe darin besteht, dieser Natur im bewussten Handeln Geltung zu verschaffen. Die ›Aufrichtung des Herzgeistes‹ ist hier ein spontanes Geschehen, das wir eher zulassen als initiieren müssen und das also nicht abhängt vom Absolvieren vorangehender Kultivierungsschritte nach dem Schema in Die große Lehre.

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wir folgen oder die wir unterdrücken können. Ihnen zu folgen, hieße nach Menzius, seinen Standpunkt gemäß dem Großen einzunehmen, während dem Kleinen zu folgen hieße, nicht das Mitgefühl mit anderen, sondern egoistische Bestrebungen zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen. Wenn diese Entscheidung zugunsten der ersten Alternative getroffen ist, kann die moralische Kultivierung daraus die Entwicklung eines festen Habitus und moralischen Charakters machen. Menzius’ Bemühen richtet sich zunächst einmal darauf, uns die beiden Alternativen der Entscheidungen mitsamt ihren Konsequenzen zu Bewusstsein zu bringen, was er mit der Rede von den beiden Körpern, dem großen und dem kleinen tut. Nur dann lässt sich aus dem spontanen Befolgen eines inneren Impulses eine Entscheidung machen, die nicht alleine den Moment und die Situation betriff t, da sie getroffen wird, sondern die eine bewusste Verständigung – einen Denkakt in Menzius’ Sinne – darüber beinhaltet, was für ein Mensch wir sein wollen, ein kleiner oder ein großer. Wie der auf die Entscheidung folgende Kultivierungsweg näher zu verstehen ist, welcher Techniken und Methoden er sich bedient, darüber gibt es in der konfuzianischen Tradition eine Vielzahl von Vorstellungen, die an dieser Stelle nicht zum Gegenstand unserer Untersuchung gemacht werden können. Wir müssen stattdessen zur Kenntnis nehmen, dass der eben erwähnte Xunzi eine sich von Menzius grundsätzlich unterscheidende Sicht auf die Frage nach der moralischen Natur des Menschen hat. Im Zentrum seines Denkens stehen nicht die Ansätze zum Guten, sondern steht im Gegenteil die beständige Neigung des Menschen zur Selbstsucht und zum Egoismus. Folgerichtig entwirft Xunzi die moralische Kultivierung nicht vorrangig als Enfaltung und Pflege der ›guten Keime‹ in unserem Herzgeist, sondern als Eindämmung unserer Selbstsucht und als Befolgen fester Regeln, die ein Lehrer uns vorgibt – eine Kultivierung also eher gegen die Tendenz unserer Natur. In beiden Fällen allerdings findet die Kultivierung in einem sozialen Kontext statt und muss sich in diesem bewähren. Xunzi schreibt: »Angemessenes Verhalten (li 䥖) ist das, wodurch die Aufrichtung der Person/des Körpers (shen 幓) erreicht wird. Der Lehrer ist der-

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jenige, der angemessenes Verhalten bestimmt. Ohne Übung im angemessenen Verhalten, wie soll eine Aufrichtung der Person möglich sein? Ohne Lehrer, wie soll jemand wissen, welches Verhalten angemessen ist? Wer den Bahnen des angemessenen Verhaltens folgt, dessen Emotionen finden darin Ruhe. Wer spricht wie sein Lehrer, wird werden wie sein Lehrer. Wenn seine Gefühle Ruhe finden in den Bahnen des Verhaltens und sein Verstand dem seines Lehrers gleicht, ist er eine moralische Persönlichkeit (shengren 俾Ṣ) geworden. Wer die Bahnen des Verhaltens ablehnt, hat keine Regel [der er folgen könnte]; wer seinen Lehrer ablehnt, ist ohne Anleitung. Wer ohne Anleitung und Regel alles gemäß eigenem Nutzen tut, ist wie ein Blinder, der Farben unterscheiden will oder wie ein Tauber, der Töne unterscheidet. Nichts außer Chaos wird daraus hervorgehen. Darum heißt lernen, sich die Bahnen angemessenen Verhaltens zur Regel zu machen. Der Lehrer gibt mit seiner Person/seinem Körper das richtige Verhalten vor und schätzt hoch, was zur Ruhe (an ⬱) [im Sinne von: Feststellung im angemessenen Verhalten] führt.«16

Konfuzianer späterer Zeiten, die mit Xunzis Sicht sympathisierten, wie der japanische Gelehrte der Tokugawa-Zeit, Ogyu Sorai (匣䓇⼪⽈, 1666-1728), haben vorgeschlagen, die Aufrichtung der Person durch angemessenes Verhalten im Sinne des Konfuzius-Wortes zu verstehen, wonach ein »Meistern des Selbst und die Rückkehr zur Einübung ins angemessene Verhalten das Wesen der Mitmenschlichkeit« ausmache (ke ji fu li wei ren ⃳⶙⽑䥖䁢ṩ).17 Sorai ging sogar so weit, für eine »Beherrschung des Herzgeistes durch die Einübung im angemessenen Verhalten« (yi li zhi xin ẍ䥖⇞⽫)18 zu plädieren, worunter er offenbar rituelle Übungen verstand, die Bestandteil der antiken Kultur Chinas waren. In diesen sieht er den Schwerpunkt der 16 | Auch hier lehnt sich die deutsche Übersetzung an Burton Watsons englische Übertragung an: Hsün Tzu: Basic Writings, New York: Columbia University Press 1963, S. 30. 17 | Die Stelle findet sich in Gespräche 12, 1. 18 | Ogyu Sorai: 婾婆⽝ (Kommentar zu den Gesprächen des Konfuzius). In: Kangi Ichiro (敊₨ᶨ恶)ġ (Hg.), 㖍㛔⎵⭞⚃㚠姣 慳ℐ㚠 (Gesamtausgabe der Kommentare berühmter japanischer Gelehrter zu den‹ Vier Büchern‹), Tokio: Ho Shupan 1973, Abteilung 7, S. 236.

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konfuzianischen Lehre und Praxis. In China selbst allerdings hat zweifellos das menzianische Modell den größeren Einfluss ausgeübt.

4.4 Sozialisierung des Herzgeistes und Politik des Körpers

Betrachten wir die Aussage eines koreanischen Konfuzianers, Chong Yayong (ᶩ劍掆, 1762-1836), der den konkreten, weltzugewandten Charakter der Kultivierung des Herzgeistes betont: »Was die Alten die Aufrichtung des Herzgeistes (zheng xin 㬋 ⽫) genannt haben, besteht darin auf Geschehnisse zu reagieren (ying shi ㅱḳ) und mit Dingen umzugehen ( jie wu ㍍䈑) und nicht im selbst angeleiteten Versinken in Stille und Konzentration.«19 Mit ›Geschehnissen‹ und ›Dingen‹ ist nicht nur der soziale Kontext der Kultivierung angesprochen, sondern zugleich der Bereich, in dem sie sich bewähren und in den hinein sie wirken muss. Kultivierung des eigenen Herzgeistes ist unmittelbar auf die Gemeinschaft gerichtet, ihr Ziel ist soziale Harmonie im Sinne geregelter Interaktion, welche sich durch das Zusammenwirken individueller Anstrengungen zugunsten des Ganzen perpetuiert. So wie der eigene Herzgeist mit den Gliedern des Leibes verbunden ist, so ist er nach konfuzianischer Vorstellung auch mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft verbunden, welche zusammen den Körper der Gemeinschaft ausmachen. Daher kommt die Vorstellung, dass die Wurzel der Regelung der Staatsgeschäfte in der Kultivierung der eigenen Person und des eigenen Körpers liegt. Betrachten

19 | Chong Yayong (ᶩ劍掆): 冯䋞➪ℐ㚠 (Vollständige Werke der Yeo Yu Halle), Seoul: Min Jok Mun Hwa Mun 2001, Bd. 1, S. 10.

4.4 H ERZGEIST

UND

P OLITIK

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wir eine Stelle aus den Frühjahr und Herbst Annalen des Lü Buwei (Lüshi chunqiu ⏪㮷㗍䥳), wo es heißt: »Der König von Chu fragte Zhan Zi nach dem Besorgen der Staatsgeschäfte (wei guo 䁢⚳).20 Zhan Zi erwiderte: ›Ich höre vom Besorgen des eigenen Selbst/Köpers (wei shen 䁢幓), vom Besorgen der Staatsgeschäfte höre ich nichts.‹ Wie konnte Zhan Zi um die Staatsgeschäfte unbesorgt (wu wei 䃉䁢) sein? Für ihn war das Besorgen des eigenen Selbst/des Körpers die Wurzel des Besorgens der Staatsgeschäfte. Wenn das Selbst/der Körper besorgt wird (shen wei 幓䁢), wird die Familie besorgt; wenn der Staat besorgt wird, wird alles unter dem Himmel besorgt. Darum sagen wir: Durch das eigene Selbst/den Körper die Familie besorgen (yi shen wei jia ẍ幓䁢⭞), durch die Familie den Staat besorgen, durch den Staat alles unter dem Himmel besorgen. Diese vier haben unterschiedliche Orte, aber dieselbe Wurzel (yi wei tong ben 䔘ỵ⎴㛔). Was die kultivierte Persönlichkeit tut, durchdringt, wenn es entfaltetet wird, den Kosmos […]; wenn es in sich bleibt, verlässt es nicht das Selbst/den Körper.«21 20 | Anmerkung des Übersetzers: Der im klassischen Chinesisch häufig und in den verschiedensten Kontexten anzutreffende Ausdruck 䁢 (wei) ist hier verbal zu verstehen, hat aber eine so umfassende Bedeutung, dass er sich schlecht auf einen bestimmten Handlungsakt festlegen lässt, weshalb er an dieser Stelle substantiviert und im Sinne eines Oberbegriffs gebraucht wird. Zu beachten ist, dass der Ausdruck an dieser Stelle nicht nur einen Handlungsaspekt beinhaltet, sondern gleichzeitig eine Haltung gegenüber dem Objekt der Handlung, um dessentwillen die Handlung geschieht. 21 | ⏪㮷㗍䥳 (Die Frühjahr und Herbst Annalen des Lü Buwei), Taipeh: Zhonghua shuju 1979, S. 17. Anmerkung des Übersetzers: Die hier angeführte Stelle ist deutlich angelehnt an die oben erwähnte Darstellung der acht Schritte in Die große Lehre. Während dort allerdings der Zusammenhang zwischen persönlicher Kultivierung und kosmischer Harmonie durch die jeweils eingefügten Angaben »erst« (xian ⃰) und »dann« (hou ⼴) deutlich als ein schrittweises Vorgehen gekennzeichnet ist, sind hier die verschiedenen Besorgungen durch die Präposition 侴 (er) verbunden, was den inneren und notwendigen Zusammenhang betont und wichtig ist für die angezielte Pointe des Autors: Weil zwischen Selbst und Gemeinschaft kein ›wesenhafter‹ Unterschied besteht, ist das Be-

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Die soziale und politische Ordnung ist vom körperlichen Selbst nicht wesensmäßig oder ›wurzelhaft‹ verschieden, sondern ist dessen Entfaltung und Ausdehnung. Anders gesagt: Die soziale Gemeinschaft und der Kosmos im Ganzen sind das Selbst und der Körper im Großen. In der antiken Literatur finden sich zahllose Beispiele, die dieses Verhältnis genauer ausführen, indem sie den Herrscher als den Herzgeist des Staates bezeichnen und die Beamten als seine Sinnesorgane und Glieder. Xunzi schreibt: »[Der Herrscher] sitzt auf seinem Platz und alles unter dem Himmel folgt ihm wie ein Körper und wie die vier Glieder dem Herzgeist folgen – das nennt man die große Form (da xing ⣏⼊) [möglich auch: die große Verkörperung].«22 In der abendländischen Tradition gibt es sicherlich ähnlich klingende Beschreibungen – denken wir an die Bilder des politischen Körpers bei Platon oder Hobbes – doch scheint es, dass der Zusammenhang in China radikaler und gleichsam wörtlicher gedacht wurde, nicht als metaphorische Illustration, sondern als Ausdruck eines politischen Denkens, das den individuellen Herzgeist zum Ausgangspunkt der Betrachtung nimmt und in ihm die Wurzel sieht, aus der soziale und politische Verhältnisse erwachsen. Eine solche Politik des Körpers und Verkörperung der Politik ist ein Spezifi kum der konfuzianischen Tradition Chinas, Japans und Koreas. Die Einheit von denkendem Herzgeist und handelndem Körper stellt das Paradigma zur Verfügung, nach dem politische Verhältnisse vorgestellt und verstanden werden als untrennbar verbunden mit dem eigenen Selbst.

sorgen von Staatsgeschäften von der Kultivierung ebenfalls nicht verschieden. Letzteres ist also nicht die Voraussetzung für ersteres und auch kein vorangehender Schritt, sondern eher der zwangläufige Effekt. Der Zusammenhang wird von den Konfuzianern als ein so intimer gedacht, dass die persönliche Kultivierung nicht ohne positive Einwirkung auf die Gemeinschaft bleiben kann. Ein moralisch kultiviertes Selbst ist unmittelbar ein Faktor im sozialen Kontext und im kosmischen Zusammenhang aller Dinge. 22 | Hier folgt die Übersetzung der englischen Ausgabe von John Knoblock: Xunzi: A Translation and Study of the Complete Works, Stanford: Stanford University Press 1990, Bd. 2, S. 185.

4.5 Das Qi als Ausdruck einer ›Mitten-inPhysik‹ von Person und Kosmos

Die bisherige Darstellung wirft die Frage auf, wie genau der Zusammenhang von körperlichem Selbst und Kosmos im ostasiatischen Konfuzianismus gedacht wurde, wenn er denn nicht nur metaphorisches und illustratives Mittel der Darstellung war. Erinnern wir uns daher noch einmal des erwähnten locus classicus des Zusammenhangs in Die große Lehre und schauen wir darauf, wie spätere Konfuzianer versucht haben, diese Stelle auszulegen und verständlich zu machen. Die große Lehre setzt bei den Aktivitäten des menschlichen Herzgeistes an und skizziert die schrittweise Entfaltung zu einem harmonisch geordneten Kosmos. Viele spätere Konfuzianer haben daraus den Schluss gezogen, dass die Aktivität des Herzgeistes in Übereinstimmung mit der Aktivität des Kosmos steht oder sogar mit letzterer identisch sein muss. Schließlich hatte schon Menzius eine Art von Kommunikation zwischen dem Himmel und dem menschlichen Herzgeist proklamiert. Zhu Xi äußert sich zu diesem Problem in aufschlussreicher Weise in einem Kommentar, dessen unmittelbarer Gegenstand das erwähnte KonfuziusZitat ist, wonach ein »Meistern des Selbst« (ke ji ⃳⶙) und die »Rückkehr zu den Bahnen angemessenen Verhaltens« ( fu li ⽑ 䥖) den Inhalt des Ausdrucks »Mitmenschlichkeit« (ren ṩ) ausmachen. Zhu Xi schreibt dazu:

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»Mitmenschlichkeit ist die Gesamtheit der Tugenden des ursprünglichen Herzgeistes (ben xin 㛔⽫).23 ›Meistern‹ bedeutet einen Sieg (sheng ⊅) erringen. Was ›Selbst‹ genannt wird, sind die egoistischen Begierden. ›Rückkehr‹ bedeutet eine Umkehr. Die ›Riten/ Bahnen angemessenen Verhaltens‹ sind die geordnete Erscheinung ( jie wen 䭨㔯) [alternativ: Schmuck und Muster] des himmlischen Prinzips (des allumfassenden Ordnungsmusters, tian li ⣑䎮).«24

Zhu Xis Auslegung hat einen Sturm der Entrüstung entfacht, von dem auch Gelehrte in Japan und Korea erfasst wurden. Viele von ihnen vertraten die Ansicht, Zhu Xi habe zuviel eigenes Denken in Konfuzius’ Ausspruch hineingelesen. Zunächst und vor allem haben viele Gelehrte dagegen protestiert, die Riten/ Bahnen angemessenen Verhaltens (li 䥖) unter Rückgriff auf Prinzipien des Himmels und der Natur, also des Kosmos zu erklären. Von Zhou Shouyi (悺⬰䙲, 1491-1562) und Wang Longxi (䌳晜㹒, 1498-1583) über Yuan Yuan (栀⃫, 1635-1704), Li Gong (㛶⠐, 1659-1733) und Dai Zhen (㇜暯, 1723-1777) bis hin zu den Japanern Ogyu Sorai (匣䓇⼪⽈, 1666-1728) und Nakai Riken (ᷕḽⰍ幺, 1723-1817) reicht in diesem Punkt die Liste von Zhu Xis Kritikern. Dessen Formulierung scheint indessen inspiriert gewesen zu sein von einer Stelle im Buch Mengzi (4A, 27), wo der Inhalt der Bahnen angemessenen Verhaltens als die »geordnete Erscheinung« ( jie wen 䭨㔯) von Mitmenschlichkeit und Aufrichtigkeit bezeichnet wird. Die Verbindung des Ausdrucks »Riten/Bahnen angemessenen Verhaltens« (li 䥖) zu jenem Ausdruck »Prinzip/geistiges Ordnungsmuster« (li 䎮), der für Zhu Xis Denken so wichtig ist, findet sich zudem bereits im Buch der Riten (Li ji 䥖姀). Zhu Xi wurde ebenfalls kritisiert für seine Erklärung, dass das ›Meistern des Selbst‹ eine Art Überwindung und Sieg über das Selbst sei. Arthur Waley etwa sah darin Anklänge an Bud23 | Anmerkung des Übersetzers: Da im Text häufig von ›Wur-

zeln‹ die Rede ist, lohnt sich der Hinweis, dass der hier mit »ursprünglicher Herzgeist« wiedergegebene Ausdruck aus den beiden Schriftzeichen für »Wurzel« (㛔) und »Herzgeist« (⽫) besteht. 24 | Zhu Xi: 婾婆普㲐 (Gesammelte Kommentare zu den Gesprächen des Konfuzius), Abteilung 6 der ⚃㚠䪈⎍普㲐 (Gesammelte Kommentare zu den Kapiteln und Sätzen der ›Vier Bücher‹), Peking: Zhonghua shuju 1983, S. 131.

4.5 D AS Q I | 135

dhismus und Taoismus, welche er ausräumen wollte durch ein Verständnis des entscheidenden Zeichens ke (⃳) als »Können« und »Vermögen«.25 Waley scheint jedoch übersehen zu haben, dass nach Vorstellung des Konfuzius ein Überwinden der egoistischen Bestrebungen des Selbst gerade die Voraussetzung für das Können ist, das Waley in der entsprechenden Stelle angesprochen sehen möchte. Der wichtigste Punkt betriff t aber die Verbindung des eigenen körperlichen Selbst zum Himmel – ein zentraler Bestandteil der konfuzianischen Tradition, häufig thematisiert im Anschluss an Konfuzius’ berühmten Ausspruch in den Gesprächen (2, 4), mit fünfzig Jahren habe er »das Mandat des Himmels verstanden« (zhi tianming 䞍⣑␥). In einem Kommentar zu diesem Ausspruch lesen wir bei dem qingzeitlichen Gelehrten Liu Baonan (∱⮞㤈, 1791-1855) den Satz: »Der Herzgeist des Himmels (tian xin ⣑⽫) und der Herzgeist des Selbst ( ji xin ⶙⽫) stehen in wechselseitiger Verbindung (xiang tong 䚠忂).«26 Diese und andere Stellen aus dem konfuzianischen Kanon formulieren den Gedanken, dass der menschliche Herzgeist nach denselben Prinzipien operiert wie der natürliche Kosmos und dass deshalb die Kultivierung des Herzgeistes sich unmittelbar fortsetzt und direkt fortwirkt in seinem im größtmöglichen Maßstab gedachten Umfeld. Hier stoßen wir nun auf einen der wichtigsten und am schwierigsten zu verstehenden Ausdrücke des gesamten chinesischen Denkens, nämlich den Ausdruck Qi (㯋) – der Stoff, die Energie, der Atem und die Dynamik, aus welcher der Kosmos besteht und alles innerhalb seiner, auch der Mensch. Menzius in einem schwierigen Abschnitt im Buch Mengzi (2A, 2) verweist auf das »Qi, welches den Körper ausfüllt« (qi ti zhi chong ye 㯋炻橼⃭ᷳḇ) und zugleich »die Aufrich25 | Arthur Waley: The Analects of Confucius, New York: Allen & Unwin 1938, S. 74-77 und 162. Waley gibt eine Stelle aus dem Zuozhuan (ⶎ⁛) als Beleg für seine Lesart an. Diese wird jedoch von Burton Watson in seiner Zuozhuan-Übersetzung ebenfalls mit »overcome« wiedergegeben. Siehe Burton Watson: The Tso Chuan: Selections from China’s Oldest Narrative History, New York: Columbia University Press 1989, S. 167. 26 | Zitiert nach Liu Baonan und Liu Gongmian (∱℔ℽ): 婾 婆㬋佑 (Korrekte Bedeutung der ›Gespräche des Konfuzius‹), Peking: Zhonghua shuju 1985, S. 45.

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tigkeit und den Weg vereint« (pei yi yu dao 惵佑冯忻) und welches er »das flutende Qi« (haoran zhi qi 㴑䃞ᷳ㯋) nennt. Dieses Qi durchflutet den Kosmos und den individuellen Körper, und es ist die Aufgabe des Menschen, durch eigenes Handeln den Fluss des Qi zu befördern, es zu nähren und anzureichern (yang qi 梲㯋) oder, negativ gesprochen, sein Verkümmern zu verhindern – letzteres geschieht nach Menzius dann, wenn das Handeln den Herzgeist nicht zufriedenstellt, d.h. gegen das moralische Bewusstsein – den Herzgeist, der kein Leiden anderer erträgt – verstößt. Das Qi hat also moralische ebenso wie natürliche Qualitäten, materielle ebenso wie ideelle und verweigert sich folglich der einseitigen Zuordnung entlang bestimmter Dualismen wie Körper und Geist oder Sein und Sollen. Der amerikanische Sinologe Benjamin I. Schwartz hat in diesem Ausdruck ein zentrales Charakteristikum des philosophischen Diskurses in China erkannt und zugleich den entscheidenden Unterschied zur westlichen Tradition – ein Ausdruck, der kaum in die westliche Begriffssprache zu übersetzen ist.27 Die Texttradition des ostasiatischen Konfuzianismus bietet zahllose Beispiele, in denen unterschiedliche Autoren die Zusammenhang und Einheit stiftende Aktivität des Qi (㯋) betonen. »Alle Dinge zwischen Himmel und Erde sind nur ein großes ursprüngliches Qi« (tian di jian yi yuan qi er yi ⣑⛘攻ᶨ ⃫㯋侴⶚), schreibt Ito Jinsai.28 Wie ein großes Atmen, das alles mit Leben erfüllt, durchdringt das Qi Herzgeist, Körper und Natur und verbindet sie zu einer großen, integralen Form. Der japanische Gelehrte Yamada Hokoku (Ⱉ䓘㕡察, 1805-1877) formuliert es so: »Die zehntausend Dinge zwischen Himmel und Erde sind ein großes Qi, und dieses Qi ist ein Lebendiges […]. Was nur einen Tag auf hören würde, sein Qi zu nähren (yang qi 梲㯋), wie könnte das 27 | Vgl. Benjamin I. Schwartz: The World of Thought in Ancient

China, Cambridge/MA: The Belknap Press of Harvard University Press 1985, S. 173-185. Anmerkung des Übersetzers: Siehe auch den entsprechenden Eintrag im Glossar zentraler Begriffe im Anhang. 28 | Ito Jinsai: 婆⬇⫿佑 (Die Bedeutung der Schriftzeichen in den Gesprächen des Konfuzius und im Mengzi). In: Inoue Tetsujiro (ḽᶲ⒚㫉恶) et al. (Hg.), 㖍㛔ΐ䎮⼁䶐 (Gesammelte Bücher zur Japanischen Ethik), Tokyo: Ikoseikai 1901, Bd. 1, S. 11.

4.5 D AS Q I | 137 weiter lebendig sein? Nicht nur für Menschen ist das so, sondern für alles was fliegt, geht, sich bewegt oder wächst, ohne Ausnahme. Das Dao der Nährung des Qi ist überall zwischen Himmel und Erde und besteht für alle Dinge gleichermaßen.«29

Der von diesem Qi erfüllte menschliche Körper ist sicherlich kein bloß physiologisch mechanistischer Körper, sondern ein Organismus inmitten eines ihn umgreifenden kosmischen Organismus, der ebenso ein natürlich lebendiges »So-Sein« (suo yi ran ㇨ẍ䃞) wie ein ethisch soziales »So-Sein-Sollen« (suo dang ran ㇨䔞䃞) ist. Auf dieser Grundlage war es den Konfuzianern Ostasiens möglich, Vorstellungen über politische und soziale Ordnung in die konkrete Sprache des menschlichen Körpers zu kleiden, die uns heute als eine bloße Metaphorik erscheint, die aber im Ausdruck Qi die konkrete Vorstellung eines tatsächlichen und wirksamen Zusammenhangs beinhaltet hat, der den menschlichen Herzgeist zu einer Wirkeinheit macht nicht nur mit dem eigenen Körper, sondern mit der sozialen und politischen Welt, in der wir leben und handeln.

29 | Yamada Homoku: ⬇⫸梲㯋ㆾ⓷⚾妋 (Fragen und Diagramme zu Menzius’ Kapitel über das Nähren des Qi, ›Mengzi‹ 2A, 2), Osaka: Imeido 1920, S. 6.

4.6 Schluss

Die vorstehenden Ausführungen sollten einen Einblick geben in die Überlegungen zum menschlichen Herzgeist, die charakteristisch sind für die konfuzianische Tradition Ostasiens. Das Charakteristische liegt dabei vor allem in der Betonung einer menschlichen, sozialen, politischen und kosmischen Einheit, die – häufig implizit – das Kernstück des konfuzianischen Weltbildes in China, Japan und Korea ausmacht. Es dürfte deutlich geworden sein, wie sehr sich diese Tradition von der des Westens unterscheidet – vielleicht auch, inwiefern sie Möglichkeiten bereitstellt, bestimmte Einseitigkeiten oder falsche Dichotomien zu hinterfragen und zu korrigieren. Gleichzeitig, und in etwas konkreterer Form, war es mein Ziel, den akademischen Diskurs zu Herzgeist und Körper zur Beachtung dieser grundsätzlichen Einheit anzuhalten und einer Aufspaltung in die bloße Thematisierung von Herz/Geist einerseits und Körper/Leib andererseits entgegen zu wirken. Das Auf brechen der Einheit macht aus der denkerischen Tradition Chinas etwas eher Unchinesisches; im Konfuzianismus Chinas und Ostasiens wurde der Herzgeist nie als bloßer Intellekt und res cogitans und der Körper nie als bloßer stofflicher Leib und res extensa thematisiert, sondern beide wurden als Momente einer leibgeistigen Einheit betrachtet, die wiederum eingebettet war in einen umgreifenden kosmischen Zusammenhang. An dieser Stelle lohnt es sich daran zu erinnern, dass die Verbindung von Herzgeist, Körper und Kosmos den Hintergrund bildet, vor dem viele konkrete Praktiken der chinesischen Tradition verständlich werden, etwa das Himmelsopfer des Kaisers,

4.6 S CHLUS S | 139

der sich rituell als Opfer anbietet, um mit dieser noblen Tat den Himmel zu einer ebensolchen ›Antwort‹ zu bewegen, nämlich Regen zu spenden, der eine gute Ernte sichert. Auch hier ist das Qi gleichsam das Medium, in dem der Kaiser handelt und das ihn mit der natürlichen Umwelt verbindet. Ebenso ist natürlich die chinesische Medizin von dem Grundsatz der hier herausgearbeiteten Einheit bestimmt.30 Es ist also richtig und wichtig, die soziale und politische Dimension des menschlichen Herzgeistes im konfuzianischen Kontext zu betonen und die zentrale Rolle aufzuzeigen, welche der moralischen Kultivierung darin zukommt. Dennoch soll aber ein Punkt wenigstens am Endes dieses Kapitels zur Sprache kommen: Die hier anhand von Texten und gleichsam im Ideal vorgestellte Tradition konfuzianischen politischen Denkens darf keineswegs verwechselt werden mit der politischen Realität des Konfuzianismus über weite Strecken der Geschichte Chinas und Ostasiens. Allzu oft in der Geschichte des chinesischen Kaiserreichs hat sich der Prozess der schrittweisen Entfaltung und Übersetzung von moralischen Gehalten des Herzgeistes in soziale und politische Verhältnisse umgekehrt in den unterdrückenden Übergriff der Politik in das Denken und Empfinden der Menschen. In der Realität waren der Kaiser und seine Beamten oft genug eher Orwells Big Brother als Menzius’ Herzgeist und eher die Agenten von Unterdrückung und Despotie als die einer harmonischen humanen Ordnung. Die Lücke, die zwischen moralischem Anspruch und politischer Realität klaff t, ist ein Teil des konfuzianischen Erbes, den wir verstehen müssen, um zu seiner Überwindung beizutragen.

30 | Siehe zum Beispiel Ted Kaptchuk: The Web that has no Weaver: Understanding Chinese Medicine, Chicago: Congdon & Weed 1983.

5. Auslegungen des Buches Mengzi im modernen Konfuzianismus des 20. Jahrhunder ts

5.1 Einleitung

In der Geschichte des chinesischen Konfuzianismus ist das 20. Jahrhundert die Zeit eines intensiven Kontakts zwischen konfuzianischen Gelehrten und der abendländischen Kultur und Philosophie. Die Konfuzianer des 20. Jahrhunderts sahen sich einer Herausforderung durch das westliche Denken gegenüber, welcher sie nicht mehr im alleinigen Rückgriff auf die Kategorien der eigenen Tradition begegnen konnten; stattdessen setzten sie sich etwa dem Einfluss der Hegelschen Philosophie aus, interpretierten mit Hilfe Kants den song- und mingzeitlichen Neo-Konfuzianismus und arbeiteten auf politischem Gebiet an einer Vermittlung von Konfuzianismus und Demokratie. In der Auswahl ihrer jeweiligen Bezugspunkte unterscheiden sich die verschiedenen Denker, doch sie alle versuchen bei der Konstitution eines konfuzianischen Denkens mitzuwirken, das den Geist und die Werte der Tradition auf neue Weise zum Ausdruck bringt. Das Buch Mengzi spielt im Zusammenhang dieses Versuchs einer Eröffnung neuer Horizonte in der Rückwendung auf die eigenen Wurzeln ( fan ben yi kai xin ⍵㛔ẍ 攳㕘) eine wichtige Rolle. Im vorliegenden Kapitel möchte ich die Auslegungen des Buches Mengzi von drei modernen Konfuzianern untersuchen, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten und darstellen, was wir aus ihrer jeweiligen Behandlung des Buches Mengzi über die chinesische Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts lernen können. Die drei Denker

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sind Xu Fuguan (⼸⽑奨, 1903-1982), Tang Junyi (Ⓒ⏃㭭, 19091978) und Mou Zongsan (䈇⬿ᶱ, 1909-1995).1 Dass ich aus der beeindruckenden Fülle moderner konfuzianischer Interpretationen der chinesischen Tradition die Auslegungen dieser drei Denker des Buches Mengzi auswähle und zum Gegenstand meiner Untersuchung mache, verdankt sich folgenden zwei Überlegungen: 1. Die Konfuzianer des 20. Jahrhunderts haben auf dem Weg der Neuauslegung der Tradition eine Standortbestimmung der eigenen Kultur vorgenommen und dabei häufig Sachurteile (shi shi panduan ḳ⮎⇌㕟) und Werturteile ( jiazhi panduan ₡ῤ⇌ 㕟) miteinander verschmolzen. Den Überlegungen vieler moderner Konfuzianer zufolge handelt es sich bei der konfuzianischen Tradition nicht um eine auf die Erkenntnis objektiver Gegenstände ausgerichtete Lehre, sondern um eine die Person des Gelehrten direkt betreffende Anstrengung,2 nämlich eine »Arbeit an seinem Selbst und seinem Umfeld« (xiu ji zhi ren 1 | Anmerkung des Übersetzers: Dem Sprachgebrauch des Autors folgend übersetze ich im vorliegenden Kapitel den Ausdruck 䔞ẋ₺⭞ (dang dai rujia) mit »moderner Konfuzianismus« und damit in einem unspezifischen Sinne, wenngleich die hier behandelten Denker alle der im Chinesischen eigentlich präziser zu fassenden Schule des »modernen Neukonfuzianismus« (chin. 䔞ẋ 㕘₺⭞ġdang dai xinrujia) zugehören, welchen letzteren Ausdruck der Autor im Folgenden auch gelegentlich gebraucht. Die Unterscheidung ist insofern von Bedeutung, als der Sprachgebrauch des Autors hier eine größere Repräsentativität der drei untersuchten Denker suggeriert als ihnen von vielen anderen konfuzianisch inspirierten Denkern des zwanzigsten Jahrhunderts zugestanden wird. Gerade für ihre teilweise sehr eigenwilligen Versuche der Vermittlung zwischen chinesischem und westlichem Denken wurden die Neukonfuzianer in China heftig kritisiert, und zwar auch von Denkern, die sich ihrerseits als Konfuzianer betrachten. 2 | Anmerkung des Übersetzers: Der vom Autor hier gebrauchte Ausdruck An shen li ming (⬱幓䩳␥) lässt sich in seiner Knappheit und Gegenständlichkeit schlecht ins Deutsche übertragen. Wörtlich bedeutet er »ein Obdach finden, sein Leben aufrichten«, also »seinen festen Platz im Leben finden« – gemeint ist offenbar, dass konfuzianische Gelehrsamkeit nicht primär Wissensvermitt-

5.1 E INLEITUNG | 145

ᾖ⶙㱣Ṣ) und die Aufstellung eines orientierenden Wertesystems.3 Angesichts der durch den Umbruch Chinas im 20. Jahrhundert heraufgeführten Sinnkrise4 haben konfuzianische Gelehrte folglich durch ihre Auslegungsarbeit der konfuzianischen Lehre neues Leben einzuhauchen versucht. Mou Zongsan verleiht diesem Bemühen eindringlichen Ausdruck: »Diese finstere Zeit (xie e de shidai 恒ら䘬㗪ẋ) bedarf einer großen Gefühlsbewegung (da de qing gan ⣏䘬ねデ) und einer großen Verstehensanstrengung (da de li jie ⣏䘬䎮妋). Die große Gefühlsbewegung eröffnet mir im größten Maßstab den Zugang zu meinem persönlichen Leben, durch sie enthüllt sich der Ursprung des Lebens und der Werte. Die große Verstehensanstrengung legt das Woher der Fragen offen und die Wege zu ihrer Beantwortung.«5

Auf dem Weg der Untersuchung unserer drei Denker – die zu den wichtigsten chinesischen Philosophen des 20. Jahrhunderts zählen – sollte es uns gelingen, diese große Gefühlsbewegung und große Verstehensanstrengung zu erfassen, die sich durch das Denken des modernen Konfuzianismus ziehen. 2. Die Tradition der Mengzi-Forschung ist von großem Reichtum und erheblicher Komplexität. Menzius hat in diesem Buch viele Themen und Ansichten formuliert, welche für die gesamte weitere Geschichte des Konfuzianismus prägend geblieben lung und Erkenntnisgewinn erstrebt, sondern eine Anleitung zum richtigen Leben. 3 | Vgl. Chun-chieh Huang: »Confucianism in Postwar Taiwan«. In: Proceedings of the National Science Council, R.O.C. (Part C), 1992, Bd. 2, Nr. 2, S. 218-233, jetzt auch in: Chun-chieh Huang/ Erik Zürcher (Hg.), Norms and the State in China, Leiden: E. J. Brill 1993, S. 141-167. 4 | Siehe Chang Hao: »New Confucianism and the Intellectual Crisis of Contemporary China«. In: Charlotte Furth (Hg.), The Limits of Change: Essays on Conservative Alternatives in Republican China, Cambridge/MA: Harvard University Press 1976, S. 276304. 5 | Mou Zongsan: Ḽ⋩冒徘 (Selbstbeschreibung mit fünfzig Jahren), Taipeh: Ehu Chubanshe 1988, S. 129. Dieses Buch wird im Folgenden zitiert unter dem Kürzel Selbstbeschreibung.

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sind. Sein moralischer Intuitionismus, seine Verbindung von Kultivierung des Herzgeistes und politischem Handeln und seine Beschreibung des Zusammenhangs von Mensch und Kosmos gehören zu den überragenden Zeugnissen und Errungenschaften konfuzianischen Denkens. Menzius’ Denken ist ein harmonisch ausbalanciertes System, das gleichwohl im Laufe seiner über zweitausendjährigen Rezeptionsgeschichte in verschiedenster Weise ausgelegt wurde, häufig im Stile einer einseitigen Betonung von bestimmten Momenten seines Denkens auf Kosten anderer und auf Kosten der Harmonie des Ganzen. Zhu Xis Kommentierung und Auslegung des Mengzi – die zum Teil Gegenstand vorangegangener Kapitel dieses Buches war – ist das beste Beispiel für eine besonders kontroverse und dennoch besonders einflussreiche Deutung. Wir können angesichts des Stellenwertes des Mengzi in der chinesischen Geistesgeschichte erwarten, dass gerade aus den Stellungnahmen konfuzianischer Gelehrter zu diesem Buch ihre jeweiligen philosophischen Standpunkte, politischen Ansichten und die zeitgeschichtlichen Hintergründe ihrer Deutungen deutlich werden. Darum also nimmt das vorliegende Kapitel sich die Mengzi-Auslegung zur Richtschnur und arbeitet heraus, wie Xu Fuguan, Tang Junyi und Mou Zongsan in der Auseinandersetzung mit Menzius die Entwicklung des Konfuzianismus im 20. Jahrhundert gefördert und geprägt haben.

5.2 Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Denken von Xu Fuguan, Tang Junyi und Mou Zongsan

Bevor wir die Auslegungen unserer drei Denker des Buches Mengzi näher betrachten können, müssen wir uns zunächst über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in ihrem Denken und ihren politischen Standpunkten verständigen. Alle drei, Xu, Tang und Mou waren außerordentlich produktive Autoren, deren Schriften ein breites Themenspektrum abdecken. Tang Junyi hat sich in jungen Jahren intensiv mit westlicher Philosophie befasst und mit seinem zweibändigen Abriss der Philosophie (Zhexue gailun ⒚⬠㤪婾) ein Werk vorgelegt, das nach Ansicht vieler Gelehrter unter den philosophischen Einführungen in chinesischer Sprache aufgrund seiner denkerischen Dichte und darstellerischen Präzision herausragt. Tangs Darstellung der chinesischen Philosophietradition ist äußerst reichhaltig und legt innerhalb seines Bemühens um eine Rekonstruktion der chinesischen Philosophiegeschichte besonderes Augenmerk auf das Moment philosophischer Kreativität – er möchte also nicht nur das Denken der Vergangenheit als solches darstellen, sondern es in seiner Relevanz für die Gegenwart verständlich machen. Für Tang gibt es eine Art hermeneutischen Zirkel zwischen der Auslegung der Philosophiegeschichte durch den Autor und der Auslegung des Autors durch die Philosophiegeschichte, d.h. durch die Art, wie das Denken eines bestimmten Autors durch die Tradition vor ihm geformt

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wird. Seine unter dieser Maßgabe vorgenommene Rekonstruktion der chinesischen Tradition ist schließlich zwischen 1966 und 1975 in sechs Bänden unter dem Gesamttitel Darstellung der chinesischen Philosophie (Zhongguo zhexue yuan lun ᷕ⚳⒚ ⬠⍇婾) publiziert worden. Im ersten Band6 stellt Tang sein Programm vor, um sich dann in den einzelnen Themen-Bänden mit den Traditionen der Lehre von der menschlichen Natur,7 der Metaphysik8 und der Entwicklung des songmingzeitlichen Neo-Konfuzianismus9 zu befassen. Und jedes Mal führt ihn sein Weg von einer Rekonstruktion der Philosophiegeschichte zum philosophischen Denken selbst, wobei er von der idealistischen Philosophie Hegels besonders geprägt ist und sich um eine Wiederaufrichtung der chinesischen Subjektphilosophie bemüht. In der Lebensgeschichte Mou Zongsans war das Jahr 1949 mit dem Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg und Mous Flucht nach Taiwan ein entscheidender Wendepunkt.10 Seine reale Entwurzelung und das umso stärkere Festhalten an der geistigen Heimat der chinesischen Kultur beschreibt er 6 | Tang Junyi: ᷕ⚳⒚⬠⍇婾: ⮶婾䭯 (Darstellung der chinesischen Philosophie: Einführung), Hongkong: Dongfang renwen xuehui 1966. Hier zitiert unter dem Kürzel Darstellung: Einführung. 7 | Tang Junyi: ᷕ⚳⒚⬠⍇婾: ⍇⿏䭯 (Darstellung der chinesischen Philosophie: Die menschliche Natur), Hongkong: Xinya yanjiusuo 1968. 8 | Tang Junyi: ᷕ⚳⒚⬠⍇婾: ⍇忻䭯 (Darstellung der chinesischen Philosophie: Der Weg), 3 Teilbände, Hongkong: Xinya yanjiusuo 1974. Hier zitiert unter dem Kürzel Darstellung: Weg. 9 | Tang Junyi: ᷕ⚳⒚⬠⍇婾: ⍇㔁䭯 (Darstellung der chinesischen Philosophie: Die Lehre), Hongkong: Xinya yanjiusuo 1975. 10 | Anmerkung des Übersetzers: Es sollte in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen werden, dass alle drei hier behandelten Denker 1949 das chinesische Festland verlassen und sich in Taiwan oder Hongkong niedergelassen haben; Tang Junyi durchgängig in Honkong, Xu Fuguan und Mou Zongsan in beiden Orten für jeweils viele Jahre. Alle drei waren überzeugte Anti-Kommunisten, d.h. überzeugt von der Unvereinbarkeit von kommunistischem und konfuzianischem Denkens, und für alle drei bedeutete der Verlust der kulturellen und persönlichen Heimat ein Trauma, das in ihren Schriften tiefe Spuren hinterlasssen hat.

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mit folgenden Worten: »Die Stütze meines Lebens ist nicht die Wirklichkeit; denn in der Wirklichkeit ist alles verloren (xianshi yi wu suo you 䎦⮎ᶨ䃉㇨㚱). Wo ist mein Land? Wo meine Familie/meine Heimat? Worauf ich mich stütze, ist das Leben der chinesischen Kultur (huazu zhi wenhua shengming 厗㕷ᷳ 㔯⊾䓇␥), die kulturellen Ideale von Konfuzius und Menzius.«11 Trotz der zeitweise widrigen Umstände seines persönlichen Lebens hat Mou Zongsan ein reiches Werk hinterlassen, wobei seinen Untersuchungen zum konfuzianischen Denken besondere Bedeutung zukommt. Der songmingzeitliche NeoKonfuzianismus ist Gegenstand seiner gewaltigen dreibändigen Studie Substantieller Herzgeist und substantielle Natur (Xinti yu xingti ⽫橼冯⿏橼),12 zu der später als vierter Band die Untersuchung Von Lu Xiangshan zu Liu Jishan (Cong Lu Xiangshan dao Liu Jishan ⽆映尉Ⱉ⇘∱唢Ⱉ)13 hinzu kam. Diese vier Bände haben nachhaltigen Einfluss auf die akademische Welt Taiwans und darüber hinaus ausgeübt und waren besonders hinsichtlich der Etablierung von drei Traditionen des Neo-Konfuzianismus enorm innovativ.14 Außerdem erwähnt werden sollten die 11 | Mou, Selbstbeschreibung, S. 128. 12 | Mou Zongsan: ⽫橼冯⿏橼 (Substantieller Herzgeist und substantielle Natur), Taipeh: Zhengzhong shuju 1968/69. Anmerkung des Übersetzers: Dieser besonders dichte Buchtitel, in dem bestimmte traditionelle Ausdrücke mit neuen, aus dem Dialog mit der westlichen Philosophie gewonnenen Gehalten verbunden werden, ist beinahe unübersetzbar und die hier vorgenommene Wiedergabe folglich nur eine grobe Annäherung. Besonders problematisch ist angesichts des Fehlens eines starken Substanzbegriffs in der chinesischen Tradition der Gebrauch des entsprechenden Adjektivs, das hier eher als Betonung von Signifikanz denn als ontologischer Begriff gelesen werden sollte, also ›das Substantielle‹ im Sinne dessen, was zählt und wichtig ist und worauf es primär ankommt. 13 | Mou Zongsan: ⽆映尉Ⱉ⇘∱唢Ⱉ (Von Lu Xiangshan zu Liu Jishan), Taipeh: Taiwan xuesheng shuju 1979. Das Werk wird zitiert unter dem Kürzel Lu Xiangshan. 14 | Anmerkung des Übersetzers: Die vor Mou Zongsan übliche Einteilung des song- und mingzeitlichen Neo-Konfuzianismus sah eine Unterscheidung von zwei maßgeblichen Traditionssträngen vor, die als »Schule des Prinzips (des geistigen Ordnungsmu-

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drei auf Vorlesungen in Hongkong und Taiwan basierenden Bände Die Besonderheit der chinesischen Philosophie (Zhongguo zhexue de tezhi ᷕ⚳⒚⬠䘬䈡岒),15 Neunzehn Vorlesungen zur chinesischen Philosophie (Zhongguo zhexue shijiu jiang ᷕ⚳⒚⬠⋩ ḅ嫃)16 und Vierzehn Vorlesungen zur Vermittlung von chinesischer und westlicher Philosophie (Zhongxi zhexue zhi huitong shisi jiang ᷕ大⒚⬠ᷳ㚫忂⋩⚃嫃).17 Mou Zongsans spätere Philosophie steht ganz im Zeichen Kants, wie bereits die Titel zweier zentraler Schriften anzeigen: Intellektuelle Anschauung und chinesische Philosophie (Zhi de zhijue yu zhongguo zhexue 㘢䘬䚜奢冯ᷕ⚳⒚⬠)18 und Erscheinung sters)« (lixue 䎮⬠) und »Schule des Herzgeistes« (xinxue ⽫⬠) bezeichnet wurden. Der maßgebliche Vertreter der ersten Richtung ist Zhu Xi (㛙䅡, 1130-1200), die zweite wird von Lu Xiangshan (映 尉Ⱉ, 1139-1193) und Wang Yangming (䌳春㖶, 1472-1529) vertreten. Mou Zongsan hat dieses Schema nicht nur differenziert, sondern auch die nach seiner Ansicht falsche Zuordnung einzelner Denker zu den jeweiligen Richtungen korrigiert. Das spektakulärste Ergebnis seiner Neuordnung des Kanons war die brandmarkende Bezeichnung von Zhu Xi als einem heterodoxen Konfuzianer, der maßgebliche Elemente des frühen Konfuzianismus verfälscht und eine Ethik der Heteronomie (im Sinne Kants) vertreten habe, während die konfuzianische Orthodoxie auf dem Gedanken ethischer Autonomie beruhe. Für Mou Zongsan ist die Korrektur dieser Verfälschungen ein zentrales Anliegen des modernen Neukonfuzianismus, bzw. genauer: Sie ist die Voraussetzung für eine Modernisierung der konfuzianischen Tradition und für einen wahrhaft modernen Konfuzianismus. 15 | Mou Zongsan: ᷕ⚳⒚⬠䘬䈡岒 (Die Besonderheit der chinesischen Philosophie), Taipeh: Taiwan xuesheng shuju 1963. Das Buch wird zitiert unter dem Kürzel Besonderheit. 16 | Mou Zongsan: ᷕ⚳⒚⬠⋩ḅ嫃 (Neunzehn Vorlesungen zur chinesischen Philosophie), Taipeh: Taiwan xuesheng shuju 1983. Das Werk wird zitiert unter dem Kürzel Neunzehn Vorlesungen. 17 | Mou Zongsan: ᷕ大⒚⬠ᷳ㚫忂⋩⚃嫃 (Vierzehn Vorlesungen zur Vermittlung von chinesischer und westlicher Philosophie), Taipeh: Taiwan xuesheng shuju 1990. 18 | Mou Zongsan: 㘢䘬䚜奢冯ᷕ⚳⒚⬠ (Intellektuelle Anschauung und Chinesische Philosophie) Taipeh: Taiwan shangwu yingshuguan 1971.

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und Ding an sich (Xianxiang yu wuzishen 䎦尉冯䈑冒幓).19 Mit Hilfe des Kantischen Grenzbegriffs der intellektuellen Anschauung20 versucht Mou hier die Spezifi k der drei chinesischen Traditionen Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus herauszuarbeiten und ein neues System einer kantianisierten konfuzianischen Philosophie zu etablieren. Im ersten Kapitel seines letzten großen Werkes Das höchste Gut (Yuan shan lun ⚻┬ 婾)21 präsentiert Mou Zongsan eine Auslegung von Mengzi 6A und übersetzt alle zwanzig Abschnitte des Kapitels ins moderne Chinesisch. Auf dieser Textgrundlage nimmt er dann einen instruktiven Vergleich zwischen konfuzianischem und Kantischem Menschenbild vor. Xu Fuguan schließlich teilt mit Tang Junyi und Mou Zongsan die persönliche Verstrickung in das Schicksal Chinas im 20. Jahrhundert, aber anders als seine beiden Mitstreiter hat er nach der akademischen Ausbildung in mittleren Jahren vor allem reichhaltige Erfahrung im diplomatischen, politischen und militärischen Bereich gesammelt.22 Nach seinem Wechsel 19 | Mou Zongsan: 䎦尉冯䈑冒幓 (Erscheinung und Ding an sich), Taipeh: Taiwan xuesheng shuju 1975. 20 | Anmerkung des Übersetzers: Zu ergänzen ist, dass sich hinter der ›intellektuellen Anschauung‹, von der Mou Zongsan spricht, eher eine Art von moralischer Intuition verbirgt, die für das konfuzianische Denken insbesondere in der an Menzius angelehnten Tradition zentrale Bedeutung besitzt und die nach Mou Zongsan auch für die anderen chinesischen Denkströmungen wichtig ist. Mit dem erkenntnistheoretischen Grenzbegriff der intellektuellen Anschauung bei Kant hat sie wenig gemein. Vgl. hierzu Stephan Schmidt: »›Der grosse Chinese von Königsberg‹ – Kants Rolle und Funktion im Kontext der Modernisierung konfuzianischen Denkens im 20. Jahrhundert«. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 33.1 (2008), S. 5-29. 21 | Mou Zongsan: ⚻┬婾 (Das höchste Gut), Taipeh: Taiwan xuesheng shuju 1985. Das Werk wird hier zitiert als Höchstes Gut. 22 | Anmerkung des Übersetzers: Xu Fuguan hat zunächst in seiner Heimatprovinz eine akademische Ausbildung erfahren, um dann zu weiterführenden Studien nach Japan zu gehen. Nach der japanischen Besetzung von Nordost-China Anfang der 30er Jahre wurde er allerdings aufgrund anti-japanischer Aktivitäten von seiner Universität verwiesen und schloss sich darauf hin dem chine-

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ins akademische Leben hat er diese Erfahrung stets reflektiert und in seine geisteswissenschaftliche Arbeit eingebracht – er sah sich aber zeitlebens eher als ein Macher, den es nicht in den philosophischen Elfenbeinturm zog, und dessen Aktivitäten in unmittelbarem Bezug standen zur Tragödie Chinas in seiner Zeit. Abgeneigt gegenüber bloß schöngeistiger Gelehrsamkeit, ging es ihm in seinen Studien zur chinesischen Geistesgeschichte darum, im Licht der Vergangenheit die Notlage der chinesischen Gegenwart zu spiegeln und sie in ihren Gründen zu verstehen. Wie auch Tang und Mou litt er zutiefst unter dem Abgleiten Chinas in Chaos und Bürgerkrieg und suchte nach Auswegen und neuen Perspektiven für die chinesische Kultur.23 Sein schriftliches Werk ist reich und bedeutend, das gilt für die früheren Untersuchungen Der Geist der chinesischen Kunst (Zhongguo yishu jingshen ᷕ⚳喅埻䱦䤆)24 und die Geschichte des chinesischen Menschenbildes: Die Vor-Qinzeit (Zhongguo renxing lun shi: xian qin pian ᷕ⚳Ṣ⿏婾⎚: ⃰䦎䭯)25 ebenso wie für seine spätere zweibändige Studie Geschichte des Denkens in

sischen Militär an, um den Kampf gegen die japanische Besatzung vorzubereiten. Nach dem Ende des Chinesisch-Japanischen Krieges 1945 verließ er die Armee wieder, in der er mittlerweile den Rang eines Generals inne hatte. Nach Tätigkeiten im politisch journalistischen Bereich zog er 1949 nach Hongkong und wurde erst 1961 nach seiner Umsiedelung nach Taiwan zum professionellen Akademiker. Seine erste Professur trat er mit 58 Jahren an, musste sie aufgrund seines streitbaren Naturells und seiner Unnachgiebigkeit aber bald wieder abgeben. Nach einer Zeit als freischaffender Autor ging er zurück nach Honkong, um am dortigen New Asia College zu unterrichten. 23 | Vgl. Chun-chieh Huang: »⼸⽑奨䘬⿅゛⎚㕡㱽婾⍲℞ ⮎嶸« (Methodologie und ihre Praxis in Xu Fuguans Geistesgeschichte). In ders.: 䪁⼴⎘䀋䘬㔁做冯⿅゛ (Erziehung und Denken in Nachkriegs-Taiwan), Taipeh: Dongda tushu gongsi 1992, S. 354. 24 | Xu Fuguan: ᷕ⚳喅埻䱦䤆 (Der Geist der chinesischen Kunst), Taipeh: Taiwan xuesheng shuju 1966. 25 | Xu Fuguan: ᷕ⚳Ṣ⿏婾⎚: ⃰䦎䭯 (Geschichte des chinesischen Menschenbildes: Die Vor-Qinzeit), Taipeh: Taiwan xuesheng shuju 1969. Das Buch wird hier zitiert unter dem Kürzel Menschenbild.

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der Hanzeit (Liang han sixiang shi ℑ㻊⿅゛⎚).26 Es sind die Forschungen zur Geistesgeschichte Chinas und insbesonderes des Konfuzianismus, mit denen Xu Fuguan sich einen Platz unter den großen chinesischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts erworben hat. Hinsichtlich der Ausrichtung ihres Denkens und ihres Problembewusstseins stellen wir also eine große Übereinstimmung zwischen den drei hier behandelten Denkern fest. Sie alle haben sich angesichts des Wandels, der Modernisierung und der damit einhergehenden Wirren in China um eine Wiederaufrichtung des moralisch humanistischen Geistes der Tradition bemüht. Xu Fuguan hat sich der gemeinsamen Arbeit im Rahmen der Zeitschrift Demokratische Kritik (Minzhu pinglun 㮹ᷣ 姽婾) später so erinnert: »Die Demokratische Kritik wurde seinerzeit vor allem von Qian Mu,27 Tang Junyi und Mou Zongsan betrieben und bemühte sich um eine Verbreitung der traditionellen Kultur Chinas. Mir ging es vor allem um die Demokratisierung, gleichzeitig aber auch um ein Bewahren der traditionellen Kultur. Daher kam ich im Verein mit Tang und Mou immer mehr dazu, mittels des moralisch humanistischen Geistes der chinesischen Kultur der demokratischen Politik einen Inhalt zu geben und das Konfliktverhältnis zwischen chinesischer und westlicher Kultur in ein Verhältnis der wechselseitigen Unterstützung und Annäherung (xiang zhu xiang ji 䚠≑䚠 ⌛) zu überführen. Meine Artikel bewegten sich mehr im Bereich der Politik, die von Tag und Mou eher im Bereich der Kultur.«28 26 | Xu Fuguan: ℑ㻊⿅゛⎚ (Geschichte des Denkens in der Hanzeit), Taipeh: Taiwan xuesheng shuju 1976. 27 | Anmerkung des Übersetzers: Qian Mu (拊䧮, 1895-1990), Geistesgeschichtler und eine der bedeutendsten intellektuellen Figuren Chinas im 20. Jahrhundert. Auch er floh 1949 nach Hongkong, lehrte am dortigen New Asia College und übersiedelte nach seiner Emeritierung nach Taiwan. 28 | Zitiert nach einer von Xiao Xinyi (唕ᾉ佑) herausgegebenen Textsammlung: ₺⭞㓧㱣⿅゛冯㮹ᷣ冒䓙Ṣ㪲 (Das politische Denken des Konfuzianismus und die Freiheit von Demokratie und Menschenrechten), Taipeh: Taiwan xuesheng shuju 1988, S. 314. Die Schrift wird hier zitiert unter dem Kürzel Politisches Denken.

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Was Xu Fuguan hier den »moralisch humanistischen Geist« (daode renwen jingshen 忻⽟Ṣ㔯䱦䤆) nennt, lässt sich als gemeinsamer Fokus des Denkens von ihm, Tang Junyi und Mou Zongsan identifizieren. Diesem Fokus verleiht auch das berühmte Manifest von 195829 Ausdruck. Li Zehou (㛶㽌⍂) schrieb dazu: »Der moderne Neukonfuzianismus behandelt zwar vorwiegend philosophische Themen, doch teilt er mit anderen Schulen der gegenwärtigen Philosophie Chinas das Interesse am künftigen Weg des chinesischen Volkes, an der Frage, wie sich die Tradition Chinas modernisieren lässt und wie China den vom Westen kommenden Ideen und Werten – Demokratie, Freiheit, Wissenschaft usw. – begegnen soll. Die Konfuzianer teilen also mit anderen die tiefe Besorgnis um grundlegende soziale und kulturelle Probleme.«30

Aus diesem Zitat wird die gemeinsame Orientierung unserer drei Denker noch einmal deutlich. Gleichwohl dürfen darüber die Unterschiede nicht vergessen werden, die sich zumindest in zweierlei Hinsicht auftun. 1. Was den Forschungsansatz betriff t, so haben wir gesehen, dass Tang Junyi und Mou Zongsan von der Philosophiegeschichte zur Philosophie streben und sich dann insbesondere um eine Wiederaufrichtung des konfuzianischen Denkens be29 | Anmerkung des Übersetzers: Gemeint ist das von Tang Junyi verfasste und von Xu Fuguan, Mou Zongsan und einem weiteren Mitstreiter, Zhang Junmai (⻝⏃⊙, 1887-1969), unterzeichnete Manifest, dessen englischer Titel lautet »A Manifesto on the Reappraisal of Chinese Culture«, es ist abgedruckt in Tang Junyi: Essays on Chinese Philosophy and Culture, Taipeh: Student Book Co., (o.J.), S. 492-562. Mit diesem Manifest trat aus dem unübersichtlichen Kontext konfuzianisch inspirierter Denker eine identifizierbare Gruppe mit relativ einheitlicher Programmatik hervor, deren Mitglieder später als »moderne Neukonfuzianer« (dangdai xinrujia 䔞ẋ㕘₺⭞) bezeichnet wurden. Der Inhalt wird weiter unten noch einmal näher erläutert. 30 | Li Zehou: ᷕ⚳䎦ẋ⿅゛⎚婾 (Geschichte des modernen chinesischen Denkens), Taipeh: Sanmin shuju 1966, S. 333.

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mühen. Tang bedient sich dabei vor allem der konzeptionellen Mittel idealistischer Philosophie, Mou fasst seine Rekonstruktion des Konfuzianismus in Kantische Begriffe. Im Übergang von der Philosophiegeschichte zur Philosophie wird die Erforschung der Geschichte gleichsam zum Mittel bei der Errichtung eines eigenen philosophischen Systems – ein Ansatz der Vor- und Nachteile hat. Die Vorteile liegen im Bewusstsein für das eigene von der Tradition geformte Vorverständnis philosophischer Fragen31 sowie der Möglichkeit, dem konfuzianischen Denken neue Inhalte und damit neue Lebendigkeit zu verleihen. Die Nachteile ergeben sich freilich genau daraus: Unweigerlich wird sich die subjektive Auslegung (zhuguan jieshi ᷣ奨 妋慳) über das objektive Verstehen (keguan lijie ⭊奨䎮妋) hinwegsetzen (ling jia ⅴ楽), und es scheint, dass Mou Zongsan in dieser Hinsicht mangelnder Objektivität einige Einwände vor allem gegen die späten Werke seines Mitstreiters Tang Junyi hatte32 – genau diese subjektive Auslegung, die sich bei Tang Junyi zeigt, kann dann aber wiederum zum Gegenstand einer geistesgeschichtlichen Analyse gemacht werden. Der Schwerpunkt von Xu Fuguan liegt demgegenüber stär31 | Anmerkung des Übersetzers: Der Autor fasst dieses hermeneutische Bewusstsein hier in den von Lu Xiangshan (映尉 Ⱉ, 1139-1193) geprägten und am Ende des zweiten Kapitels bereits erwähnten traditionellen Slogan »Die sechs Klassiker legen mich aus« (liu jing zhu wo ℕ䴻姣ㆹ), der Kehrseite und Komplement zur (hier nicht zitierten) Formel »Ich lege die sechs Klassiker aus« (wo zhu liu jing ㆹ姣ℕ䴻) darstellt. 32 | Siehe Mou Zongsan, Neunzehn Vorlesungen, S. 408. Anmerkung des Übersetzers: Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Autor sich hier auf Mou Zongsan beruft, um Tang Junyi des Hineinlesens von eigenen Standpunkten in die Texte der Tradition zu zeihen, denn diese Tendenz ist bei Mou selbst mindestens ebenso stark ausgeprägt, eher sogar noch stärker. Das Zitat aus den Vorlesungen Mous zeigt zudem, dass die Pointe von dessen Kritik eher die mangelnde Gründlichkeit in der gedanklichen Durchführung von Tangs späten Studien ist, welche Mou wiederum mit Überbeanspruchung durch administrative Aufgaben (ban shi 彎ḳ) erklärt. Anders gesagt: Mou kritisiert nicht Tangs Ansatz, sondern die Ausführung, dies allerdings durchaus mit Blick auf das ›objektive Verstehen‹.

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ker auf der geistesgeschichtlichen Forschung selbst. Ihm geht es zunächst einmal darum, die Entfaltung eines Gedankens in seiner geschichtlichen Entwicklung zu verstehen und durch den Vergleich von historischen Epochen – d.h. von den Erscheinungsformen eines Gedankens in verschiedenen Epochen – die Spezifi k eines Gedankens zu erfassen. Die beiden Momente der Entwicklung und des Vergleichs bedeuten also, konfuzianisches Denkens als eingebettet in einen geschichtlichen Gesamtkontext (lishi de zhengtixing mailuo 㬟⎚䘬㔜橼⿏傰䴉) zu verstehen und nicht von diesem Kontext zu abstrahieren, um eine Idee für sich und in ihrer Eigenständigkeit zu behandeln. Allgemein gesprochen, neigen Tang und Mou dazu, philosophische Begriffe als selbständige Entitäten zu betrachten und sie außerhalb ihres politischen und gesellschaftlichen Kontextes zu behandeln, während Xu Fuguan sie stets im konkreten Zusammenhang thematisiert und analysiert.33 2. Ein zweiter wichtiger Unterschied zeigt sich hinsichtlich des jeweiligen Verständnisses des Dao (忻) bei Tang und Mou einerseits und Xu Fuguan andererseits. Für Tang und Mou handelt es sich beim Dao vor allem um ein metaphysisches Prinzip, das für die Beständigkeit des Kosmos insgesamt steht. Xu Fuguan dagegen betont eher den Normcharakter des Dao, von welcher die gesellschaftliche und politische Realität durchdrungen ( jinrun 㴠㼌) ist. Dieses Dao ist also konkret situiert, es hat als Begriff auch politische und ökonomische Inhalte, es ist mit konkreten menschlichen Tätigkeiten verbunden und im alltäglichen Leben verwurzelt. Das Dao bei Tang und Mou ist grundsätzlich ein ontologischer Begriff und wird entsprechend reflektiert. Ich muss aber hinzufügen, dass diese Darstellung den Unterschied etwas überbetont, denn als Teil einer moralischen Metaphysik besitzt das Dao bei Tang Junyi und Mou Zongsan auch norma33 | Zu Xu Fuguans Ansatz der Kontextualisierung vgl.

Chun-chieh Huang: »䔞ẋ㬟⎚嬲⯨ᶳ䘬₺⭞ℐ㗗⬠: ⼸⽑奨⮵⎌ ℠₺⬠䘬㕘妋慳« (Konfuzianische Hermeneutik im gegenwärtigen geschichtlichen Wandel: Xu Fuguans neue Auslegung des antiken Konfuzianismus). In: ᶾ嬲佌橼冯ᾳṢ: 䫔ᶨ⯮ℐ⚳㬟⎚⬠ ⬠埻妶婾㚫婾㔯普 (Welt im Wandel, Gemeinschaft und Individuum: Tagungsband der ersten gesamtchinesischen Historiker-Konferenz), Taipeh: Taiwan daxue lishixi 1996, S. 383-424.

5.2 X U F UGUAN , TANG J UNYI

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tiven Charakter; Unterschiede in der Ausformulierung des Begriffs bleiben aber bestehen. Im folgenden Abschnitt wird zu untersuchen sein, wie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen unseren drei Denkern sich auswirken in ihren jeweiligen Beschäftigungen mit dem Buch Mengzi.

5.3 Herzgeist und menschliche Natur bei Menzius: Neue Auslegungen

5.3.1 Tang Junyi Im Großen und Ganzen steht die Mengzi-Auslegung von Tang Junyi in der Tradition des song- und mingzeitlichen Neo-Konfuzianismus und versucht vom Standpunkt der »HerzgeistSchule« (xin xue ⽫⬠) aus die wesentlichen Gehalte des Mengzi zu entfalten. Seine Position lässt sich über folgende Stellungnahmen charakerisieren: 1. Menzius gehört zur Tradition der Herzgeist-Schule, und sein Begriff ›Herzgeist‹ bezieht sich auf den ursprünglichen schlichten (supu 䳈㧠) Herzgeist, den jeder Mensch von Natur aus besitzt. Im ersten Band seiner oben erwähnten Darstellung der chinesischen Philosophie schreibt Tang: »Menzius thematisiert den Herzgeist von der Tatsache seiner direkten Responsivität (ganying デㅱ) auf Menschen und Dinge her. Es handelt sich um den Herzgeist, der sich direkt im Kontakt mit Menschen und Dingen manifestiert (chengxian ⏰䎦), nicht um das Organ einer nach innen gewendeten Reflexion.«34 Wir sehen aus diesem Zitat, dass Tang Junyi Menzius in die Herzgeist-Tradition einordnet und besonders die Spontanität (zifaxing 冒䘤⿏) des Herzgeistes betont. Geistesgeschichtlich stellt er sich damit an die Seite von Wang Yangming und gegen Zhu Xi, d.h. er thema34 | Tang Junyi, Darstellung: Einführung, S. 82.

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tisiert den Herzgeist eher in seinem Zusammenhang mit der menschlichen Natur (xing ⿏) und weniger in seiner Verbindung zur Ordnung des umfassenden kosmischen Prozessverlaufs, kurz des »Prinzips« oder »geistigen Ordnungsmusters« (li 䎮). 2. Die menzianische Tradition bemüht sich vor allem darum, über den moralischen Willen des Herzgeistes die Person aufzurichten (li ren 䩳Ṣ), d.h. von dort her den Kultivierungsweg einzuschlagen.35 Das Aufrichten der Person ist der entscheidende Ansatzpunkt, und Tang Junyi betont die Dynamik der moralischen Kultivierung, die sich auf dem »Weg der Aufrichtung des Menschen« (li ren zhi dao 䩳Ṣᷳ忻) vollzieht. Die moralische Natur des Menschen erschließt sich in bestimmten Willensregungen innerhalb des menschlichen Herzgeistes, d.h. sie wird zuerst spontan erfahren und dann durch beständige Kultivierung entwickelt. Wiederum war es innerhalb der Tradition des menzianischen Denkens Wang Yangming, der dieser Deutung zum Durchbruch verholfen hat, in deren Tradition auch Tang Junyi steht. 3. Menzius’ Thematisierung des menschlichen Herzgeistes erfolgt im Modus einer Diskussion dessen, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Diese Diskussion zielt aber nicht auf eine Unterscheidung von Gattungen (lei 栆), sondern versteht sich als Anleitung zur Erlangung von menschlicher Selbstbewusstheit (zi jue 冒奢). Tang schreibt: »Das Ziel von Menzius’ Unterscheidung ist nicht die Aufstellung von diversen Gattungen, in welche sich alle Dinge objektiv einteilen lassen. Durch die Unterscheidung von Mensch und Tier als nicht gattungsgleich (bu tong lei ᶵ⎴栆), will Menzius den Mensch zur Selbsterkenntnis darüber führen, was ihn zum Menschen macht (shi ren zi zhi ren zhi suoyi wei ren ἧṢ冒䞍Ṣᷳ㇨ẍ䁢Ṣ).«36

Nicht objektives Wissen um die eigene Gattungszugehörigkeit, sondern die Erlangung von Selbstbewusstheit hinsichtlich der eigenen moralischen Natur ist das, was Menzius vermitteln 35 | Tang Junyi, Darstellung: Weg, S. 121. 36 | Ebd., S. 216.

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möchte. Ebenso, betont Tang, verhält es sich, wenn Menzius schreibt, jeder Mensch sei mit dem Ideal der vollendet kultivierten Persönlichkeit (sheng ren 俾Ṣ) von gleicher Gattung (tong lei ⎴栆). Auch hier handelt es sich nicht um den westlichen (biologischen) Gattungsbegriff, sondern um die konkrete Betonung einer Fähigkeit, über die »Ausschöpfung des Herzgeistes zur Bewusstheit der eigenen Natur« ( jin xin zhi xing 䚉⽫䞍⿏) und auf diesem Weg zur Realisierung eines moralischen Idealzustandes (sheng ren jingjie 俾Ṣ⠫䓴) zu kommen. Tang Junyi, und darin liegt die Originalität seiner Deutung, liest die entsprechenden Stellen im Buch Mengzi also nicht als objektiven anthropologischen Diskurs, sondern als Aufruf und Ermunterung an das je eigene Selbst zur bewussten Entfaltung der eigenen moralischen Natur. Unter den hier aufgelisteteten drei Stellungnahmen von Tang Junyi zum Buch Mengzi nimmt die erste eine Schlüsselstellung ein, da sie die grundsätzliche Richtung seiner Auslegung bestimmt. Mit ihr bestätigt Tang, dass die gesamte Reflexion über die menschliche Natur bei Menzius von der spontanen selbstbewegten (zifa zidong 冒䘤冒≽) Dynamik des Herzgeistes her erfolgt, dessen inneres Aufblühen (xing 冰) die Aufrichtung des gesamten Menschen initiiert und zu einer Selbstbewusstheit der moralischen Natur und d.h. der eigenen Menschlichkeit führt. Wie und warum kommt Tang Junyi nun zu diesem entschiedenen Anschluss an die Tradition der Herzgeist-Schule? Diese Frage kann nur von der Anerkennung der Besonderheiten des chinesischen Denkens durch die modernen Neukonfuzianer her angegangen werden. So gut wie alle Vertreter dieser Denkströmung in Honkong und Taiwan sind sich einig in der nachdrücklichen Betonung dieser Besonderheiten. Xiong Shili (䄲⋩≃, 1885-1968)37 in seiner Untersuchung Ursprünglicher Konfuzianismus (Yuan ru ⍇₺) nennt als zwei besondere Charakteristiken des Denkens in China den ontologischen Grundsatz der »Nicht-Getrenntheit« (bu er ᶵḴ) von Mensch 37 | Anmerkung des Übersetzers: Der Lehrer von Mou Zongsan und Tang Junyi und damit der einflussreichste Vertreter der sogenannten ›ersten Generation‹ des modernen Neukonfuzianismus. Die drei hier behandelten Denker werden allgemein der zweiten Generation zugerechnet.

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und Himmel und den kosmologischen Grundsatz der NichtGetrenntheit von Herzgeist und Dingen und führt beide auf ein vom Buch der Wandlungen (Yi jing 㖻䴻) begründetes philosophisches Weltbild zurück.38 Im Manifest von 195839 betonen Zhang Junmai, Xu Fuguan, Tang Junyi und Mou Zongsan ebenfalls mit Nachdruck die grundsätzlichen Unterschiede von westlicher und chinesischer Kultur und sagen von letzterer, ihr gehe es vorwiegend um eine »Lehre von der Aufrichtung des Menschen und der Realisierung seiner höchsten Möglichkeiten« (li ren ji zhi xue 䩳Ṣ㤝ᷳ⬠) und um das moralische Subjekt als grundlegendes Erfordernis menschlicher Existenz. Und selbst der sonst mit den Neu-Konfuzianern oft über Kreuz liegende Qian Mu nimmt in dieser Frage einen ganz ähnlichen Standpunkt ein. Dies ist also der Kontext von Tang Junyis Bemühen in seiner Darstellung der chinesischen Philosophie, die Besonderheiten der chinesischen Philosophie möglichst klar herauszustellen. Er kritisiert in diesem Zusammenhang zwei Ansätze, die sein Bemühen durchkreuzen: Zum einen die bloß äußerliche (wai zai ⢾⛐) historische Rekonstruktion von einzelnen Texten und Denkern, zum anderen die ganz am Vorbild der westlichen Philosophie orientierte vergleichende Darstellung. Auf beiden Wegen lässt sich Tangs Ansicht nach das eigentliche Anliegen der

38 | Vgl. Xiong Shili, ⍇₺ (Ursprünglicher Konfuzianismus), Tai-

peh: Wenming chubanshe yingyin 1971, S. 191. 39 | Anmerkung des Übersetzers: Der Autor verweist hier auf die chinesische Version, deren kompletter Titel 䁢ᷕ⚳㔯⊾㔔⏲ᶾ 䓴Ṣ⢓⭋妨: ㆹᾹ⮵ᷕ⚳⬠埻䞼䨞⍲ᷕ⚳㔯⊾冯ᶾ䓴㔯⊾⇵徼ᷳℙ ⎴娵嬀 in der Übersetzung einen unfreiwillig komischen Beiklang erhält: Manifest über die chinesische Kultur zur respektvollen Bekanntmachung an die Menschen der Welt: Unser gemeinsamer Standpunkt zur akademischen Erforschung Chinas und zur künftigen Perspektive der chinesischen Kultur und der Weltkultur. In dem Dokument wenden sich die Unterzeichner gegen eine nach ihrer Auffassung verzerrende Darstellung der chinesischen Kultur in der westlichen Sinologie und skizzieren, worin der Beitrag Chinas zur globalen Kultur bestehen könnte. Die Veröffentlichung des Manifests erfolgte in der erwähnten Zeitschrift Demokratische Kritik (Minzhu pinglun 㮹ᷣ姽婾), Jg. 9, Nr. 1 (1958), S. 2-21.

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Denker des chinesischen Altertums nicht erschließen, 40 wobei er insbesondere am zweiten und zu seiner Zeit weit verbreiteten Weg eingehend Kritik übt. Für Tang führt die Orientierung am westlichen Vorbild in die Irre, weil sie eine bestimmte Methodik und Ordnung des philosophischen Diskurses voraussetzt, welche der chinesischen Tradition fremd ist. Forscher, die diesen Weg verfolgen, fragen nach der Metaphysik oder der Erkenntnistheorie der chinesischen Philosophie, weil sie diese für grundlegend halten und glauben, sich erst nach Klärung der Grundlagen schließlich der Philosophie des menschlichen Lebens (rensheng zhexue Ṣ䓇⒚⬠) zuwenden zu können – ein Vorgehen, das dem chinesischen Denken nach Tang ganz unangemessen ist. Für ihn ist der entscheidende Ansatzpunkt der menschliche Herzgeist, und zwar ist dieser der Ansatzpunkt nicht eines äußerlichen theoretischen Diskurses, sondern des konkreten praktischen Bemühens, dem eigenen Herzgeist mit dem »Herzgeist der Alten« (gu ren zhi xin ⎌Ṣᷳ⽫), d.h. der großen Denker der Tradition zu verschmelzen. Tang schreibt: »Wenn ich heute danach verlange, die Gedanken der Alten wirklich zu verstehen (zheng mian liao jie 㬋朊Ḯ妋), muss ich meine eigenen Gedanken mit denen der Alten verschmelzen (cou po 㷲 㱲) und muss versuchen, meinen Herzgeist direkt mit ihrem zu verbinden, so als gäbe es keinen geschichtlichen Graben zwischen damals und heute. Wenn mich danach verlangt, die Gedanken der Alten zu verstehen, besteht die größte Aufgabe darin, eine direkte Verbindung zu ihrem Herzgeist herzustellen, und dazu muss ich verstehen, was sie in ihrem Herzgeist über den Herzgeist selbst denken (Ḯ妋⎌Ṣᷳ⽫ᷕ斄㕤ˬ⽫˭冒幓ᷳ⿅゛).« 41 40 | Siehe Tang Junyi, Darstellung: Einführung, S. 72f. 41 | Ebd., Anmerkung des Übersetzers: Das Zitat sieht zunächst nach einer naiven Missachtung bestimmter hermeneutischer Grundsätze aus, was daran liegt, dass Tang hier die Sprache der Hermeneutik spricht, aber nicht im herkömmlichen Paradigma der Textauslegung operiert. Sein ›Verstehen‹ ist kein kognitiver Akt, sondern ein die gesamte Person involvierendes Bemühen, die Inhalte der klassischen Texte so aufzunehmen, dass sie einen Erfahrungscharakter gewinnen und für das eigene Selbstbild tragend werden. Was die Alten auf der Grundlage ihrer überlegenen moralischen Kultivierung über den Herzgeist sagen, gilt es zu ver-

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Vom Standpunkt der chinesischen Geistesgeschichte zeigt sich hier, wie Tang Junyi an die Tradition Wang Yangmings anschließt, Xiong Shili nahesteht, aber auf Distanz zu Zhu Xi geht.

5.3.2 Mou Zongsan Es ist Mou Zongsan, der innerhalb des modernen Neukonfuzianismus den größten Beitrag zur Erforschung der menzianischen Herzgeist-Lehre geleistet hat. Sein Standpunkt wird bereits in den 1963 erstmals publizierten Vorlesungen über Die Besonderheit der chinesischen Philosophie in Umrissen deutlich, nimmt in den Untersuchungen zum song-mingzeitlichen Neo-Konfuzianismus Gestalt an und findet schließlich in Das höchste Gut von 1985 in der Auslegung von Mengzi 6A seinen reifsten Ausdruck. Vom Standpunkt der Geschichte der Mengzi-Forschung sind drei von Mou Zongsan vertretene Thesen besonders erwähnenswert: 1. Das zentrale Thema der chinesischen Philosophie ist die Frage nach der (moralischen) Natur des Menschen, und die konfuzianische Orthodoxie hat hierzu zwei Standpunkte eingenommen: Zum einen vertritt sie im Gefolge der Doktrin der Mitte (Zhong yong ᷕ⹠) und der Kommentare des Buches der Wandlungen (Yi zhuan 㖻⁛) einen kosmologischen Ansatz, der die menschliche Natur im untrennbaren Zusammenhang mit dem Himmel bzw. dem Mandat des Himmels sieht. Zum anderen Vertritt sie im Gefolge des Mengzi einen moralischen Ansatz, der die Innerlichkeit der Mitmenschlichkeit betont, d.h. der die moralischen Anlagen als untrennbaren Teil der menschlichen

stehen als den Schlüssel, der mir persönlich den Zugang zu meinem Herzgeist und damit zum Kern meiner Person eröff net. Das Bemühen um Verstehen in diesem Sinne tilgt den historischen Abstand zwischen Interpret (Schüler) und Text (Lehrer). Es versteht sich aber von selbst, dass ein solcher Ansatz den intakten Glauben an die Überlegenheit der Alten voraussetzt. Dieser Glaube, könnte man sagen, weist die modernen Neukonfuzianer als Konfuzianer aus.

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Natur betrachtet. Zwischen diesen beiden Ansätzen besteht kein Gegensatz, sie lassen sich miteinander vereinen. 42 2. Der Herzgeist steht innerhalb der menzianischen Tradition für die moralische Subjektivität (daode zhutixing 忻⽟ᷣ橼⿏) des Menschen. Diese muss »sich aufstellen« (zhan qi lai 䪁崟 Ἦ), d.h. sich im Handeln Ausdruck und Geltung verschaffen und damit den ganzen Menschen aufrichten. Wenn dies nicht geschieht, so Mou, »dann haben Wissenschaft, Moral, Religion und Kunst, dann hat alles, die gesamte Kultur keinen Wert. Dies ist der Kern des chinesischen Denkens, und deshalb ist Menzius’ Lehre vom Herzgeist und der menschlichen Natur dessen orthodoxer Traditionsstrang (zheng zong 㬋⬿).«43 In seinem Buch Von Lu Xiangshan zu Liu Jishan entwickelt Mou diesen Gedanken einen Schritt weiter und unterstreicht Menzius’ Gedanken der Innerlichkeit der moralischen Natur, d.h. er betont, dass Mitmenschlichkeit und Aufrichtigkeit 44 (ren yi ṩ佑) – stellvertretend genannt für die moralischen Anlagen des Menschen – sich im menschlichen Herzgeist befinden und sich von selbst entfalten (zi fa 冒䘤): »Mitmenschlichkeit und Aufrichtigkeit sind die spontane Selbstentfaltung des Herzgeistes.« 45 Das ist das, was Menzius den »ursprünglichen Herzgeist« (ben xin 㛔⽫) nennt und was jeder Mensch unabhängig von Herkunft und Erziehung immer schon hat, was seine Natur und Menschlichkeit ausmacht. Mou nennt es die »innere Moralität« (neizai daodexing ℏ⛐忻⽟⿏). 46

42 | Siehe Mou Zongsan, Besonderheit, hier angeführt nach der dritten Auflage, 1965, S. 52. 43 | Ebd., S. 66f. 44 | Anmerkung des Übersetzers: Ich übersetze den zweiten Ausdruck Yi (佑) hier mit »Aufrichtigkeit«, weil es an dieser Stelle um eine die persönliche Einstellung eines Menschen handelt, der seine innere Moralität kultivieren muss. In politischen Zusammenhängen kann derselbe Ausdruck häufig auch mit »Gerechtigkeit« übersetzt werden, was ich dann an einigen Stellen auch tue. Vgl. die entsprechende Begriffserklärung im angehängten Glossar zentraler Begriffe. 45 | Mou Zongsan, Lu Xiangshan, S. 216. 46 | Ebd., S. 217.

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3. Was mit dem neokonfuzianischen Motto »der Herzgeist entspricht dem Prinzip/geistigen Ordnungsmuster« (xin ji li ⽫⌛ 䎮) gemeint ist, lässt sich in moderner Diktion als »Selbstgesetzgebung« (zi wo li fa xing 冒ㆹ䩳㱽⿏)47bezeichnen, welche der menschliche Herzgeist ausübt und welche die fundamentale Tätigkeit des Herzgeistes darstellt. Diese Tätigkeit beruht auf der von Mou Zongsan in Anlehnung an Kant als »intellektuelle Anschauung« (zhi de zhijue 㘢䘬䚜奢) bezeichneten Intuition, die zugleich die objektive Grundlage der Moral ist. Mit dieser Interpretation lässt sich, so Mou, »der Kantische Begriff des Gewissens (liang xin 列⽫) erhöhen und mit der Vernunft vereinen« (ti shang lai er yu lixing rong yu yi ㍸ᶲἮ侴冯䎮⿏圵㕤 ᶨ), d.h. in seiner Objektivität ausweisen. 48 Wie Tang steht auch Mou mit seinen hier vorgestellten The47 | Anmerkung des Übersetzers: Hierbei handelt es sich natürlich um eine Anlehnung an den Kantischen Begriff der ›Autonomie‹. Da der Autor aber nicht Mou Zongsans Übersetzung des Autonomie-Begriffs, nämlich 冒⼳ (zi lü) benutzt, wähle auch ich den terminologisch weniger vorgeprägten Ausdruck. 48 | Vgl. Mou Zongsan, Höchstes Gut, S. 31. Anmerkung des Übersetzers: Die Übersetzung des Kantischen Gewissensbegriffs in das konfuzianisch vorgeprägte liang xin (列⽫) – wörtlich »der gute Herzgeist« – enthüllt beispielhaft die problematische Grundlage von Mous Anverwandlung Kantischer Philosophie: Von den konfuzianischen Ausdrücken wird behauptet, dass sie die Unterscheidungen der Kantischen Begriffe je schon in sich tragen, während Kant dafür kritisiert wird, nicht den vollen Glaubensinhalt (die Möglichkeit moralischer Perfektion und das Maximalprogramm eines harmonischen Kosmos) des Konfuzianismus in seiner Philosophie verteidigt zu haben – was freilich innerhalb der Grenzziehungen des Kritizismus gar nicht möglich wäre. Anders formuliert: Mou behauptet die Möglichkeit einer konfuzianischen Korrektur Kants, die jedoch – wenn man Mou wörtlich nimmt – die Prämissen der kritischen Philosophie negiert. In sehr ausführlicher, wenn auch für Nicht-Spezialisten kaum verständlicher Form hat dies der Leipziger Sinologe Olf Lehmann in seiner Dissertation herausgearbeitet. Olf Lehmann: Zur moralmetaphysischen Grundlegung einer konfuzianischen Moderne – ›Philosophisierung‹ der Tradition und ›Konfuzianisierung‹ der Auf klärung bei Mou Zongsan, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2003.

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sen in der Tradition der Herzgeist-Schule, differenziert und vertieft die Interpretation aber deutlich durch seine konzeptionellen Anleihen bei Kant, insbesondere im Menzius-Kapitel von Das höchste Gut. Seine Deutung beruht auf einer intimen Kenntnis des Mengzi und des gesamten gedanklichen Kontextes der chinesischen Klassiker. Seine Textkenntnis versetzt ihn in die Lage, einen neuartigen theoretischen Ansatz zu entwickeln und die bisher nicht gesehenen Gehalte alter Texte mittels neuer Begriffe ans Licht zu bringen.

5.3.3 Xu Fuguan Unter den modernen konfuzianischen Gelehrten gehört Xu Fuguan zu denen, die sich relativ wenig mit dem Buch Mengzi beschäftigt haben. Seine Interpretation findet sich vor allem im sechsten Kapitel seines Buches über Die Geschichte des chinesischen Menschenbildes sowie in zwei separaten Aufsätzen, und sie reflektiert insbesondere den Zusammenhang von moralischer Kultivierung (neisheng ℏ俾) und politischem Handeln (waiwang ⢾䌳) bei Menzius, worin sich seine Auslegung also von derjenigen Tang Junyis und Mou Zongsans unterscheidet. Xu betont erstens, dass Menzius’ Lehre von der moralischen Kultivierung das Ergebnis einer langen Geschichte chinesischen Denkens ist und dass zweitens moralische Kultivierung und politisches Handeln bei Menzius zwei Seiten einer Sache sind, die sich durch sein gesamtes Denken zieht. Das im Vergleich zu Tang und Mou andere Bild, das Xu Fuguan von Menzius zeichnet, belegt die innere Vielgestalt der neukonfuzianischen Denkströmung. Vom Blickwinkel der Geschichte des menzianischen Denkens verdienen folgende Aspekte von Xus Auslegung Erwähnung: 1. Menzius’ Lehre von der ursprünglich (d.h. gemäß ihren Anlagen) guten Natur des Menschen (xing shan shuo ⿏┬婒) ist sein bedeutendster Beitrag zur chinesischen Kultur, der jedoch eine lange Vorgeschichte besitzt, welcher die Auslegungen von Tang und Mou keine Beachtung schenken. Xu Fuguan betont dagegen, dass es in den frühesten Epochen der chinesischen Kultur bereits einen humanistischen Geist (renwen jingshen Ṣ

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㔯䱦䤆) gegeben habe, dass dieser seine Handlungsanleitungen aber eher aus der Beobachtung von praktischem Handeln und dessen Folgen gewonnen habe. Durch Konfuzius sei dann eine Reflexion über die menschliche Natur angestoßen worden, die menschliches Handeln stärker im sozialen, politischen und kosmischen Kontext betrachtet habe. Im Satz aus der Doktrin der Mitte, die menschliche Natur sei vom Himmel verliehen und was diese Natur anleite, sei der Weg (dao 忻), sieht Xu den Grundsatz von der guten Natur des Menschen bereits impliziert. Erst Menzius habe dies aber klar als Prinzip formuliert und damit den Weg gewiesen, sich der eigenen guten Natur, die sich in den moralischen Anlagen des Herzgeistes zeigt, durch Introspektion zu vergewissern. Xu zieht daraus einen Schluss die allgemeine Denkentwicklung Chinas betreffend, welche sich von oben nach unten und von außen nach innen vollziehe, um sich dann vom Nukleus des menschlichen Herzgeistes wieder nach oben und außen zu richten, also politische und kosmologische Zusammehänge zu thematisieren. 49 Die hier skizzierte Auslegung des menzianischen Gedankens von der guten menschlichen Natur durch Xu Fuguan ist besonders hinsichtlich ihrer historischen Perspektive originell und ist damit ein Ausdruck von Xus geistesgeschichtlicher Methodologie. Er vertritt einen methodologischen Holismus (㔜橼婾) und betrachtet einzelne Phänomene stets in ihrem Kontext, betrachtet sie also nicht als isolierte Dinge, sondern als Teile einer historischen Entwicklung. Bestimmte Ideen und Standpunkte haben für ihn einen Hintergrund, der mitbetrachtet werden muss, um ihren Sinn und ihre Bedeutung zu verstehen. Dies ist mit dem oben bereits erwähnten Stichwort der Kontextualisierung (mailuohua 傰䴉⊾) gemeint. In seinen Studien zur Geistesgeschichte der Hanzeit ist dieses Bemühen um Kontextualisierung besonders deutlich: Der gelehrte Diskurs wird stets im sozialen und politischen Kontext der Zeit betrachtet. Für Xu Fuguan ist Geschichte ein Zusammenhang aus Gedanken und Ideen sowie dem Blut und den Tränen tatsächlicher Auseinandersetzungen und Kämpfe. Für Tang Junyi und Mou Zongsan hingegen ist Geschichte letztlich vor allem die Entfaltung des ewigen »himmlischen Weges« (tian dao ⣑ 忻) im Bereich menschlichen Lebens. Wenngleich alle drei zur 49 | Vgl. Xu Fuguan, Menschenbild, S. 161-164.

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Schule des modernen Neukonfuzianismus gehören, bestehen zwischen ihren Ideen doch erhebliche Unterschiede. Weil Xu Fuguan stets die historischen Umstände betrachtet, aus denen ein Gedanke hervorgeht, kann er den Zusammenhang aufzeigen, der Menzius’ Doktrin von der guten menschlichen Natur mit Konfuzius’ Denken und mit den kosmologischen Spekulationen der Doktrin der Mitte verbindet.50 Xu Fuguans Auslegung der menzianischen Lehre von der guten menschlichen Natur im weit gespannten zeitlichen Rahmen der zhouzeitlichen Kultur51 steht in Übereinstimmung mit seiner Interpretation des Konfuzianismus der frühen kanonischen Schriften (gudian ruxue ⎌℠₺⬠). Im Zentrum steht seine Diagnose eines konfuzianischen »Sorgensbewusstseins« (youhuan yishi ㄪかシ嬀), das im Übergang von der Shang- zur Zhouzeit aufkommt und sich in den kanonischen Schriften des Konfuzianismus niederschlägt. Dessen zentrale Begriffe wie »Kindespietät« (xiao ⬅), »Mitmenschlichkeit« (ren ṩ) und die »Riten/Bahnen angemessenen Verhaltens« (li 䥖) sind in ihrer Anwendung auf Familie, Gesellschaft und Politik Ausdruck dieses Sorgensbewusstseins, d.h. sie benennen die Bereiche, denen die vorrangige Aufmerksamkeit der konfuzianischen Denker gilt, und die Probleme, welche der Konfuzianismus angehen will, für die er sich also verantwortlich fühlt. Nebenbei: Ein solches Sorgensbewusstsein in Bezug auf das Problem der Demokratie in China wäre eine Haltung, die heutige chinesische Intellektuelle versuchen sollten zu entwickeln. Xu Fuguan seinerseits positioniert den Konfuzianismus der frühen Schriften einerseits im historischen Kontext seiner Entstehung und andererseits im Kontext von seiner, Xu Fuguans, eigener Zeit. Ein solches Vorgehen der kontextualisierten Neuauslegung hat seiner Meinung nach zwei erwünschte Effekte: In Bezug auf die konfuzianische Lehre vermag Xus Auslegung den kräftigenden Geist ( jiandong jingshen ‍≽䱦䤆) der Tradition im 20. 50 | Siehe Xu Fuguan: ᷕ⚳䴻⬠⎚䘬➢䢶 (Die Grundlagen der Geschichte der chinesischen Klassiker-Gelehrsamkeit), Taipeh: Taiwan xuesheng shuju 1982, S. 27. Das Buch wird im Folgenden zitiert unter dem Kürzel Grundlagen. 51 | Anmerkung des Übersetzers: Damit ist letztlich fast das gesamte Jahrtausend vor der Reichseinigung durch Qin Shihuang (䦎⥳䘯) im Jahre 221 v. Chr. angesprochen.

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Jahrhundert wiederzubeleben und damit neben der von Tang und Mou besonders beachteten Spiritualität ( jingshenxing 䱦䤆 ⿏) eine weitere wichtige Dimension des Konfuzianismus zu erschließen. In Bezug auf Xu Fuguan selbst erbringt seine Auslegung dieses kräftigenden Geistes eine Basis für die orientierende Aufrichtung seines eigenen Lebens.52 Zwischen der konfuzianischen Tradition und Auslegern wie Xu Fuguan besteht ein komplexes Verhältnis der Intersubjektivität (huwei zhutixing Ḻ 䁢ᷣ橼⿏), womit gemeint ist: So wie der lebendige Fortbestand des Konfuzianismus angewiesen ist auf die immer neue Auslegungsarbeit einzelner Gelehrter, so ist das Leben dieser Gelehrten aufs Tiefste durchdrungen und geformt von der konfuzianischen Tradition. In der Tatsache dieses Wechselverhältnisses erkennen wir die Besonderheit des existenziellen Charakters des chinesischen Konfuzianismus, der kein abstraktes Gedankenkonstrukt ist, das abseits der menschlichen Gemeinschaft haltlos zwischen Himmel und Erde schwebt (guxuan tianrang zhi jian ⬌ㆠ⣑⢌ᷳ攻), sondern vom einzelnen Menschen verinnerlicht und mitten im konkreten Leben realisiert wird. Auf diese Weise erhält dann die konfuzianische Lehre wiederum einen je individuellen Ausdruck. Wir können daher sagen, dass es sich bei der konfuzianischen Hermeneutik Chinas um eine praktische Gesellschafts- und Politik-Lehre handelt und nicht um eine abstrakte, transzendente Metaphyik. 2. Xu Fuguan weist darauf hin, dass Menzius’ Lehre von der guten menschlichen Natur auf seiner Auffassung vom guten Herzgeist beruht. Er betont, dass die Tradition vor Menzius ebenso wie die Zeitgenossen des Menzius die Aktivität des Herzgeistes im Zusammenhang mit der sinnlichen Wahrnehmung betrachtet haben. Menzius hingegen habe die Aktivität aus diesem Kontext gelöst und ihren unabhängigen Charakter

52 | Anmerkung des Übersetzers: Die »orientierende Aufrichtung des eigenen Lebens« ist hier wiederum eine umschreibende Übersetzung der eingangs bereits einmal vom Autor verwendeten Formel ⬱幓䩳␥ (an shen li ming), wörtlich »ein Obdach finden, sein Leben aufrichten«. Eine Formel, die zum Ausdruck bringt, dass für die Konfuzianer der Konfuzianismus geistige Heimat in einem umfassenden Sinne ist.

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erkannt, vor allem im Beispiel vom Kind auf dem Brunnen.53 Dies habe ihn zur Entdeckung des genuin moralischen Charakters des Herzgeistes geführt, die sich in den »vier Anlagen« (si duan ⚃䪗) zeigt. Dieser moralische Charakter wird also empirisch evident, wurde von Menzius aber gleichzeitig als entscheidender Hinweis auf die menschliche Natur und die Menschlichkeit des Menschen verstanden und mit dem Himmel in Verbindung gebracht. »Menzius hat im Bereich der konkreten Lebenserfahrung die unabhängige (duli 䌐䩳) und selbstgesteuerte (zizhu 冒ᷣ) Aktivität des Herzgeistes entdeckt, worin sich der Mensch als Moralsubjekt zeigt. Dies ist dann die Grundlage für die Aufstellung der Lehre von der guten menschlichen Natur.«54 Diese Deutung des Zusammenhangs von Menzius’ Auffassungen über den menschlichen Herzgeist und die menschliche Natur steht in Übereinstimmung mit den Interpretationen Tang Junyis und Mou Zongsans. Wir können hier von einem Konsens unter den modernen Neukonfuzianern bezüglich der Mengzi-Interpretation sprechen. 3. Xu Fuguans stets auf die Vereinigung von innen und außen (nei wai yi ru ℏ⢾ᶨ⤪) und die Verschmelzung von Subjekt und Objekt (zhu ke jiao rong ᷣ⭊Ṍ圵) gerichtete Perspektive führt ihn zu einer subtilen Interpretation von Menzius’ Ausspruch über die »Vollendung der Form« ( jian xing 嶸⼊).55 Xu Fuguan 53 | Anmerkung des Übersetzers: Es handelt sich um das im vorangegangen Kapitel erwähnte Gedankenexperiment in Mengzi (2A, 6), in dem ein Mann ein kleines Kind auf dem Rand eines Brunnens spielen sieht und von der Gefahr des Kindes unmittelbar in seinem Innern – Menzius spricht hier vom »Herzgeist des Mitleids« (ceyin zhi xin ィ晙ᷳ⽫) – aufgerüttelt wird. Im Kontext des Mengzi soll die Stelle belegen, dass jeder Mensch über einen Herzgeist verfügt, der das Leiden anderer Menschen nicht erträgt, dass also jeder Mensch von Natur aus in einer unhintergehbaren und genuin moralischen Beziehung zu seinen Mitmenschen steht. 54 | Xu Fuguan, Menschenbild, S. 174. 55 | Anmerkung des Übersetzers: Es handelt sich um einen Satz aus Mengzi (7A, 38), der uns weiter oben im Abschnitt 2.3.1 aufgrund seiner Dichte und Kontextlosigkeit schon einmal große Schwierigkeiten bei der Übersetzung gemacht hat. Unstrittig ist

5.3 H ERZGEIST

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BEI

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betont, dass der Ausspruch sich von zwei Seiten betrachten lässt: Zum einen gehe es hier um die »Erfüllung« (chongshi ⃭⮎) moralischer Subjektivität und damit um einen Kultivierungsweg, der den Fokus auf das »Nähren des Qi« (yang qi 梲 㯋) richtet, d.h. auf den Übergang von einem biologischen Qi zum »flutenden Qi der Vernunft« (lixing de haoran zhi qi 䎮⿏䘬 㴑䃞ᷳ㯋). Von der moralischen Praxis her betrachtet sei mit der ›Vollendung der Form‹ der moralische Herzgeist angesprochen, dessen Organfunktion (guan neng ⭀傥) darin besteht, sich in der objektiven Welt zu verwirklichen. ›Vollendung der Form‹ ist demzufolge die Verwirklichung dessen, was Menzius als »Ausschöpfen des Herzgeistes« ( jin xin 䚉⽫) bezeichnet: Kein Stehenbleiben im Reich der Ideen und Werte, sondern deren tätige Umsetzung in eine friedvolle harmonische Wirklichkeit. Der moralische Gehalt des Herzgeistes muss sich übersetzen in eine moralische Welt – der ›Übersetzer‹ ist dabei die moralisch kultivierte Persönlichkeit, so dass die ›Vollendung der Form‹ sich schließlich auf beides zugleich bezieht, die eigene Person und die Wirklichkeit im Ganzen. Dieser dritte Punkt ist der kraftvollste und beeindruckendste Teil von Xu Fuguangs Menzius-Interpretation, welcher Menzius’ Besonderheit, stets die moralische Innenwelt und die soziale Außenwelt des Menschen in ihrer wechselseitigen Durchdringung zu betrachten, im größten Maße gerecht wird. Damit sind die wesentlichen Aspekte der Mengzi-Auslegung unserer drei Denker genannt, soweit sie vor allem Menzius’ Ausführungen zur menschlichen Natur und zum Herzgeist betreffen. Betrachten wir als nächstes, wie Tang Junyi, Mou Zongsan und Xu Fuguan zur politischen Lehre des Menzius stehen.

allerdings, dass der Satz sich auf die vom Himmel verliehene natürliche Ausstattung des Menschen bezieht, von der dann gesagt wird, dass nur der moralisch vollendet Kultivierte (shengren 俾Ṣ) sie zur Vollendung zu bringen vermöge.

5.4 Lektüren von Menzius’ politischer Lehre im modernen Konfuzianismus

In der Geschichte des politischen Denkens in China ist Menzius derjenige, der vor Huang Zongxi (湫⬿佚, 1610-1695) und Sun Yat-sen (⬓ᷕⰙ, 1866-1925) am entschiedensten den Standpunkt des Volkes (renmin lichang Ṣ㮹䩳⟜) vertreten hat. Dass Menzius inmitten des Chaos der Zeit der Streitenden Reiche (480-222 v. Chr.) daran festgehalten hat, dass das Volk das eigentliche politische Subjekt56 ist, hat geschichtlich große Bedeutung. Seit in der Qin- und Hanzeit (221 v. Chr. bis 220 n. Chr.) ein geeintes chinesisches Kaiserreich die Bühne der Geschichte betreten hatte, wurden die politischen Institutionen 56 | Anmerkung des Übersetzers: Der Autor verwendet hier den auf Deutsch leicht befremdlich klingenden und auch im Chinesischen keineswegs gebräuchlichen Ausdruck »Volks-Subjektivität« (renmin zhutixing Ṣ㮹ᷣ橼⿏), den er weiter unten einer »Herrscher-Subjektivität« ( junzhu zhutixing ⏃ᷣᷣ橼⿏) gegenüberstellt. Gemeint ist schlicht, dass im ersten Fall politisches Denken und politische Praxis das Wohl des Volkes in den Mittelpunkt stellen und das Volk betrachten als das, um dessentwillen Politik gemacht wird, während im zweiten Fall die Sicherung von Herrschaft das leitende Motiv darstellt. Der Ausdruck ›Subjekt‹, den ich hier und im Folgenden in der Übersetzung gelegentlich verwende, ist also nicht im Sinne des Akteurs zu verstehen, sondern im Sinne des Primats – welchen letzteren Ausdruck ich folglich als eigentlichen Übersetzungsbegriff für ᷣ橼⿏ (zhutixing) einsetze.

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Chinas nämlich so eingerichtet, dass die Person des Herrschers das eigentliche politische Subjekt darstellte. Dynastien kamen und gingen, Herrscherfamilien wechselten einander ab, aber die institutionelle Ausrichtung auf den politischen Primat des Herrschers blieb bestehen. Menzius’ politisches Denken aber ist ganz auf das Bemühen ausgerichtet, diesen Primat des Herrschers abzuschaffen und in den Grundsatz vom politischen Primat des Volkes zu transformieren. »Das Volk ist von höchster Bedeutung, als nächstes kommen die Altäre für Erdgötter und Ernte, der Herrscher kommt zuletzt«, heißt es im Buch Mengzi (7B, 14). Bedauerlich ist allerdings, dass über Jahrtausende hinweg unter dem Druck des politischen Systems Chinas Menzius’ Idee vom politischen Primat des Volkes keine Möglichkeit hatte, auf breiter Ebene in die Praxis umgesetzt zu werden. In der Rezeptions- und Auslegungsgeschichte des Buches Mengzi war Kang Youwei (⹟㚱䁢, 1858-1927) der erste, der in seiner Schrift Kleine Auslegung des Buches Mengzi (Mengzi wei ⬇ ⫸⽖) den Gedanken vom politischen Primat des Volkes in aller Entschiedenheit und Gründlichkeit entfaltet und in die Sprache des modernen politischen Denkens gekleidet hat. Für ihn enthält das Buch Mengzi den Gedanken der Demokratie und die Forderung nach Rechten des Volkes (min quan 㮹㪲) und der Einrichtung eines parlamentarischen Systems (yiyuan zhi zhi 嬘昊ᷳ⇞), wie Kang Youwei es zu seiner Zeit in verschiedenen Staaten realisiert sah.57 Kangs Interpretation mag etwas überspitzt und gezwungen sein, aber sie legt das häufig übersehene Potential von Menzius’ Betonung des politischen Primats des 57 | Vgl. Kang Youwei: ⬇⫸⽖ (Kleine Auslegung des Buches ›Mengzi‹), Taipeh: Taiwan shangwu yinshuguan 1970, 2. Auflage, S. 12. Anmerkung des Übersetzers: Die Erstausgabe des Buches stammt von 1901. Dass Kang Youwei hier einen weiten Begriff von parlamentarischem System vertritt und dabei eher an eine konstitutionelle Monarchie als eine moderne Demokratie denkt, zeigt sich darin, dass er beispielhaft auf eine ganze Reihe von Ländern verweist, in denen ein solches System bereits Realität sei – Staaten, die zu diesem Zeitpunkt freilich recht unterschiedlich verfasst waren und von denen einige nur in eingeschränktem Sinne als ›demokratisch‹ bezeichnet werden können. Kang Youwei nennt u.a. England, Deutschland, Österreich, Italien, Holland, Belgien und Japan. Das Fehlen der USA und Frankreichs in der Liste spricht für sich.

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Volkes offen und ist erkennbar vom Motiv einer Anknüpfung an das moderne demokratische Leben geleitet. Xu Fuguan ist derjenige Denker, der im Gefolge Kang Youweis Menzius’ Gedanken vom politischen Primat des Volkes am entschiedensten weiter entfaltet. Für ihn hat Menzius die von Konfuzius gelegten Grundlagen weiterentwickelt und den Grundsatz aufgestellt, »dass nicht nur alle Politik für das Volk ist« (zhengzhi de yi qie shi wei le renmin 㓧㱣䘬ᶨ↯㗗䁢ḮṢ㮹), sondern dass auch das Volk alles in der Politik entscheiden kann. Im politischen Denken sei China damit »eingetreten auf den großen Weg der Demokratie« ( jinru minzhu de da dao 忚 ℍ㮹ᷣ䘬⣏忻).58 Xu Fuguans konsequenter Anschluss an das politische Denken des Mengzi bedeutet innerhalb des modernen konfuzianischen Denkens das Einschlagen einer neuen Richtung, denn Tang Junyi und Mou Zongsan negieren zwar in ihrer Mengzi-Auslegung den Primat des Volkes keineswegs, sind darin aber weniger explizit und entschieden als Xu Fuguan. Tang beispielsweise betrachtet auch die politische Dimension des Mengzi vom Standpunkt der Herzgeist-Schule aus, d.h. er betrachtet die Politik als Fortsetzung des Bemühens um eine Aufrichtung des Herzgeistes und damit um die Aufrichtung der Person.59 Politische Probleme sind für ihn im Kern Probleme der Selbstbewusstheit (zijue 冒奢) und der Entfaltung (xingfa 冰䘤) des Herzgeistes – wie der Herzgeist sich aber objektivieren (ketihua ⭊橼⊾) und damit politisch wirksam werden kann, dieser Frage weicht Tang Junyi aus. Mou Zongsan seinerseits steht Tang Junyi in seinem Verständnis des Herzgeistes zwar nahe, seine Interpretation stellt das Problem aber differenzierter dar. In seinem Buch Geschichtsphilosophie (Lishi zhexue 㬟⎚⒚⬠) von 1955 schreibt er, die chinesische Tradition kenne zwar den Gedanken der Freiheit des Moralsubjekts und des künstlerischen Subjekts, sie ermangele aber der subjektiven Freiheit im Bereich der Politik und des Rechts.60 Von Menzius wird in diesem Zusammenhang gesagt, er etabliere die Freiheit des Moralsubjekts, und auf diesen Aspekt des Mengzi bezieht auch Mou Zongsan sich in vielen sei58 | Xu Fuguan, Grundlagen, S. 27. 59 | Vgl. Tang Junyi, Darstellung: Weg, S. 253ff. 60 | Vgl. Mou Zongsan: 㬟⎚⒚⬠ (Geschichtsphilosophie), Gaoxiong: Qiangsheng chubanshe 1955, S. 60.

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ner späteren Schriften, denn von hier aus entwickelt er seinen eigenen Entwurf konfuzianischer Philosophie. Zunächst aber nimmt er 1961 in seinem Buch Weg der Politik und Weg der Verwaltung (Zheng dao yu zhi dao 㓧忻冯㱣忻) den Faden aus der Geschichtsphilosophie noch einmal auf und stellt die Frage: Wie lässt sich in China ein Weg der Politik entwickeln? Seiner Meinung nach gehört es zu den Besonderheiten des Lebens der chinesischen Kultur, dass es zwar einen »funktionalen Ausdruck der Vernunft« (lixing zhi yunyong biaoxian 䎮⿏ᷳ忳䓐堐䎦) gebe, nicht aber einen »konstruktiven Ausdruck der Vernunft« (lixing zhi jiagou biaoxian 䎮⿏ᷳ㝞㥳堐䎦).61 Um in China 61 | Anmerkung des Übersetzers: Die hier gegebene Übersetzung orientiert sich an den von Mou Zongsan selbst in seinem Buch in Klammern angefügten englischen Übersetzungen, welche der Autor in seinem Text übernimmt: »functional presentation« (忳䓐堐䎦) und »constructive presentation« (㝞㥳堐䎦) – fast immer, wenn Mou Zongsan sich selbst übersetzt, sind die englischen Ausdrücke aber bestenfalls unverständlich, häufig ganz und gar irreführend. Mous Studie widmet sich einer Untersuchung des chinesischen politischen Denkens und gelangt zu einer grundlegenden Kritik der Tradition, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer politischen Praxis, sondern der Art des Nachdenkens über politische Zusammenhänge. »Weg der Politik« (zheng dao 㓧忻) steht in diesem Zusammenhang für ein politisches System, das auf einer Verfassung beruht, deren zentrales Element der Begriff von der Souveränität des Volkes bildet – der Ausdruck steht für das, was die chinesische Tradition nicht hervorgebracht hat, und was Mou mit einem mehr technischen, scheinbar präzisen, aber letztlich unsinnigen Ausdruck eben als constructive presentation bezeichnet; der chinesische Ausdruck lautet wörtlich »Ausdruck des Rahmens«. Gemeint ist: China hat es nicht vermocht, sein politisches Denken in einem konkreten ›Rahmen‹ ( jiagou 㝞㥳) ›auszudrücken‹ (biaoxian 堐䎦), d.h. einen solchen verfassungsmäßigen Rahmen aufzustellen. Stattdessen thematisiert die Tradition politisches Handeln stets als Anwendung und ›Funktion‹ (yunyong 忳䓐) von moralischen Maximen – dies also ist der Hintergrund des etwas weniger unsinnigen, aber auch nicht gerade hilfreichen Ausdrucks functional presentation. Mit anderen Worten: Mou Zongsan diagnostiziert und kritisiert einen Mangel an konzeptioneller Durchbildung des politischen Handlungsbereichs als solchen und seine Subsump-

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einen Weg der Politik zu etablieren, sei aber gerade ein solcher konstruktiver Ausdruck vonnöten, so dass die Frage sich stellt, wie der funktionale Ausdruck der Tradition weiterentwickelt und umgewandelt werden könne in einen konstruktiven Ausdruck – bei der Diskussion dieser Frage allerdings, berücksichtigt Mou Zongsan das Denken des »äußeren Königtums« (wai wang ⢾䌳)62 von Menzius überhaupt nicht, denn für ihn steht fest, dass Menzius’ Reflexion auf das Problem des Weges der Politik unzureichend ist.63 Mit anderen Worten, Mou übergeht Menzius’ Lehre vom äußeren Königtum und sucht nach einem Ansatz für eine »neue Lehre vom äußeren Königtum« (xin wai wang 㕘⢾䌳). Im Vergleich dazu schließt Xu Fuguan direkter an das politische Denken (die Lehre vom äußeren Königtum) des Mengzi an. Wie kommt es nun, dass Xu Fuguan einerseits und Mou Zongsan und Tang Junyi andererseits trotz ihrer gemeinsamen philosophischen Grundausrichtung so verschiedene Standpunkte zu Menzius’ politischer Lehre einnehmen? Beginnen wir mit einem eher äußeren, im biographischen tion unter das Oberthema moralische Kultivierung. Es fehlt ein konzeptioneller Rahmen, der politische Fragen als politische (und nicht als ethische) zu stellen und zu diskutieren erlaubt. 62 | Anmerkung des Übersetzers: Der Ausdruck ›äußeres Königtum‹ ist Teil eines traditionellen Ausdrucks, der lautet »innere moralische Kultivierung, äußeres Königtum« (neisheng waiwang) und der den engen Zusammenhang zwischen moralischer Kultivierung und politischem Handeln im Konfuzianismus betont, bzw. genauer: Er betont, dass der Konfuzianismus traditionell Politik als Teilbereich der Ethik konzipiert hat und folglich die Legitimation für politisches Handeln in der moralischen Kultiviertheit des Akteurs sieht. Das aber ist genau die Pointe von Mou Zongsans Kritik an der konfuzianischen Tradition, die in der vorangegangenen Fußnote skizziert wurde. Mou selbst hat seinen politischen Ansatz unter den Titel einer Suche nach einem »neuen äußeren Königtum« (xin wai wang ⽫⢾䌳) gestellt, also nach einer konfuzianischen politischen Philosophie, welche die Fehler und Versäumnisse der Tradition vermeidet – es lässt sich aber schwerlich behaupten, diese Suche sei erfolgreich gewesen. 63 | Vgl. Mou Zongsan: 㓧忻冯㱣忻 (Weg der Politik und Weg der Verwaltung), Taipeh: Xuesheng shuju 1961, S. 13.

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Hintergrund der drei Denker liegenden Grund: Xu Fuguan war in jungen Jahren selbst politisch aktiv und hatte Gelegenheit, mit den Spitzen der damaligen chinesischen Führung zusammenzukommen.64 Die geschichtlichen Umbrüche Chinas im 20. Jahrhundert erlebte er aus nächster Nähe mit, litt unter dem Niedergang seines Landes und wandte sich an die konfuzianische Tradition, um in ihr die Mittel zur Heilung der Gebrechen der Gegenwart zu finden. Tang und Mou waren demgegenüber reine Gelehrte, die niemals am praktischen politischen Leben teilnahmen. Ihr Hintergrund ist die Herzgeist-Schule, die ihnen von Xiong Shili vermittelt wurde und sie zur Lehre Wang Yangmings geführt hat, in kritischer Distanz zu Zhu Xi – dieser Hintergrund prägt auch ihre Haltung zu Menzius. Von diesem äußeren Grund abgesehen, hat die unterschiedliche Auffassung von Menzius’ politischer Lehre vielleicht auch mit unterschiedlichen Perspektiven auf das konfuzianische Denken insgesamt zu tun, was sich dann in unterschiedlichen Forschungsansätzen niederschlägt. Wie oben ausgeführt, verfolgen Tang und Mou einen eher philosophischen Ansatz, während der von Xu Fuguan als historischer bezeichnet werden muss. Tang und Mou betrachten philosophische Begriffe und Kategorien als selbständige Größen und analysieren sie als solche, während Xu Begriffe und Kategorien in ihrem Verhältnis zur politischen Realität untersucht. Als moderne Konfuzianer betonenen sie gemeinsam den moralisch humanistischen Geist des Konfuzianismus, von dem sie im Einzelnen aber ihre je unterschiedlichen Bilder zeichnen. Das von Xu Fuguan lässt sich so zusammenfassen: »Vom tatsächlichen Leben der Menschen ausgehen und dafür Verantwortung übernehmen, das ist konfuzianisches Denken. Der Konfuzianer flüchtet weder in die Natur noch in die Leere noch ins bloße Spiel mit Ideen, und schon gar nicht kennt er ein außerweltliches Land, in das er flüchten könnte.«65 Wer die Geschichte dieses konfuzianischen 64 | Anmerkung des Übersetzers: In den letzten beiden Jahres des Krieges gegen die japanische Besatzung diente Xu Fuguan als Berater von Chiang Kaishek (哋ṳ䞛, 1887-1975), dem Führer der Volkspartei und späteren Präsidenten bzw. Diktator Taiwans. 65 | Xu Fuguan, Politisches Denken, S. 39. Anmerkung des Übersetzers: Die Aufzählung von vier Wegen, auf denen der Konfuzianer nicht vor der Verantwortung flüchtet, lässt sich zugleich

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Denkens erforschen will, muss sich folglich »das konkrete Material vornehmen und ins Innere des konfuzianschen Denkens eindringen, um sein ursprüngliches Antlitz (mian mu 朊䚖) zu erkennen und zu verstehen, worin sein ursprüngliches und eigentliches Ziel besteht«.66 Wiederum zeigt sich Xus Ansatz beim konkreten historischen Kontext, von dem aus er dann die gedanklichen Inhalte einer eingehenden Analyse unterzieht. Gerade diesem historischen Kontext von bestimmten Gedanken schenken die professionellen Philosophen Tang Junyi und Mou Zongsan relativ wenig Beachtung. Sie versenken sich ganz in die konfuzianische Morallehre als solche – so kommt Mou Zongsan zu folgender Beschreibung der Besonderheit chinesischer und konfuzianischer Philosophie: »Chinesische Philosophie legt besonderes Gewicht auf die Subjektivität und innere Moralität. Die drei großen Traditionen Chinas, Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus betonen alle die Subjektivität, aber nur eine Hauptströmung innerhalb des konfuzianischen mainstream stellt die besonderen Charakterstiken der Subjektivität heraus und entwickelt sie zur inneren Moralität, d.h. zur moralischen Subjektivität.«67 lesen als Hinweis, wohin nach Xu Fuguans Meinung die Vertreter anderer Lehren und Weltbilder flüchten, nämlich die Daoisten (Natur), Buddhisten (Leere), westlichen Philosophen (Spiel mit Ideen) und die Anhänger bestimmter Religionen, welche jenseitige Paradiesvorstellungen kennen. 66 | Ebd., S. 40. Anmerkung des Übersetzers: Aus dem Kontext des Zitats ist ersichtlich, dass Xu Fuguan hier auch sagen will: Lasst euch nicht von den verzerrten Erscheinungsformen des Konfuzianismus in der chinesischen Geschichte beirren, sondern seht auf das, was seinen Geist ausmacht und worin seine Mission besteht. 67 | Mou Zongsan, Besonderheit, S. 4. Anmerkung des Übersetzers: Mit der Doppelung von ›Hauptströmung‹ bzw. ›mainstream‹ (im Chinesischen steht beide Male ᷣ㳩 (zhuliu)) meint Mou Zongsan, dass der Konfuzianismus den eigentlichen mainstream des chinesischen Denkens repräsentiert, dass es dann aber innerhalb des Konfuzianismus noch einen internen mainstream gibt, der die Thematik der moralischen Subjektivität am weitesten entwickelt hat – damit ist die Herzgeist-Schule gemeint, vor allem

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Dieses Zitat bringt einen Konsens zwischen Tang Junyi und Mou Zongsan zum Ausdruck und markiert zugleich einen Unterschied zum Ansatz Xu Fuguans. Betrachten wir schließlich noch ein weiteres Beispiel, nämlich den von Xu Fuguan geprägten und weiter oben bereits eingeführten Begriff des »Sorgensbewusstseins« (you huan yishi ㄪかシ嬀), dessen Entstehungskontext der Übergang von der Kultur der Shang- zur Zhouzeit am Ende des zweiten vorchristlichen Jahrtausends ist. Nach Xu Fuguan entspringt dieses Bewusstsein aus tiefsinnigen Reflexionen über den Zusammenhang von menschlichem Handeln und den Wechselfällen ( ji xiong cheng bai ⎱↞ㆸ㓿) des Lebens, d.h. es ist ein Ausdruck der Übernahme von Verantwortung. Xu schreibt: »Das Sorgensbewusstsein entsteht eben aus diesem Verantwortungsgefühl, aus einem Seelenzustand (xin li zhuangtai ⽫䎮䉨 ン) in dem Moment,68 da die Forderung, durch den Einsatz eigener Kraft das Unglück abzuschütteln, auf das Bewusstsein triff t, diese Abschüttelung noch nicht erreicht zu haben. Das Sorgensbewusstsein ist also ein Ausdruck der Entdeckung von direktem Verantwortungsgefühl durch den menschlichen Geist, und es damit auch ein Ausdruck der Erlangung von geistiger Selbstbewusstsheit.«69

Für Xu Fuguan handelt es sich also bei dieser Selbstbewusstheit wiederum um das Resultat eines geschichtlichen Prozesses, er betont den Geschehenssinn ( fashengyi 䘤䓇佑) des Begriffs und betrachtet das Phänomen als eines, das unter bestimmten Umständen zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt aufkommt und dann die weitere Entwicklung prägt. Mou Zongsan übernimmt den Ausdruck Sorgensbewusstsein von Xu Fuguan und schreibt, »Betonung der Moralität innerhalb der chinesiMenzius, Lu Xiangshan, Wang Yangming, und natürlich auch ihre modernen Nachfolger, nicht zuletzt Mou Zongsan selbst. 68 | Anmerkung des Übersetzers: Im Chinesischen steht hier shi (㗪), also »Zeit« – es handelt sich nach Xu Fuguan nicht um einen vorübergehenden Moment, sondern um Permanenz; zu jedem Zeitpunkt des Lebens hält das konfuzianische Verantwortungsgefühl zu fortgesetztem Bemühen um moralische Kultivierung und das Wohl des Anderen an. 69 | Xu Fuguan, Menschenbild, S. 20f.

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schen Philosophie wurzelt im Sorgensbewusstsein.«70 Er benutzt den Ausdruck hier in seinem vollendeten Sinn bzw. Resultatssinn (wanchengyi ⬴ㆸ佑) und betrachtet ihn gleichsam als vollendete Tatsache. Mou Zongsan versteht dann den Ausdruck in seiner Verbindung zu anderen zentralen Begriffen des chinesischen Denkens – »Respekt« ( jing 㔔), »Verehrung der Tugend« ( jing de 㔔⽟), »Erhellung der Tugend« (ming de 㖶⽟) – und vergleicht das Sorgensbewusstsein mit dem »Angstbewusstsein« (kongbu yishi ⿸⾾シ嬀) und dem »Leidensbewusstseins« (kuye yishi 劎㤕).71 In Mou Zongsans Verwendung des Ausdrucks ist also aus dem Sorgensbewusstseins ein selbständiger, d.h. von seinem Entstehungskontext unabhängiger philosophischer Begriff geworden. Dieser feine, aber bedeutsame Unterschied bringt zumindest zum Teil die Unterschiede von Xu Fuguans und Mou Zongsans und Tang Junyis Forschungsansatz ans Licht, der sich auch in ihrer jeweiligen Haltung zum Buch Mengzi niederschlägt.

70 | Mou Zongsan, Besonderheit, S. 12. 71 | Anmerkung des Übersetzers: Dieser Vergleich ist Teil von Mou Zongsans Bemühen, die Besonderheit der chinesischen Philosophie herauszuarbeiten, indem er sie auf eine Art Grundstimmung oder fundamentales Daseinsgefühl zurückführt und in dieser Hinsicht mit anderen kulturellen Traditionen vergleicht. ›Angstbewusstsein‹ ist dabei der von Kierkegaard inspirierte Ausdruck für die christliche Grundstimmung, ›Leidensbewusstsein‹ der Name für das Daseinsgefühl des Buddhismus. Heideggers Versuch, die Grundstimmung der abendländischen Philosophie zu erschließen (in seinem Buch Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1983), konnte Mou Zongsan zu diesem Zeitpunkt nicht kennen.

5.5 Schluss

Im vorliegenden Kapitel haben wir uns auf den modernen Neukonfuzianismus konzentriert und untersucht, welche Interpretationen der Kultivierungslehre und des politischen Denkens des Menzius drei seiner wichtigsten Vertreter vorgelegt haben. Die Untersuchung führt zu dem Schluss, dass unter dem Titel ›moderner Neukonfuzianismus‹ (dangdai xinrujia 䔞ẋ㕘₺⭞) eine ganze Reihe von Gelehrten zusammengefasst wird, Philosophen wie Xiong Shili, Ma Yifu (楔ᶨ㴖, 1883-1967), Tang Junyi und Mou Zongsan, ebenso wie die eher historischen Gelehrten Xu Fuguan, Qian Mu und andere. Diese »Schule« (xue pai ⬠㳦) – wenn man von einer solchen im Falle des Neukonfuzianismus denn sprechen kann – stellt gegenwärtig innerhalb des chinesischen Kulturkreises die einzige mit einer gewissen Lebenskraft ausgestattete authochtone Denkströmung dar und hat sich folglich zu einem zentralen akademischen Forschungsfeld in Taiwan und auf dem chinesischen Festland entwickelt.72 Wie die vorliegende Untersuchung allerdings zeigen konnte, handelt es sich bei der Bezeichnung ›moderner Neukonfuzianismus‹ um einen vereinheitlichenden Begriff (tong ming 忂⎵), 72 | Auf dem chinesischen Festland wurde 1987 die Erforschung des modernen Neukonfuzianismus offiziell zu einem von insgesamt 75 landesweit durchgeführten Forschungsprojekten auf dem Gebiet der Philosophie und Sozialwissenschaften erklärt, in dessen Verlauf eine ganze Reihe von Konferenzen stattgefunden hat, in deren Koordination 16 Forschungs-Institutionen und 47 Gelehrte eingebunden waren.

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mithin um einen Namen, der vor allem zur Erleichterung des akademischen Diskurses aufgestellt wurde. Tatsächlich sind die unter dieser Bezeichnung versammelten Denker eher divers als einheitlich und die Unterschiede zwischen ihnen größer als die Gemeinsamkeiten. Der moderne Neu-Konfuzianer Xu Fuguan hat nicht nur in geschichtlicher Perspektive Menzius’ Lehre vom Herzgeist und der menschlichen Natur untersucht und dazu eine neue Interpretation vorgelegt, sondern er hat auch die Bedeutung von Menzius’ politischer Lehre und des darin enthaltenen Problems der Praxis betont. Tang und Mou demgegenüber setzen im Wesentlichen den Ansatz der song- und mingzeitlichen Herzgeist-Schule fort. Während Xu zum Konfuzianismus der Vor-Qinzeit zurückkehrt, setzen Tang und Mou die rund sechshundertjährige Tradition des neo-konfuzianischen Herzgeist-Denkens fort. Alle drei können als Modernisierer des Konfuzianismus betrachtet werden, aber die Ansätze und die Schwerpunkte ihrer Forschungen unterscheiden sich erheblich. Vom Standpunkt einer Rezeptionsgeschichte des Buches Mengzi ist zudem zu beachten, dass die Fragen und Probleme, denen moderne Interpreten wie Xu, Tang und Mou gegenüberstehen, sich von denen ihrer Vorgänger in der konfuzianischen Tradition stark unterscheiden. Das Denken des Menzius, sein auf die Verbindung von Innen und Außen, Herzgeist und Körper, Individuum und Gemeinschaft abzielendes Systems hat sich in der Zeit der Streitenden Reiche entwickelt, folglich in einer Zeit der pluralen Entwicklung politischer Autorität in China, aufgrund des Fehlens einer zentralen Instanz politischer Machtausübung. Danach aber, im Gefolge der Reichseinigung unter den Dynastien Qin (221-206 v. Chr.) und Han (206 v. Chr220 n. Chr.) und der Monopolisierung politischer Macht, sah sich menzianisches Denken einer gewaltigen Herausforderung gegenüber. Denn von der Qin- und Hanzeit bis zum Ende der Qingzeit Anfang des 20. Jahrhunderts, unterlagen zwar die Herrscher-Dynastien häufigem Wechsel, aber der Charakter der politischen Institutionen veränderte sich kaum. Die chinesischen Kommentatoren und Ausleger des Buches Mengzi bewahrten einerseits Menzius’ Gedanken und sein Wertesystem und setzten seine in der Zeit der Streitenden Reiche durchgeführte Suche nach moralischen und gesellschaftlichen Idealen fort, aber andererseits waren sie zugleich als Beamte in das im-

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periale Herrschaftssystem eingebunden und wurden immer wieder zu Zeugen kaiserlichen Machtmissbrauchs. Dies machte es ihnen schwer, an der Realisierung der hehren Werte und Ideen des Mengzi tatsächlich festzuhalten. Wir können daher bei den Beamten-Gelehrten, die sich nach der Qin- und Hanzeit der Lektüre des Mengzi gewidmet haben, einen gewissen Bruch oder Riss der Identität (ziwo de silie 冒ㆹ䘬㐽塪) feststellen: Die Identität des Konfuzianers und die Identität des Beamten lagen miteinander im Streit. Die im 20. Jahrhundert tätigen Neukonfuzianer mussten sich natürlich nicht wie ihre kaiserzeitlichen Vorgänger an die imperialen Institutionen anpassen, sie waren keine Gelehrten im Dienst der Machthaber und mussten nicht den Sinn der kanonischen Schriften verfälschen, um mit ihren Auslegungen vor den Augen des Kaisers Gnade zu finden. Gleichwohl sahen sie sich der Herausforderung durch die machtvolle industrielle Zivilisation ihrer Zeit gegenüber und mussten sich der Frage stellen, wie unter diesen Umständen der konfuzianischen Tradition neuer Sinn und Wert abgewonnen werden konnte. Anders gesagt, das Problem, auf das Xu, Tang und Mou bei ihrer Neuauslegung des Mengzi stießen, lautete: Wie lässt sich die Identität eines Mitglieds der modernen Gesellschaft mit der Identität des Gelehrten der konfuzianischen Tradition – als deren Fortsetzer sie sich betrachteten – in Einklang bringen? Dieser aus der historischen Situation Chinas im 20. Jahrhundert geborenen und somit die Signatur ihrer Zeit tragenden Frage wiederum hatten sich die Gelehrten der vormodernen Tradition nicht gegenübergesehen. Xu Fuguan, Tang Junyi und Mou Zongsan haben sich dieser Frage gestellt und mutige Entwürfe zu ihrer Beantwortung vorgelegt. Tang und Mou in ihrer Neuauslegung des Mengzi und seines Herzgeist-Begriffs betonen die Selbständigkeit und Spontanität der Aktivität des Herzgeistes und seine Funktion der Selbstgesetzgebung – Ausführungen, die sich auf den in der Moderne erstarkten Individualismus beziehen. Xu Fuguans Weiterentwicklung und Entfaltung vom Primat des Volkes innerhalb von Menzius’ politischer Lehre sucht Anschluss an die politische Demokratie der Moderne. Alle diese Auslegungen leisten einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung des menzianischen Denkens. Die Beamten-Gelehrten der chinesischen Geschichte haben

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IM MODERNEN

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in ihren politischen Diskursen stets bei der Person des Herrschers angesetzt und haben an die Selbstbewusstheit von dessen innerem Herzgeist appelliert, um ihn zur Korrektur von Fehlern aufzurufen, getreu dem menzianischen Motto »das Übel im Herzgeist des Herrscher korrigieren« (ge jun xin zhi fei 㟤⏃⽫ᷳ朆) (Mengzi 4A, 20). Der Konstitution politischer Institutionen haben sie demgegenüber weniger Beachtung geschenkt, das heißt sie haben nicht daran mitgewirkt, ein objektives System (keguan zhidu ⭊奨⇞⹎) zu schaffen, das nicht der Willkür von Personen unterliegt und darum subjektive Freiheiten garantieren kann. So kam es dazu, dass das chinesische Volk in langen Phasen seiner Geschichte unter kaiserlicher Willkürherrschaft und Machtmissbrauch gelitten hat, dass aber die konfuzianischen Gelehrten der Herzgeist-Schule darauf nicht anders zu reagieren wussten als darauf zu warten, dass der Herrscher seinen guten Herzgeist (liang xin 列⽫) entdeckt und seine Fehler erkennt. Im Anschluss an Isaiah Berlins berühmte Unterscheidung können wir sagen, dass der Konfuzianismus der Ebene der ›negativen Freiheit‹ des äußeren Systems zu wenig Beachtung geschenkt und seine theoretischen Entwürfe ganz auf die Ebene der selbständigen inneren ›positiven Freiheit‹ ausgerichtet hat.73 Die Auslegungen von Xu Fuguan, Tang Junyi und Mou Zongsan zeigen, dass die Problematik der Freiheit des Moralsubjekts innerhalb der menzianischen Herzgeist-Lehre im 20. Jahrhundert große Aufmerksamkeit erfahren hat, dass darüber aber die Frage, wie sich das Subjekt ›objektivieren‹, also sich im Bereich der Praxis verwirklichen kann, vernachlässigt wurde. Dies ist folglich die Aufgabe und Fragestellung, der wir uns heute im Anschluss an die drei hier behandelten Denker widmen sollten.

73 | Vgl. Isaiah Berlin: »Two Concepts of Liberty«. In ders.: Four Essays on Liberty, Oxford: Oxford University Press 1969, S. 118-172.

6.

Versuch einer Typologie: Konfuzianische Hermeneutik als Politik, Pilgerschaf t und Apologetik

In diesem abschließenden Kapitel soll der Versuch unternommen werden, die vielfältigen Formen und Funktionen chinesischer Textauslegung in tentativer Weise typologisch darzustellen. Jeder der im Folgenden zu unterscheidenden drei Typen wird beispielhaft erläutert, wobei alle Beispiele angesiedelt sind im Kontext der Auslegungsgeschichte des Buches Mengzi, mit dessen Grundideen die vorangegangenen Kapitel den Leser bereits bekannt gemacht haben dürften. Auch die von mir unterschiedenen drei Typen konfuzianischer Hermeneutik, nämlich Politik, Pilgerschaft und Apologetik sind – wenngleich nicht immer unter diesen Bezeichnungen – im Laufe der Untersuchung bereits Thema gewesen. Zu beachten ist, dass diese heuristische Typologie nicht im strengen Sinne ein Ordnungsschema sein soll, d.h. es verbindet sich mit ihr nicht die Behauptung, tatsächlich in der chinesischen Geistesgeschichte beobachtbare Reinformen konfuzianischer Hermeneutik zu benennen, die jeweils nur entweder in der einen oder der anderen oder aber der dritten Form aufgetreten wären. Vielmehr handelt es sich um ein analytisches Mittel, das uns verstehen helfen soll, welche unterscheidbaren, aber nicht trennbaren Momente jeder der uns aus der Geschichte bekannten konfuzianischen Auslegungsverfahren anhaften – die Beispiele sind so gewählt, dass darin jeweils ein Moment in besonderer Weise hervortritt und sich so zur Veranschaulichung eignet. Ferner entspricht die Darstellung der historischen Entwicklung, wir betrachten also zunächst ein Beispiel aus der Songzeit (960-1279), gefolgt von Beispielen aus den Epochen Ming (1368-1644) und Qing (16441911).1 1 | Anmerkung des Übersetzers: Da es sich um ein zusammenfassendes Kapitel handelt, das die wichtigsten Themen dieses

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TYPOLOGIE

Mit dem Typus der Hermeneutik als Politik beziehe ich mich auf die Rolle, welche die Auslegung des Buches Mengzi in der Auseinandersetzung um konkrete politische und soziale Streitfälle gespielt hat, d.h. auf die legitimatorische Funktion des Werkes in verschiedenen Epochen der chinesischen Geschichte, hier beispielhaft betrachtet anhand des politischen Diskurses der Songzeit. Pilgerschaft bezeichnet die Rolle des Buches Mengzi im Kontext des Lebens einzelner Gelehrter, deren moralische Kultivierung und Suche nach Einsicht und spiritueller Erleuchtung zu großen Teilen von Ideen aus eben diesem Buch geleitet und inspiriert war. Die Apologetik schließlich nimmt Bezug auf die gelehrten Diskussionen als solche, d.h. darauf, wie chinesische Gelehrte mittels des Mengzi für oder gegen bestimmte Auffassungen über philosophische und moralische Probleme argumentiert und Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Schulen, aber auch zwischen verschiedenen Strömungen innerhalb ihrer eigenen konfuzianischen Schule vorgenommen haben.

Buches noch einmal in möglichst klarer Form präsentieren soll, habe ich im Sinne guter Lesbarkeit und in Absprache mit dem Autor die Anmerkungen und Nachweise auf ein Minimum reduziert. Vor allem Verweise auf chinesisches und japanisches Quellenmaterial sowie auf die vom Autor vielfach herangezogene Sekundärliteratur in diesen beiden Sprachen wurden fast vollständig gestrichen.

6.1 Konfuzianische Hermeneutik als Politik: Die songzeitlichen Kontroversen um das Buch Mengzi

In diesem Abschnitt machen wir uns mit dem pragmatischen Charakter konfuzianischer Gelehrsamkeit vertraut, indem wir uns die hermeneutischen Debatten über das Buch Mengzi vornehmen, die in der Songzeit geführt wurden. In einem Maße, das in anderen Kulturen kaum zu beobachten ist, waren die gelehrten Debatten der Konfuzianer eo ipso immer auch politische Auseinandersetzungen über die Legitimation bestimmter Institutionen sowie über politische Entscheidungen und ihre Umsetzungen. Dies lässt sich anhand der Standpunkte songzeitlicher Beamten-Gelehrter pro und kontra Menzius gut veranschaulichen. Wir werden zunächst vier Gründe betrachten, aus denen das Buch Mengzi ins Sturmzentrum der Kontroversen songzeitlicher Gelehrter gerückt ist (6.1.1), werden anschließend inhaltliche Details der Kontroversen vorstellen (6.1.2) und schließlich mit der Herausarbeitung einiger Implikationen bezüglich der politischen Dimension konfuzianischer Hermeneutik enden (6.1.3).

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6.1.1 Kontroversen um das Mengzi: Die Gründe Zum Einstieg gilt es drei Fragen zum historischen Hintergrund und der Bedeutung der Auseinandersetzungen in der Songzeit zu klären: Erstens, warum haben die songzeitlichen Beamtengelehrten sich so stark auf das Buch Mengzi und weit weniger auf andere kanonische Schriften konzentriert? Zweitens, warum fanden diese Debatten gerade in der Songzeit und nicht in einer anderen Epoche statt? Schließlich drittens, worin lag die politische Bedeutung der Auseinandersetzungen? Die beiden ersten Fragen lassen sich beantworten, wenn wir vier relevante historische Faktoren berücksichtigen, nämlich die in der Songzeit erfolgte Aufnahme des Mengzi in den Kanon konfuzianischer Klassiker, bestimmte Parallelen zwischen der Lebenszeit des Menzius und der Songzeit, das menzianische Ideal einer Politik für das Volk, welches die Konfuzianer der Songzeit so emphatisch bejaht haben, sowie schließlich als wichtigster Faktor die Reformbewegung des Wang Anshi (䌳⬱䞛, 1021-1086),2 deren gedankliche Basis das Buch Mengzi war. Obwohl bereits viele Jahrhunderte zuvor kompiliert, hat das Buch Mengzi erst im Verlauf der Songzeit den Rang eines Klassikers eingenommen. Der erste Schritt in Richtung dieser ›Inthronisierung‹ erfolgte unter dem Song-Kaiser Zhen Zong (䛇⬿, Regierungszeit 997-1021), der seinen Respekt gegenüber dem Werk bekundete, indem er den Gelehrten Sun Shi (⬓⤕, 2 | Anmerkung des Übersetzers: Wang Anshi war zwischen 1070-1075 Premierminister unter Kaiser Shen Zong, in welcher Zeit er unter dem Motto Neue Politik (xin fa 㕘㱽) eine Reihe von Reformen durchführte, die auf der Idee eines starken Staates beruhte, dessen Pflicht darin besteht, die materiellen Lebensgrundlagen sämtlicher Mitglieder der Gesellschaft zu sichern. Elemente dessen, was mit heutigen Begriffen ›Wohlfahrtsstaat‹ und ›Planwirtschaft‹ genannt wird, waren integrale Bestandteile dieser Neuen Politik, die in konservativen Kreisen am Hof erbitterten Widerstand hervorrief. Der Anführer der Reformgegner war Sima Guang (⎠楔⃱, 1019-1086), der schließlich Wangs Nachfolger im Amt des Premierministers wurde. Die Kämpfe zwischen Reformern und Konservativen dauerten bis weit über die Lebenszeit der beiden Hauptprotagonisten hinaus an.

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962-1033) anwies, einen Kommentar zu verfassen, der schließlich im Jahre 1014 unter dem Titel Botschaft und Sinn des Mengzi (Mengzi yin yi ⬇⫸枛佑) erschien. Im Jahre 1061 errichtete Kaiser Ren Zong (ṩ⬿, Regierungszeit 1022-1063) eine Steintafel, worin der Titel Mengzi zusammen mit den Namen acht weiterer kanonischer Schriften eingraviert war. Mit dieser Steintafel wurde der Aufstieg des Mengzi in den Rang eines Klassikers gleichsam offiziell besiegelt. Im Jahre 1084 schließlich war es Kaiser Shen Zong (䤆⬿, Regierungszeit 1067-1084), der Menzius im Konfuzius-Tempel seine Verehrung erwies, womit endgültig die Aufmerksamkeit sämtlicher Gelehrter auf das entsprechende Werk gelenkt wurde – eine Aufmerksamkeit, die freilich oft genug zu kritischen Urteilen führte. Als letzter Schritt ist dann noch die Aufnahme des Mengzi in den Kreis der von Zhu Xi edierten Vier Bücher (Si shu ⚃㚠) zu nennen, die ab dem Jahre 1313 zusammen mit Zhu Xis Gesammelten Kommentaren zu den Kapiteln und Sätzen der Vier Bücher (Si shu zhang ju ji zhu ⚃㚠䪈⎍普㲐) die Textgrundlage für die zentralen Beamtenprüfungen darstellten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war das Buch Mengzi also offizielle Pflichtlektüre für jeden Kandidaten, der Einlass in den Kreis der gelehrten Elite begehrte. Während eine auf die große Geistestradition Chinas verweisende Standarformel vorher »Zhou-Kong« (␐⫼) gelautet und neben Konfuzius (chin. Kong Zi ⫼⫸) den Kulturheroen des Altertums Zhou Gong (␐℔) angesprochen hatte, so wandelte sich diese Referenz nun in die Formulierung »Kong-Meng« (⫼ ⬇) und zeigte an, dass Menzius’ Status innerhalb der Traditon nur noch von Konfuzius selbst übertroffen wurde. Die Aufmerksamkeit, die dem Mengzi als einem zentralen kanonischen Text der Tradition nun zuteil wurde, erhöhte sich noch aufgrund der eben angedeuteten zeitgeschichtlichen Umstände. Parallelen zwischen den geschichtlichen Kontexten der Entstehungszeit des Mengzi am Ende der Zeit der Streitenden Reiche und der Songzeit selbst führten die Gelehrten dieser Epoche dazu, sich in besonderer Weise auf Menzius’ Gedanken zu beziehen.3 Die Parallelen lassen sich auf den Nenner eines 3 | Für eine vorläufige Diskussion der Auseinandersetzungen um das Buch Mengzi in der Songzeit siehe James T.C. Liu: Reform in Sung China: Wang An-Shih (1021-1086) and His New Policies, Cambridge, MA: Harvard University Press 1959, S. 34f.; Chun-

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Leidens der Bevölkerung unter politischer Unterdrückung bringen. Drei Faktoren waren zu Menzius’ Zeit für den schlechten Zustand der Gesellschaft verantwortlich: Zunächst kurzsichtiges Profitdenken auf Seiten der feudalen Herrscherelite, welches Menzius kritisierte, indem er den Unterschied zwischen Gerechtigkeit (yi 佑) – auch im Sinne der gerechten Verteilung von Gütern – und bloß partiellem Nutzen (li ⇑) betonte, worunter das Anhäufen von Gütern in den Händen einer kleinen, skrupellosen Elite fiel. Sodann ist politisches Missmanagement zu nennen; Menzius formulierte scharfe Kritik an Herrschern, die zu Zeiten von Aussaat oder Ernte »Arbeiter von den Feldern abziehen, so dass diese das Land nicht bestellen und damit ihre Eltern ernähren können, welche unter Hunger und Kälte leiden, während Brüder, Ehefrauen und Kinder auseinandergerissen werden« (Mengzi 1A, 5). Drittens schließlich waren viele Herrscher zu Menzius’ Zeit mit ständiger Kriegsführung beschäftigt, ohne sich um die verheerenden Folgen für Land und Städte zu kümmern. Wenngleich zwei verschiedene historische Epochen einander niemals vollständig gleichen, lassen sich doch Gemeinsamkeiten ausmachen zwischen den von Menzius beklagten Missständen und der politischen Situation der Songzeit – wie überhaupt festgestellt werden muss, dass nur wenige Abschnitte der chinesischen Geschichte nicht von diesen oder ähnlichen Missständen gekennzeichnet waren. Die politische Situation der Songzeit war in besonderer Weise geprägt von der Zentralisierung politischer Macht am Kaiserhof, die einherging mit einer Schwächung der Stellung des Premierministers und dem vermehrten Aufkommen von Geheimgesellschaften und Spionagezirkeln sowie einer bestimmten Form literarischer, gelehrter Debatten, die sich zum beherrschenden Medium politischer Beratung entwickelten. Alle diese Faktoren trugen letztlich zu einer Schwächung des Staates bei und führten zu vermehrten Überfällen nomadischer Völker, die von Norden her ins chinesische Kernland einfielen. Menzius’ scharfes Auge für die Leiden der Bevölkerung und sein leidenschaftlich vertretenes Ideal einer Regierung für das Volk musste in dieser Zeit attrakchieh Huang: ⬇⫸ġ (Mengzi), Taipeh: Dongda tushu gongsi 1993, S. 139-236.

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tiv wirken auf Beamten-Gelehrte, die der politischen Entwicklung der Songzeit kritisch gegenüberstanden und nach Mitteln suchten, ihr Nicht-Einverständnis zu artikulieren. Im Zentrum der Auseinandersetzung standen daher die Frage des gerechten Regierens und das Problem der Legitimation von Maßnahmen, unter denen die Bevölkerung zu leiden hatte. Die Diskutanten, Beamten-Gelehrte und damit die Trägerschicht der staatlichen Administration und Verwaltung, befanden sich dabei in der schwierigen Situation, gleichsam in zwei Welten zu leben: Real waren sie Teil der kaiserlichen Politik und damit für das Leiden der Bevölkerung mitverantwortlich, und gleichzeitig fühlten sie sich dem in den kanonischen Schriften vertretenen Ideal einer harmonischen und auf die Bedürfnisse des Volkes zugeschnittenen Gesellschaft verpflichtet. Letzteres wird im Mengzi mit besonderer Entschiedenheit vertreten und bildet den Hintergrund etwa für die Unterscheidung zwischen legitimen Herrschern (wang 䌳) und illegitimen Machthabern (ba 曠) – das menzianische Vokabular fand daher zunehmend Eingang in die intellektuellen Debatten der Songzeit. In besonderer Weise gilt dies für den erwähnten Wang Anshi, einen Verehrer und nimmermüden Leser des Mengzi, dessen Ideen und Ideale er versuchte zur Grundlage seiner Reformbewegung zu machen. Da diese Reformen höchst umstritten waren, ist es nur natürlich, dass Wang Anshis Gegner ihre Positionen artikulierten, indem sie Angriffe gegen Menzius vorbrachten. Wichtig ist es zu verstehen, dass die Debatten um das Buch Mengzi zwar auf den ersten Blick nach den üblichen und eher unschuldigen Diskussionen gelehrter Männer über einen alten Text aussehen, dass sie aber tatsächlich der Schauplatz eines politischen Kampfes waren und Einfluss auf konkrete Entscheidungsprozesse und die Ergreifung folgenreicher Maßnahmen hatten, nämlich auf die Reformbemühungen Wang Anshis gegen die Widerstände der konservativen Fraktion am Kaiserhof. Diese Maßnahmen waren äußerst weitreichender Natur und betrafen Grundsatzfragen der politischen Organisation: Steht im Zentrum der politischen Ordnung der Kaiser oder das Volk? Welche Beziehungen bestehen zwischen Herrscher und Untertan? Was unterscheidet Königtum (wang dao 䌳忻) und Despotentum (ba dao 曠忻)? Gewissenhafte Beamten-Gelehrte mögen mit diesen Debatten die Hoff nung verbunden haben, den Kaiser auf reale Missstände der Verwaltung und auf das Leiden

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der Bevölkerung aufmerksam zu machen und lokale Machthaber für ihre Verfehlungen abzumahnen. Der Streit um den Text des Mengzi war also kein bloßer Streit um Worte, sondern um politische Ideale und die Möglichkeiten ihrer Realisierung. Wir sehen hier, wie sich der politische Diskurs im traditionellen China von der westlichen Tradition unterscheidet, in welcher etwa die Schriften des Thomas von Aquin niemals in gleicher Weise im Zentrum von Debatten über Fragen des richtigen Regierens gestanden haben wie das Buch Mengzi in der Songzeit. Wenden wir uns nun der Frage zu, was genau die Streitfragen waren, die verhandelt wurden.

6.1.2 Kontroversen um das Mengzi: Die Inhalte Was die songzeitlichen Gegner des Menzius vor allem irritiert hat, war dessen Abkehr von einem Herrscher-zentrierten Ideal politischer Organisation ( junzhu zhutixing ⏃ᷣᷣ橼⿏) zugunsten der im Ausdruck »Das Volk ist die Wurzel« (min ben 㮹㛔) zum Ausdruck kommenden Vorstellung einer Politik für das Volk (minzhu zhutixing Ṣ㮹ᷣ橼⿏). Die Angriffe auf Menzius’ Anti-Royalismus konzentrierten sich auf drei wichtige Aspekte seiner Lehre: Die erwähnte Unterscheidung zwischen legitimer (wang 䌳) und illegitimer (ba 曠) Herrschaftsausübung, das heißt zwischen König und Despot, die Beziehung zwischen Herrscher und Untertan und schließlich die Bedeutung des Dao (忻), das heißt vor allem die politischen Implikationen dieser Leitvokabel. Zum ersten Punkt: Die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Herrschern, Wang und Ba, bezog sich in Menzius’ Augen auf das moralische Kriterium, inwiefern es sich um eine humane oder inhumane, um das Wohl des gemeinen Volkes besorgte oder unbesorgte Ausübung politischer Macht handelte. Die Gegenfraktion sah in dem Begriffspaar dagegen lediglich die moralisch neutrale Unterscheidung von Herrschern über große Territorien (wang 䌳) und solchen, deren Herrschaftsgebiet kleiner ist (ba 曠). 4 Anhänger des Menzius wiederum berie4 | Anmerkung des Übersetzers: Der heutige Gebrauch beider hier in Frage stehenden Schriftzeichen ist klar von der Inter-

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fen sich auf dessen Ausdruck eines »Herzgeistes der das Leiden anderer Menschen nicht erträgt« (bu ren ren zhi xin ᶵ⽵Ṣᷳ⽫) und den zu besitzen für sie die unbedingte Voraussetzung für die Qualifikation zum Herrscheramt, d.h. letztlich Grundlage der Legitimation des Herrschers war. Wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, war ein solcher Herzgeist für Menzius’ Anhänger einerseits Teil der natürlichen Grundausstattung des Menschen und andererseits Bestandteil einer umfassenden moralisch-kosmologischen Ordnung (dazu weiter unten mehr). Ein legitimer Herrscher im Sinne des Wang war Repräsentant dieser Ordnung, welche zu erhalten seine oberste Pflicht darstellte. Das anti-royalistische Potential der menzianisch inspirierten politischen Metaphysik liegt auf der Hand. Wenn ein Herrscher nicht seinem das Leiden anderer Menschen nicht ertragenden Herzgeist wie einem moralischen Kompass folgt und eine Form von »Politik die das Leiden anderer Menschen nicht erträgt« (bu ren ren zhi zheng ᶵ⽵Ṣᷳ㓧) (Mengzi 2A, 6) betreibt, dann stürzt er die Welt in Unordnung und Unglück und verdient es nicht, ein legitimer Herrscher (wang 䌳) genannt zu werden. Er ist dann, wie Menzius an einer Stelle voller Verachtung schreibt, lediglich »ein gesetzloser Geselle« (yi fu ᶨ⣓) (Mengzi 1B, 8), den es von seiner Machtposition zu entfernen gilt. Es handelt sich bei ihm um einen illegitimen Ba-Herrscher, der das Volk mit brutaler Macht kontrolliert und Mitmenschlichkeit (ren ṩ) allenfalls als Vorwand benutzt, während ein legitimer Wang-Herrscher Mitmenschlichkeit tatsächlich ausübt. In traurigem Kontrast zu den Drei Dynastien des frühen Altertums, während welcher Zeit die Herrschaft von einem Wang-König zum nächsten überging, sah Menzius zu seiner Zeit lediglich illegitime Despoten an der Macht, die eine Flut von Not und Leiden über ihre Untertanen brachten.5 Da solcher Missbrauch seinen Ursprung in einem System hatte, das ganz pretation des Menzius und seiner Anhänger geprägt. Es lassen sich jedoch Bedeutungsschichten ausmachen, die auch ein anderes Verständnis zulassen. Wang (䌳) bezeichnet den »König«, mithin das Oberhaupt eines Staates, während Ba (曠) ursprünglich soviel wie »Chef« bedeutete, also den Anführer einer Gemeinschaft, die nicht ein ganzes Volk umfassen muss. 5 | Vgl. Mengzi 2A, 1; 3B, 5; 6A, 18.

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auf die zentrale Stellung eines Herrschers und die Erhaltung seiner Macht zugeschnitten war, stand Menzius diesem System mit unversöhnlicher Feindschaft gegenüber. Er vertrat einen ›Populismus‹ im guten Wortsinne: Politik, die auf das Wohl des Volkes ausgerichtet und kein Leiden der Bevölkerung erträgt. Die Essenz von Regierung und legitimer Machtausübung liegt in der Regelung öffentlicher Angelegenheiten im Sinne des Allgemeinwohls und in nichts anderem. Ein solcher Standpunkt war einigen kaiserlichen Herrschern der Songzeit und den royalistischen Beamten-Gelehrten ein Dorn im Auge und brachte sie dazu, ihre Gegenposition in folgenden drei Punkten zu formulieren: 1.) Die Unterscheidung zwischen Wang- und Ba-Herrschern im Sinne der Menzius-Fraktion ist politisch irrelevant, weil Mitmenschlichkeit die Grundbedingung für effektives Regieren überhaupt darstellt, also bei Abwesenheit aller Mitmenschlichkeit von Politik überhaupt nicht gesprochen werden kann. Die Unterscheidung ist folglich von untergeordneter Bedeutung und bezieht sich lediglich auf den Rang eines Herrschers und die Größe des ihm unterstehenden Territoriums. 2.) Die effektive Verwaltung von kleineren Gebieten – also BaHerrschaft im nicht-moralischen Sinne – gründet in der Treuepflicht dieser Herrscher gegenüber den Wang-Königen, die über große Staatsgebiete herrschen. Und 3.) Da effektive Herrschaft ihren Grund in Mitmenschlichkeit (ren ṩ) und Gerechtigkeit (yi 佑) hat und spätere Dynastien wie Qin, Han, Sui und Tang an Effektivität den Drei Dynastien des frühen Altertums nicht nachstanden, besteht letztlich kein Unterschied zwischen den Drei Dynastien, auf die sich die songzeitlichen Anhänger des Mengzi berufen, und den späteren Dynastien, welche sie unter Berufung auf das Mengzi kritisieren. Kommen wir zum zweiten Punkt, der Beziehung zwischen Herrscher und Untertan, die natürlich eng mit der gerade untersuchten Unterscheidung zweier Typen von Herrschaft zusammenhängt. Worauf beruhte die Beziehung, welche Bindungen und Verpflichtungen waren mit ihr verbunden? Für die songzeitlichen Anhänger des Menzius war die Beziehung eine, die auf gegenseitiger Verpflichtung beruhte und damit die Form eines Vertrages annahm. Wenn das Geschäft des Herrschers in der Sorge um das Allgemeinwohl besteht, ist Legitimität an die Erfüllung dieser Verpflichtung des Herrschers gebunden und entfällt, wenn der Herrscher seine Pfl icht

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vernachlässigt. In einer Passage, die den späteren mingzeitlichen Kaiser Ming Taizu (㖶⣒䣾, Regierungszeit 1368-1398) heftig erzürnt haben soll, heißt es im Mengzi: »Wenn ein Herrscher seine Untertanen als seine Hände und Füße betrachtet, werden diese ihn als ihr Herz und ihre Seele betrachten […]. Wenn der Herrscher seine Untertanen wie Erde und Gras betrachtet, werden diese ihn als ihren Feind und Rivalen betrachten« (Mengzi 4B, 3). Menzius’ Vorstellung von einer gleichsam vertragsmäßig wechselseitigen Beziehung zwischen Herrscher und Untertanen speist sich aus zwei Quellen: Der erwähnten Auffassung vom »Volk als Wurzel« (min ben 㮹㛔) und einem meritokratischen Element. Um das Wohl des Volkes besorgte Herrscher bedurften gleichzeitig der Teilnahme von Untertanen am politischen Prozess, etwa in Form von Meinungsäußerungen an den Höfen regionaler feudaler Machthaber, wodurch die Verantwortlichen über Probleme und Missstände in Kenntnis gesetzt wurden und Vorschläge zur Behebung entgegennehmen konnten. Diese ›Berater‹ – Menzius war zu seiner Zeit einer von ihnen – tendierten allerdings dazu, in solchen unter den damaligen Feudalstaaten zu verweilen, deren Herrscher ein offenes Ohr für ihre Anliegen hatten; andernfalls zogen sie es vor, sich in den Herrschaftsbereich eines anderen Machthabers zu begeben. Die Gegenseitigkeit in der Herrscher-Untertan Beziehung ist hier also insofern eingeschränkt, als die Verpflichtung des Herrschers gegenüber seinen Untertanen zwar eine absolute ist, den Untertanen aber das Recht eingeräumt wird, sich der Herrschaft zu entziehen, wenn ein Machthaber seinen Verpflichtung nicht gerecht wird. Im songzeitlichen China konnte eine solche Vorstellung bei den Hütern der kaiserlichen Zentralgewalt nur als Subversion und Bedrohung für jede Art staatlicher Herrschaft überhaupt wahrgenommen werden. Entsprechend attackierten sie das Mengzi – dabei natürlich ihre zeitgenössischen Gegner im Blick habend – als eine Schrift, welche Respektlosigkeit und Illoyalität gegenüber dem Herrscher propagiert. Der Anführer der konversativen Fraktion am Hof der Song, Sima Guang (⎠楔⃱, 1019-1086), zitierte das historische Beispiel des Weisen Zhou Gong (␐℔), welcher dem jungen und noch unerfahrenen König Cheng (ㆸ䌳) zur Seite gestanden und damit seine eigene überlegene Tugend und sein Respekt erheischendes hohes Alter dem Respekt für das Amt des Königs untergeordnet habe. Men-

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zius wollte Tugend und Alter dem politischen Rang gleichgestellt sehen (vgl. Mengzi 2B, 2), aber Sima Guang argumentiert, dass ohne die Art von Loyalität, wie Zhou Gong sie gezeigt habe, es zwangsläufig zur Insubordination kommen müsse, weil Untergebene sich zuviel auf ihre eigene Tugend oder ihr Alter zugute halten. Parteigänger des Sima Guang warfen Menzius zudem Unfairness gegenüber den Herrschern seiner Zeit vor, die keineswegs so schlimm gewesen seien und daher solche Illoyalität nicht verdient hätten. Die anti-menzianische Fraktion der Song-Gelehrten legte außerdem Wert auf das traditionelle, von Konfuzius stammende Diktum von der »Richtigstellung der Bezeichnungen« (zheng ming 㬋⎵), das keineswegs nur eine Regelung korrekten Sprachgebrauchs, sondern eine Betonung der Verpflichtungen war, die mit verschiedenen sozialen Rollen einhergingen. Soziale Rangunterschiede und damit Gehorsamspflicht gegenüber dem Ranghöheren war nach konservativer Ansicht ein wesentlicher Teil politischer Ordnung, der nicht einfach einseitig annuliert werden durfte. Bezeichnungen (ming ⎵), inklusive der in ihnen zum Ausdruck kommenden Rangunterschiede, waren nach Ansicht des Sima Guang aufs Engste verwoben mit den sogennanten »Riten« oder »Bahnen angemessenen Verhaltens« (li 䥖) und in diesem Zusammenspiel unverzichtbar für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung – einer Ordnung, die auch nach Ansicht der Menzius-Gegner nicht nur sozial und politisch, sondern kosmisch und in letzter Konsequenz allumfassend war.6 Wie Sima Guang betonte, war es Konfuzius, der diesen Aspekt in seiner Wichtigkeit erkannt hatte, als er sich weigerte, vom Feudalherren des Staates Wei bedient zu werden, ganz so als ob er, Konfuzius selbst, ein Herrscher wäre, während er doch nur den sozialen Rang eines gewöhnlichen Menschen einnehme. Und Sima Guang lässt die Namen einer ganzen Reihe von loyalen Beamten-Gelehrten folgen, die ihren Herrschern bis zum Tode gedient haben. Wer einen Herrscher umbringe, verdiene dagegen niemals das Prädikat »gerecht« (yi 佑). Dieser letzte Punkt bringt uns zum dritten oben angesprochenen Fragekomplex, nämlich der Frage nach dem Dao (忻), also danach, in welches umgreifende kosmologisch metaphy6 | Dazu im folgenden Abschnitt mehr.

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sische Weltbild die politischen Vorstellungen des Menzius eingebunden waren und wie die songzeitlichen Diskutanten zu diesem Weltbild stehen. Die Frage ist eng verwoben mit einer anderen, nämlich der nach Menzius’ Orthodoxie, d.h. danach inwiefern Menzius’ Ansichten in Übereinstimmung mit denen des Konfuzius standen – hierzu gab es in der Songzeit ebenfalls erbittert geführte Debatten. Die Anti-Menzianer versuchten natürlich zu beweisen, dass Menzius im Gegensatz zu seiner Selbstbeschreibung als Schüler und Anhänger des Konfuzius in Wirklichkeit einen heterodoxen Standpunkt vertrat. Sie verwiesen dazu beispielsweise auf die offensichtliche Tatsache, dass Menzius’ Herrscherkritik weit radikaler ist als die des Konfuzius. Um den Kontrast zu betonen, sammelten sie historisches Material, das Gelegenheiten dokumentiert, da Konfuzius sich respektvoll und loyal gegenüber feudalen Herrschern zeigte – wie im obigen Beispiel seine Weigerung, sich vom Herrscher des Staates Wei bedienen zu lassen. Li Gou (㛶套, 1009-1059), ein Parteigänger des Sima Guang, brachte die Position der songzeitlichen Menzius-Kritiker auf den Punkt, indem er schrieb, das Dao des Konfuzius bestehe darin, dass Herrscher sich wie (gute) Herrscher und Untertanen sich wie (loyale) Untertanen zu verhalten haben, während das Dao des Menzius in der Behauptung liege, jeder könne ein Herrscher werden. Die Menzius-Anhänger ihrerseits bemühten sich, die Übereinstimmung in den Positionen von Konfuzius und Menzius zu betonen, zum Beispiel ihre geteilte Verehrung für die weisen Herrscher der Zhou. Sie unterstrichen, dass Menzius sogar unverzichtbar für die Bewahrung und Weitergabe von Konfuzius’ Dao gewesen sei, welches ohne Menzius’ Anstrengung in den Händen mediokrer Denker korrumpiert worden wäre. Worin aber besteht das Dao des Konfuzius? Unterscheidet es sich in wesentlicher Hinsicht von dem Dao, das Menzius vertritt? Diese Fragen führen uns gleichsam an die metaphysische Wurzel der songzeitlichen Debatten. Für beide Seiten ist die Beziehung zwischen Herrscher und Untertan nicht nur ein wesentlicher Stützpfeiler der manifesten sozialen und politischen Ordnung, sondern Teil einer umfassenden und in den kanonischen Schriften der Tradition ausformulierten idealen Ordnung der Welt überhaupt. Für diese Ordnung insgesamt und ihren Wertgehalt steht der Ausdruck

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Dao. Die Frage ist nun, wie dieser Wertgehalt im Einzelnen bestimmt wird. Wir haben gerade die entschiedene Behauptung des Li Gou vernommen, die das seiner Meinung nach heterodoxe Dao des Menzius auf den Nenner bringt ›Jeder kann ein Herrscher werden‹. Die Behauptung übersieht freilich, dass Menzius seinen Begriff des Dao durchaus inhaltlich ausgeführt hat, und zwar vor allem mittels des Begriffspaares »Mitmenschlichkeit« (ren ṩ) und »Gerechtigkeit« (yi 佑) – diese sind Menzius’ Auffassung nach zwar Teil der menschlichen Natur, d.h. über sie verfügt grundsätzlich ein jeder Mensch und insofern kann tatsächlich jeder Mensch Herrscher werden, aber die entscheidende Bedingung lautet, dass Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit auch tatsächlich die bestimmenden Orientierungen seines Verhaltens sein müssen. Die Menzius-Gegner wollten dagegen die Möglichkeit, das jeder Mensch Herrscher werden könne, schon im Grundsatz nicht akzeptieren und versuchten Konfuzius’ Position so darzustellen, dass sie nach einer endgültigen Festschreibung der Rollen von Herrscher und Untertan aussieht, wodurch also vor allem der letztere auf seine untergeordnete Position festgelegt wird. Wir können aus der Debatte folgendes Fazit ziehen: Die Menzius-Gegner, deren Dao sich auf die Beziehung von Herrscher und Untertan stützt, betonen die Unwandelbarkeit und Unantastbarkeit der Position des Herrschers, die eine zentrale Position im kosmischen Ordnungszusammenhang und damit Teil einer umgreifenden natürlichen Ordnung ist. Für sie ist der Herrscher qua Herrscher aller (per se illoyalen) Kritik entzogen. Die Anhänger des Menzius dagegen betonen die Bedeutung von Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit und damit die Qualifikation konkreter Personen zur Ausübung von Herrschaft und die potentielle Einladung an alle, die diese Qualifi kation besitzen, tatsächlich Herrschaft auszuüben. Die Qualifikation ist eine moralische, und Moralität ist ebenfalls Teil der umfassenden natürlich kosmischen Ordnung.7 Im Rückblick können wir die Inkohärenz der anti-menzianischen Argumentation erkennen, indem wir uns zwei Punkte vor Augen halten: Erstens haben die Gegner des Menzius 7 | Vgl. die Ausführungen in meinem Buch ⬇⫸⿅゛⎚婾 (Abhandlungen zur Geschichte menzianischen Denkens), Bd. 1, Taipeh: Dongda tushu gongsi 1991, S. 65-103.

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dessen Grundintention verfehlt, wenn sie gegen ihn die Absolutheit der Herrscher-Untertan Beziehung betonen, so als ob Menzius es darauf abgesehen hätte, die Institution kaiserlicher Herrschaft grundsätzlich abzuschaffen. Tatsächlich hat Menzius niemals vorgehabt, eine in unserem Sinne demokratische Regierungsform zu etablieren. Er wollte keine Regierung durch das Volk, sondern für das Volk. Mit anderen Worten, Menzius ging es nicht um die Institution der Herrschaft als solche, sondern um die Qualifi kation der konkreten Person, welche Herrschaft ausübt. Die eigentliche Bedeutung von Herrschaft ist für ihn der »Volk als Wurzel« (min ben 㮹㛔) Gedanke, nicht Demokratie (min zhu 㮹ᷣ), und der tatsächliche Herrscher hat sich entsprechend zu verhalten, um als legitimer Herrscher gelten zu können. Menzius und seine songzeitlichen Anhänger haben also unterschieden zwischen der Institution der Herrschaft und dem konkreten Herrscher, während die Gegner so sehr auf die Autorität der Institution fi xiert waren, dass sie den Herrscher schließlich von der Möglichkeit der Kritik ganz und gar ausgenommen haben. Zweitens, auch die Menzius-Gegner gaben die Notwendigkeit der Mitmenschlichkeit zu, sowohl im Sinne einer effektiven Handhabung der politischen Geschäfte als auch in der Person des Herrschers. Damit aber wird ihr Bestreben, den Herrscher von Hinterfragung und Kritik auszunehmen, unplausibel. Beide Punkte – Blindheit gegenüber der Unterscheidung von Herrschaftsinstitution und Herrscher, und die Notwendigkeit mitmenschlicher Herrschaftsausübung – enthüllen die Inkohährenz der Position der Menzius-Gegner.

6.1.3 Politische Dimensionen konfuzianischer Hermeneutik Aus der hier vorgelegten Skizze der ›Politik der Menzius-Debatten‹ in der Songzeit, lassen sich einige Eigenarten der konfuzianischen Hermeneutik als Politik herauslesen. Drei Punkte verdienen besondere Beachtung: 1.) Der pragmatische, d.h. unmittelbar auf die soziale und politische Praxis bezogene Charakter konfuzianischer Gelehrsamkeit; 2.) die von beiden Seiten in der Debatte geteilten ontologischen und ethischen Vorannahmen;

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3.) die dennoch sich zeigende radikale Verschiedenheit der Perspektiven auf ein und denselben Text. Wir haben gesehen, wie die vermeintlich ›nur gelehrten‹ Debatten über das Buch Mengzi tatsächlich das Medium einer hochgradig aufgeladenen Auseinandersetzung über die Legitimität bestimmter politischer Maßnahmen und gesamter Herrschaftsinstitutionen der Songzeit waren. Dies ist ein Charakteristikum des politischen Diskurses im traditionellen China, der sich von der Tradition des Abendlandes stark unterscheidet. Anzumerken ist freilich, dass diese Art des Diskurses durchaus eine Schattenseite hat. Die Auseinandersetzungen über das Buch Mengzi waren zugleich der Kampf zweier gegensätzlicher Tendenzen, die wir als »Konfuzianisierung der Politik« (zhengzhi de rujiahua 㓧㱣䘬₺⭞⊾) einerseits und »Politisierung des Konfuzianismus« (rujia de zhengzhihua ₺⭞䘬㓧㱣⊾) andererseits bezeichnen können. Erstere meint ein Bemühen um Humanisierung der Politik im Sinne des menzianischen Gedankens vom Volk als Wurzel und dem Ideal der Mitmenschlichkeit (ren ṩ). Letztere bezeichnet die gelehrte Legitimierung despotischer Politik durch sophistische Reinterpretation der kanonischen Schriften des Konfuzianismus. In der Songzeit war es leider die letztere Tendenz, die schließlich die Oberhand behalten sollte – und die Songzeit stellt in dieser Hinsicht auch keine Ausnahme innerhalb der Geschichte des Konfuzianismus dar, im Gegenteil. Wichtig für unsere Zwecke sind allerdings auch einige Dinge, die in den Debatten der Songzeit gerade nicht verhandelt wurden, etwa das Verständnis des spezifischen Zusammenhangs von Mensch und Kosmos, die ideale Herrschaft des Tugendhaften und die grundsätzlich zumindest potentiell tugendhafte Natur des Menschen. Wir können schlussfolgern, dass es sich hier um Standpunkte handelt, bezüglich welcher in der Songzeit keine nennenswerten Meinungsunterschiede bestanden haben; sie dienten vielmehr als gemeinsamer Boden oder Bezugsrahmen für Debatten über konkrete politische Fragen. Auch die Gegner des Menzius negierten schließlich nicht den Wert und, wie wir gesehen haben, die Notwendigkeit der Tugend der Mitmenschlichkeit. Sima Guang behauptete, dass ohne Mitmenschlichkeit Regierung überhaupt nicht möglich sei und stellte die Forderung an jeden Herrscher auf, seiner Bezeichnung (ming ⎵) durch Kultivierung der eigenen

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moralischen Natur gerecht zu werden.8 Es handelt sich bei der Fraktion der Menzius-Gegner also nicht um Vertreter einer amoralischen zynischen Machtpolitik; vielmehr stimmten sie mit ihren Gegnern darin überein, dass Tugendhaftigkeit und Güte notwendig sind für jedes Leben in Gemeinschaft, wenn nicht als absoluter metaphysischer Grund, dann immerhin als praktische Notwendigkeit.

8 | Vgl. Peter K. Bol: »Government, Society, and State: On the Political Visions of Ssu-ma Kuang [Sima Guang] and Wang Anshih«. In: Robert P. Hymes und Conrad Schirokauer (Hg.), Ordering the World: Approaches to State and Society in Sung Dynasty China, Berkely/CA: University of California Press 1993, S. 128-192.

6.2 Konfuzianische Hermeneutik als Pilgerschaf t: Wang Yangming

In den vorangegangenen Kapiteln dieses Buches haben wir gesehen, dass Chinas reiche und vielfältige hermeneutische Tradition verschiedene Strömungen und Momente enthält, wobei einer der wichtigsten darin besteht, dass konfuzianische Gelehrte sich in der Auseinandersetzung mit den kanonischen Schriften Rechenschaft über ihre eigene moralische Kultivierung ablegen. Diesen Aspekt bezeichne ich hier als »Pilgerschaft der moralischen Kultivierung«9 und möchte ihn im vorliegenden Abschnitt näher untersuchen. Der mingzeitliche Konfuzianer Wang Yangming (䌳春㖶, 1472-1529) bietet sich dazu als Gegenstand an, denn er war einer der wichtigsten Denker der chinesischen Geistesgeschichte (außerdem ein ausgezeichneter Administrator und militärischer Stratege), dessen gesamtes Denken sich aus seinem lebenslangen Bemühen um moralische Kultivierung speist. Seine Philosophie entstand außerdem in intensiver Auseinandersetzung mit dem dominierenden Gedankensystem seiner Zeit, nämlich dem Neo-Konfuzianismus des Zhu Xi (㛙䅡, 1130-1200), dessen zentrale Ideen wir in den vorangegangenen Kapiteln bereits kennengelernt haben. 9 | Anmerkung des Übersetzers: Wieder einmal handelt es sich um eine behelfsmäßige, auf eine Anregung durch den Autor zurückgehende Übersetzung. Der Originalausdruck ᾳṢ⽫嶗㬟 䦳 (ge ren xin lu li cheng) wäre wörtlich zu übersetzen als »Reiseroute auf dem Weg des Herzgeistes des einzelnen Menschen«.

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Wang Yangmings Leben war geprägt von großen Erfolgen und mindestens ebenso großen Rückschlägen, und es hat in den vergangenen Jahren die Aufmerksamkeit vieler Gelehrter erfahren.10 Nach jahrelanger Suche und der intensiven Auseinandersetzung mit konfuzianischen, buddhistischen und daoistischen Schriften gelangte Wang Yangming im Jahre 1508 – während er sich in der heutigen Provinz Guizhou in Verbannung befand – zur zentralen Doktrin seines Denkens, nämlich der »Erlangung inneren Wissens« (zhi liang zhi 农列䞍).11 Die Forschung zu Wang Yangming ist mittlerweile so weitläufig und komplex, dass sie geradezu einen eigenen Bereich innerhalb der Erforschung der chinesischen Geistesgeschichte konstituiert – das vorliegende Kapitel kann daraus nur einen kleinen Ausschnitt betrachten, nämlich Wangs Auslegung des Mengzi, welche sich in seinen berühmten Aufzeichnungen über die Unterweisung in der Tradition (Chuan xi lu ⁛佺抬12) findet. Wir werden zunächst betrachten, wie Wang Yangming Menzius interpretiert und uns dabei auf drei weithin bekannte, aber schwer zu verstehende Ausdrücke konzentrieren, nämlich »Kultivierung/Nährung des Qi« (yang qi 梲㯋), »Sammlung/Akkumulation von Gerechtigkeit« ( ji yi 普佑) und »den Herzgeist kennen, die menschliche Natur kennen, den Himmel kennen« (zhi xin, zhi xing, zhi tian 10 | Zwei repräsentative Werke in englischer Sprache sind: Tu Wei-ming: Neo-Confucianism in Action: Wang Yang-ming’s Youth (1472-1509), Berkely/CA: University of California Press 1976; Julia Ching: To Acquire Wisdom: the Way of Wang Yang-ming, New York: Columbia University Press 1976. 11 | Siehe T’ang Chun-I [Tang Junyi]: »The Development of the Concept of Moral Mind from Wang Yang-ming to Wang Chi«. In: William Theodore de Bary and the Conference on Ming Thought (Hg.), Self and Society in Ming Thought, New York: Columbia University Press 1970, S. 93-120. 12 | Anmerkung des Übersetzers: Von diesem Werk gibt es eine englische Übersetzung von Wing-tsit Chan: Instructions for Practical Living and Other Neo-Confucian Writings, New York: Columbia University Press 1963. Ich werde die Schrift im folgenden Text unter dem Kürzel Aufzeichnungen führen, und zwar nach der Ausgabe von Chen Rongjie (昛㥖㌟, Wing-tsit Chan) (Hg.): 䌳春 㖶⁛佺抬娛姣普姽 (Kommentierte kritische Ausgabe von Wang Yangmings ›Aufzeichnungen‹), Taipeh: Xuesheng Shuju 1983.

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䞍⽫炻䞍⿏炻䞍⣑) (6.2.1). Anschließend betrachten wir einige typische Charakteristika von Wang Yangmings Menzius-Auslegung und zeigen, wie er einen typischen Trend kreiert hat, nämlich die Vereinigung von interpretierendem Subjekt und interpretiertem Text-Objekt. Dieser Typus chinesischer Hermeneutik präsentiert Stufen des Fortschritts in der persönlichen Kultivierung des Subjekts (des Interpreten) und nimmt die Form eines Berichts über die geistige Pilgerschaft des einzelnen Gelehrten an (6.2.2). Es handelt sich um eine existenzielle, von der Lebenserfahrung des Auslegers geprägte Hermeneutik, deren prägende Charakteristika wir anschließend noch einmal in einer Zwischenbetrachtung zusammenfassen wollen (6.2.3).

6.2.1 Wang Yangmings Auslegung des Mengzi Wenngleich Wang Yangming keinen eigenständigen MengziKommentar verfasst hat, sind seine zahlreichen Interpretationen zentraler Passagen des Mengzi, besonders in den Aufzeichnungen, doch so klar, entschieden und profund, dass wir aus ihnen das Muster seiner Menzius-Interpretation ersehen können. Wir betrachten zunächst die Stelle aus Mengzi (7A, 1), die unter dem leitenden Thema »Ausschöpfung des Herzgeistes« ( jin xin 䚉⽫) den eben erwähnten Ausruck »den Herzgeist kennen, die menschliche Natur kennen, den Himmel kennen« (zhi xin, zhi xing, zhi tian 䞍⽫炻䞍⿏炻䞍⣑) einführt.13 Es handelt sich um eine der an Implikationen reichsten Passagen aus dem Mengzi, die in nur 40 Schriftzeichen die Beziehungen zwischen drei wichtigen Begriffen behandelt, nämlich Herzgeist (xin ⽫), 13 | Anmerkung des Übersetzers: Es handelt sich um eine kurze Passage, die ich daher an dieser Stelle komplett und in enger Anlehnung an die Knappheit des Originals anführe: »Menzius sagt: Wer seinen Herzgeist ausschöpft, kennt seine Natur. Seine Natur zu kennen, führt dazu (ze ⇯) den Himmel zu kennen. Man dient dem Himmel (shi tian ḳ⣑), indem man seinen Herzgeist erhält (cun qi xin ⬀℞⽫) und seine Natur nährt (yang qi xing 梲℞⿏). Ob einer jung stirbt oder bis ins hohe Alter lebt, es ändert nichts (bu er ᶵḴ) [evtl. gemeint: es lässt ihn nicht zweifeln]. Mit festem Charakter erwartend was ihm bevorsteht, richtet er sein eigenes Schicksal auf (li ming 䩳␥).«

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menschliche Natur (xing ⿏) und Himmel (tian ⣑). Der Gedanke, der hier zum Ausdruck kommt ist der einer Transzendenz der menschlichen Natur, welche die Welt überschreitet und gleichzeitig in ihr verbleibt.14 Der Abschnitt ist ein zentrales Dokument der chinesischen Philosophie, bereitet aber jedem Interpreten nicht unerhebliche Probleme. Zwei davon stechen besonders hervor, nämlich die Frage, wie der Ausdruck ›Ausschöpfung des Herzgeistes‹ zu verstehen ist, und in welchem Zusammenhang er steht zu den Bemühungen, seine Natur und den Himmel zu kennen. Die prägnante Kürze von Menzius’ ursprünglichem Statement gibt uns einen breiten Spielraum für die Auslegung, aber auch Interpreten, die gewisse neue und eigene Standpunke und Ideen in den menzianischen Text hineingelesen haben, sind an diesen zwei zentralen Problemen nicht vorbeigekommen – das gilt gleichermaßen für Wang Yangming. Zur Besonderheit von Wangs Auslegung gehört aber, dass sie durchgängig – manch14 | Anmerkung des Übersetzers: Der Autor nimmt hier ohne weitere Erläuterung Bezug auf ein Konzept, das unter dem Namen »transzendente Immanenz« (chaoyue neizai 崭崲ℏ⛐) von Vertretern des zeitgenössischen Neukonfuzianismus entwickelt wurde, aber unter chinesischen Intellektuellen durchaus umstritten ist. Der Grundgedanke ist der, dass die chinesische Tradition zwar keine Transzendenz im starken Sinne der westlichen – platonischchristlichen – Metaphysik kennt, gleichzeitig aber dennoch auf eine Überschreitung bloßer innerweltlicher Faktizität ausgerichtet ist, nämlich im individuellen Bemühen um moralische Kultivierung. Hier spielt der Himmel (tian ⣑) als ultimative Norm und Wertquelle eine entscheidende Rolle. Konfuzianer, um es einmal verallgemeinernd zu formulieren, glauben demnach an die Möglichkeit, im diesseitigen Leben eine perfekte Ordnung und einen Zustand umfassender Harmonie zu realisieren, der zugleich die soziale Welt übersteigt und den gesamten Kosmos in sich begreift – zumindest misst sich an diesem Ziel der Erfolg ihres Engagements in der Welt. Auch Denker allerdings, die sich diesem Ideal verpflichtet fühlen, lehnen bisweilen die offensichtlich paradoxe Formulierung von der ›transzendenten Immanenz‹ ab. Vgl. etwa die Streitschrift des Hongkonger Philosophen Feng Yaoming (楖 侨㖶): 崭崲ℏ⛐䘬徟⿅ (Der Mythos von der transzendenten Immanenz), Hongkong: The Chinese University Press 2003.

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mal explizit, manchmal mehr implizit – eine Auseinandersetzung mit dem Neo-Konfuzianismus des Zhu Xi darstellt; erst die Kenntnis dieses Kontextes macht die Auslegung Wang Yangmings verständlich.15 Die Besonderheit von Wangs Deutung besteht darin, dass er in einem mutigen Schritt die ›Ausschöpfung des Herzgeistes‹ und die ›Kenntnis der menschlichen Natur‹ miteinander identifiziert. Für ihn ist diese Natur nämlich gleichsam die »Substanz« (ti 橼, wörtlich: der Körper) des Herzgeistes. Wang besteht außerdem darauf, dass es außerhalb des Herzgeistes 15 | Anmerkung des Übersetzers: Der Hauptstreitpunkt zwischen Zhu Xi und Wang Yangming ist die Frage nach dem richtigen Weg der moralischen Kultivierung. Zhu Xi vertrat die Doktrin der »Erforschung der Dinge« (gewu 㟤䈑), manchmal auch bezeichnet als »Erforschung der Dinge, Durchdringung des Li« (gewu qiongli 㟤䈑䩖䎮). Das Li – im Text der Kürze halber mit »Prinzip« wiedergegeben, obgleich »geistiges Ordnungsmuster« oder »Bahnen der Wirklichkeit« den dahinterstehenden Gedanken besser einfangen würde – ist die intelligible Ordnung der Welt, die sich in allen Dingen zeigt, weshalb die Erforschung aller möglichen Dinge uns in die Lage versetzt, das Li zu erfassen (vgl. hierzu den Eintrag im Glossar zentraler Begriffe im Anhang). Von Wang Yangming ist die Episode überliefert, dass er in Befolgung des von Zhu Xi gewiesenen Kultivierungsweges als junger Mann einmal sieben Tage lang in einem Bambuswald gesessen und meditiert habe, im schließlich erfolglosen – genauer: in einem in geistig körperlichem Zusammenbruch endenden – Versuch, das Li des Bambus und darüber das Li der Welt zu erfassen. Später, nach der erwähnten ›Kehre‹ seines Denkens während des Exils in Guizhou, kam er zu der Überzeugung, dass alleine durch Introspektion, d.h. Versenkung in den eigenen Herzgeist das Li zu erfassen sei. Gegen Zhu Xi behauptete er nun, das Li befinde sich nicht außerhalb des Herzgeistes in den äußeren Dingen, sondern im menschlichen Herzgeist selbst, mit dem es letztlich eins sei. Das Bestehen darauf, dass es kein Li außerhalb des menschlichen Herzgeistes gebe, hat dazu geführt, dass Wang Yangming häufig als ›Idealist‹ bezeichnet wurde. Es ist jedoch zu beachten, dass es sich bei Wangs Position nicht um eine erkenntnistheoretische Stellungnahme handelt, sondern um die Frage, wie die eigene moralische Natur am besten kultiviert und perfektioniert werden kann.

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kein Li oder ›Prinzip‹ gibt (wu xin wai zhi li 䃉⽫⢾ᷳ䎮). Beide Behauptungen gehören zusammen und richten sich gegen Zhu Xi: Die Ausschöpfung des Herzgeistes besteht nicht in einem Bemühen um Erforschung äußerer Dinge, sondern in dem Bemühen, die eigene Natur zu erkennen, was seinerseits wiederum ein praktischer Vorgang ist, nämlich eine Art von Wissen, das sich nur im Kontext moralischer Praxis einstellen kann. An einer zentralen Stelle schreibt Wang: »Der Herzgeist ist der Meister (zhu zai ᷣ⭘) des Körpers. Was aus dem Herzgeist hervorgeht (xin zhi suo fa ⽫ᷳ㇨䘤), ist der Wille (yi シ16). Die ursprüngliche Substanz (ben ti 㛔橼) des Willens ist Wissen, und worauf der Wille sich richtet [bzw. wo der Wille sich auf hält (yi zhi suo zai シᷳ㇨⛐)], das ist ein Ding (wu 䈑). Zum Beispiel, wenn der Wille sich darauf richtet, den Eltern zu dienen, dann ist der Dienst an den Eltern ein Ding.« 17

Wir sehen hier, wie Wang Yangming Zhu Xis Ausdruck »Erforschung der Dinge« (ge wu 㟤䈑) so deutet, dass ›Dinge‹ nicht äußere Gegenstände sind, sondern Handlungssituationen, in denen wir von unserem Herzgeist gesteuert werden und uns bemühen, das Gute und Richtige zu tun. Es ist dies ein Beispiel für ›Ausschöpfung des Herzgeistes‹ in Wang Yangmings Sinne: Ein Handeln entsprechend unserer Natur und Bestimmung, welcher wir uns bewusst werden, indem wir so handeln. Der Sprachgebrauch ist natürlich zunächst überraschend: ›Dinge‹, das sind eigentlich Gegenstände, denen wir in der Welt begegnen, während Wang Yangming sie nun zu dem erklärt, worauf unser Wille gerichtet ist bzw. zu dem Ort, »da unser Wille sich aufhält« (yi zhi suo zai シᷳ㇨⛐). Um seinen eigenen Ansatz gegen Zhu Xis Betonung der Erforschung äußerer Dinge zu stützen, muss Wang Yangming auf seiner erwähnten Behauptung bestehen, dass es außerhalb des Herzgeistes kein Li gibt. Mit einiger Vehemenz insistiert er auf diesem Punkt, denn für ihn sind Herzgeist und Li letztlich eins – wir müssen 16 | Anmerkung des Übersetzers: Dieser Ausdruck ließe sich auch mit »Absicht«, »Aufmerksamkeit« oder dem phänomenologischen Begriff der »Intentionalität« übersetzen, trägt nach Ansicht des Autors hier aber die Bedeutung »Wille«. 17 | Aufzeichnungen, S. 36f.

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folglich nicht unseren Herzgeist verlassen und äußere Gegenstände erforschen, um das Li zu erfassen. Wang schreibt: »Der Herzgeist ist das Li. Keinen egoistischen Herzgeist (si xin 䥩⽫) zu haben, heißt in Übereinstimmung mit dem Li zu sein (dang li 䔞䎮). Nicht in Übereinstimmung mit dem Li zu sein, heißt einen egoistischen Herzgeist zu haben. Ich fürchte es geht nicht an, von Herzgeist und Li wie von eigenständigen Dingen zu sprechen.«18 Und noch deutlicher: »Wenn jemand versteht nach dem Dao im eigenen Herzgeist zu suchen und die Substanz des eigenen Herzgeistes sehend zu erlangen ( jian de zi ji xin ti 夳⼿冒⶙⽫橼), dann gibt es weder einen Raum noch eine Zeit ohne Dao. Es durchzieht Vergangenheit und Gegenwart und ist ohne Anfang und Ende […]. Der Herzgeist ist das Dao, und das Dao ist der Himmel. Wer den Herzgeist kennt, kennt Dao und Himmel.« 19

All dies sind Variationen von Wang Yangmings Refrain »Suche im Innern!« (xiang li xun qiu ⎹墉⮳㯪), welcher sein Verständnis von Menzius’ Doktrin von der »Ausschöpfung des Herzgeistes« ( jin xin 䚉⽫) zum Ausdruck bringt. In der Betonung der Einheit liegt letztlich auch Wang Yangmings Antwort auf die zweite oben formulierte Frage, nämlich die nach dem Zusammenhang von Ausschöpfung des Herzgeistes, Kenntnis der menschlichen Natur und Kenntnis des Himmels. »Herzgeist, menschliche Natur und Himmel sind eins« (xin ye, xing ye, tian ye, yi ye ⽫ḇ炻⿏ḇ炻⣑ḇ炻ᶨḇ),20 so lautet Wang Yangmings kraftvolles Statement. Es handelt sich bei allen dreien um Stufen auf dem persönlichen Kultivierungsweg: Man fängt im eigenen Innern an und kommt zu einem umfassenden Verständnis der eigenen Natur als Teil des Kosmos (Himmel). ›Ausschöpfung des Herzgeistes‹ ist dabei natürlich kein Realisieren eines quantitativ angebbaren Gehaltes, sondern die Erfüllung seiner moralischen Qualität durch entsprechendes Handeln. Der uns bereits aus früheren Kapiteln bekannte japanische Konfuzianer der Tokugawa-Zeit, Ito Jinsai (Ẳ喌ṩ㔶, 1627-1705), bringt den Gedanken auf den Punkt: 18 | Aufzeichnungen, S. 115. 19 | Aufzeichnungen, S. 96. 20 | Aufzeichnungen, S. 273.

6.2 WANG YANGMING | 211 »Es gibt einen Faden, der sich durch das gesamte Buch Mengzi zieht: Was [Menzius] Kenntnis der menschlichen Natur nennt, meint ein Wissen um das Gut-sein der eigenen Natur (zhi xing zhi shan 䞍⿏ᷳ┬), während die Kultivierung der Natur die Kultivierung dieses Gut-seins meint (yang xing zhi shan 梲⿏ᷳ┬) […]. Der Herzgeist ist immer der ursprüngliche/gute Herzgeist von Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit (ren yi zhi liang xin ṩ佑ᷳ列⽫), ohne Implikation irgendeiner Quantität (xin zhi liang ⽫ᷳ慷).«21

Betrachten wir als nächstes die Stelle aus Mengzi (2A, 2), wo Menzius von der »Sammlung/Akkumulation von Gerechtigkeit« ( ji yi 普佑) und »Kultivierung des Qi« (yang qi 梲㯋) spricht.22 Auch diese Stelle bereitet Probleme bei der Auslegung, 21 | Ito Jinsai: ⬇⫸⎌佑 (Der urprüngliche Sinn des Mengzi), in: Kangi Ichiro (敊₨ᶨ恶) (Hg.): Nihon meika shisho chushaku zenshu 㖍㛔⎵⭞⚃㚠姣慳ℐ㚠 (Gesamtausgabe der Kommentare berühmter japanischer Gelehrter zu den ›Vier Büchern‹), Tokyo: Ho Shupan 1973, Bd. 9, Abteilung 7, S. 284. 22 | Anmerkung des Übersetzers: Die Stelle ist zu lang, um sie hier im Ganzen anzuführen, doch kommen darin einige Ausdrücke vor, die für das Verständnis der weiteren Ausführungen unverzichtbar sind: Der Dialog setzt ein mit Menzius’ Behauptung, über einen »unbewegten Herzgeist« (bu dong xin ᶵ≽⽫) zu verfügen, worauf hin sein Gesprächspartner zu wissen begehrt, worin ein solcher Herzgeist besteht und wie er zu erlangen ist. Im Verlauf des Gesprächs fallen dann einige Ausdrücke, die im Text selbst kaum erklärt werden und deren Verständnis folglich über Jahrhunderte hinweg von konfuzianischen Gelehrten diskutiert wurde. Dazu gehören die »Sammlung/Akkumulation von Gerechtigkeit« ( ji yi 普佑), zu verstehen weniger im Sinne eines bestimmten Prinzips denn als konkrete handlungsleitende Einstellung des Einzelnen, und das »frei fließende Qi« (haoran zhi qi 㴑䃞ᷳ㯋), das es zu kultivieren (yang 梲) und nicht zu missbrauchen oder misshandeln gelte (wu bao qi qi 䃉㙜℞㯋). Das Qi erscheint hier als eine Energie und Begabung des Einzelnen, das Richtige zu tun, seine sozialen Verpflichtungen zu erfüllen und seine eigene moralische Natur zu veredeln. Es wird erworben eben durch die Akkumulation von Gerechtigkeit, d.h. durch Übung im Handeln – daher Menzius’ Ermahnung an seinen Gesprächspartner, er müsse sich stets dieser Übung widmen (bi you shi yan ⽭㚱ḳ䂱).

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die sich vor allem auf den Ausdruck ›Kultivierung des Qi‹ beziehen – wie ist er zu verstehen und in welchem Zusammenhang steht er zur ›Akkumulation von Gerechtigkeit‹? Ironischerweise helfen uns viele Antworten, die im Verlauf der chinesischen Geistesgeschichte auf diese zwei Fragen gegeben wurden, weniger beim Bemühen um ein besseres Verständnis von Menzius’ Gedanken als dass sie bequeme Klassifizierungen der Standpunkte song- und mingzeitlicher Denker erlauben. Wang Yangmings Auslegung kreist um einen zentralen Ausdruck seines Denkens, nämlich die »Erlangung inneren Wissens« (zhi liang zhi 农列䞍),23 die sich seiner Meinung nach vollzieht als Akkumulation von Gerechtigkeit, d.h. diese beiden Ausdrücke bezeichnen für ihn letztlich dieselbe Tätigkeit bzw. dasselbe praktische Bemühen. Akkumulation von Gerechtigkeit meint dabei die Akkumulation guter Taten, also ein Handeln gemäß den ethischen Maximen des Konfuzianismus – auf diesem Wege lässt sich dann die ursprünglich gute Natur des Menschen in ihrer moralischen Qualität und Befähigung zum richtigen Handeln aufrichten, so dass die einzelne Person einen Zustand der Sicherheit in diesem Handeln erlangt, den Menzius meinte, als er vom »unbewegten Herzgeist« (bu dong xin ᶵ≽⽫) sprach: Ein souveränes Abschütteln von egoistischen Begierden und eine Unbekümmertheit gegenüber Verlockungen, die vom Kultivierungsweg ablenken, all dies mit der natürlichen Ungezwungenheit des moralischen Virtuosen. Wang Yangming schreibt: »Gaozi (⏲⫸)24 hat seinen Herzgeist kontrolliert (qiang 23 | Anmerkung des Übersetzers: Der hier mit »Erlangung« wiedergegebene Ausdruck 农 (zhi) lässt auch mit »Ausdehnung« oder »Ausweitung« übersetzen, was insofern wichtig ist, als das ›innere (wörtlich: gute) Wissen‹ nach Menzius’ und Wang Yangmings Auffassung etwas ist, was jeder Mensch von Natur aus hat und was dann durch beständige Übung kultiviert werden muss. Wissen wird demzufolge erst im Vollsinne erlangt, wenn es sich ausdehnt auf den Bereich des Handelns, sich also auf natürliche, dem Habitus der Person entsprechende Weise in Praxis übersetzt. ›Wissen‹ ist hier wie auch sonst im Konfuzianismus kein Faktenwissen, sondern ein Sinn für Moral, für das, was zu tun und zu unterlassen ist und wofür im frühen Konfuzianismus häufig der hier mit »Gerechtigkeit« übersetzte Ausdruck 佑 (yi) steht. 24 | Anmerkung des Übersetzers: Gaozi ist in einigen Passa-

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zhi qi xin ⻟⇞℞⽫) und von störender Bewegtheit freigehalten.«25 Menzius hingegen habe Gerechtigkeit angesammelt bis zu dem Punkt, an dem sein Herzgeist auf natürliche Weise unbewegt wurde. »Sowohl die menschliche Natur als auch das Li sind ursprünglich unbewegt. Die Akkumulation von Gerechtigkeit meint (daher) eine Rückkehr zur ursprünglichen Substanz des Herzgeistes ( fu qi xin zhi ben ti ⽑℞⽫ᷳ㛔橼).«26 ›Akkumulation von Gerechtigkeit‹ wird im Denken Wang Yangmings also zu einer Rückkehr zum Herzgeist in seiner ursprünglichen guten und unversehrten Gestalt. Es bedeutet zugleich eine »Ausschöpfung der eigenen Natur« ( jin xing 䚉⿏) im Sinne des vollen praktischen Realisierens ihrer Moralität, und nichts anderes meint letztlich die »Erlangung/Ausweitung inneren Wissens« (zhi liang zhi 农列䞍), also der Ausdruck, mit dessen Hilfe Wang Yangming seine überzeugende Deutung dieser schwierigen Mengzi-Stelle entwickelt. Auch die im Laufe der chinesischen Geistesgeschichte viel diskutierte Formulierung von Menzius’ Ermahnung an seinen Gesprächspartner, dieser müsse sich »stets seiner Aufgabe widmen« (bi you shi yan ⽭㚱ḳ䂱),27 wird von Wang Yangming auf überzeugende Weise im Sinne der Erlangung und Ausweitung inneren Wissens erklärt. »Menzius sagte ›Widme dich stets dieser Aufgabe‹. Das bedeutet, dass die Gelehrsamkeit des Edlen darin besteht, sein ganzes Leben lang Gerechtigkeit (yi 佑) anzusammeln. Was gerecht (yi 佑) ist, ist richtig/in Ordnung (yi ⭄). Wenn der Herzgeist erlangt was richtig/in Ordnung ist, nennt man es Gerechtigkeit. Wenn inneres Wissen erlangt und ausgedehnt werden kann, erlangt der Herzgeist seine Gradlinigkeit (zhi 䚜). Darum ist die Ansammlung von gen des Mengzi der Debattengegner des Menzius, der im hier behandelten Abschnitt zwar nicht auftritt, aber von Menzius erwähnt wird. 25 | Aufzeichnungen, S. 268. 26 | Aufzeichnungen, S. 107. 27 | Anmerkung des Übersetzers: Der an dieser Stelle zentrale Ausdruck ḳ (shi) kann sowohl substantivisch mit »Sache« oder »Angelegenheit« als auch verbal mit »dienen« wiedergegeben werden, daher erfolgt hier die Doppelung zu »sich einer Aufgabe widmen«.

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Gerechtigkeit nichts anderes als die Erlangung und Ausdehnung inneren Wissens.«28

Die Sache oder Aufgabe, der sich zu widmen das Leben eines wahren Konfuzianers ausmacht, besteht nach Wang Yangming also in der Ansammlung von Gerechtigkeit und damit in der Erlangung und Ausweitung inneren Wissens. Zahlreiche weitere Ausdrücke, wie etwa das »Festhalten am eigenen Willen« (chi qi zhi ㊩℞⽿) und das »Nicht-Verletzen des eigenen Qi« (wu bao qi qi 䃉㙜℞㯋) sind alle auf diese Aufgabe bezogen. Diese neuartige Interpretation durch Wang Yangming systematisiert zentrale Begriffe des Mengzi und bringt so die ursprüngliche Brillanz der Gedanken aufs Neue zum Ausdruck.

6.2.2 Wang Yangmings Hermeneutik als Pilgerschaf t Die Mengzi-Auslegung des Wang Yangming, wie wir sie soeben kennengelernt haben, repräsentiert eine typische Form der chinesischen Hermeneutik, nämlich eine wechselseitige Durchdringung von Subjektivität (Ausleger) und Objektivität (Klassiker), die schließlich eine Einheit konstituiert. Der Ausleger versenkt sich in die Texte, welche durch diese Weise des Hineinarbeitens und Hineinfühlens neuen Sinn entfalten und gleichsam in neuer Vitalität zu blühen beginnen. Der Ausleger erneuert den Sinn der kanonischen Schriften durch sein eigenes Ideensystem, das Ausdruck einer persönlichen spirituellen Pilgerschaft ist. Wir können also sagen, dass die Auslegung der chinesischen Klassiker das Geschäft einer mit Lebenserfahrung gesättigten und von dieser Erfahrung getragenen Gelehrsamkeit ist, worin die kanonischen Schriften in ihrer Gesamtheit eine lebendige und lebenstransformierende Einheit darstellen. Schauen wir zur Veranschaulichung dieses Punktes noch einmal auf Wang Yangming. In Gesprächen mit seinen Schülern verweist Wang Yangming immer wieder auf seine eigene Lebenserfahrung, vor allem seine stetige und beschwerliche Suche nach spiritueller Erleuchtung, die ihn zeitweise ein Anhänger buddhistischer und 28 | Aufzeichnungen, S. 242.

6.2 WANG YANGMING | 215

daoistischer Lehren hatte sein lassen, bevor er schließlich als Mittdreißiger endgültig zum Konfuzianer wurde.29 In den Jahren danach klagte er häufig über die verschwendete, d.h. auf die falschen Lehren verwendete Zeit zwischen seinem siebzehnten Lebensjahr, als er das Problem der moralischen Kultivierung mit einem daoistischen Priester diskutierte, und seinem einunddreißigsten Lebensjahr, als ihm allmählich die Irrtümer von Buddhismus und Daoismus einsichtig wurden. Wenige Jahre später, 1506, erhob Wang Yangming seine Stimme zur Verteidigung einiger am Kaiserhof tätiger Gelehrter, die nach einer Intrige vom mächtigen Eunuchen Liu Jin (∱䐦, gestorben 1510) verhaftet worden waren – mit dem Ergebnis, dass er selbst verhaftet, zu vierzig Stockhieben verurteilt und anschließend in die Verbannung in die heutige Provinz Guizhou geschickt wurde, wo er drei Jahre unter harschen Bedingungen zu leben hatte. So war es nach seiner eigenen Aussage durch »hundert Tode und tausend Leiden« (bai si qian nan 䘦㬣⋫暋), dass er schließlich zur zentralen Doktrin von der Erlangung und Ausdehnung inneren Wissens (zhi liang zhi 农列䞍) kam. Zahlreiche Textdokumente bezeugen die unbeschreibliche Erleichterung Wang Yangmings darüber, dass es ihm schließlich gelungen war, diese wichtige und so hart erarbeitete Einsicht prägnant zum Ausdruck zu bringen. Der Einfachheit und sogar Unscheinbarkeit der Formulierung war er sich dabei wohl bewusst, die Bedeutung lag aber gerade darin, dass es sich um das Resultat einer jahrelangen ernsthaften praktischen Bemühung handelte, nicht um eine bloß erdachte gewitzte Formel. »Die Einsicht in das innere Wissen habe ich durch hundert Tode und tausend Leiden erworben, es handelt sich nicht um etwas Offensichtliches, das leicht zu erkennen wäre.«30 Im gleichen Atemzug kritisiert 29 | Anmerkung des Übersetzers: Zu beachten ist, dass auch das Denken des Konfuzianers Wang Yangming nachhaltig von buddhistischen und daoistischen Gedanken beeinflusst und inspiriert blieb, was ihm die erbitterte Gegnerschaft mancher späterer und vergleichsweise dogmatischer Konfuzianer einbrachte. Die oben erwähnte Untersuchung von Tu Wei-ming: Neo-Confucianism in Action – Wang Yangming’s Youth (1472-1509), Berkeley/CA: University of California Press 1976, liefert eine anschauliche Beschreibung von Wangs frühem Denkweg. 30 | Aufzeichnungen, S. 296.

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Wang seine gelehrten Zeitgenossen, die nicht imstande waren, die tiefe Wahrheit dieser unscheinbaren Formel zu erkennen, weil es ihnen nur darum ging, mit schönen Worten zu spielen und Eindruck auf ihre Mitmenschen zu machen. Wir sehen also, wie Wang Yangmings Auslegung der kanonischen Schriften untrennbar verbunden ist mit dem durch Leiden erkauften Fortschritt auf seiner spirituellen Pilgerschaft. Er bemerkt an einer Stelle: »Die Worte der Alten sind allesamt die Ergebnisse persönlicher Erfahrung. Sie sprachen diese Worte daher vertraut aus und genau auf den Punkt (shuo de qin qie 婒⼿奒↯). Sie gaben ihre Worte weiter an spätere Generationen, so dass menschliche Gefühle befriedigt wurden. Wären diese Worte nicht das Ergebnis persönlicher Erfahrung, wie hätte es [die Alten] solche Mühen kosten können, sie zu erlangen.«31

Um diese Erfahrungen der Alten, wie sie in den kanonischen Schriften aufgezeichnet sind, unsererseits zu erfahren, reicht es daher nicht aus, die alten Texte zu zitieren, auswendig zu lernen und sie auf einer gleichsam rein kognitiven Ebene zu verstehen; vielmehr gilt es, sie durch beständige Reflexion zu einem Teil unserer eigenen Subjektivität werden zu lassen. Wang Yangming warnte seine Schüler daher: »Wichtig ist, das eigene ursprüngliche Wesen erhellend zu erlangen (ming de zi jia ben ti 㖶⼿冒⭞㛔橼). Wer nur [gelesene Worte] erinnern will, der versteht nicht. Und wer lediglich [gelesene Worte] verstehen will, wird nicht sein eigenes Wesen erhellend erlangen.«32 Für Wang Yangming war die Lektüre der kanonischen Schriften eine Übung in Selbsterkenntnis und moralischer Selbstverwirklichung und nicht bloßer gelehrter Zeitvertreib oder ästhetischer Genuss. Er las folglich auch das Buch Mengzi im Sinne eines Bemühens, sein inneres Wissen zu erlangen und auszuweiten. Dies ist der Sinn meiner obigen Formulierung, es handele sich bei der konfuzianischen Texthermeneutik um eine mit Lebenserfahrung gesättigte und von dieser Erfahrung getragene Gelehrsamkeit. Die in Frage stehenden Texte waren für Gelehrte wie Wang Yangming und viele in der Song- und 31 | Aufzeichnungen, S. 345. 32 | Aufzeichnungen, S. 319.

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Mingzeit keineswegs die toten Gegenstände historischer oder philologischer Gelehrsamkeit, sondern Quellen profunder und bisweilen explosiver Ideen, die jederzeit durch engagierte Gelehrte zu praktischer Wirksamkeit gelangen konnten, etwa – wie wir im ersten Teilabschnitt gesehen haben – im Bereich der Politik. Diese Dynamik zeigt die chinesischen Klassiker in all ihrer Lebendigkeit und ihrer praktischen, existenziellen Relevanz.

6.2.3 Zwischenbetrachtung Wir haben in diesem Abschnitt Wang Yangmings Auslegung des Mengzi als typisches Beispiel für eine konfuzianische Hermeneutik als Pilgerschaft kennengelernt – als Beispiel mithin für eine Interpretation kanonischer Texte, die mit der Lebenserfahrung des Interpreten untrennbar verbunden ist und einen wesentlichen Teil der spirituellen Suche des Interpreten ausmacht. Wir haben gesehen, wie Wang Yangming wichtige Stellen des Mengzi zu einem kohärenten System formt, dessen zentralen Platz der menschliche Herzgeist einnimmt bzw. das lebenslange Bemühen des Konfuzianers, diesen Herzgeist zu erlangen und auszuweiten. Viele der unit-ideas33 des Menzius, um einen Ausdruck Arthur Lovejoys aufzugreifen, werden nun zu interpretativen Einheiten in Wangs eigenem hermeneutischen System. Dessen Systemcharakter ist aber nicht alleine das Resultat einer theoretischen Bemühung um Kohärenz des Ausdrucks, sondern resultiert aus dem praktischen Bemühen, das eigene Leben zu einer sinnvollen Ganzheit zu formen – was im Falle Wang Yangmings schließlich im Alter von etwa Mitte Dreißig auch zum Erfolg geführt hat. Wangs Begegnung mit Menzius ereignete sich in diesem Kontext, in dem Wang Yangming Menzius’ Gedanken direkt auf sein eigenes Leben bezog, um dann wiederum im Lichte seiner eigenen Lebenserfahrung Menzius zu interpretieren. Es handelt sich in diesem Sinne um einen dialogischen Ansatz,34 freilich innerhalb von Wang Yang33 | Zu diesem Ausdruck vgl. Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being: A Study of the History of Ideas, Cambridge/MA: Harvard University Press 1961. 34 | Hierzu, vgl. Dominick LaCapra: Rethinking Intellectual

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mings eigener Erfahrung. Der Versuch, durch kohärente und systematische Auslegung der kanonischen Schriften auch die eigene Lebenserfahrung und spirituelle Suche zu einer sinnvollen Ganzheit zu formen, ist ein wesentliches Charakteristikum der konfuzianischen Hermeneutik, die im Typus der Hermeneutik als Pilgerschaft besonders deutlich zutage tritt. Ein ebenso wichtiges und letztlich unvermeidbares Charakteristikum besteht darin, dass diese Art der Hermeneutik sich mit anderen Auslegungen derselben kanonischen Schriften auseinandersetzt und diese zu korrigieren oder zu widerlegen versucht. Im Falle Wang Yangmings war es vor allem das neokonfuzianische System des Zhu Xi, gegen welches seine eigene Deutung sich behaupten musste. Wie schwer es Wang Yangming fiel, sich gegen Zhu Xi zu stellen, bezeugen viele Stellen seiner Schriften, zum Beispiel die folgende: »Mein Leben lang waren Zhu Xis Lehren für mich wie eine Offenbarung von den Göttern. Es ist meinem Herzen schwer erträglich, dass ich ihm nun plötzlich widersprechen muss. Es war, weil ich nicht anders konnte, dass ich mich schließlich überwunden habe, es zu tun.«35 Und warum konnte er nicht anders? »Wenn ich [Zhu Xi] nicht korrigiere, wird das Dao nicht zum Vorschein kommen« (bu zhi ze dao bu jian ᶵ䚜⇯忻ᶵ夳).36 Wir sehen hier, wie Wang Yangming mit sich ringt, wie er aber nicht vorbei kann an der ihn leitenden Überzeugung, dass seine Lehre die richtige und daher alleine in der Lage ist, einer umfassenden Ordnung der Welt – dem Dao (忻) – zur Verwirklichung zu verhelfen. Allerdings bleibt er gleichzeitig davon überzeugt, dass Zhu Xi nicht in allen Punkten fehl geht und dass zwischen seiner und Wangs eigener Lehre in vielen Punkten Übereinstimmung besteht, in denen Korrektur sich folglich erübrigt.37 Auch dieses Verhältnis zu vorangegangenen Auslegungen, die nicht grundsätzlich verworfen, sondern partiell – an diesen Punkten aber mit Entschiedenheit! – revidiert werden, ist für die konfuzianische Hermeneutik durchaus typisch. Im Falle des Zhu Xi kann Wang Yangming dessen strikte Trennung von Herzgeist und History: Texts, Contexts, Language, Ithaca und London: Cornell University Press 1983, S. 23-71. 35 | Aufzeichnungen, S. 253. 36 | Ebd. 37 | Vgl. ebd.

6.2 WANG YANGMING | 219

Li (䎮) und die damit einhergehende Form der Kultivierung als Suche nach Erkenntnis des Li eines jeden einzelnen Dinges nicht akzeptieren. Die Ablehnung dieser Doktrin ist die Konsequenz aus Wangs gescheitertem Versuch, ihr gemäß zu leben und an ihr seine eigene spirituelle Suche auszurichten. Es ist ihm nicht gelungen, auf dem von Zhu Xi gewiesenen Weg sein eigenes Leben zu einer kohärenten Ganzheit zu formen, und so hat er diesen Irrweg als solchen erkannt und bemüht sich nun um Korrektur. Mit der Einsicht in die Einheit von Herzgeist und Li glaubt er – wiederum: aufgrund eigener Erfahrung – dem konfuzianischen Kultivierungsweg die notwendige Grundlage gegeben zu haben. Dieser zweite Aspekt führt uns nun zur konfuzianischen Hermeneutik als Apologetik (hu jiao xue 嬟㔁⬠), die im folgenden Abschnitt genauer vorgestellt werden soll.

6.3 Konfuzianische Hermeneutik als Apologetik: Dai Zhen

Mit Dai Zhen (㇜暯, 1724-1777)38 betreten wir nun das Zeitalter der Moderne in der konfuzianischen Hermeneutik. In gewissem Sinne wurde diese Moderne sogar eingeläutet von Dais vehementem Protest gegen Zhu Xis auf »zwei Wurzeln« (er ben Ḵ㛔) beruhendem System, also seiner strikten Trennung von Herzgeist und Li (䎮), ebenso von Li und Qi, Begierden und Moral etc.39 Dai Zhen präsentiert eine ernsthafte Alternative zu Zhu Xis Dualismus, und er beruft sich auf Menzius bei seinem Versuch, das die gesamte Tradition durchziehende Problem der Normativität menschlicher Gefühle – d.h. des Verhältnisses von 38 | Zeitgeschichtliche und biographische Informationen zu Dai Zhen finden sich in der Einleitung der von Ann-ping Chin und Mansfield Freeman besorgten Übersetzung von Dai Zhens Hauptwerk: Tai Chen on Mencius: Explorations in Words and Meanings, New Haven/CT: Yale University Press 1990, S. 1-35. Eine hervorragende Studie des intellektuellen Milieus von Dai Zhens Lebenszeit ist Benjamin A. Elman: From Philosophy to Philology: Intellectual and Social Aspects of Change in Late Imperial China, Cambridge/MA: Council of East Asian Studies, Harvard University Press 1984. 39 | Anmerkung des Übersetzers: Deutsche Leser können sich zu diesem Problem informieren bei einem Aufsatz von Wolfgang Ommerborn: »Dai Zhens Konzeption des li und seine Kritik an der li-Theorie der Cheng-Zhu-Schule«. In: Archiv für Begriff sgeschichte, Bd. 42 (2000), S. 9-53.

6.3 D AI Z HEN | 221

Gefühlen und Moral – zu lösen. Auch Wang Yangming hat dazu einen Vorschlag unterbreitet, doch ist Dai Zhens Ansatz der interessantere, denn anders als Wang will er die von Zhu Xi abgelehnten Gefühle gerade als Bestandteil menschlicher Moralität ausweisen. In diesem Abschnitt soll eine ebenso sympathetische wie kritische Untersuchung von Dai Zhens Denken vorgenommen werden, gestützt vorrangig auf sein Hauptwerk Beweisende Auslegung des Buches Mengzi basierend auf der Bedeutung seiner Schriftzeichen (Mengzi zi yi shu zheng ⬇⫸⫿佑䔷嫱). 40 Ich beginne mit einer kurzen Vorstellung seines Ansatzes (6.3.1), widme mich dann einer eingehenden Darstellung seiner MenziusInterpretation (6.3.2) und weise schließlich auf einige Schwachpunkte bzw. auf solche Probleme hin, deren Lösung Dai Zhen nicht gelungen ist (6.3.3).

6.3.1 Der Ansat z Dai Zhens Die große Herausforderung Dai Zhens, die vor allem in seiner die »eine Wurzel« (yi ben ᶨ㛔) der menschlichen Natur betonenden philosophischen Weltsicht lag, kam in seinen Schriften erst nach und nach zum Vorschein. Im Jahr 1750 begann er die Arbeit an seinem revolutionären Werk Erforschung des Guten (Yuan shan ⍇┬), dessen endgültige Fassung er 1766 abzuschließen vermochte. Zur vollen Reife gelangte seine theoretische Arbeit allerdings erst im Jahre 1777, als er wenige Monate vor seinem Tod seine große Auslegung des Buches Mengzi vollendete. Dass seine Gedanken sich über einen so langen Zeitraum entwickelt haben, lag auch daran, dass Dai Zhen sich außerdem intensiv mit Mathematik, Geographie, Astronomie und etymologischen Forschungen zu den kanonischen Schriften beschäftigte und auf jedem dieser Gebiete ein anerkannter Ex40 | Im Folgenden zitiert unter dem Kürzel Auslegung nach der ㇜暯ℐ普 (Dai Zhen Gesamtausgabe), Peking: Qinghua Daxue Chubanshe 1991, Bd. 1. Zu beachten ist, dass die Schrift zwar das Buch Mengzi im Titel führt, aber über den Rahmen eines Kommentars zu einem bestimmten Werk hinausgeht und letztlich eine Auseinandersetzung mit dem gesamten frühen Konfuzianismus ebenso wie mit konkurrierenden Auslegungen desselben darstellt.

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perte wurde. Die Breite seiner Bildung und Interessen trug ihm allerdings auch die Opposition von weniger offen eingestellten Zeitgenossen ein. Dai Zhens Hauptinteresse als Interpret kanonischer Schriften bestand darin, Philologie und Etymologie als Mittel seiner Hermeneutik einzusetzen und damit zu zeigen, dass seine Auslegungen auf solider textlicher Basis standen – daher auch der Titel seines Mengzi-Kommentars. Wie erwähnt, ist der Adressat von Dai Zhens Kritik in der Auslegung der Dualismus des Zhu Xi, welchen Dai einen kaum verhüllten Daoismus und Buddhismus nennt, der der Gesellschaft großen Schaden zufüge. Um Zhu Xis Fehldeutung zu korrigieren, beruft Dai Zhen sich auf Menzius’ These, dass es die grundlegenden Gefühle des Menschen, welche seine Natur ausmachen, zu entwickeln gelte. 41 Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Quelle moralischer Normativität bzw. danach, ob diese Quelle außerhalb des Menschen in einer wie auch immer gearteten Transzendenz liegt oder selbst Teil der menschlichen Natur ist. Zhu Xis Dualismus argumentiert für die erste Alternative, Dai Zhen möchte die zweite als die richtige ausweisen. Allgemein gesprochen haben die Denker der chinesischen Tradition von Schritten abgesehen, eine von der diesseitigen Welt strikt getrennte Sphäre der Transzendenz anzunehmen und in dieser bestimmte moralische Imperative zu verankern. Konfuzianische Denker haben zudem gewisse Ansätze zu einer solchen Trennung oft als daoistische oder buddhistische Verirrungen gebrandmarkt, dabei diesen beiden Lehren einen starken Transzendenzbegriff unterstellend – auch bei Dai Zhens Kritik an Zhu Xi findet sich, wie wir gerade gesehen haben, der entsprechende Sprachgebrauch. Da Dai Zhen aber mit Zhu Xi den inneren Sinn des Menschen für das Sollen anerkennt, stellt sich die Frage, wie er diesen Sinn versteht und erklärt. Er geht 41 | Vgl. Auslegung, S. 161. Anmerkung des Übersetzers: Der

Autor bezieht sich hier auf die unter dem Namen »Vier Ansätze« (si duan ⚃䪗) bekannte Lehre des Menzius, derzufolge die grundlegenden ›Gefühle‹ des Mitleids, der Scham, der Bescheidenheit und des intuitiven Wissens um das moralisch Richtige die Ansätze für die menschlichen Tugenden darstellen, über die jeder Mensch verfügt. Diese in den vorangegangenen Kapiteln bereits mehrfach erwähnte Lehre des Menzius wird in Mengzi (2A, 6) entwickelt.

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aus von einer Art Goldener Regel fundamentaler menschlicher Bedürfnisse und Gefühle, die darin besteht, andere zu lieben wie sich selbst. Eine solche Goldene Regel sieht Dai Zhen in den kanonischen Schriften der Tradition, insbesondere dem Mengzi, ausgedrückt. Darüber hinaus aber zu erklären, welchen Stellenwert diese Regel im Zusammenhang der menschlichen Bedürfnisse ausmacht und wie sie zu unterscheiden ist von den bloß auf sich selbst gerichteten Begierden (si yu 䥩㫚), verpflichtet Dai Zhen zu gewaltigen denkerischen Anstrengungen. Sich der Wichtigkeit der Fragestellung ebenso bewusst wie der Notwendigkeit, den eigenen Ansatz von einer bloßen undifferenzierten Bejahung aller Sinnlichkeit zu unterscheiden, schrieb er seine Erforschung des Guten und seine Auslegung des Buches Mengzi.

6.3.2 Dai Zhens Auslegung des Mengzi Trotz der vielen Jahre, die Dai Zhen auf die Abfassung seines philosophischen Hauptwerks verwendet hat, lässt die Darstellung kein strenges thematisches Arrangement erkennen, sondern scheint eher Fragen zu folgen, wie sie Dai Zhen in ihrer Dringlichkeit vor Augen gestanden haben. Die Schrift besteht aus Dialogen, die verschiedene Probleme zum Thema haben, wobei offensichtlich wenig Aufmerksamkeit auf deren genauen konzeptionellen Zusammenhang gelegt wurde. Ein Überblick über Inhalt und Aufbau ist daher nicht leicht zu geben: Dai Zhen beginnt ziemlich unvermittelt, nach einer kurzen Vorstellung des seiner Meinung nach von Zhu Xi gänzlich missverstandenen Li-Begriffs, mit der Entfaltung seines Leitgedankens: Gleichmäßige (ping ⸛) und harmonische (xie 䴄) Entwicklung der grundlegenden Gefühle (qing ね) – nichts sonst steht für ihn im Einklang mit Menzius und dem korrekt verstandenen Begriff Li (䎮). Wiederum attackiert er dann Zhu Xi dafür, das Li als ein eigenständiges Etwas zu verstehen und bemüht sich zu zeigen, wie zentrale Passagen der kanonischen Schriften trotz ihrer scheinbaren Ablehnung der menschlichen Gefühle tatsächlich in Einklang stehen mit seinem eigenen Ansatz, die eigenen Gefühle und die Gefühle anderer Menschen miteinander zu identifizieren. Als nächstes unternimmt Dai Zhen etwas, was man im heutigen Sprachgebrauch eine philologisch philosophische Archäologie nennen könnte, d.h. er versucht zu

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zeigen, wie Zhu Xis Dualismus von Li und Qi aus einer »Konfusion« (za 暄 – eine von Dai Zhens bevorzugten pejorativen Vokabeln) von konfuzianischen mit daoistischen und buddhistischen Quellen hervorgegangen sei und zu einer Art Parodie des Konfuzianismus geführt habe. Diese Diskussion komplettiert den ersten und reichsten der drei Teile seiner Schrift, welcher die Abschnitte 1-15 umfasst. Der zweite Teil umfasst die Abschnitte 16-28 und zeigt, wie natürlich sich Dai Zhens Leitgedanke vom wechselseitigen Fluss (zwischen)menschlicher Gefühle aus der traditionellen Kosmogonie und Kosmologie entwickeln lässt. Der dritte Teil schließlich (Abschnitte 29-42) zeigt, wie Dai Zhens immenante Perspektive auf die Gefühle im Einklang steht mit den traditionellen konfuzianischen Tugenden, welche so gleichzeitig in ihrer Kohärenz anschaulich gemacht werden. In allen drei Abschnitten finden sich viele überraschende Wendungen der Auslegung und profunde Einsichten in die klassischen Texte. Zum Schluss betont Dai Zhen wie wichtig es ist, bestimmte situative Gegebenheiten abzuwägen, um die Tugenden im eigenen Handeln zur Geltung zu bringen. Alle diese philologischen und philosophischen Ausführungen dienen aber letztlich dem einen Ziel, nämlich den Leitgedanken von der moralischen Normativität der menschlichen Gefühle plausibel zu machen. Versuchen wir nun, den Gedankengang Dai Zhens in seinem inneren Zusammenhang einsichtig zu machen: Sein Angriff auf Zhu Xi ist darum bemüht, den daoistisch-buddhistischen Hintergrund von dessen Dualismus offenzulegen und ist motiviert von der festen Überzeugung, dass es sich dabei nicht nur um einen fehlerhaften, sondern auch um einen im Sinne der konfuzianischen Tradition heterodoxen und überdies um einen in seinen realen politischen und sozialen Auswirkungen schädlichen Gedanken handelt. Den Hintergrund legt Dai Zhen offen, indem er Passagen aus daoistischen und buddhistischen Schriften solchen aus Zhu Xis Werken gegenüberstellt und zeigt, wie sich in der Ausrichtung der Gedanken, wenn auch nicht in der Wortwahl, eine große Nähe zwischen beiden Seiten zeigt. 42 Dai Zhen macht es als eine gemeinsame Tendenz von Daoisten und Buddhisten kenntlich, dass beide eine Unterscheidung zwischen dem geformten Körper einer42 | Vgl. Auslegung, S. 164-172.

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seits und dem Geist oder Bewusstsein andererseits treffen und letzteren den Primat einräumen: »Sie suchen nach dem Formund Spurlosen (wu xing wu ji 䃉⼊䃉御), das sie für wirklich (shi ⮎) halten, während das Form- und Spurhafte ihnen als grob und unfein (cu 䰿) gilt.« 43 Es findet sich nach Dai Zhen also in Buddhismus und Daoismus ein Dualismus, der das Greifbare, Formhafte und Immanente vom Ungreifbaren, Formlosen und Transzendenten scheidet, und es war der songzeitliche Neo-Konfuzianismus, so die Behauptung, der diesen Dualismus schließlich übernommen und mit den Ausdrücken Qi (㯋) und Li (䎮) belegt hat. Zhu Xi entwickelt den Dualismus dann zu einem vollendeten System, demzufolge jeder Mensch und alle Dinge ›materiell‹ aus einer Art Kondensation von Qi-Stoff bestehen, während die intelligible Ordnung der Welt und mit ihr die Normativität der Gesellschaft zum Li gehören. Damit ist aus dem ursprünglich daoistisch-buddhistischen Dualismus eine weithin als solche akzeptierte konfuzianische Orthodoxie geworden. Dagegen betont Dai Zhen, dass in den kanonischen Schriften der Tradition, insbesondere bei Konfuzius und Menzius, sich kein derartiger Dualismus findet: »In den Sechs Klassikern, bei Konfuzius und Menzius hören wir von keiner Unterscheidung von Li und Qi.« 44 Die nächste Notwendigkeit für Dai Zhen besteht nun darin zu zeigen, dass der von Zhu Xi vertretene Dualismus nicht nur heterodox, sondern tatsächlich schädlich ist. Er tut dies auf der Grundlage der im Vorwort der Auslegung gemachten Annahme, dass ein falsches Verständnis bestimmter Worte das Denken der Menschen zum Negativen beeinflusst und damit unweigerlich Auswirkungen hat auf das Verhalten, sowohl im Kleinen und Privaten als auch im Großen, dem Bereich der Gesellschaft und Politik. Im hier vorliegenden Fall stellt sich nach Dai Zhen das Problem so dar: Wenn das Li zu einem eigenständigen Ding jenseits der menschlichen Natur gemacht und zur Wurzel des Universums und der Moral erklärt wird, liegt es nahe, dass Menschen – insbesondere solche in herausgehobener sozialer Position – ihre eigenen partikularen Ansichten 43 | Auslegung, S. 175. Der hier vorgestellte Gedanke zieht sich durch die gesamte Schrift und findet sich in ähnlicher Form in den Abschnitten 5, 13, 14, 21, 27, 28, 33 und 41. 44 | Auslegung, S. 172.

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(yi jian シ夳) als Darstellungen des Li ausgeben und auf diesem Wege die Unterdrückung anderer Standpunkte rechtfertigen. »Personen mit Autorität benutzen das Li, um das gemeine Volk zu bestrafen. Ältere benutzen das Li, um die Jungen zu bestrafen. Die Reichen benutzen das Li, um die Armen zu bestrafen. Sie alle haben das Li verloren und behaupten doch, ihm zu folgen.« 45 Auf diese Weise wird im Namen des falsch verstandenen Li großes Unheil über die Menschen gebracht. Dai Zhen geht freilich nicht so weit, Zhu Xi selbst eines solchen Umgangs mit seiner Lehre zu beschuldigen, vielmehr glaubt er, dass Zhu Xi und viele andere sich weder über die heterodoxe Herkunft des Dualismus von Li und Qi noch über dessen fatale Auswirkungen im Klaren waren 46 – was aber die Konsequenzen nur noch verschlimmert, denn nun wird die Heterodoxie durch die Autorität des Zhu Xi geadelt, und alle Welt folgt der schädlichen Lehre, ohne den Schaden zu bemerken und seinen Grund zu verstehen. Ironischerweise ist es ausgerechnet Menzius, ein in seiner Orthodoxie zu Dai Zhens Zeiten unstrittiger Vertreter 45 | Auslegung, S. 161. 46 | Anmerkung des Übersetzers: Der eigentliche Kernpunkt die Schädlichkeit des Dualismus von Li und Qi betreffend wird in der obigen Darstellung allenfalls in Umrissen deutlich. Das Problem besteht darin, dass der Dualismus die Quelle der menschlichen Moralität in eine eigenständige Entität außerhalb des Menschen verlagert, also eine Instanz etabliert, von der der Mensch moralische Imperative empfängt. Diese Instanz lässt sich dann leicht vereinnahmen, indem Personen sich zu ihrem Sprachrohr und Sachverwalter erklären. Dai Zhen möchte demgegenüber zeigen, dass Moralität integraler Bestandteil der menschlichen Natur ist und dass unsere Gefühle unser moralisches Handeln mit ausreichender Sicherheit anleiten können. Diese Gefühle gilt es daher in ihrer positiven Bedeutung zu erkennen – statt sie als Ursache von unmoralischem Verhalten zu verunglimpfen – und durch beständige Übung zu kultivieren. In dieser Perspektive erscheint jeder Mensch fähig, moralische Imperative an sich selbst zu senden, ohne auf Anweisungen von den selbsternannten ›Sachverwaltern des Li‹ angewiesen zu sein. Gefühle sind im Neo-Konfuzianismus aber Teil der Qi-Natur des Menschen, die der moralischen Anleitung bedarf, während Dai Zhen zeigen möchte, dass Moralität bereits in sie eingeschrieben ist.

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des Konfuzianismus, dessen Lehre im Zentrum der Kontroverse steht, weil die Verfechter des heterodoxen Dualismus sich auf ihn berufen. Folglich lässt sich nur auf dem Weg einer erneuten Durcharbeitung des Mengzi die neo-konfuzianische Heterodoxie als solche entlarven und ein richtiges Verständnis herbeiführen. Nicht nur die Tatsache, dass Menzius eine anerkannte orthodoxe konfuzianische Autorität war, sondern auch die weitere Tatsache, dass der Ausdruck Li im Buch Mengzi gänzlich marginal ist, lassen Dai Zhens Ansatz bei gerade diesem Klassiker auch in strategischer Hinsicht sinnvoll erscheinen. Inhaltlich beruft er sich vor allem auf Menzius’ leidenschaftlichen Appell an die menschliche Fähigkeit zum Mitleiden und Mitempfinden mit anderen Menschen, ein Appell, den Menzius mit besonderer Dringlichkeit an die Herrscher seiner Zeit richtete. Menzius, so Dai Zhen, hielt alle Herrscher dazu an, das, wonach sie selbst verlangen – handele es sich um Geld, Frauen, Essen, Trinken, Kleidung oder Behausung – mit ihren Untergebenen zu teilen und auf diese Weise »die Gefühle des Volkes zu verkörpern und die Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen« (ti min zhi qing, sui min zhi yu 橼㮹ᷳね炻忪㮹ᷳ㫚). 47 Statt sich in metaphysischen Spekulationen zu ergehen, betonte Menzius wieder und wieder diese fundamentale und die Menschlichkeit des Menschen ausmachende Fähigkeit des genuinen und authentischen Mitfühlens mit anderen, auf die Dai Zhen seine Version der Goldenen Regel gründet. Zu diesem Zweck blickt er stellenweise auch über das Buch Mengzi hinaus und trägt Zitate aus anderen kanonischen Schriften zusammen – den Gesprächen des Konfuzius (Lunyu 婾婆), dem Buch der Lieder (Shijing 娑䴻) und dem Buch der Riten (Liji 䥖姀) – die in dieselbe Richtung weisen. Wir müssen jedoch noch einen genaueren Blick werfen auf Dai Zhens eigenes Verständnis der Fähigkeit zur Mitempfindung mit anderen Menschen. Wie genau äußert sie sich, worin besteht sie, wie lässt sie sich fassen? Menzius’ Ausdruck des »Herzgeistes der nicht das Leiden anderer Menschen erträgt« (bu ren ren zhi xin ᶵ⽵Ṣᷳ⽫) bildet den Bezugspunkt für zwei Formulierungen Dai Zhens, die das Thema aufnehmen und weiter entfalten: Die eine spricht davon, eine Balance (ping ⸛) 47 | Auslegung, S. 159.

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zu erreichen, indem wir »mittels der eigenen Gefühle die Gefühle anderer Menschen harmonisch einstellen« (yi wo zhi qing xie ren zhi qing ẍㆹᷳね䴄Ṣᷳね), während die andere das Li (䎮) bestimmt als »geteilter Einklang des Herzgeistes« (xin zhi suo tong ran ⽫ᷳ㇨⎴䃞). 48 Li ist hier nicht mehr wie bei Zhu Xi ein metaphysisches Prinzip und die transzendente Quelle von moralischen Normen, sondern etwas, das im Kontext menschlicher Interaktion generiert wird aus dem Einklang von Gefühlen. Der Weise ist derjenige Virtuose der Mitempfindung, der das Li in seinen Gefühlen wie in seinem Verhalten verkörpert. Von ihm schreibt Dai Zhen: »Indem er andere als sein eigenes Selbst betrachtet, erreicht er Aufrichtigkeit (zhong ⾈); indem er die Gefühle anderer Menschen aus seinen eigenen Gefühlen erschließt, erreicht er Gegenseitigkeit; indem er Leid und Freud mit anderen teilt, erreicht er Mitmenschlichkeit.« 49 Die Grundlage, auf welcher Dai Zhens Gedanke der Mitempfindung basiert, lässt sich mit zwei Annahmen beschreiben, deren eine anthropologischer und die andere kosmologischer Natur ist: Zum einen sagt er, dass alle Menschen von Natur aus das Leben lieben und den Tod fürchten und daher nach einer Bewahrung des Lebens streben. Zum anderen verhält es sich nach Dai Zhen so, dass die menschliche Existenz Teil eines umfassenden kosmischen Geschehens ist, für das die traditionellen Ausdrücke Dao (忻), Yin-Yang (昘春) und Fünf Wandlungsphasen (wu xing Ḽ埴) stehen und das keiner äußerlichen Steuerung unterliegt, aber dennoch in bestimmten feststehenden Bahnen verläuft. Auch die menschliche Natur ist also 48 | Ebd. Anmerkung des Übersetzers: Der hier behelfsweise mit »harmonisch einstellen« wiedergegebene Ausdruck 䴄 (xie) impliziert die Herstellung – oder besser: das Sich-einstellen – einer Balance, eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen zwei oder mehreren Dingen. Hinter Dai Zhens Formulierung steht also die Vorstellung einer möglichen Korrespondenz von Gefühlen eher im Sinne einer gemeinsamen Teilhabe an ein und demselben Gefühl als die ungefähre Gleichheit von dem, was zwei Menschen jeweils für sich fühlen. Im zweiten Zitat deutet das Schriftzeichen 䃞 (ran) eher einen aktiven Vorgang denn einen Zustand an – in der Interaktion und Begegnung zweier Menschen stellt sich allmählich eine gleichartige Bewegung ihrer Herzen ein. 49 | Auslegung, S. 167.

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Teil dieses geordneten Geschehens, und wir sind verpfl ichtet, unserer Natur entsprechend mit anderen Menschen mitzuempfinden und damit im zwischenmenschlichen Bereich eine Ordnung herzustellen und zu erhalten, die im Einklang steht mit der Ordnung des Kosmos. Dies entspricht zudem unserem fundamentalen Drang nach Erhaltung des Lebens. In Dai Zhens Darstellung erscheinen Gefühle als sinnliche und mentale Manifestationen des Flusses des kosmischen Dao. Die Liebe zum Leben, die in unserem Herzgeist wurzelt, ist von gleicher Art wie die sinnlichen Bedürfnisse nach Essen, Trinken und Sex, und der Zustand der Reziprozität menschlicher Gefühle ist von derselben befriedigenden Qualität wie die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse.50 Auch in Dai Zhens Vokabular schlägt sich die vitale Sinnlichkeit wieder, die für ihn mit den fundamentalen Regungen des Herzgeistes verbunden ist. Unser Herzgeist wird »versorgt« (zi 屯) mit dem Li, so dass wir es »verdauen« (hua ⊾) und folglich ganz und gar in uns aufnehmen. Unser geistig spirituelles Leben hängt ab von dieser Ernährung durch die Mitempfindung mit unseren Mitmenschen, so wie unser körperliches Leben von der Versorgung mit Essen und Trinken abhängt. Anders als die Aufnahme von tatsächlichen Nahrungsmitteln handelt es allerdings nicht um einen Vorgang des Verbrauchens, sondern im Gegenteil um den einer Produktion: Wir generieren im Umgang mit anderen Menschen die Art von Mitempfindung, von der wir als Moralwesen leben. Im Einklang mit dem eben Gesagten, erklärt Dai Zhen die egoistischen Bedürfnisse (si yu 䥩㫚) des Menschen für solche Regungen und Begierden, die nicht mit denen anderer Menschen übereinstimmen (tong ⎴) und nicht in einem Verhältnis ausbalancierter harmonischer Wechselseitigkeit (xie 䴄) stehen. Es sind gleichsam solche nur eigenen Gefühle, deren Maß und Komplement nicht die Gefühle anderer sind. 50 | Anmerkung des Übersetzers: Der Autor bezieht sich hier

implizit auf eine Stelle aus Mengzi (6A, 7), wo Menzius schreibt, dass das Li (䎮) – das einzige Mal, dass dieses Schriftzeichen im Text prominent auftaucht – und die Gerechtigkeit (yi 佑) den Herzgeist genauso erfreuen wie Rind- und Schweinefleisch unseren Gaumen. Es sind demzufolge die Übereinstimmung mit bestimmten moralischen Normen und das harmonische Zusammensein mit anderen Menschen eine Art ›Nahrung‹ für den Herzgeist.

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6.3.3 Kritische Diskussion Trotz seiner kraftvollen und von großer Überzeugung getragenen Argumentation kann Dai Zhens Philosophie gewisse Schwachpunkte nicht verhehlen, die sowohl die innere Kohärenz als auch die praktische Anwendbarkeit seiner Position betreffen. Worauf genau beruht die Möglichkeit, die von Dai Zhen propagierte Mitempfindung mit anderen tatsächlich zu erreichen? Wenn der Andere und ich selbst identisch sind, entfällt die Notwendigkeit des Teilens von Gefühlen; sind wir aber absolut verschieden, ist nicht zu sehen, wie das Teilen möglich sein soll. Das große Problem der Trennung ( fen ↮) und Unterscheidung bzw. Differenzierung (shu 㬲), das Zhu Xi in seiner Philosophie auf die Formel »Das Li ist eines, (aber) in Besonderungen unterteilt« (li yi fen shu 䎮ᶨ↮㬲) gebracht hat, bleibt bei Dai Zhen ungelöst. Er erwähnt die Formel zwar, integriert sie aber nicht in seinen Entwurf. Das Problem berührt auch die Frage nach der Möglichkeit, subjektiv die Gefühle (qing ね) von den bloß egoistischen Begierden (si yu 䥩㫚) zu unterscheiden und damit zu verhindern, dass es tatsächlich die letzteren sind, die wir zu verbreiten trachten. Ferner bleibt es bei Dai Zhen unklar, wieso das angeblich so natürliche Verbreiten der Mitempfindung mit anderen ausgesprochen schwierig ist und der beständigen Übung und Kultivierung bedarf, während das angeblich unnatürliche Verbreiten egoistischer Begierden offensichtlich so einfach ist und weit häufiger vorkommt als sein Gegenteil. Auch Dai Zhens Sensualismus (ganjue zhu yi デ奢ᷣ佑), d.h. sein Vertrauen auf die interne Moralität der Gefühle bereitet Probleme oder jedenfalls bleibt offen, wie von dort aus der Schritt zu einer Formulierung ethischer Prinzipien und Regeln gelingen soll, welcher doch sozial offensichtlich notwendig ist. Wo moralisches Verhalten letztlich Gefühlssache ist, wird Normativität kaum explizierbar. Und schließlich haben wir gesehen, wie Dai Zhen zwar überzeugend argumentiert, dass seine Position die konfuzianische orthodoxe ist, also in Einklang mit den kanonischen Texten der Tradition, vor allem dem Buch Mengzi steht, und dass er ferner eine Vorstellung davon hat, warum seine Position die sozial und politisch vernünftige ist – aber heißt das, dass er auch eine sachlich korrekte Philosophie vertritt? Offensichtlich nicht, aber Dai Zhens pragmatischer Standpunkt

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scheint diese Frage als eine untergeordnete betrachtet zu haben. Es ist jedoch durchaus möglich, Dai Zhen zwar darin Recht zu geben, dass Zhu Xi ein philosophisches System entwickelt hat, das teilweise auf daoistischer und buddhistischer Grundlage steht und in diesem dogmatischen Sinne heterodox ist, diesem System aber dennoch den Vorzug gegenüber Dai Zhens eigenem Entwurf zu geben, zum Beispiel weil es das Problem der Normativität theoretisch überzeugender behandelt. Und ebenso ist es möglich, sich zwar auf die pragmatische Argumentation Dai Zhens einzulassen, aber trotzdem kritisch zu fragen, ob sein Ansatz nicht die Tyrannei von oben, die er als notwendige Folge von Zhu Xis Dualismus ansieht, durch eine Tyrannei von unten ersetzt, die sich aus seinem »Ein-Wurzel-Immanentismus« (yi ben lun ᶨ㛔婾) ergeben könnte. Dai Zhen lag sicherlich richtig, als er Menzius’ Betonung der moralischen Bedeutung unserer Mitempfi ndung mit anderen Menschen aufnahm und ins Zentrum seiner Philosophie stellte. Die metaphysische Verankerung von Menzius’ Position hat er aber vergleichsweise wenig beachtet und eher durch seinen eigenen Bezug auf die Metaphysik des Buches der Wandlungen (Yijing 㖻䴻) ersetzt. Ansonsten widmet sein Hauptwerk sich vor allem philologischen Fragen der Textanalyse und Interpretation und verliert darüber gelegentlich das philosophische Gesamtbild aus den Augen. Dies ist eine Schwäche seines Entwurfs, die von vielen modernen Gelehrten bemerkt wurde, von Yasuda Jiro (⬱䓘Ḵ恶, 1908-1945) ebenso wie von Cai Yuanpei (哉⃫➡, 1868-1940) und Cen Yicheng (ⰹ㹊ㆸ, 1952-), deren Kritik sich auf den Nenner bringen lässt, dass Dai Zhens Denken insgesamt der hermeneutisch-metaphysischen Kohärenz ermangelt. Angesichts der Stärken und Schwächen von Dai Zhens Philosophie ist ein ausgewogenes Fazit nicht leicht zu ziehen. Wir können mit ihm darüber klagen, dass Zhu Xi den unverfälschten klassischen Konfuzianismus des Mengzi mit daoistischen und buddhistischen Elementen verunreinigt hat, oder wir können mit späteren Anhängern des Zhu Xi gegen Dai Zhen einwenden, dass dieser die Gedanken des Menzius’ zu einer Mischung von Moralität und Sensualismus degradiert habe. Aber wir können schließlich auch eine Position außerhalb dieser Kontroverse beziehen und die fruchtbare Fülle von denkerischen Alternativen innerhalb der chinesischen Tradition begrüßen, welche

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die Bedingungen bereitstellt, in Fortsetzung der Tradition neue Synthesen und Weiterentwicklungen der hier vorgestellten Gedanken zu erarbeiten. Es gibt schließlich viele Wege zu einer ergiebigen, vielgestaltigen und facettenreichen Wahrheit.

6.4 Schluss

In diesem Kapitel haben wir eine dreigeteilte Typologie konfuzianischer Hermeneutik kennengelernt und uns dabei jeweils auf ein wichtiges Charakteristikum gestützt, das in den hier behandelten Diskursen – den songzeitlichen Debatten um das Mengzi sowie den Menzius-Auslegungen von Wang Yangming und Dai Zhen – mit besonderer Deutlichkeit hervortritt: Konfuzianische Hermeneutik als politische Pragmatik, persönliche Pilgerschaft und als kritische Apologetik. Alle drei Aspekte ziehen sich durch die gesamte chinesische Geistesgeschichte und waren immer im Spiel, wenn konfuzianische Gelehrte den Sinn der kanonischen Schriften zu formulieren versuchten. Wenn wir nun fragen, wie diese drei Typen sich zueinander verhalten, ist also zunächst festzuhalten, dass sie einander nicht ausschließen. Gleichwohl gebührt dem Aspekt der Pilgerschaft innerhalb der konfuzianischen Tradition der Primat: Die Auslegung der kanonischen Schriften beruht in China auf einem intimen Dialog des jeweiligen Gelehrten mit den Texten und damit mit den Weisen und moralischen Virtuosen des Altertums. Auslegung ist der Versuch, den sprachlichen und kontextuellen Abstand zwischen Altertum und Gegenwart zu schließen, um dadurch das eigene Selbst zu kultivieren und zu erfüllen. In diesem Sinne sind die hermeneutischen Typen der Politik und der Apologetik zwei Richtungen, in denen der Ausleger seine Subjektivität ausdehnt und zum Ausdruck bringt: Angesichts einer komplexen und potentiell gefährlichen politischen Situation hat der konfuzianische Gelehrte keine andere Wahl, als seine Ansichten in der Form vermeintlich objektiver Textanalysen

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zu formulieren, also durch Reinterpretation der kanonischen Schriften. Und angesichts der undurchdringlichen Vielfalt von konkurrierenden Denkschulen und Systemen bleibt ihm ebenfalls nichts anderes übrig, als sich erneut den alten Texten zuzuwenden und mit ihnen für die als solche erkannte Wahrheit und gegen die Verzerrungen der anderen zu argumentieren. Für alle drei Typen konfuzianischer Hermeneutik gilt, dass es sich letztlich um Diskurse über moralische Probleme handelt. Der Konfuzianismus thematisiert den Menschen vor allem als Moralwesen, und er konzipiert soziale Einheiten von der Familie bis zum Staatsverband vorwiegend als moralische Gemeinschaften, weshalb auch die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Schulen (oder mit konkurrierenden Strömungen innerhalb des Konfuzianismus) immer auf moralische Fragen Bezug nimmt, meistens sogar von diesen motiviert ist – ich darf davon ausgehen, dass diese leitende Orientierung der gesamten konfuzianischen Tradition in den vorangegangenen Kapiteln zu Genüge deutlich geworden ist. Aus all dem folgt, dass die konfuzianische Hermeneutik zunächst und vor allem als eine Praxis verstanden werden muss. Sie ist keine von bloßer intellektueller Neugierde geleitete Expedition ins Reich des Unbekannten, sondern eine intellektuelle Anstrengung im Dienste sozialer und politischer Aktion. Sie ist nach innen gerichtet, auf den moralischen Kern der Person, wie es in der klassischen Formulierung »Lernen um des eigenen Selbstes willen« (wei ji zhi xue 䁢⶙ᷳ⬠) zum Ausdruck kommt. Und sie ist nach außen gerichtet, auf den gesellschaftlichen und politischen Raum, in welchem die kultivierte Persönlichkeit versucht, eine umfassende harmonische Ordnung zu realisieren – wie wir gesehen haben, erfolgt die Bemühung in beiden Richtungen unter Rückbezug auf ein Korpus von kanonischen Schriften, welche die leitenden Ideen und Normen bereitstellen. Das Medium der persönlichen innerlichen wie der politischen äußerlichen Auseinandersetzung sind diese Texte, deren Auslegung und Tradierung es darum verdient, mit einem Ausdruck der Tradition als »Gelehrsamkeit des Lebens« (shengming de xuewen 䓇␥䘬⬠⓷) angesprochen zu werden.

Anhang

Glossar zentraler Begriffe

Im Folgenden sollen einige zentrale und in den vorliegenden Texten häufig vorkommende Termini des chinesischen Denkens kurz vorgestellt werden. Sie bringen ein Weltbild zum Ausdruck, das sich von dem der traditionellen abendländischen Philosophie in vielerlei Hinsicht unterscheidet. Wie die vorliegenden Texte bereits deutlich gemacht haben dürften, wurde im alten China die Welt als ein Geschehen gedacht, d.h. als Zusammenhang von verschiedenen, jeweils in bestimmten Bahnen verlaufenden Prozessen. Das leitende Interesse vor allem des konfuzianischen Denkens bestand dann darin, diese Prozesse in ihrem Zusammenspiel zu verstehen und dafür zu sorgen, dass sie weiterhin in ihren geordneten Bahnen verliefen – dies insbesondere mit Blick auf die persönliche Lebensführung und die soziale Interaktion von Individuen. Verwirrend für den westlichen Betrachter ist, wie sich in vielen der hier aufgelisteten Ausdrücke deskriptive und normative Gehalte miteinander vermischen, was daran liegt, dass für Konfuzianer die dynamische Ordnung der Welt grundsätzlich positiv besetzt ist und der Kosmos insgesamt eine gleichsam moralische Qualität besitzt. Die soziale Ordnung ist eingebettet in eine natürliche und kosmische, d.h. die Bahnen der jeweiligen Prozesse durchdringen und verbinden alle Sphären. Hier gibt es zwar Abstufungen und Unterscheidungen, aber keine kategorialen Trennungen. Daraus folgt, dass menschliches Handeln und Verhalten zum zentralen Ansatzpunkt wird, um den gesamten Kosmos in Ordnung zu bringen und in dieser Ordnung zu erhalten. Den Herrschenden kommt hierbei gemäß der politischen Philosophie

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des Konfuzianismus zwar eine besondere Verantwortung zu, aber in letzter Konsequenz hat jeder Mensch seinen Beitrag zu leisten. Die von Max Weber konstatierte konfuzianische Rationalität der Weltanpassung triff t also insofern zu, als die zu realisierende Ordnung tatsächlich vorgegeben war und ihre Realisierung sich im Modus eines Hineinfindens in die geordneten Bahnen des Weltgeschehens vollzog, keineswegs folgte daraus aber die von Weber diagnostizierte ›Spannungslosigkeit‹ gegen die Welt; im Gegenteil, das konfuzianische Bewusstsein war zu allen Zeiten geprägt von der enormen Aufgabe, die gegenwärtige imperfekte Welt ihrem Idealzustand näherzubringen. Die Vermischung deskriptiver und normativer Gehalte in vielen zentralen Begriffen ihres Denkens sollte also nicht als Indiz dafür missverstanden werden, dass die Konfuzianer Realzustand und Idealzustand der Welt miteinander verwechselt und sich an dieser Verwechslung selbst beruhigt hätten. Bei den folgenden Begriffen handelt es sich um Ausdrücke, die seit vielen Jahrhunderten Bestandteil chinesischer Philosophie sind und die folglich in verschiedenen Kontexten auftauchen, in denen sich ihre Bedeutungen jeweils ändern können. Das konfuzianische und das daoistische Dao beispielsweise sind nicht miteinander identisch, aber dennoch teilen beide Traditionen bestimmte Vorstellungen, die mit dem Ausdruck verbunden sind. Die folgenden Erläuterungen sollten daher gelesen werden als Annäherungen an die Gehalte der jeweiligen Begriffe, nicht als Definitionen im strengen Sinn. Fett gedruckt sind jeweils die deutschen Wörter, die als Übersetzungsbegriffe möglich sind und die in ihrer Unterschiedlichkeit die bisweilen enorme semantische Spannweite und Elastizität der chinesischen Ausdrücke andeuten sollen.

忻ġdao Vielleicht das Grundwort des traditionellen chinesischen Denkens, das ursprünglich »Weg« bedeutet, aber im Laufe seiner langen Entwicklungsgeschichte eine Bedeutungsfülle angenommen hat, die kaum in einen Übersetzungsbegriff zu bannen ist – in den vorliegenden Texten bleibt der Ausdruck zumeist unübersetzt. Das Dao umfasst die geregelte Verlaufsform kosmischer und sozialer Prozesse und damit auch die Normen,

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an denen sich individuelle und gemeinschaftliche Lebensführung zu orientieren haben. Von Richard Wilhelm wurde der Ausdruck mit »Sinn« wiedergegeben, was eine mögliche, aber sicherlich eine den Sinn dieses Sinns einschränkende Übersetzung ist. In konfuzianischen Texten wird in der Regel nicht versucht, das Dao als philosophischen Begriff zu definieren, sondern auszuführen, worin genau der ›Weg‹ besteht, welche Verhaltensweisen und Einstellungen mit ihm in Übereinstimmung stehen und welche nicht. Den Ursprungssinn des Ausdrucks bildlich aufnehmend, könnte man das konfuzianische Interesse beschreiben als die Bemühung, sich in der richtigen Weise ›auf den Weg zu machen‹.

ⶍ⣓ġgong fu Der Ausdruck bedeutet wörtlich »Bemühung« oder »Anstrengung« und steht im Konfuzianismus für die moralische Kultivierung, d.h. für die Bemühung des einzelnen Menschen, sich zu einem moralischen Virtuosen oder Shengren (俾Ṣġs.u.) zu entwickeln, wie er in den kanonischen Schriften vielfach beschrieben wird. Die Übungen, die damit verbunden sind, umfassen die traditionellen Künste ebenso wie das genaue Studium der kanonischen Schriften und im weiteren Sinne die Lebensführung des Menschen insgesamt, besonders im Hinblick auf zwischenmenschliche Beziehungen. Pietät gegenüber den Eltern, Respekt gegenüber Älteren und Vorgesetzten und Loyalität im Umgang mit Freunden, all das sind Facetten einer das gesamte Leben andauernden Bemühung, dem menschlichen Ideal des Konfuzianismus so nahe wie möglich zu kommen. Mit einem modernen Ausdruck lässt sich der Konfuzianismus insgesamt als eine »Lehre von der Bemühung« (gongfulun ⶍ ⣓婾) bezeichnen, d.h. im Zentrum seines Denkens steht das praktische Problem moralischer Lebensführung, auf das auch die politischen Vorstellungen und metaphysischen Spekulationen der Konfuzianer stets bezogen bleiben.

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䎮ġli Das Schriftzeichen besteht aus dem klassifi katorischen Bestandteil für »Jade« (yu 䌱) und dem phonetischen Element li (慴) und bezeichnete ursprüngliche die Maserung, den inneren Linienverlauf eines Jadestückes. Im frühen Konfuzianismus ohne philosophische Signifikanz, entwickelt sich der Ausdruck im Laufe des ersten Jahrtausends durch maßgeblichen Einfluss des Buddhismus zu einer wichtigen philosophischen Kategorie, die schließlich im Neo-Konfuzianismus der Songzeit (9601279), vor allem bei Zhu Xi (㛙䅡, 1130-1200), zu dem zentralen Ausdruck konfuzianischen Denkens wird – die heute gängige chinesische Bezeichnung für ›Neo-Konfuzianismus‹ lautet folglich »Schule des Li« (li xue 䎮⬠). Der Ausdruck bezieht sich auf das intelligible Ordnungsmuster der Welt und gehört im Sinne der traditionellen Einteilung zum Bereich »über den Formen« (s.u. xing er shang ⼊侴 ᶲ), d.h. das Li ist nicht gegenständlich und damit nicht sinnlich wahrnehmbar. Nach traditioneller Vorstellung hat aber jedes gegenständliche Ding sein Li, das zugleich eins ist mit dem Li aller Dinge – ein Zusammenhang, den der Neo-Konfuzianismus auf die Formel »das Li ist eins, aber in Besonderungen unterteilt« (li yi fen shu 䎮ᶨ↮㬲) gebracht hat. Insofern der Zusammenhang stets als ein dynamischer gedacht wird, lässt sich das Li auch als Bahn(en) der Wirklichkeit verstehen: die Bahnen, in denen sich sämtliche die Wirklichkeit konstituierenden Prozesse vollziehen, so dass sie im Idealfall einer harmonischen Zusammenstimmung wiederum als eine Bahn angesprochen werden können – der Ausdruck verweist dann gleichsam auf die Intelligibilität des Dao: Es ist möglich, den Zusammenhang von Mensch, Gesellschaft und Kosmos zu erkennen und sich denkend und handelnd in ihn einzufinden. Hierfür steht im Chinesischen der Ausdruck »Durchdringung des Li« (qiong li 䩖䎮). Die vor allem von der englischsprachigen Sinologie etablierte Übersetzung von Li mit »Prinzip« ist nicht falsch, aber insofern irreführend, als darin das dynamische Moment verloren zu gehen droht. Auf sie wird daher in den vorliegenden Texten nur ausnahmsweise zurückgegriffen.

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䥖ġli Der Ausdruck wird zumeist und durchaus zutreffend mit »Riten« übersetzt, besitzt aber eine Bedeutungsfülle, die über den Bereich des Zeremoniells hinausgeht. Im frühen Konfuzianismus fielen unter den Ausdruck neben den Verhaltensvorschriften zu Anlässen wie Geburten, Hochzeiten und Bestattungen vor allem bestimmte am Kaiserhof zu vollziehende Rituale wie etwa das kaiserliche Himmelsopfer. In manchen Zusammenhängen steht Li damit für die tradierte Etikette und Konvention, es umfasst aber gelegentlich den gesamten Bereich menschlichen Verhaltens, insofern dieses vor allem im Konfuzianismus immer in seiner ethischen Relevanz reflektiert wird. Hinsichtlich der den gesamten Konfuzianismus durchziehenden Spannung zwischen einer Orientierung an tradierten Verhaltensmustern einerseits und an universalen Normen andererseits steht der Ausdruck eher für den ersten Pol.

㯋ġqi Eine der am schwierigsten zu übersetzenden Vokabeln des chinesischen Denkens. Qi bezeichnet den Stoff, aus dem alle Dinge gemacht sind, belebte und unbelebte Natur gleichermaßen, allerdings nicht im Sinne von bloßem ›Material‹, sondern von bewegtem Geschehen. Die Grundbedeutung »Atmen/Atem« sollte bei der Lektüre alter Texte stets mitgedacht werden; das Qi befindet sich jederzeit im Fluss und bedarf der sorgfältigen Regulierung – ein vor allem im Bereich der Medizin und Akupunktur wichtiger Gedanke. Aus dem Neo-Konfuzianismus der Songzeit stammt die enge Verbindung des Ausdrucks mit dem oben genannten Li (䎮), im Sinne eines Dualismus von intelligibler Ordnung und dem konkreten sinnlich wahrnehmbaren Geschehen, das im Zusammenspiel aller Dinge die Ordnung konstituiert und perpetuiert. Das Qi gehört somit zu dem Bereich »unter den Formen« (s.u. xing er xia ⼊侴ᶳ). Nach traditioneller Vorstellung bestehen alle Dinge aus Kondensationen des Qi, die sich hinsichtlich ihrer Dichte, Zusammensetzung und Reinheit unterscheiden.

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ṩġren Das Schriftzeichen besteht aus dem zum sinnanzeigenden Element komprimierten Zeichen für »Mensch« (ren Ṣ) sowie der Zahl »Zwei« (er Ḵ), was die Bedeutung bereits treffend veranschaulicht. Übersetzen lässt der Ausdruck sich am besten mit »Mitmenschlichkeit« oder »Humanität«. Zu philosophischer Bedeutung gelangt das Zeichen vor allem durch die Gespräche des Konfuzius (Lunyu 婾婆), in welcher Schrift es nicht weniger als 105 Mal vorkommt und den Konfuzianismus als ein Denken der Mitmenschlichkeit begründet. Unter den Ausdruck fallen sämtliche Verpflichtungen, denen der Mensch als moralisches Wesen unterliegt, d.h. denen alle Menschen unterliegen, unabhängig von sozialem Rang und Status. Die Mitmenschlichkeit ist in diesem Sinne der höchste Wert des Konfuzianismus und kann als Prüfstein herangezogen werden für die Tauglichkeit konventioneller Verhaltensvorschriften. Mit dem Ausdruck verbindet sich ein ethischer Universalismus und ein Begriff des Menschen, der als Mensch moralischen Wert besitzt – eine Auffassung ähnlich derjenigen, die in unserem Begriff ›Menschenwürde‹ liegt.

俾Ṣġsheng ren Das menschliche Ideal des Konfuzianismus und das Ziel des konfuzianischen Kultivierungsweges, übersetzbar als »moralischer Virtuose« oder die »vollendet kultivierte Persönlichkeit«. Der Shengren personifiziert die höchsten Möglichkeiten des Menschseins und entfaltet durch sein Handeln ebenso wie durch die Aura seiner moralischen Perfektion eine harmonisierende Wirkung auf sein Umfeld. Er erfüllt damit auf vorbildliche Weise die Aufgabe des Menschen, durch eigene Anstrengung am Erreichen einer harmonischen Gesellschaft und eines sich im Gleichgewicht befindlichen Kosmos mitzuwirken. Die konfuzianische Literatur steckt voller Verweise auf die moralischen Virtuosen der Tradition – größtenteils historische Persönlichkeiten, wenn auch häufig idealisierend dargestellt – die gleichsam mit ihrem Leben dafür einstehen, dass die Ideale des Konfuzianismus realisierbar sind. Die in der Literatur häufig anzutreffende Übersetzung des Ausdrucks als »Heiliger«

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wurde in den vorliegenden Texten aufgrund der irreführenden theologischen Konnotationen vermieden.

橼䓐ġti yong Die Kombination dieser beiden Schriftzeichen steht für einen dynamischen Zusammenhang von etwas, das zwar begriffl ich unterscheidbar, aber in der Realität nicht trennbar ist. Das erste Zeichen ti bedeutet ursprünglich »Körper«, sodann »Wesen« oder »Essenz« und wird in der vorliegenden Kombination häufig, aber auf irreführende Weise mit »Substanz« übersetzt. Das zweite Schriftzeichen bedeutet »Anwendung« oder »Gebrauch«. Wichtig ist, dass dem Ausdruck zufolge der Körper seiner Anwendung nicht vorausgeht – so würde man den Zusammenhang im Kontext der traditionellen abendländischen SubstanzOntologie verstehen – sondern dass er erst in der Anwendung sich verwirklicht und gleichsam zu sich selbst kommt. Auch die Übersetzungen ›Wesen‹ und ›Essenz‹ sind problematisch und sollten gelesen werden im Sinne dessen, was an einer Sache wesentlich oder essentiell ist, worauf es bezüglich dieser Sache also vor allem ankommt.

⣑ġtian Der »Himmel«, allerdings nicht nur und auch nicht in erster Linie im naturalistischen Sinne angesprochen, sondern seit dem Übergang von der Shang- zur Zhouzeit (am Ende des zweiten vorchristlichen Jahrtausends) als höchste Instanz des Kosmos und Quelle aller Normativität. Der Himmel ist in China zwar nicht ›Gott‹ im starken anthropomorphen Sinne der jüdischchristlichen Tradition, aber ein anthropomorphes Moment fehlt dennoch nicht gänzlich: Das Schriftzeichen dürfte ursprünglich so viel wie »großer Mensch« bedeutet haben, und die gesamte Kaiserzeit hindurch wird der Himmel als eine Instanz gedacht, die durch Naturereignisse mit den Menschen kommuniziert.

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⣑忻ġtian dao Die angesichts der semantischen Nähe naheliegende Verbindung beider Schriftzeichen bedeutet »Weg des Himmels« und meint die Gesamtheit alles Geschehens in seiner Normativität: Die vorgesehene Verlaufsform natürlicher, sozialer und kosmischer Prozesse.

⣑䎮 tian li Das »Himmels-Prinzip« oder besser: Das »intelligible Ordnungsmuster des Himmels«. Der Ausdruck steht dem vorangegangenen nahe, verweist aber noch stärker auf die Intelligibilität der Ordnung, die allem Geschehen unterliegt, und die natürlich auch hier vor allem in ihrer Normativität angesprochen ist.

⣑␥ tian ming Das »Mandat des Himmels«, die Legitimitätsgrundlage kaiserlicher Herrschaft. Im traditionellen China regierte der Kaiser mit himmlischem Mandat, das ihn auf die Beachtung ethischer Grundsätze verpflichtete. Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Dürren oder Erdbeben wurden häufig als Anzeichen dafür interpretiert, dass der Himmel mit der Herrschaftsausübung unzufrieden war und dem Kaiser das Mandat entzogen hatte.

⽫ xin Der Ausdruck steht ursprünglich für das Organ »Herz«, bezeichnet aber in philosophischen Zusammenhängen stets auch den Sitz der kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen und ist im Konfuzianismus vor allem das Organ der menschlichen Moralität. In den vorliegenden Texten wird das Zeichen durchgängig mit »Herzgeist« übersetzt. Der Ausdruck ist von besonderer Bedeutung im Buch Mengzi und der sich maßgeblich auf diese Schrift berufenden Schule des Konfuzia-

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nismus, die darum auch »Schule des Herzgeistes« (xin xue ⽫ ⬠) genannt wird.

⿏ xing Das Schriftzeichen besteht aus dem zum sinnanzeigenden Element komprimierten Zeichen für »Herz« (xin ⽫) sowie dem Zeichen für »Geburt« oder »Leben« (sheng 䓇) und wird mit »menschliche Natur« übersetzt. Wiederum ist es vor allem das Buch Mengzi, das diesem Ausdruck besondere Beachtung schenkt: Die Frage nach der menschlichen Natur steht im Zentrum der Diskussion zwischen Menzius und Gaozi, auf die in den vorliegenden Aufsätzen mehrfach Bezug genommen wird. Gegen Gaozis moralisch neutrale Bestimmung der menschlichen Natur als dem, was dem Menschen von Geburt an mitgegeben ist, besteht Menzius dabei auf dem Grundsatz von der (moralisch) guten Natur des Mensch, gleichsam einem angeborenen Hang zum Guten, den es zu kultivieren und gegen die gegenläufigen Tendenzen zum Egoismus zur Geltung zu bringen gilt. Dass die Natur des Menschen gut sei, wird in der Nachfolge des Menzius zu einem hartnäckig verteidigten Diktum der Konfuzianer.

⼊侴ᶲġİġ⼊侴ᶳġxing er shang/xing er xia Dieses Begriffspaar bedeutet der Einzelbedeutung der Zeichen nach »über den Formen« und »unter den Formen«, bzw. mit einer etwas umständlichen, aber präziseren Formulierung: Über und unter den »körperlichen Erscheinungsgestalten«, wobei die Präposition ›über‹ auf die Sphäre jenseits der sinnlich wahrnehmbaren Phänomene verweist und die Präposition ›unter‹ auf den Phänomenbereich selbst, also auf das, was dem Menschen jederzeit vor Augen steht. Es handelt sich somit um eine Unterscheidung zwischen dem »Gestalthaften« und dem »Nicht-Gestalthaften«. Die »Lehre von dem über den Formen« (xing er shang xue ⼊侴ᶲ⬠) ist heute eine im philosophischen Bereich gängige Übersetzung für den abendländischen Terminus ›Metaphysik‹. Im chinesischen Kontext sollte das Vorliegen des Begriffspaars allerdings nicht als Indiz für das Bestehen

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einer metaphysischen Zwei-Welten-Lehre gelesen, also nicht mit der uns geläufigen Gegenüberstellung von Transzendenz und Immanenz vermischt werden. Was im Sinne der Lokalisierung ›über den Formen‹ der sinnlichen Wahrnehmung entzogen ist, befindet sich darum noch nicht in einem Jenseits ähnlich der platonischen oder christlichen ›Hinterwelt‹.

佑ġyi Ein wiederum vielschichtiger Ausdruck, für den sich in verschiedenen Kontexten jeweils unterschiedliche Übersetzungen anbieten. Im weitesten Sinne umfasst der Ausdruck alles, was ethisch geboten und folglich »das was zu tun ist«, was manchmal eher im Sinne von »Dekorum« in die Nähe des Ausdrucks »Riten« (li 䥖) gehört und manchmal mehr in den Bereich des prinzipientreuen, nämlich die universale »Mitmenschlichkeit« (ren ṩ) realisierenden Handelns, wo der Ausdruck sich vor allem in politischen Zusammenhängen mit »Gerechtigkeit« oder »gerechtes Handeln« übersetzen lässt. Ebenfalls angesprochen ist mit dem Ausdruck die Einstellung, aus welcher gerechtes Handeln erfolgt, weshalb in manchen Kontexten von »Aufrichtigkeit« gesprochen wird.

Textnachweise

Kapitel 1 ist die bearbeitete Übersetzung von Chun-chieh Huang: »婾䴻℠娖慳冯⒚⬠⺢㥳ᷳ斄Ὢ : ẍ㛙⫸⮵˪⚃㚠˫䘬妋慳 䁢ᷕ⽫«. In ders.: 㜙Ṇ₺⬠烉䴻℠冯娖慳䘬彗嫱 (Konfuzianismus in Ost-Asien: Die Dialektik von Klassiker und Interpretation), Taipeh: Taida Chuban Zhongxin 2007, S. 1-25. Kapitel 2 ist die bearbeitete Übersetzung von Chun-chieh Huang: »⽆₺⭞䴻℠娖慳⎚奨溆婾妋䴻侭䘬㬟⎚⿏⍲℞䚠斄⓷柴«. In: 冢⣏㬟⎚⬠⟙ (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft der National Taiwan University), Nr. 24 (1999), S. 1-28. Wieder abgedruckt in Chun-chieh Huang: 㜙Ṇ₺⬠⎚䘬㕘夾慶 (Neue Perspektiven auf die Geschichte des ostasiatischen Konfuzianismus), Taipeh: Taida Chuban Zhongxin 2004, S. 39-72. Kapitel 3 ist die bearbeitete Übersetzung von Chun-chieh Huang: » 婾 㜙 Ṇ ₺ ⭞ 䴻 ℠ 娖 慳 冯 㓧 㱣 㪲 ≃ ᷳ 斄 Ὢ烉ẍ˪ 婾 婆 ˫ˣ ˪⬇⫸˫䁢ἳ«. In: 冢⣏㬟⎚⬠⟙ (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft der National Taiwan University), Nr. 40 (2007), S. 1-18. Eine englische Übersetzung ist erschienen unter dem Titel: »On the Relationship between Interpretations of the Confucian Classics and Political Power in East Asia: An Inquiry Focusing upon the Analects and Mencius«. In: The Medieval History Journal, vol. 11, no. 1 (2008), S. 101-121. Kapitel 4 ist die bearbeitete Übersetzung eines vom Autor auf Englisch verfassten, aber bislang nicht publizierten Textes mit dem Arbeitstitel »On the Mind-Body Relation in East Asian

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Confucianism«. Soweit nicht anders angegeben, wurden bei Zitaten aus Quellentexten die jeweiligen chinesischen Originale zugrunde gelegt. Kapitel 5 ist die bearbeitete Übersetzung von Chun-chieh Huang: »䔞ẋ₺⭞⮵⬇⫸⬠䘬妋慳烉ẍⒸ⏃㭭炻⼸⽑奨炻䈇⬿ᶱ䁢ᷕ ⽫«. In ders.: ⬇⫸⿅゛⎚婾 : ⌟Ḵ (Abhandlungen zur Geschichte des menzianischen Denkens – Zweiter Band), Taipeh: Academia Sinica Institut für Chinesische Literatur und Philosophie 1997, S. 421-463. Kapitel 6 ist eine zusammenfassende bearbeitete Übersetzung von Auszügen aus den Kapiteln 4, 6 und 8 von Chun-chieh Huang: ⬇⫸⿅゛⎚婾 : ⌟Ḵ (Abhandlungen zur Geschichte des menzianischen Denkens – Zweiter Band), Taipeh: Academia Sinica Institut für Chinesische Literatur und Philosophie 1997. Hinzugezogen wurden ferner die thematisch identischen Kapitel 7, 9 und 10 sowie der Epilog von Chun-chieh Huang: Mencian Hermeneutics – A History of Interpretations in China, New Brunswick (USA) und London (UK): Transaction Publishers 2001.

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Carlos Kölbl Geschichtsbewußtsein im Jugendalter Grundzüge einer Entwicklungspsychologie historischer Sinnbildung 2004, 390 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-179-8

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2009-02-05 14-54-07 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02c7201744162728|(S.

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