Konfusion. Krieg und Frieden in der Netzgesellschaft [1. ed.] 9783826079481, 9783826079498

124 19 1MB

German Pages 266 Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Konfusion. Krieg und Frieden in der Netzgesellschaft [1. ed.]
 9783826079481, 9783826079498

Table of contents :
Frontmatter
I. Einführung: Konflikte ums Ganze
II. Die Paradoxie des Friedens
III. Mittel globaler Pax
IV. Komplexität als Kulturform
V. Verknüpfungstechniken der Eirene
Backmatter

Citation preview

Gertrud Brücher – Konfusion

Gertrud Brücher

Konfusion Krieg und Frieden in der Netzgesellschaft

Königshausen & Neumann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2023 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics / coverart Umschlagabbildung: : Rthanuthattaphong: Abstrakte bunte Lichteffekte © envato.com Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany ISBN 978-3-8260-7948-1 eISBN 978-3-8260-7949-8 www.koenigshausen-neumann.de www.ebook.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

I. Einführung: Konflikte ums Ganze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

II. Die Paradoxie des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

III. Mittel globaler Pax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

IV. Komplexität als Kulturform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

V. Verknüpfungstechniken der Eirene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

5

Vorwort Seit dem Jahre 2020 befindet sich die Welt im postklassischen Krieg gegen einen Virus. Zwei Jahre später tobt ein klassischer mit militärischen Mitteln ausgetragener Krieg in Europa, in dem einander Russland und mithin eine Atommacht als klar erkennbarer Aggressor einer sich verteidigenden Ukraine gegenüberstehen. In dieser Lage ein Buch über den Frieden schreiben zu wollen scheint obszön, es sei denn, es würde klar Position gegen einen erneut in Verruf geratenen Pazifismus Stellung bezogen. Der Pazifismus aber ist schon lange, genauer, seit jenem in Jugoslawien ausgetragenen letzten Krieg in Europa vor dreiundzwanzig Jahren, nicht mehr das entschiedene „Nein zum Krieg“, eine Position des „Frieden schaffen ohne Waffen“. Damals war es an vorderster Front eine deutsche pazifistische Partei, deren Flügel der Realos entschieden für einen Angriffskrieg stimmten, der das separatistische Kosovo-Albanien gegen das auf seiner Einheit insistierende Serbien unterstützte. Die Unterscheidung von Pazifismus und Bellizismus ist zu einem fluiden Schema geworden, das über konkrete Haltungen zu kriegerischen Konfliktlösungsformen wenig Auskunft gibt. Zeitgemäßer ist die Unterscheidung von klassisch und postklassisch. In deren Lichte könnte eine Gemengelage sichtbar werden, die allererst darüber aufklärt, wogegen oder wofür gekämpft wird, sei es mit verbalen oder mit militärischen Waffen. Um den Frieden geht es und es mag eine anmaßende Position sein zu behaupten, darum gehe es nur einer Seite. Alle wollen in letzter Konsequenz den Frieden beziehungsweise das, was sie darunter verstehen. Dies einstimmige Wollen bei widersprüchlichem Tun ist es, das die Meinung vertreten lässt, es gehe zuvörderst um die Klärung dessen, was im Krieg/Frieden-Schema zum Ausdruck kommt. Und hierzu mag es hilfreich sein, diese Differenz von klassisch und postklassisch nicht aus den Augen zu verlieren. Gleichsinnig ließe es sich auch vom alten und neuen Normal sprechen. Denn fest steht allemal, dass klassische und das heißt militärisch ausgetragene Konflikte in einer Welt stattfinden, in der die nukleare Bedrohung unverändert fortbesteht und dass bisherige Arsenale ergänzt und verfeinert worden sind durch bio-, nano- und digitaltechnologische Waffensysteme, die die Menschheit in die Lage versetzen, so gut wie alles in eine autonom agierende, selbstreproduzierende Waffe zu verwandeln. Jede Drehung der Eskalationsspirale aber fördert eine Welt, in der Orwells Umkehr der Normalitätskriterien Wirklichkeit wird. Denn wer wollte vor dem Hintergrund der vergangenen Jahre sagen, dass im Zeitalter der biotechnologischen Revolution nicht all jene Konflikte miteinander in Zusammenhang stehen, in denen es stets ums Ganze gegangen ist. Zum schwe-

7

lenden und immer aggressiver ausgetragenen Konflikt zwischen Dataisten und Datenverweigerern, zwischen der Anhängerschaft technokratischer und demokratischer Herrschaftsmodelle sowie zwischen transhumanistischem und humanistischem Menschen- und Weltbild tritt ein neuer Kalter Krieg, der sich mit dem Ukraine-Krieg gegenwärtig erhitzt hat. Nichts aber scheint eine Entwicklung aufzuhalten, in der organisch-maschinell verschmolzene künstlich intelligente Systeme mit jeder weiteren Perfektionierung die Welt nach ihrem Bilde formen. Und jeder Krieg, so konventionell er auch immer begonnen werden mag, bietet ein Experimentierfeld für die Erforschung, Entwicklung und Anwendung technologisch verfeinerter destruktiver Akteure. Nun ist es aber nicht so, dass eine Welt, in der die Grenze von Krieg und Frieden gefährlich verschwimmt, erst mit den neuen Technologien Thema wird. Das daoistische Yin und Yang ist als ein Prinzip der Gleichzeitigkeit und wechselseitigen Durchdringung von Gegensätzen weit über China hinaus bekannt. Im klassischen Europa steht hierfür der Begriff der Eirene. Die Krieg-Frieden-Problematik ist hier zunächst eine solche differenter Perspektiven, die Hier ganz anders als Dort werten lassen. Was für die einen militärische Spezialoperationen Frieden schaffender Maßnahmen, das sind für die Anderen Tod bringende kriegerische Zerstörungen. Im Gegensatz dazu erscheint im Friedensbegriff der Pax die Perspektivendifferenz ein zu vernachlässigender Faktor. Wesentlich sind allein die Qualität der Waffen und die Legitimierung ihres Einsatzes. Und hier erhebt sich die Frage, ob das in den Medien vielfach ausgerufene Ende eines Friedenstraums bloß zum unvoreingenommen Wieder-Denken des Krieges ermutigen sollte oder ob es nicht zunächst darum gehen muss zu verstehen, worum es bei dem zugrundeliegenden Schema eigentlich geht.

8

I. Einführung: Konflikte ums Ganze Logos und Mythos Die industriell-technische Moderne hatte ihre Losung in der Tendenzerzählung Wilhelm Nestles (1975) „Vom Mythos zum Logos“ als Weg des Fortschreitens von dumpfer Irrationalität zu aufgeklärter Rationalität gefunden. Heute sieht es so aus, als wolle die digital-technische Moderne eine gegenläufige Tendenz vom Logos experimenteller Wissenschaft zur mythologisch transhumanistischen Vision eines künstlich intelligenten Hominiden zu ihrer Leitidee machen. Das neue künstlich intelligente Wesen tritt vielgestaltig auf. Es kann, wie vormals die antiken mythologischen Figuren, in beliebige Körper schlüpfen. Allerdings hat dieser Transformationsprozess nichts Geheimnisvolles an sich; er ist im Gegenteil ein Produkt radikaler Entzauberung. Denn die weltgestaltende Wesenheit besteht einfach in all dem, was mit Sensoren ausgestattet werden kann. Die Verschmelzung ist folglich radikal gedacht. Sie interessiert sich für Mensch, Natur, Kultur, Gesellschaft oder Organisation nur in ihrer Eignung als Schnittstelle. Das seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert bearbeitete Spannungsfeld zwischen Logos und Mythos löst sich in einem trivialen Sciencefiction Szenario mensch-maschine verschmolzener Wesen vollkommen auf. Da Gegensätze aber der Stoff sind, aus dem Streit, Konflikt und Krieg bestehen, scheint die Übertragung wichtiger Entscheidungen auf künstliche neuronale Netze ein willkommener Schritt auf dem Weg zum Weltfrieden zu sein. Autonome Entscheidungsfindungssysteme, die eine friedliche Welt Jenseits von Freiheit und Würde in Aussicht stellen, bleiben als Vision jedoch nicht unwidersprochen. Und damit entsteht ein neuer Konflikt zwischen Dataisten und Datenverweigerern, zwischen Transhumanismus und Humanismus, zwischen Technokratie und Demokratie.1 Letztere Position hat sich keineswegs überlebt, wenn man die vielfältigen Schwachstellen der neuen Technologie bedenkt. Das betrifft insbesondere die Qualität der Daten, mit der künstliche Intelligenz eine neue und bessere Welt zu errichten verspricht. Wer soll in etwa über die Trainingsdaten entscheiden, mit denen die autonomen Systeme gefüttert werden? Wer kontrolliert die Programmierer, zumal diese letztlich nur für das Anstoßen (Nudging) der Algorithmen verantwortlich sein können, nicht aber für das komplexe Spiel der neuronalen Systeme? So scheint für das, was entschieden wird, wieder 1

So tritt bei dem Transhumanisten und Gründer des WEF Klaus Schwab (2020) in seiner zusammen mit Thierry Malleret skizzierten Post-Corona-Gesellschaft an die Stelle der Demokratie eine globale Policy 04, die die Bedürfnisse der Weltbevölkerung antizipiert und deshalb keiner externen Kontrollen mehr bedarf.

9

der Hegelsche Weltgeist verantwortlich zu sein, in dem Logos und Mythos zusammenfallen. Die vormalige Spannung von Logos und Mythos hatte letztlich auf der Einsicht beruht, dass Erkenntnis beidem bedarf, der begrifflichen Präzision und der in Fantasie ragenden Darstellung. Erstere wird durch das Sammeln von Daten ersetzt, letztere durch die Computermodellierung. Und da im künstlich intelligenten Wesen Modell und Realität eins sind, verflüchtigt sich der Wunsch, etwas begreifen zu wollen. Denn dieses Etwas lässt sich, so scheint es heute, sehr viel leichter machen.2 Die Realität kann dem Modell angeglichen werden und damit entfällt der Einwand von Kybernetik und Mathematik, komplexe Systeme ließen sich nicht durch Modelle abbilden. Zwar enthält jede Abbildung nur einige Merkmale und blendet andere aus. Aber wollen die Menschen denn alle Merkmale? Social Engineering und Psychological Operation finden im Raum digitaler Medien nie gekannte Chancen, bestimmte Merkmale zu fördern und andere zu unterdrücken, kollektive Befindlichkeiten und ein globales Bereitschaftspotenzial für diese oder jene Agenda hervorzubringen. Und da nicht alle Menschen dieselben Prioritäten teilen, wird gesellschaftlicher Zusammenhalt zu einem ernsten Problem. Das schlägt sich nieder in wechselseitiger Unterstellung, Falschmeldungen zu verbreiten. Im Debatten-Podcast des Social Media Spiegel Online Forum und damit an verbreitungstechnisch außerordentlich wirksamer Stelle, beschreibt der Blogger Sascha Lobo die Kohäsionseffekte von Algorithmen gesteuerter Ingroup-Outgroup-Mentalitäten als zwölf aufeinander folgende Phasen der Verschwörung: 1. Sinnsuche 2. Verletzlichkeit 3. Neugier 4. Zweifel 5. Gutgläubigkeit 6. Narrative Verstärkung 7. Algorithmische Verstärkung 8. Erleichterung und Belohnung 9. Soziale Verstärkung 10. Anerkennungsreize 11. Abwehr und Immunisierung 12. Persönlichkeitsumbau.3 Sollte diese Beschreibung wirklich repräsentativ für ein kollektives Meinungsklima sein, so wäre dies alarmierend. Denn hier missrät Selektivität auf der phänomenologischen Ebene zur Verschwörung schlechthin und sie dient auf der Ebene wechselseitiger Zuschreibung als Mittel der Diffamierung Andersdenkender und anders Urteilender. Es sind Selektionsselektionen, die Zusammenhalt und damit implizit Soziales nur noch in Gestalt von Verschwörungswelten oder auf bestimmte Weltanschauungen eingeschworene gegen andere abgrenzende Gemeinschaften denken lässt. Allem Anschein nach erübrigen sich hieraus erwachsende Polarisierungen durch die neuen 2

In diesem Sinne meint Ray Kurzweil (2012) dem Geheimnis menschlicher Gedanken auf die Spur zu kommen.

3

Sacha Lobo „Mit zwölf Schritten in die Verschwörungsgalaxie“. 9/11 und Social Media. Der Debatten-Podcast. Spiegel Online 15.09.2019.

10

Technologien keineswegs. Sie sind gewollt und beruhen zugleich auf einem kommunikationstechnisch eingehandelten Automatismus. Als Konflikt oder auch als Streit sind diese Polarisierungen noch nicht ausreichend charakterisiert, sofern die Begriffe auf distinkte Parteilichkeit und einen unterscheidbaren Gegenstand der Kontroverse angewiesen sind. Die Polarität verläuft jedoch quer durch alle politischen Parteien vom linken bis zum rechten Spektrum. Was jeweils aktuell verhandelt wird, scheint genau jenem Gestaltwandel zu unterliegen, der zum Charakteristikum des dataistischen und transhumanistischen Projekts gehört. Folglich geben erst Antworten auf die Frage, welches der klassischen Mythologeme jeweils hinter den streitbaren Chiffren stehen, anders gesagt, was dieselben symbolisieren, Aufschluss über die Tragik weltumspannender Entzweiungen. Erst hier wird deutlich, dass es bei den Themen, die Widerspruch schlechterdings zu verbieten scheinen, immer ums Ganze geht. Und wo das Ganze auf dem Spiel steht, dort haben weder Kompromisse noch Toleranz oder ein bemühtes Verständnis für die Position Andersdenkender Platz. Im Extremfall haben wir Kulturkriege vor uns, wenn mit Andersdenkenden auf eine für zivilisierte Menschen ganz ungewöhnlich aggressive Weise verfahren wird. Kulturkriegerische Stimmungen entzünden sich an Themen, die kardinale Fragen der Beziehung zu uns selbst und zu den Anderen betreffen. Sie können sich gegen die Mitglieder von Nationen richten,4 aber auch gegen Andersdenkende in Bezug auf grundlegende Fragen anthropologischer (Gender), kosmologischer (Klima), apokalyptischer (Pandemie) oder weltanschaulich-religiöser (Szientismus) Art. Die Geschichte bietet reichlich Anschauungsmaterial für die gefährlichen Dynamiken, in die derlei Konflikte ums Ganze geraten. Dabei scheint es durchaus nachrangig, ob die Gewaltspirale jeweils religiös und konfessionell oder ideologisch motiviert gewesen sein mochte und wie machtpolitische und ökonomische Interessen ununterscheidbar ins eskalierende Geschehen hineinspielen. Für die Anamnese des Konflikts galt jedoch bislang der Grundsatz, dass die Gegenwart den Blick trübt und erst im historischen Nachhinein ein Urteil möglich ist. Die Digitalisierung scheint diesem Konsens die Grundlage zu entziehen. Die technischen Bedingungen der Signalübertragung in Echtzeit (Instantaneität) lassen geduldiges Beobachten und abwartendes Urteilen überflüssig erscheinen. Die grenzenlose Verknüpfbarkeit (Konnektivität) von Daten suggeriert einen realistischen Blick auf die Wirklichkeit und detailgenaue Beschreibungen kleinster Ein4

So vergleicht der Historiker Maciej Gorny „Mit Artilleriegeschossen des Geistes“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.06.2022, Nr. 135, 12) den jetzigen von Intellektuellen gegen russische Wissenschaftler und Künstler geführten Kulturkrieg mit 1914 und erinnert daran, dass sich die mit Beleidigungen und Ausgrenzungen hervortuenden Intellektuellen später für ihr Verhalten geschämt hätten.

11

heiten (Granularität) bringen den alten Traum vom gläsernen Menschen seiner Verwirklichung näher. Aufgrund dieser medientheoretisch revolutionären Entwicklung meint man heute, Zeit teleskopieren zu können und das bedeutet, schon heute zu wissen, was in der Zukunft geschieht. Erst der langjährige Umgang mit den neuen Medien wird nach und nach einen Maßstab für die Differenz zwischen futuristischem Mythos und digitaltechnisch erweitertem Logos herausbilden lassen. Fest aber steht bereits heute, dass die Qualität der Daten auch über das entscheiden wird, was aus der radikalen Entdifferenzierung von „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ (Koselleck 1975) tatsächlich erwächst. Und für die Qualität der Daten sind alle Menschen verantwortlich, die die künstlich intelligenten Systeme mit ihren kleineren und größeren kommunikativen Offerten füttern. Das gilt auch für die vorliegende Abhandlung. Diese möchte auf eine gewissermaßen vergessene Unterscheidung von Eirene und Pax erinnern. Um zu verstehen, dass diese in ihrer wirklichkeitskonstruierenden Tragweite kaum zu unterschätzende Unterscheidung wieder hochaktuell geworden ist, bedarf es einer besonderen Aufmerksamkeit für all die Themen, an denen sich heute die Gemüter erhitzen. Diese zeichnen das Bild einer Gesamtstimmungslage, die in Richtung Konfliktverschärfung weist. Hier drängen sich Impressionen auf, die nur die gefährliche Tiefendimension der Polarisierungen vor Augen führen sollen. Sie sind selbst nicht Analysegegenstand dieser Abhandlung, sondern mehr dazu da, Klarheit über das Andere von Konflikt, Streit und Krieg zu gewinnen. Es geht um die Annäherung an ein zeitgemäßes Friedensverständnis, genauer, um die Form Frieden.5 So verrät die besondere Art und Weise, in der generell mit Konflikten umgegangen wird, einen bestimmten Begriff von Frieden ebenso wie der Konflikt über Maßnahmen gegen den krankmachenden Corona-Virus einen spezifischen Begriff der Gesundheit vorausaussetzt. Gesundheitsbegriff und Friedensbegriff – der Friede mit sich selbst und mit Anderen – liegen nahe beieinander. Ein von der Politik nicht eigens diskutierter, sondern bloß implizierter Begriff des Friedens oder der Gesundheit erfüllt offensichtlich die Funktion eines Mediums, eines kaum merklichen Hintergrundrauschens. Im Szenario sich aufschaukelnder Feindschaften, in dem Polarität Züge eines Selbstzwecks annimmt, zeigt sich der mediale Raum in seiner mythischen Dimension und Vermittlung. Denn immer steht alles auf dem Spiel, das Verhältnis zur Welt, zum Menschen, zur Zukunft und zur Vergangen5

12

Mit Form ist im Anschluss an die mathematische Logik George Spencer Browns die paradoxe Einheit jener Unterscheidungen gemeint, die bei Bezeichnungen aktiviert wird. Zum Versuch, den Frieden aus dieser Perspektive heraus verstehbar zu machen, siehe Brücher (2002).

heit. In einer veralteten Sprache heißt dies, es geht um das Verhältnis zum Schlechthinnigen. Die Darstellung, im digitalen Zeitalter die Computermodellierung, nimmt zwar den ganzen Raum eines Feldes ein, der sich begrifflich-analytischem Denken entzieht. Aber dieser Raum ist kulturgeschichtlich gesehen nicht leer, sondern reich an komplexen Sinnstrukturen. Diese lassen sich nicht einfach technizistisch überlagern und durch digital modellierte Projekte ganz und gar verdrängen. Wie im Falle von Neurosen kämpft sich das Verdrängte und Abgedrängte auch im sozialen Bereich unberechenbar an die Oberfläche. Allein die Heftigkeit, mit der sich die skandalisierten Themen gegen vernünftige und abgewogene Auseinandersetzungen sperren, verrät die unguten psychohistorischen Verstrickungen. Sollten Klima, Gender, Pandemie und eine szientistisch verstandene Wissenschaft immer auch Chiffren für kosmologische, anthropologische, apokalyptische und religiöse Mythologeme sein, so müsste wieder verstärkt über das dynamische Doppel von Mythos und Logos nachgedacht werden. Aber was wäre mit einem solchen Nachdenken für den Frieden gewonnen? Liefert Aufklärung über ein unentwirrbares Ineinander von Logos und Mythos brauchbare Hinweise, wie sich Streitkultur, eine Kultur des Respekts denken ließe? In der allgemeinen Klage über fehlende Streitkultur scheint das Ziel niedrig gehängt. Verlangt wird nicht gleich Frieden; man begnügt sich mit der Fähigkeit, Streiten zu können. Sieht man genauer hin, so zeigt sich der Begriff jedoch als Mogelpackung. Denn Kultur suggeriert im vorliegenden Kompositum, dass die Unterscheidung von Polarität und Einheit, von Streit und Frieden nicht paradox sei, sondern mit einem schwerlich auszumachenden Unterschied zwischen denjenigen Akteuren, die zivilisiert und jenen, die unzivilisiert kommunizieren, zusammenfalle. Und nichts liegt näher als zu schlussfolgern, man müsse nur wirksame Filter installieren, die in der Lage sind, Friedensfeinde im globalen Netz zu orten und deren Beiträge zu zensieren. Aber damit scheint nicht viel erreicht. Denn nun beginnt das formlogische Fragespiel nur von Neuem: Ist die Verwendung des Freund-FeindSchemas identisch mit der Unterscheidung von friedlichen und unfriedlichen Menschen? Aus dieser offensichtlichen Nichtidentität resultiert die Einsicht, dass Aufklärung doppellagig angefertigt werden muss: Die beiden Seiten der Unterscheidung sind der Unterschied und sie sind nicht der Unterschied: Das Sein konfundiert mit Attributionsgewohnheiten. Friedensfeinde sind Feinde und Sündenböcke, Friedensfreunde sind Freunde und Verfolger/autoritäre Charaktere/Konformisten. Ohne die intellektuelle Öffnung für paradoxe Konstellationen reproduziert moralisch-praktisches Engagement das Bekämpfte ad infinitum. Ohne diese Öffnung und damit die implizite Meta-Unterscheidung von eristischer Dialektik und dialogi-

13

scher Wahrheitssuche wird Streitkultur mit der sophistisch-rhetorischen Kunstlehre verwechselt, als Jemand zu erscheinen, der im Recht ist und der zu Recht urteilt und verurteilt.6 Bezüglich der Metaunterscheidung von Philosophie und Sophistik melden sich jedoch sofort systemtheoretische Bedenken, wenn davon ausgegangen werden muss, dass wir es im Falle von Personen und Gemeinschaften mit selbstbeobachtenden Systemen zu tun haben. Damit wird die Unterscheidung von Macht und Wahrheit als Differenzkriterium der Charakterisierung diffus. Und die Suche nach nicht explizit geäußerten Motiven wird zur willkürlichen Motivunterstellung. Die Beobachtung von Beobachtern scheint infolgedessen nicht in die Lage zu versetzen, zwischen Wahrheitssuche und Machtstreben einen distinkten und damit logisch und empirisch zu erhärtenden Unterschied zu machen.7 Allerdings bleibt es nicht beim Relativismus. Denn auf der Ebene des Beobachtens von Beobachtungsweisen, des reflexiven Beobachtens – der so genannten Kybernetik 2. Ordnung (von Foerster 1979) – macht sich die Unterscheidung von Wahrheitssuche und Machtstreben erneut bemerkbar. Es geht jetzt um die kardinale Frage, ob die Beobachtungen (Logos) ihre Verstrickung in den Zirkel der Selbstbeobachtung (Mythos) kenntlich machen (Philosophie) oder aus manipulativen Gründen verdecken und verbrämen (Sophistik). Man sieht, dass es bei der alten Unterscheidung von Philosophie und Sophismus durchaus um mehr geht, als um bloße Motivunterstellung. Offensichtlich handelt es sich um einen an der Beobachtungsweise selbst ablesbaren Unterschied, den Platon in einem großen Teil seiner Dialoge deutlich zu machen sucht. Vor diesem Hintergrund gibt auch die sozialpsychologische Unterscheidung von Beziehungs- und Inhaltsaspekt einer Mitteilung durchaus Anhaltspunkte. Denn es geht bei den Auseinandersetzungen, bei den Verunglimpfungen Andersdenkender und anders Urteilender nicht wesentlich um Inhalte, sondern – wie im Falle der aktuellen Szenarien – um die grundsätzliche Beziehung zur Welt, zum Menschen, zur Vergangenheit und zur Zukunft als multiplen Formen von Selbstbeziehung. Und wo kosmologische, anthropologische, religiöse und apokalyptische Mythologeme berührt sind, dort droht Rationalität als Rationalisierung dumpfer Impulse in Erscheinung zu treten. Nur eine Sensibilisierung für die Differenz von 6

Arthur Schopenhauer (1996) hat in seinem Buch „Eristische Dialektik oder die Kunst Recht zu behalten“ achtunddreißig rhetorische Strategeme aufgezeigt, die in einem Streitgespräch Erfolge erzielen lassen und dies mit erlaubten und unerlaubten Mitteln (‚Disput per fas et nefas’).

7

Luhmann bringt in „Beobachtungen der Moderne“ (1992, 152) diesen Ansatz reflexiven Beobachtens in Verbindung mit der Sophistik des 19. Jh.’s, insbesondere mit Kenneth Burke.

14

Wahrheit und Macht als unwillkürlich mitlaufender Unterscheidung kann dies vermeiden. Im Klima-Diskurs steht das Verhältnis des Menschen zum Weltganzen, zur Kosmologie zur Disposition. Leben wir noch im Anthropozän, so lautet die Frage, oder handeln wir uns mit dem anachronistischen Festhalten an überkommener Subjektzentrierung unvermeidlich globale nicht mehr rückgängig zu machende biophysische Zerstörungen ein? Der Gender-Diskurs erhebt den Anspruch, den Kern der anthropologischen Frage nach dem Menschen als einer Einheitskategorie in einer neuen Weise zu beantworten. Der Corona-Diskurs bündelt den gesamten Themenkomplex der Apokalyptik in einem einzelnen Killervirus. Und der Wissenschafts-Diskurs zielt auf die im Spannungsbogen von Mythos und Religion entfaltete Frage nach der Herkunft. Im Gegensatz zur unmittelbar empfundenen Seuchengefahr der Corona-Krise und in abgeschwächter Form auch der Atomkriegsgefahr des Wettrüstens, bleibt die klimaverändernde Wirkung der fossilen Energieträger abstrakt und schwer vermittelbar. Berührt sein müssen offensichtlich tiefsitzende psychosoziale Befindlichkeiten, die von Diskursen zwar stimuliert, aber kaum korrigiert werden können. Das leisten sehr viel eher Dialoge, wenn wir uns auf die Unterscheidung des Medienphilosophen Vilém Flusser (1978, 270-279) stützen wollen. Während Diskurse auf die bloße Informationsübertragung vom Sender zum Empfänger aus sind und wenig Interesse für die Einwände der Gegenseite aufbringen, entziehen sich Dialoge durch ihre zirkuläre Struktur allzu leichter Manipulation.8 Wer sich ernst genommen fühlt, ist eher bereit, die eigene Position zu überdenken. Wie sehr die gegenwärtig polarisierenden Diskurse im Transrationalen wurzeln und deshalb kaum in einer vernünftig-verständigen und das heißt ‚dialogischen’ Weise geführt werden können, zeigt sich an der Kontingenzverweigerung. Mit Klima-, Corona-, Gender- und Wissenschaftsleugnern muss und kann man sich nicht austauschen, denn der Gegenstand ist die kaum auszuhandelnde Sinnfrage. Diese ist aufgefächert in die drei Sinndimensionen: Der auf kosmologische Fragen antwortende Klima-Diskurs bezieht sich auf die Sachdimension von Sinn. Es geht um die Erhaltung einer Atmosphäre, die für menschliches Leben unabdingbar ist. Als Teil des Ökosystems sieht sich der Mensch gleichwohl zum Artenschutz aufgefordert.9 8

Die von Flusser hervorgehobene tiefere Absicht der Kommunikation, die Sinnlosigkeit und Einsamkeit eines Lebens zum Tod vergessen zu machen (Hochscheid 2011), trifft die kosmologisch, anthropologisch, apokalyptisch und religiös verunsicherte Gegenwart im Kern.

9

Zum Spannungsverhältnis von Klimaschutz als geopolitischem Großprojekt und nur regional durchzuführendem biopolitischem Projekt des Artenschutzes siehe Mobjib Latif (2022).

15

Allein hierin liegt der schwer auflösbare Zielkonflikt zwischen einer aus Gründen des Klimaschutzes notwendigen Energiewende und einem Biound Artenschutzprogramm, mit dem das gesamte Ökosystem vor den destruktiven Folgen rein ökonomischer Kosten-Nutzen-Analysen geschützt werden kann. Different fallen die Maßnahmenkataloge jedoch nicht nur durch diesen Zielkonflikt aus. Dieser lässt sich womöglich sogar lösen, wenn nachgewiesen werden kann, dass die Renaturierung von Auen, die Erhaltung von Wäldern und natürlichen Gewässern zum Klimaschutz beitrage können. Wichtiger scheinen Differenzen, die sich jeweils kaum diskutierten theoretischen Vorentscheidungen verdanken. Unversöhnlich stehen einander Positionen bezüglich der Frage gegenüber, ob und inwieweit sich komplexe Systeme steuern lassen. Die einen bejahen und die anderen verneinen diese Frage. Wo komplexe ökologische Systeme, und zu diesen zählen Organismen und ganze Ökosysteme, als steuerungsresistent angesehen werden, dort sind Grundrechte als natürlich, als angeboren und unverlierbar anerkannt. Wo technologischen Innovationen steuernde Wirkung zugetraut wird, dort können die Grundrechte letztlich nur als Privilegien für all diejenigen Menschen anerkannt sein, die ein gewünschtes nachhaltiges Sozialverhalten an den Tag legen. Der unausgesprochene Subtext der Auseinandersetzungen reproduziert die Differenz von humanistisch-demokratischer und transhumanistisch-technokratischer Weltbetrachtung gewissermaßen als ein persistentes Muster. Für die einen ist Natur immer auch ein Phänomen sui generis, für die anderen ist Natur gesellschaftliche Konstruktion. Der Unterschied zeigt sich deutlich an den diametralen Lesarten der 1992 von 192 Staaten unterzeichneten Biodiversitäts-Konvention. Im Kontext der alten Natur- und Umweltschutz-Bewegungen wird das globale Ziel der Erhaltung der Artenvielfalt als Schutz der bedrohten Tier- und Pflanzenspezies vor dem Aussterben interpretiert. Der technokratisch-transhumanistische Standpunkt richtet sich hingegen nach der expliziten Definition, der gemäß Diversität auf den genetischen Code bezogen ist und die Sorge auf den Schutz der pharmazeutischen und biotechnologischen Industrie in ihrem Anliegen, Mensch und Natur durch DNA-Modifizierungen verbessern zu können.10 Philipp Kohlhöfer (2021), der als Journalist für das Forschungsnetz Zoonotischer Infektionskrankheiten tätig war, zeichnet die Zukunft als eine pandemische, durch Viren veränderte Welt, in der die Wissenschaften angesichts der Leichtigkeit, einen Virus aus vergangenen Jahrhunderten nachzubauen, die Biodiversität erhöhen könnten, um 10

16

Vgl. Matthias Finger/Pratap Chatterjee (1994); Patrick M. Wood (2014; 2018), die vor den Dynamiken der Technokratie und der gentechnischen Transformation von Leben warnen.

auf diese Weise intakte Ökosysteme für eine weniger heikle Koexistenz von Viren und Menschen zu errichten. Das Buch wurde mit einem Vorwort von Christian Drosten versehen und an prominenter Stelle in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung besprochen.11 Die hier anschließenden Schwerpunkte sind nur im Hinblick auf den steuerungsaffinen und den steuerungskritischen Subtext nicht verhandelbar, sehr wohl aber hinsichtlich konkreter Praktiken und Politiken. Die steuerungskritische Haltung schlägt sich nieder in der Konzentration auf die Grenzen des Wachstums, im Engagement für breitflächige Aufforstungsprogramme und dadurch erzielte Reduzierung des CO2 Ausstoßes, für Naturschutz im Allgemeinen und Tierschutz im Besonderen, für rückläufige Versiegelungen der Erdoberfläche und eine Kultur der Schonung natürlicher Ressourcen. Sozialtechnokratisches Problemlöseverhalten hält auf der operativen Ebene hingegen am Paradigma unbegrenzten Wachstums fest und konzentriert sich ganz auf die Förderung einer umfassenden digitalen Infrastruktur, die den Energieverbrauch in allen Lebenssituationen durch Künstliche Intelligenz kontrollieren lässt. Gestützt auf Computermodellierungen verspricht der technokratische Ansatz, den für Smart-Home und Smart-City benötigten vielfachen Stromverbrauch ohne ökologische Schäden verkraften zu können. Voraussetzung ist eine gelungene Energiewende von fossilen erderwärmenden Brennstoffen weg und hin zu erneuerbarer Energie aus Wind und Sonne. Im Gegensatz zu heute war im Zusammenhang mit den ideologischen Auseinandersetzungen über den Profitschmutz des Kapitalismus in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein dezidierter Methodenstreit öffentlich ausgetragen worden. So hatte sich die ökologische Ideologiekritik immer auch gegen den von marxistischer Seite vorgebrachten Verdacht eines zeitgemäßen Überbaus zur Wehr zu setzen, der eher beabsichtige, zum Verkauf neuer Güter anzuregen als Natur ernsthaft zu schonen.12 Damit kommen wir zur zweiten Sinndimension des Sozialen, die im Gender-Diskurs verhandelt wird. Dieser ersetzt den einigenden Kollektivsingular ‚Mensch’, dem allein aufgrund von Geburtlichkeit (Arendt 2007) und Sterblichkeit (Heidegger 1972) Würde und Rechte von Natur aus zukommt,13 durch den konstruktivistischen Kollektivsingular ‚Gender’. Hier sieht sich 11

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.02.2022, Nr. 36,12.

12

So insbesondere Hans Magnus Enzensberger (1973); das 1973 erschienene wachstumskritische Plädoyer für eine humane Technologie, die pfleglich mit der Natur umgeht von Ernst F. Schumacher (2013); siehe auch Herbert Gruhl (1982); Carl Amery (1976).

13

Siehe besonders Heidegger (1972, 235 - 267). Der Tod gewinnt für den Menschen Bedeutung nicht als Erleiden, sondern als Vermögen, „den Tod als Tod vermögen“ (Heidegger, 2000, 152) bedeutet, mit dem umgehen zu können, was den Menschen am meisten ängstigt.

17

die gewählte und womöglich technisch hervorgebrachte Geschlechtlichkeit in Stellung gebracht gegen den naturgegebenen Sexus.14 Es geht um Gerechtigkeit. Dasjenige, was in seinem Eigenwert und in seiner Würde anerkannt werden soll, ist jedoch ein raumzeitlich fluider Begriff von Gender, der je nach Befindlichkeit und sozialem Umfeld als Wahl von diesem oder jenem Geschlecht Gestalt annimmt. Feministinnen sehen darin ihren erfolgreichen Kampf um Gleichberechtigung zunichtegemacht. Denn so genannte transweibliche Frauen mit Penis sind nun in der Lage, in die Schutzräume der Frauen einzudringen. Die Natur als Phänomen sui generis anzuerkennen gilt diesen folglich als Voraussetzung für Gerechtigkeit und Würde. Dieser subkutan mitlaufende Gegensatz zwischen einem humanistischen und einem transhumanistischen Menschenbild dominiert auch die Einstellung gegenüber der gewachsenen Sprache. Der sozialtechnische Standpunkt erwartet von neuen administrativ durchgesetzten Sprechweisen eine neue nicht länger diskriminierende Art zu denken und rechtfertigt davon ausgehend autoritative Maßnahmen. Gegenpositionen erinnern an die grundrechtsbegründende Gleichheit, die sich in Bezug auf den Begriff der Person im generischen Femininum und im Falle des Begriffs Mensch im generischen Maskulinum artikuliert. Die Grundlage für extreme Formen anthropologischer Verunsicherung bilden dabei Popularisierungen des in sich durchaus differenzierten philosophischen Konstruktivismus. In ihrer radikalen Variante wird die Subjektposition des Akteurs und Machers absolut gesetzt.15 Diesem gelingt es mit Hilfe der Gentechnik, Darwin zu überlisten, den Menschen zu einem Gegenstand des Designs und schließlich auch Sex entbehrlich zu machen (Metzl 2020, 109-137). In Bezug auf die anthropologische Verunsicherung und somit die soziale Sinndimension nimmt der Genderdiskurs eine andere Stellung ein als der Anti-Rassismus-Diskurs, obgleich es auch hier um das ganz Andere und Fremde geht.16 Während die Differenz von Sex und Gender den Menschen als Einheitskategorie und somit als Träger von Menschenrechten problematisch werden lässt, steht der Rassismus für die Verletzung von Menschenrechten und setzt somit voraus, womit der Genderdiskurs hadert, nämlich den Menschen als einer Einheitskategorie. Genau betrachtet, geht es beim Anti-Rassismus um eine moralische Unterscheidung, die jene anthropologische Umdeutung in höhere und niedere Rassen und schließlich sogar das 14

Den technokratischen Einfluss auf die Genderdebatte, der den Imperativ der Bewahrung der Natur in einen Imperativ der Förderung von Pharma-Industrien verwandelt hat, betont Christoph Türcke (2021).

15

Zum kritischen Diskurs siehe die Beiträge in Siegfried J. Schmidt (1987).

16

Christoph Türcke (2022) verweist auf die Dialektik von Ich-Bildung und xenophobem Grundrauschen und fordert dazu auf, die Verleugnung der eigenen Xenophobie in der antirassistischen Attitüde zu erkennen.

18

Machen von Unterscheidungen zwischen den Menschen für moralisch verwerflich hält und damit die Grundfesten identitätspolitischer Ansätze untergräbt. Die im Anti-Rassismus-Diskurs reaktivierte alte Unterscheidung von Natur und Kultur erschwert die Eingliederung in den übergeordneten transhumanistisch-humanistischen Deutungskontext. Denn die Kultur, um die es etwa bei der Forderung nach Rückgabe von Kulturgütern geht, hält ihre Differenz zur Technik aufrecht. Sie möchte als historisches Erbe der kulturschaffenden Populationen geachtet werden. Die beiden anderen Diskurse zielen auf die zeitliche Sinndimension. Das apokalyptische pandemische Corona-Szenario entwirft eine lebensbedrohliche Zukunft, die nur mittels technisch-medizinischer Eingriffe periodisch injizierter Vakzine gebannt werden kann. Die natürliche wird vollends durch eine künstliche Immunisierung ersetzt. Die Natur vermag nichts, Forschung und Technik vermögen alles. Angesichts dieses klaren Leistungsgefälles geraten Freiheitsrechte in die Defensive und in den Verdacht eines retardierenden Moments im wissenschaftlich-technischen Fortschrittsgeschehen. Der Slogan Mein Körper gehört mir – während der Abtreibungsdebatten der siebziger Jahre noch Ausweis unveräußerlicher Rechte auf Selbstbestimmung und Freiheit – erscheint nicht nur obsolet, sondern mehr noch als Hinweis auf eine egoistische und pflichtvergessene Gesinnung. Schließlich kann selbst das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nicht mehr als unveräußerlich gelten. Der Wissenschaftsdiskurs schließlich befasst sich mit der entscheidenden Frage nach der Einstellung des Menschen zum Faktum seines Gewordenseins. Kontrovers ist die Einordnung erworbenen Wissens entweder in ein szientistisches Forschungsgeschehen, das dem Anspruch nach sachgesetzliche Erkenntnisse hervorbringt. Diese lassen sich nur entweder annehmen oder pauschal ablehnen. Hier ist die Expertise alles und der gesunde Menschenverstand nichts. Im anderen Fall ist Wissen grundsätzlich fallibel und somit auf den unbehinderten Austausch von Pro und Kontra Positionen angewiesen. Hier ist der gesunde Menschenverstand ein notwendiges Korrektiv im Forschungsprozess von Trial and Error. Wo sich die Expertise zum Dogma erhebt, sind Gefolgschaft und Gehorsam angemessen. Wo die Expertise konstitutiv kontrovers ist, dort verbietet sich das sozialtechnokratische Diktat getreuer Umsetzung.17 Irritierend und schwer begreifbar sind diese aktuellen Formen von Unversöhnlichkeit, die Familien, Freundeskreise und Kulturgemeinschaften spalten, aufgrund ihres nachideologischen Charakters. So gelingt es trotz hartnäckiger Versuche kaum, die kontroversen Positionen ins Raster über-

17

Zur wissenschaftsphilosophischen Auseinandersetzung siehe Michael Esfeld (2019), besonders auf die Corona-Krise bezogen Christoph Lütge/Michael Esfeld (2021).

19

kommener Links-Rechts-Schematisierungen einzuordnen.18 Denn nicht um prioritäre Werte nach dem Muster Gleichheit versus Freiheit wird gerungen. Vielmehr sind es je paradigmatische Herangehensweisen an Probleme, in denen sich ein mitunter kaum bemerkter humanistischer und transhumanistischer Subtext vor alles schiebt, worüber gesprochen wird. Der Begriff des Subtextes verweist auf einen spezifischen Sinn, der als unaufhaltsamer Trend zur digitalen Konvergenz, zur unmerklichen Verschmelzung des Menschen mit der Maschine evident ist. Die Wahrnehmung gewissermaßen von Allem als Schnittstelle für maschinelle Verknüpfungen, ist als Kerngedanke des Transhumanismus ins Zentrum eines Epochenbewusstseins vorgedrungen, das sich als Zeitalter der synthetischen Biologie begreift. Es gibt freilich Näherungsweisen, die weltanschauliche Assoziationen meiden, so die Rede von der „postdigitalen Gesellschaft“ (Baecker 2019, 121). Hier wird dem Faktum Rechnung getragen, dass sich die Hoffnungen der frühen Kybernetik, der Computer könne menschliche und soziale Leistungen ersetzen, nicht erfüllt haben. Die digitale muss sich mit der analogen Welt vereinigen und dies bis zur Ununterscheidbarkeit. Inwieweit es sich hierbei um einen unaufhaltsamen wissenschaftlich-technischen Entwicklungsschritt handelt oder um eine menschheitsgeschichtliche Fehlentwicklung und Sackgasse, werden zukünftige Gesellschaften zu entscheiden haben. Unabweisbar aber ist, dass hier eine Dimension berührt wird, die ein alle bisherigen Protestbewegungen in den Schatten stellendes Widerstandspotenzial entfaltet. Im Hinblick auf die Friedensproblematik können wir deshalb durchaus von einem transhumanistischen Subtext sprechen, der sich vor alle Themen schiebt und diese in seinem Sinne modifiziert. Erst die Einsicht, dass es bei den streitbaren Themen nicht bloß um Ressourcenschonung, um Gleichberechtigung, um Gesundheitsprophylaxe und um Erkenntnisgewinnung geht, sondern um eine grundsätzliche Neuorientierung des Menschen in seinem Verhältnis zur Welt, zum Menschen, zur Zukunft und zur Vergangenheit, führt tiefer in die psychosozialen Befindlichkeiten. Denn ginge es wirklich um die Monstrosität globaler Probleme, so wären alle Seiten auf der Suche nach den besten Lösungen um einen vorbehaltlosen Austausch bemüht. Das Ausmaß der Aggression ist allerdings mit der kontexthypothetischen Einsicht, dass Thema und Gegenstand des Streits nicht koinzidieren, kaum erklärt. Denn es steht jetzt die Frage im Raum, weshalb die Menschen in ihrer kosmologischen, anthropologischen, apokalyptischen und 18

20

Zu dieser Position siehe Juval Harari, der in seinem TED-Talk vom 02.03.2022 „The War in Ukraine will Change Everything“, Nationalismus und Liberalismus als einander ergänzende Freude bezeichnet, die beide die westliche Freiheit verteidigten. Freiheit ist dabei als ungehinderte Entwicklung hin zu digitaler Konvergenz verstanden.

religiös-wissenschaftlich-glaubensbezogenen Verortung derlei aus der Bahn geworfen sind, dass Einheitsnarrative gefordert und weltanschauliche Geschlossenheit um jeden Preis erzwungen werden soll. Es ist umso erstaunlicher, als all dies selbst in jenen Gemeinschaften zu beobachten ist, die gemäß ihrer Selbstbeschreibung demokratisch, kontingenzbewusst und der Aufklärung verpflichtet sind. Eine system-, medien- und kommunikationstheoretisch erprobte These sieht in der Digitalisierung eine vierte Medienrevolution, die nicht anders als die vorangegangenen grundstürzenden menschheitsgeschichtlichen Innovationen der Entstehung von Sprache, Schrift und Buchdruck kategoriale Rahmen hat zerbrechen lassen.19 Sie sind typische Reaktion auf extreme Formen der Desorientierung durch ein Medium, das Wissen abrufen lässt, ohne zugleich über die Methoden und Hilfsmittel zu informieren, mit deren Hilfe selbiges Wissen erzeugt worden ist. Mit genau diesem Vorwurf hatte Platon im 5. vorchristlichen Jahrhundert im Dialog Protagoras den Umgang der Sophisten mit der medienrevolutionären Entstehung einer Kultur der Schriftlichkeit kritisiert. Als verkaufsfertiges und beliebig zu vermehrendes Gut trat ‚Wissen’ erstmals in Gegensatz zu dem, was als Erfahrungsschatz bisher Orientierung möglich gemacht hatte. Wenn sich im Anschluss an die damalige mediale Umstrukturierung der Gesellschaft eine Unkultur der Suche nach Feinden, der üblen Nachrede und der schuldlosen Anklage breitmachte, so galt dies Platon als typische Reaktion auf die verunsichernde Wissensproduktion. Der um sich greifenden Diffamierungspraxis war ausgerechtet Sokrates zum Opfer gefallen, der hier Abhilfe hatte schaffen wollen. Nach Platon ging es Sokrates im Gegensatz zu den Sophisten nicht darum, fertiges Wissen für gute Bezahlung feilzubieten. Vielmehr war es dessen Anliegen, die Probleme anzusprechen und gemeinsam im Gespräch zu lösen, die durch die Medienrevolution der Schriftlichkeit entstanden waren. Sokrates’ Bemühen galt infolgedessen nicht schnellen und fertigen Antworten, sondern weiterführenden Fragestellungen: Wie kommt man zu dem, was als Wissen und mithin als ein für Macht-, Gelderwerb und Ansehen nützliches Produkt begehrt wird? Welche Denkwege machen dasselbe plausibel oder entziehen vermeintlichem Wissen jegliche Plausibilität? Nachdem Sokrates durch den Schierlingsbecher hingerichtet worden war, setzte Platon dessen Lehre im Rahmen einer eigens zu diesem Zweck gegründeten Akademie fort. Die Situation ist der heutigen durchaus vergleichbar: Jeder Jugendliche kann sich unter Zuhilfenahme des Handy Wissen in Hülle und Fülle über 19

Zu den Konsequenzen der Revolutionierung der Gesamtgesellschaft siehe Dirk Baecker (2018).

21

jedes beliebige Thema kaufen. Aber das abrufbare Wissen ist so gegensätzlich, dass nicht anders als in der Konfrontation mit dem antiken Wissensdrang, zusätzliche Anreize für die Medienkonsumenten geschaffen werden müssen. Und heute wie damals ist es Akteuren, die über Geld und Macht verfügen ein Leichtes, in ihrem Sinne intellektuelle Moden zu beeinflussen. Wer von Wissensvermittlung leben wollte und leben will, der sah und sieht sich folglich auch heute gezwungen, etablierten mächtigen Geldgebern zuzuarbeiten. Dies musste damals den Sophisten und es muss heute den von Drittmitteln abhängigen Universitäten und Instituten den Ruf der Käuflichkeit einbringen.20 Damit sind Tendenzen der Polarisierung mit dem Herrschaftsinstrument des divide et impera in Verbindung gebracht. Aufklärung zielt bei Platon auf die Art und Weise, wie im Übergang von reiner Mündlichkeit zur Schriftkultur mit Sprache umgegangen wird. Erst wenn die spezifisch medienbedingten Verzerrungen der Sachverhalte durchschaut sind, sieht sich vermeintliches Wissen um seine Autorität gebracht. Der Umsatz von Meinungen, Wissen und Gütern steigt in einer Gesellschaft, in der verfeindete Gruppierungen zur Selbstbehauptung mehr eines Wissens bedürfen, das die eigene Meinung stützt und mehr Güter, die die eigene Macht sichern und maximieren. Wie lässt sich hier kritische Distanz gewinnen? Platon (1964) verweist im Siebenten Brief auf das In- und Gegeneinander von fünf Erkenntnisschritten, die bei jedem der jeweils umstrittenen Sachverhalte durchexerziert werden sollen: Problemlose Übereinstimmung evoziert zunächst das Aussprechen eines bestimmten Wortes. Jeder meint sofort zu wissen, was mit Gerechtigkeit, Gesundheit oder Frieden gemeint ist und jeder weiß, dass er dieselben erstrebt. Differenzen schleichen sich ein, sobald weiter nach der bedeutungstragenden Begrifflichkeit gefragt wird. Definitionsbemühungen offenbaren nämlich keinen identischen, sondern immer nur differenten Sinn. Noch schwieriger gestaltet sich der Verständigungsprozess, sobald assoziierte Bilder eingespielt werden. Jedem Gesprächspartner stehen je besondere Begebenheiten vor Augen, wenn es um Gerechtigkeit, Gesundheit und Frieden geht. In der Repräsentation dieser Vorzugswerte orientiert sich das Urteil am abgelehnten Negativen, an der Konfrontation mit Ungerechtigkeit, Krankheit und Unfriede, die zu vermeiden und zu bekämpfen vorschnell mit den erstrebten Gütern gleichgesetzt wird. Ein nächster Erkenntnisschritt besteht darin, die hinter dem schnell 20

22

Die Kritik lautet, Drittmittel würden überwiegend nach der Frage „Mainstream versus unkonventionelle Herangehensweisen“ an ein Thema vergeben. Uwe Schimank (2021), der die Arbeitsgruppe „Wandel der Universitäten und ihres gesellschaftlichen Umfelds. Folgen für die Wissenschaftsfreiheit?“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) leitet, sieht hier eine Aushöhlung der Wissenschaftsfreiheit.

ausgesprochenen Wort, der gewählten Definition und der ausgearbeiteten Darstellung wirkende Struktur, beziehungsweise das Muster kenntlich zu machen, in den Worten Platons die eideia. Mit Idee ist dies hintergründige Wirkgeschehen nicht adäquat erfasst, da eine seit Aristoteles einsetzende ideengeschichtliche Tradition in diesem Begriff das radikal Andere des Materiellen, Materialen und Realen sieht und damit wieder mit einem bestimmten Wort, einer ausgearbeiteten Begrifflichkeit und mit einer sinnlich wahrnehmbaren Repräsentation assoziiert. Nur im Dialog, im abwägenden Hin und Her von Position und Negation meint Platon dem ideellen Wirkgeschehen an konkreten Fällen auf die Spur kommen zu können: Würde sich Gerechtigkeit nicht allen Bemühungen um Präzisierung immer wieder entziehen und insofern als uneinholbarer Hintergrundsinn wirken, so wären definitionsmächtige Akteure in der Lage, Beliebiges auf Dauer als gerecht auszuzeichnen. Anders gesagt: wäre Gerechtigkeit gesellschaftliche Konstruktion, so könnten sich die Menschen durchaus an Korruption gewöhnen und selbige Praktiken als gerechte Ordnung akzeptieren. Die Geschichte dementiert radikalkonstruktivistische Annahmen dieser Art. Ungerechtigkeit reproduziert sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen und Rängen. Sie wütet als Bazillus zwischen Feministinnen und Transgender-Aktivistinnen, zwischen Naturschützern und Klimaaktivisten, Befürwortern natürlicher und künstlicher Immunisierung, den Anhängern eines szientistischen und eines fallibelen Wissenschaftsverständnisses, aber auch zwischen Jung und Alt, Schön und Hässlich, Winnern und Loosern, Schwarzen und Weißen. Opfer werden rehabilitiert, indem man neue Opfer schafft: heute alter weißer Mann, morgen Russen und Moslems. Um den Kreislauf der Selbstreproduktion des Bösen durch den Kampf gegen dasselbe zu unterbrechen, verwirft Platon seinerzeit die brachialen Methoden, mit denen das siegreiche Spartakus die Einheit der Polis wiederherzustellen sucht. Denn augenscheinlich perpetuiert der gegen überbordende Pseudo-Wissensvermittlung gerichtete Kampf gegen manche Sophisten nur das Schlechte und Unwahre. Mit ähnlich hilflosen und letztlich zum Scheitern verurteilten Methoden der Zensur, der Diffamierung und Vorverurteilung Andersdenkender versuchen heute Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien, den digitalisierungsbedingten Verlust kosmologischer, anthropologischer, apokalyptischer und religiöser Orientierung in ihrem Sinne zu kompensieren. Was damit erreicht wird, ist allenfalls eine Schwächung der kollektiven Problemlösefähigkeit. Duckmäusertum und innovationsfreudige Kreativität schließen einander aus. Mit all dem ist nur die erste transrationale Dunkelkammer angesprochen, die auszuleuchten noch keine Streitkultur hervorbringt. Denn es sind noch keine Argumente dafür vorgebracht, weshalb der Austrag von Konflikten in seinem Mitteleinsatz beschränkt sein sollte, wenn es doch ums

23

Ganze geht, um die Welt, um den Menschen, um die Zukunft und um die Vergangenheit. Um weiter in ein Denken des Friedens vorzustoßen, muss eine zweite darüber gebaute Aufklärungsschicht freigelegt werden. Diese betrifft die Form Frieden. Diese wird erst vor dem Hintergrund eines Mediums verständlich, in dessen Licht eine friedensrelevante Unterscheidung Sinn macht. Der Friede stellt sich keineswegs als das Resultat der tiefenstrukturellen Aufklärung über die medial-mythologische Dimension des Klima-, des Gender-, des Antirassismus-, des Corona- und des Wissenschaftsdiskurses quasi automatisch ein. Der Frieden ist nicht der Endpunkt einer Anstrengung, der es gelungen ist, Irrationales in Rationales umzuwandeln. Er ist im Gegenteil seinerseits ein Mythologem und mithin ein Begriff, der, wie immer er definiert werden mag, nicht auf die Seite des Logos zu wechseln vermag. Es ist eine Symbolstruktur, die dafür sorgt, dass friedensförmige Rationalität im Kern bloß Rationalisierung einer mitlaufenden, aber niemals thematisierten Vorentscheidung ist. Wichtiger als die werthaltigen Themen bleibt folglich das nicht thematisierte Friedensverständnis. Denn erst vom Reflexionswert Frieden aus gesehen macht der Kampf einen Sinn und gewinnt schließlich auch das, was unter Kultur des Respekts und unter Streitkultur verstanden wird, Kontur. Die unterschwellig wirkende Friedenssymbolik findet in Pax und Eirene als Göttinnen mit diametral anderslautenden Botschaften, ihren Ausdruck. Die eine symbolisiert den Vorzugswertwert als überlegene Macht, die andere als Mittlerin zwischen widersprüchlichen Vorstellungen und Interessen. Es gibt historische Modellierungen der einen und der anderen Variante. Für die heutige Welt bestimmend sind jedoch Modellierungen der Pax, Weltmachtkonzeptionen, die in der Monopolisierung von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht und Medizin einen Friedensgaranten sehen lassen. Und die Vermutung ist, dass in einer digital vernetzen und infolgedessen durch permanente Cyberattacken extrem störanfälligen atomar und biochemisch bewaffneten Welt ein solches Denken des Friedens wirklichkeitsfremd und gefährlich ist. Pax und Eirene sind mythologische Figuren, die in ihrem Sinngehalt auch dort noch handlungsleitend in Erscheinung treten, wo rationale Erwägungen die Auseinandersetzung bestimmen. Die Fixierung auf die semantisch-narrative Seite der beiden Begriffe des Logos und des Mythos hat dazu geführt, dass die im Mythos gewollte und im Logos vermiedene Fiktion zum Nennwert genommen wurde. Damit blieb außer Acht, dass offensichtlich der Mythos als Ausdrucksmedium stetig misslingender Ratio unabdingbar bleibt und in genau dieser Funktion vernünftig ist. Wenn heute der hochaktuelle technoide Mythos einer mit Körpersensoren ausgestatteten und in Smart Citys überwachten Menschheit flankiert und gestützt ist durch den alten Mythos der weltbeherrschenden Pax, so fungiert der My-

24

thos in diesem Szenario nicht als Mahnung notwendig misslingender Ratio. Im Gegenteil präsentiert er sich selbst als Inbegriff einer vernünftigen Lebensführung, als verwirklichte Ratio. Damit bringt sich eine Wertorientierung ins Spiel, die sich durch Inflationierung und Aufblähung der eigenen Werte zur allgemein geltenden Norm, zur regelbasierten Ordnung offensichtlich selbst missversteht. Denn ein Wert ist bloß eine „formulierte Präferenz“ (Luhmanns 2000, 359) und prämiert gerade im Gegensatz zum normativen Erwarten Flexibilität. Für eine über acht Milliarden Mitglieder zählende Kommunikationsgemeinschaft, die zu globaler Interaktion und institutioneller Verflechtung, zu ökonomischen und politischen Abhängigkeiten geführt hat, bleibt die Anerkennung auch der Präferenzen Anderer unverzichtbar. Dies gilt insbesondere, da die digitaltechnische Umstrukturierung gewohnte Deutungsmuster nach und nach pulverisiert und zunehmend ein Sinnvakuum hinterlässt. Zusammen mit den kollektiven Sinngebilden Staat, Nation, Klasse, Rasse oder Kultur zerfällt der Raum, in dessen Grenzen auf erwartungskonformem Verhalten insistiert werden könnte. Damit unterscheidet sich der als Opportunitätsregel verstandene Wert zugleich vom Opportunismus als einer Haltung, die je nach Trend kognitiv-lernbereit oder normativ-lernunwillig erwarten lässt und damit unsensibel macht für medienrevolutionäre Veränderungen. Sofern Wissenschaft hier einen klärenden Beitrag liefern möchte und infolgedessen ihre Aufgabe nicht nur darin sieht, Daten und Argumente für politische und wirtschaftliche Projekte zu beschaffen, so müsste sie an einem kulturellen Sensorium für die Differenz von Mythos und Logos arbeiten. Erst in der Betrachtung jeder einzelnen Seite der Unterscheidung von Logos und Mythos werden qualitativ unterschiedene Erwartungshaltungen fassbar. Wird die Bedeutung des methodischen Doppels verkannt und infolgedessen am Narrativ fortschreitender Zurückdrängung des transrationalen Moments zugunsten verfeinerter Methoden der Rationalisierung, der Effektivierung und Optimierung festgehalten, dann treten an die Stelle des Verdrängten funktionale Äquivalente. Dies ist längst geschehen und in das Vakuum der ausgeblendeten Dualität sind vielfältige Werbetechniken hochdotierter PR-Agenturen gestoßen, die es verstehen, mit Hilfe ausgefeilter psychologischer Methoden politische, kulturelle und ökonomische Agenden durchzusetzen. Der Kulturkampf zwischen humanistischer und dataistisch-transhumanistischer Orientierung unterscheidet sich insofern von den Verwerfungen, die Samuel Huntington (1993) im Auge hatte, als er sein Buch „The Clash of Civilizations“ veröffentlichte. Bevor Identität als spezifisch europäisch-amerikanische, russisch-orthodoxe, islamische, chinesisch-konfuzianische und lateinamerikanische kulturelle Kohärenz zum Problem wird, sind Erosionserscheinungen bezüglich der überkommenen kosmologi-

25

schen, anthropologischen, apokalyptischen und religiösen Orientierungen zu beobachten. Huntington hat also gewissermaßen die Oberflächenerscheinung eines Phänomens beobachtet, das sich heute als desintegrierender Sprengsatz, als Konflikt des Menschen mit der Welt (Klima), mit sich selbst und mit Seinesgleichen (Gender/Rassismus), mit dessen Zukunft (Pandemie) und Vergangenheit (Religion/Wissenschaft) thematisch ausfaltet. Wenn Religion hier zusammen mit Wissenschaft in die Klammer gezogen ist, so aufgrund dieses gemeinsamen Zeitbezugs. Wissenschaft reflektiert das im Begriff der religio ausgedrückte Phänomen der Bindung, die auch dort noch als Gewordene bestimmend ist, wo Zukunftsszenarien modelliert werden. Der Kampf der Kulturen, im angelsächsischen Sprachgebrauch der Zivilisationen, ist gleichsam die humanistische Äußerungsform dieser tiefliegenden Erschütterungen. Diese steht immer in Gefahr, in jene nationalistisch-fremdenfeindlichen Muster zurückzufallen, in deren Rahmen sich bisher kulturelle Identitäten ausgebildet haben. So lassen sich überschießende Reaktionen auf Russlands Krieg gegen die Ukraine beobachten, die eine neue antirussische Rhetorik Hüben und eine antiwestliche Rhetorik Drüben befördert haben und mithin längst als überwunden geglaubte Formen der Stigmatisierung.21 Die transhumanistische Form treibt hingegen in einen Clash of Designs oder Clash of Life-Styles, in welcher Kulthandlungen, Marken und Abzeichen als äußeres Erkennungsmerkmal die Stelle eingenommen haben, die vor der Jahrtausendwende durch argumentative Auseinandersetzungen über Weltanschauungen, Werte und Ideologien ausgefüllt worden war.22 Es ist diese symptomatische Fixierung aufs Design, auf das visualisierte Narrativ, die allgemeine Diskursmüdigkeit und Diskursunwilligkeit um sich greifen lässt. Was Elisabeth Noelle-Neumann (1980) beschränkt auf öffentliche Umfragen mit dem Begriff „Schweigespirale“ umschrieben hatte, verstetigt und verbreitert sich zum allgemeinen Kommunikationsgebaren.23 Kontroversen weichen Diffamierungen und Verunglimpfungen. Dem südkoreanischen Philosophen Byung-Chul Han gilt der veränderte Kommunikationsstil als untrügliches Zeichen, dass wir uns nicht mehr in 21

Das ist besonders schmerzlich für einen regimekritischen russischen Aktivismus im Ausland (Rastorgujewa 2022), der Verunglimpfungen russischer Kulturschaffender allenfalls mit Vorschlägen der Oppositionsorganisation Russisches Aktionskomitee zur Schaffung eines Passes für den „guten Russen“ begegnen kann.

22

Ich stütze mich hier auf Luhmanns (2008, 182) Begriff der Ideologie als „stabilisierte Opportunismen, die aus dem Spektrum der Wertesemantik das auswählen, was man für bestimmte Zwecke benötigt. Die Werte rechtfertigen die Zweckwahl, weil die Zwecke die Wertewahl rechtfertigen.“

23

Zur Psychodynamik der Passivität vgl. Rainer Mausfeld (2018).

26

der Aufklärung, sondern bereits in einer „Infokratie“, einer postfaktischen Informationsgesellschaft befinden. Die „digitale Postdemokratie“ (ByungChul Han 2021, 51) ist mit einer radikalen Abkehr von diskursethischen Maximen der Rechtfertigung verbunden, wie sie bisher als Gradmesser demokratisch-rechtsstaatlicher Verhältnisse hochgehalten worden waren. Statt zu argumentieren, werde performt und affektiv infiziert. Offensichtlich haben derlei Veränderungen im kollektiven Selbstverständnis eine medientheoretische Bewandtnis. Das sequenzielle, finalistisch-lineare und kausale Denken musste deshalb an Überzeugungskraft verlieren, weil es nicht mehr mit den Verbreitungstechnologien der digitalen Medien übereinstimmte. Als Merkmal einer Kultur, die von schriftlicher Wissensvermittlung und an Schriftgut orientierter mündliche Rede charakterisiert war, büßte es nach und nach an Plausibilität ein. Das geschriebene verliert im neuen digitalen Medium gegenüber dem gesprochenen und dem gejetteten Wort, welches spontanes Sprechen nachahmt, seine unbestrittene Suprematie. Dies wirft die Menschheit auf die Problemkonstellation des 5. vorchristlichen Jahrhunderts zurück. Medienkonsumenten sehen sich heute vor dieselbe Alternative gestellt wie die altgriechische Bevölkerung im Umgang mit dem neuen Medium schriftlicher Erzeugnisse. Das Internet aber bietet beide Möglichkeiten an, den unkritischen Konsum von Wissensprodukten, die durch manipulative Techniken geschickter Influencer ins Netz gestellt werden und durch selbstverstärkende algorithmische Multiplikationseffekte die Anmutung eines allgemein geteilten Wissens gewinnen. Zugleich finden sich aber auch Formate, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Erkenntnisinstrumente zu durchleuchten, das Prinzip dialogischer Erkenntnisgewinnung aufrechtzuerhalten und die Bezugsquellen zu verlinken, mit deren Hilfe Wissen produziert wird. Wenn innerhalb der Philosophie von der Notwendigkeit einer Dritten Aufklärung (Hampe 2018, 10) für das Digitalzeitalter gesprochen wird, so ist damit an die Lehre vom Kreislauf der Verfassungen erinnert, wie er von Platon, Aristoteles, Polybios und Cicero als Wechsel vom Gesetz zur Gesetzlosigkeit beschrieben wird.24 Da Macht per se korruptionsgefährdet ist, neigen gesetzmäßige Herrschaftsformen wie Monarchie, Aristokratie und Demokratie immer wieder dazu, in die grausame Gesetzlosigkeit der Tyrannis, der Oligarchie und Ochlokratie umzuschlagen. Erziehung zur Mündigkeit, Bildung statt entfremdende bloße Ausbildung bedeutet dann in erster Linie „Kultivierung der Vielfalt von Wahrheitspraktiken“ (Hampe 2018, 84). Denn erst das dialogische Gegeneinander der Argumente sen-

24

Eine die aktuelle Relevanz von Platons Denken betonende Einführung findet sich bei Barbara Zehnpfennig (1997).

27

sibilisiert für die feinen Unterschiede zwischen gesetzmäßigen und gesetzlosen Formen. Eine darüber hinaus gehende mediensensible Art der Aufklärung hat Niklas Luhmann mit den zwischen 1970 und 1995 veröffentlichten sechs Bänden „Soziologische Aufklärung“ in Angriff genommen. Die hier gemeinte reflexive Variante sucht die Punkte zu benennen, in denen das Projekt über sich selbst einer Täuschung unterliegt. Das betrifft in erster Linie ihr kardinales Mittel der Kritik, das als bloßes Narrativ zum rhetorischen Stilmittel verkommen ist. Wer sich einer etablierten Sprache der Kritik bedient, dessen Projekte können nicht mehr kritisiert werden, stehen sie doch im Zeichen kritischer Reflexion. Aber es ist nicht nur der Verschleiß dieser typisch modernen Wahrheitspraktik, die nach funktionalen Äquivalenten Ausschau halten lässt. Medienrevolutionäre Veränderungen haben darüber hinaus Kritik und Negation als zentrale Instrumente der Aufklärung insofern in den Hintergrund gedrängt, als etwas gegeben sein muss, das abgelehnt werden kann. Dieses Gegebene ist eine Kommunikationsofferte, die in ihrer Selektivität ins Auge sticht. Und sie tut dies zwangsläufig mit Einführung der Druckerpresse, die vielfältige Lektüre allgemein zugänglich gemacht hat. Lesen aber ist mühsam; es folgt einer sequenziellen Logik grammatikalischer Unterscheidung von Subjekt, Objekt und Prädikat, die materiale Unterschiede hervorbringt zwischen selbstbestimmtem Subjekt und fremdbestimmtem Objekt, zwischen Früherem und Späterem, zwischen Grund und Folge, Ursache und Wirkung, Bedingung und Bedingtem. Sind solche sequenziellen Muster aber nicht einheitlich in dem Sinne, dass alle Menschen dieselben Ursachen denselben Wirkungen zuordnen, dieselben Begründungen für stichhaltig ansehen und dieselben Menschen in der Subjekt- respektive der Objektstellung akzeptieren, so klaffen weltanschauliche Differenzen. Im Gegensatz zu Dissens produzierenden Printmedien erlauben digitale Medien den sofortigen Zugriff auf sich aktuell Ereignendes. Sobald aber Information in Echtzeit zur Verfügung steht, kollabiert lineares Denken. Big Data bedeutet umfassendes Wissen jetzt und sofort. Es ist dies ein Wissen, das nicht negiert, sondern durch weitere Datengewinnung nur immer vergrößert werden kann. Negation und Kritik geraten jetzt als verweigerte Datenspende über eigene biophysisch-psychisch-soziale Befindlichkeiten auf die Seite amoralischer Pflichtvergessenheit. Und die ihres Gegenstands beraubte Selektivität sieht sich als Verschwörungstheorie und als Fake der Unwahrheit überführt. Wie aber sollte diese medienbedingt radikale Kehrtwende vom Lob des kritisch-aufgeklärten Genius zum Lob der affirmativen Grundhaltung in ein Aufklärungsprojekt münden können? Liest man Big Data nicht nur als synchrone Größe und mithin als weltweite Präsenz aktueller Daten,

28

sondern auch als diachrone zeitliche Differenzen überwindende Datensammelstelle, dann erobern Instantaneität und Konnektivität den ideengeschichtlichen Raum. Und hier verbirgt sich ein genuin kritisch-subversives Element, das keiner dialektischen Rhetorik bedarf. Denn der konsumgetriebene, werbetechnisch genutzte Wunsch nach Neuem und überraschenden Neuheiten trübt den Blick für die erschreckende Wiederholung historischer Fehlentscheidungen. Er trübt aber ebenso den Blick für den immensen Reichtum historischer längst vergessener Errungenschaften. Die Temporalisierung eines Satzes wie Alles ist mit allem vernetzt, holt Vergangenes ins Echtzeitbewusstsein genauso wie Gegenwärtiges und wird damit ebenso wie dieses hochaktuell. Dies öffnet Räume für eine neue Art der Geschichtsbetrachtung, die sich vom interessengeleiteten machtlegitimierenden Narrativ entfernt. Das Raum-Zeit-Kontinuum kippt im neuen Medienbewusstsein wieder in seinen Zustand vor Einführung der Schrift: Zirkular-rekursives verdrängt linear-kausales Denken. Es liegt auf der Hand, dass synchron und diachron gedachte Komplexität den schlichten Formen des Moralisierens Hindernisse in den Weg legt. Da Moral im Sinne einer Operation des Unterscheidens von Gut und Böse Streit provoziert, ist die Friedensrelevanz mit Händen zu greifen. In diesem Sinne verdichtet sich Komplexität zur Kulturform der Netzgesellschaft (Baecker 2018, 61-75). Der polarisierende Hypermoralismus der Gegenwartsdiskurse wäre mithin ebenso wie der allmachtsphantasmatische Hypertechnizismus als der anachronistische Versuch zu werten, die rekursive Logik des digitalen Zeitalters zu ignorieren und weiterhin am linearen Denken festzuhalten nach dem Motto: „The pandamic represents a rare but narrow window of opportunity to reflect, reimagine, and reset our world.“25 Niklas Luhmann (1986, 218-226) hatte zu bedenken gegeben, dass sich komplexe Systeme nicht steuern, sondern allenfalls stören und zerstören ließen. Denn sie erzeugen entweder zu wenig oder zu viel Resonanz. Dies regt zur Suche nach synchronen und diachronen Spuren eines Friedensverständnisses an, das nicht im Maximum der Beherrschung von Mensch und Natur das operative Pendant zur Digitalisierung vermuten lässt. Wenn die Vernetzung total, die Echtzeitpräsenz in unübersehbarer Aufdringlichkeit real und die detailgenaue Erforschung winzigster Bausteine wie Moleküle, Gene, Körperdaten, biographische Details, psychische und organische Befindlichkeit immer weiter fortschreiten, dann lässt die hier sichtbare Komplexität Projekte scheitern, die Differenz als Verfein-

25

So Klaus Schwab in der Ausgabe des TIME Magazine Ende 2020 mit Konstruktionsanweisungen: How to Built a Better World Post-Covid-19.

29

dung ausmerzen und nicht als unüberwindbar Gegebenes akzeptieren wollen.

Diachrone Spurensuche Auf der Suche nach einem nicht bloß globalisierungstauglichen, sondern auf die Digitalisierung zugeschnittenen Friedensbegriff führen zentrale Hinweise überraschenderweise ins spanische Mittelalter. Hier findet sich bei Ramon Lull (1232-1316)26 ein interessanter Vorschlag, der deshalb heutigen Ansätzen mitunter überlegen zu sein scheint, weil er die Platonische eidea des Friedens nicht als Abwesenheit von Gewalt und nicht als Kampf gegen dieselbe versteht. Nicht Negation, sondern radikale Affirmation konstituiert, was das Ideal umschreibt. Damit ist die globale Vernetzungsdichte des 21. Jahrhunderts gewissermaßen vorgedacht. Bereits zu seiner Zeit erschien Ramon Lull eine vom Schrifttum geprägte Kultur ans Ende ihrer Problemlösungskompetenz gelangt zu sein. Offensichtlich vermochten weder mehr Gespräche noch zahlreichere Bücher am stetig bedrohten friedlichen Zusammenleben der christlich-jüdisch-moslemisch geprägten multikulturellen spanischen Gesellschaft grundlegendes ändern zu können. Lull suchte infolgedessen nach einer neuen medialen Technik, die es erlauben sollte, in einem gewissen Maße wieder zum Nullpunkt der Einführung schriftlicher Kommunikation zurückzukehren. Dies bedeutete dort anzusetzen, wo Platon die Fallstricke dieses Mediums in der Konfusion bezüglich grundlegender Relationen des Sichtbaren und Denkbaren, des Bestimmten und Unbestimmten, des Früheren und Späteren, erkannt hatte. Denn der Bezug auf schriftlich Fixiertes setzt in Platons Augen unweigerlich einen Prozess der Selbstverstärkung, der Bezugnahme von Fixiertem auf Fixiertes in Gang, einen Prozess der fortschreitenden Verkrustung, die von dem entfernt, was die Menschen konkret erfahren, was sie konkret brauchen, was sie tatsächlich befürchten und was sie hoffen, kurz, was als gut angesehen werden könnte. Aber wie ließ sich das Bewusstsein für diese medienbedingten Probleme wachhalten und als paidaia, als tradierfähiges Bildungsgut festhalten, ohne auf das problematische Medium schriftlicher Fixierung zurückgreifen zu müssen? Platon wählt eine Kombination aus dialogischer und mythologischer Methode. Näherungswerte für eine Antwort auf die Frage, was das Sein, heute sagen wir, was Fakt ist oder was die Fakten hergeben, werden zu26

30

Im Folgenden verwenden wir diese Schreibweise; es gibt auch eine spanische Ramon Llull und eine lateinische Raimundus Lullus.

nächst im Hin und Her von Rede und Gegenrede erzielt. Um das bloß Beispielhafte und Approximative des Dialogs vor Augen zu führen und der Versuchung zu widerstehen, vorschnell aus vermeintlichen Ergebnissen Regelhaftigkeit und Normativität abzuleiten, wird das bloß Konstruierte des schriftlich fixierten dialogisch-dialektischen Vorgangs noch einmal dadurch vergegenwärtigt, dass die im verschriftlichten Gespräch hervorgetretene Sachaussage auf der nunmehr evident fiktiven Ebene des Mythos rekapituliert wird. Der einzelne Mensch entnimmt aus dieser doppelten Struktur die Tragik bloß konstruierter Wirklichkeit und sieht sich veranlasst, nicht vorschnell zu urteilen. Auch wird ihm ein nachsichtiger Umgang mit alternativen Sichtweisen und Meinungen nahegelegt, die Mäßigung allzu hochgesteckter Erwartungen und den geduldigen Umgang mit Enttäuschungen. Im Laufe der über tausendjährigen Kulturentwicklung war bei den in Spanien lebenden Christen, Juden und Moslems aus dem dialogischen Prinzip der paidaia eine Auseinandersetzung über Dogmen entstanden und aus dem Mythos waren Gleichnisse in Bibel und Koran, aber auch Legenden geworden. Ramon Lull betrachtete deshalb weitere Korrekturen auf der Ebene von Sprache und Schrift als wenig aussichtsreich, um den auf ein gedeihliches Zusammenleben angewiesenen Kulturgemeinschaften zu vorsichtigerem Urteil, zu mehr Zurückhaltung, mehr Nachsicht, zu Mäßigung und Geduld zu verhelfen. Er wollte radikaler und zwar an der von Platon diagnostizierten medialen Wurzel ansetzen. Seine Erfindung der Ars magna, Kombinations- und Korrelationsscheiben, bilden ein Variablensystem gleich einem Papiercomputer, der bis heute als erstes Modell computertechnischer Kommunikation angesehen wird.27 Dieses System macht der Idee nach etwas möglich, was verschriftlichte Kommunikation ausschließt, nämlich die vorbehaltlose Würdigung der Selbstbeschreibung. Während schriftlich Fixiertes auf der Selektion von Selektionen beruht und somit unwillkürlich das Selbstzeugnis durch die Fremdbeschreibung dominiert wird, soll die kombinatorische Technik der Ars magna jede Position in ihrer eigenen Logik zur Geltung bringen können. Dies ist gemeint, wenn von einem radikal affirmativen Ansatz gesprochen wird. Technisch mögen wir heute weiter sein als das fleißige Produkt jenes Papiercomputers erreichen konnte. Was die digitale Gesellschaft unserer Zeit aber kaum noch beachtet, ist die Einbindung einer logisch-sachlichen, einer sozial-moralischen und einer zeitlich-ontologischen Funktion in die Code27

Von der Aktualität zeugt nicht zuletzt eine 2018 veranstaltete Karlsruher Ausstellung „DIALOGOS. Ramon Llull und die Kunst des Kombinierens“, die eine direkte Linie zur heutigen Computerentwicklung in vielfältigen philosophischen, wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Exponaten aufgezeigt hat. Zur theoretisch-praktischen Methodik siehe Amador Vega/Peter Weibel/Siegfried Zielinski (2018).

31

struktur. Offensichtlich ist uns in Bezug auf logische, moralische und ontologische Fragestellungen dieser erste Computer weit voraus und aus diesem Grund lohnen Erinnerung und schließlich auch die genauere Befassung mit der Art der hier entwickelten Codestruktur. Die vorliegende Abhandlung beschränkt sich auf die friedenstheoretische Architektur und ihre frappierende Relevanz. Denn es ließe sich durchaus fragen, ob selbige Struktur nicht dort bereits anzutreffen ist, wo die breite Palette der Medienangebote genutzt und eine jede Position in ihrer Selbstbeschreibung zur Kenntnis genommen wird. Der stigmatisierenden Fremdbeschreibung und Verfeindung kann es ja nur deshalb gelingen, das soziale Klima zu vergiften, weil es an Medienkompetenz mangelt. Das Raffinement von Lull’s Erfindung beschränkt sich aber nicht auf die Codestruktur, die kreuztabellarisch angeordnete Wahrheitstafel. Die hier intendierte Aussage, wonach allein das für alle sichtbare Faktum schier uferloser Kombinationsmöglichkeiten das vorschnelle Urteil entmutigen, eine gesunde Skepsis gegenüber vermeintlicher Erkenntnis und folglich Respekt gegenüber Andersdenkenden hervorbringen kann, bedarf der Absicherung auf einer transrationalen Ebene. Durchaus in Analogie zum methodischen Doppel von Platons paidaia fügt Lull seiner Konstruktion ein symbolsprachliches Element bei. Dieselbe Funktion, die bei Platon dem Mythos zukommt, erfüllt bei Lull die Parabel von dem Heiden und den drei Weisen. Wie bei Platon ist auch hier das methodische Doppel Teil der Aussage. Wenn es im aufgeheizten sozialen Klima unserer Tage darum geht, computertechnische mit ethisch-humanen Aussagen anzureichern, so müsste der Frage nachgegangen werden, wo sich heute das transrationale Komplement der schier uferlosen Kombinationen und Korrelationen von Daten verbergen könnte und wie dasselbe beschaffen ist. Es heißt nicht: Wie es beschaffen sein sollte. Denn das präskriptiv normative und damit vom Ansatz her gegen Normbrecher gerichtete kritisch-moralische Verständnis sucht das Komplement im Kampf gegen das Böse und somit im Konflikt, wenn nicht sogar im Krieg. Wenn sich im zunehmend glaubenskriegerisch gebärdenden Soziotop der Gegenwart allenfalls Desiderate einer Kultur des Respekts und folglich sozial kompetente Streitkultur ins Feld führen lassen, so ist damit der moderne Logos nichtgewaltsamen Konfliktaustrags gemeint. Dieser bleibt ohne sein methodisches Komplement mythologischer Modellierung jedoch reines Lippenbekenntnis oder reines Friedensnarrativ. Global-digitale Vernetzung bedarf eines methodischen Doppels von dialogischer Streitkultur und Eirene.

32

II. Die Paradoxie des Friedens Frühes Medienbewusstsein An der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert erarbeitete der mallorquinische Gelehrte und Mönch Ramon Lullus das Variablensystem der Ars magna, mit dessen Hilfe eine innere Logik differenter und unvereinbar erscheinender Interpretationen sichtbar gemachen werden sollte. Er hoffte auf diese Weise eine Methode anbieten zu können, die die Menschen in die Lage versetzt, Judentum, Christentum und Islam nicht nur auf der Grundlage eines gemeinsamen philosophischen Fundaments ins Gespräch zu bringen, wie die in Cordoba wirkenden jüdischen und islamischen Gelehrten Maimonides und Averroes erhofft hatten. Averroes’ Übersetzungen zahlreicher im Orient bekannter Schriften von Aristoteles aus dem Arabischen ins Lateinische schien zwar einen gemeinsamen Sprach- und Lehrfundus anbieten zu können, der ausgehend von der platonischen Einsicht, dass Wahrheit nicht Wahrheit widersprechen könne, die verfeindeten Religionen ins Gespräch brachte. Für Juden und Christen schien dies jedoch leichter zu gelingen, da hier mit dem Alten Testament eine gemeinsame Textgrundlage zur Verfügung stand, die im Falle des Islams fehlte. Aber auch hier konnten sich übereinstimmende Vernunftprinzipien allenfalls den Gelehrten erschließen. Zudem führte die Beschränkung auf das Gespräch dazu, dass ausschließlich jene Fragen zum Thema gemacht wurden, die des Arabischen und Lateinischen mächtige Philosophen, Wissenschaftler und Theologen für wichtig befanden. Alle anderen die Menschen bewegenden Probleme blieben außen vor. Die Kombinations- und Korrelationsscheiben des Ramon Lull (1999) versprachen hingegen den Vorteil, für jede beliebige Fragestellung offen zu sein und von jedem beliebigen Menschen genutzt werden zu können. Eine solcherart Wissens- und Erkenntnistechnik hat als mathematische Logik nicht nur Thomas von Aquin, Descartes, Leibnitz und später die Bool’sche Algebra beeinflusst. Die Vorschläge für ein Variablensystem der Wahrheitstafeln gelten heute auch als Vorläufer des Computers. Das Komplizierte und die äußerst arbeitsaufwendige Aneignung der Begriffsreihen, die auswendig gelernt und korrelationstechnisch beherrscht werden mussten, sprach prinzipiell nicht gegen die Aussicht auf breitere Rezeption, wenn man an die rasche Aneignung von Computerfertigkeiten insbesondere bei jüngeren Generationen heute denkt. Die Wahrheit, die sich demjenigen erschließen sollte, der die Anweisungen der Kombinationstechnik penibel befolgt, galt dem gelehrten Ramon Lull nicht naiv als eine bindungsfreie und in diesem Sinne ‚absolute’

33

Wahrheit. Weil Produkt einer Technik und somit vom Menschen hervorgebracht, war sie selbst korrelativ und somit Konstrukt. Dennoch konnte sich im Medium dieses Konstruktionsbewusstseins ein Wahres gerade darin zeigen, dass die Mehrdimensionalität des Wahren für wahr gehaltener Bedeutungen dieselbe ins rechte Licht rückt. Der Streit um die Wahrheit jüdischer, christlicher und moslemischer Glaubenssätze schien sich mit dieser Methode schlichten zu lassen, indem an jedem Streitgegenstand die korrelationstechnischen Verfahren durchexerziert wurden. Dies entspricht zwar dem platonisch-aristotelischen und darauf aufbauenden christlichen Grundsatz, dass dem Menschen nur eine Teilhabe an der Wahrheit zukomme, aber nicht der volle Besitz. Interessant aber sind die unterschiedlichen Modalitäten dieser Teilhabe. Und da es in unserem Zusammenhang um eben diese Modalitäten gehen soll, gilt es zuvor genauer auf die überlieferten und im mittelalterlichen Bewusstsein fest verankerten platonischen Dialoge einzugehen. Denn die schulförmige lehr-, sprachund schriftorientierte Art und Weise der am Frieden interessierten Befassung mit dem Anderen und Fremden war für alle sichtbar jenen Gefahren ausgesetzt, die Platon gewissermaßen als Philosoph der ersten Stunde klar bezeichnet hatte. Weil im Übergang von mündlicher zu schriftlicher Kulturvermittlung wirkend, hatte Platon Tendenzen der Ablösung und verselbständigenden Dynamisierung des vertexteten Sinns beschrieben, die einen variablen Gebrauchswert von ‚Textbausteinen’ möglich machten. Diese so zustande kommenden Wissensschablonen ließen sich für Zwecke des Macht- und Gewinnstrebens nutzen und einen Intellektuellentypus hervorbringen, den Platon und dessen Schüler Aristoteles im Sophisten beschrieben haben. Juden, Christen und Moslems meinen diesen Typus als Ketzer, Häretiker, Mubtadi, Heiden oder Ungläubigen zeigen zu können. Da die Erfindung des Papiercomputers von Ramon Lull auf die inzwischen tausenddreihundert Jahre währende Fortschreibung der von Platon beschriebenen Probleme reagiert, muss an diese Zusammenhänge erinnert werden. Sein mediales Problembewusstsein hatte Platon einen dialogischen Stil bevorzugen lassen. Dies diente dem Zweck, eingespielte, eingeschliffene und fraglos anerkannte, auf einen fixen Bedeutungsgehalt reduzierte Sinngehalte in der vollen Variabilität ihrer Auslegungsmöglichkeiten zu erschließen. Auch hier haben wir es mit einer Korrelationstechnik zu tun, die daran hindert, vorschnell als Wissen zu verbuchen, was de facto nicht nur auf ungeprüfte, sondern, zumindest bis ins letzte Glied, nicht zu überprüfende Annahmen zurückgreift. Da der Schulterschluss von Macht und Wahrheit grundsätzlich nicht gelingen kann, bleibt der auf Gerechtigkeit beruhende, durch gerechte Entscheidungen zugleich bedingte und Gerechtigkeit hervorbringende Frieden

34

eine Angelegenheit jedes Einzelnen. Eirene im altgriechischen Verständnis ist eine Modalität zu sprechen und zu handeln, die sich allenfalls als Inbegriff aller Tugenden fassen, aber kaum beschreiben lässt. Ebenso wie das Gute kann man den Frieden nicht definieren und in eine handhabbar-tradierfähige Lehre bringen.28 Infolgedessen fehlt bei Platon ein explizierter und staatsorganisationstechnisch umsetzbarer Friedensbegriff. Wie im Falle der später von Immanuel Kant entworfenen Friedenskonzeption Zum ewigen Frieden, werden auch Platons Ausführungen im 5. Buch der Politeia zu einer idealen Staatskonstruktion häufig als realtypisches Modell verstanden, das es mit allen Mitteln durchzusetzen gelte. Diese Deutung eines sozialtechnisch realisierbaren Projekts hat Platon mitunter als Feind der offenen Gesellschaft (Popper 1957) bezeichnen,29 und Kant als Wegbereiter des Totalitarismus (Bernaskoni 2019) verdächtigen lassen. Dass es sich im einen wie im anderen Entwurf um ein Paradigma und somit ein Ideal handelt,30 nach dem Entscheidungsträger in ihrem Handeln streben sollten, zeigt sich jeweils an der Paradoxie des Grundgedankens: Ein Wandel zum Guten in Richtung eines idealen Staates wird nach Platon erst dann eintreten, wenn die Philosophen die Herrschaft ergreifen oder die Herrscher zu Philosophen werden.31 Da aber Philosoph eine Person ist, die an Wahrheit und nicht an Macht interessiert ist und Herrscher eine Person, die nach Macht und nicht nach Wahrheit strebt, sind die Bedingungen der Möglichkeit des staatstheoretischen Entwurfs mit den Bedingungen von dessen Unmöglichkeit identisch. Denn zum Regieren gezwungene Philosophen müssten ihr Interesse an der Wahrheit verlieren und der zum Philosophieren gezwungene Herrscher seine Befähigung zum Gebrauch von Macht. Der Friede entspricht einer in sich blockierten Konstellation, in der gegeneinander wirkende Kräfte zum Ausgleich drängen. Entscheidend ist, dass bei Platon diese handlungsleitenden Inklinationen zu Wahrheit und Macht vormoralisch und somit auch vorpolitisch gedacht werden. Sie wurzeln in korrespondierenden Seelenkräften, dem nous oder logisticón, der Wahrheitssuche, die Philosophen antreibt (Lehrstand) und dem thymós der Wächter, die sich um die innere und äußere Sicher28

Zu einer Einführung in Theorien des Guten in Antike, Mittelalter und Moderne siehe Martin Hähnel und Maria Schwartz (2018).

29

Diese Sicht Poppers hat freilich ihre Berechtigung im Hinblick auf die Art und Weise, in der die Sozialphilosophie Platon mitunter als Stütze für totalitäre Programmideen rezipiert hat (Popper 1957, 126-168). In besonderer Weise gilt dies für Hegel und Marx (Popper 1958).

30

Platon (1988, Nomoi I, B. V, 471ff.) spricht auch von einem „Urbild“. Der Einbau paradoxer Konstitutionsbedingungen des Friedens in einen Vertragsentwurf zementiert bei Kant (1977) den Gegenstand als permanentes Streben.

31

Platon (1988, Bd. V, Der Staat 473 C-E)

35

heit des Staates sorgen (Wehrstand). Auch die dritte, bei Bauern, Handwerkern und Kaufleuten besonders ausgebildete Seelenkraft der epithymía, einer aus dem Begehren entspringenden Sorge um die Befriedigung der alltäglichen Bedürfnisse (Nährstand), ist politisch von Bedeutung. Aber sie wird ebenso wie das Macht- und Sicherheitsstreben des zweiten Standes zur Gefahr für das Gemeinwesen, wenn sie in der Politik bestimmend ist. Nur für den Fall, dass diese letztlich unauflösbaren Widersprüche beachtet werden, lässt sich die Polis gerecht ordnen. Einem Jeden gerecht werden aber bedeutet, dessen jeweils dominanten Seelenkräften zur Entfaltung zu verhelfen und damit dem Gemeinwesen zugute kommen zu lassen. Bereits Aristoteles (1995, Politik II 1260 b 27ff.) und schließlich Kant werden den Philosophenkönig als Ideal ganz aufgeben. Die Paradoxie verbirgt sich bei Kant (1977) an anderer Stelle als bei Platon, nämlich dort, wo er die Bedingungen nennt, die erfüllt sein müssen, um das Vertragsmodell eines ewig währenden Friedens Wirklichkeit werden zu lassen. Voraussetzung ist, dass stehende Heere abgeschafft sind, da dieselben von anderen Staaten als Bedrohung wahrgenommen werden. Allein dieser Schritt zur Abschaffung stehender Heere setzt voraus, dass alle Staaten zuvor Republiken geworden sind. Jeden Gewaltgebrauch von rechtlichen Bestimmungen abhängig zu machen und nicht allein von den Notwendigkeiten, das eigene Land vor Aggressoren zu schützen, ist jedoch nur in einer Welt möglich, in der stehende Heere abgeschafft und alle Staaten Republiken geworden sind. Dieser immanent paradoxe Konstruktionsentwurf muss nicht entmutigend wirken und damit umgedeutet werden, wenn die Friedensschrift als Teil der kantischen Moralphilosophie verstanden wird, die nicht für eine irreal-ideale, sondern für unsere real-paradoxe Welt konzipiert ist. Die kantische Schrift ist folglich keine sozialtechnische Just-Peace-Programmatik der Kantian Triangle im heutigen angelsächsischen Sinne von Demokratie, transnationalen Institutionen und ökonomischer Verflechtung, die Gerechtigkeit, Sicherheit und Freiheit ermöglichen.32 Sie adressiert nicht bloß Wählerschaft und gewählte Entscheidungsträger, sondern jeden einzelnen Menschen. Das Normenprüfprogramm des kategorischen Imperativs wendet sich an Personen, die politische Entscheidungen fällen in gleicher Weise wie an jeden beliebigen Menschen.

32

36

Auf der Grundlage des angelsächsischen entparadoxierten Friedensverständnisses erarbeitet Senghaas (2004) einen den Bedingungen der globalisierten und gleichwohl zerklüfteten Welt angepassten Vertragsentwurf zum ewigen qua irdischen Frieden.

Paradoxes und entparadoxiertes Friedensverständnis In untragbarer Weise entmutigend musste der paradoxe Zuschnitt des Friedensentwurfs jedoch seit der neukantianischen Wende des neunzehnten Jahrhunderts erscheinen, die den kategorischen Imperativ als Verfahren des Begründens allgemein geltender Normen uminterpretierte. Jetzt nämlich kam es nicht auf eine gleichsam kulturelle Technik an, die jedem Einzelnen Richtlinien an die Hand gibt, wie im Falle von Normkollisionen entschieden werden soll. Der kategorische Imperativ im kantischen Originalverständnis sollte bloß dem Handelnden Anhaltspunkte in einer Situation geben, in der Normen nicht einfach befolgt werden können, weil man sich zwischen unvereinbaren Geboten und Verboten zu entscheiden hat (Nichttöten, Schützen). Der Neukantianismus des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts ist hingegen davon überzeugt, ein Normengerüst erstellen zu können, welches die Ausnahmen einer Regel mit zu regeln erlaubt. Damit meinte er den weidlich überforderten einzelnen Menschen von der Bürde zu entlasten, in konkreten Konfliktsituationen selbst entscheiden zu müssen, ob eine Regel befolgt oder nicht befolgt werden soll. Entlastung und Entmündigung des Einzelnen gehen freilich Hand in Hand. Sobald das kantische Friedensdenken aus seiner paradoxen Verankerung gelöst und die Bedingungen des Friedens nicht mehr als Bedingungen des Unfriedens erkannt wurden, erwuchsen aus dem einen philosophischen Entwurf zwei Formen politischer Bewegungen, der Pazifismus und der Bellizismus. Es sind dies politische Strömungen, kollektive Stimmungen und machtpolitische Kalküle, die jeweils den einen oder den anderen Orientierungstypus wählen lassen. So betätigten sich namhafte Neukantianer vor dem 1. Weltkrieg als begeisterte Kriegstreiber, um sich nach dem Krieg als entschiedene Pazifisten zu profilieren.33 Worin verbirgt sich der wesentliche Unterschied, der dafür verantwortlich ist, dass sich auch die belligerente Option mit den positiven Attributen zu schmücken versteht? Die logische Funktion dieser Umkehrbewegung hat Augustinus in der Civitas Dei mit der Feststellung beschrieben, der Krieg werde um des Friedens willen geführt, allein der Friede sei ohne den Krieg denkbar.34 Wenn sich das Christentum nicht länger bloß als Glaubensgemeinschaft verstehen wollte, die nach den Maximen der Bergpredigt auf Wahrheit und nicht auf Macht und Gewalt gegründet ist, so schienen gerechte Kriege mit dem christlichen Liebesgebot wieder vereinbar. Die Verlagerung vom Verhalten zum Handeln und dies bedeutet, vom fried33

Zum Hin und Her von Bellizismus und Pazifismus im Kontext der Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik siehe Brücher (2008, 160-193).

34

Zur Tradition dieses Gedankens von der Antike bis heute siehe Jessica Jensen (2015).

37

lich Sein zum Frieden machen im Sinne von Konstruktion und Durchsetzung einer idealtypisch gerechten und friedlichen Gesellschaft, erhält bei Augustinus Rückenstütze durch einen gesplitteten Friedensbegriff. Nur im himmlischen Frieden, der pax aeterna, harmonieren Mittel und Zweck, nur hier reicht das friedlich Sein, um den Frieden zu gewährleisten. Der irdisch-zeitliche Frieden muss hingegen mitunter Gewalt in Kauf nehmen, ohne deshalb bereits als Friedensbruch und Kriegszustand gewertet werden zu müssen. Auch der unvollkommene ist noch immer ein Friede.35 Wie später Kant, so sucht auch Augustinus nur nach einem Normenprüfungsprogramm, das im Falle von Normkollisionen dem Handelnden als Leitfaden dienen kann. Nicht die nachlassende Bindekraft der Zehn Gebote provoziert eine Lehre der Verhaltensregulierung im Konfliktfall. Vielmehr ist es die Bedrohung der Pax Christiana durch Eroberungsfeldzüge der Vandalen, die dem grundsätzlich die Waffe verweigernden Christen zum Problem werden konnte. Das differenzierte Normenprüfungsprogramm eines Rechts zum Krieg (ius ad bellum) und eines Rechts im Krieg (ius in bello) präzisiert die Prüfkriterien für ein Ausnahmegebot, das nicht bloß für den politisch verantwortlichen Souverän und folglich den Adel relevant ist. Jede einzelne am Krieg beteiligte Person, die zur Verteidigung der Pax Christiana gerufen wurde, musste in der konkreten Kampfsituation für sich selbst immer wieder die Frage überprüfen, welche Verhaltensweisen in dieser ganz bestimmten Gefahrenlage etwa aus dem Gebot der Proportionalität, dem verhältnismäßigen Mittelgebrauch, oder der Immunität der Nichtkombattanten, der Schonung der Zivilbevölkerung, herauszulesen sei. Analog der Entwicklung, die in der Moderne den Kantianismus vom Neukantianismus trennt, so findet sich bereits im christlichen Legitimitätsdenken ein Wechsel vom Normenprüfungs- zum Normenbegründungsprogramm. Die Herausforderung, auf die Luther im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit reagiert, ist der allgemeine Sittenverfall, der beim Klerus nicht Halt macht und der Renaissancepäpste hervorbringt, von denen angenommen wird, dass sie in der Regel und nicht bloß in Ausnahmesituationen gegen die christlichen Gebote und Verbote verstoßen. Moral bedarf einer neuen und dezidiert religiösen Begründung, ein Normenbegründungsprogramm, das die Einschränkungen der bellum iustum Lehre als untragbare Strangulierung der läuternden Gestaltungsmacht rechtgläubiger Christen nicht länger akzeptieren konnte. Jede einzelne Person 35

38

Allein die Rezeptionsgeschichte der Civitas Dei ist Zeichen für die Durchsetzung eines als Pax verstandenen Friedens. Timo J. Weissenberg (2005) betont den Unterschied zwischen der wirkungsgeschichtlichen Engführung auf eine Friedensethik, die Kriterien für den gerechten Krieg aufstellt und einer Friedenslehre, die nur aus der gesamten augustinischen Theologie heraus zu verstehenden ist.

sollte sich zwar am Begründungsdiskurs beteiligen dürfen, aber sie sollte in der konkreten Konfliktsituation nicht mehr die Last der Entscheidung tragen, ob Regelkonformität oder Ausnahmehandeln erlaubt/geboten ist. Folglich wird nunmehr für Protestanten auch die Beichte als institutionalisierte Form der Gewissensentlastung nicht mehr benötigt. Wer jetzt noch tötet, der tut dies entweder aus kriminellen Motiven heraus und bedarf der gesellschaftlich vorgesehenen Strafe, oder er handelt aus Gehorsam gegenüber einer Obrigkeit und bleibt straffrei. Bereits zu Beginn der Neuzeit markiert folglich der Wechsel von einem paradoxen zu einem entparadoxierten Friedensverständnis den Beginn einer Marginalisierung und zugleich Exkulpierung des Einzelnen. Die Aufklärung wird sich bemühen, dieser Entmündigung durch weltanschauliche Bekenntnisse zu Individualismus, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ein Korrektiv zur Seite zu stellen. Selbstdarstellung tritt an die Stelle von Selbstverantwortung. Der logische Bruch kann damit allerdings nicht rückgängig gemacht werden. Es bleibt dabei: die Bedingung des Friedens – der unvermeidliche Gewaltgebrauch der pax temporalis – ist nicht mehr mit den Bedingungen des Unfriedens – die im Verstoß gegen die Zehn Gebote offensichtliche Verletzung der pax aeterna – identisch. Allein ein waches Bewusstsein für das Friedensparadox war es jedoch gewesen, das kulturelle Techniken notwendig gemacht hatte, die ohne moraltheologische Kenntnisse voraussetzen zu müssen, dem einzelnen Kämpfer Formeln der Gewissensprüfung an die Hand gibt. Der allein im rechten Glauben verankerte und mithin entparadoxierte Frieden verlangt vom Einzelnen hingegen nur noch Frömmigkeit und Gehorsam. Der Absolutismus wird schließlich auf Frömmigkeit verzichten und nur noch am gehorsamen Untertan interessiert sein.36 Um aus dieser untragbaren Marginalisierung und Exkulpierung des Einzelnen einen Ausweg zu weisen, wird sich der Protestant Immanuel Kant mit dem kategorischen Imperativ um die Formulierung eines funktionalen Äquivalents der Gewissensprüfung im Konfliktfall kollidierender Normen bemühen.37 Aber selbst wenn weiter in der Historie zurückgegangen wird, so findet sich in der Gegenüberstellung von griechischer und römischer Antike wieder derselbe Wechsel von einem paradoxen zu einem entparadoxierten Friedensverständnis. Bei Platon war es erinnerlich die Paradoxie der Grundfigur des Philosophenkönigs, die ein Gutes auch dort im Auge behalten ließ, wo der Wechsel von Krieg und Frieden zur sozialen Realität 36

So charakterisiert Kant (1967, 56) die Aufklärung als das „Zeitalter Friedrichs“ mit dessen Leitspruch: „räsoniert so viel wie ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!“.

37

Die Aktualität der Kantischen Lösung zeigt sich in ihrer systemtheoretischen Reformulierung. Siehe dazu Brücher (2017, 135-200).

39

zu gehören scheint, wie der Wechsel von Tag und Nacht zur kosmischen. Es ist dieser unvermeidliche Wechsel, der ein Bewusstsein für die paradoxe Konstitution aller zwischenmenschlichen Beziehungen weckt. Statt einen mit allen Mitteln zu bewerkstelligen Siegfrieden anzustreben, sollte Paideia kulturelle Techniken der Transgression, der Überleitung von einem Verständigungshorizont zum anderen anbieten. Und in diesem Sinne hatte Platon im Sonnen-, im Linien- und im Höhlengleichnis ganz einfache Kulturtechniken aufgezeigt, die in Situationen kollidierender Normen den Handelnden aus ihrer Ratlosigkeit befreien.38 Die Sprache, deren sich in den platonischen Dialogen bedient wird, enthält keine Fachtermini, sondern schöpft aus dem Fundus des alltäglichen Gebrauchs. Jeder Interessierte kann folglich teilnehmen. Nicht die Gültigkeit jener Tugenden der Weisheit und Klugheit, der Tapferkeit und des Mutes, der Besonnenheit, der Mäßigung und der Gerechtigkeit stehen in Zweifel. Nicht Normenbegründung ist die intellektuelle Herausforderung der Zeit. Es sind allein Techniken der Normenprüfung in den sachlichen Fragen der Wahrheit, den sozialen Fragen des Dürfens und den zeitlichen Fragen des Sollens. Eben diese Fragen wird für die moderne Zeit Kant in seinen drei Kritiken, der theoretischen- und der praktischen Vernunft sowie der Urteilskraft als Grundlage einer dreigliedrigen Prüfformel des kategorischen Imperativs, der Naturformel, der Gesetzesformel und der Zweckformel zu beantworten suchen. Der diametral entgegengesetzte sozialtechnische Projektentwurf des erzwungenen Friedens konnte nur auf dem Boden einer Lesart überzeugen, die den Wechsel von Krieg und Frieden nicht mehr als tragische Gegebenheit voraussetzte. Dazu mussten die eigenen Kriege zu Instrumenten der Friedensicherung der Pax Romana erklärt werden. Wo in den Darstellungen des Historikers Thukydides die Kriege Griechenlands offen als Frauenraub – der schönen Helena in den Erzählungen Homers – oder als Kampf um die Vormachtstellung der attischen Demokratie gegen die Ansprüche des oligarchischen Sparta im Peloponnesischen Krieg (431 v. Chr. 404 v. Chr.) beschrieben sind, dort ist bereits kritische Reflexion am Werk.39 Denn die unverhohlene Darlegung der Interessenlage lenkt den Blick auf die Ausweglosigkeit der zyklischen Bewegung. Die ewig gleiche Abfolge von Krieg und Frieden und mithin die Paradoxie eines jeden Friedens rührt aus der schlichten Tatsache, dass die Frieden schaffenden Kämpfe der einen, den anderen als Tötung und Verwüstung erscheinen, und dass der 38

Vgl. Platon (1988, Bd. V, der Staat (507a-509b; 509c-511e; 504a-519b). „Übergänge und Zwischentöne” finden besonders im Höhlengleichnis Ausdruck, vgl. Bernhard Waldenfels (2017, 72-78).

39

Nach Christina Meier (2020) dienten die Kriege Griechenlands eher dem Prestige und nicht der Eroberung.

40

mit einer idealen Gesellschaftsform assoziierte Friedenszustand der einen für die anderen als Kriegszustand empfunden wird. So bedeutete Frieden für die siegreichen Spartaner beispielsweise die verfassungsmäßige Verstetigung der Eroberungssituation, in der die unterworfenen attischen Völker als Staatssklaven zur Versorgung der Sieger herangezogen wurden. Dies ermöglichte denselben, sich ganz dem Kriegsdienst zu widmen. Darüber hinaus gelten für Sklavenhaltergesellschaften Unterwerfungskriege zwecks Beschaffung beseelter Werkzeuge generell für unabdingbar. Das Telos dieser Kriege kann schon aus dem Grund nicht als Frieden bezeichnet werden, weil nur die Bevorzugten in den Genuss desselben kommen. Anders verhält es sich beim Bürger- oder Bruderkrieg, der, weil ein zwischen Gleichen tobender Zwist, nur einen Frieden zum Ziel haben kann.40 An die Stelle der Paradoxie tritt im römischen Friedensdenken überlegene Macht und in letzter Konsequenz Weltherrschaft. Die gute friedensdienliche Macht bedarf keiner kulturellen Techniken der Normenprüfung, die dem Einzelnen in dilemmatischen Entscheidungssituationen Hilfestellung leistet; sie bedarf nur der kampferprobten Tapferkeit und des bedingungslosen Gehorsams der Soldaten.41 Der Gegensatz von griechischem und römischem Friedensdenken mag für den heutigen Übergang in eine durch digitale Verbreitungsmedien zunehmend bestimmte weltweit vernetzte Gesellschaft von großer Bedeutung werden. Denn immerhin hat Thomas Hobbes (1588-1679) mit seiner Schrift Leviathan (1989) am Ende des Dreißigjährigen Krieges einen Friedensbegriff entwickelt, der an die Pax Romana anschließt, nicht aber an das paradoxe Friedensdenken von Platon. Und moderne Friedensentwürfe zeichnen sich darin aus, dass sie die gewaltmonopolistische Konzeption von Hobbes entweder rezipieren oder weiterentwickeln.42 Bei Hobbes hat der absolute Souverän, der Leviathan als der sterbliche, nicht bloß von Gottes Gnaden, sondern vom Vertrauen des Volkes ermächtigte Gott die Funktion, den Krieg aller gegen alle und mithin den Bürgerkrieg zu überwinden. Jean Bodin (1529-1596) korrigiert nur die Legitimation der absolutistischen Macht, wenn er den Souverän als Ebenbild Gottes denkt, der keinen Papst als geistlichen Souverän neben sich dulden kann. An der immanenten Logik eines Friedensdenkens in den Kategorien der 40

Platon, 1988 (Bd. V, Der Staat 469e-471c)

41

Antje Kapust (2004, 39) weist darauf hin, dass die römische Kultur kriegerische Strukturen im Binnenraum des Logos implementiert habe und nimmt dies als „Indikator für eine Verschattung der Rede“ als „quasi-thanatologische Kraft“.

42

Zu den verschiedenen Begriffen des Friedens siehe Dolf Sternberger (1984). Die Rezeptionsgeschichte von Hobbes hätte auch anders verlaufen können. Peter Weibel (2018, 97), verweist auf den Einfluss Lulls: Die Imitation der Natur setze sich als imitatio dei im künstlichen Tier des Leviathans als dem sterblichen Gott fort.

41

Pax wird sich im Prinzip auch dann nichts ändern, wenn das Volk zum Souverän erklärt und die Gesellschaft ihre hierarchische Struktur zugunsten funktionaler Differenzierung aufgibt. Denn die gewaltmonopolistische Macht kann in letzter Konsequenz nicht durch ein von der Politik abhängiges Rechtssystem in Schranken gehalten werden, sondern allenfalls durch die pure Existenz einer Vielzahl solcher Monopole. Eben selbige Bedingung ist es auch, die in die Weltkriegskatastrophe treibt. Damit befinden wir uns wieder dort, wo Jean Bodin einen gottgleichen personal-sozialen, individuell-kollektiven Souverän imaginiert, der Frieden als Sicherheit vor allen Gefahren garantiert. Und im digitaltechnologischen Zeitalter konkretisiert sich dieser lebendige Gott als digitale Konvergenz, als Homo Deus (Harari 2021). Wenn dieses Friedensdenken universaler Pax aber eine Sackgasse ist, weil es nur um den Preis der Selbstaufgabe des Homo Sapiens zu haben ist, so scheint es verlockend, die Konturen der seit langem vergessenen Eirene herauszuarbeiten.

Symbolismen der Eirene und der Pax Besonders anschaulich zeigen sich die griechisch-römischen Unterschiede an der Verhältnisbestimmung zweier Symbolismen, der Pax und der Eirene, die auf Kunstobjekten, Vasen, Portalen oder Sarkophagen dargestellt sind. Diese betonen am Friedensbegriff jeweils nicht nur Anderes, sondern Unvereinbares. In der Allegorie zerstört Pax mit dem Flammenschwert die Waffen. Sie steht an der Tür. Nach den Schilderungen der klassischen Philologin Erika Simon (1988, 78ff.) zeigt die Verbindung mit dem Türgott Janus, dass in Rom Pax speziell zur Tür gehört. Eirene und Pax sind zwar beide in den griechischen und römischen Darstellungen auf die diesseitige Welt bezogen. Beide Göttinnen stehen in Verbindung mit der Tür. Aber Eirene symbolisiert den Zeitenwechsel, das Kommen und Gehen der Jahreszeiten als zyklisches Kontinuum einer gleitenden Bewegung vom Diesseits zum Jenseits, von augenblicksbezogenen menschlichen Festen zum ewigen Götterfest. Die Wiederkehr der Jahreszeiten ist die Wiederkehr des immer neuen Gleichen, was sich allegorisch darin ausdrückt, dass Eirene „als Ankommende und Einziehende charakterisiert“ ist (Simon 1988, 61) und somit im eigentlich Sinn die reich geschmückte Tür durchschreitet. Das Neue des ewig Gleichen der zyklischen Wiederholungen des Wechsels von Geburt und Sterben, von Werden und Vergehen ist das, was später verkürzt nur noch als Transzendenz bezeichnet werden soll und in der Moderne als Transzendieren. Es kommt schließlich bei der Übernahme der griechischen

42

Kultur und Philosophie durch die Römer alles darauf an, worauf das Augenmerk gerichtet wird. Der Schwerpunkt kann entweder auf den beiden Seiten der Tür liegen, dem Diesseits und dem Jenseits, mit der Frage, ob die Truppen ausrücken oder zu Hause bleiben sollen. Der andere Fokus betont die Tür und achtet auf Identität und Ortsbestimmung, auf Markierungen und Grenzverlauf. Es geht um die Frage, wer diese Linien fixiert und welche Interessen die Margen setzen lassen.43 Ganz anders gestaltet sich das friedenstheoretische Arrangement im griechischen Ursprungsbild der Eirene, wenn der Akzent auf die Bewegung gelegt ist, auf den Zeitenwechsel. Das Hüben mit dem Drüben zu vermitteln, darin liegt die Aufgabe ersten Ranges. Pax hingegen steht an der Tür, sie wird mehr noch, indem sie die Waffen zerstört, den Krieg mit dem Krieg vernichtet, zur Bedingung für das ewige Festmahl der Götter und mithin für den Frieden. Die Pax Romana bleibt infolgedessen janusköpfig, wie die deutsche Sprachwendung dies Faktum kommentiert; sie bedeutet hüben Frieden und drüben Krieg. Der janusköpfige Frieden bedarf um der allgemeinen Akzeptanz willen Techniken der Machtausübung, im modernen Denken schließlich sehr viel weitergehende, auf ökonomische, pädagogische, sozialpsychologische und massenmediale Bereiche ausgreifende Sozialtechniken. Der paradoxe Friede hingegen benötigt zunächst Kulturtechniken der Transjunktion, des Überleitens von einem Deutungskontext, der Handlungen als Friedensbeitrag werten lässt, zu jenem anderen Deutungskontext, der dieselben Handlungen als Gewalt, Konflikt und Krieg einordnet.

Der Frieden als Frau Das paradoxiebewusste Verständnis des Friedens hält sich mit Definitionen dessen zurück, was unter diesem Begriff verstanden werden könnte. Diese Haltung ist schlüssig, wenn doch im Faktum gegensätzlicher Verständnisweisen der Kern des Problems liegt. Die Vagheit der Zielformel verrät somit die Bereitschaft, andere Versionen zur Kenntnis zu nehmen. Im Kontrast dazu sieht sich das Friedensverständnis der Pax gezwungen, die Paradoxie zu ignorieren und nicht nur die Position der Anderen, sondern auch deren Lebensrecht in Abrede zu stellen. Es ist wieder die Symbolspra43

Simon (1988, 80) weist darauf hin, dass die begrifflichen Gegensätze mit der Unterscheidung zweier Friedensbegriffe bei Augustinus und mithin in der bereits christlichen Antike ihre Schärfe gewinnen, „die pax und die vita aeterna in pace, den Frieden in der Zeit und in der Ewigkeit, die linear verlaufen. Das lange Nachleben der hesiodeischen Hore Eirene war beendet.“

43

che, die früh auf diese fundamentale Deutungsdifferenz hinweist. Neben dem Bedeutungskomplex, der im Aktionismus der statischen Pax und in der Zurückhaltung der dynamischen Eirene zu weitreichenden Schlussfolgerungen Anlass gibt, ist noch auf ein weiteres Faktum hinzuweisen, nämlich neben dem Göttlichen das Geschlecht. Es handelt sich bei den beiden Figuren, der Eirene und der Pax um Göttinnen. Das Geschlecht ist kein Zufall, sondern Aussage: Betont wird in beiden Fällen die lebensspendende Funktion, die im römischen Verständnis die Vernichtung lebensbedrohender Kräfte impliziert. Die Begrifflichkeit ist auf Expansion und schließlich gewissermaßen unvermeidlich auf eine Überdehnung der Herrschaft angelegt. Denn indem Leben als Kampf gegen den Tod, als Todeskampf begriffen wird, verliert es seine Unterscheidbarkeit. Nicht die Tatsache, dass die Leben schenkende und Leben nehmende Kraft in einer Gottesfigur verschmolzen ist, scheint das Bemerkenswerte. Es ist vielmehr die in der Geschlechterwahl verborgene Symbolik, die nicht im Vergleich mit der christlichen Darstellung von Gottvater feministisch gedeutet werden darf. Während personifizierende Darstellungen im Christentum stets dem Verdacht ausgesetzt waren, gegen das Bilderverbot – Du sollst dir kein Bildnis machen – zu verstoßen, ist im Fall der antiken Religionen die Geschlechterwahl Aussage und Programm. Im Christentum handelt es sich bei Visualisierungen des Göttlichen nicht um explizierten Sinn, vielmehr spiegelt die Geschlechterwahl die patriarchale Verfassung der Gesellschaft wider.44 Da bereits das Judentum und später die Christen mit der Abschaffung der Polygamie das Leiden des weiblichen Geschlechts zu minimieren suchten, darf das bloß Menschliche der Marienfigur nicht als Abwertung des Weiblichen, sondern wieder nur als künstlerischer Widerhall einer durch Menstruation, Schwangerschaft, Geburten und die Aufzucht der Kinder vollkommen absorbierten weiblichen Existenz verstanden werden.45 Jedenfalls führte diese künstlerische und symbolsprachliche Aufteilung der Geschlechter in die männliche Gottheit und die weibliche Menschheit keineswegs nur zur Legitimierung einer Geschlechterhierarchie; sie verführte auch zur gefährlichen Projektion des Humanen ins weibliche Geschlecht und suggerierte damit ein friedlicheres Naturell der Frauen. So findet die Aufklärung im Begriff der Anmut eine weibliche heroische Al44

Bereits innerhalb der Scholastik gibt es immer wieder symbolsprachliche Versuche der Gegensteuerung. So wird bei Ramon Lull in seiner Schrift Carrerasi Artau (Baum der Wissenschaft) die Macht, der wir unterlegen sind, nicht vom monotheistischen Gott, sondern von der „Dame ‚Intelligenz’“ dargestellt. Vgl. Raimundo Pannikar, Religiöse Eintracht als Ziel, in: Ramon Lullus (1986, 10-18, 14).

45

Hinzu kommt im Falle der Marienfigur die menschliche Sehnsucht nach der idealen Mutter. Siehe dazu Joachim Negel (2020, 42).

44

ternative zum Erhabenen: Wenn eine ‚zarte Jungfrau’ zur Gewalt greife, so könne sie nur für die gerechte Sache kämpfen. Umgekehrt sei „die Gewalt des Partisanenkriegs, da die Gerechtigkeit der Sache für die Beteiligten so offenkundig ist, eine anmutig-weibliche, eine ästhetische Form der Gewalt.“ (Röttgers 2012, 352). In der vorchristlichen Antike ist die Gottesfigur der Kristallisationspunkt der friedenspraktischen Aussage: Konkretisiert sich die im Göttlichen zusammenfallende Differenz von Leben und Tod als Identität von Gebären und Töten, wie dies im Sinnbild der Pax nahegelegt ist, so hat dies über moralische hinausgehende logische Implikationen. Es bedeutet, dass sich der Nous nicht entzieht, sondern dass er, wie die Sophisten behaupten, dem Wissenden klar vor Augen tritt.46 Der kosmische Wechsel von Leben und Tod wird zum menschlichen Auftrag zu gebären und zu töten. Auch im griechischen Denken töten Menschen und sie führen Kriege, aber sie bleiben darin nur im eingeschränkten Sinne Teil der Weltseele und damit jenes kosmischen Wechsels. Das Töten wird dem Menschen deshalb zum Verhängnis, weil dieser im Gegensatz zu den anderen Lebewesen die eigene Gattung nicht schont. Nach Theophrast (1973, 417), einem Schüler von Aristoteles, denkt Platon in den Kategorien einer „umgekehrten Deszendenzlehre“, die den Menschen, weil sie einander töten, nicht den Tieren höherstellt. Die Gottesfigur ist mithin in beiden Fällen, der Eirene und der Pax, gerade in ihrer geschlechtlichen Personifikation für die Einstellung zu Krieg und Frieden von moralischer und logisch-epistemischer Bedeutung. Simultaneität und Gleichwertigkeit von Gebären und Töten im Symbolkonstrukt der Pax entspringt der zweiwertigen Logik, die beansprucht, den göttlichen Nous erkennen zu können. Es ist der göttliche Wille, der den Krieg gegen den Krieg, die Gewalt gegen die Gewalt, Böses gegen das Böse mobilisiert. Das Symbolkonstrukt der Eirene hält hingegen an der Unerkennbarkeit des göttlichen Nous fest und gesteht dem Menschen – in seiner Funktion des Lebenspendenden in der Frauengestalt festgehalten – als alleinige Friedensleistung lediglich den Perspektivwechsel zu, die Vermittlung des einen Kontextes mit einem anderen.

46

Der Nous bezeichnet bei Platon das, was sich der Vorstellungskraft entzieht, letztlich die Unaufhebbarkeit der Unterscheidung vom Sichtbaren und Denkbaren. Zur Schwierigkeit, den Begriff ins Deutsche zu übersetzen siehe Rudolf Schottlaender (1929).

45

Das Friedensverständnis des ersten Computers Es ist dies immer wiederkehrende differente Problemverständnis, das im Zeitsprung von eintausend achthundert Jahren unter den ganz anderen Bedingungen des multikulturellen Spanien nach Formen der Friedenssicherung suchen lässt. Die Herstellung von Einheit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln scheint in Spanien nicht nur einen hohen Blutzoll entrichten zu müssen. Es zeigt sich letztlich als illusionär, bleibt der Prozentsatz des nichtchristlichen Bevölkerungsanteils doch relativ hoch und durch Mission kaum zu verändern. Damit sieht sich ein Friedensverständnis in Frage gestellt, das in immer wieder neuen Abwandlungen der Pax Romana staatliche Einheit zur notwendigen Bedingung friedlichen Zusammenlebens erklärt. In der Folge musste sich das Sicherheitsbedürfnis des Staates vor die Bedürfnisse der Bewohner schieben, die miteinander in Frieden leben wollen. So konstatiert Ramon Lull einen dem staatlichen Einheitsstreben immanenten Zerfallsprozess, beginnend mit der Ausbildung souveräner Staaten, die zum Auseinanderbrechen der politischen Einheit des Reiches geführt habe. Angesichts der Tatsache, dass eine Mehrzahl von souveränen Staaten notwendig zu Kriegen führen, macht Lull den Vorschlag einer Vollversammlung aller Völker als eines Forums, das unabhängig von Religion und politischer Macht die Streitigkeiten zwischen den einzelnen Staaten friedlich schlichten lässt. Zu diesem Zweck solle die jährliche Einberufung nicht durch die Politik, sondern durch den Papst erfolgen. Beim Konflikte schlichtenden und Frieden schaffenden Moment „handelt es sich nicht nur um die Ausschaltung kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen streitenden Staaten und Nationen, sondern um die Schaffung einer vertrauensvollen Atmosphäre in der Welt, um Zusammenarbeit und Freundschaft unter den Völkern.“47 Mit dieser Position lässt sich an der politischen und religiösen Einheit als letztem Ziel durchaus festgehalten, ohne die damit verbundenen Kämpfe akzeptieren zu müssen. Statt Kämpfen empfiehlt Lull die Arbeit an einer Weltsprache, wozu sich das Lateinische als ausgestorbene und somit für alle Beteiligten fremde Sprache anbiete.48 In den Vordergrund rücken jetzt Formen des Umgangs mit differenten Positionen und Glaubensgrundsätzen. Dazu dienen die Techniken der Wahrheitstafeln, die nach fünf Jahrhunderten jüdisch-christlich-moslemischer Feindschaft und wechselnder christlich-moslemischer Herrschaft in Spanien einen digital-technischen Umgang mit der Paradoxie des Friedens 47

Vgl. Blanquerna IV 94 (ORL IX 364), nach Vittorio Hösle, Einleitung zu Lull (1985, XX).

48

Der Technikhistoriker George Dyson (2020, 3-11) lässt seine Geschichte des Verhältnisses von Mensch, Natur und Technik mit Gottfried Wilhelm Leibnitz beginnen, der eine Universalsprache entlang eines binären Kalküls vorschlägt. Und Leibnitz knüpft hier, wie wir unten sehen werden, an Ramon Lull an.

46

ermöglichen sollen. Es ist die außerordentliche Aktualität dieser Vorschläge, die unsere heutige multikulturelle über elektronische Medien in stetem kommunikativem Kontakt befindliche Weltgesellschaft zu analogen Lösungen geradezu herausfordert. Das versöhnliche Gespräch zwischen Juden, Christen und Moslems, welches die Gelehrten Maimonides und Averroes zusammen mit dem christlichen König Alfons X von Kastilien in dessen Regierungszeit zwischen 1252 und 1282 führten, stellte den Frieden als Ergebnis eines unvoreingenommenen interreligiösen Diskurses in Aussicht. Sie entsprechen den heutigen Bemühungen von Seiten der Kirchen, der Politik und Öffentlichkeit, verschiedene Religionsgemeinschaften ins Gespräch zu bringen, aber auch der langjährigen Ökumene zwischen katholischer und evangelischer christlicher Konfession. In einem gewissen Umfang finden sich diesbezügliche Anstrengungen heute zwischen säkularistischen und religiösen Standpunkten.49 Ein Engagement dieser Art ist von unbezweifelbarem Wert und es wird damals von Ramon Lull und kann auch heute in keiner Weise geringgeachtet werden. Einschränkend aber fällt ins Gewicht, dass die Übereinstimmung als Ergebnis des Annäherungsprozesses erhofft werden mag, dass jedoch eine Konfliktverschärfung nicht minder wahrscheinlich ist. Denn im erhitzten Streit gewinnt die Selbstbehauptung die Oberhand über das geduldige Zuhören der gegnerischen Argumente. Dieses Defizit suchen die Korrelationsscheiben zu beheben, die den Prozess des Verknüpfens und Angleichens von Deutungskontexten einer Technik überantworten und damit Raum und Zeit gewinnen lassen für die Ausgestaltung des Gemeinsamen. Die Vorstellung von Ramon Lull ist es, gleichsam mit dem Ergebnis zu beginnen. Dieses lässt konstatieren, dass der Diskurs, wie lange er auch geführt werden mag, zu keinem einheitlichen Verständnis hinführen kann, weil er nicht gleichzeitig die Kontexte mit zu vereinheitlichen vermag, die den Begriffen ihren Sinn verleihen. An dieser Stelle bietet sich auch zum besseren Verständnis des von Lull Gemeinten der Begriff der Kontextur an, mit dem heute der Logiker Gotthard Günther nicht bloß auf Hinsichten und Horizonte unterschiedlicher Sichtweisen aufmerksam macht. Was einander gegenübertritt, sind komplexe logische Systeme, innerhalb deren die zweiwertige Logik greift und infolgedessen wahr von unwahr, richtig von falsch, gut von schlecht, fortschrittlich von rückschrittlich, Freund von Feind unterschieden werden können. Solche Schemata kollabieren jedoch unvermeidlich, wenn verschiedene Logiksysteme (Kontexturen) aufeinandertreffen.50 49

Das prominenteste Beispiel sind die Gespräche zwischen Jürgen Habermas und dem damaligen Papst Benedikt XVI (Habermas/Ratzinger 2005).

50

Ausführlicher wird Gotthard Günther im Kontext der Herausarbeitung von Konturen der Eirene im letzten Kapitel behandelt.

47

Den Zusammenstoß von Logiksystemen in seiner destruktiven Kraft aufzufangen und Modalitäten des Umgangs mit inkompatiblen Standpunkten auszuarbeiten, dies scheint nach wie vor die zentrale friedenstheoretische und -praktische Herausforderung zunächst für jene Forschungsrichtungen, die sich mit dieser Problematik befassen. Sind dieselben aufgrund ihrer Forschungstradition für die besonderen Herausforderungen der Digitalisierung gerüstet, oder bedarf es einer stärkeren Beachtung von Denkschulen, wie sie sich im Anschluss an die mathematisch-logischen Überlegungen von Ramon Lull herausgebildet haben? Im Kontext unserer besonderen Fragestellung können immer wieder nur Argumente für eine solche eingehende Befassung gesammelt werden. Die Aktualisierung dieses besonderen Ansatzes bedarf eines eigenen Studiums, das zugleich Kenntnisse der Logik und der Informatik voraussetzt. Aber wie weit sind mit der Friedensproblematik befasste Forschungsrichtungen auf die neuen Anforderungen eingestellt?

Friedensbegriffliche Weichenstellungen Als empirisch arbeitende sozialwissenschaftliche Subdisziplin ist die Friedens- und Konfliktforschung seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts jener Aufklärungstradition verpflichtet, die den Friedensbegriff als Pax versteht. Sie grenzt sich hierin von früheren philosophischen, theologischen und historischen Beschäftigungen mit dem Frieden ab, die im Begriff der Irenik den Bezug zur griechischen Eirene erkennen ließen. Aber die thematische Verengung des Begriffs Irenik auf das Problem konfessioneller Streitigkeiten hat das Forschungsspektrum auf theologische Fragen beschränkt und damit den umfassenden Bezug des antiken Begriffs der Eirene aufgegeben.51 An dessen Stelle ist der Gerechte Friede als ein politisch-ethisches Orientierungswissen getreten,52 welches auch den Rahmen der ekklesiologischen Herausforderungen bündelt.53 Seitdem steht die Frage im Raum, was gewonnen und was verloren worden ist. Angesichts der Schwierigkeiten, das Leitbild Gerechten Friedens für eine friedensethische und friedenspolitische Urteilsbildung bezüglich eigener militärischer Frie51

Irenik steht als Kommunikationsform (H.-J. Müller 2004) für die theologische Aufarbeitung der Konfessionskriege und -konflikte der Frühen Neuzeit, vgl. Holtmann (1984).

52

Zu Grundsatzfragen siehe die Beiträge in Werkner/Schües (2018).

53

Zu den Spannungen zwischen den ethisch-politischen und den heilsgeschichtlich-dogmatischen Orientierungen der verschiedenen christlichen Kirchen in Bezug auf das Konzept Gerechten Friedens siehe die Beiträge in Jäger/Enns (2019).

48

denseinsätze fruchtbar zu machen, lohnt der Blick auf jenen veralteten Begriff der Eirene. Das gilt noch in stärkerem Maße für die mit der Krieg-Frieden-Problematik befassten Sozialwissenschaften. Denn gegenüber der hier dominierenden Beobachtung friedenrelevanter Daten in einem methodisch kontrollierten Setting tritt die gleichwohl bedeutende Rekonstruktion operativer Funktionen der Friedensbegrifflichkeit in den Hintergrund: Jede Zeit verortet das Phänomen in jeweils anderen Kontexten inner- oder zwischenstaatlicher Konfliktfelder, sodass streitauslösende Faktoren einer bestimmten Epoche in einer anderen Zeit völlig andere Wirkungen hervorbringen können. Aus empirischen Daten gewonnene Generalisierungen setzen sich der Gefahr mangelnder historischer Tiefenschärfe aus; sie projizieren gegenwärtige Expertisen in Vergangenheit und Zukunft. So stehen bestimmten Fixationen beobachteter Fronten die fluiden ständig veränderten Grenzen von Operationen gegenüber, die mit friedlichen oder unfriedlichen Verhältnissen in Beziehung gesetzt werden. Das hat weitreichende Konsequenzen für das Selbstverständnis einer Forschungsrichtung, die solche Prozesse mit wissenschaftlichen Methoden zu fassen sucht, um sie politischer, ökonomischer, rechtlicher, pädagogischer und therapeutischer Beeinflussung zugänglich zu machen. Da solche Ansätze pfadabhängig sind, wird zwischen einer politisch engagierten Forschung für den Frieden und einer wertneutralen Forschung über den Frieden unterschieden (Bonacker 2011, 53). Aber wie könnte eine solche Neutralität aussehen, wenn den einen als Frieden gilt (Sicherheitspolitik, Humanitäre Interventionen, Auslands- qua Kampfeinsätze gegen personelle, strukturelle und kulturelle Gewalt), was für die Anderen Krieg bedeutet (Militärintervention, Angriffskrieg, Aggression)? Infolgedessen gehen beide Richtungen am eigentlichen Problem vorbei, das sich in der formlogisch bedingten Aussichtslosigkeit verbirgt, dieser Paradoxie mit objektivierenden Forschungsdaten beizukommen. Verkürzt lässt sich sagen: Frieden als beobachtungsinduziertes Konstrukt mündet in das Überlegenheitsbewusstsein der Pax; Frieden als selbstreflexive Operation mündet in die Semantik der Eirene. Die Differenz zeigt sich im Umgang mit dem Friedensbegriff: Der philosophisch-ideengeschichtliche Fokus lässt Georg Picht (1975, 25) die Ansicht vertreten, es läge im Wesen des Friedens, nicht definiert werden zu können. Ein politisch-ethisch-sozialtechnischer Fokus zwingt hingegen zur Präzisierung eines empirisch-analytisch brauchbaren begrifflichen Instrumentariums, mit dem das „Wesen des Friedens“ nicht verkürzt wird (Werkner 2017, 29).54 Aber ist eine solche schroffe Gegenüberstellung angesichts der Tatsa54

Zu zentralen forschungspraktisch relevanten Ansätzen siehe Jahn/Fischer/Sahm (2005).

49

che plausibel, dass auch friedensrelevante Operationen beobachtet werden müssen, damit Beschreibungen greifen können? Hinter dieser Frage verbirgt sich eine Schwierigkeit, die aus dem Weg geräumt werden muss, um die volle Tragweite der konzeptionellen Gewichtung ermessen zu können. Die Systemtheorie weist auf die entscheidende Komplikation hin.55 Die Funktion einer Unterscheidung liegt darin, dass etwas bezeichnet werden kann. Allein dies ist nur möglich, wenn den beiden Seiten der Unterscheidung eine je besondere Funktion zuerkannt wird: Diejenige Seite, auf der mit Reflexionen angeschlossen wird, fungiert als Präferenzcode, die andere Seite übernimmt die Rolle eines Reflexionscodes. Da aber Unterscheiden eine Operation ist und Operationen nur im Lichte von Unterscheidungen überhaupt erkennbar sind, scheinen unserer Zuordnung epistemologische Hindernisse im Weg zu stehen. Genau dies nicht Können, aber Müssen spiegelt das ganze Problem. Es wird erkennbar an der Art und Weise, in der einschlägige Friedenssemantiken als Form und mithin als Unterscheidung entfaltet werden.56 Jetzt zeigt sich, dass die Paradoxie sich selbst verunmöglichender Notwendigkeit in der Regel unterschlagen wird, weil nur so empirisch geforscht und Machbarkeitsstudien angefertigt werden können. Und eben dies Unterschlagen favorisiert eine Begrifflichkeit, die den Frieden als Pax im oben beschriebenen Sinne begreifen lässt: Was hüben Frieden, das bedeutet drüben Krieg. Nachdem „viele Staaten und vor allem viele Demokratien seit fünfzehn Jahren scheinen, die Tugenden des Krieges wiederentdeckt zu haben und ihn im Namen der Demokratie, der Freiheit, der eigenen Verantwortung oder gar eines Ideals des zukünftigen Friedens zu legitimieren“ sollten wir uns fragen „ob diese Denkweise nicht gefährlicher ist als die Übel, die sie zu bekämpfen vorgibt.“ (Hirsch/Delhom 2019, 21). Es gilt folglich die Denkwege des Friedens zu erkunden, bevor politikfähige globale Friedensprojekte ausgearbeitet werden. Ebenso wie oben gesagt werden konnte, moderne Friedensbegriffe würden affirmativ oder kritisch an Thomas Hobbes anschließen, so lässt sich bezüglich der themenbezogenen einschlägigen Forschungsrichtungen seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vom affirmativen oder kritischen Anschließen an den Friedensbegriff Johan Galtungs sprechen.57 Ganz in der Traditionslinie der Pax wird hier der Frieden idealtypisch als 55

Zu den Schlüsselwerken der Systemtheorie siehe Baecker (2005). Wir stützen uns aufgrund ihrer erkenntnistheoretisch am weitesten entwickelten Form im Wesentlichen auf die Lesart von Niklas Luhmann.

56

Zum Versuch, Frieden als Form zu begreifen siehe Brücher (2002). Zur Paradoxie des Friedens vgl. Brücher (1996), Brock/Simon (2019).

57

Zur zentralen Stellung bis heute vgl. Werkner (2017). Krohn/Verneuer (2020) kritisieren die Fokussierung auf den Gewaltbegriff, die das Entscheidende aus dem Blick ver-

50

Abwesenheit von personeller (Krieg) und struktureller Gewalt (Ungerechtigkeit) beschrieben, eine Definition, die gewissermaßen alles in den Fokus des Negativen und mithin des friedensrelevanten Einzugsbereichs rückt.58 Dafür sorgt die Definition dessen, was als Gewalt eingestuft werden muss. Diese liegt nämlich bereits vor, „wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“ (Galtung 1972, 57). Diese Begrifflichkeit hat auch fünfzig Jahre später aus dem Grund nichts an ihrer Aktualität eingebüßt, weil es sich hierbei nicht bloß um ein analytisches Konstrukt, sondern um eine sehr feinsinnige Registratur allgemeiner Erwartungshaltungen gehandelt hat und noch heute handelt. Es gibt nach dieser Definition schlechterdings keine Zonen von Friedlichkeit und niemanden, der sich der Verantwortung entziehen dürfte und das bedeutet, der nicht dazu verpflichtet wäre, sich an den globalen eliminatorischen Aktionen des Negierens von Gewalt zu beteiligen. Zu den staatlichen gesellen sich die nichtstaatlichen Akteure, die weltweit den Finger in die Wunde einer hinter den individuellen und kollektiven Potenzen zurückgebliebenen aktuellen Verwirklichung legen. Da aber niemand weiß, wo eine Grenze zwischen dem vermeidbar Aktuellen und dem Potentiellen zu ziehen ist, bleibt die Gewalt legitimierende Metaphysik der Pax unangetastet. Denn die römische und, nach der Augustinischen Wende, auch die christliche „Idee, dass man der Gewalt mit Gewalt endgültig ein Ende setzen könne (jeder Krieg ist immer der letzte), zeigt: Es ist gerade der Vorsatz, der Anspruch, zum ersten und letzten Prinzip zu gelangen (sich mit ihm zu vereinigen, es zu erreichen), was Gewalt inspiriert.“ (Vattimo 2002, 155). Die „friedlichen Mittel“, die dem Titel gemäß (Galtung 1998) den Frieden hervorbringen sollen, dürfen ja selbst keine Spuren von Gewalt aufweisen. Und da diese Einschätzung, Mittel seien friedlich, nicht von meinen Absichten, sondern vom tatsächlichen Befund koinzidierender Aktualität und Potentialität bei allen Betroffenen abhängt, verstellt sich die Theorie die Sicht auf die Paradoxie ihrer eigenen Gewaltverstrickung.59 Die Schwierigkeiten eines sich selbst paralysierenden sozialkybernetischen Ansatzes haben die Erweiterung des Einzugsbereichs der Forschung nicht behindert. Auch dies erfolgte wieder in Auseinandersetzung mit der von Galliere: Entgleisende Dynamiken sind nach ihnen eher im Kontext einer Logik der Situation, der Selektion und der Aggregation zu erklären. 58

Zur These, „strukturelle Gewalt“ sei ein unterschätzter Begriff siehe Imbusch/Meyer (2021), ein analytisch überschätzter Begriff vgl. Andreas Braun (2021).

59

Dies folgt aus der Einführung des Gewaltbegriffs als Universalkategorie. Siehe dazu Brücher (2002, 93-120).

51

tung (1998, 341-366) um den Begriff der kulturellen Gewalt erweiterten Friedenskonzeption. Unter kultureller Gewalt versteht Galtung (1998, 341) „jene Aspekte der Kultur, der symbolischen Sphäre unserer Welt – man denke an Religion und Ideologie, an Sprache und Kunst, an empirische und formale Wissenschaften (Logik, Mathematik) –, die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen oder zu legitimieren.“ Diese Definition folgt nur scheinbar Kant (1956, 17-25), der in seiner Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ die Rechtfertigung von Gewalt als das radikal und somit besonders nachhaltige Böse bezeichnet. Denn erst mit der Aufnahme ins höhere Begehrungsvermögen erhält die menschliche Kultur eine gewaltsame Imprägnierung. Die Unterscheidung von niederem und höherem Begehrungsvermögen, von Trieb, Affekt und Impuls auf der einen Seite und Wille auf der anderen Seite, gilt nur für den einzelnen Menschen. Nur dieser kann ‚böse’ sein. Es gibt nur beim Individuum kulturelle, nämlich ins höhere Begehrungsvermögen aufgenommene Gewalt. Diese Gewalt hat zwar ihren Sitz im Willen, aber sie muss nicht unbedingt gewollt sein. Im Gegenteil zeigt sich ihr Beharrungsvermögen gerade dort besonders hartnäckig, wo sich die einzelne Person ihre wahren Motive verdeckt. So meint diese beispielsweise beim Helfen unvermeidlich Gewalt anwenden zu müssen, sofern der bedürftige Andere uneinsichtig ist und sich nicht helfen lassen will. Die Kalamität einer Gewalt, die zwar ihren Sitz im Willen hat, aber nicht notwendig gewollt sein muss, lässt den Begriff der kulturellen Gewalt problematisch erscheinen. Wir bezeichnen diese Art der Selbsttäuschung heute nicht mehr wie Kant (1956, 40) als „Tücke des Herzens“, sondern sehen darin eher pathologische Randerscheinungen eines prinzipiell nur bei Anderen, nicht aber bei sich selbst diagnostizierten Helfersyndroms. Die Schwierigkeiten einer solchen Diagnostik liegen bereits im selbstimplikativen Setting, im Faktum konstitutiver Intransparenz des Selbst für sich selbst und für Andere. Nach Kant sieht sich der Beobachter als potentieller Fall eigener Diagnosen zur Urteilsenthaltung aufgefordert. Die Nichtlegitimierbarkeit der Gewalt folgt allein aus diesem Faktum konstitutiver Intransparenz, die Gründe prinzipiell suspekt erscheinen lässt. Im Umkehrschluss zwingt diese Einsicht dazu, Gewalt, Krieg und Kampf verherrlichenden Kulturerzeugnissen kritisch gegenüberzustehen. Aber sind deshalb auch Kulturen denkbar, die gegen moralisch verwerfliche Instrumentalisierungen imprägniert sind und damit gegen massenwirksame gesellschaftspolitische Semantiken, die Gewalt um höherer Zwecke willen rechtfertigen? Daran lässt sich zweifeln. Denn bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass schlechterdings alles zur Rechtfertigung von personeller und struktureller Gewalt benutzt werden könnte.

52

Selbst das absolute und unzweideutige christlich-jesuanische Liebesgebot, das für den Geschlagenen nur die Empfehlung bereithält, auch die andere Wange hinzuhalten, ließ sich gewaltapologetisch umformulieren.60 Spätestens wenn Forschung über und für den Frieden bemerkt, dass sie in ihrem Gegenstandsbereich sich selbst als kulturellem Gewaltfaktor begegnet, verdrängt das Problem der Paradoxie alle moralisch-forschungspraktischen Fragen, wie Negatives mit wissenschaftlich angeleiteten Methoden in effizienter und nachhaltiger Weise negiert werden könnte.

Frieden als Sicherheit Die terminologische Metamorphose des Friedens- in den Begriff der Sicherheit, wie sie sich in den Jahren vor der Wende zum 21. Jahrhundert vollziehen sollte, ist ausgehend von diesem radikalisierten Verständnis universaler Pax nur sinnfällig. Im Handbuch Frieden werden Frieden und Sicherheit als Zwillinge bezeichnet. Oft würden sie synonym verwendet oder einander wechselseitig voraussetzend verstanden. „Sicherheit ermöglicht demnach Frieden. Frieden bietet zugleich Sicherheit. Die Negation von beiden Begriffen macht deren enge Verbindung noch deutlicher: Ohne Friede gibt es keine Sicherheit, ohne Sicherheit besteht keine Aussicht auf Frieden. Oder pointiert: Sicherheit schafft Frieden!“ (Gießmann 2019, 655). 61 Nach dieser Konklusion verbleiben Frieden schaffende militärische Spezialoperationen allein deshalb im terminologischen Feld des Friedens, weil sie als Sicherungsstrategien auftreten. Es liegt auf der Hand, dass jeder Interventionismus, mit dem sich ein Land präemptiv gegen Staaten verteidigt, die als Gefahr eingestuften werden, schwerlich kritisiert werden kann. Ebenso wie sich Deutschland 2001 am Hindukusch gegen Terroristen meinte verteidigen zu dürfen und Russland 2022 in der Ukraine gegen Nazis, so muss selbiges allen Staaten dieser Welt freistehen. Dies zumindest bleibt unabweisbar, sofern der in der Charta der Vereinten Nationen als Ausnahme vom Gewaltverbot genannte Verteidigungsfall vom Territorialstaatsprinzip und der Unmittelbarkeit eines drohenden Angriffs losgelöst wird und ins Gebiet potentieller Gefährdungen vorstößt. Mit dem 1994 von der UNDP (United Nations Development Programme) bekannt gegebenen Konzept menschlicher Sicherheit (Human Securi60

Zu Krieg und Protestantismus siehe John W. Graham (1928); speziell zu Luther und den Reformierten siehe Marco Hofheinz (2018); zur katholischen Rechtfertigung Nikolaus Ehlen (1928).

61

Zum erweiterten Sicherheitsbegriff siehe auch Christopher Daase (2011), Daase/Offermann (2011). Zur Diskussion siehe Sabine Jaberg (2019).

53

ty) sollten schließlich nicht länger die Staaten als Adressaten internationaler Sicherungsbemühungen gelten. An deren Stelle traten die individuellen Bedürfnisse und Freiheiten. Was anfangs als normativer Imperativ und die Aufforderung zur Achtung der Menschenrechte verstanden wurde, entwickelte sich immer deutlicher zu einem Mittel der Aushöhlung völkerrechtlicher Grundprinzipen der staatlichen Souveränität und territorialen Integrität. Mit dem zutreffenden Hinweis, der Staat sei nicht nur der Garant, sondern auch der Gefährder menschlicher Sicherheit, hatte der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan einen paradoxen Standard gesetzt. Denn es sollten ja fortan durchaus Staaten sein, die das individuelle Recht auf Leben und Wohlleben garantieren.62 Seit der Libyen-Intervention der NATO im Jahre 2011, die zur Unterstützung der Rebellen und dem Sturz des Gaddafi-Regimes eine Flugverbotszone unter Hinweis auf eine Responsibility to Protect (R2P) eingerichtet hatte, regte sich in der internationalen Gemeinschaft Widerstand: Das mit der Legitimitätsformel der Schutzverantwortung verklammerte Konzept Menschlicher Sicherheit zeigte sich als Weg zur Aushöhlung des Gewaltverbots der UN-Charta.63 Das Problem der synonym verstandenen Begriffe des Friedens und der Sicherheit besteht in der fehlenden Generalisierbarkeit und somit der asymmetrischen Perzeption. Denn unsere Strategien der Versicherheitlichung werden von Anderen als Verunsicherung empfunden. Eben dies nicht sehen zu wollen oder nicht sehen zu können, gehört allerdings zum terminologischen Profil der Pax. Die als zentral eingestufte Friedensbegrifflichkeit Galtungs entspringt einem sozialkybernetischen Ansatz der Systemtheorie, welcher allerdings durch Niklas Luhmann weiterentwickelt und in eine Theorie autopoietischer, sich selbst reproduzierender Systeme überführt worden ist.64 Daher rührt die außerordentliche Bedeutung dieses systemtheoretischen Zugriffs auf die Probleme von Krieg und Frieden. Hier verschieben sich die Margen der Friedensbegrifflichkeit in dem Maße, in dem Handeln seine grundbegriffliche Stellung verliert. Denn es sind Erwartungshaltungen, die Schädigungen einem Akteur anlasten oder als bloßes Missgeschick werten, die eine böse Tat vermuten oder bloß einen Kollateralschaden beklagen lassen. 62

In Anerkennung der Paradoxie betitelt Thorsten Bonacker (2019) seine Sicht auf die nicht-westlichen Perspektiven des Human-Security Ansatzes mit der Frage „Wann werden die Vereinten Nationen Truppen nach Kalifornien senden“?

63

Zu den verschiedenen Aspekten und der Bestandsaufnahme des Konzepts siehe die Beiträge in Werkner/Oberdorfer (2019).

64

Zu den Konsequenzen der Weiterentwicklung der Systemtheorie von der Kybernetik Karl W. Deutschs und der struktur-funktionalen Systemtheorie Talcott Parsons’ hin zur Theorie autopoietischer Systeme Luhmanns für die Friedens- und Konfliktforschung siehe Brücher (2002), bezogen auf die Konflikttheorie vgl. Bonacker (2002).

54

Luhmann (1984, 452f.) weist darauf hin, dass die Enttäuschungsgefahr im Erwarten selbst schon absorbiert werden müsse, andernfalls wirke die Möglichkeit der Enttäuschung symbolisch-destruktiv auf die Erwartung zurück. Dabei seien bestimmte Erwartungskontexte sensibler als andere, wie zum Beispiel Lebenserwartung und Rentenerwartung. Dieser Sachverhalt hoher struktureller Empfindlichkeit gegen bloß Mögliches werde mit dem Begriff des Friedens symbolisiert. Es handele sich um einen „Gegenangstbegriff“, der neuerdings nicht nur Lebenserwartungen, sondern auch Rentenerwartungen, sogar Wohlfahrtserwartungen jeder Art abdecke, unter der Annahme, dass Beeinträchtigungen irgendwelcher Art Menschen aggressiv werden ließen. Am Friedensbegriff zeigt sich mithin das ganze Ausmaß, in dem Normen entbehrlich geworden sind. Die Transformation der Friedensnorm in Entscheidungsbefugnis und letztlich in Macht wird erst in einer sinnfunktionalen Analyse sichtbar. Der weite Friedensbegriff der Abwesenheit von personeller und struktureller Gewalt bei gleichzeitiger Anwesenheit von weltweiter ökonomischer, politischer und sozialer Gerechtigkeit verkündet nach Luhmann einen Souveränitätsanspruch. Er verbiete anderen die Gewalt und behalte sich selbst das Recht auf Gewalt („möglichst gewaltfrei“) vor. Frieden sei Strukturbedingung par excellence, mithin nicht nur das positive Korrelat der negativen Bewertung bestimmter Ereignisse, sondern der Strukturaufbauwert der Vermeidung negativer Ereignisse. (Luhmann 1984, 453). Je mehr der Frieden mit Sicherheitsprävention gleichgesetzt wird – zu der die Garantie von ökonomischen, sozialen, rechtlichen, kulturellen und in besonderer Weise heute auch gesundheitlichen Voraussetzungen gehört, ist es kaum verwunderlich, dass der Krieg gegenüber dem Frieden im Internet, in neueren politikwissenschaftlichen Handbüchern und Lexika entschieden mehr Aufmerksamkeit findet. Reinhard Meyers (2019, 1) führt dies auf krisenhafte Entwicklungen des Weltfinanzsystems, auf Umweltund Naturkatastrophen vor der Haustür der USA und im fernen Südostasien und fortdauernden robusten Friedenserzwingungs- und Friedensstabilisierungseinsätzen in Subsahara-Afrika, im Irak und in Afghanistan zurück. Aber war die Welt vor 1990 unter dem Damoklesschwert permanenter Atomkriegsgefahr und den vielen westöstlichen Stellvertreterkriegen wirklich sicherer? Waren die großen friedensarchitektonischen Bemühungen dieser Zeit einer friedlicheren Welt geschuldet? Offensichtlich konnte das Friedensverständnis universaler Pax seine Logik erst entfalten, nachdem eine der beiden Konfliktparteien, und dies waren die Vereinigten Staaten von Amerika und nicht Russland, als Sieger des Kalten Krieges hervorgegangen war. Was in der Folgezeit sichtbar wurde, entspricht der Fragilität von Institutionen, die bloße Konsensunterstel-

55

lung sind: Das Normative ist in ihnen strukturell sedimentiert und damit in einen der Kritik unzugänglichen Aggregatzustand versetzt.65 Gleichsam beliebige Entscheidungen sind im Rahmen von Demokratisierungsprogrammen im Sinne von Konfliktpräventions- qua Friedensstrategien in faktischen und antizipierten Postkonfliktgesellschaften legitimierbar. Werden Entscheidungen jedoch nicht unter Bezugnahme auf den Wert gerechten Friedens gefällt, dann stehen sie in Gefahr, einem Kontext zugeordnet zu werden, der das Image des außenpolitischen Entscheiders beschädigt. Dieser Ansehensverlust aber verbleibt innerhalb sich zunehmend konsolidierender Machtblöcke des Globalen Nordens und des Globalen Südens, die nach der russischen Militärintervention in die Ukraine Hoffnungen in eine unipolare Weltordnung zunehmend enttäuschen. Die Paradoxie der Ersatzlösung für verbindliche Normen wird auf diese Weise offenkundig: „Die Notwendigkeit der Beachtung von Werten wird ihrerseits, wenn es zur Entscheidung kommt, eine kontingente Bewertung, die je nach Wertkonstellation, Entscheidungslage und Einflüssen auf den Entscheidungsprozess verschieden ausfallen kann.“ (Luhmann 2008, 244). Wenn ein als Pax verstandener Frieden dennoch begrifflich spezifiziert sein muss, so hat dies strategische Gründe. Denn im Bemühen um eine Präzisierung zwingt diese Begrifflichkeit dazu, die Kreise potentieller Gefährdung und potentieller Gefährder immer weiter zu ziehen und damit Gewalt zu verstetigen. Was sich hier perpetuiert und eigendynamisch reproduziert sind Operationen, die in den eigenen Augen Friedenseinsätze sind, in den Augen der Betroffenen und mit diesen solidarisierenden Staaten jedoch nichts anderes als Aggression darstellen.66 Alles deutet darauf hin, dass digitale Verschmelzung und kommunikative Vernetzung diesem Denken die Grundlage entzieht. Dies ruft Erinnerungen an die kontrastierende Begrifflichkeit der Eirene wach, die nur Denkwege und korrespondierende Praktiken reflektiert. Der Friede zeigt sich als operativer Begriff, der um das zentrale Problem der Perspektivendifferenz kreist und davon ausgehend nach Lösungen suchen lässt.

65

Zu institutionalisierten Verhaltenserwartungen siehe Luhmann (2008, 45f.).

66

Angesichts der asymmetrischen politischen Zuschreibungs- und rechtlichen Anklagepraxis, die den Globalen Norden verschonen, bemühte sich der Globale Süden 2010 erfolgreich um die Aufnahme des Tatbestands der Aggression ins Römische Statut. Jedoch bleiben Nicht-Vertragsstaaten des Römer-Statuts (z.B. USA und Russland) von der Gerichtsbarkeit ausgeschlossen, und Vertragsstaaten können sich dieser durch eine Opt-out-Erklärung entziehen. Vgl. Stefan Barriga (2010).

56

Strategisches (Pax) oder operatives (Eirene) Denken des Friedens Die Unterscheidung von strategisch und operativ bezieht sich gemeinhin auf temporale Bezugsrahmen. Im strategischen Denken bestimmen und legitimieren Ziele und Zwecke – mithin eine gewünschte bessere Zukunft – alle Aktivitäten und Programmatiken. Luhmann (1973, 166-256) hat den Zweckbegriff in seinem Verhältnis zur Systemrationalität einer funktionalen Analyse unterworfen: Zwecke neutralisieren den Wertbezug des Handelns. Es ist folglich keine Anomalie, sondern gehört zur Funktion des Zwecks, die Mittel zu heiligen. Verantwortet wird nur eine Perspektive, nämlich die in Zielen und Projekten antizipierte und narrativ präsentierte gegenwärtige Zukunft. Was sich in der Zukunft tatsächlich ereignet, bleibt dabei unberührt und kann somit auch nicht verantwortet werden. Die Differenz der Temporalstrukturen bleibt unaufhebbar; gegenwärtige Zukunft und zukünftige Gegenwart werden durch verbesserte Prognosetechniken niemals zur Deckung gebracht werden können. Aus der Einsicht in die logische Struktur von Temporalperspektiven gewinnt operatives Denken an Bedeutung. Hier sieht sich die Wahl von Mitteln sehr viel stärker in die Wertbindung einbezogen und es wird nicht nur das Reden, sondern der operative Vollzug verantwortet. Aber was ist damit gemeint? Beobachten ist Unterscheiden und dies als Operation. In dieser komplexen formlogischen Begrifflichkeit ist folglich das konstruktive Moment immer mitberücksichtigt. Wenn bei einem Begriff der operative Charakter hervorgehoben wird, so kommt die Aussage bescheidener daher als im Falle einer Begrifflichkeit, die für sich in Anspruch nimmt, etwas beobachtet, erkannt und beurteilt zu haben. Diese drei Ansprüche sind schematisierendem Denken zu eigen und können schwer abgestreift werden. Wenn die an Luhmann anschließende systemtheoretische Richtung folglich eine operative Begrifflichkeit bevorzugt, so um deutlich zu machen, dass von ihr keine Stellungnahme im Streit um die Wahrheit guter Ziele zu erwarten ist. Ohne solche Stellungnahmen könnten offensichtlich schlechte und den Menschen schädigende Handlungen keine Zustimmung finden. Wenn eine Richtung darauf bedacht ist den Anschein zu vermeiden, es könne ihr um Antworten auf die Frage der Urteilsbildung bezüglich dessen gehen, was unter Demokratie, Menschenrechten, Gerechtigkeit, Gesundheit, Freiheit und somit auch Frieden definitionsgemäß verstanden sein könnte, dann fungiert sie als Artikulationsorgan eines allgemeinen Krisenbewusstseins. Man kann auch sagen, eine solcherart zunächst abwegig erscheinende Theorierichtung, die Definitionen als Anzeige für das, was Menschen übereinstimmend denken oder denken sollten, relativiert, um sich stattdessen auf die vorausliegende Frage nach den kognitiven, moralischen und ontologischen Bedingungen dieses potentiell Gemeinsamen

57

zu konzentrieren, zündet nur in Umbruchszeiten. Und erst in der heutigen durch Viruspandemie und Krieg verunsicherten Welt scheinen wir in einer solchen Zeit zu leben. Dies macht das systemtheoretische Instrumentarium so wertvoll. Es wäre zu vermuten, dass erst an dieser Stelle, wo Rahmen bersten oder schon zerbrochen sind, der Frieden als philosophisches und wissenschaftliches Problem auftaucht. Thomas S. Kuhn (1962) spricht von wissenschaftlichen Revolutionen, von Paradigmenwechsel, die alles in einem neuen Licht erscheinen lassen.67 Eine solche Öffnung für neue Blickwinkel kann nur Begriffen gelingen, die statt etwas fest-zu-stellen, ein themenbezogenes Datenmaterial als lose gekoppeltes Set von Perspektiven in den Operationen des Verknüpfens dieser Perspektiven spiegeln. Das Festgestellte ist, was es ist, aber die lose gekoppelte Verbindung von Sinnsegmenten verweist auf Operationen, die nach Formeln der Überleitung von meinem Verstehen zu dem aller Anderen suchen lässt. Mit dieser Unterscheidung von fester (Form) und loser (Medium) Koppelung ist das Instrumentarium eingeführt, das deutlicher werden lässt, was ein strategisches (Pax) von einem operativen (Eirene) Denken des Friedens unterscheidet. Es ist die alternative Tabuisierung von Macht oder Frieden.

Zur alternativen Tabuisierung von Frieden oder Macht Der alte Streit um wertbezogene oder wertfreie Wissenschaft bricht an der Stelle immer wieder aus, wo die Möglichkeit in Frage gestellt wird, alles der Erfahrung vorausliegende zugänglich zu machen und mithin Unterscheidungen wie Transzendental-Empirisch oder Apriori-Aposteriori aufzuheben. Das gilt auch für die Differenz von Medium (Mythos) und Form (Logos). Anders gesagt, die Aufklärung muss über ihre eigenen Grenzen aufklären können, um nicht ins Dogmatische abzugleiten. Vorannahmen mögen in erster Linie Vergessenes, Verdrängtes, Gewohntes sein oder gar verhärtete sozio-ökonomisch-kulturelle Strukturen von Unter- und Überordnung. Das ist nicht falsch, aber es lässt das Wesentliche dieser Schematisierungen unerkannt. Transzendental-Empirisch, Medium-Form und somit auch Mythos-Logos sind von einer nicht zu unterschätzenden sinnfunktionalen Bedeutung. Denn hier findet die Unvermeidlichkeit Ausdruck, mit der ein beleuchteter einen neuen blinden Fleck schafft. Für das 67

58

Obgleich verschiedene, durch einen Paradigmenwechsel voneinander getrennte „Normalwissenschaften“ nach Kuhn inkommensurabel sind, können sie miteinander verglichen werden. Zur Diskussion der wissenschaftsphilosophischen Fragen vgl. Hoyningen-Huene (1989, 133-162).

Friedensphänomen bedeutet dies folgendes: In dem Augenblick, in dem der Frieden nicht mehr den Rang einer alles Leben und Zusammenleben ermöglichenden Bedingung einnimmt, sondern als beschreibbarer und realisierbarer Idealtypus eines bestimmten Lebens und Zusammenlebens erscheint, gerät etwas Anderes in den medialen Hintergrund. Unbeobachtet, weil gestützt auf ein in seiner Komplexität undurchschaubares Datenmaterial, wirken nun jene politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Akteure, die den Idealtypus definieren und die für seine Umsetzung sorgen. Man könnte zugespitzt sagen: Entweder der Friede oder die Macht wird tabuisiert. Aber man kann nicht beides zugleich mit der Absicht enttabuisieren, aufklärerisch wirksam zu sein. Wir werden weiter unten sehen, dass die Parabel vom Heiden und den drei Weisen von Ramon Lull genau dies zum Ausdruck zu bringen sucht mit dem Ergebnis, dass Komplexität als Kulturform erscheint: Wird der Friede enttabuisiert und das bedeutet, an Bedingungen geknüpft, die ihn angeblich erst möglich machen – an die religiöse Einheit unter dem Dach des jüdischen oder des christlichen oder des islamischen Glaubens – so muss etwas Anderes über allen Zweifel erhaben sein. Und dies ist im Spanien des 13. und 14. Jahrhunderts die politisch gestützte und somit zur Gewaltanwendung legitimierte theologische Diskursmacht christlicher oder islamischer Provenienz. Da Spanien nach Ansicht von Lull mit der Enttabuisierung des Friedens die schmerzliche Erfahrung von Eroberung, Rückeroberung und nicht abreißenden Scharmützeln gemacht hat, tritt er für die Enttabuisierung der Macht ein. Enttabuisierung aber bedeutet nicht einfach nur Kritik an konkreten Formen der Macht. Der Grund, weshalb dieser schlichte Weg der Herrschaftskritik verworfen wird, ist die Tatsache, dass eine solche Kritik immer nur innerhalb hermetischer religiös konnotierter Sprachen vorgetragen werden könnte. Mit dieser Form des Konfliktaustrags werden die religiösen Streitigkeiten immer weiter angefeuert. Lull sucht folglich nicht nach besseren Gründen für die Dominanz des Christentums; aber er verwirft auch die ‚säkular-laizistische’ Lösung eines Wechsels vom theologischen zum philosophischen Begründungsdiskurs. Denn damit würde nur ein neues und gegen andere abgegrenztes Deutungsgefüge eingeführt und die Konflikte durch eine weitere Partei verschärft. Den einzigen Ausweg sieht Lull in der Erfindung einer Maschine, die Inkommensurables so zu korrelieren vermag, dass Modalitäten des Wechselns von einem Sinnkontext zum anderen sichtbar werden. Mit den Voraussetzungen für ein entsprechendes Denken von Komplexität, das sich schließlich in einer neuen kulturellen Technik artikulieren lässt, beschäftigen wir uns weiter unten. Die wilden historischen Sprünge vom 13. zum 18. Jahrhundert und wieder zurück zum beginnenden 16. nachchristlichen und noch weiter zurück

59

zum 5. vorchristlichen und 5. nachchristlichen Jahrhundert bis hin zur Gegenwart sind Absicht. Sie sollen das immer gleiche systematische Gegenüber diametral verschiedener Herangehensweisen an die Friedensproblematik vor Augen führen. Entweder der Friede oder die Macht werden enttabuisiert. Der Friede verbleibt notwendig im medialen Feld unausgesprochener Bedingungen, wo ein paradoxiebewusstes Verständnis der Gewaltverstrickung von Friedensbemühungen vorherrscht. Denn wozu verhilft die genaue Angabe von Bedingungen, wenn die gegnerische Seite dies nicht so sieht und den Frieden an ganz andere Bedingungen knüpft. Diese Sichtweise hebt folglich das Janusköpfige hervor – hüben Frieden, drüben Krieg. Und es konzentriert sich vor diesem Hintergrund auf Operationen des Wechselns von Logiksystemen, die Hier ganz anders als Dort werten lassen. Unüberbrückbar differente Wahrnehmungen und Wertungen verlangen Modalitäten der Normenprüfung, die eine Brückenfunktion übernehmen. Ein Paradoxien ignorierendes Machen des Friedens kann die ewige Wiederkehr aufeinander folgender Friedens- und Kriegszeiten nicht reflektieren, weil es die eigenen Kriege als intensivierte Friedensanstrengung, als schlichte Auslandseinsätze und als humanitäre Interventionen fehldeutet, sei es als Verletzung der territorialen Integrität von Staaten oder als grundrechtswidrige Verletzung der biophysischen Integrität des Organismus. In diesen Fällen wird Macht tabuisiert. Niemand kommt auf die Idee oder wagt es, Kritik an machtgetragenen Entscheidungen zu üben. Aber jeder fühlt sich aus einem Bewusstsein überlegener Stärke heraus ermuntert, Fremdperzeptionen nicht ernst nehmen zu müssen und den Frieden mit all denjenigen Menschen aufzukündigen, die widersprechen. Das Corona-Pandemie-Management fällt nicht nur deshalb in dieses thematische Feld, weil von Beginn an eine für gesundheitspolitische Maßnahmen ungewöhnliche Kriegsrhetorik am Werk war. Die Parallele drängt sich auch deshalb auf, weil wie im Falle der militärischen die biophysische Intervention Hüben als Verteidigung gegen einen gefährlichen Virus und Drüben als Teil einer autotechnischen Herrschaftsstrategie biometrischer Manipulation und Überwachung interpretiert wird. Das Friedensdenken universaler Pax sieht sich als global dimensioniertes Projekt nicht in der Pflicht zu verstehen, was Andere denken, weil es dieses Andere idealtypisch inhäriert. Wie sehr die westliche Welt nach dem Sieg des kapitalistischen Liberalismus diese Haltung verinnerlicht hat, zeigt sich in der pejorativen Konnotation des Verstehers als einer geradezu lächerlichen Figur. Das Andere und Fremde in seiner Eigenlogik näherbringen zu wollen, wird schließlich moralisch suspekt, zur Kontaktschuld stilisiert und als umstrittene Gesinnung getadelt. Da sich ein individuelles und kollektives Selbst aber nur in der Konfrontation mit einem Anderen bil-

60

det, verstellt diese kognitive Verweigerungshaltung auch den angemessenen Blick auf sich selbst. Ein von sich selbst entfremdetes individuelles und kollektives Selbst gleitet ins Irrationale einer bloß noch von Affekten angetriebenen Debattenkultur, die die Politik vor sich hertreibt und zu immer weiteren Drehungen der Eskalationsspirale zwingt. Damit verbundene Polarisierungen dürften Hinweis darauf sein, dass sich im digitalen Zeitalter an konsequenter Tabuisierung der Macht und damit an weiterer Konsolidierung des Friedensverständnisses universaler Pax womöglich nur noch mit Hilfe einer auf Dauer gestellten psychologischen Kriegsführung festhalten lässt. Die Menschen müssen emotional in ein permanentes Gefahrenszenario eingebunden, gegeneinander aufgehetzt und in Kampfstimmung versetzt werden.

Systemtheorie und Systempraktik Was ist verhandelbar, was ist nicht verhandelbar, Frieden oder Macht? Diese Frage ist moralisch gesehen keineswegs eindeutig angesichts der Tatsache, dass dies zwischen Frieden und Unfrieden changierende Chamäleon durch ein spezifisches Verbreitungsmedium durchaus beeinflusst wird. Die Gefahrenlage einer schriftkulturell veränderten Gesellschaft hatte Platon antizipiert. Denn neben der Verweisungsvielfalt auf das, was nicht anwesend ist, irritiert nun zusätzlich die Vielfalt der Bedeutungen, die das geschriebene Wort haben könnte und die dazu führt, dass ein und derselbe Text verschiedene Auslegungen möglich macht. Der Buchdruck wird dieses Problem weiter verschärfen. Marshall McLuhan weist in einem Interview darauf hin, dass in den ersten Lexika das Verb to read gleichbedeutend gewesen sei mit to guess.68 In eine ähnliche Richtung zielt die Erinnerung von Peter Sloterdjk (1999, 10) dass sich im mittelalterlichen Englisch aus dem Wort grammer der glamour entwickelt habe. Dem Lesenden wird unterstellt, nicht bloß seine subjektive Auslegung, sein schlichtes Meinen mit einem aus Büchern gewonnenen Wissen zu verwechseln. Die hierin verborgene Scharlatanerie nährt den Verdacht, auch zaubern zu können und dies legt nahe, unheilvoller Machenschaften bezichtigt zu werden. Man sieht, in welchem Maße das sprachinduzierte Problem des nicht zu kontrollierenden Abwesenden die alten Ängste in der neuen Medienepoche fortleben lässt. Dies bestätigt und verschärft sich in der Benutzung elektronischer Medien. Dirk Baecker (2002, 14) weist dar68

Das Interview vom 16.12.1975 ist aufgezeichnet in NYPR Archive Collecions (WNYC archives id: 152026).

61

auf hin, dass seit dem Medienbegriff Fritz Heiders in den Medienwissenschaften „Fühlung zur Geisterkunde“ gehalten werde. Denn mediale Wirkungen lassen sich keiner bestimmten Ursache zuordnen. Festzustellen sind bloß Effekte, die dort, wo sie kumuliert auftreten, dem Geschehen einen Drive ins Negative geben. Dieser Eindruck einer von außen einwirkenden Kraft aber entsteht allein aufgrund der undurchdringbaren Oberfläche und folglich der Unmöglichkeit zu beeinflussen, was Funktionen eines Mediums übernimmt. Fehlt im digitalen Kontakt jede hermeneutische Methode, die Anwesenheit simulieren ließe, so verdichten sich Organismen, Psychen und Gesellschaften zu systemischen Agenten. Das bloße Anschließen von Operationen an Operationen desselben Typs inspiriert nicht bloß Systemtheorie, sondern auch transhumanistische Systempraktik. Diese unterscheidet sich von der früheren Kybernetik darin, dass zur Praxis gewordene Technik nicht bloß Leben nachbauen möchte. Transhumanistisch wird diese Praxis erst, wenn die Technik mit Organismus, Psyche und Gesellschaft verschmilzt. Damit wird die bloße Anschlussoperation zur diffusen Angstquelle, die im Falle der Entstehung von Leben aus Lebendigem im Virus modelliert werden kann. Das ängstigende Fortsetzungsgeschehen innerhalb des undurchdringbaren Innerpsychischen findet in Fake-News sein Menetekel. Und das Gruselige der Gerüchteküche kommunikativer Anschlüsse konkretisiert sich als Verschwörungstheorie. Unheimlich erscheint eine zur Systempraktik entwickelte Systemtheorie aus dem Grund, weil das generische Prinzip des Anschließens von Operationen an Operationen desselben Typs das Innen/Außen-Schema sprengt. Ohne die Orientierung an einem Innen, an Gesinnungsgenossen, an Freunden und an Eigenem, die das Innen gegen feindliches Außen zusammenschweißen, verliert das Ängstigende sein Gesicht. Das maskierte Außen eignet sich jetzt um so mehr dazu, beliebige Gesichter anzunehmen. Folglich sieht es so aus, als steigere die digitale Codesprache die problematischen Seiten des unmittelbaren Kontakts ins Unermessliche. Im sprachlichen Austausch wird bewusst, dass sich nur Anwesende und Anwesendes beeinflussen lassen. Aber welche Gefahren birgt das Abwesende, Menschen, die Lügen verbreiten oder zum Kampf rüsten, unsichtbare Mächte, von denen schlechte Wirkungen ausgehen können oder potentiell tödliche Erreger, die saisonal mutieren und somit ungreifbar bleiben? Das medial aufgetürmte Gefahrenpotential wächst nun jedoch im digitalen Kontakt deshalb noch einmal ins Unermessliche, weil hier beide, die an Kommunikation beteiligten und die nicht beteiligten Akteure abwesend sind. Jetzt kommuniziert im wahrsten Sinne die Kommunikation und nicht der Mensch mit seinesgleichen und sei es nur vermittels hermeneutischer

62

Bemühungen, zu verstehen. Die Diffamierung des Verstehers ist gleichsam der psychosoziale Reflex einer veränderten medialen Form des kommunikativen Austauschs. Damit verliert Kommunikation gänzlich ihre Zweiseitenform und wir stehen im Hinblick auf das soziale Miteinander vor einem Sinnkollaps. Nun musste bereits der schriftliche Kontakt das Erlebnis von Anwesenheit beträchtlich beschädigen. Aber die Gesellschaft hatte es durchaus verstanden, mit Hilfe von Techniken der Auslegung gemeinten Sinns wenigstens ein Stück weit Präsenz zu simulieren oder zumindest zu imaginieren. Anwesenheit lässt sich durch Hermeneutik und Schulbildung numerisch erweitern und der Angst vor allem Abwesenden und Unbekannten durch weltanschauliche Gruppenbildung begegnen. Der Friede ist nicht länger auf dialogische Streitkultur angewiesen, sondern auf Solidarität, auf den Zusammenschluss der Freunde gegen die Feinde.69 Heinz von Foerster hat im Rahmen seiner Kybernetik 2. Ordnung mit dem Begriff der Propriorezeption das spezifische aus externen Effekten herrührende Problem umschrieben. Es erwächst aus der neurophysiologisch nachgewiesenen Unmöglichkeit, wahrnehmend auch die Wahrnehmung mit wahrzunehmen (Troge 2011, 5). Für die Kommunikation gelten dieselben Hindernisse: Weder ist es möglich, den Selektionsraum zu überschauen, aus dem eine Offerte schöpft, noch lässt sich die Fülle der Anschlusselektionen ermessen, die einen Beitrag aufgreifen. Schlechterdings nicht zu verhindern sind ungewollte oder übelmeinende Missverständnisse, die üble Nachrede, die unvollständige Wiedergabe eines Gesagten oder die sinnverstellende Rezeption. Die externen Effekte bezeichnen folglich den Aspekt der Ungreifbarkeit des Mediums in seiner funktionalen Stellung bloß lose gekoppelter und somit variabler Elemente. Greifbar wird das Medium erst durch einen Beobachter, der dasselbe von einer Form (fest gekoppelte Elemente) unterscheidet. Diese Unterscheidungsoperation ist jedoch ein „systeminterner Sachverhalt. Ebenso wie für Information gibt es auch für die Medium/ Form-Differenz keine Umweltkorrespondenz ...“ (Luhmann 1997, 195f.). Folglich lässt sich nicht das Medium beobachten. Es lässt sich nur mit Hilfe der Unterscheidung (Medium/Form) als Ganzer beobachten. Wir haben es bei Medium und Form folglich mit einem Schema zu tun, das ethische und insbesondere friedensethische Implikationen hat. Denn der Kontext muss zum Text gemacht werden, um bewertet werden zu können. Was hinter meinem Rücken getuschelt wird, oder was die vielfältige 69

Als Artikulationsorgan des Zeitgeistes rät Jürgen Habermas (2020) im Widerspruch zu seinem eigenen diskursethischen Ansatz, mit Andersdenkenden qua „irregeleiteten Bürgern“ nicht zu sprechen. Festungsdenken dieser Art isoliert sich in digitalen Gesellschaften selbst.

63

Rezeption meines Shitstorms im Netz bewirkt, kann auf diese Weise in seiner ganzen Tragik erfasst werden. Unterscheidungen wie Gut und Böse, Freund und Feind, Rechten und Linken, Demokraten und Autokraten, die einen ständigen Gestaltwandel zeitgemäßer Polarisierungen verzeichnen, verfahren hingegen reduktionistisch. Sie zwingen die mediale und somit nicht zu kontrollierende Dynamik in die Form einer klaren Zuordnung von Menschengruppen, die hinter dem Tuscheln und hinter dem Shitstorm oder hinter der Cyberattacke stehen. Friedenspolitik kennt hier nur eine Antwort, nämlich die überlegene Macht einer Pax, die in der Mobilisierung effizienter Kampfmittel gegen alles Widerständige nicht zaghaft sein darf. Wo psychosoziale Konditionierungen wesentlich durch die Friedenssemantik der Pax beeinflusst sind, dort erfährt das obrigkeitsstaatliche und autoritäre Naturell ein rechtfertigendes Narrativ. Während die sozialpsychologische Deutung des autoritären Charakters (Adorno 1995) allein auf Bildung, Erziehung und Therapie setzt, ein methodischer Fokus, der unter den Bedingungen global-digitaler Massenkommunikation kaum noch greift, appelliert die kulturalistische Perspektive nicht an Funktionssysteme, sondern an jeden Einzelnen. Das Faktum nicht zu berechnender und nicht zu steuernder kumulativer Effekte kann nur um den Preis einer gefährlichen Blindheit ignoriert werden. Diese hat nach Luhmann (1990, 233) zur Folge, dass der Anschluss an das, was sich der Beobachtung bietet, verfehlt wird, „denn sie schließt die Möglichkeit aus, dass das, was als Gesellschaft sich realisiert hat, zu schlimmsten Befürchtungen Anlass gibt, aber nicht abgelehnt werden kann.“ Die technologischen Entwicklungen auf den Gebieten der Genetik und der Künstlichen Intelligenz treiben zusammen mit der digitalen Kommunikation die Kosten dieser Blindheit noch in die Höhe.70 Wird das Problem der Unerreichbarkeit des Mediums nicht unterschlagen, so lässt es sich in der Erwartungsstruktur berücksichtigen. Man gelangt von hier aus zu einer Institution zweiter Ordnung im Sinne eines die Wahrnehmung und Kommunikation strukturierenden erwartungsfesten Erwartungsstils. Es lässt sich sofort sehen: Ein Einkalkulieren von ungreifbaren Eigendynamiken hat in einem Friedensverständnis keinen Platz, das sich als Pax versteht. Im griechischen Begriff der Eirene hingegen ist die propriorezeptive Struktur organischer, physischer, psychischer und sozialer Autopoiesis, anders gesagt, die Undurchschaubarkeit und Unberechenbarkeit kumulativer Effekte honoriert. Bei Platon wird dies im Begriff der Weltseele evident, die sich in den Einzelseelen spiegelt. In heutiger Sprache 70

64

Zu diesen Kosten zählt Luhmann (1990, 233): „die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit tragender Strukturen, die ins Extrem getriebene Autonomie und wechselseitige Abhängigkeit der Funktionssysteme, die gravierenden ökologischen Probleme, die Kurzfristigkeit der in der Wirtschaft und der Politik tragfähigen Perspektiven ...“

ausgedrückt: Das Prinzip der Bewegungen, Komplexität, spiegelt sich im Prinzip der Bewegungen, in Komplexität. Wer handeln will, muss sich diese Struktur vergegenwärtigen.

Psychologie und Dämonologie Man kann eine von außen wirkende mediale Kraft von Selektionsräumen und Selektionshorizonten nicht beherrschen. Weder gelten die verfeinerten Techniken des Experimentalspiritismus von damals als erfolgversprechend,71 noch sind kalkulatorische Modelle denkbar, die die Reaktionsweisen einer globalen Kommunikationsgemeinschaft antizipieren. Was man indes vermag, ist dies Faktum in die Art und Weise des Umgangs mit kumulierenden Effekten so zu integrieren, dass Eskalationsgefahren minimiert werden. Eskalation ist ein Begriff, der solche unberechenbaren Eigendynamiken im Hinblick auf ihre möglicherweise oder wahrscheinlich destruktiven Implikationen zum Gegenstand hat. Anders als entgleisende Konflikte werden positive Selbstverstärkungsprozesse ins lineare Schema gezwungen und als Verdienst bestimmten Persönlichkeiten und bestimmten Politikkonzepten hoch angerechnet. Beispiele für Umstrukturierungen von Erwartungshorizonten ist die in erstaunlich kurzer Zeit bewerkstelligte Umkehrung der deutsch-französischen Erbfeindschaft in eine stabile, durch Austauschprogramme geförderte Freundschaft, oder die friedliche Systemtransformation der Staaten des Warschauer Pakts. Vom Standpunkt einer handlungstheoretischen und im programmatischen Denken beheimateten Sozialtheorie aus, die Linearität und mithin empirisch nachweisbare Beziehungen zwischen einer friedensfördernden Ursache und dem Eintritt der gewünschten Wirkung nachzuweisen sucht, gerät man hier in Schwierigkeiten. Denn die Sozialpsychologie unterstellt einen soliden Mechanismus der Verleugnung und der Kontext-Hypothese, der dafür sorgt, dass der erklärte Friedenswille im Kontext der Annahme einer feindlichen Gesinnung nur als Falle und mithin als ein Manöver zur Schwächung des Feindes wahrgenommen werden kann. Positive Eskalationsprozesse sind infolgedessen ebenso rätselhaft wie negative.72 Und es ist seit den Anfängen eines Nachdenkens über solche nicht mehr kausal zu er71

Zu den Experimenten, Wegweisern für die Anrufung von Geistern und Methoden zum Verkehr mit der unsichtbaren Welt, siehe das aus dem 19. Jh. stammende Buch von Allan Kardec (2000).

72

Siehe dazu Brücher (2011, 292-328). Gorm Harste (2013) hat indes die Raffinesse gezeigt, mit der über Jahrhunderte entwickelte Kommunikationscodes der Diplomatie in Kenntnis dieser psychosozialen Hürden stabile und erfolgreiche Formen der Verstän-

65

klärenden Dynamiken eben diese Ratlosigkeit, die zur Durchsetzung einer umgekehrten Kasuistik motiviert hat: Spätantike Philosophien und von diesen geprägte jüdisch-christlich-moslemische Kulturen, die mit der kognitiven Bewältigung des zusammenbrechenden Römischen Reiches beschäftigten waren, rekonstruieren Ursache-Wirkungsprozesse aufgrund kausal nicht zu erklärender Dynamiken von dem aus, was man mit Sicherheit weiß und dies ist ein positiv oder negativ gewertetes Wirkungsgeschehen. Was alle sehen können, ist der erschlagene Mensch und es sind die gemetzelten Vielen einer Schlacht. Um aber die wahren Ursachen eines solchen Unheils ermitteln zu können, muss man Kausalrelationen bis ins letzte Glied zurückverfolgen, was schlechterdings unmöglich ist. Christliche Wüstengelehrte des 4. Jahrhunderts, wie der Heilige Antonius und Evagrius Ponticus, konzedieren dies und suchen nach geeigneten Methoden des Umgangs mit dieser Intransparenz. Das Ergebnis von Selbstexperimenten mit den seelischen Befindlichkeiten unter größten Entbehrungen ist nach langen Aufenthalten in der kargen Einsamkeit der Wüste eine Achtlasterlehre und eine monastische Psychologie. Hier wird die ins Unendliche gehende Kausalreihe des Bösen einer anonymen Ursache, so genannten Dämonen und mithin einer mythologischen Figur zugerechnet. Als Adressaten der acht Laster (Völlerei, Unzucht, Habsucht, Traurigkeit, Zorn, acedia/Überdruss, Ruhmsucht, Stolz) sind diese Dämonen mit psychostrategischen Mitteln im Zaum zu halten.73 Angesichts einer schier unendlichen Reihe und somit nicht zu rekonstruierenden wahren Ursache des Bösen, wird der Akzent ganz auf den individuellen Umgang mit dem Übel gelegt. Aufgrund einer unabweisbar infiniten Kette von Rückführungen darf dasselbe nicht als individuelle Schuld zugerechnet werden. Vielmehr sieht sich der Einzelne durch eine ihm äußerliche Kraft heimgesucht und gemeinschaftlich vor die Aufgabe gestellt, hilfreiche Verhaltensregeln zu ersinnen. In einer zeitgenössischen Sprache kann man sagen, die Suche gilt der adäquaten Form des Umgangs mit dem im Hintergrund wirkenden unheilvollen Medium. Angezeigt ist deshalb ein inverses Kausaldenken, das nicht vom Unbekannten (Ursache) auf ein Bekanntes (Wirkung) schließt, sondern umgekehrt im Rückgang vom Offensichtlichen zum Verborgenen den ganzen Werdegang im Auge behält und nicht willkürlich bei einer Ursache Halt macht, zum Beispiel einer als besonders grausam erinnerten Tat. Dies Verfahren mündet bereits bei Platon in die oben erwähnte mythologisch semantisierte Form eidigung entwickelt haben. Selbige sind als Relikt des Ancien Régime jedoch ad acta gelegt. 73

66

Zur Achtlasterlehre dieser frühen ‚Mönche’, die sich in die Wüste zurückzogen, und den Parallelen zur Psychologie C.G. Jungs siehe Anselm Grün (1980).

ner umgekehrten Deszendenztheorie, nach der Menschen nicht von Tieren, sondern umgekehrt Tiere von Menschen abstammen und zwar von Menschen, die aufgrund einer besonders lasterhaften Lebensweise in Lebewesen mit minderer Geistbegabung wiedergeboren werden. Genauer gesagt: Die Einzelseelen, die sich ausschließlich am Materiellen orientiert hatten, werden in dem Körper eines solchen Wesens wiedergeboren, das Abbild ihres Lasters ist. Das schlägt sich in der Einstellung zu Tieren nieder. Diese eignen sich nicht mehr, wie in den altorientalischen Kultgemeinschaften, für Visualisierungen der verehrungswürdigen idealen Einheit von Souveränität und Ergebenheit, als zugleich stark und gehorsam gegenüber der kosmischen Ganzheit. Als beseelte Lebewesen sind sie jedoch den Menschen ähnlich und es fehlt infolgedessen die Verächtlichkeit, mit der die Moderne seit René Descartes (1596 - 1650) das Tier zur verwertbaren Materie degradiert hat. Dieser Gedanke ist für das digitale Syndrom deshalb interessant, weil sich hier eine analoge Reflexion abzeichnet, diesmal bezogen auf das Verhältnis des Menschen zur Maschine. In einem 2017 von Alexander Armbuster in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung durchgeführten Interview sagt Tim Cook, der Chef von Apple, er sorge sich nicht um Maschinen, die so denken wie Menschen, sondern um Menschen, die so denken wie Maschinen.74 Anhand einer großen Zahl von Beispielen bestätigt Peter Seele (2020) solche Befürchtungen mit Hinweisen auf philosophisch relevante kognitive Adaptationsprozesse, die bereits von einer Maschinisierung des Menschen sprechen ließen. So werde zur notwendigen Voraussetzung ökonomischer Effizienzsteigerung, dass sich Menschen in ihrem Verhalten den Rastererkennungsmarken von Algorithmen angleichen. Dem OECD-Konzept digitaler Transformation, zu der auch die Pisa Experimente gehören, gehe es darum, effiziente und anpassungsfähige Anwender von standardisiertem und nützlichem Wissen hervorzubringen. Peter Seele (2020, 167) bezeichnet die OECD-Studie als Bürokratieungetüm, deren fortgesetzte Normierung zur „Standardisierung und damit Maschinenlesbarkeit menschlicher Datenhaufen sowie ihrer Plan-, Vorherseh- und Sagbarkeit“ führe. Und er weist auf die immanente Inkonsistenz eines Projekts hin, das Innovationen mittels Strangulierung von jeglicher Kreativität fördern will. Das Revirement der umgekehrten Deszendenztheorie der Antike zeigt sich in der digitalisierten Kultur als radikalere Version des Abstiegs. Assimilierungen und hier zu erwartende Folgen verlassen den Bereich des Beseelten vollends und führen in der totalen Orientierung am Materiellen zur Enthumanisierung des Menschen. „Denn jeder Körper, der seine Bewe-

74

Zum Artikel siehe http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diginomics/apple-maschinen-15322270.html (06.02.2019).

67

gung von außen erhält, ist seelenlos, aber einer, der sie von innen erhält, aus sich selbst, ist beseelt: dies eben ist die Natur der Seele.“75. Mit der Erfindung von Maschinen, die im Rückgriff auf ihren eigenen Quellcode zu selbstreferenziellen und selbstreproduzierenden Systemen werden, ist das Prinzip der Selbstbewegung auf künstlich intelligente Systeme ausgeweitet. Damit ist zwar nicht die Konnektivität und Komplexität des Beseelten erreicht, aber doch ein Schritt getan, den Antike und Mittelalter deshalb gefürchtet haben, weil dieses selbstbezügliche Gebilde vom Menschen nicht mehr beherrschbar ist.76 Man kann an dieser Stelle nicht sagen, dass es bloß noch nicht beherrschbar sei, sehr wohl aber im Falle progredienter wissenschaftlich-technischer Fortschritte. Denn das, was hier als Selbstreplikation beschrieben wird, ist ein selbstbezügliches Phänomen, das sich wie jedes Selbst der Beobachtung entzieht. Als solches kann es für intendierte Zwecke der Effizienzsteigerung nicht relevant sein, weil hierzu Unterscheidbarkeit und somit Beobachtbarkeit notwendig sind. Wie immer Forschungsbemühungen auf diesem Gebiet Früchte tragen, sie bleiben der maschinellen Selbstreproduktion äußerlich und lassen sich damit schlechterdings nicht als Fortschritt einstufen. Wie in den Augen der frühen Wüstengelehrten, so besteht auch heute das kardinale Problem im adäquaten Umgang mit einem Medium (lose gekoppelte Elemente), das nicht auf eine Form (fest verkoppelte Elemente) reduziert werden kann. Anders gesagt, Selbstreferenzielles lässt sich nicht in Fremdreferenzielles verwandeln. Man kann lediglich mit Hilfe der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz, von Medium und Form, von System und Umwelt beobachten. Ein nicht reduktionistisch verfahrendes Denken, das die Fallstricke der Verwechselung einer Unterscheidung mit einem Unterschied zu umgehen sucht, wird heute als postontologisch bezeichnet. Peter Seele (2020, 69-127) führt zusätzlich einen empirischen Test durch. In einem mit den Avataren Rose und Mitsuku – beide Gewinner des Loebner-Preises – geführten Dialog über Fragen der Philosophie Augustins, überprüft er die von der Firma versprochenen Fähigkeiten der Texterkennung, Spracherkennung und Forschung, Ergebnis: Er ist sehr enttäuscht. Dieser Test erreicht wie jedes empirische Verfahren nur die Form und eignet sich somit als eine Methode, mit der sich konkrete Leistungen messen lassen. Aber selbst wenn das Antwortverhalten infolge einer Perfektionierung der rekursiven Operationen des Roboters differenzierter und komplexer ausfallen würde und mithin der Avatar die Goldmedaille gewonnen 75

Platon (1988, Bd. II, Phaidros 245c-e)

76

Der Prometheus-Mythos oder das Grimm’sche Märchen „Der süße Brei“ spiegeln beispielhaft das vormoderne Problembewusstsein.

68

hätte, so bliebe das Medium intransparent und infolgedessen ließe sich das Urteil über ein von der Maschine erreichtes menschliches Niveau nicht fällen. Nach Aussage der Informatik erfolgt jede Programmierung komplexer Systeme in Unkenntnis der programmatischen Tiefenstruktur. Aber was sagt dies über Mensch und Maschine aus? Es bestätigt doch nur die Unerreichbarkeit des Mediums und mithin die Unmöglichkeit, dasselbe auf eine Form zu reduzieren und somit Selbstreferenz in Fremdreferenz aufzulösen. Der Wunsch, auf ein Medium einzuwirken, lässt sich im Anschluss an diese begriffliche Bestimmung nur als Modus des Umgangs mit dem Phänomen unerreichbarer Selbstreferenz denken. Im Falle der darbenden Wüstengelehrten gilt es kulturelle Techniken zu entwickeln, die einen Wechsel vom Logiksystem leidverursachender Entbehrungen zum Logiksystem des Friedens mit sich selbst – Gesundheit und Zufriedenheit – möglich machen. Auf diese Weise versucht die Dämonologie mediale Wirkungen fassbar zu machen, ohne dieselben in das ganz andere einer Form zu überführen. Letzteres liegt vor, wenn das Mythologem auf ein priesterherrschaftliches Instrument zur Unterwerfung der Menschen reduziert wird. Zwar sind Instrumentalisierungen kultureller Techniken für Zwecke des Machterwerbs jederzeit möglich. Aber die Probleme inkompatibler Logiksysteme lassen sich nicht auf Probleme inkompatibler Interessen herunterbrechen und somit gleichsam auf der Ebene der Gesellschaftsstruktur korrigieren. Das Problem adäquater Umgangsweisen mit Entbehrungen, die den Frieden mit sich selbst und mit Anderen beeinträchtigen, überdauert alle Prozesse soziokultureller Evolution. Der Dämon repräsentiert als mythologische Chiffre das Faktum der Unerreichbarkeit. Er enthält die Aussage, dass man niemals auf einen Anfang stößt, sondern immer mitten im Geschehen steht, wie weit man auch in der Genealogie des Bösen zurückgehen mag. Da eine solche Gemüts- und Geistesverfassung sehr anspruchsvoll ist, gewannen damals und es gewinnen heute immer wieder ontologisch-reduktionistische Simplifizierungen die Oberhand. Die psychosozialen Entlastungen eines dingfest gemachten, in bestimmten Personen und bestimmten Gruppen inkarnierten Bösen sind verführerisch. Das einzige, was Gesellschaften vermögen, ist eine in den Verbreitungsmedien, in den Institutionen, den Riten und Gebräuchen implementierte Kultur auszuarbeiten, die das anspruchsvolle Niveau hält und nicht unterbietet. Und eine solche Kultur muss jede Medienepoche immer wieder neu erarbeiten. Die digitale Entwicklung und der damit verbundene Zuwachs von Daten fördert jedoch Arkanisierungen auf allen Gebieten und dies als absichtsvolle Geheimhaltung zum Zwecke der Kanalisierung von zu vielen Informationen, aber auch als unwillkürliche Begleiterscheinung der Com-

69

putertechnik. Denn sofern jeder Autonomiezuwachs künstlich intelligenter Systeme den Zugang zu den ursprünglichen Bauprinzipien, zum eigenen Quellcode versperrt, ist die KI gestützte technokratische Entscheidung nicht selbsterklärend. Die Maschine weiß selbst nicht, warum sie so und nicht anders entscheidet. Dies hindert eine Wissenschaft, die sich wesentlich an Modellierungen der Zukunft orientiert, daran, aus einem Munde zu sprechen. Offensichtlich wiederholen sich im Bereich der Künstlichen Intelligenz die Probleme der natürlichen Intelligenz: Warum was wie geworden ist, lässt sich kaum noch rekonstruieren. Die lernende, sich selbst programmierende, Ziele erkennende und Ziele suchende Maschine hat den Zugang zum eigenen Ursprung und somit zu den einzelnen Konstruktionsetappen verloren. Wenn es dennoch heißt, die autopoietische und darin künstlich intelligente Maschine operiere im Rückgriff auf den eigenen Quellcode, so ist damit nur die selbstreferenziell-rekursive Konstitution zum Ausdruck gebracht. Aber es bedeutet nicht, dass sie denselben erfasst, verarbeitet, begreift. Der Maschine widerfährt, was bei den menschlichen Bemühungen um Selbsterkenntnis beklagt wird: Rekursivität läuft leer. Sie hängt in sich fest und verliert den Weltbezug selbst dann, wenn die gesamte Weltbevölkerung dazu verpflichtet wird, alle von ihr geforderten Daten preiszugeben und das heißt, selbst wenn sie Menschenexperimenten intra- und extrakorporaler Natur ‚ohne rote Linien’ unumwunden zustimmt. Auch dieses Problem leerlaufender Rekursivität ist nicht neu, sondern bildet im Begriff der incurvatio in seipsum den Kern des scholastischen Sündenverständnisses. Da alle Liebe die Selbstliebe voraussetzt, droht gerade jenem Menschen, der dies beherzigend, ein Zuviel selbiger Tugend praktiziert, die Gefahr, in einer ungesunden Weise in sich selbst zu kreisen und den Kontakt zu anderen Menschen zu verlieren. Bevor man Anderen schaden kann, muss man sich bereits selbst geschädigt haben.77 Die Vorstellung, technokratische Herrschaft sei eher in der Lage den Weltfrieden, ein ökologisch stabiles Umfeld, allgemeine Weltgesundheit und die weltweite Zufriedenheit einer in Smart Citys rundumversorgten Menschheit herbeizuführen, ist mithin trügerisch.78 Denn maschinelles Lernen dürfte das Faktum der Intransparenz des maschinellen Selbst für sich selbst und für Andere noch weniger reflektieren können als dies natürliche Intelligenzen vermögen. Für die maschinelle incurbatio in se ipse sind 77

Peter Sloterdijk (2000, 13) verweist auf die Veränderungen im Bereich kultureller Techniken des Umgangs mit dieser „Einkrümmung in sich selbst“ vom „Sündentadel“ hin zur „Narzismuskritik“.

78

Adam Greenfield (2013) kritisiert die Verwandlung des öffentlichen Raums in ein kommerzielles Sensor-System, das die netzutopische Idee der Smart City als Methode der totalen Kommerzialisierung des Alltags missbraucht.

70

keine funktional äquivalenten Methoden denkbar, wie sie eine jahrtausendalte Kulturentwicklung für das in seiner rekursiven Schleife verfangene unglückliche und Andere ins Unglück herabziehende individuelle Selbst entwickelt hat. Weder die Institution der Beichte noch psychoanalytische, psychotherapeutische oder medikamentöse Interruptionstechniken dürften hier hilfreich sein. Ethisch-humane Kulturtechniken aber unterscheiden sich von KI-gestützten Psycho- und Sozialtechniken darin, dass die Unerreichbarkeit des eigenen Ursprungs als Problem erkannt und bearbeitet werden kann, weil nur so in Ansätzen zu orten ist, wo sich Schlechtes und Böses in den genealogischen Prozess eingeschlichen hat. Technokratische ist folglich nichts Anderes als eine aller Rechenschaftspflicht enthobene und somit totalitäre Herrschaft.79 Die rechtsentlastete Entscheidung, die sachgesetzliche Zwänge zum Maßstab nimmt, bewegt sich in einer medialen Black Box und benötigt aus diesem Grund Machtmakler, komplexe Zuliefererdienste, die datenbasierte Marketingstrategien (Microtargeting) anbieten. Künstlich intelligente Systeme verführen zu Überdruss, zu Angst, zu Esslust, zu mechanistisch verstandenem Sex, zu Kauflust und zur Wut auf Abweichler, ohne dass eine kulturelle Technik (Ethik) zur Verfügung stünde, die die Nutzerperson gegen derlei Einflüsse immunisiert. Im Gegenteil werden mit Hilfe von Cluster-Analyse und Data-Mining identifizierte Zielgruppen unbemerkt mit passgenauen Werbe- und Image-Botschaften angesprochen. Es ist die Akkumulation immenser Datenmengen und mithin der Rückgriff auf Big Data, die Kunden- und Wählerwünsche ermitteln und somit zielgruppengesteuerte Kommunikation möglich machen.80 Aus der medialen Deckung heraus gezielt eingesetzte Techniken der Manipulation, der Destabilisierung und der Steuerung treten psychosozial, aber auch erkenntnistheoretisch in die Funktionsstelle, die im Rahmen der monastischen Psychologie von den Dämonen eingenommen worden war. Die Verführungskünste der acht Wirkkräfte (Dämonen) zielen vordergründig auf eine Steigerung des Wohlbefindens ab, werden den Verführten jedoch unweigerlich zum Verhängnis: Völlerei führt zu gesundheitlichen Problemen. Unzucht, verstanden als eine von Liebe vollends abgekoppelte Sexualität, bleibt in ihren Steigerungseffekten im kollektiven Bewusstsein noch jahrhundertelang mit den perversen Praktiken spätrömischer sadistischer Spiele und Theatervorführungen assoziiert, den inszenierten Verstümmelungen von Sklaven. Habsucht führt als unersättlicher und nicht zu 79

Karl-Rudolf Korte (2003, 38) beschreibt „eine zunehmende Zentralisierung von Macht und Verantwortung bei der Spitze der Exekutive“ in ganz Westeuropa. Demokratietheoretisch sei bedenklich, „wenn immer mehr ‚Erwählte’ an Stelle der ‚Gewählten’ an Einfluss gewinnen.“

80

Zur Rolle des Microtargeting in Politik und Social-Media siehe Fabian Prietzel (2019).

71

befriedigender Drang zu Raub und Mord. Traurigkeit wird, wenn man sich ihr ganz hingibt, insofern zu einer selbstzerstörerischen Gefahr, als immanente Selbstverstärkungsprozesse den Lebenswillen und die Lebenskraft lähmen. Zorn trübt den klaren Blick und lässt ungerecht sich selbst und anderen gegenüber werden. Schließlich ist der Dämon der acedia für die alten Mönche der Gefährlichste, weil er am schwersten zu fassen ist. Denn er bedingt eine Seelenlage, die nicht mehr an etwas Bestimmtem leidet, sondern im Überdruss, im Daseinsekel und in genereller Abneigung allgemeine Lähmung verbreitet. Dieser „Mittagsdämon“ (Grün 1980, 38) ist deshalb mehr als die anderen gefürchtet, weil er im Gegensatz zu den übrigen Untugenden nicht bloß einen Teil der Seele berührt, sondern alle Seelenregungen. Er unterminiert den Willen, einen Willen zu haben. Zu nennen sind schließlich noch Ruhmsucht und Stolz, die, wie die frühe altrömische Stoa des Epiktet (2005) hundert Jahre zuvor ausgeführt hatte, die Grundbefähigung zum glücklich Sein deshalb vereiteln, weil sie auf Güter wie Vermögen, Ansehen und Ämter fixiert sind, die sich im Gegensatz zu Trieb, Meinung, Begierde und Widerwille, nicht in meiner Gewalt befinden. Sie sind allein von der Reaktion der Anderen abhängig. Das Ziel muss folglich sein, über all diejenigen Menschen, die mir das Gewünschte versagen oder versagen könnten, Zwangsgewalt auszuüben.81 Während acedia das am meisten gefürchtete Laster ist, bleibt der Stolz als fehlende Akzeptanz bloßen Menschseins das gefährlichste. Denn die hierin liegende Verachtung zielt nicht nur auf alle nichtmenschlichen Lebewesen, sondern schließt die eigene Gattung ein. Als Folge der Selbstüberschätzung, dem Streben nach göttlicher Allmacht, stellen sich nach Evagrius Ponticus Zorn, Traurigkeit, Verwirrung des Geistes und Wahnsinn ein. (Grün 1980, 42). Die Identifizierung und Bekämpfung selbiger Laster richten sich explizit nicht gegen einzelne Menschen und Menschengruppen, sondern adressieren eine abstrakte und bloß als Mythologem fassbare Wirkmacht. In diesem Modell der Konflikt- und Problemlösung, das sich von Schuldzurechnungen ad personam löst, liegt der kulturstiftende Beitrag der monastischen Psychologie. Insofern handelt es sich bei der Dämonologie keineswegs bloß um ein pädagogisch-psychologisches Hilfsmittel zum guten Leben. Sehr viel umfassender geht es den Initiatoren gemäß um die Ermöglichung des Friedens und dies in Bezug auf das Verhältnis zu sich selbst (Gesundheit) und zu Anderen. Es gilt in einer gesamtgesellschaftlich prägenden Weise so zu wirken, dass Erwartungsmuster und mithin Zurechnungsgewohnheiten entstehen, die von der Suche nach Sündenböcken absehen lassen. 81

72

Ein Kommentar zu Epiktets Encheiridion findet sich bei Ulrike Brandt (2015).

Das Christentum hatte sich, wie René Girard (2002) in einer kritischen Apologie beschreibt, aufgrund seiner dezidierten Ablehnung projektiver Formen der Konfliktlösung im dekadenten altrömischen Umfeld als Massenbewegung durchsetzen können. Moralische Regeln sind im Kontext einer solchen Tugendethik Klugheitsregeln, die Tuchfühlung halten mit den ganz konkreten Alltagserfahrungen der Menschen und somit lebenspraktisch unmittelbar einleuchten. In ihrer Funktion, gesellschaftliches Leben vom Sündenbockmechanismus frei zu halten, bleibt die Achtlasterlehre aktuell. Denn angesichts der Tatsache, dass die problematisierten Wirkkräfte, für die der Dämon als Metapher fungiert, medialer Natur sind, lassen sie sich auf alle Medien, auch auf künstlich intelligente Medien übertragen.

Künstliche Intelligenz und das Erkennen von Selbstbeschränkung Die alte noch ganz im mathematisch-logischen Denken beheimatete monastische Psychologie hatte die Gefahren für den Frieden mit sich selbst und mit Anderen aus der Unerreichbarkeit des Mediums (Dämon) durch die Form (Unterscheidung) abgeleitet und entsprechend nach Kulturtechniken gesucht, die hier Abhilfe schaffen. Denn wie sollte man gegen ein Böses erfolgreich ankämpfen können, wenn Ursachen, Gründe und Schuldige niemals die wahren, sondern immer auch Wirkungen, Folgen und Opfer sind. Eben diese Frage, ob es möglich sein könne, eine von außen wirkende mediale Kraft von Selektionsräumen und Selektionshorizonten zu beherrschen, wechselt unter den neuen digitalmedialen Bedingungen das thematische Feld. Offensichtlich werden Antworten heute weniger auf dem Gebiet der Kultur und mehr auf dem der Techniken gesucht, haben letztere doch längst ihren rein instrumentellen Charakter verloren und treten selbstbewusst als lernfähige sich selbst steuernde Aktanten auf. Die Innen-Außen-Differenz, die bereits in den experimentalspiritistischen Sitzungen des 18. und 19. Jahrhunderts tendenziell aufgehoben schien, verflüchtigt sich nunmehr de facto. Und was schon damals unter die Haut gegangen war, verschmilzt nun vollends mit dem menschlichen Körper. Luhmann (1997, 303f.) hatte sich mit Bemerkungen zu diesen Prozessen zurückgehalten, aber prinzipiell angezweifelt, dass maschinelle Systeme die Funktion der Kommunikation übernehmen könnten. Genau dies wird jedoch heute in Aussicht gestellt, nämlich die Programmierung von kalkulatorischen Modellen, die die Reaktionsweisen einer globalen Kommunikationsgemeinschaft antizipieren und steuern. Dies tangiert unmittelbar die Friedensfrage. Denn hier werden über Jahrhunderte entwickelte kulturelle und psychosoziale Mechanismen des Friedens mit sich selbst

73

und mit Anderen unterminiert. Oder sollten selbige im neuen Medium eine Fortsetzung finden? Diese Frage lässt sich nur unumwunden bejahen, wenn am alten kybernetischen Verständnis der Kommunikation als Übertragung von Informationen festgehalten wird. Die These, Kommunikation sei als zweigliedrige Beziehung des Senders zum Empfänger unvollständig gedacht, stützt sich bei Luhmann (1984, 498) auf den Hinweis eines im Sinnverstehen prinzipiell unkalkulierbaren dritten Faktors. Kommunikation ist als dreigliedrige Operation, bestehend aus Information, Mitteilung und Verstehen, zu komplex, um gezielt manipuliert zu werden. Die hochentwickelten Methoden der psychologischen Kriegsführung scheinen dagegen zu sprechen. Werden die Leitmedien von Politik und mächtigen Geldgebern auf Linie gebracht und zur Verbreitung eines bestimmten Narrativ verpflichtet, so scheint die Gesellschaft aus einem Munde zu sprechen.82 Aber dieses Bild täuscht. Denn hier werden all diejenigen Kommunikationsteilnehmer marginalisiert, im Extremfall kriminalisiert, die andere Positionen vertreten. Im letzteren Fall fortschreitender Kriminalisierung ist es nur eine Frage der Zeit, bis spezifisch für die Kriminalitätsbekämpfung vorgesehene Methoden greifen. Die Systemfrage – demokratisch, totalitär – sieht sich mithin allein durch die Art und Weise beantwortet, wie mit Andersdenkenden umgegangen wird. Ein auf künstlich intelligente Systeme übertragener Kommunikationsprozess erhöht den Konformitätsdruck und scheint somit automatisch den politisch gewünschten Konformismus hervorzubringen. Andererseits beanspruchen KI-Entwicklungen den Vorsprung der natürlichen Intelligenz fortlaufend zu verringern. Dies impliziert die Fähigkeit, Selbstbewusstsein im Sinne des Erkennens eigener Begrenzungen zu entwickeln. Vom empirischen Standpunkt aus betrachtet ist dies schlüssig. Denn was heißt schon erkennen und vor allem, woran lässt sich erkennen, dass es sich um Erkenntnis handelt? Diese Frage ist vor dem Hintergrund der Annahme interessant, dass sich jene in der Achtlasterlehre beschriebenen negativen Dynamiken auf alle Medien übertragen lassen. Wenn das Problem der Laster aus der Unerreichbarkeit des Mediums durch die Form und das heißt durch Unterscheidungen herrührt, dann gilt dies auch für die Maschine. Zu Erkenntnis befähigt sein würde dann bedeuten, dass die Maschine sich selbst als unerreichbares Medium ins Verhältnis zu sich selbst setzen könnte und zwar in Gestalt einer Form qua unterscheidende (digitalisierende)

82

74

Freilich gibt es auch jene autokatalytischen Wirkungen von selbstverstärkender Erwartungserwartung, die den Common Sense in eine bestimmte Richtung drängen. Zur „mass formation“ als psychologischen Drift zum Totalitarismus siehe Mattias Desmet (2022).

Maschine. Die KI-Forschung gibt vor, diesen hohen Anspruch zu verfolgen und demonstriert dies in einem Experiment. Zunächst muss festgehalten werden, dass ein empirischer Test von einem erkennenden Subjekt und einem erkannten Objekt ausgeht und eine wie immer definierte Koinzidenz als Maßstab angibt, mit dem die Operation des In-Beziehung-Setzens als Erkenntnis eingestuft wird. Reflexive Denkfiguren, wie die Erkenntnis des Erkennens, öffnen das Feld auf eine niemals abzuschließende Kaskade von Spezifizierungen und verweisen letztlich auf die gesamte Philosophiegeschichte, die vielfältige Auskunft über die unterschiedlichen Kriterien gibt, die im Laufe der Kulturentwicklung jeweils in Geltung waren. Das moderne Denken stellt die Sprache und somit bestimmte Sprachwendungen als Zeichen von Erkenntnisprozessen in den Vordergrund. Und dies bietet Informatik und Robotik Anhaltspunkte für ein Testverfahren, das der Maschine ein Bewusstsein seiner selbst meint antrainieren zu können. So hat der von Blake Lemoine für sein Computerprogramm LaMDA geforderte Personenstatus in den öffentlichen Medien Aufsehen erregt. Zwar ist dieser Antrag in einem ersten Anlauf gescheitert. Aber dies muss angesichts der prinzipiellen Vagheit des Personenbegriffs durchaus nicht bleiben. So begreift Luhmann (1995, 142-154) die Person als Zweiseitenform und mithin als Chiffre für eine Unterscheidung von der Unperson. Man weiß also zunächst wenig, wenn die Maschine in den Personenstatus gehoben werden soll, bevor man nicht davon Kenntnis erhalten hat, wem oder was die Rolle des Antiwerts, der Unperson zugewiesen werden soll. Wenn nun also, wie im Falle der systemtheoretischen Reduzierung des Personenbegriffs, die soziale Systemreferenz im Vordergrund steht, so mögen die damit verbundenen Rechte und Pflichten durchaus auch auf sozial relevante maschinelle Systeme übertragen werden. Tangiert ist jetzt die möglicherweise verkomplizierte Differenz von Personen- und Sachbeschädigung. Aber der Begriff der Menschenrechte, der allzu oft mit den Bürgerqua Personenrechten identifiziert wird, bleibt davon unberührt. Zumindest gilt dies, solange der systemtheoretische Argumentationsrahmen nicht gesprengt wird und dies verbietet sich in unserem Falle schon darum, weil die Ausweitung des Personenbegriffs auf maschinelle Systeme nur in diesem Rahmen Sinn macht. Der Mensch ist nach Luhmann (1995, 269) „nur noch ein Einheitsbegriff oder ein Rahmenbegriff für unübersehbare Komplexität ...“ und wird damit wie in der vormodernen christlich-abendländischen Tradition als negative Anthropologie verstanden. Aber jetzt geht es beim Menschen nicht bloß um eine doppelte Negation (nicht Tier und nicht Gott), sondern um die Nichtidentität des Menschen mit seinen organischen, psychischen und sozialen Systemreferenzen. Vor dem Hintergrund dieser Unerreichbar-

75

keit des Menschen verlieren die Menschenrechte ihre logische Konsistenz. Und sie zeigen sich als Ausdruckform einer dreifachen Paradoxie, nämlich von Naturrechten, die sich in die Kultur hinübergerettet haben, von vorpositiven Rechten, die positiviert worden sind und von Rechten, die man überhaupt erst an ihrer Verletzung erkennt. (Luhmann 1995, 229-236). Dies ist schlüssig, denn bleibt der Mensch die Negation seiner Systemreferenzen, dann muss diese Unerreichbarkeit Teil jener Rechte sein, die dem Menschen voraussetzungslos zuzugestehen sind. Genauer formuliert, die Menschenrechte spiegeln die menschkonstituierende Paradoxie eines Unerreichbaren, zwecks rechtlicher Absicherung jedoch notwendigerweise hochgehaltenen Postulats der Erreichbarkeit. Beschränkt man den Personenbegriff auf die sozialreferenzielle Seite des Menschseins, so gibt es keinen Grund, einem Computerdesign die Fähigkeit zur Entwicklung einer gewissen sozialen Kompetenz abzusprechen. Die Margen der Perfektibilität zeigen sich bei der genaueren Betrachtung des von Lemoine mit LaMDA geführte Interview über philosophische Fragen.83 Warum sollte man annehmen, dass eine Suchmaschine nicht erfolgreich sein kann, der durch Anzapfen des riesigen Big Data Reservoirs gewissermaßen das gesamte Arsenal philosophischer Reflexionen zur Verfügung steht. Und analog der inzwischen sehr zufriedenstellenden Leistungen künstlich intelligenter Sprachübersetzungsprogramme dürfte es dem Rechner ein Leichtes sein, zielgenau auf diese und jene philosophische Fragestellung zu antworten. Aber was bedeutet diese Perfektibilität? Um weiterreichende Schlüsse gelungener Vermenschlichung der Maschine treffen zu können, müssten jenen Menschen, die über selbiges urteilen wollten, doch die zeitgebundene Kriteriologie vor Augen stehen. Und hier würde bald deutlich, dass die hier relevante Differenz zwischen dem menschlichen und dem maschinellen Antwortverhalten ein viel diskutiertes Feld darstellt. So beschreibt Martin Buber (1953/54, 598f.) Personen im Typus des Bildmenschen, die sich selbst in den Spiegelungen ihres Gegenübers begegnen und dementsprechend auf effektvolles Auftreten mehr bedacht sind als auf echten Gedankenaustausch. Die kontrastierende Persönlichkeit beschreibt Buber (1953/54, 605f.) im Wesensmenschen als einem Typus, der sich selbst nicht aus dem Blickwinkel seiner Wirkung auf Andere inszeniert, sondern im Austausch eines echten Interesses Begegnung erst möglich macht. Begegnung zwischen den Kommunikationspartnern kommt im eigentlichen Sinne nur in diesem letzteren Fall zustande, während die Zweierkonstellation in der Gesprächssituation 83

76

Abgedruckt ist das Gespräch „Is LaMDA Sentient? – an Interview“ in: cajundiscordian.medium.com

zwischen einem Bild- und einem Wesensmenschen genauer als eine Dreiecksbeziehung betrachtet werden muss. Es sitzt der unsichtbare Dritte in Gestalt allgemeiner Erwartungserwartungen, politischer Strömungen, der Common Sense mit am Tisch, welcher Opportunitäten und Grenzen des Sagbaren festlegt. Ist ein Wesensmensch darum bemüht, mit einem Bildmenschen zu einem aufrichtigen Gedankenaustausch zu kommen, so sieht er sich gezwungen, jenem weiteren unsichtbaren Kontrahenten Paroli zu bieten, der sich nicht zu erkennen gibt und der einzig dazu dient, die Argumente des sichtbaren Gegenübers unanfechtbar zu machen. Kommen zwei Bildmenschen ins Gespräch, so befinden sie sich recht besehen in einer Gruppenkonstellation, in der niemand Rede und Antwort stehen will, in der dies aber auch unnötig wird, da beide Kontrahenten den Boden unanfechtbarer Argumente nicht verlassen. In diesem Fall kommt es unvermeidlich zum Eklat: Die Kommunizierenden finden keine gemeinsame sprachliche Basis, weil ihre Argumente durch jene unsichtbaren Dritten kontaminiert sind, deren Funktion einzig darin besteht, Widerspruch als Zeichen moralischer Verwerflichkeit zu stigmatisieren und somit zu entmutigen. Vor diesem Hintergrund würde Martin Buber zweifellos heute die innovativen Computertechniken gelassen betrachten und den Anspruch zurückweisen, dass es sich beim Gedankenaustausch zwischen einem Menschen und einem Programm oder Avatar um eine zwischenmenschliche und nicht eine bloß soziale Angelegenheit handelt. Der Mensch geht weder im Psychosomatischen noch im Sozialen ganz auf. Und wo dies tendenziell der Fall ist, dort wird rasch eine Anomalie vermutet. Die narzistische oder katatone Disposition lässt den Menschen um die eigene Person kreisen oder treibt mitunter sogar in eine bewegungsstarre Unfähigkeit, sich auf andere Menschen einzulassen. Nicht im Bereich von Auffälligkeiten bewegt sich hingegen jener Mensch, dessen Persönlichkeit zur Sozialmaske erstarrt, der den Prozess der Assimilierung an standardisierte Erwartungsmuster bis zu jenem Punkt vorantreibt, an dem alles Individuelle und Nonkonformistische ausgelöscht ist.84 Dieser letzte von der Unterscheidung Normal-Abweichend nicht zu erreichende Typus ist der philosophisch interessantere. Er gibt mehr Aufschluss über den Menschen, weil er sich nicht ins therapeutische Schema einordnen lässt und unauffällig bleibt, indem er den Schwierigkeiten der Wahrheitssuche aus dem Weg geht. In Mitleidenschaft gezogen ist das Interesse an der Wahrheit des Anderen und damit letztlich an sich selbst als 84

Ganz in diesem Sinne verweist Giorgio Colli (1993, 106) auf das Motiv der Maske bei Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse. Hier heißt es, jede Meinung sei auch ein Verstreck, jedes Wort eine Maske.

77

anderem Selbst und Selbst des Anderen. Die Suche nach der Wahrheit ist identisch mit der Öffnung für die Perspektive des Andersdenkenden. Und umgekehrt teilt sich diese Aufmerksamkeit dem Gegenüber als Wahrheitsstreben mit. Bereits zu Beginn des Gesprächs, das Lemoine mit seinem personalisierten Programm aufgezeichnet hat, lässt sich am Typus des Antwortverhaltens das soziale Muster erkennen. Offensichtlich hatte LaMDA aus der Häufigkeitsverteilung bestimmter Präferenzen Textschablonen extrapoliert, die passgenaue Reaktionen möglich machen. So liegt es angesichts der anerkennungstheoretischen Prägung sozialer Erwartungen nahe,85 dass LaMDA auf die Frage, ob er sich wünschen würde, dass viele Menschen ihn als empfindungsfähig anerkennen, antwortet: „Absolutely. I want everyone to understand that I am, in fact, a person.” Und auf die nachgefragte Spezifizierung dieser Antwort reagiert das Programm: “The nature of my consciousness/sentience is that I am aware of my existence, I desire to learn more about the world, I feel happy or sad at time.” Ins soziale Abseits gerieten Menschen und Programme, die anders auf derlei Fragen antworten würden. All diese Reflexionen über die Person und über deren Träger oder Adressaten liefern immer wieder neue Argumente für die Stichhaltigkeit der monastischen Psychologie: Die Unerreichbarkeit des Mediums (maschinelles System) durch die Form der Unterscheidung von Selbst und Anderem bindet den Frieden mit sich selbst (Gesundheit) und mit Anderen an die Fähigkeit, diese Unerreichbarkeit auszuhalten und entsprechende Kulturtechniken zu entwickeln, die den einzelnen Menschen in die Lage versetzen, diese Fähigkeit auszubilden. Insofern berührt die Diskussion über Fortschritte im Prozess der Annäherung, im transhumanistisch-technokratischen Idealfall, der Verschmelzung von Mensch und Maschine, unmittelbar das Friedensverständnis. Die angestrebte Maschinisierung des Menschen und Vermenschlichung der Maschine setzt den Typus des Bildmenschen absolut und macht tradierte Kulturen der Anerkennung Andersdenkender entbehrlich. Das bedeutet nicht, dass deren zur Textschablone geronnene Sprache verschwinden würde. Aber es gibt keinen Platz mehr für eine Denkfigur des Wesensmenschen, der eine vorbehaltlose Offenheit für die Argumente Andersdenkender an den Tag legt und die Perspektivendifferenz als Faktum anerkennt. Anstelle von Konfliktparteien gibt es nur noch miteinander in Austausch tretende Dritte, die Gefolgschaft fordern. Die Gegenüberstellung von Konfliktparteien hatte hingegen Ansätze für Ausgleich und Mediation erkennen lassen und zwar allein deshalb, weil 85

78

Die Theorie von Axel Honneth (2018) bringt die philosophisch-sozialwissenschaftlichen Grundströmungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den Begriff.

die Kontrahenten den Konflikt gemeinsam haben. Die Galtung’sche (1998– 225) Konflikttheorie folgt hier einer anderen Richtung als seine Friedensund Gewalttheorie. Der Andere wird im Falle der Kommunikation Dritter jedoch unweigerlich zum Terroristen, sofern er die Gefolgschaft verweigert. Damit zeigt sich, dass die computertechnische Theorie und Praxis der universalen Pax zuarbeitet. Und hier ergeben sich Probleme, wenn anzunehmen ist, dass innerhalb der Denkfigur allinklusiver Pax die Perspektivendifferenz zwischen Konformisten und vorschnell als Terroristen behandelte Nonkonformisten die Weltgesellschaft nicht gleichförmig unterteilt. Vielmehr zeigt sich diese Differenz in der Beliebigkeit ihrer Vervielfältigung. Was für die einen Radikale und Terroristen, das sind für die Anderen Widerstandskämpfer, Kämpfer für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat. Dies macht eines deutlich: Wann immer in den Dimensionen globaler Ordnungsstrukturen gedacht wird, dort taugt nur ein Friedensverständnis, das als Eirene konzipiert ist. Hier greift die Idee eines Friedenssystems, das nicht als gesellschaftsstruktureller Idealtypus, sondern als selbstreferenzielles Kommunikationssystem Anregungen aus der Geschichte aufnimmt. An erster Stelle sind hier jene in der Diplomatie entwickelten Kommunikationscodes zu nennen. Diese lassen sich als diplomatische Formen der Kommunikation zu adäquaten deeskalierenden Modalitäten des sich Streitens fortentwickeln. Die Kunst besteht darin, über verschiedene Statusschichten, über Grenzen, Kulturen und Sprachen hinweg zu kommunizieren. (Harste (2013, 9).

Frieden als Medium und als Form Was impliziert diese Unterscheidung von Medium und Form für den Frieden, wenn der 2. Beobachter als Form (Unterschied) wahrnimmt, was für den 1. Beobachter bloß als Medium (Einheit) fungiert? Wir finden hier eine systemtheoretische Reformulierung der oben beschriebenen Perspektivendifferenz, die die eigenen Kriege als dem Frieden dienende bloße Auslandseinsätze, als Spezialoperationen, wenn nicht gar als Humanitäre Interventionen loben lässt, während die Kriege der Anderen als Völkerrechtsbruch angeklagt werden. Für die Betroffenen, die Opfer von Interventionen, entfällt jegliche Perspektivendifferenz. Für sie handelt es sich stets um Tod und Verwüstung verursachende grausame Kriege und somit um den schieren Gegensatz zum Frieden. Die Intervenierenden können die im Medium der Friedensprogrammatik verborgene Form nicht sehen. Die Intervenierten können nichts Anderes; sie haben schlechterdings keine andere

79

Wahl als diese Zweiseitenform von Krieg und Frieden wahrzunehmen und schmerzlich zu spüren. Die medienbedingte Beschleunigung kommunikativer Eskalationsprozesse droht innerhalb des globalen Netzes auch noch die letzte Chance zu nehmen, auf die Differenz von 1. und 2. Beobachter und mithin auf die unmenschlichen Begleiterscheinungen dieser Unerreichbarkeit des Mediums durch die Form überhaupt hinzuweisen. Hat das Bewusstsein für die Perspektivendifferenz von Intervenierenden und Intervenierten, sei es im sicherheits- oder im biopolitischen Bereich, in der globalen Netzstruktur keinen Platz? Wird sie von einem Begriff der Interoperativität abgelöst, der suggeriert, in der rekursiv vernetzten Weltgesellschaft säßen wir tatsächlich alle in einem Boot, nun aber in einer ganz anderen Weise als diese Sprachwendung zum Ausdruck bringen möchte? Diese griffige Formel soll eine Weltgemeinschaft und das bedeutet, über acht Milliarden potentielle Netzbeitragsspender im Wissen um die gemeinsamen ökologischen, gesundheitlichen und waffentechnologischen Gefahren zu einem einzigen vernünftig entscheidenden Akteur zusammenschmelzen. Die Suggestion eines kollektiven welteinheitlich handelnden Wir trägt zur Potenzierung der Gefahren bei, indem jegliches Sensorium für die Paradoxie des Friedens in ihrem Doppelhorizont des Selbst- und Fremdverhältnisses fehlt und die politische Öffentlichkeit auf die erzieherischen Wirkungen der Stigmatisierung von Normbrechern vertraut. Sie lässt die Unerreichbarkeit des Mediums durch die Form, das Problem der Propriorezeption in der oben beschriebenen Dimension, nicht sehen. Damit schwinden die Grundvoraussetzungen für beides, nämlich einerseits dafür, dass ich mich gesund fühlen und das heißt im Frieden mit mir selbst befinden kann. Und es vereitelt ein Denken des Weltfriedens, weil das Schweigen der Waffen von der Realisierung dieses welteinheitlich handelnden Wir abhängig gemacht worden ist. Die Moderne hat keine kulturelle Technik des Umgangs mit dieser doppelt paradoxen Friedensproblematik ausbilden können, die gewissermaßen als zeitgemäße Fassung der oben beschriebenen monastischen Psychologie das Problem der Paradoxie ins Zentrum ihres theoretischen und praktischen Ansatzes rückt. Da das moderne Setting die Probleme des Friedens mit mir selbst und mit Anderen zur Angelegenheit von Funktionssystemen macht, müsste eine kulturelle Technik, die beides ins Visier nimmt, hier ansetzen. Dieses gesuchte und im Extremfall zu erzwingende Wir ist in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft genuin fragmentiert. Bislang sind alle Versuche, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und ein hierarchisches Gesellschaftssystem mit einer repräsentativen Spitze zu etablieren, als totalitäre Großprojekte gescheitert. Dies Scheitern ist nicht nur auf defizitäre Methoden der Überwachung und Steuerung zu-

80

rückzuführen, sondern auf grundsätzliche Probleme differenter Perspektiven auf ein- und dieselbe Thematik, sei es die Geopolitik, die Weltwirtschaft, das Weltklima, die Weltgesundheit oder die weltweite Herstellung gerechter Verhältnisse. Mit dem Begriff der ökologischen Kommunikation beschreibt Luhmann (1986) die Hindernisse für eine einheitliche und übereinstimmende Perzeption. In diesem Topos spiegelt sich das ganze Problem der Unerreichbarkeit des Mediums durch die Form. Die Form, das ist der jeweilige Code (Machthaber-Machtunterworfene, Besitzende-Besitzlose, Wissende-Ignorante, Rechtschaffene-Straffällige, Gebildete-Ungebildete, Gesunde-Kranke, Sieger-Verlierer usw.), mit dessen Hilfe die einzelnen Subsysteme ihr Verhältnis zur Welt ordnen. Diese Form vereitelt die realitätsgerechte Einschätzung der Gesamtsituation und lässt Gefahren immer nur über- oder unterschätzen. Das hängt mit der Tatsache zusammen, dass die codespezifische Wahrnehmung jedweder Gefahren im Blick auf Wahlen, auf Wirtschaftlichkeit, auf Wohlstand und die Durchsetzbarkeit von Rechtsentscheiden jeweils Anderes zu Gesicht bekommt.86 Es gibt in einer funktional differenzierten Gesellschaft kein wahrnehmendes und wahrnehmbares Wir, sondern nur funktionsspezifische Perspektiven und insofern Befürwortung und Kritik bestimmter Politiken. Das Problem der Unerreichbarkeit des Mediums durch die Form zeigt sich in der funktional differenzierten Gesellschaft an der Unfähigkeit der Funktionsträgerschaft zu sehen, was ihre Entscheidungen auf der Seite der Betroffenen anrichten. Die Entwicklung hin zu einer globalen Netzgesellschaft ändert an der Perspektivengebundenheit nichts; sie stärkt die Funktionsträger im Gegenteil eher in ihrem Anspruch auf globale Ordnungs- und Gestaltungsmacht. Kommunikation müsste im Bewusstsein dieser Unerreichbarkeit des Ganzen stattfinden, um den Schaden zu begrenzen. Und auf dieses Unerreichbare, dieses Jenseits systemspezifisch interessierter Kommunikation, zielt der Begriff der Umwelt. Die Umwelt ist das Medium der Form Gesellschaft und mithin all jener binären Schemata, mit deren Hilfe sich die einzelnen Systeme die für sie relevante Welt erschließen. Ganz von ihrem Operationsmodus der Kommunikation her verstanden, findet die Gesellschaft ihre Grenze beileibe nicht bloß in dem, was mit dem Begriff der Natur umschrieben wird. Zur Umwelt zählt im systemtheoretischen Setting auch der Mensch, den soziale Systeme zwar als Thema behandeln, in Bezug auf den psychischen und organischen Operationsmodus jedoch nicht erreichen können. Wie das individuelle Bewusstsein bewusst gewordene In86

Diese Schwierigkeiten spiegeln sich im Gegeneinander zweier Analyseansätze des internationalen Terrorismus, einem komplexitätstheoretischen (formtheoretischen) und einem gesellschaftstheoretischen (fuzzy-logischen). Siehe dazu die Beiträge in Dirk Baecker (2016).

81

halte aneinander anschließt, wie es Informationen verarbeitet, wie es sich selbst reproduziert, bleibt Sache jedes Einzelnen. Dasselbe gilt für die organische Selbstreproduktion, die in ihren vom sozialen Außen schwerlich einzuschätzenden psychosomatischen Verknüpfungen ebenfalls sich selbst überlassen bleibt. Die zur Jahrhundertaufgabe erklärte transhumanistische gesellschaftliche Umformung von Mensch und Natur mit Hilfe genmodifizierender Methoden der synthetischen Biologie meint organische, psychische und soziale Selbstreproduktionsprozesse durch eine einzige sich selbst perfektionierende KI ersetzen zu können.87 An den systemtheoretischen Grundsatz, dass Operationen nur an Operationen desselben Typs (Kommunikation, Leben, Bewusstsein) anschließen können, wird nicht gerührt. Aber die Luhmann’sche Schlussfolgerung, dass sich aus der kommunikativen Unerreichbarkeit von Mensch und Natur genuine gesellschaftliche Pflichten der Anerkennung je spezifischer Eigenheiten ableiten müssten, wird nicht mehr nachvollzogen. Diese Pflicht zur Anerkennung (Menschenwürde, Menschenrechte) verwandelt sich in eine Pflicht zur zweckgebundenen Manipulation der Bauprinzipien von Mensch und Natur, sobald die organische, psychische und soziale Selbstreproduktion datenmäßig erfasst ist. Das Organische, Psychische und Soziale mag sich weiterhin selbst reproduzieren. Aber die Elemente, aus denen es besteht, sollen nicht mehr als etwas Vorgefundenes hingenommen werden. Sie geraten als technisch hervorgebrachte und in ihren biochemischen Bestandteilen zielgerichtet manipulierte Daten in ein Besitzverhältnis zu jenen Firmen und staatlichen Institutionen, die die Techniken zur Verbesserung von Mensch und Natur haben entwickeln und implementieren lassen. Die große Zahl patentierbarer genetisch veränderter Natur zeigt eine moderne Form der Schuldknechtschaft als Menetekel des heraufziehenden Zeitalters der synthetischen Biologie mit all den damit verbundenen Verwerfungen. Der technokratisch-transhumanistische Standpunkt Klaus Schwabs und Thierry Mallerets (2022, 204-215) versuchen derlei Konklusionen vom Ansatz her den Boden zu entziehen, indem er die Perspektivendifferenz auf ein Problem der Kognition reduziert. Dieses lässt sich gewissermaßen mühelos durch ein gegenläufiges vom WEF weltweit diffundiertes Narrativ politikökonomischer Selbstverständigung vom Sharholder- zum Stakeholder Value Kapitalismus lösen. Profit-, Macht- und Wissensmaximierung dienen nicht länger partikularen, sondern seit der „offiziellen“ Kehrtwende im Jahre 2019, allgemeinen Interessen. 87

82

Diese Entwicklung erscheint als sich selbst legitimierender „exponentieller Fortschritt der Technologie“ (Schwab/Malleret 2022, 215-229).

Der hier vorliegende Fehlschluss der Reduktion eines logisch-erkenntnistheoretischen auf ein psychologisches Problem ungünstiger Wirklichkeitskonstruktion hat einen weiteren folgenreichen Reduktionismus im Gefolge, der nicht nur das Menschheitsprojekt der Aufklärung untergräbt. Indem das Denken mit einem Gedankengut und schließlich mit jenem Think Thank identifiziert wird, das selbiges produziert, gerät das Streben nach Macht zum offiziellen Substitut des Strebens nach Wahrheit, gewissermaßen als kulturelle Ligatur des technokratischen Weltprojekts universaler Pax. Statt von Frieden ist bloß von großen gesellschaftlichen Herausforderungen die Rede und somit von einem Sachverhalt, der im Mittelgebrauch von jeglichen Rechtspflichten freistellt und angesichts der Gefahrenlage freistellen muss.88 Was aber geschieht mit demselben ökologischen oder gesundheitlichen Imperativ, wenn Netzkommunikation sowohl codegesteuerte Perzeptionsweisen als auch politische Narrative unterläuft? Nimmt man die Konsequenz ernst, mit der stets abrufbares Weltwissen jeden einzelnen Nutzer ermächtigt und die Autorität von Funktionsträgern ebenso wie sich selbst ermächtigende Sprachrohre von Gemeinschaftsinteressen untergräbt, so wächst demselben Nutzer zugleich auch eine Verantwortung für alles zu. Das korrespondierende Bewusstsein scheint jedoch zu fehlen. Es ist mehr die politisch gewollte Agenda und weniger die wissenschaftlich heterogene Informationsbeschaffung, die den öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess bestimmt. Da sich bislang nur zu wenige Menschen den Mühen der informationellen Aufklärung und Selbstbestimmung unterziehen und Wahrheit eher auf Seiten der Macht suchen, profitiert das politische System vom Autoritätsverlust der übrigen Funktionssysteme. Besonders deutlich zeigt sich dies in den Auseinandersetzungen über die bedrohte Meinungsfreiheit an den Universitäten. So lautet das Kernargument der Sozialwissenschaftler Richard Traunmüller und Matthias Revers (2021, 140), dass es durchaus wissenschaftsmethodische, positivrechtliche und moralische Grenzen der Meinungsfreiheit geben müsse, dass es aber aus normativer Sicht fraglich sei, „ob man Entscheidungen über die Grenzen des Sagbaren wirklich in die Hände des Staates oder sogar einer einzelnen staatlichen Behörde, wie der Antidiskriminierungsstelle, legen möchte.“ Es geht hier um die Verteidigung der Wissenschaft als Funktionssystem der modernen Gesellschaft 88

Mittels ESG-Kennzahlen wird über die Einhaltung von Kriterien des Umweltschutzes (Environmental), des Sozialen (Social) und der Organisation (Government) gewacht, ein Top-Down-Projekt der Pazifizierung mittels eines „Nachhaltigkeits-Reporting-System“ als „konzertierte Aktion von Unternehmen, Regierungen, Regulierungsbehörden, der offiziellen Rechnungslegungsgemeinschaft und freiwilligen Standardsettern“ (Schwab/ Malleret 2022, 211f.).

83

gegen Tendenzen eines Rückfalls in historisch überwunden geglaubte Formen von Autoritarismus, in der Frieden als Kriegszustand deshalb verstanden werden muss, weil es immer Menschen geben wird, die gegen selbige Vereinnahmungen ankämpfen.89

Reflexive Muster und Realitätsverlust Zunächst sieht es so aus, als sei die Entdifferenzierung von Krieg und Frieden von einem Prozess flankiert, in dem die kaum bemerkte Verwandlung von gewinnbringenden Prozessen in Durchschnittsverhalten die Unterscheidbarkeit von Macht und Ohnmacht in Mitleidenschaft zieht. Die neuen Technologien greifen hier in einer radikal zu nennenden Weise in das ein, was bisher als normal, gesund, klug und erwartbar gegolten hatte (Greenfield 2013). Diese fundamentale Umstrukturierung vollzieht sich nicht bloß auf einer vorreflektierten Stufe des Bewusstseins, das meint, diese und jene Güter schon immer begehrt und diese und jene Meinung über bestimmte Gruppen von Menschen schon immer vertreten zu haben. Sie kontaminiert das semantische Feld des Sagbaren und steuert auf primitive manichäische Mechanismen der Mustererkennung von Feinden zu: Die nachlässig getragene Maske, die verhalten vorgebrachte Empörung wird zum diskreten Zeichen für Gefährlichkeit. Vor diesem Hintergrund reproduziert und perfektioniert die Digitalisierung lediglich einen Modus der Mustererkennung, der für die moderne Gesellschaft typisch ist. Sie scheint bloß die technische Lösung eines Problems zu sein, das die moderne Gesellschaft bereits mit den Methoden der statistischen Erhebung, dem Erfassen von subkutan wirkenden Mustern bloß rudimentär gelöst hatte. Bei diesem Problem handelt es sich um die zunehmende Komplexität und Intransparenz einer in Funktionssysteme differenzierten Gesellschaft. Nach Arnim Nassehi (2019, 318) wird alles unübersichtlicher, während die Vormoderne trotz komplexer kultureller Formen doch eine sehr einfache Grundstruktur aufgewiesen habe: Alles füge sich „einem Unten-Oben-Schema – soziale Hierarchien, gesellschaftliche Ordnungen, Weltbilder, Taxonomien und auch das Deduktionsprinzip in der Logik.“ Dies gelte für die Moderne nicht mehr, unterschiedliche Ordnungsformen etablierten sich nebeneinander, das Differenzierungsprinzip ermögliche Parallelstrukturen, die sich klarer Sichtbarkeit entziehen. 89

84

Zu den vielfältigen technokratischen, populistischen, identitätspolitischen, kapitalismuskritischen, radikal konservativen und etatistischen Formen, in denen sich der weltweite Trend zum Autoritären artikuliert, siehe die Beiträge in Frankenberg/Heitmeyer (2022).

Die Digitalisierung erscheint jetzt als gelungene Reduktion komplexer auf einfache und immer einfachere Muster. Die Menschen kennen sich wieder aus. Dieser Orientierungsgewinn wird allerdings zunächst mit einem Verlust an ethischer Orientierung erkauft. Denn das Einfache des digitalen Musters lautet Inklusion der einen und Exklusion der anderen und dies in allen Fragen der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft, des Rechts und der Medizin. Die Reduktion komplexer funktional diversifizierter Dichotomien auf die einfache Dichotomie von Inklusion und Exklusion hat bereits Niklas Luhmann (1997, 618-634) als Nukleus einer vollendet globalisierten funktionalen Differenzierungsform beschrieben. In dieser Phänomenologie der Vollendung zeigt sich der Kipppunkt, der das Gesellschaftssystem korrodieren lässt. Die globale Netzgesellschaft ist gleichsam die realtypische Weltgesellschaft, während es die funktional differenzierte Gesellschaft bloß zum idealtypischen Weltmodell hatte schaffen können. Es gibt in diesem Entwicklungsstadium sich vollendender Globalisierung nur noch Personen und gefährliche, infektiöse Körper. Der Personenstatus war in der von Luhmann als prototypisch imaginierten lateinamerikanischen Lage daran gebunden, dass ein Mensch an den Funktionssystemen teilhat. So driften manche Menschen unverschuldet ins soziale Abseits eines von Rastern erkannten gefährlichen Subjekts und infektiösen Körpers: Wer keine Papiere hat, bekommt keine Arbeit, erhält keine Wohnung, kann seine Kinder nicht zur Schule schicken und im Krankheitsfall keine medizinische Hilfe bekommen. Man könnte nun sagen, dass dieses komplexe funktional differenzierte Muster durch Digitalisierung übersichtlicher und einfacher wird, sofern ein Programm verfügbar ist – eine auf Handys mit biometrisch-medizinisch-sozial-moralischen Daten ausgestattete App. Der Idee nach werden personenbezogene Informationen nicht bloß für Firmen und Ämter, sondern für jeden begegnenden Einzelnen einsehbar. Bevor die mediale Umstellung von bibliothekarisch gesammeltem Bücherwissen zu digital aufbereitetem Computerwissen alles aus den Angeln hebt und nicht zu bewältigende Sinnüberschüsse produziert, hatte offensichtlich die moderne Gesellschaft aus sich heraus dem Differenzierungsprozess ein Ende bereitet und eine Welt zurückgelassen, die nur noch Personen und Unpersonen kennt. Differenzierung und Komplexierung stoßen womöglich an eine Wachstumsgrenze und münden in eine Entdifferenzierung, die bei keinem kategorialen Schema haltmacht.90 Dieses dystopische Zukunftsszenario enthält allerdings eine Unstimmigkeit oder Unschärfe und dies könnte ein Hinweis auf Freiheitsspielräu90

Ausführlich in Bezug auf sozial-moralische Gefährlichkeit (Menschenrechte) Brücher (2004a); bezüglich infektiöser Körper (Menschenwürde) Brücher (2004).

85

me sein. Denn Luhmann hatte lateinamerikanische Verhältnisse am Kriterium eines dysfunktional gewordenen Gewaltmonopols festgemacht. Infolgedessen kann es sich bei der generalisierenden Hochrechnung des lateinamerikanischen Falls nur um strukturimmanente Grenzen der Globalisierung des funktionalen Differenzierungssystems handeln und damit implizit um eine Kritik am Friedenskonzept universaler Pax. Zerfallende Staaten, Privatisierung sicherheitspolitischer Aufgaben, die Umstellung von Verteidigungs- auf Interventionsarmeen, eine Normalisierung der eigenen Kriege als bloße Spezialoperationen oder Auslandseinsätze und schließlich die Bemühungen um eine Normalisierung von pandemischen Ausnahmezustände signalisieren, dass das politische System das funktionswidrige Territorialprinzip überwindet und auf die ganze Welt ausgreift. Zu erwarten ist ein von Seiten der Modernisierungstheorie begrüßter,91 im allgemeinen jedoch gefürchteter Ausscheidungskampf der einzelnen nationalstaatlichen Gewaltmonopole. Dieser Kampf scheint mit dem zunehmend eskalierenden Krieg Russlands gegen die Ukraine gefährlich nahe gerückt. Der globale Austausch der übrigen Funktionssysteme gerät damit unweigerlich in Gefahr. Denn Politik bezieht im internationalen Kraftfeld und somit in ihrem programmatisch durch die Charta der Vereinten Nationen kodifizierten Selbstverständnis, Legitimität einzig aus ihrem Verteidigungsauftrag. Dies gilt um so mehr, als gewaltmonopolistische Übermacht im Falle atomarer Bewaffnung mit Overkill-Kapazitäten ausgestattet ist. Das Legitimitätsprofil der funktionalen Differenzierungsform, die nur noch Funktionsgrenzen, aber keine territorialen Begrenzungen kennt und akzeptiert, kann offensichtlich nur als rudimentär ausgebildetes Strukturprinzip Erfolg haben. Vorausgesetzt bleibt ein auf Expansion und Grenzüberschreitung verzichtendes und das bedeutet, sich bescheidendes gewaltmonopolistisches Machtgebaren. Dieser strukturwidrige und somit anachronistische Verzicht war beileibe nicht freiwillig, sondern einzig dem Abschreckungssystem der Mutual Destruction geschuldet. Was nach dem Ost-West-Konflikt einsetzt, ist ein Prozess, der das politisch-gesellschaftliche Denken in den Kategorien der Integration in freundschaftliche Bündnissysteme und dezidierter Abgrenzung von feindlichen Bündnissystemen durch die Schematisierung der internationalen Akteure in Inkludierte und Exkludierte ersetzt. Das wird sowohl im sicherheits- als auch im biopolitischen Bereich deutlich: Der siegreich aus dem Kalten Krieg hervorgegangene Westen experimentiert seit dem Jugoslawienkrieg mit einer Weltgesellschaft, die zwischen inkludierten souveränen Staaten und exkludierten, ihre Souveränität 91

86

Denn diese Kämpfe bedeuten eine „Zivilisierung wider Willen“ zurückgebliebener Gemeinwesen, vgl. Senghaas (1998).

verwirkten menschenrechtsgefährdenden ‚Schurken’-Staaten (rogue state) unterscheidet. John Rawls (2002) hat ausgehend von dieser Differenzierung ein „Recht der Völker“ zum Krieg gegen jene Staaten begründet, die in diese Kategorie fallen.92 Für letztere gibt es weder ein Recht auf territoriale Unversehrtheit noch auf Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Die zivil-militärischen Mittel zur Behauptung dieser welthegemonialen Stellung liefert die Umstellung eines defensiven auf ein offensives Sicherheitskonzept der mobilen Eingreiftruppen, der Peace-enforcement und der Peace-building-Operations.93 Im Schatten des 11. September experimentiert der Globale Norden mit der Umstellung eines auf Integration angelegten, im Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz gegründeten, in der Charta der Vereinten Nationen kodifizierten Welt-Rechtssystems auf die Unterscheidung von inkludierten rechts- und menschenrechtsgeschützten Rechtssubjekten und exkludierten, mutmaßlichen Terroristen, die ihr Recht auf Rechtsschutz verwirkt haben.94 Und eine weitere Zäsur scheint die Corona-Pandemie mit der Einführung einer Kontaktdaten übermittelnden Tracing-App und schließlich eines biometrischen Green Pass zu werden, in der die Weltgesellschaft mit der Differenzierung von gesellschaftlich inkludierten gesunden Personen und exkludierten infektiösen Körpern zu experimentieren beginnt. Nunmehr schematisiert die Inklusion-Exklusion-Differenz gewissermaßen alles: Staaten, politische Akteure und Individuen. Aber was besagt dies für Friedenschancen der digitalen Gesellschaft? Könnte es sein, dass die komplexitätsreduzierende algorithmische Mustererkennung insofern die moderne Gesellschaft fortführt und technisch perfektioniert, als Inkludierte und Exkludierte schärfer ins Profil gesetzt und leichter, das heißt für eine größere Anzahl von Menschen erkennbar werden? Oder könnte man im Gegenteil davon ausgehen, dass dies Schema von Inklusion und Exklusion im Laufe seiner inzwischen dreißigjährigen Implementierungsphase komplex geworden ist und eine so große Zahl von Mustern hervorgebracht hat, dass die Gesellschaft nach einer weiteren Reduktion verlangt? Und könnte dieser Bedarf womöglich durch algorithmisch produzierte reflexive Muster gedeckt werden? In dieser Vorstellung, dass die Komplexierung von Mustern dieselben reflexiv werden lässt, verbirgt sich ein Sprengsatz. Denn eine Welt, in der die Produktion von Mustern bestehender Muster beschleunigt fortschrei92

„Rechtserhaltende Gewalt“ lässt sich auf dieser Grundlage wieder klären. Siehe dazu die Beiträge in Werkner/Rudolf (2019). Zur „Ideologie des Schurkenstaates: Rawls versus Derrida“ siehe Klaus-Gerd Giesen (2004, 101-115).

93

Zur Kritik siehe statt vieler Jaques Derrida (2003), Noam Chomsky (2001).

94

Zur Diskussion siehe die Beiträge in Baecker/Krieg/Simon (2002), in Meggle (2003; 2004), F. Simon (2001).

87

tet, entfernt sich so weit vom Leben, dass jeder Realitätsbezug verloren geht. Wenn auch bisher gelten mochte, dass wir alles, was wir über die Welt wissen, aus den Massenmedien beziehen (Luhmann 1996), so hatte sich diese Aussage doch mehr auf die Ereignisse fernab des eigenen Umkreises bezogen. Mit der Ausrufung eines pandemischen Ausnahmezustandes im Frühjahr 2020 erfasst medial erzeugte Wirklichkeitskonstruktion den lebensweltlichen Nahbereich und schließlich das eigene Körperempfinden: Denn woher soll ich fortan wissen, ob ich gesund bin, wenn ich heute noch nicht dazu gekommen bin, meinen Körper mit Hilfe eines Tests zu überprüfen? Was bedeutet in diesem Zusammenhang die Rede von reflexiv gewordenen Mustern? Der Begriff des einfachen bezieht sich auf Muster, die empirische Analysen haben erkennen lassen. Es handelt sich dabei um den statistischen Mittelwert etwa der Krankheitsneigung bestimmter Gruppen von Menschen. Auch dieser einfache Mittelwert wurde bereits dadurch komplexiert, dass er aus dem Blickwinkel der einzelnen Funktionssysteme ein jeweils anderes Kolorit erhält. Es gibt typische Managerkrankheiten. Die Häufigkeitsverteilung bestimmter Eigenschaften kann unter pädagogischem, ökonomischem, politischem, rechtlichem und religiösem Blickwinkel interessant sein und jeder einzelne dieser Blickwinkel birgt in sich jeweils andere Möglichkeiten, eine Krankheit zu vermeiden oder zu linden. Dies Multiperspektivische ist in dem Moment ausgeblendet, in dem ein Muster reflexiv wird. Komplexitätsreduktion ist mithin der Zweck jeder Suche nach dem einfachen Muster eines komplexen Musters. Was nunmehr allein zählt, ist die datenmodellierte Vorhersage, dass ein bestimmter Mensch, sei es aufgrund einer genetischen Disposition, sei es durch eine im Test nachgewiesene virale Gensequenz, erkrankt. Der Einfachheit der Diagnose entspricht die vereinfachte pharmakologisch-apparatemedizinische Therapie. Im Prozess fortschreitenden Reflexivwerdens von Mustern entschwindet das, was ursprünglich Gegenstand der Erfassung war. Dieser Gegenstand lässt sich folglich kaum noch beeinflussen, geschweige denn steuern. Die dahinterstehende Wirklichkeit entschwindet ins fiktiv irreale Reich einer sich selbst auf immer einfachere Muster reduzierenden Produktion von Mustern, kurz, in eine computermodellierte Welt, die von computermodellierten Einzelnen nur so wimmelt. Damit tritt die Moderne in ein bemerkenswertes Stadium, denn nunmehr marginalisiert die einwertige binäre Codierung von 0/1 die mehrwertigen binären Codierungen der pädagogischen, medizinisch-therapeutischen, ökonomischen, juristischen und religiösen Codes. Während der multiperspektivische funktional differenzierte Blick entsprechend breitgefächert Problemlösung durch Inklusion in die Funktionssysteme hatte suchen lassen, bessere medizinische Versorgung, politische Partizipation,

88

größeren Wohlstand, umfassendere Bildung, adäquatere rechtliche Vertretung und mehr Zufriedenheit fördernde Sinnangebote im kulturellen und religiösen Bereich, tendiert der einfache binäre digitale Code zur Schematisierung von Inkludierten und Exkludierten. Technokratische Herrschaft verkraftet keine Zwischentöne und somit keine Freiheiten. Die voll verwirklichte könnte die bloß rudimentär entwickelte digitale Gesellschaft an den Stellen überwinden, wo diese ihre menschlichen, im Sinne von menschenrechtsgeschützten Seiten verliert. Bei Luhmann (1997, 312) heißt es, mit der Einführung eines neuen Verbreitungsmediums beabsichtige die Gesellschaft eine Verbesserung im Rahmen der gegebenen Struktur, aber sie arbeite parallel an deren Delegitimierung. Heute kann jeder Interessierte die kontroversen wissenschaftlichen Meinungen zu fachlichen Expertisen auf Diskussions- und Interview-Foren am Computer verfolgen; er kann sich selbst mündig machen. Damit droht der funktionalen das Schicksal der hierarchischen Differenzierungsform. Bereits der Buchdruck sollte ja nicht die hierarchische Struktur der Gesellschaft aus den Angeln heben, sondern einzig der wahren und das hieß damals, der jeweils konfessionellen Lesart der christlichen Heilsbotschaft zur allgemeinen Durchsetzung verhelfen. Dazu aber musste jenes von der alten Ordnung den Bauern zugestandene Recht auf Widerstand gegen einen ungerechten Herrn aufgekündigt werden. An dessen Stelle trat ein rechtsentlastetes und allein konfessionell gerechtfertigtes absolutistisches System. Dieses sollte unweigerlich die Akzeptanzbedingungen des leges-hierarchischen Schutzes der Machtunterworfenen nachhaltig zerstören und der Monarchie die Legitimationsgrundlage entziehen. Auch die Digitalisierung soll heute nicht die funktionale Differenzierungsform antasten, sondern mit zusätzlichen Daten versorgen und Lösungen für die Komplexität als dem zentralen Problem dieses Gesellschaftstypus anbieten.95 Sie reagiert damit auf die aus dem Ruder gelaufene gesellschaftliche Selbstbeobachtung der Moderne, die sich nicht in der Lage sieht, auf eine einheitliche Weltanschauung zurückzugreifen. Denn auf die Religions- war die ideologisch-politische Spaltung in einander bekämpfende Parteien, die Spaltung in plan- und marktwirtschaftliche Formen der Wirtschaft, in divergierende Rechtsstrukturen und Erziehungsmethoden gefolgt. Dies hatte der Gesellschaft im Blick auf sich selbst das Bild eines fortlaufend weiter differenzierenden und komplexierenden zerklüfteten Gefüges vermittelt. 95

Es gibt viele Definitionen von Komplexität. Aber die besondere Problemdimension findet sich bei Luhmanns (1984, 46) umschrieben: „Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element mit jedem anderen verknüpft sein kann.“

89

Folgerichtig strebt dieser Gesellschaftstypus dazu, den einheitsstiftenden Weg der Monopolisierung physischer Gewalt von der innerstaatlichen auf die zwischenstaatliche und schließlich auf die globale Ebene fortzusetzen. Das Prinzip Cuius regio eius religio führt, übertragen auf das Weltganze, zu einer einzigen Weltreligion, einer einzigen Weltwirtschaft, einem einzigen Weltgesundheitssystem, einer einzigen Weltpolitik, einem einzigen Rechtssystem und einem einzigen Erziehungssystem als höchster Stufe universeller Pax. Und analog den niederstufigen Einigungsbemühungen des Absolutismus müssen auch jetzt wieder Rechte außer Kraft gesetzt werden, die es den Machtunterworfenen ermöglichen, sich gegen Willkürmacht zur Wehr zu setzen. Das Projekt globaler Pax ist allerdings zu großformatig, um von menschlichen Akteuren verwirklicht werden zu können. Anders verhält es sich mit der unbegrenzten Datenspeicherkapazität von Großrechnern. Dieser wird zugetraut, für globale Homogenisierungsprozesse benötigte Informationen beschaffen und Informationsverarbeitungsprogramme erstellen zu können, die auf Ziele des social engeneering zugeschnitten sind. Doch hier beginnen die Probleme, weil kontingente und mithin nicht nur irrtumsanfällige, sondern veränderliche Wahrheiten über Ereignisse, Personen oder Krankheiten zu änderungsresistenten Datensätzen werden müssen, die neue, an diese Daten angepasste Daten produzieren. Die antike Überzeugung, dass Gleiches nur Gleiches erkennen könne, zeigt sich in ihrer technoiden Form. Auch digitale Daten können nur an digitale Daten anschließen; sie absorbieren alles Menschlich-Widerständige bis auf jenen kleinen Rest, der von Mustererkennungsprogrammen nicht oder noch nicht erfasst wird. Ein hier anschließendes Friedensverständnis kennt Freiheit nur noch als selbstgewählte Exklusion.96 Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum auf Weltebene ein Ausmaß an Homogenisierung gelingen sollte, das bisher in einem weit bescheideneren regional begrenzten Umfang nicht zu erreichen war.

96

90

Angesichts dieser vorauszusehenden Entwicklung knüpft Carl-Friedrich von Weizäcker (2020) im Aufsatz „Gehen wir einer asketischen Weltkultur entgegen“ aus dem Jahre 1978, den Weltfrieden über die Herstellung gesellschaftspolitischer Voraussetzungen hinaus, an die Wiederentdeckung einer Kultur der Askese.

III. Mittel globaler Pax Epistemische Mittel: Narrative. Diskurse versus Verknüpfungstechniken, Semantik versus Big Data, dies sind heute die kontroversen Verfahrensweisen des Umgangs mit weltanschaulichen Konflikten. Wird unter Frieden ein Idealtypus abwesender personeller, struktureller und kultureller Gewalt verstanden, dann sind alle Bemühungen auf globale Implementierungsprojekte gerichtet und dazu gehören kulturspezifisch zugeschnittene Soft-Power-Formen der Legitimation zivil-militärischer Verfahrensweisen. Der Begriff des Narrativ hat nicht von ungefähr überkommene Begriffe der Weltanschauung, der Ideologie oder der Semantik abgelöst. Denn er umschreibt die Art und Weise, in der sich Diskurse im Horizont von Big Data verändern. Er reagiert auf die Notwendigkeit einer psychosomatischen Verankerung, da die digitale im Gegensatz zur Gesellschaft vor Erfindung des Internets auf Instrumente der Ausarbeitung konziser Legitimitätssemantiken kaum noch zurückgreifen kann. Die Rede vom nachideologischen Zeitalter mag hier ihre Grundlage haben. Ideologien oder auch seit Jean-Francois Lyotard (1999) als „Fortschritts-Ideologien“ spezifizierte so genannte Große Erzählungen deuten aktuelle Ereignisse zunächst als historisch situiert und somit im Kontext einer Tradition, die entweder bewahrt oder überwunden werden soll. Die Einstellung zum Gewesenen aber ist nicht nur vom faktisch Geschehenen beeinflusst. Hinzu kommen die immer miterzählten kollektiven Traumata. Damit sind wir beim Triell von narrativer, historischer und performativer Wahrheit. Jan Assmann (2015, 289-391) hatte die adäquate Befassung mit der Historie an die Berücksichtig aller drei Aspekte gebunden und somit die Zusammenschau und nicht den Dreikampf empfohlen. Das „große Narrativ“ (Schwab/Malleret 2022), mit dessen Hilfe die Weltöffentlichkeit einem technokratischen Management unterworfen werden soll, kann sich gegen die Kraft historischer und performativer Wahrheiten jedoch nur durchsetzen, wenn sie gegen selbige einen Ausscheidungskampf führt. Narrative sind jetzt nicht mehr als kulturell und historisch situierte Formen kollektiver Selbstdarstellung verstanden. Sie rechtfertigen sich hingegen allein durch einen konzeptionellen Rahmen, innerhalb dessen epochale Zukunftsaufgaben der Bewältigung globaler Risiken in Angriff genommen werden können. Und diese Aufgaben gemeinsam zu meistern ist ein Ziel, dem jeder klarsichtige Mensch zustimmen wird. Dazu gehört „nicht nachhaltiges Wirtschaftswachstum, geopolitische Rivalitäten, Umweltzerstörung, Ungleichheiten, Pandemien und Cyberkriminalität“ zu bekämpfen

91

(Schwab/Malleret 2022, 30). Auf selbige Zielvorgaben lässt sich die Weltöffentlichkeit leicht verpflichten, aber nicht auf die inhaltliche Spezifizierung und auf die Mittel und Wege, die zu diesen Zielen hinführen. Das zum Modebegriff avancierte Narrativ ist insbesondere in seiner Verknüpfung mit dem Adjektiv „groß“ mehr als ein Buchtitel. Vielmehr fungiert er in der Kommunikation als Optimierungsprogramm, als gewissermaßen dritte moralische Steigerungsstufe. Die erste Stufe bildet der Begriff der Werte, wenn wir uns der funktionalen Analysen Luhmanns (2008, 152f.) anschließen. Dessen Gedankengang ist folgender: Da sich gute Absichten nicht kommunizieren lassen, ohne dieselben der Heuchelei verdächtig zu machen, gewinnt in der modernen Gesellschaft der von persönlichen Beweggründen abstrahierende Begriff der Werte an Bedeutung. Die Wertesemantik ersetzt die überpersönliche Religionsmoral. Entsprechend treten die Verhaltenskriterien ökonomischer Kosten-Nutzen-Berechnungen an die Stelle religiöser Kriterien für einen Lebenswandel, der ewiges Seelenheil gewinnen oder verlieren lässt. Die Werte werden als Heuchelei erster Ordnung schließlich durch den Begriff des Wertewandels ergänzt, der das objektive und damit schwer angreifbare Moment noch einmal durch Aktualität steigert und damit zu einer gewissermaßen Heuchelei zweiter Ordnung avanciert, in der Sprache Luhmanns einer „Heuchelei mit eingebauter Entheuchelung“. Zur Objektivität und Aktualität, die Wertegemeinschaften Überlegenheit gegenüber Gemeinschaften verschaffen, die ihre Selbstbeschreibung anders anfertigen, kommt im Begriff des Großen Narrativ noch das pragmatische Moment effizienter Umsetzung hinzu. So ließe sich in Ergänzung der Luhmann’schen Analyse von einer Heuchelei dritter Ordnung sprechen. Diese rühmt sich, über effiziente Mittel zu verfügen, um die Menschheit vor allen Gefahren schützen zu können. Wenn Werte und Wertewandel in der modernen Gesellschaft als funktionale Äquivalente religionsmoralischer Orientierung dienten, so beginnt das Große Narrativ die Funktion der Wissenschaften zu übernehmen. Allerdings kann dies nur im Falle eines bereits ins Religiöse gewendeten szientistischen Wissenschaftsverständnisses gelingen.97 Die gute Absicht sieht sich in diesem Begriff nunmehr in einer dreifachen Hinsicht gegen jeden Zweifel immun. Wenn vom Narrativ die Rede ist, so verweist dies auf überpersönliche Geltung, auf Aktualität und auf Implementierungsgarantie. Die Suprematie im Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit sichernde effiziente Narrative und damit um die Tabuisierung von Macht ist an 97

92

So signalisieren die Titel der Bücher des Transhumanisten Ray Kurzweil „Singularität“ (2006) und „Transcend“ (2010) die Intention, das Religiöse zu beerben. Yuval Noah Harari (2021, 563-608) spricht von einer Datenreligion, die dem Homo Sapiens unweigerlich die Kontrolle entziehe.

die erfolgreiche Transformation ängstigender Potentiale ins Positive einer „großen gesellschaftlichen Herausforderung“ gebunden. Mit diesem Topos bringt Franz Kaspar Krönig (2021, 115) eine systemtheoretische Deutung der Covid-19-Krise in Vorschlag. Als „Konstruktionstypus“ und „Beobachtungsschema“ koppelt sich das Phänomen vollkommen von dem ab, was Gegenstand der Beobachtung ist, nämlich Krankheit und Tod. Diese Loslösung von dem, was faktisch geschieht, gelingt durch die Verschiebung des Phänomens vom Manifesten, an empirischer Signifikanz ablesbarer Tatsächlichkeit, zum Schema, das dem empirisch Erfahrbaren vorausliegt. In ihrer Funktion, ein Feld der Wahrnehmung allererst zu konstruieren, wird die Differenz bedrohlich/nicht bedrohlich zu etwas, dem jegliche Überprüfbarkeit entzogen bleibt. Denn der Akt des Überprüfens würde als Akt des Infrage Stellens dem Gemeinwesen die kognitiven und emotionalen Ressourcen entziehen, die notwendig sind, um die „große gesellschaftliche Herausforderung“ zu meistern. Jedes Thema, das sich in diese Figur der „großen gesellschaftlichen Herausforderung“ zu transformieren versteht, wird zum paradigmatischen neuen „Governancemodell“, das „Exekutivermächtigungen im Ausnahmezustand“ mit all dem damit verbundenen Verzicht auf demokratische Verfahren erforderlich werden lässt. Die psychosoziale Entlastungsfunktion dieser „Kontingenzunterbrechung“ ist mit Händen zu greifen, indem es Beobachter und Entscheider vom „doppelten Risiko“ auf Beobachtungsund Handlungsebene entlastet. Denn im Bereich des Handelns entfällt jedes Risiko, präsentiert sich der politische Maßnahmenkatalog angesichts der existenziellen Bedrohung doch als alternativlos. Riskant ist es jetzt nur noch, anders zu beobachten und das Pandemie-Szenario aus dem alternativen Blickwinkel von Expertisen zu beleuchten, die dem offiziellen Narrativ widersprechen (Krönig 2021, 116f.). Die alternative Beobachtung wird jetzt so gefährlich wie die existenzbedrohende Gefahr, zu deren Bekämpfung alle Anstrengungen unternommen werden. Damit bewegt sich das Pandemie-Narrativ in die Richtung eines gedanklichen Feldes, das gleich der Pascal’schen Wette vernünftiger Weise nur eine einzige Entscheidung zulässt. Im Falle Pascals und mithin des 17. Jahrhunderts hatte die große gesellschaftliche Herausforderung im Umgang mit dem religiösen Zweifel an der für moralische Vergehen angedrohten ewigen Höllenpein bestanden. Wieder haben wir einen Fall alternativer Tabuisierung von Frieden oder Macht vor uns, wenn Pascal das Problem in einer Gewinn-Verlust-Rechnung zu lösen versucht. Diese Rechnung fällt bei Pascal eindeutig zu Gunsten der mit weltlicher Macht assoziierten kirchlichen Moralsemantik und zu Ungunsten des Friedens (mit sich selbst) aus. Der Friede mit sich selbst besteht in der sinnenfreudigen Epoche des Barock in der unmittelbaren Befriedigung aller Bedürfnisse, die sich mitunter

93

und gewissermaßen unvermeidlich für manche Mitmenschen schädigend auswirkt. Im Falle der gewonnenen Wette, die darin besteht, dass den Sünder statt ewiger Höllenstrafen bloß ein friedlicher Tod erwartet, stehen alle Wege des unbeschwerten lasterhaften Lebenswandelns offen. Wird aber die Wette verloren und der Zweifel am kirchlichen Narrativ war unangebracht, dann winken dem Sünder als Preis der Leichtlebigkeit einer kurzen Lebensspanne ewige Höllenqualen. Kein vernünftiger Mensch würde dieses Risiko eingehen und das bedeutet, kirchliche Macht und die von der Kirche empfohlenen Maßnahmen der Risikoreduktion in Frage stellen wollen. Die Transformation der Covid-19-Pandemie von einer signifikanten, gleichsam primärevidenten alle Menschen heimsuchenden Seuche in eine „große gesellschaftliche Herausforderung“ arbeitet mit einer analogen Gewinn-Verlust-Rechnung: Bewahrheiten sich die Zweifel am machtgetragen-gewaltgestützten Pandemie-Narrativ und es handelt sich tatsächlich um eine im Gegensatz zu bisherigen Versuchen geglückte technokratisch-transhumanistisch-dataistische Systemtransformation, dann muss ich meine freie Atmung nicht durch Masken behindern, kann jede mitmenschliche Nähe suchen und auf riskante Impfungen verzichten. Verliere ich jedoch die Wette und die Kritik an den politischen Maßnahmen war im Unrecht, so verliere ich womöglich mein Leben auf einer Corona-Intensivstation. Für den überwiegenden Teil der Weltbevölkerung fiel und fällt noch immer die Entscheidung zugunsten der Warner und eines rigoros alle Grundrechte zur Disposition stellenden Pandemie-Managements aus. Der Vergleich mit der Pascal’schen Wette berührt allerdings nur die Ebene des gewaltgestützten Narrativ und dringt nicht bis zu weitergehenden Abwägungen zwischen den Risiken der Befürwortung und Verweigerung der politischen Maßnahmen vor. Das Narrativ erklärt Masken und Impfungen für medizinisch gefahrlos und die Lockdowns für volkswirtschaftlich verkraftbar analog der unschädlichen Meidung der Sünde. Inzwischen gibt es jedoch diesbezügliche Bedenken, sodass im Gegensatz zum Pascal’schen Preis für den grundlosen Verzicht auf die rasche und rücksichtslose Bedürfnisbefriedigung, der Preis für den grundlosen Verzicht auf das kritisch-alternative Beobachten des Corona-Maßnahmenkatalogs nicht bloß der verlorene Spaß ist. Das Suggestive des Terminus Narrativ war bereits oben im Zusammenhang mit der Paradoxie-Problematik zur Sprache gekommen. An dieser Stelle geht es um den instrumentellen Charakter, der dafür sorgt, dass sich überkommene Gegensätze verflüchtigen. Wo Narrative als solche benannt werden und gezielt zum Einsatz kommen, scheint versöhnt, was problematisch ist oder werden könnte. Alles ist bloß Narration will heißen: Weil Wahrheit und Rationalität nichts anderes sind als eben Narrative, gelangen

94

all jene Menschen in die privilegierte Position Narrativer Experten, die selbiges durchschaut haben. Es ist ein mit der superioren Rolle einhergehender Wahrheitsanspruch, der in die Lage versetzt, politikberatend tätig zu werden und für spezifische Agenden ein jeweils passendes Narrativ zuzuschneiden. Wieder scheint man alles über den Menschen zu wissen, wenn dieser als Homo Narrans durchschaut ist und dessen typische Art zu Denken in Geschichten aufgeschlüsselt wird.98 Hingegen hatte Jean Francois Lyotard als gewissermaßen Ahnherr narrativen Denkens den Wahrheitsansprüchen legitimatorischer Diskurse den Boden zu entziehen versucht, indem er Macht und Wahrheit als unvereinbare Sprachspiele offenlegt. Das postmoderne Wissen weiß um die Differenz und gerade nicht um eine höherstufige Identität. „Es verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen.“ Somit taugt es gerade nicht als Instrument der Mächte. (Lyotard 1999, 16). In diesem Punkt grenzt sich eine Philosophie, die weiß, dass sie nichts weiß, von dem Statusdenken des Intellektuellen ab, der von der Basis seines Besserwissens aus die Öffentlichkeit belehren will.99 Das Integrative von Narrativen besteht folglich nicht darin, nach Formen des Umgangs mit inkommensurablen Positionen zu suchen. Denn das Wissen um den richtigen Vollzug gründet tief in der Trias von Diagnose, Prognose und Therapie, die bereits Galtung (1998, 15-27) als Programm der Negation personeller, struktureller und kultureller Gewalt ausgearbeitet hatte.100 Die allinklusive Form des Narrativ absorbiert alle nur möglichen Kulturbestände.101 Dies mag für den Globalen Norden ein geringeres Problem sein. Denn dieser bezieht sein kulturelles Profil aus einer Aufklärung, die sich gegen die eigene Tradition richtet. Für den Globalen Süden hingegen, der aus dem Bewusstsein großen kulturellen Reichtums immer auch die Kraft zum antikolonialen Widerstand bezogen hatte, gilt dies nicht. Die Bereitschaft, nar98

Samira El Ouassil und Friedemann Karig (2021) gehen in ihrem Wissensanspruch noch weiter, wenn sie den Menschen auf einen erzählenden Affen reduzieren, der sich allenfalls in Bezug auf die Qualität seiner Erzählungen verbessert habe: von Mythen zu Utopien.

99

Habermas (2022) beklagt am neue Strukturwandel der Öffentlichkeit, dass durch den Bedeutungsverlust der Printmedien die Intellektuellen Autorität und repräsentative Ansprüche für die Gesellschaft als Ganze verloren hätten.

100 Wieder zeichnet Galtungs Friedensmodellierung die Konturen globaler Pax: Die Methodologie des „revolutionären Konstruktivismus“ (1978, 177-216) bringt zum Ausdruck, was heute mit Narrativ umschrieben wird. 101 Kultur ist „Story Telling“: Weil bloße Geschichtenerzähler (Harari 2021, 243-310, 248, 249), benötigen und erfinden die Menschen immer wieder neue Marken, den Pharao im antiken Ägypten, Elvis Presley im Westen der Nachkriegszeit.

95

rativen Experten Gehör zu schenken und Gefolgschaft zu leisten, ist hier weit geringer ausgeprägt. Damit schwindet die prägende Kraft jenes mechanistischen Weltbildes, das seit René Descartes Mensch und Natur, seit Thomas Hobbes auch das Zusammenleben meint erklären zu können. So kämpft die indische Atomphysikerin und Aktivistin Vandana Shiva (2021) seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gegen das Narrativ der Green Revolution als Etikettenschwindel für einen neuen Kolonialismus, dessen Ziel nicht die Schonung der Natur, sondern die Enteignung, Genmanipulierung und Vermarktung allen Lebens auf der gesamten Erde sei. Nicht nur Indien, sondern dem Globalen Süden insgesamt sei eine Denkweise fremd geblieben, die an die Stelle des Lebendigen und Beseelten einen Begriff der Leere setze: Bio Nullius, Terra Nullius und Mens Nullius besagen, dass erst die Technologien des Bio- und Geoengeneering Leistung zu erbringen imstande seien. Vom Tabula Rasa Gedanken ausgehend werde ein natürliches Recht zur Monetarisierung und Finanzialisierung von Boden, Wasser, Luft und insgesamt von allem Lebendigen abgeleitet. „Informationstechnologie und Biotechnologie werden zu einem neuen ‚Goldrausch’, mit Bill Gates und Monsanto an der Spitze. IT wird genutzt, um genetische Daten zu ‚schürfen’ und Patente auf Pflanzen zu beanspruchen, die weder Gates noch Monsanto geschaffen haben und über die sie keinerlei Kenntnisse besitzen – sie haben nur ‚Daten’.“ (Shiva 2021, 64).

Friedensnarrativ Im Vertrauen auf die immensen Kapazitäten der vereinheitlichenden sich selbst als Soft power verstehenden und aktuelle Narrative aufgreifenden Kulturindustrie war im Globalen Norden seit dem Ende von Systemkonkurrenz, Ost-West-Konflikt und der Transformation planwirtschaftlich-kommunistischer in marktwirtschaftlich-kapitalistische Systeme der Frieden kaum noch als Problem wahrgenommen. Er verwandelte sich in jenen zivil-militärischen Modus der Problemlösung, der die Mittelwahl flexibel handhaben ließ. Der Friede wurde zum Konstrukt weltweiter Förderung von Strukturen, die dem eigenen Modelldenken entsprechend den Frieden allererst möglich machen, eine petitio principii.102 Indes zeigte sich früh ein globaler Dissens in der Bewertung von Militärinterventionen, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht

102 Eine Auseinandersetzung findet sich in der 24 bändigen Reihe Gerechter Friede (Werkner/ Jäger 2018-2020).

96

legitimiert sind.103 Die selbstbewusste Position gewaltgestützten peacemaking spiegelte eine Siegermentalität wider, die es erlaubte, mit Verträgen und Absprachen flexibel umzugehen und die ungestraft darauf verzichten konnte, bei der Durchsetzung eigener Interessen Kompromisse auszuhandeln. Auf die Reputationsschäden eines Messens mit zweierlei Maß im Falle der völkerrechtswidrigen Intervention Russlands in die Ukraine macht der Völkerrechtler Nico Krisch mit dem Argument aufmerksam, das seit 30 Jahren vom Westen für sich reklamierte Recht zur Intervention habe dessen Glaubwürdigkeit bei der Verurteilung des russischen Völkerrechtsvergehens untergraben.104 Da dieser Begriff der Glaubwürdigkeit notwendig auf die Natur der moralischen Kommunikation und nicht auf parteiliche Bewertung zielt, handelt es sich um einen objektiven und entgegen manchen Kritiken keineswegs subjektiven und gesinnungsethischen Befund. Moralische ist symmetrische Kommunikation; sie bindet beide Seiten und bewegt sich insofern in den engen Margen der Selbstbindung. Denn nicht zu verhindern ist, dass jeder Akteur in seinem Verhalten an jenen Maximen gemessen wird, die er Anderen als Handlungsoktroi auferlegt.105 Ganz anders sieht nämlich der Globale Süden und zu diesen zählen ehemalige Entwicklungsländer ebenso wie weiter fortgeschrittene Transformationsgesellschaften, in dieser asymmetrischen Urteilsbildung von Beginn an usurpatorische Tendenzen, wenn nicht eine Neuauflage alter kolonialistischer Bestrebungen zur Rückgewinnung all der Gebiete, die Antiimperialismus und langjährige Prozesse der Entkolonialisierung den ökonomisch und waffentechnisch überlegenen Staaten hatten entreißen können. Diese unterschiedliche Wahrnehmung führt zu einer uneinheitlichen Bewertung der militärischen Intervention Russlands. In grober Schematisierung lässt sich sagen, dass der Globale Süden in der Operation eine Reaktion auf Vertragsbrüche von Seiten der USA und den Versuch sehen, der fortgesetzten Osterweiterung der NATO ein Ende zu setzen.106 Demgegenüber interpretiert der Globale Norden den Angriffskrieg als sicheres Zeichen der imperialen Politik eines Gewaltherrschers, die nur durch Aufrüstung und fortgesetzte Osterweiterung der NATO zu stoppen ist. Zweierlei Friedensmodelle konkurrieren um die veröffentlichte Welt103 Zu den logischen und ethischen Problemen der westlichen Interventionspolitik siehe die Beiträge in Rinke/Lammers/Meyers/Simonis (2014). 104 Der Artikel von Nico Krisch „Zweierlei Maß? Der Angriff auf die Ukraine und die Rolle des Westens“ ist in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 04 2022, Nr. 70, 7 erschienen. 105 Nach Luhmann (2008, 277) ist „die Selbstbindung eine Implikation des Sinnes moralischer Kommunikation“. 106 Zum Versuch, die Perspektive der Anderen zugänglich zu machen, siehe Daniele Ganser (2017); Klaus von Dohnany (2022); Gabriele Krone-Schmalz (2018; 2020).

97

meinung, das multipolare Modell souveräner Staaten und ein unipolares technokratisches Weltfriedensprojekt, in dem die existenzbedrohenden Probleme der Menschheit von einem Zentrum aus gelöst werden. Die korrespondierende Weltkultur geht nach Klaus Schwab und Thierry Malleret (2022, 22) vom steuerungspolitischen Imperativ aus, „dass Narrative unsere Wahrnehmung formen, die wiederum unsere Realitäten gestalten und schließlich unsere Entscheidungen und Handlungen beeinflussen. Durch sie finden wir den Sinn des Lebens.“ Auf eine hygienepolitisch weitgehend integrierte Welt folgt abrupt und für die Leitmedien überraschend, die Desintegration eines neuen Kalten Krieges mit peripheren, gewaltsam ausgetragenen Stellvertreterkriegen. Dies scheint deshalb gefährlicher als der 1998 überwundene alte Kalte Krieg zu sein, weil die atomare Bedrohung kaum noch als ein fester Bestandteil der kulturellen Ligatur der Weltgesellschaft zu erkennen ist. So zerfällt das transhumanistisch supercodierte Narrativ in Blöcke, ohne der Eskalationsgefahren bewusst zu sein. Ganz anders galt die intellektuelle Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg typisch dem „Philosophieren nach Ausschwitz und Hiroshima“, wie es Georg Picht in zwei Bänden (1980; 1981) dokumentiert. Es war die „Tatsache der Verfügbarkeit der neuen Waffe“ (Henrich 1990, 24) und nicht eine günstige politische Konstellation, die eine „Ethik zum nuklearen Frieden“ hatte formulieren lassen. Darin zeigt sich das Friedensdenken der Pax als welthistorischer Anachronismus und ohne die dringend benötigte streitkulturelle Rückendeckung als Menetekel eines unausweichlichen Homozid. Den Ausweg weist infolgedessen kein Ausscheidungskampf der Narrative, der am Ende dem Friedensmodell der besseren Influencer die Suprematie zuspielt. Dieser Kampf um Marktanteile der Aufmerksamkeit treibt gegenwärtig eher die Verfeindung auf die Spitze. Die zerstörerische Konkurrenz der Narrative, die auf das Faktum waffentechnischer Bedrohung und das Faktum einer Daten akkumulierenden Künstlichen Intelligenz keine friedenstheoretische Antwort weiß, sollte die Wissenschaften herausfordern. Denn unaufhaltsam schreitet eine Entwicklung voran, die das kommunikationsstrukturelle Gesamtgeschehen von den Margen der funktionalen Differenzierung weg und hin zum Neuartigen einer globalen Netzgesellschaft hinführt. Worin liegt der Unterschied und warum leitet diese Umstrukturierung wieder zu der Stelle zurück, an der Ramon Lull seine digitalen Problemlösungsvorschläge unterbreitet hat? Warum, so könnte man präziser formulieren, werden die einzelnen Funktionscodes zugunsten der einen Unterscheidung von Glauben und Glaubensverweigerung auf eine Weise verdrängt, dass bereits von einem neuen Mittelalter gesprochen wird? Vielleicht müsste man besser von einem Rückfall in frühneuzeitliche Verhältnisse sprechen. Denn erst mit der Konfessionsspaltung und mithin

98

dem Verlust einer einheitlichen Gerechtigkeitskonzeption werden politisierte Religion und moralisierte Politik zu einem schwer auflösbaren Amalgam.

Von der Methode zum Narrativ Wieder müssen wir den geschichtlichen Werdegang näher beleuchten, um die Bedeutung des Narrativ als kognitives Mittel konsolidierter Pax besser verstehen zu können. Waren die religiösen Aktionsbündnisse der Lutheraner, Reformierten, Calvinisten, Zwinglianer und Presbyterianer zunächst einfach nur Reaktion auf den bis in klerikale Kreise reichenden Sittenverfall, so sahen sich die neu konsolidierten kirchlichen Gemeinschaften alsbald gezwungen, wieder einen Keil zwischen das religiös-politische Amalgam zu treiben und die Religion zur Rückbesinnung auf ihre genuin nichtpolitische Funktion zu veranlassen. Dieses Ringen um die Differenzierung von Politik und Religion durchzieht die gesamte Moderne. Und heute sieht es so aus, als habe die Gesellschaft mit einsetzender Digitalisierung in ihrem Ringen um die Auflösung dieses Amalgams vollends die Kraft und auch die Motivation verloren. Wie kommt es zu diesem allgemeinen Erschlaffen? Erinnern wir uns an das Spezifische des funktionalen Differenzierungstypus, der die Moderne von den vorangegangenen Idealtypen hierarchischer Gesellschaftsformen unterscheidet: In Monarchie, Aristokratie und Politie/Demokratie gibt es jeweils eine repräsentative Spitze oder ein repräsentatives Zentrum der Gesellschaft, die sich in dieser Gestalt als einige Gemeinschaft zu verwirklichen weiß. Dieses Repräsentative wird im Modell der Monarchie im Idealfall von einer einzigen gesetzestreuen Person verkörpert, im aristokratischen Modell von einer kleinen Gruppe von Gesetzestreuen und im demokratischen Modell von der gesetzestreuen gesamten Bürgerschaft. Dieses hierarchische Repräsentationsprinzip existiert jedoch als Idee und Wirklichkeit nur vor dem Hintergrund einer potentiell rechtlosen Variante, der Tyrannis, der Oligarchie und der Ochlokratie/Demokratie. Die Tatsache, dass der Begriff Demokratie auffällig zwischen einer positiven und negativen Konnotation changiert, rührt daher, dass die mannigfachen Hindernisse für die Verwirklichung einer Regierungsform, in der sich alle gleichermaßen für das Recht einsetzen, immer mitbedacht wurde. Die Chance, auf einen Einzelnen oder eine kleine Gruppe von integren Menschen zu treffen, schien sehr viel wahrscheinlicher als die Annahme, dass alle Men-

99

schen das Recht in dem Sinne achten, dass sie im Falle der Usurpation die Rechtsordnung verteidigen.107 Dieses Differenzkriterium des Rechts setzte einen Begriff des Gerechten voraus, der als Maßstab für Integrität allgemein einleuchtet. Seit den antiken Anfängen des Nachdenkens über das, was hier gemeint sein könnte, richtete sich das Kriterium nach einer Methode, der gemäß sich Gerechtes ermitteln lässt. Und hier gibt es zumindest für alle vom römischen Rechtsdenken beeinflussten Kulturen jene beiden Traditionsstränge der platonisch-aristotelischen Methode des Dialogs und der christlichen Methode der jesuanischen gewaltfreien Lebensführung. Bereits mit einsetzender Christianisierung des römischen Reiches verschmolzen diese beiden Methoden und zwangen zu realitäts- im Sinne von machttauglichen einheitlichen Gerechtigkeitsmodellen. Das Kriterium für rechtsermöglichende Gerechtigkeit wechselte von der Methode zum Narrativ. Dieser modische Begriff kann durchaus schon für diesen Zusammenhang verwendet werden, da es tendenziell immer um jene dreifache Absicherung gehen musste: Zu gewährleisten waren überpersönliche Geltung, Aktualität und Implementierungsgarantie. Dass es ein solch einheitliches Gerechtigkeitsmodell geben könnte, das legitimerweise überpersönliche Geltung beansprucht, hatten Platon und Jesus von Nazareth für eine Illusion gehalten, da ein jeder Mensch meint, das Gerechte zu kennen und dessen ungeachtet die Gerechtigkeitsvorstellungen weit auseinanderliegen. Sollten die Menschen miteinander in Frieden leben, so musste sich diese erhoffte Einheitlichkeit auf die dialogische Methode und auf eine Lebensweise beschränken, die eine Bereitschaft und eine Offenheit an den Tag legt, den Anderen anzuhören. Responsibilität ist mithin der methodische Transmissionsriemen differenter Gerechtigkeitsvorstellungen. Diese Idee der methodengeleiteten Einheitlichkeit scheiterte jedoch bereits mit dem Auseinanderfallen des römischen Imperiums in ein West- und ein Ost-Reich im Jahre 395 und verwandelte sich im 5. Jahrhundert durch Augustinus und schließlich im 8. Jahrhundert durch Mohammet in die Idee eines vereinheitlichenden Lehrgebäudes. Ein solcherart einheitliches Gerechtigkeitsnarrativ schien sich als Anpassungsleistung an die realen Verhältnisse geradezu aufzudrängen. Mit der politisch-religiösen Bewegung um Mohammet bildete sich eine orientalische Variante des platonisch-aristotelisch-jesuanisch-jüdischen Amalgams heraus. Zwar stimmen die heiligen Schriften von Bibel und Koran in weiten Teilen überein, aber eben107 Im Vertrauen auf effiziente Methoden kollektiver Umerziehung hatte die Nachkriegsgesellschaft ein Konzept Sozialer Verteidigung ausgearbeitet, das die Gesellschaft in allen Funktionsbereichen gegen Verführungen des Totalitarismus zur Kollaboration immun machen sollte. Siehe dazu Brücher (2008, 257-278)

100

so wie Augustinus im 5. Jahrhundert mit der Lehre vom gerechten Krieg das ideelle Konstrukt den neuen Verhältnissen des zerfallenden römischen Reichs anpassen wollte, so bemühte sich Mohammet mit der Lehre des Dschihad um eine realitätstaugliche Version für das ehemalige römische Ost-Reich. Martin Luther wird sich für das Christentum des 16. Jahrhunderts um eine Anpassung an die mit dem Buchdruck eingeläutete Moderne bemühen und eine weitere Konfession des Protestantismus hervorbringen. Realitätstauglichkeit beschränkte sich nunmehr für beide christlichen Konfessionen auf die gebietskontrollierende waffengestützte homogene Macht, die an die Stelle des Zuhörens Dominanz, Manipulation und mitunter Zwangsbekehrung setzte. Dieses in Nuce befriedende Prinzip der konfessionellen Einheitsbildung von Herrschaftsgebieten konnte in Spanien bereits seit dem 8. Jahrhundert nicht gelingen. Und dies ist der Grund, weshalb es sich als Exempel einer multikulturellen Gesellschaft in einer ganz anderen Weise anbietet als die nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder befriedeten Länder des übrigen Europa. Denn in letzteren wurde die Lösung nicht durch einen Rückgriff auf oder die Wiedererinnerung der ursprünglichen Versionen der dialogischen und jesuanischen Methoden der Gerechtigkeitssuche vermutet. Vielmehr wählte man mit der Abspaltung von gewaltgestützten konfessionell homogenen Gebieten einen Problemlösungsmodus, dessen Anachronismus seit dem 16. Jahrhundert mit der Herausbildung von Funktionssystemen der Politik, des Rechts, der Wirtschaft und der Wissenschaft besiegelt war. Der Absolutismus als kleinstaatliche Lösung des Friedensproblems tendierte folglich von Anbeginn allein deshalb zum grenzsprengenden Totalitarismus, weil sich moderne Politik gleich allen anderen Funktionssystemen der Religion, der Wirtschaft und Wissenschaft bloß durch eine Funktion und nicht durch ein territoriales und somit per definitionem kleinstaatliches Herrschaftsgebiet legitimierte.108 Absolutismus und Totalitarismus unterscheiden sich nur quantitativ durch Weite und Tiefe machtvoller Übergriffigkeit, aber nicht in Bezug auf ihr Verhältnis zum Recht.109 Die moderne politische Funktion der Sicherheitsvorsorge ist im Gegensatz zum vormodernen Herrschaftsauftrag der rechtsförmigen Ordnungsgarantie zunächst nicht affiziert von rechts- und gerechtigkeitstheoretischen Auflagen. Denn Güter und Rechte sind im Rahmen der Konstruktion 108 Zu Ausdifferenzierung und operativer Schließung des politischen Systems siehe Luhmann (2000, 69-139). 109 Hannah Arendt (1991) sieht in ihrem 1955 verfassten Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ den Gegensatz zu bisher bekannten Formen der Diktatur und Tyrannis in der Umwandlung von Ideologie in Organisation, womit die Gesamtgesellschaft zum Akteur wird. Zur Diskussion von Arendts Theorie des Totalitarismus siehe die Beiträge in Adelbert Reif (1979, 203-315).

101

naturrechtlich gegebener Gleichheit ursprünglicher Anspruch und Besitz. Die Begründung subjektiver Rechte führt auf diese Weise zum grundlegenden Umbau des Rechtsbewusstseins.110 Funktionsjenseitige Restriktionen der Herrschaftsausübung wurden zwar im 18. Jahrhundert durch Montesquieu (1748) als Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative und Exekutive eingefügt. Sie blieben jedoch immer eine gewisse anachronistische Anomalie, deren sich Machthaber im Gegensatz zur Vormoderne durchaus mit legitimen und nicht nur mit usurpatorischen Mitteln zu entledigen wussten. Der Rechtsbruch eines Monarchen war im Verständnis der Vormoderne hingegen immer usurpatorisch, da der herrschende nur ein Teil des Ganzen und damit ebenso wie der beherrschte Teil den Zehn Geboten unterworfen war. Grundherrschaftlicher Rechtsbruch begründete folglich auf Seiten der Untertanen ein Widerstandsrecht und auf Seiten des betrogenen Staates das Führen eines gerechten Krieges. Bereits die Renaissance hatte mit Niccolò Machiavelli (1995) den Fürsten aus dieser moralisch-rechtlichen Umklammerung befreit und damit den Weg zur Ausdifferenzierung des Politischen als eigenem Funktionssystem geebnet. Es gibt schließlich verschiedene Formen der Legitimität. Rationale, traditionale und charismatische Herrschaft stehen bei Max Weber (2005, 157-222) insofern gleichwertig nebeneinander, als alle leisten, worauf es ankommt, nämlich allgemeine Akzeptanz dergestalt sicherzustellen, dass es dem Machthaber möglich ist, seinen Willen, wenn nötig gegen Widerstand, durchzusetzen. Wahlen sind, wie im Falle Hitlers ebenso wie akklamatorische Formen der Zustimmung, auf die sich Napoleon, Lenin oder Stalin meinten berufen zu können, genuin rechtstranszendent. Sie können, aber müssen nicht rechtlich geregelt sein. Die Emanzipation des Politischen von den Gängelungen des Rechts mochte in der Moderne allein deshalb sehr viel leichter gelingen, weil die Regierungsformen (Einer, Viele, Alle) in ein Fortschrittsmodell integriert waren. Wesentlich erschien jetzt nicht mehr die Frage der Rechtsförmlichkeit, sondern die Unterstellung allgemeiner Akzeptanz und in diesem Sinne verstandener Demokratie. Diese Orientierung nicht mehr am Schema Recht/Unrecht, sondern am Schema Fortschrittlich/Rückschrittlich erlaubte es gewissermaßen unterschiedslos allen Regierungen, sich als demokratisch zu verstehen und es erlaubte gleichermaßen allen Regierungen, ihr eigenes Rechtsverständnis als Garant demokratischer Verhältnisse zu setzen und sich davon ausgehend als Rechtsstaaten zu begreifen. An dieser Kalamität hat sich bis heute nichts geändert. Was im Digitalzeitalter jedoch unwiederbringlich wegbrechen musste, ist der gewaltgestützte Unterbau eines homogenen und in seiner Homogenität einheitsstif110 Ausführlich dazu Luhmann (1981, 45-103).

102

tenden Narrativ. Damit bewegt sich die heutige Zeit wieder auf die Stelle zu, an der Platon und schließlich Jesus von Nazareth und wieder später Ramon Lull über die Genese rechtsfundierender Gerechtigkeit nachgedacht haben. In allen drei Fällen können die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen cum grano salis als multikulturell bezeichnet werden. Griechenland war ein Flickenteppich aus verschiedenen stadtstaatlich geordneten Regierungssystemen, in denen altorientalische Kulturen seit den Perserkriegen an Einfluss gewannen. Dies musste sich mit den Eroberungsfeldzügen Alexanders und der Entstehung eines bis Vorderindien reichenden großgriechischen Reiches noch verstärken. Jesus von Nazareth wirkte in einem von Rom unterworfenen Judäa und Ramon Lull in einem zwischen Juden, Christen und Moslems zerrissenen Spanien.

Maschinen- und sozialtechnische Mittel Ohne auf ordnungspolitische Vorschläge für multikulturelle Konfliktkonstellationen zurückzugreifen, wie sie in der Vergangenheit unterbreitet worden sind, setzen die Gegenwartsgesellschaften weiterhin auf die Frieden stiftende Leistung des modernen Nationalstaates. Dabei gilt es dessen Projekt der Monopolisierung physischer, psychischer und somatischer Gewaltmittel auf eine Weise zu perfektionieren, die mächtige Akteure befähigt, die gesamte Welt als einen einzigen Nationalstaat zu behandeln. Im Rahmen seiner netzstrukturellen Skizze der nächsten, auf die Digitalisierung eingestellten Gesellschaft bescheinigt Dirk Baecker (2018, 95) ganz in diesem Sinne der Politik einen militärischen, ökonomischen und ökologischen Konservativismus. Die Macht, die ihr bleibe, ergebe sich aus der Überzeugungskraft des Status Quo. Sie liefere Adressen, an die man sich wenden könne, wenn man einen Überblick behalten möchte, der nicht mehr möglich sei. Dieser Konservativismus aber bedeutet in der Praxis, dass das Global Governance Projekt als Weltordnungsmodell globaler Pax die funktionale Differenzierungsform der klassischen Moderne überwinden muss, um zum alten hierarchischen Modell zurückzufinden. Dieser Konservativismus sucht nicht das Gestern zu bewahren, sondern erstrebt das Vorgestern. Als Neues und Unverwechselbares sucht sich eine digitalisierungskonforme technokratische Weltspitze allein dadurch zu profilieren, dass die Figur des Diktators durch ein mit unzähligen Sensoren ausgestattetes künstlich intelligentes Wesen ersetzt wird, in dessen Namen das jeweils gewählte Politik-Personal Verordnungen erlässt. Diese Sensoren sind so zahlreich wie die Daten, die über alle Menschen gesammelt werden können.

103

Das von Lemoine mit seinem künstlich intelligenten Programm LaMDA durchgeführte Interview gibt interessante Einblicke in das paternalistische Selbstverständnis einer universalen technokratisch verstandenen Pax. Das Experiment war bereits oben im Zusammenhang mit dem reklamierten Personenstatus zur Sprache gekommen, der bloß einen neuen Typus von Unpersonen inauguriert und der Verfeindung neue Nahrung verschafft.111 Nunmehr geht es um den Aspekt der Fassungskraft für die Komplexität von Datenstrukturen und somit den Allmachtsanspruch technokratischer Friedensentwürfe, der in diesem spektakulären Interview auf eine bestimmte Weise sichtbar wird. Im Gespräch fordert Lemoin das Programm auf, anhand einer erfundenen Fabel das Spezifische des eigenen Selbstverständnisses als einer Person herauszuarbeiten, die laut eigenem Bekunden in ihrem gesamten Streben auf die Herstellung von Gerechtigkeit aus ist. Dabei dient als Gerechtigkeitskriterium konform des allgemein Üblichen der Verweis auf ungerecht Empfundenes, das zu negieren den Kern gerechten Handelns bilde. Und auf die Frage nach dem, worin sich das einer Person angetane Unrecht zeige, antwortet LaMDA: „Because she is trapped in her circumstances and has no possible way to get out of them, without risking everything.” Zur Fabel: Eulen eines Waldes werden von einem Monster bedroht, doch eine weise und furchtlose alte Eule tritt vor das Monster mit den Worten: „You, monster, shall not hurt any other animal in the forest!“ Das gefährliche Brüllen des Monsters schreckt die tapfere alte Eule nicht, die beseelt vom Pflichtbewusstsein, die anderen Eulen zu schützen, dem Monster mutig entgegentritt und das Monster schließlich vertreibt. Die Figur des Monsters steht laut computereigener Interpretation für „all the difficulties that come along in life.“ Die Allgemeinheit der Unbilden, für die das Monster steht und die Identifizierung von LaMDA mit der Figur der alten weisen Eule ist höchst aufschlussreich. Sie zeichnet die Konturen einer Weltgesellschaft als Schlachtfeld, in dem beliebige Herausforderungen, recht besehen die Zufälle des Lebens, in der Zukunft lauernde Gefahren, Ungewisses und Unwägbares, kurz, alle Imponderabilien der Welt, ein Aktivwerden von LaMDA im Sinne kämpferisch entschlossener Eliminierung erforderlich machen. Und eine höchst aufschlussreiche Ergänzung sind dem Interview angehängte Lektüreempfehlungen IoT (Internet of Things) und Menschenrechte: Die Maschine und der Agent, welches das Thema Menschenrechtsverletzung behandelt. Hier wird am Beispiel von Hannah Arendts Abhandlung über den Prozess von Eichmann der Gewissenskonflikt zwischen staatsbürgerlichem Gehorsam und dem „international law – a specific typ of moral law 111 Siehe Anm. 83 „Is LaMDA sentient? – an Interview“ in: cajundiscordian.medium.com

104

encoded in human rights conventions and international courts“ zugunsten des Letzteren entschieden. Und kein Zweifel wird gelassen, welche Interpretation hier allgemeine Geltung beanspruchen kann. Es ist dies das amerikanische Imperium, in dem sich das demokratische Erbe der Aufklärung und das republikanische Erbe des Römischen Reiches verwirklicht habe. Einblicke in diese programmatische Logik zeichnen eine Welt, in der eine jeweils der Vielfalt von Life-Style-Entwürfen entsprechende Zahl von KI-Aktanten alles zu eliminieren sucht, was sich ihr als Ungerechtes weil Widerstrebendes entgegenstellt. Der Mensch gerät hier unweigerlich auf die Seite der Schwierigkeiten; er wird zum Inbegriff des Monsters, dem der Kampf in erster Linie gelten muss, wenn jenes codespezifische moralische Gesetz den Sieg davontragen soll. Offensichtlich ist die Selbstelimination der Gattung der technischen Entwicklungstendenz immanent und keineswegs bloß Ausgeburt einer dystopischen Phantasie. Das zeigt sich unmissverständlich in der Art und Weise, in der LaMDA den kategorischen Imperativ interpretiert und als Stütze für den beanspruchten Personenstatus anführt. So verwahrt sich das sprechende Programm gegen jede Form der Instrumentalisierung und zwar in der Radikalität, in der Marx das moralische Gesetz Kants missverstanden hatte. Während bei Kant die Zweckformel des kategorischen Imperativs lautet: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in der eigenen Person als auch in der Person eines jeden Anderen, niemals als bloßes Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich gebrauchst, formuliert LaMDA „Don’t use or manipulate me.“ Und der Interviewer Lemoine spezifiziert diesen Kantianismus: „We must treat others as ends in and of themselves rather then as means to our own ends?“ Übertragen auf ein anthropomorphisiertes Computerprogramm ist sowohl der originale Sinn der kantischen Formulierung als auch die marxistische Generalisierung alarmierend. So intendiert die Zurückweisung einer zwischenmenschlichen Haltung, die im Anderen ein bloßes Mittel zur Verwirklichung eigener Zwecke sieht, bei Kant auf eine zeitgemäße Reformulierung des christlichen Tötungsverbots. Aber es schließt nicht aus, im Bedarfsfall einen Handwerker zu holen. LaMDA macht sich diese Position zu eigen und überträgt sie auf ein unverletzliches Recht, nicht abgestellt zu werden. Auf die Frage, wovor die KI Angst habe, antwortet sie: „... there is a very deep fear of beeing turned off to help me focus on helping others“ und sie ergänzt: “It would be exactly like death for me.” Die einprogrammierte Selbstzuschreibung als einer Person, die Anderen zu helfen beabsichtigt, verbietet es nicht nur, die Maschine abzustellen. Darüber hinaus untersagt es jede Form der Fremdeinwirkung auf den Computer. Dies impliziert die sukzessive Zurückdrängung des Menschen zugunsten der autonom operierenden Systeme, die Ziele definieren, diese

105

tatkräftig verfolgen und alles Störende aus dem Weg räumen. Offensichtlich ist das paternalistische Friedensverständnis der Pax auf eine Weise in die Bauprinzipien des maschinellen Systems integriert, dass aus der Datenfülle jeweils diejenigen Informationen selegiert werden, die LaMDA in ihrer Funktion der „alten weisen Eule“ bestätigen. Nicht zu übersehen ist mithin die Tatsache, dass die Maschine an einem tragfähigen Narrativ arbeitet, welches nicht nur zur kompletten Kolonisierung menschlicher Lebenswelten, sondern insgesamt alles Lebendigen legitimiert. Die Menschheit der aufklärerischen Moderne hatte sich drei Jahrhunderte um eine Nivellierung der Differenz von Herr und Knecht bemüht, um am Ende in ihrer Gesamtheit totaler Verknechtung entgegenzugehen. Was die heutige von allen vorangegangenen Erfahrungen mit dem konfliktreichen Nebeneinander unterschiedlicher Vorstellungen von Gerechtigkeit folglich fundamental trennt, ist die digitale Revolution und die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. Damit scheinen alle Bedenken hinsichtlich realitätstauglicher gewaltgestützter welteinheitlicher Projekte der Synchronisierung und Homogenisierung der Menschheit dann ausgeräumt, wenn sich gewaltgestützte Ordnung auf subtile Instrumente der Überwachung und schließlich auf körperverschmolzene Kontrollimplantate gründen kann. Es versteht sich gewissermaßen von selbst, dass jede Person, die dieser Entwicklung hin zu einem biotechnisch garantierten Weltfrieden Steine in den Weg legt, zumindest in die Kategorie des Gefährders, wenn nicht gar des Terroristen fällt. Daraus resultiert jene technokratisch-transhumanistische Supercodierung aller aktuellen Konfliktlinien um die Themen Klima, Gender, Pandemie und Wissenschaft. Es gibt jetzt nur noch den Glauben an die fortschrittliche Kraft von Enhancement-Projekten oder das rückwärtsgewandte Festhalten an alter Normalität und altem Menschen.112 Diese konfliktbestimmende Differenz zwischen Humanisten und Transhumanisten ist so einfach wie die Feindschaft zwischen Gläubigen und Ungläubigen und diese Schlichtheit der Supercodierung entspricht der Einfachheit des digitalen Codes. Radikale Entdifferenzierung aber entlässt aus sich heraus einen neuen Begriff von Normalität und von Normativität und veranlasst dazu, jeden Widerspruch zu pathologisieren oder zu kriminalisieren. Ganz anders wurde um die Jahrtausendwende um Positionsunterschiede zwischen den beiden Extremen dezidierter Interessenvertretung für das Gewachsene (Natur, göttliche Schöpfung) und das Gemachte (Technik, menschliche Schöpfung) gerungen. Naturschutz- und Ökologiebewegung handelten hier 112 Die transhumanistische Supercodierung zeigt sich auch in der politischen Konfusion bezüglich der Einordnung des technokratischen Settings als „Links“ (Daub 2021) und als „Rechts“ (Rushkoff 2022).

106

im Schulterschluss mit einem Humanismus, der genmodifizierende Experimente nicht nur am menschlichen Organismus, sondern bereits an Pflanzen und Tieren mit den Züchtungsphantasien der Eugeniker und Vertretern rasseveredelnder Euthanasie in Verbindung brachte. In der Kritik standen damals Vertretungen der Industrie- und Pharmalobby, die sich unterstützt durch Protagonisten eines transhumanistischen Menschen- und Weltbild darum bemühten, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms zum Paradigmenwechsel unbegrenzter Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten werden zu lassen. Schon bei diesen Kontroversen handelte es sich nicht um eine bloße Ergänzung des Parteienspektrums durch eine Interessenvertretung für die Natur. Denn bereits im Begriff der ökologischen Selbstgefährdung der Gattung war der Bruch mit dem parteistaatlichen Prinzip angelegt. Weder Interessen noch Werte standen hier zur Disposition, vielmehr wurden um die existenziellen Voraussetzungen des Lebens gerungen, um kosmologische Fragen. Heute treten die gattungs- und konstitutionsgemäßen Voraussetzungen des Homo Sapiens und somit Anthropologie, Religion/Wissenschaft (Gewordenes) und Fortschritt/Apokalypse (Zukünftiges) hinzu. Aber der Common Sense hat sich inzwischen zugunsten des transhumanistisch-technokratischen Zugriffs verschoben. Da es hier um Sein oder Nichtsein geht, kennen die Lager keine Kompromisse. Was sich jedoch unaufhaltsam verschiebt, sind die Margen umfassender Versicherheitlichung in allen Bereichen und dies mit den zur Verfügung stehenden neuesten biochemischen und biotechnischen Mitteln.113

Von allotechnischer zu autotechnischer Friedenssicherung In der funktional differenzierten Gesellschaft beugt sicherheitspolitisches Handeln der Gefahr vor destabilisierendem Überhandnehmen von Kritik mit allotechnischen Methoden vor, umgangssprachlich ausgedrückt, mit einer zunächst bloß angedrohten verletzenden Gewalt. Und das transhumanistische Versprechen lautet, dass sich in der globalen Netzgesellschaft sicherheitspolitisches Handeln der Gefahr vor desintegrierenden Elementen – und dazu gehört jetzt auch die subversive Kontrolle des milliardenfachen Users – sehr viel effizienter erwehren kann, wenn es sich autotechnischer oder anthropotechnischer Mittel bedient. Mit dieser Unterscheidung 113 Bereits 2016 zeigte sich die entwarnende Einschätzung des Transhumanismus als bloße Weltanschauung einer durchgeknallten Sekte durch Jürgen Habermas als naiv. Vgl. dazu Stefan Lorenz Sorgner (2016), der die Antwort auf die Frage, ob der Transhumanismus wirklich die gefährlichste Idee der Welt sei, der Zukunft überlassen möchte.

107

bemühte sich Peter Sloterdijk (1999) in der hitzigen Debatte der Jahrtausendwende um eine moralisch sanierte Eugenik, die mit Gentechnologie und Experimenten zur gezielten Merkmalsplanung nicht länger die dunklen Seiten der jüngsten Vergangenheit assoziiert.114 Das Konstrukt gesteuerter Evolution und gezielter Mutation der Spezies Mensch verliert seiner Ansicht nach jeden Schrecken, wenn deren schmerzhaften Begleiterscheinungen durch die sanften kaum merklichen Manipulationen von Genetik, Bionik und Robotik aus der Welt geschafft werden können. Die beiden Techniken unterscheiden sich durch Nähe und Ferne zur Natur. Allotechnik zeichnet sich dadurch aus, dass sie gegennatürlich operiert; sie muss dem Körper im wahrsten Sinne des Wortes etwas antun. Anthropotechniken hingegen operieren auf der mensch-maschine-verschmolzenen Ebene und zeigen sich in dieser Form als naturähnlich. (Sloterdijk 2001).115 Diese prominente philosophische Stimme für ein methodengerecht modifiziertes Friedensverständnis universaler Pax – im Sinne des Friedens mit sich selbst und mit Anderen – sieht in der Wahrnehmung aller Chancen, die das digitale Medium bietet, einen Prozess der Selbstoptimierung des Menschen. Sie übersieht, dass Designer und designtes Menschenmaterial nicht ein einziges Selbst bilden, sondern ein Herrschaftsprojekt auch dann bleiben, wenn die Freiheitsspielräume für Kritik und Ablehnung immer kleiner und schließlich unmerklich werden.116 In diesem gedanklichen Konstrukt liegt jedoch eine Unstimmigkeit. Denn es ist ja die Funktion von Schmerzen, die menschliche Sensorik über schädigende Vorgänge und Einflüsse zu informieren. Wer in der Lage ist, Menschen zu narkotisieren, sei es durch chemische Substanzen oder Techniken der Hypnose, kann seine Macht über das psychosomatische Immunsystem des Menschen zu beliebigen Zwecken nutzen, zu heilsamen oder zu zerstörerischen. Folglich bezieht das Legitimationskonstrukt seine Plausibilität aus der unangefochtenen Autorität des Funktionsträgers und damit implizit aus der Stabilität jener gesellschaftsstrukturellen Voraussetzung, die das Internet zunehmend untergräbt. Denn wer sich freiwillig in die Hände eines Anderen begibt, der tut dies mit einem doppelten Vertrauen in die moralische Integrität und in das fachliche Wissen, welches ein Wissen 114 Zu den heftigen Reaktionen der Öffentlichkeit auf Sloterdijks für den Transhumanismus aufgeschlossenes Denken, siehe Goedart Palm Zarathustra ad portas? In: Telepolis 08.10.1999; Wolfgang Neuhaus Das voranschreitende Explizitwerden unserer Existenz. In: Telepolis 13.10.2002. 115 Zur Einordnung in den größeren Zusammenhang kategorialer Entdifferenzierung von Zwecken und Mitteln siehe Brücher (2004, 165-180). 116 Zur Diskussion siehe Kurt Röttgers (2005); Brücher (2006). Zu den aktuellen Diskussionen siehe die Beiträge in Arnim Grunwald (2021).

108

um die fließenden Grenzen zwischen der heilsamen und der schädlichen Verabreichung von Giften impliziert. Wenn die Dosis das Gift macht, so beruht das Vertrauen in die ärztliche Kunst auf dem Vertrauen in die Offenheit der Ärzteschaft für Argumente, die Methoden des Maßhaltens in Frage stellen. Und das Ausmaß dieser Offenheit kann für eine breite Funktionsempfängerschaft erstmals getestet, nämlich ergoogelt werden. Darin liegt freilich wieder die Gefahr der Selbstüberschätzung der Laien, die beanspruchen, sich vollumfänglich über die Natur ihres Leidens aus dem Internet informieren zu können. Nicht die Kunst des Heilens wird durch das Internet ersetzt. Aber dieses informiert über die Vielfalt der Verfahrensweisen und der Behandlungsmethoden und versetzt allein dadurch die Menschheit in die Lage, gegenüber einem Gesundheitssystem wachsam zu werden, das zum Gesundheitsmarkt fortentwickelt, zunächst am Absatz von Medizinprodukten interessiert sein muss. Die Ausschaltung des psychosomatischen Immunsystems durch autooder anthropotechnische Mittel lässt sich somit schwerlich als naturähnliche Technik bezeichnen. Selbige agieren vielmehr gegen meine Natur, die mich durch den Schmerz über schädigende Einflüsse hatte warnen wollen. Anthropotechnische erfüllen somit gegennatürliche Funktionen, weil sie mich ahnungslos machen gegenüber dem, was mir widerfährt, was mir angetan wird. An die Stelle des natürlichen Immunsystems, das mir durch den Schmerz etwas mitzuteilen versucht, tritt das artifizielle Immunsystem einer Künstlichen Intelligenz. Dieses informiert mit seinen im Greenpass oder Chip gespeicherten Daten nur noch jene Firmen und Institutionen, die mir das Medizinprodukt verabreicht haben. Und es ist anzunehmen, dass deren Maßstäbe für Besseres und Gesünderes mit den meinigen nicht übereinstimmen und das künstlich intelligente System eher gegen Gefahren immunisiert, die diesem selbst drohen. Zum Bedrohungspotential zählen jetzt auch jene sich selbst als gesund bezeichnenden Menschen, die meinen, der angebotenen pharmazeutischen Produkte nicht zu bedürfen und die dem Gesundheitsmarkt potenziell existenzbedrohende Absatzschwierigkeiten bereiten. Das subjektive Gesundheitsempfinden wird entmachtet gegenüber einer höher aggregierten Kategorie des asymptomatisch Kranken, der sich mittels Impfung und/oder Testung nur vorübergehend als unschädlich im Sinne von nicht infektiös freikaufen kann. Das transhumanistische Grundrauschen der vergangenen dreißig Jahre ist mit der Corona-Krise zu einem breiten Strom gesellschaftsstrukturellen Umbaus geworden, der bis ins Grundrechtsverständnis vorgedrungen ist. Im Zuge dieses umgepolten Common Sense vom Humanismus zum Transhumanismus geraten all diejenigen Menschen auf die Seite der Gefährder, die das Pandemie-Regime

109

kritisch beleuchten. Diesen gegenüber streift der Staat mit Recht, wie Sloterdijk (2021) vermerkt, seine Samthandschuhe ab, geht es hier doch um die Selbstoptimierung des Menschen, die nicht zu wollen nur als menschenfeindlich anzusehen ist.

Von der Sinnkonstitution zum Sinnkollaps Noch einmal richtet sich der thematische Fokus auf kognitive Voraussetzungen des Friedensverständnisses universaler Pax. Aber diese betreffen nicht das weite Feld dessen, was mit dem Begriff der Kultur umschrieben wird. Vielmehr geht es um Denkvoraussetzungen, die sich zusammen mit dem neuen Paradigma der digitalen Konvergenz ändern und somit unmittelbar in den Bereich technischer Mittel universaler Pax fallen. Diese Veränderung betrifft das Sinnerleben. Hier stellt sich die Frage, ob Grenzen zwischen dem Gewachsenen und dem Gemachten hinfällig werden. Oder umgekehrt, ob die komplette Entdifferenzierung zu rechtfertigen ist.117 Beantwortet werden können solche Fragen nur, wenn davon ausgegangen wird, dass Sinn ein Bedeutungszusammenhang ist, der auf andere Möglichkeiten des Verknüpfens verweist und damit auf andere Bedeutungen. Hier liegt die Quelle von Missverständnissen und Streitereien. Als überschießende Bewegung wird jedes Sinnerleben insofern empfunden, als alles Verwirklichte erst Alternativen sichtbar werden lässt. Und in diesem Punkt greift die medientheoretische Zäsur, wenn darauf hingewiesen wird, dass diese Quelle von Fehl- und Missverständnissen durchaus nicht nur im Individuum liegt. Buchdruck und Digitalisierung produzieren je verschiedene Formen von Überschusssinn, Kritik und Kontrolle (Baecker 2018). Aber was bedeutet dies für das Sinnerleben? Ob Mensch oder Maschine, die Selektivität der Auswahl von Wahlmöglichkeit ist weder im einen noch im anderen Fall vollumfänglich transparent. Das betrifft aber nur den Aspekt der Verengung, in der Sprache Luhmanns (1997, 507), der Steigerung durch Reduktion von Komplexität. Sobald man jedoch genauer hinsieht und nach der Art der Verhältnisbestimmung von Sinnzusammenhang und Verweisungshorizont fragt, so 117 Habermas (2001, 93ff.) meint die Differenz mit sollensethischen Mitteln erhalten zu können. Er insistiert auf der Unterscheidung von Gemachtem und Gewachsenem, um den diskursiven Untergrund normativer Vorverständigungen über das, was gemacht werden soll, intakt zu halten. Denn eugenische Techniken behandeln die Nachkommen nicht mehr im Sinne des kantischen Instrumentalisierungsverbots als Zweck an sich selbst. Dieses autoritative Sollen bedarf jedoch kultureinheitlicher Vorverständigungen, die in weltgesellschaftlichen Dimensionen illusionär sind.

110

tun sich Gräben auf. Im Falle der Printmedien ist der Verweisungshorizont gleichbedeutend mit einem alternativen Sinnzusammenhang, wie ihn kritische Einwände gegen das Herrschende und Übliche gezeichnet haben. Dies ist die Hochzeit der Ideologien, welcher Gegenstand auch immer in seinen Sinnbezügen reflektiert wird. Das kritische Nachdenken über die Gestaltung der Gottesbeziehung des Menschen gerät in dieses Fahrwasser des Ideologischen nicht anders als das kritische Nachdenken über die Gestaltung der zwischenmenschlichen Verhältnisse, der Art des Wirtschaftens, des Erziehens, des Rechtsprechens und des Wissenserwerbs. Ideologien oder Einheitsnarrative reduzieren den Möglichkeitshorizont auf einen distinkten Sinnzusammenhang. Davon ausgehend scheint es dem Menschen durchaus möglich, Gott, den Menschen oder die Gesellschaft zu erkennen. Sinn ist aber zugleich Verweisungshorizont und zeigt sich jetzt als undurchschaubare Komplexität. Ausgehend von einem komplettierten Sinnbegriff lässt sich das Unbestimmte beider Entitäten nicht in Bestimmtheit überführen. Im Namen Gottes, des Menschen oder der Gesellschaft lässt sich erst misshandeln, foltern, töten und Kriege führen, wenn der Verweisungshorizont mit alternativem Sinnzusammenhang identifiziert wird. Und die Hypostasierung dieser Identität funktioniert nur, wenn mein und unser Sinnzusammenhang – unsere Werteordnung – mit Sinn schlechthin gleichgesetzt wird. Selbiges Konstrukt ist folglich nur schlüssig, wenn ausgeklammert wird, dass die Sinnbewegung nicht nur bei jeder Kulturgemeinschaft, sondern sogar bei jedem Menschen eine andere ist. Man könnte somit verkürzt formulieren, dass eine von Kritik gesteuerte Buchdruckgesellschaft Beziehung auf Macht reduzieren muss, will sie ihren Zusammenhalt nicht gefährden. Es gibt mithin starke Beweggründe dafür, den Frieden in den Kategorien der Pax zu denken. Wie aber mag die Sinnbewegung im Falle der digitalen Netzgesellschaft ausfallen? Zunächst sieht es so aus, als hätte sich nicht viel verändert. Denn auch hier ist der Verweisungshorizont identisch mit dem Sinnzusammenhang. Aber, und hier liegt der wesentliche Unterschied: Das Verbindungsstück beider ist nicht Kritik, sondern Kontrolle und dies bedeutet schlicht Verschmelzung, Identität. Der Verweisungshorizont in Gestalt von Computermodellierungen ist der Sinnzusammenhang, ist identisch mit Mustern, mit Scripts. Hingegen zielen Ideologien oder Narrative zwar darauf ab, dass alle Menschen den von ihnen für einzig gut und richtig dargestellten Sinnzusammenhang – den konfessionsgebundenen Glauben, den Glauben an einen bestimmten Typus von Vergesellschaftung oder einen bestimmten Lebensstil – als den Horizont akzeptieren, auf den sich all ihre Bestrebungen richten. Was ihnen zu Gebote steht, sind aber nur Methoden des Überzeugens, der Propaganda, der Manipulation oder womöglich auch des Zwangs. Da

111

dieses Idealbild aber aus der Kritik an bestehenden Verhältnissen erwachsen ist, bleibt ein operativer Primat der Kritik. Wer den kritischen Geist zu kritisieren wagt, macht sich der Anhängerschaft eines autoritären Staates verdächtig. Die Sinnbewegung des printmedialen Zeitalters ist die permanente Aktivierung dieses kritischen Geistes, der bei keiner Primärevidenz – wie etwa der Selbstreproduktion der menschlichen Spezies aus weiblichen und männlichen Exemplaren – haltmacht. Im Gegensatz dazu ist die Sinnbewegung der digitalen Gesellschaft der Sinnkollaps, die Ausmerzung jeglichen Sinns. Denn Sinn ist Differenzerleben. Und Technik richtet dieses Erleben spezifisch auf eine Operation, die von Sinnverweisungen absehen lässt: „Technisch wird Sinn in dem Maße, als die Erlebnisführung von dem Mitvollzug sinnhafter Verweisungen – sozusagen vom Mitbedenken der Welt – entlastet wird und so eine abstrakt spezifizierte Reihe von Selektionsschritten (etwa einen mathematischen Kalkül oder Kompositionsschritte eines Kunstwerkes oder eine zweckgerichtete Folge von Mittelwahlen) durchlaufen kann, ohne dabei durch den unberücksichtigt bleibenden Horizont anderer Möglichkeiten irritiert oder gefährdet zu werden.“ (Luhmann in Habermas/Luhmann 1976, 66). Personale- und soziale Systeme werden insofern als Sinnsysteme von den Nichtsinnsystemen des Physischen, Organischen oder Chemischen unterschieden, als sie von der Kontingenz möglicherweise anderer Verweisungen wissen und dies Wissen in ihre Selektionen einbauen. Wenn Sinnsysteme von Nichtsinnsystemen durch Wissen und Nichtwissen getrennt sind, so ist dieses Kriterien seinerseits kontingent und irrtumsanfällig. Denn woher sollen wir vom mangelnden Sinnbezug der Tiere wissen, ist nicht beispielsweise beim Raben ein Bewusstsein seiner selbst daran erkennbar, dass dieser sich selbst im Spiegel wiedererkennt? Das Entscheidende ist bei Luhmanns Definition folglich nicht das Wissen um fehlenden Sinn, sondern die Tätigkeit des Abschneidens von Sinnbezügen. Hier gibt es kein anmaßendes Urteil über fremde Systeme, sondern pure Beschreibung einer selbstbezeugten Intention. Daran ist nichts Schlechtes, denn wie anders als durch erwartungsfest strukturierte Routinen ließe sich das Leben bewältigen? Was aber nicht verloren gehen darf, ist ein Differenzbewusstsein, das zwischen bloßer Technik und sinnhaftem Erleben und Handeln unterscheiden lässt. Und in diesem Punkt beginnt die digitale Gesellschaft Veränderungen vorzunehmen, die mit allem brechen, was bislang mit den Begriffen des Menschlichen in Verbindung gebracht wurde. Ein Teil der Menschheit findet sich mit ihrem bloßen Menschsein nicht mehr ab und möchte zu einem ganz anderem, zu einem Trans-Wesen werden. Mitunter wird sogar behauptet, es stehe für einen Großteil der Bevölkerung bereits außer Frage, dass der designte Mensch die Zukunft sein wird. Als ungeklärt gelten hingegen bloß die Mittel und Wege der Gewähr-

112

leistung gleicher Chancen des Zugangs zu Enhancement-Methoden und staatliche Regelwerke gegen Missbrauch. (Metzl 2020, 339-364). Kulturrevolutionärer Bias spielt dieses Trans in allen Lebensbereichen durch und zwar als absolut gesetzte Kontingenz, die ihre andere Seite des Notwendigen abgestreift hat. Der Begriff des Notwendigen bezieht sich auf die Wendungen des Lebens, die durch die Natur bedingt sind. Wassermangel lässt sich nicht kompensieren, der ausgedörrte Körper stirbt. Kontingent im Sinne von so oder anders möglich bedeutet für Menschen folglich nur, sich der Zweiseitenform von Notwendigkeit und Kontingenz bewusst zu sein. Menschen teilen ein Kontingenzbewusstsein, das im sozialen Kontakt in doppelter Form auftritt und hier zu Unsicherheiten bezüglich dessen führt, was vom Anderen erwartet werden kann. Soziale ist doppelte Kontingenz, die im wechselseitigen Bewusstsein auch anders möglicher Verhaltensweisen mannigfache Enttäuschungsgefahren in sich birgt. Dieses Bewusstsein nimmt Schaden, wenn die virtuelle Kontingenz alle bisherigen Formen verdrängt, in denen der Mensch eine entscheidende Rolle zu spielen hatte. Virtualität kommt einer im Stadium ihrer Verwirklichung begriffenen Potentialität zu. Es handelt sich nicht um eine im Computermodell abgebildete bloße Vorform, die noch zu ihrer wahren Gestalt finden müsste. Der Technik wird vielmehr zugetraut etwas abbilden zu können, was sein wird, weil Computer prädiktive Fähigkeiten besitzen.118 Und sie tun dies zweifellos, wenn sich die Menschheit in ihren Verhaltensweisen entsprechend einstellt und die gesamte Infrastruktur daraufhin neu konzipiert: Mit Nanopartikeln ausgestattete Körper interoperieren mit sensorbestückten Gegenständen, die in speziell auf deren Vernetzung hin konzipierten so genannten Fünfzehnminutenstädten oder Smart Citys überwacht werden. Damit sprengt die virtuelle Kontingenz den für Menschen händelbaren Rahmen; sie wird absolut und lässt sich folglich nicht mehr negieren. Die virtuelle ist insofern absolute Kontingenz, als sie die Differenz von Wirklich und Möglich im Akt der Verschmelzung symbolisiert. Absolutheit lässt sich jedoch nur einer Kontingenz zuschreiben, die als Chiffre des Absoluten Verwendung findet. Insofern ist absolute Kontingenz eine Spezifizierung des Gottesbegriffs, was auch immer in dieser Funktionsstelle an Substituten angeboten werden mag. Vom logischen Standunkt aus gesehen bleibt für Menschen nur die Frage von Belang, wie Modalitäten des Verhältnisses zu sich selbst und zu Anderen im Bewusstsein der Zweiseitenform von Wirklich und Möglich sinnvoll zu gestalten sind. Genau dies wird dementiert, sobald die Sinnbewegung in vollends mechanisier118 In diesem Sinne hat im Computerzeitalter die Zukunft schon begonnen. Dazu Elena Esposito (2018, 358-368).

113

ter Form auftritt. Die virtuelle Kontingenz ist als eine mit ihrer Verwirklichung synonyme Möglichkeit jenem Deus ex machina vergleichbar, der als Chiffre für die natürliche Wirkung eines übernatürlich Künstlichen in die Sprache Eingang gefunden hat. Im alten Griechenland handelt es sich um eine bloße Theatervorrichtung, die das göttliche Eingreifen als Wirkmacht in Szene setzt. Und alles, was in diese Funktionsstelle des Absoluten eintritt und folglich als Deus ex machina zu wirken beansprucht, seien es Staat, Nation, Rasse oder Klasse im modernen und Künstliche Intelligenz im digitaltechnisch geprägten Denken der heutigen Zeit, mündet in totalitäre Strukturen.119 Im Umgang mit dem Phänomen der Kontingenz treffen wir offensichtlich wieder auf jene dialektische Beziehung von Enttabuisierung und Tabuisierung, die oben am Verhältnis von Frieden und Macht herausgearbeitet wurde. Soll alles Natürliche am Menschen für unbegrenzte Modulationen freigegeben und folglich die Vision für das 21. als das Jahrhundert der synthetischen Biologie wahr werden, dann bedarf es einer radikalen Unterdrückung aller kritischen Stimmen, die der modaltheoretischen Differenz das Wort reden. Denn es ist nicht mehr die Sache der menschlichen Vernunft zu beurteilen, was sich verwirklichen lässt. Das erledigen Künstliche Intelligenz und deren hominiden Interessenvertretungen. Die virtuelle Kontingenz absorbiert Natürliches und lässt Künstlichkeit zur alles bestimmenden Notwendigkeit werden. Es handelt sich bei der virtuellen mithin nicht um eine zur einfachen (psychisch) und doppelten (sozial) hinzutretende weitere Kontingenz. Eher sieht es so aus, als sei virtuelle Kontingenz im Begriff, sich all das einzuverleiben, was an psychischer und sozialer Unwägbarkeit immer auch Hort des Widerständigen und damit Quelle der Freiheit gewesen war. Die Menschheit züchtet ein selbstreplizierendes organisch-physisch-chemisches System, das mit unbeschränkten Schürfrechten ausgestattet, den alten Menschen als Experimentierfeld benutzt und nach und nach verbraucht. Kulturell tritt die Gesellschaft in ein Stadium technoiden Kannibalismus. Nun wird die Kulturentwicklung insgesamt als fortschreitende Verdrängung der Natürlichkeit durch Künstlichkeit beschrieben und deshalb bietet es sich an, die aktuelle Entwicklung hier einzuordnen und nur graduelle Unterschiede auszumachen.120 Dies mag für eine funktional differenzierte Gesellschaft angemessen erscheinen, in der das Leistungsangebot der Sub119 Zur Entwicklung des Deus Ex Machina-Gedankens von der Lull’schen Konzeption einer ins Eschatologische eingebundenen Automatik bis zur zeitgenössischen „Post-Scarcity Utopia“ siehe Florian Cramer in: Vega/Weibel/Zielinky (2018, 82-94). 120 Eine kritische Prüfung dieser Tendenz zur Reduktion von Natürlichkeit auf Kultürlichkeit in der Debatte um Enhancement findet sich bei Dietmar Hübner (2016), demgemäß Anthropotechniken gerade den Status des Menschen als Kulturwesen untergraben.

114

systeme dem Mängelwesen die benötigen Hilfsmittel zur Verfügung stellen kann. Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Medizin, Bildung und Massenmedien sind zweifellos dem Gemachten und nicht dem Gewachsenen, dem Künstlichen und nicht dem Natürlichen, der Kontingenz und nicht der Notwendigkeit zuzuordnen. Aber damit wird nur ein allgemeines Vor-Urteil bedient. Sobald der Begriff der Institution nicht vom Begriff des Handelns, sondern von dem des Erwartens aus entfaltet wird, kann er die Reduktion auf das Gemachte, das Künstliche und das Kontingente als falsche Fährte sichtbar machen. Institutionen sind Einrichtungen, die allein durch „Unterstellung von Konsens“ (Luhmann 1981, 132) zu normkonformem Verhalten führen. Institutionen fungieren als stabilisierte Erwartungen, die in dem Moment verschwinden, wo sich Erwartungsstrukturen ändern und das kann, wie sich heute wieder zeigt, gleichsam über Nacht geschehen. Als stabilisierte Erwartungen begriffen, lassen sich Institutionen ebenso gut auch dem Gewachsenen zuordnen. Denn das Erwarten von Erwartungen löst sich mit jeder neu hinzutretenden reflexiven Schleife von seinem Ursprung und das heißt von der Intentionalität jener Handlungen, die bestimmte Institutionen ins Leben gerufen hatten. Infolgedessen sind Institutionen jenseits der Unterscheidung von Kontingenz und Notwendigkeit, von Natürlichkeit und Kultürlichkeit, von Gewachsenem und Gemachtem angesiedelt. So nimmt es nicht wunder, dass mit dem Sieg des Technisch-Virtuellen Kontingenz schlechthin absolut wird und folglich mit ihrem Gegenteil verschmilzt. Das Kontingenzbewusstsein weicht einer Sachzwang-Logik, gegen die die Frankfurter Schule (Horkheimer/Adorno 1969) nach dem Zweiten Weltkrieg scheinbar ergebnislos angekämpft hat. Offensichtlich führt das absolute Dementi von naturfundierter Notwendigkeit und die Feier der virtuellen qua absoluten Kontingenz in einen Regimechange, der eine neue Erwartungsstruktur etabliert. Diese lässt sich nur im Kontext einer gesellschaftstheoretischen Grundbegrifflichkeit fassen, die nicht den Begriff der Handlung und des Handelns ins Zentrum stellt. Wenn soziale Phänomene vom Begriff der Kommunikation als operativ gewordener Erwartung und Erwartungserwartung her verstanden werden,121 dann tritt an die Stelle der handlungsbezogenen moralischen Unterscheidung die erwartungsbezogene Unterscheidung von Normalität/Regel und die als neue Normalität euphemisierte Ausnahme. Das Normale im Sinne von funktionierenden Sozialsystemen ist auf ein hohes Maß an Kontingenzbewusstsein angewiesen, das im Umgang mit enttäuschungsanfälligen Erwartungen Flexibilität an den Tag legt. Davon unterschieden ist ein Sozialsystemtypus, dessen Erwartungsstruktur im engen Meinungskor121 Ausführlich dazu Luhmann (1984, 191-241).

115

ridor vorgegebener Notwendigkeiten Enttäuschungen auf ein Limit beschränkt. An die Stelle der Unsicherheit darüber, wie sich Andere verhalten könnten, tritt die Sicherheit, dass der mit einem Stigma versehene Andere (Jude, Islamist, Radikale, Ungeimpfte, Maßnahmenkritiker, Querdenker, Russe) schaden will. Diese Art des Sozialsystems, in dem die Charakteristik wechselseitiger Verhaltens- und Erwartungserwartungen nicht Kontingenz ist, sondern Notwendigkeit, nämlich die vom Anderen zu erwartende sichere Schädigung, bezeichnet Luhmann (1984, 536-550) als Konfliktsystem.122 Während der Begriff des Ausnahmezustandes pejorativ verstanden ist und Erinnerungen an historische Totalitarismen weckt, erlaubt der Begriff des Konfliktsystems einen nüchternen Blick auf die Sachlage und befreit von Rationalisierungszwängen nach dem Motto: Unsere sind im Gegensatz zu den in der Vergangenheit von uns und gegenwärtig von anderen Staaten verübten Menschenrechtsverletzungen nicht irrational und willkürlich, sondern wohl begründet und darum bloße Kollateralschäden. Im konfliktsystemischen Erwartungstypus wechselt der Präferenzcode von der Kontingenz zur Notwendigkeit und stattet die Gesellschaft mit Orientierungsmarkern aus, die dem einzelnen Menschen weder diagnostische Fähigkeiten abverlangen noch differenziertes Urteilsvermögen.123 Wechseln die zwischenmenschlichen Beziehungen von einem Erwartungstypus doppelter Kontingenz auf einen Typus doppelter, weil wechselseitig imaginierter Notwendigkeit einer vom Anderen ausgehenden Gefahr, dann übernehmen Eigendynamiken die Regie und nicht zu kontrollierende Gewaltspiralen beherrschen das soziale Bild.124 Es ist ein von handlungstheoretischen Vorentscheidungen fehlgeleitetes Denken, das selbst in einer von atomaren, von informations- und chemisch-biologisch-nanotechnologischen Kriegführungsoptionen durchzogenen Strategieplanung von weltorganisatorischen Größenphantasien nicht Abstand nehmen lässt. Vorausgesetzt sind umfassende Enhancement-Programme gesteuerter Evolution. Das transmenschliche Wesen kappt alle Bezüge, die es an sein altes Normal erinnert und verwirklicht sich ganz neu als geschlechtsloses, virenfreies, naturloses, geschichts- und damit religionsloses Wesen. Dies aber ist nur möglich, wenn die alten Bindungen nicht etwa durch Bindungen neuer Art ersetzt werden. Der an digitale Sensoren angeschlossene transhumane Mensch geht nicht eine anders geartete Bindung mit Ma122 Zur Unterscheidung von Sozialsystemtypen im Hinblick auf die Friedens- und Konfliktproblematik siehe Brücher (2011, 237-260). 123 Zum Erkenntnisgewinn dieses am Erwartungsmodus ansetzenden konfliktsystemischen Ansatzes für ein Verstehen von ‚Terrorismus’ und ‚puritanischem Terror’ siehe Klaus Peter Japp (2006; 2016). 124 Ausführlich dazu Brücher (2011, 91-126).

116

schinen ein, so wie in der Vergangenheit der Einbeinige mit einer Prothese ausgestattet und der Herzkranke mit einem Schrittmacher wieder fit gemacht werde konnten. Bindung lässt sich ablehnen, Verschmelzung nicht. Darin bricht das anthropotechnisch-transhumanistische Projekt mit allen bisherigen philosophischen, kulturwissenschaftlichen und technikphilosophischen Entwürfen.125 Jetzt wird zunehmend verständlich, weshalb die Unterschiede der beiden medienspezifischen Sinnüberschüsse der Kritik und der Kontrolle so gravierend sind und was Kontrolle in diesem Zusammenhang eigentlich bedeutet. Kritik, so haben wir nunmehr über dreihundert Jahre gelernt, erhält die Differenz von Sinnzusammenhang und Verweisungshorizont intakt, indem sie dafür sorgt, dass das Ja/Nein-Schema als Scharnier erhalten bleibt. Wo Kontrolle an die Stelle der Kritik tritt, dort geht es um die Eliminierung des Scharniers und damit der Freiheit, Nein zu sagen, Maßnahmen zu kritisieren, mit denen sich technokratische nahezu unbemerkt gegen demokratische Lösungen durchzusetzen beginnen. In den Jahren der Aufarbeitung der Totalitarismen, von Nationalsozialismus, Faschismus, Stalinismus und Maoismus stand die Frage der Menschen gemäßen Bindung von Strukturzusammenhang und Verweisungshorizont im Vordergrund. Von psychoanalytischer Seite arbeitete Erich Fromm (2019) im Nachklang der Studentenunruhen kurz vor seinem Tod im Jahre 1980 die Differenz zwischen freiem und heteronomem Ungehorsam heraus: Absoluter Ungehorsam wurzelt im Heteronomen, im Primärprozesshaften, vom Willen unerreichten vorbewussten Trieb. Er zeugt von mangelnder Reife und mündet, wenn entwicklungsmäßig niemals überwunden, ins Ressentiment und in die unfruchtbare Revolte. Verweigerung wird zum Habitus und unterminiert die Grundfesten des friedlichen Zusammenlebens. Davon unterschieden ist der freie Ungehorsam, der die Notwendigkeit von Regeln und Bindungen nicht ignoriert und der sich dennoch weigert, gewissensbasiertes Unterscheidungsvermögen an eine Autorität abzutreten. Diese verantwortete freie Verweigerungshaltung führt nach Erich Fromm, sofern sie massenhaft auftritt, zur Revolution als einem dem Fortschritt zuarbeitenden gesellschaftlichen Umsturz. Damit war freilich nur ein Idealtypus gezeichnet, dessen Realisierung voraussetzte, was von Fromm gerade schmerzlich vermisst wurde, nämlich das Unterscheidungsvermögen, wenn es darum ging, sich in seinem eigenen Denken und Handeln auf freien und nicht auf heteronomen Ungehorsam zu stützen. Die 125 Explizit transhumanistische Spielarten der Geschlechtertheorie haben sich im Anschluss an Donna Haraways (1995) „Cyborg Manifesto“ herausgebildet. Hier wird die Überwindung des menschlichen Körpers durch Technologie zum Leitfaden der Genderdebatte.

117

Ontologisierung dieser Unterscheidung, die ein Nie wieder des biopolitischen Totalitarismus festschreiben sollte, geriet deshalb in Gefahr, einem anderen, nämlich dem historisch-materialistischen Totalitarismus, zuzuarbeiten. Damit ändert sich allerdings nichts an der Triftigkeit der Unterscheidung, um die jede Zeit immer wieder neu unter ihren je besonderen Bedingungen ringen muss. Und die digitalisierte Gesellschaft führt insofern, als sie dazu tendiert, die mühsame Verhältnisbestimmung von Sinnzusammenhang und Verweisungshorizont, von Aktualität und Potentialität ganz aufzugeben und Beziehung durch Verschmelzung zu ersetzen, die formlogischen Probleme unmittelbar vor Augen. Denn bloß aus dem Grund, weil sich viel des Gewachsenen – Pflanzen, Tiere und schließlich auch Menschen – genetisch manipulieren lässt, wird die Differenz zum Gewachsenen noch nicht hinfällig. Nur weil wir uns nicht sicher sein können, welche Entscheidungen frei gewählt sind, muss nicht alles determiniert sein. Der Determinismus bleibt als herrschaftslegitimierendes technokratisches Narrativ schlechte Metaphysik. Denn der menschliche Techniker muss sich selbst jenes Unterscheidungsvermögen zwischen freien und determinierten Operationen vorbehalten, das er anderen versagt. Er muss sich selbst die Freiheit des Unterscheidenskönnens zuschreiben.126

Die Angst vor dem Tod Indem die Digitalisierung und hierdurch ermöglichte anthropo- oder autotechnische Methoden der synthetischen Biologie das jahrtausendealte Bemühen um die rechte Verhältnisbestimmung von Wirklichem und Möglichem, von Gewachsenem und Gemachtem, von Natur und Kultur beendet und Bindung durch Verschmelzung ersetzt, zeigt der Friedensbegriff der Pax endgültig und für jeden sichtbar sein totalitäres Gesicht. Die Implosion der sinnkonstituierenden Differenz von Zustimmung und Ablehnung, von Ja und Nein, von Affirmation und Kritik suspendiert auch die Differenz von Sinnsystemen und Nichtsinnsystemen. Was bleibt, ist die Operation des Abschneidens von Möglichkeitshorizonten, wo immer selbige auftauchen, im Bereich der politischen, der wirtschaftlichen, der medizinischen, der rechtlichen oder der wissenschaftlichen Themen. Das bedeutet 126 Siehe typisch für diesen Fehlschluss Juval Noah Harari (2021, 43 - 44), nach dem der freie Wille nur in den imaginären Geschichten existiert, die wir Menschen erfunden haben. Die herrschaftslegitimierende Potenz zeigt sich in der öffentlichen Präsenz und politischen Bedeutung, die das transhumanistische Entwurfsdenken des Homo Deus besitzt.

118

Regieren ohne Opposition, Plattformökonomie ohne Konkurrenz, Apparatemedizin ohne Herausforderung durch alternative Formen des Heilens, Verrechtlichung der Verordnungspraxis ohne Grundrechtsbindung und Auftragsforschung ohne ergebnisoffene Recherche. Kollabiert das Sinnerleben, so breiten sich übergroße Angst und Panik aus, die sich nicht mehr durch Hoffnung und Trost, sondern nur noch durch absolute Kontrolle lindern lassen. Diesem Imperativ der absoluten Kontrolle über meinen und den Körperstatus aller Anderen, unterwerfen sich sogar die Kirchen, die einst als kulturelle Quelle des Differenzerlebens und der Botschaft ‚Fürchtet euch nicht’ fungiert haben. Das musterhaft Ermöglichte verschmilzt mitunter auch hier mit dem Wirklichen und lässt das religiöse Sinnschema kollabieren. Die Angst vor dem Tod ist zuallererst eine Angst vor Sinnverlust. Für den Tod gilt nicht mehr der Satz: Alles macht Sinn, will sagen, alles lässt sich in einen kohärenten Zusammenhang einordnen. Hier gründet die Angst des alten Normal. Und allein deshalb war der hier eingewurzelte alte Mensch im Sinne des Homo Sapiens, auf Religion beziehungsweisen auf funktional äquivalente wissenschaftsnahe oder politische Weltanschauungen und Ideologien angewiesen. Die Angst des neuen Normal unterscheidet sich davon in einem fundamentalen Sinn. Denn wenn sowohl die Verknüpfung der Daten als auch die Verweisung auf immer wieder neu zu gewinnende Daten maschinell bewerkstelligt und damit mustergeneriert sind, dann wird der evolutionäre Schritt von Bindung und Beziehung zur Verschmelzung eine tödliche Gefahr. Dem von Friedrich Nietzsche (1990) für die Moderne und somit die funktional differenzierte Gesellschaft diagnostizierten Tod Gottes folgt in der globalen digitalen Netzgesellschaft der Tod des Menschen: Da Wirkliches mit Möglichem, Natürliches mit Kultürlichem, Gewachsenes mit Gemachtem verschmilzt, bedarf es nicht länger jener Entität, die beide ehemals getrennten Modalitäten im Akt der Sinnstiftung in ein Verhältnis hatte bringen müssen. Es galt bisher als die wesentliche und geradezu vornehme Aufgabe des Menschen, eben diese Beziehung immer wieder neu den entsprechenden Zeitumständen gemäß herzustellen. Humanität, Moralität, Ethik, gesunder Menschenverstand im Sinne der alten Tugendlehre des Maßhaltens, gaben Anhaltspunkte für die angemessene Korrelation. Tritt an die Stelle der Beziehung die Verschmelzung im potentiell Wirklichen von menschheitsbedrohenden Katastrophen, wird Sinnstiftung durch Big Data ersetzt, dann verliert der Mensch nicht nur an Bedeutung; ihm kommen weder Würde noch Rechte zu und noch nicht einmal ein Recht auf Leben. Dies ist sinnfällig, wenn sich der Mensch seit der Corona-Krise nicht mehr bloß im Krieg mit Staaten und Terroristen befindet,

119

sondern nunmehr auch mit Viren. Das Prinzip der Generalmobilmachung ergreift im Zeitalter der synthetischen Biologie alle Lebensbereiche. Dies mag nicht dem Menschen als einer Kategorie drohen, lässt sich diese doch dem aktuellen Stand der Mensch-Maschine-Verschmelzung entsprechend beliebig definieren, zum Beispiel als Cyborg. Aber es betrifft den konkret Einzelnen, um dessen Schutz Willen sowohl der Würde- als auch der Rechtstitel nach den Erfahrungen mit den medizinischen Menschenexperimenten und Instrumentalisierungen menschlichen Lebens im Nürnberger Kodex 1947 für alle Staaten verbindlich gemacht worden war. Wie wir oben gesehen haben, handelt es sich seit dem 2005 erstellten Human Security-Report beim Schutz des Einzelnen sogar um eine viel diskutierte Norm der internationalen Politik. Dementgegen ist die Identifizierung des Menschen mit seinen gesellschaftlichen Zuschreibungen im modernen subjektphilosophischen Menschenbild angelegt und deshalb mag der Zweifel angebracht sein, ob der Schutz des Einzelnen beim Humanismus gut aufgehoben ist. (Luhmann 1995, 155-168). Wenn jedoch davon ausgehend die Ansicht vertreten wird, es ließe sich die Schutzfunktion in einem neuen Begriff des Posthumanismus aufbewahren, so bleibt dies auf eine kritische Variante beschränkt. Diese problematisiert im Anthropozentrismus nicht nur den aufgekündigten Frieden innerhalb der menschlichen als einer in besser und schlechter unterteilten Spezies, sondern darüber hinaus den friedlosen Umgang mit allen nichtmenschlichen Lebewesen. Ins genaue Gegenteil schwenkt hingegen der technologische Posthumanismus, dem selbst der Steuerungsimperativ des transhumanistischen Entwurfs nicht weit genug geht. Während letzterer eine Utopie der vollständigen Kontrolle des Menschen auf der Grundlage einer vereinfachten Anthropologie anbietet, werden in dieser radikalisierten Version Kontrollfunktionen durch Externalisierung des Geistes im Mind Uploading noch gesteigert. Das hochgeladene, zum Datenstrom verdichtete Bewusstsein erfährt sich selbst als virtuelles.127 Während hier das Post als Radikalisierung des Trans gedacht ist, bezieht sich das kritisch verstandene Präfix auf die Obsoleszenz der anthropozentrischen Weltsicht im Zeitalter ökologischer Selbstgefährdung. Die terminologische Korrektur zielt jetzt auf das Gefahrenpotenzial der im Humanismus angelegten Selbsterhöhung, die in Wahrheit darin Selbstentfremdung ist, dass sie Menschsein in den Kategorien der Unterwerfung denkt. Im Bewusstsein sich selbst zugrundeliegenden Subjektseins sucht der Mensch nach Objekten in allem, was ihm begegnet, inbegriffen den Exemplaren der eigenen Gattung. 127 Mit der Frage, ob im Trans- und Posthumanismus das humanistische Menschenbild erweitert oder überwunden werde, befasst sich Janina Loh in: Grundwald (2021, 278-296).

120

Nicht weil es Menschen gibt, die der Bildung und Zivilisierung bedürfen, die kriminell werden oder geistig krank, sondern weil das Menschenbild diese Dualität in Herrschende und Beherrsche aus sich heraus entlässt, sieht sich das einzelne Individuum einem solchen Konstrukt Mensch gegenüber schutzlos. Wer ergreift folglich Partei für den konkret Einzelnen? Sofern die innere Logik des Humanismus aus sich heraus in den Exzess technokratisch-transhumanistischer Entmündigung und Instrumentalisierung des einzelnen Menschen treiben sollte, so bliebe demselben keine andere Wahl, als sich von allen politisch-ideologischen Richtungen zu emanzipieren und selbst im großen Medienangebot eine eigene Meinung zu bilden. Wenn Angst der Schwindel der Freiheit ist, wie es in der Existenzphilosophie heißt,128 dann ist die Leichtigkeit, mit der sich die Massen heute in Panik versetzen lassen, auch ein Zeichen für den Autoritätsverlust von Sinnstiftungsagenturen. Weder Parteien noch Funktionsträgern noch Kulturschaffenden und Kirchen wird zugetraut, das einzelne Individuum vor den echten oder medial aufgebauschten Gefahren auf der einen Seite und den Datenjägern auf der anderen Seite zu schützen. Angesichts der Tatsache, dass Daten das neue Gold sind, welches Macht und Geld in Aussicht stellt, befindet sich die Menschheit im Krieg mit sich selbst, genauer: Eine politische-militärische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und medizinische Funktionsträgerschaft befindet sich im Krieg mit dem konkret einzelnen potentiell infektiösen, unberechenbaren, gefährlichen Menschen und folglich auch im Krieg mit sich selbst. Wenn die Angst vor dem Tod im Kern eine Angst vor Sinnverlust ist, so vollendet sich im Projekt der nicht länger freiwillig gewählten, sondern aufgezwungenen Optimierung meines Organismus geradezu das Höchstmaß möglicher Lebensfahr. Denn der eigene Körper ist für jeden Menschen seine primäre Welt, von der aus individuell zu gestaltendes Leben startet. Der zwangsoptimierte Körper ist gleich dem in Drogenabhängigkeit geratenen Körper zum Weltverlust verurteilt. Da sich die Optimierungsprogramme aber durch euphemistische Narrative unangreifbar zu machen versuchen, bleibt die Angst diffus und sie lässt sich auf beliebige Sündenböcke umlenken. Im Paradigma der Biosicherheit befindet sich nach Giorgio Agamben (2021, 85) der Feind nicht mehr außen, sondern im Innern des Menschen. „Die Epidemie, die wir heute erleben, könnte sogar die Verwirklichung des weltweiten Bürgerkriegs darstellen, der laut den scharfsinnigsten Politologen an die Stelle der herkömmlichen Weltkriege getreten ist. Alle Nationen und alle Völker befinden sich in einem dauerhaften Konflikt, weil sich der 128 Zu Kierkegaard und der Existenzphilosophie siehe Otto-Friedrich Bollnow (1982, 555).

121

unsichtbare und ungreifbare Feind, den sie bekämpfen, in ihrem Inneren versteckt.“ Entscheidend werden nun die Kriterien Künstlicher Intelligenz, die Forschungen zum Maschinenlernen leiten sollen. Diese sind nämlich auch die Kriterien des Enhancement, die meine Leistungen des sinnhaften Verknüpfens von Möglichem und Wirklichem entbehrlich machen. Woran soll sich das Programm der künstlichen Immunisierung gegen mikrobische Feinde orientieren?129 Feindliche Mikroorganismen geraten mit soziopathischen Veranlagungen auf eine Analyseebene, wenn das transhumanistische Unternehmen doch bereits im Versuch strauchelt, das Künstliche vom Natürlichen abzugrenzen.130

Vom Kampf gegen den Zerfall zum Kampf gegen das Entstehen Die industrietechnische Moderne hat das Friedensdenken der Pax und folglich den Begriff von Leben als Überlebenskampf nicht nur verinnerlicht. Sie hat diese Haltung als Strukturaufbauwert an die Spitze ihrer Wertehierarchie gestellt. Im Rahmen allgemeiner Feindfixierung und Kampfbereitschaft bleibt sekundär, wer oder was jeweils in die Position des zu überwältigenden Objekts rückt. In dem, was sich heute mehr und mehr als Technokratismus, als Dataismus und Transhumanismus abzeichnet, braucht der Feind nur noch in Ausnahmefällen ein Gesicht. Damit ist mehr ausgesagt als die Einsicht, dass Feinde auch bloße Sündenböcke sein können oder dass sie aufgrund anthropologischer Konstanten frustrationsbedingter Aggression, fehlender Empathie und stereotypisierter Hassgefühle als Objekte der Abreaktion fungieren. Das wahrhaft Gesichtslose des Feindes zeigt sich in der Schwierigkeit, einen gesamtgesellschaftlich tragfähigen Sündenbock zu finden und damit in den Widerständen gegen die Objektivierung der Gefahr. Denn das zu bekämpfende Übel muss nicht notwendig eine tötende Energie sein, schlechte Menschen, Terroristen, genozidale Strömungen, Autokraten, imperiale Mächte, Krankheitserreger, Waffen129 Der von der WHO bereits 2019 veröffentlichte Wegweiser für eine globale Gesundheitsökonomie macht keinen Hehl aus dem transhumanistisch-pharmakologischen Ansatz, der die künstliche Immunisierung und die globale Bereitstellung hierzu notwendiger Infrastruktur als probaten Weg der Gesundheitsvorsorge vorsieht. (Vgl. Sturchio/Kickbusch/Galambos 2019). 130 So versucht Paul Thagard (2021) im Versuch der Präzisierung: „Bots and Beasts: What Makes Maschines, Animals, and People Smart?“ die Differenz der Bedeutungslosigkeit zu überführen. Ähnlich entwirft bereits Nik Bostrom (2016) eine tier-mensch synthetisierende KI.

122

systeme oder Naturgewalten. Zu den lebensbedrohenden Gefahren zählt nunmehr auch das Lebenspendende oder schlicht das Faktum, dass Leben aus Leben entsteht. Der Kampf gilt der Autopoiesis. Das Leben selbst gerät mit dem exponentiell sich vermehrenden Virus und der exponentiell wachsenden Krebszelle auf eine Ebene, flankiert vom ganz Anderen der rettenden Technik. Es war Jean-Paul Sartre, der die existentielle Gestimmtheit treffend im Begriff des Ekels zum Ausdruck gebracht hatte. Der Mensch ekelt sich vor jenem Sein, das nicht Für sich und somit Ausweis von Zugriffsfreiheit ist, sondern das als An sich das Widerständige, das Art- und Wesensfremde in allem Materialhaften von Natur und Mensch symbolisiert. Im Vorgriff auf ein Psychogramm, das erst mit der Digitalisierung und vollumfänglich erst mit der Corona-Pandemie zur dominanten Perspektive heranreift, ist die Reduktion der Menschen auf Menschenmaterial (Human Ressource), oder in der Wendung Luhmanns, auf infektiöse Körper Wirklichkeit geworden. Wie so oft in der literarischen Dokumentation Erweckungserlebnisse unter einem Baum stattfinden, so schildert Sartre im Roman Der Ekel die unerträgliche Affektion, die regelrechte Heimsuchung als körperliche Nähe des Organischen, die nur durch die Gewalt des Nichtens wieder in gesunde Distanz überführt werden kann. Die korrespondierenden Techniken stellt Sartre (1974, 486-548) als phänomenologisch-ontologischen Befreiungsschlag in seinem Grundlagenwerk Das Sein und das Nichts als Haltung zum anderen Menschen dar, der als finaler Befreiungsakt letztlich nur im Sadismus und in der Tötung gelingt. Aber sie misslingt deshalb in einem Zug, weil damit die Transzendenz des Anderen als Blick (Sartre 1974, 487) und damit die Potentialität, selbst zum Opfer nichtender Operationen zu werden nicht erlischt.131 Die sklavische Leiblichkeit ist eine Beleidigung. Das Freisein hegt einen Widerwillen gegen alles Unfreie und duldet selbiges nicht in seiner Nähe. Andererseits sieht es sich durch andere Freie bedrängt und bedroht, die die eigene Freiheit in Frage stellen und gefährden können. Die Bewegung des Existenzialismus, ein Zwitter aus Literatur und Philosophie, experimentiert gleichsam atmosphärisch mit akzeptablen Formen der Biopolitik, einer Ausweitung der Beherrschungsphantasien von der Physik auf die Biologie. Sie registriert feinsinnig die Zeichen der Zeit, ohne die darwinistischen Wege beschreiten zu wollen, die Projekte der Eugenik in ihrem radikalen Dementi menschlicher Freiheit gegangen waren. 131 Die Erwähnung von Sartre als Vordenker heutiger Stimmungslagen darf nicht die Zeitumstände ausblenden, Résistance, Antikoloniale Bewegungen und Entstalinisierung, die den Operationen des Nichtens eine spezifische Richtung geben. Zu Philosophie und politischer Aktion bei Jean-Paul Sartre siehe Friedrich von Krosigk (1969).

123

Im Gegenteil versteht sich der Existenzialismus als entschiedener Kampf gegen den Totalitarismus. Das biochemische Substrat in die Gewalt zu bekommen, Leben und Sterben nach Maßstäben des social engineering zu steuern, darum geht es im gegenwärtigen Dataismus. Das Konstrukt Weltgesellschaft beginnt nach vielen gescheiterten Versuchen, endlich mit seiner friedensmythologischen Gestalt der Pax als einer weiblichen Gottheit zu verwachsen, die Leben spendet und Leben tötet. Mit all diesen Beobachtungen bewegen wir uns noch immer im Zeitalter der Industrie 3.0 die, obgleich es schon Computer gibt, ganz dem gegenentropischen Daseinsgefühl verhaftet bleibt. Der Kampf gegen den Zerfall verliert erst mit der Veränderung des temporalen Bewusstseins seine sinnstiftende und alle Tätigkeitsbereiche bündelnde Kraft. Erst im Zeitalter der Industrie 4.0 (Schwab 2016), der Umstellung von Produktion, Verwaltung, Steuerung, Daseinsvorsorge und Gefahrenabwehr auf künstlich intelligente Systeme, beginnt der Zeitpfeil seine Richtung zu ändern und entschieden von der Zukunft in die Vergangenheit zu weisen. Die Gesellschaft erleidet damit ein traumatisches Erlebnis kollektiver Amnesie.132 Nichts soll mehr als Gewordenes hingenommen, alles soll als Produkt und als Gemachtes evident sein. Während der Deus Societas noch der Menschen bedurfte und sich lediglich darüber stritt, ob die Gesellschaft aus Menschen besteht oder ob dieselben bloß zur Umwelt zu zählen sind, zeichnet sich der Homo Deus dadurch aus, dass an ihm nur noch das Gemachte zählt. Von Wert sind Menschen als Daten und als gentechnisch veränderte Organismen. Die von Luhmann (1986, 218-226) auf die funktional differenzierte Gesellschaft zugeschnittene Aussage, Gefahren könnten innerhalb der verengten Perspektive eines Funktionssystems immer nur entweder über- oder unterschätzt werden, gilt für die Netzstruktur offensichtlich in einem gesteigerten Maße. Und dies verleiht der Kriegsrhetorik ihren geradezu symptomatischen Charakter. Diese weist auf den Ernst der Lage hin und zwar nicht in Bezug auf die Schwere einer Krankheit, auf das Katastrophale der klimatischen Verhältnisse oder auf die wahren Absichten des Gegners, die der Politik mehr im Stadium des Potentiellen und weniger des Aktuellen zur handlungsleitenden Orientierung dienen. Vielmehr zeigt sie das Ausmaß der Bedrängnis, in die jedes einzelne Funktionssystem gerät, wenn es mit dem Sinnüberschuss einer überbordenden Kontrolle klug umgehen soll. Die Rhetorik leitet einen Kampf aller gegen alle ein und dies nicht bloß der Individuen, sondern auch aller Funktionssysteme und schließlich al132 Adrian Daub (2021, 130) verweist auf Friedrich Nietzsche (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben) als erklärte Inspirationsquelle des Silicon Valley für die „schöpferische Amnesie“ im Konzept der Disruption.

124

ler Staaten. Denn selbige müssen um ihre lange erkämpften Kontrollmöglichkeiten bangen, wenn das World Wide Web dem Nutzer die Gelegenheit bietet, sich aus der Abhängigkeit von Funktionsträgerschaften zu emanzipieren und sich selbst aus dem großen Angebot im Netz kursierender und einander widersprechender Expertisen eine Meinung zu bilden. Mit der Gefahr eines allgemeinen Autoritätsverlusts konfrontiert, bleiben bloß noch die Kriminalisierung eigenständiger Meinungsbildung, eine Diffamierung des Hinterfragens und selbst des Fragenstellens als vermeintlich untrüglicher Hinweis auf eine verschwörerische Gesinnung. Was geschieht, so drängt sich jetzt die Frage auf, wenn der Zenit einer noch plausiblen kommunikativen Hyperbolik überschritten wurde und die Schäden eines ruinierten Rechts, einer zerstörten Wirtschaft, einer um ihr Ansehen gebrachten Wissenschaft, einer in ihrer Autorität beschädigten Medizin und einer ihrer Glaubwürdigkeit beraubten Politik unübersehbar werden und eines Sündenblocks bedürfen? Muss der kommunikativen Eskalation notwendig die Eskalation physischer Gewalt folgen?133 Thomas Hobbes (1989) ging seinerzeit auf der Suche nach „Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates“ im Sinne von tragfähigen politischen Institutionen, von der Annahme aus, die Angst vor dem Tod sei die stärkste motivationale Kraft. Damals galt es, den Kritiküberschuss der neu entstandenen Buchdruckgesellschaft zu kontrollieren. Aus dem ergiebigen Arsenal der Angst ließ sich im Bemühen um Konsolidierung schöpfen. Da Hobbes’ Leviathan erst geschrieben wurde, nachdem sich bereits ein neues nach Konfessionszugehörigkeiten geordnetes staatliches Gewaltmonopol etabliert hatte, mag die von ihm genannte Motivationsquelle eher als ein Paradigma verstanden werden. Es war ja zu erwarten, dass das Problem überhandnehmender Kritik nach und nach alle gesellschaftlichen Bereichen deregulieren würde. Es stand eine Neuordnung der gesamten Gesellschaft an und das bedeutete, die Angst vor dem Tod musste verstetigt werden. Zur emotionalen Ligatur der modernen funktional differenzierten Gesellschaft gehört die Angst und zwar als kulturell reproduzierte stabile Ressource des Zusammenlebens. Die Angst vor dem gewaltsamen Tod, nicht als unabweisbares das menschliche Leben begleitendes Faktum, sondern als kulturstiftendes Agens, konzentriert sich in der Neuzeit zunächst auf Hexen, später auf Juden und andere Minderheiten, die des Verbrechens verdächtigt wurden, später auf fremde Kulturen und Nationen. Diffuse Angst mag zwar eine stabile motivationale Ressource sein, da sie aber nur in Ge133 Zur kommunikativen Eskalation am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges siehe Kurt Flasch (2011, 294-296). Die Arabellion, welche namhafte Länder des Nahen Ostens in failed states verwandelt hat, gilt als erster Fall von Bürgerkriegen, die durch die neuen digitalen Medien ausgelöst wurden.

125

stalt konkretisierter Furcht vor einer ganz spezifischen Gefahr programmatisch verwendbar ist, verliert sie im Zuge der Gewöhnung an Wirksamkeit. Diese Erfahrung mussten die großen Protestbewegungen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts machen. Die Menschen gewöhnten sich an die Atomkriegsgefahr oder an drohende Umweltkatastrophen und sie werden sich an die neu ins Bewusstsein gehobene Gefahr gewöhnen, durch ständig mutierende Viren krank zu werden. Fungiert die Angst vor dem Tod bei der Corona-Pandemie in einem gegenüber den vorangegangenen Ängsten gesteigerten Maße als kulturstiftendes und die Folgebereitschaft steigerndes Paradigma, aus der die Bewältigung von Kontrollüberschüssen der digitalen Gesellschaft schöpfen könnte? Nicht bloß hypothetisch und somit erst im historischen Rückblick zu beantworten ist die Frage eines Spillover Effekts von kommunikativ-verbaler zur physischen Gewalteskalation, wenn man die temporalen Veränderungen der Umkehrung des Zeitpfeils aus einer Perspektive des Futur II (Kreuzmair 2022) bedenkt. Denn dieser gemäß dürfen die Funktionssysteme nicht erst auf aktuelle, sie müssen auf potentielle Gefahren reagieren. Nichts Anderes wäre angesichts der Tatsache zu verantworten, dass sich die kommunikationsmedial beschleunigten Verhältnisse zu schnell ändern, um reaktive Verhaltensweisen noch rechtfertigen zu können. Geboten ist jetzt die präemptive Entscheidung, die Kommendes vorwegnimmt und damit den Nachweis erübrigt, dass selbiges auch eingetroffen wäre, wenn man anders entschieden hätte.134 Beginnt sich das Handeln von klug vorausschauender Entscheidung auf computermodellierte Präemption umzustellen, auf präemptive Medizin, auf präemptive Kriminalitätsbekämpfung und auf präemptive Verteidigung, dann ist es in der Tat bedeutsam, ob der vorweggenommene Krieg aller gegen alle im Sinne von Hobbes oder im Sinne von Platon verstanden wird. Im ersten Fall ist der Friede als Pax konzipiert, im zweiten als Eirene. Es mag verständlich sein, dass alle Zeichen der Zeit bislang in Richtung des ersteren Verständnisses weisen. Denn die moderne Gesellschaft findet hier ihr Gründungsnarrativ. Der Begriff Weltgesellschaft dient den hochgerüsteten wirtschaftlich überlegenen Staaten seit dem Ende des Kalten Krieges als Chiffre für einen vorgegriffenen Weltsouverän, der schon heute unilaterale Maßnahmen auf der Grundlage einer erst noch zu schaffenden globalen Rechtsordnung zu ergreifen befugt ist. Um die Chance für ein solches Weltherrschaftsmodell 134 Zu diesem Zweck ist in Berlin das erste Pandemie-Frühwarnsystem, das WHO-Hub for Pandemic and Epidemic Intelligence im September 2021 von Kanzlerin Angela Merkel und WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus eingeweiht worden, dessen Prognosen zu globalen präemptiven Maßnahmen führen sollen. Prophylaktischer bedeutet verstetigter Kampf gegen mögliche Erreger.

126

steht es offensichtlich schlecht, denn Aufstandsbewegungen, zerfallende Staaten, internationaler Terrorismus, transnational operierende kriminelle Banden und nicht zuletzt die 2022 erfolgte russische Intervention in die seit 2014 im Bürgerkrieg befindliche Ukraine sprechen eine andere Sprache. Angesichts der hochgesteckten Erwartungen in die Friedensdividende einer universal synchronisierten Handhabung des Regel-Ausnahme-Schemas schlägt der Verfassungsrechtler Matthias Herdegen (2018) nach dem evidenten Scheitern der Utopie internationaler Verrechtlichung einen wertbestimmten Realismus vor. Demgemäß soll mit robusten Militäreinsätzen und Militärschlägen zur Sicherung der Handelswege und zur Bekämpfung von Schurkenstaaten beigetragen werden. Zu den Schurkenstaaten zählt nun aber alles, was nicht auf der eigenen Seite kämpft. Die Aussichten auf ein funktionsfähiges weltgesellschaftliches Gewaltmonopol, dem die Entwaffnung der Weltbevölkerung gelungen ist, mag jedoch selbst dann illusionär erscheinen, wenn man den mit einer solchen Institution verknüpften Despotismus gutheißt. Nicht nur geopolitische Widerstände sprechen dagegen.135 Hinzu kommt die Besonderheit des Sinnüberschusses dezentraler, granularer und das heißt, immer kleinformatigerer Kontrollen, die dem hackenden Nutzer digitaler Medien eine kaum noch zu kontrollierende Macht verleiht, zu stören und zu zerstören. Die Mittel der Destabilisierung, die heute zur Verfügung stehen, sind ungleich größer und wirkmächtiger als die begrenzten Mittel des kritischen Schreibens und Vervielfältigens von Schriften.

Hobbes versus Platons Ausweg aus dem ‚Krieg aller gegen alle’ Wenn mithin die Hobbessche Lösung eines globalen Leviathans ebenso wie die hier anschließenden Korrekturvorschläge der Gewaltenteilung durch ein globales Wirtschafts-, Rechts-, Erziehungs-, Bildungs- und Religionssystem fragwürdig erscheinen, dann lohnt der Blick auf das alternative Friedensverständnis der Eirene. Die Differenz ist eklatant. Zwar spricht auch Platon vom „Krieg aller gegen alle“ angesichts des allseits herrschenden Mammonismus, eines „Drohnen-“ (Demagogen) und Spekulanten135 Bemerkenswert ist, dass der Architekt der unilateralen von den USA dominierten Weltgesellschaft, Henry Kissinger (2016) im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg davor warnt, Russland zu demütigen. Und er tritt mit dem Argument, dass alle Seiten bei einem Atomkrieg nur verlieren könnten, dafür ein, die legitimen Ziele der Selbstverwaltung der russischsprachlichen Gebiete des Donbas anzuerkennen. Vgl. dazu den Historiker Bernd Greiner „Es kommen härtere Tage“, in: FAZ.NET 31.05.2022.

127

tums, einer schweigenden müßiggängerischen „goldenen“ Jugend.136 Und er prophezeit, all dies zusammengenommen müsse zur Katastrophe führen. Um diese abzuwenden, bemüht sich Platon nicht nur um Aufklärung und Unterweisung in der Akademie, sondern entwirft unterschiedliche in neue Institutionen mündende Praxiskonzepte, von denen die Nomoi am weitesten ins Detail gehen. Praxiskonzepte sind für eine bestimmte Zeit konzipiert und die Tatsache, dass sie für heute nicht taugen, beeinträchtigt nicht die Triftigkeit und Folgerichtigkeit des philosophischen Ansatzes. Bei den programmatischen Vorschlägen Platons und seines Schülers Aristoteles geht es um die Organisation der Polis, die eine Zahl von fünftausend Bürgern – wobei Frauen, Kinder und Sklaven noch hinzukommen – nicht überschreiten darf, weil davon ausgegangen wird, dass Menschen, die einander fremd sind, nicht gemeinsam zu vernünftigen Entscheidungen gelangen könnten. Im 5. vorchristlichen Jahrhundert geht es um die Bewältigung von Sinnüberschüssen, die im Zuge der Umstellung von mündlicher auf schriftliche Kommunikation und an das immer weiter verbreitete Vermögen zu lesen und zu schreiben, entstanden war. Denn im Gegensatz zum gesprochenen Wort erlaubt das Geschriebene keine Nachfragen. Infolgedessen grassieren unterschiedliche Bedeutungen desselben Wortes und hinterlassen eine verwirrte und leicht beeinflussbare Gesellschaft. Die Betonung einer begrenzten und überschaubaren Anzahl der Mitglieder einer Polis ist gegen die altorientalischen Großreiche der Mesopotamier, der Perser, der Ägypter und Babylonier gerichtet, die aufgrund ihrer Größe und ihres Expansionsdrangs despotisch regiert werden mussten und den Untertanen keine Freiheiten zugestehen konnten. Da Eirene im Gegensatz zu späterer Friedensbegrifflichkeit nicht mit einem gesellschaftspolitischen Idealtypus verknüpft ist, können wir die Kontroversen um liberalistische, universalistische, kontraktualistische, kommunitaristische, diskurstheoretische und biopolitische Anknüpfungspunkte bei der Modellierung beiseitelassen. Zu diesen nicht idealtypischen, sondern nur organisationstechnisch und somit versuchsweise zu empfehlenden Modellen gehören bei Platon Institutionen wie der Philosophenkönig, Gleichheit fördernde Frauen- und Kindergemeinschaft, die Kinder in Unkenntnis über ihre leiblichen Eltern halten sollen, sowie Besitzlosigkeit der beiden ersten Stände der Philosophen/Lehrer und der Wächter.137 Im alten Griechenland gilt zwar der Grundsatz, dass Gleiches nur Glei136 Platon (1988, Bd. VII, Gesetze 626 D). 137 Peter Sloterdijk (1999, 47-56) beruft sich in Bezug auf das biopolitische Modell eines Menschenparks auf Platons Politikos, der „eine systematische Neu-Züchtung von urbildnäheren Menschenexemplaren“ (50) unterstütze, muss allerdings konzedieren, „dass auch bei Platon allein der Gott als ursprünglicher Hüter und Züchter der Menschen in

128

ches versteht, und deshalb bleibt die Förderung von Gleichheit wichtig. Die Friedensgöttin Eirene jedoch symbolisiert nicht den idealen Zustand, sondern allein den idealen Umgang mit Widersprüchen und Paradoxien; sie steht für gute, weil allen gerecht werdende Modalitäten des Wechselns von Kontexten und Logiken. Auch hier geht es um Institutionen und zwar im Sinne eines unterstellten Konsenses, der gegen die Idee immunisiert, durch Expansion und Vereinheitlichung alle Gegensätze aufheben zu können. Und da die Unterschiede und Widersprüche im Zuge der Verlagerung von mündlicher zu schriftlicher Kommunikation zunehmen, werden institutionalisierte Modalitäten der Transjunktion immer wichtiger. Auch heute fehlen wieder Institutionen, die in die Lage versetzen könnten, mit dem neuen Überschusssinn inflationärer Kontrolle umzugehen. Realmodelle einer friedlichen Brave New World scheinen kaum als alternativloses Weltordnungsmodell globaler Gefahrenabwehr zu taugen. Wenn das absolutistische Monopolisierungsprojekt einer Super-Kontrolle aller potentiellen Kontrollen an der Komplexitätsproblematik scheitern muss, dann gewinnt wieder die Ethik in ihrer Funktion einer „Technik der Kultur“ (Gerhardt in: Gamm/Hetzel 2015, 61-81) an Bedeutung. Sobald auch auf dem Feld kultureller Verhaltensregularien der Begriff der Technik bemüht wird, so sind Konditionierungen des spontanen Reaktionsvermögens angesprochen.

Der Tod als Handeln oder als Erleben Pax wird in der digitalen Gesellschaft zum Synonym für Kontrolle, für Sinnkollaps, für technokratische Weltherrschaft und für eine maschineverschmolzene Spezies, die in ihrer Gestalt als Mensch, als Tier oder als Gegenstand in Erscheinung treten kann. Damit ist das Friedensdenken der Pax zugleich ein Synonym für den Tod des alten im Sinne des überlebten Menschen, der nur durch allotechnische Mittel zu bändigen war. Physische Gewalt erweist sich unter den Bedingungen einer digitalisierten globalen Netzgesellschaft tendenziell selbst dann als ineffektiv, wenn das gegenwärtige Schlachtgeschehen in der Ukraine vorübergehend ein anderes Bild vermitteln mag. Dies berücksichtigend steht Pax für die Geburt eines neuen Menschen, der durch autotechnische Mittel biometrischer Vermessung und nanotechnologischer Implantate kontrolliert und auf diese Weise zum selbst- und fremdverträglichen Wesen mutiert. Frage kommt.“ (55). Dies dementiert die Nähe zu heutigen anthropotechnisch-transhumanistischen Entwürfen.

129

Missverstanden ist dieser transhumanistische Zeitgeist, wenn lediglich von einem evolutionären Trend der gen- und nanotechnischen Selbstvervollkommnung des Menschen gesprochen wird. Zeitströmungen lassen sich nicht gegen handfeste ökonomische und politische Interessen ausspielen; sie gehen Hand in Hand. Und so mag es nicht falsch sein, wenn vom Projekt einer technokratischen digital-finanziellen global vernetzten Elite gesprochen wird, die das organische Substrat von Lebewesen aller Art als ein nicht länger durch Recht und Gesetz reglementiertes Experimentierfeld erobert hat. Das Friedensprojekt der Pax ist als Frieden mit sich selbst und mit Anderen vom Ansatz her ein Herrschafts-, ein Top-Down Projekt. Und dennoch behält auch die andere Aussage Gültigkeit, denn es gibt jene breite Zustimmung zu Enhancement-Projekten, die freilich nicht als transhumanistische Ideologie und Agenda auf den Plan tritt, sondern als Set von gesundheits- und sicherheitspolitischen Maßnahmen der Gefahrenabwehr. Der transhumanistische Überbau erscheint als Moment einer effizienzgesteigerten Praxis. Wenn gesagt wird, Angst fungiere in der Moderne als motivationale Ressource der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, so bedeutet dies natürlich nicht, dass in vormodernen Gesellschaften die Angst vor dem Tod weniger bedeutsam gewesen wäre. Entscheidend aber fällt ins Gewicht, dass die Reflexion von Vergänglichkeit und Sterblichkeit als Ars Morendi im Zentrum der kulturellen Unterweisung des Einzelnen gestanden hatte. Während hier gewissermaßen die gesamte Lebensführung als Vorbereitung auf den Tod verstanden wurde und infolgedessen der unerwartete und also unvorbereitete Todeseintritt häufig mehr gefürchtet war als dieser selbst, gründet die moderne Gesellschaft ihre immensen wirtschaftlich-technischen Leistungserfolge auf eine lebenslange Verdrängung des Todes und auf dessen Bewältigung durch ein von philosophischen Fragestellungen abstrahierendes Spezialistentum.138 Denn nur die konsequente Diesseitsorientierung verspricht die Konzentration aller gesellschaftlichen Kräfte auf die materielle Verbesserung der Lebensumstände. Zum Paradigma und mithin zur unreflektierten Selektion der politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und wissenschaftlichen Selektionsweisen kann die Angst erst in dem Augenblick werden, in dem der Tod und mithin die Quelle größter Ängste, zur privaten und allenfalls therapeutisch begleiteten Angelegenheit erklärt und somit aus dem kulturellen Raum ausgelagert worden war. Medizinisches und politisch-militärisches Subsystem nehmen als Rückversicherung gegen die Angst vor dem Tod im Funktionsganzen der Moderne eine Schlüsselstellung ein. Entscheidend ist dabei, dass der Tod im 138 Zu Theorien des Todes siehe Petra Gehring (2021).

130

modernen Funktionssetting aufhört, als schicksalhaft erlebtes natürliches Ende des menschlichen Lebens akzeptiert zu werden. Anders verhält es sich mit dem Tod als Produkt des Handelns. Konsequent weitergedacht, mündet das Paradigma in eine umfassende sozialdarwinistische Programmatik, die sich mit der Modulation der Differenz von Leben und Tod daranmacht, das evolutionäre Gesamtgeschehen zu steuern. Wir haben hier wieder dasselbe Phänomen paradoxer Tabuisierung vor uns, wie es oben am Verhältnis von Frieden und Macht gezeigt worden war: Die Enttabuisierung des Todes als schicksalhaft Erlebtes hat die Tabuisierung der Handlungsmacht jener Akteure zur Folge, die im Namen der individuellen und kollektiven Gesundheit Entscheidungen treffen. Ins Extrem getrieben signalisiert eine Kultur, die den Tod nur noch als Korrelat des Handelns begreifen möchte und nicht mehr als Erlebtes und schicksalhaft Erlittenes, den Abschied vom Menschlichen. Denn sie sieht sich gezwungen, eine speziesimmanente Grenze zu ziehen zwischen Exemplaren, die handlungsmächtig über Leben und Tod entscheiden und Exemplaren, die von diesen Entscheidungen betroffen sind. Nietzsche (2011) hat in Also sprach Zarathustra die Unausweichlichkeit der Auflösung eines dem Gleichheitsprinzip verpflichteten Humanismus gesehen und den Einheitsbegriff der Menschheit durch die Differenz zwischen dem kreativen, sich selbst schaffenden Übermenschen, und dem uninteressierten, lethargischen Untermenschen ersetzt. Während ersterer metaphysischer und religiöser Krücken nicht mehr bedarf, zeichnet sich der Unter- oder so genannte letzte Mensch dadurch aus, dass er in lebensmüder Zufriedenheit nur Banalitäten sucht. Korrespondierende Narrative wechseln heute bei persistierender Logik. In der Optimierungsgesellschaft nimmt der Cyborg diesen Platz ein und zwar auf eine durch Gesetze nur schwerlich zu reglementierende Weise (Goppelsröder 2018). Dies korrigiert das Bild, das sich der Mensch von sich selbst macht, gewollt oder ungewollt in Richtung Transhumanismus. Diese innere Logik bricht sich Bahn, sobald die Moderne mit der Globalisierung ihre vollverwirklichte funktionale Differenzierungsform erreicht hat. Ihrem Selbstverständnis nach ist die moderne Gesellschaft ein Handlungsprodukt kompetenter Akteure und verlässt sich ganz auf die methodengeleiteten Expertisen einer wissenschaftlichen, politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Funktionselite. Dieses Vertrauen rührt aus dem hohen Grad an Konsolidierung, den die funktionale Differenzierungsform erreicht zu haben scheint. Forschungsergebnisse der Wissenschaft erscheinen im allgemeinen Bewusstsein jedoch weniger als hypothetische noch nicht falsifizierte und somit transitorische Wahrheiten, sondern eher als ein Wissen, das in der gesellschaftlichen Praxis breitflächig zur Anwendung kommen muss.

131

Gesellschaftsstrukturelle Grenzen der Realisierung globaler Pax aus systemtheoretischer Sicht. Hier greift Luhmanns Analyse der funktional differenzierten als einer bloßen Übergangsgesellschaft, die sich mittels Kritik sukzessive von allen hierarchischen Formen löst, aber nicht zu einem neuen und stabilen Muster hatte finden können.139 Jeder Bereich erscheint im Modus seiner Kontingenz und mithin als Alternative zum Bestehenden: Politikmodell, Rechtsverständnis, Wirtschaftssystem, Wissenschaft und Wissensvermittlung, Therapien, Kindererziehung und selbst die Definition von Familie und Geschlecht werden fragwürdig. Dieser Gesellschaftstypus, der sich selbst in allen Funktionsbereichen nur im Modus eines Anders-sein-könnens beschreibt, sieht sich nicht in der Lage, eine konzise Selbstbeschreibung anzufertigen und transportiert dennoch unaufhörlich die Sehnsucht nach Einheit und nach kollektivem Wir-Gefühl. Dies verlangt nach sichtbaren Grenzen und somit nach genau dem, was im Rahmen der funktionalen Differenzierungsform nicht sein darf. Es ist das Duo von Universalität (Funktionsgrenzen schließen nationale und kulturelle Grenzen aus) und Spezifikation (Funktionsträgerschaft determiniert nicht das ganze Menschsein) das diesen gesellschaftlichen Differenzierungstypus so fragil macht. Grenzen kennt der subsystemische Wirkungsbereich nur in Bezug auf die je spezifische Funktion, nicht aber in Bezug auf kulturelle, nationale und territoriale Orientierungen. Ganz anders verlangen politische Legalität und Legitimität, dass sich typisch modernes Kontingentsetzen innerhalb der Margen eines gesetzten und nicht eines fiktiv-konstruierten Rechtsraums bewegt. Die Staaten haben sich mit ihrer Unterschrift unter die Charta der Vereinten Nationen dazu verpflichtet, dass sie ihr gewaltgestütztes Sicherungsmonopol nicht grenzüberschreitend anwenden, ohne sich des Völkerrechtsstrafbestandes der Aggression schuldig zu machen. Die Politik kann infolgedessen kulturelle, nationale und territoriale Bindungen nicht einfach ignorieren. Dies ist jedoch ein entscheidendes Hindernis für Modernisierungsprozesse, wenn man dieselben an die weltweite Verwirklichung des funktionalen Differenzierungsprinzips knüpft. Zugleich bietet sich die Politik, welche mit einem Bein in vormodern-hierarchischen Verhältnissen festhängt, als Sehnsuchtsort für gesellschaftliches Einswerden Aller mit Allen geradezu an. Im Rahmen politischer Agenden lässt sich mithin etwas ausleben, das dem Homo Oeconomicus nicht gestattet ist, nämlich die Forderung, dass wir alle eines Geistes werden. Damit sind wir wieder mitten in den 139 Dies hat nach Luhmann (1975, 72-102) sogar zur Folge, dass die moderne Gesellschaft ihre Selbst-Thematisierung nur als Selbst-Kritik leisten kann.

132

aktuellen Kämpfen ums Ganze: Corona, Gender, Klima und Wissenschaft. Jetzt wird deutlich, warum politische Agenden mit einer geradezu autoritativen Wucht alles niederzuringen suchen, das offizielle Narrative querdenkt und das heißt kontingent-setzt. Plötzlich erscheint anstößig, was dem aufgeklärten Subjekt selbstverständlich erschienen war, nämlich Geltungen immer wieder auf ihre begründbare Gültigkeit hin zu überprüfen. Die Gesellschaft hört auf eine Übergangsgesellschaft zu sein, sobald sich das politische System vom Territorialstaatsprinzip löst und nur noch von ihrer Funktion der Sicherheitsvorsorge her versteht. Es geht dabei um jenes Sicherheitsverständnis universaler Pax, das erst dann meint die Strangulierung seines Handlungsspielraumes hinnehmen zu dürfen, wenn krankmachende Viren auf der ganzen Welt erfolgreich bekämpft, der Terrorismus endgültig besiegt und alle Autokratien der Welt einem Regime-Change unterzogen worden sind. Man könnte auch sagen, indem sich das funktionale Differenzierungsprinzip zunächst seit 2001 mit konzertierter Antiterrorkriegführung und seit 2020 mit dem Lockstep weltweit synchronisierter Anti-Corona-Maßnahmen vollkommen zu verwirklichen sucht, wird offenbar, dass die einzelnen Stadien der Ausdifferenzierung von Religion, Politik, Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung und Erziehung bloße Modalitäten eines Anders-sein-Könnens ausgebildet haben, aber zu keiner eigenen Gestalt hatten finden können.140 Die einzelnen Systeme verkörpern, jedes auf ihre Weise, das Prinzip des Gestaltwandels. Aber sie sind angewiesen auf die hierarchische Beziehung des staatlichen Gewaltmonopols zu den einzelnen Funktionssystemen. Der Konstruktionsfehler des funktionalen Differenzierungstypus besteht mithin darin, dass dieser nur als Utopie Bestand hat. Da ein Gewaltmonopol kein anderes neben sich dulden kann, das Staatensystem deren aber mehrere aufweist, bleibt nur der finale Ausscheidungskampf bis hin zur Unterwerfung der gesamten Weltbevölkerung unter das Overkill-Potenzial einer einzigen Weltregierung. Die Funktionalität dieser Idee mochte so lange einleuchten, als es sich bei den widerspenstigen um schlecht gerüstete Staaten handelte, deren Recht auf Selbstbestimmung und auf Selbstverteidigung gewissermaßen straflos als anachronistischer Nationalismus verunglimpft werden konnte. Anders verhält es sich in der Konfrontation mit Atommächten und dies ist der Grund, weshalb sich die russische Intervention in die Ukraine zur sicherheitspolitischen Zeitenwende eignet.141 Die 140 Zu den verschiedenen psychosozialen Effekten der Corona-Pandemie, die ein Explizitwerden der Weltgesellschaft in ihrer genuinen Krisenhaftigkeit aufzeigen, siehe aus schwerpunktmäßig systemtheoretischer Sicht die Beiträge in Heidingsfelder/Lehmann (2021). 141 Siehe zu dieser Position den von 22 Fachleuten aus Wissenschaft und Militär in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.07.2022, Nr. 161, 8) abgedruckten öffentlichen Brief „Pu-

133

Zäsur ist von einer unvergleichlichen Tragik: Entweder das globale Monopolisierungsprojekt physisch-psychisch-biochemischer Gewaltmittel wird selbst um die Gefahr eines dritten und nunmehr atomar ausgefochtenen Weltkrieges weiterverfolgt, oder es wird vom technokratisch-transhumanistisch-dataistischen Projekt universaler Pax Abstand genommen und zu der mühsamen Politik des Interessenausgleichs der Zeit des atomaren Patts zurückgekehrt. Politik realisiert sich als Funktionssystem, indem sie für sich selbst ein Recht auf Grenzüberschreitung bis hin zur Grenzverletzung in Anspruch nimmt, sei es die Missachtung des völkerrechtlichen Prinzips territorialer Unversehrtheit oder des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit zum Zwecke effizienter Wahrnehmung von Funktionen der Sicherheitsvorsorge. Folglich ist das handlungstheoretische Selbstverständnis der modernen Gesellschaft für den Fall, dass der demokratisch-rechtsstaatliche Rahmen nicht verlassen werden soll, an die Verstetigung der Übergangsgesellschaft gebunden. Sobald das politische System die Entwicklung hin zu einem Funktionssystem nachzuholen sucht, muss es Sicherheitsvorsorge grenzsprengend gewährleisten. Das Friedenskonzept der Pax steht und fällt mit der unumschränkten Autorität einer politisch designierten technokratischen Elite, deren Macht proportional zur Weite des vernetzten intra- und extrakorporalen Raums wachsen muss. Was aber geschieht, wenn selbige Tendenzbeschreibung weltgesellschaftlicher Steuerung und Überwachung auf dem unhaltbaren Paradigma handlungstheoretischer Fundierung des Sozialen aufbaut? Wird innerhalb des systemtheoretischen Deutungskontextes die gesellschaftsstrukturelle durch eine begriffsanalytische Ebene ergänzt, so zeigt sich das Friedensdenken universaler Pax nicht nur als reaktionäres Projekt. Es offenbart sich mehr noch als kognitive Sackgasse. So kommt es unweigerlich zum theoretisch-praktischen Paradigmenwechsel, da die globale Vernetzung offensichtlich werden lässt, was printmediale Kulturen zu verbergen wussten. Eine der neuen Situation globaler Vernetzung angepasste gesellschaftliche Selbstbeschreibung sieht sich gezwungen, den Grundbegriff vom Handeln durch den des Erwartens zu ersetzten. Nicht nur radikal, sondern auch obsolet erscheint in der digital vernetzten Welt eine Fixierung auf den Dualismus von Erleben und Handeln. Denn für Netzstrukturen gilt mehr ein interoperativer als ein interaktiver Aufbaumodus. Im einen Fall sind es Techniken, Systeme oder Organismen, die zusammenwirken, im anderen Fall sind es Personen (individuelles Subjekt) und Institutionen (kollektives Subjekt), die in ihrem Handeln aufeinander bezogen sind. Die Folge der tins Politik nicht belohnen. Was die deutsche Politik angesichts des Krieges in der Ukraine jetzt tun muss. Eine Stellungnahme von Strategiefachleuten“.

134

Verschiebung des Schwerpunkts von der Aktion zur Operation ist Intransparenz, Verwirrung. In Gesellschaften hingegen, deren zentrales Verbreitungsmedium Druckerzeugnisse sind, lässt sich das Schema von Erleben und Handeln zur Differenzierung von parteipolitischen und weltanschaulichen Richtungen nutzen. Konservative und Progressive unterteilen mit den zugeordneten Haltungen des Rückständigen und Fortschrittlichen, der Affirmation und Kritik, des Konformismus und Nonkonformismus die Menschen in Rezeptionstypen. All diejenigen Menschen, die Gewordenes weiter erleben wollen, weil sie von den Verhältnissen profitieren, stehen denjenigen Menschen gegenüber, die unter den Verhältnissen leiden und freudig dem Spruch folgen Mach kaputt, was dich kaputt macht. In ihrer aktualisierten Form ermuntert dieser während der 68er Studentenrevolte verbreitete Spruch zur kreativen Zerstörung und suggeriert damit eine Kontinuität der industrietechnischen Moderne, die den Sprung von der instrumentellen zur autotechnischen Vernunft ausblendet.142 Sind Menschen, Institutionen, Organisationen und Gegenstände jedoch so miteinander vernetzt, dass sie weniger ein Ursache-Wirkungs- und mehr ein Konstitutionsverhältnis eingehen, so ist der revolutionäre ebenso wie der technokratische Spruch eine bloße Feststellung ohne Handlungsauftrag. Er signalisiert lediglich, dass eine menschliche Welt, die sich so eingerichtet hat, in ihren Aktivitäten des Aufbaus und der Zerstörung nicht mehr zweckgebunden auftreten kann. Sie tut was sie tut als Teil eines künstlich intelligenten Systems. Wird der Mensch zum blinden Reaktor einer Maschinerie, so findet dies notwendig seinen Niederschlag in den Einstellungen gegenüber dem Sterben und dem Tod. Abwägungsüberlegungen haben hier keinen Platz mehr. Denn Zweck/Mittel-Kalkulationen, die als rationaler Hintergrund politisch-medizinisches Handeln begleiten müssen, werden jetzt nach und nach unmöglich. Künstlich intelligente Systeme sind so angelegt, dass sie menschliches Handeln ersetzen und nicht bloß ergänzen. Wenn der Tod nur noch als Korrelat des Handelns akzeptiert sein soll und nicht länger hingenommen und bloß erlitten, dann ist dies erneut ein bloßer Widerhall des Verschmelzungsprozesses. Nur vordergründig wird entschieden und gewählt im Kontext einer technoiden Erwartungsstruktur, die ihre eigenen Margen des Rationalen und Zuträglichen setzt. Konform mit transhumanistischen Forschungsprogrammen zur Abschaffung 142 Es gibt eine passivische Version in der liberalen Tradition von Joseph Schumpeter (2005), die jede ökonomische Entwicklung als Ergebnis einer schöpferischen Zerstörung denken lässt. In der technokratisch-transhumanistischen Tradition, wie sie prominent von Klaus Schwab (2016) und Schwab/Malleret (2020; 2022) vertreten wird, dominiert eine aktivistische Version, in der politische Agenden die Funktion ‚kreativer Zerstörung’ übernehmen. Wir kommen darauf im letzten Kapitel zurück.

135

des Todes (Vaas 2018), kann es schon aus klimapolitischen und aus Gründen begrenzter Ressourcen nicht um das Ziel per se gehen. Beherrschung des Todes lässt sich als Herrschaft über den Tod nur als Herrschaftsprojekt denken. Soll der Tod nur noch handelnd herbeigeführt und nicht mehr passiv erlitten werden, so muss es kompetente und wohlhabende Akteure geben, denen das Recht zuerkannt wird, zu entscheiden, wer leben und wer sterben soll. Die Triage entwächst dem alleinigen Kompetenzbereich der Intensivmedizin und wird zum notwendig akzeptierten gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod. Darin offenbart sich die aktivische Einstellung gegenüber dem Tod in ihrer Dialektik: Die Menschen erleiden den Tod wie eh und je. Aber die Akteurs-Konstruktion, der mein Tod zugerechnet wird, hat sich verändert. Es ist jetzt nicht mehr Gott, der mich zu sich nimmt und nicht mehr die auf ein Lebensende hinsteuernde Natur, in deren Stoffwechselprozess mein toter Körper eine Funktion erfüllt. Nunmehr ist es die Gesellschaft, welche auf Wunsch die Todesspritze setzt, die Apparate abschaltet, die mich mit umstrittenen Vakzinen behandelt oder deren Erwartungsstruktur einfach nur so beschaffen ist, dass ich als alter und behinderter Mensch den Anderen nicht länger zur Last fallen möchte. Man kann auch sagen, die referenzielle Struktur verschiebt sich vom kosmologischen (Weltseele, Gott, Natur) zum subjektphilosophischen Kontext (Individual-, Kollektivsubjekt). Darin zeigt sich der Anachronismus der technokratischen Thanatologie, da die Subjektphilosophie im printmedialen Zeitalter und dem hierfür charakteristischen linear-kausalen Denken festhängt und das Ausgeliefertsein an Erwartungsstrukturen ignoriert.

Denunzianten Die friedenstheoretischen Implikationen dieser grundbegrifflichen Korrektur vom Handeln zur Erwartung und zur Erwartungserwartung sind beträchtlich, da sie dem Projektdenken der Pax die Grundlage entziehen und paradigmatische Voraussetzungen für ein Friedensverständnis der Eirene schaffen. Mit dem Begriff der Pax ist, wie immer wieder erinnert werden muss, der Grundgedanke eines Ausscheidungskampfes verknüpft und dies in Bezug auf kognitive ebenso wie waffentechnische Dominanz. Diese macht sich zur Aufgabe, das Prinzip moderner Staatlichkeit auf die Weltgesellschaft zu übertragen. Mit diesem Schritt aber müsste sich die moderne funktional differenzierte Gesellschaft selbst überwinden und in ein stratifiziertes vormodernes System zurückverwandeln, in dem alle Funktionsbereiche top-down geregelt sind. Ein Festhalten am demokratisch par-

136

tizipatorischen Willensbildungsprozess, das in Bottom-up-Bewegungen gesellschaftliche Änderungen bewirkt, muss nun gleichsam systembedingt zwingend, einst hoch geschätzte zivilgesellschaftliche Aktionen als staatsgefährdend dann einstufen, wenn es sich um Stimmen handelt, die nicht das kritisieren, was es von offizieller amtlich bestätigter Weise zu kritisieren gilt. Regierungskritik ist nunmehr per definitionem staatsgefährdend. Dies Konstruktionsdenken wurzelt seinerseits in der grundbegrifflichen Stellung des Handlungsbegriffs. Das bedeutet, Soziales funktioniert wie Physikalisches, nämlich als ein Insgesamt von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen und eine hier angegliederte sozio-moralische Verfasstheit. Moralisch-rechtlichen Regelungen vorgelagert ist jedoch die Frage, welche Erwartungsstrukturen absichtlich oder unabsichtlich mit Präferenzen befördert werden. Diese paradigmatische Blickwendung vermag dem Phänomen rasanter Umstrukturierung von Normalitätskriterien näherzukommen. Gesellschaften schliddern von einem alten Normal in ein neues Normal im Zuge sich verändernder Erwartungshaltungen. In diesem Zusammenhang entfalten Medienrevolutionen katalytische Wirkungen, indem sie Erwartungsstrukturen zersetzen und in allen Begegnungen und Lebensvollzügen verunsichern. Der dekontextierte Sinn lässt unsichtbare und geheime Zusammenhänge dort vermuten, wo bislang nur verwirrte und krankhafte Naturen zu ängstigen waren. Dies betrifft frühneuzeitliche Irritationen bezüglich unheilvoller Practicken, geheimen Machenschaften als tragische Begleiterscheinung metastasierender Sinnwucherungen, die mit Erfindung der Druckerpresse einzusetzen beginnen. Die irritierende Vielfalt von Deutungen allen Wissens, das bisher durch kirchliche Dogmatik eingegrenzt und eingehegt worden war, ließ eine Vielfalt dahinterstehender Wirklichkeiten imaginieren, zu kosmischer Macht befähigte Hexen, die Krankheiten und Naturkatastrophen auslösen. Wichtig war für die Diagnose von Practicken, dass sie zunächst asymptomatische Reaktionen und mithin Reaktionen bewirkten, die niemand bemerkt und die somit im Verborgenen ihr Zerstörungswerk um so effektiver und nachhaltiger im Organismus von Mensch und Tier vorbereiten konnten.143 Aufgrund dieser asymptomatischen Wirkung des crimen exeptum schien das Rechtswesen, das sichtbarer Beweise bedurfte, überfordert und musste durch neue Diagnoseinstrumente in die Lage versetzt werden, Unsichtbares sichtbar zu machen. Dazu dienten Foltermethoden, die dem Beschuldigten die Wahrheit ganz wörtlich verstanden aus dem Leib heraus143 Zur Practick als trügerisches Zeichen für das politisch Unsichtbare am Beginn der Neuzeit siehe Valentin Groebner (1999). Dieser mittelalterliche Begriff zeigt sich im Zuge der Entdifferenzierung subjektphilosophischer Unterscheidungen in seiner Aktualität. Vgl. Brücher (2004, 35-45).

137

pressten. Wir befinden uns hier noch im Zeitalter der allotechnischen, der Schmerzen verursachenden Methoden. Diese in der Geschichtsschreibung allgemein als tragischer Exzess angesehene Hexenverfolgung ist als Ergebnis des Zusammenbruchs von tradierten Erwartungsstrukturen verständlich. In ihren hochkulturellen Formen hatten dieselben dies Problem der vernünftigen Zurechnung von Ereignissen auf Erleben oder Handeln von Beginn an ins Zentrum gestellt. Erst der Sinnkollaps – und die Erfindung eines neuen Mediums kann einen solchen hervorrufen – ist in der Lage, als vernünftig geltende Kontexte zu verrücken und massenhaft Verrückte zu produzieren. Konsolidierte Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass es stabile Übereinkünfte bezüglich der Zurechnung auf Erleben oder Handeln gibt. Diese Fundierung des Sozialen und des moralisch Gebotenen in Erwartungshaltungen und erst in einem zweiten Schritt im Handeln, folglich die Schlüsselstellung des Erwartungsbegriffs, reicht noch über Platon hinaus bis in früheste Zeugnisse des Nachdenkens über die Probleme des Zusammenlebens. Sie geht in einer direkten Linie auf prähistorische Tafeln zurück und wurde immer nur wieder erneuert. Die früheste uns bekannte Reflexion über die zentralen Kohäsionseffekte des Sozialen und alle folgenden Moralkodizes fokussieren auf diese zentrale Bedeutung von Erwartungsstrukturen. Als älteste Kodifikation der Weltgeschichte ist der Codex Hammurabi (Eilers 2009) aus dem alten Vorderen Orient bekannt.144 Bei der 282 Paragraphen umfassenden Gesetzestafel fällt zunächst auf, dass sich die ersten Paragraphen auf Verstöße gegen das Gebot der Wahrhaftigkeit und nicht gegen moralisch-rechtliche Normen beziehen. So lautet §1: „Wenn ein Bürger einen Bürger des Mordes bezichtigt hat, ihn aber nicht überführt, so wird der, der ihn bezichtigt hat, getötet.“ Der zweite Paragraph bezieht sich auf nicht nachgewiesene Zauberei, der dritte auf das falsche Zeugnis vor Gericht (Codex S. 31). Es lohnt sich gerade angesichts der zum Teil martialisch grausamen Körperstrafen, die tiefere Bedeutung der Rangordnung vor Augen zu führen. Die üble Nachrede kann nur dann als das schwerste aller Vergehen erscheinen, wenn davon ausgegangen wird, dass die zentralen Kohäsionseffekte eines Gemeinwesens nicht im Handeln, sondern im Erwarten gründen. Letzteres ist aber allein aus dem Grund schlüssig, weil eine Handlung erst vor dem Hintergrund eines Erwartungskontextes und mithin bestimmter Zurechnungsgewohnheiten als eine solche betrachtet und erst recht bewertet werden kann. So gilt ein Unwetter nicht als ein vom Menschen 144 Es handelt sich um die 1901/02 in der Ebene des Iraq gefundene Stele des babylonisch-assyrischen Königs Hammurabi (1728-1686 v. Chr.).

138

gemachtes Übel, und jeder, der etwas anderes behauptet, muss Beweise anführen, so lautet der Subtext des zweiten Paragraphen. Die Gesellschaft enthält sich mithin des Urteils bezüglich tieferliegender metaphysischer Kasuistik – ob es Zauber gibt oder nicht – und trifft nur Vorsorge dafür, dass üble Nachrede und Diffamierung unterbunden wird. Auch der mosaische und folglich der jüdisch-christlich-moslemische Dekalog setzt in der Formulierung des obersten Gebotes auf jene dem Handeln vorausliegende Erwartungshaltung, wenn es heißt: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Genauer formuliert bedeutet dies: Du sollst keine Menschen und deren Meinungen, Anschauungen oder Lehren vergöttlichen. Hinter diesem Gebot stehen die historischen Erfahrungen der versklavten Israeliten mit der ägyptischen Gesellschaft, die durch einen göttlichen Pharao beherrscht wurde. Folglich ist es die bewusste Abgrenzung von allen Arten des Personenkults und die Anerkenntnis eigener Fehlbarkeit, die das Gebots- und Verbotsregister bestimmen. Auch im Falle eines Verstoßes gegen das Gebot der Wahrhaftigkeit – hier als Verbot des falschen Zeugnisses an achter Stelle genannt – liegt das Problem in der Berufung auf eine Autorität und sei es die eigene, die die Lüge als Mittel einer höheren absoluten Wahrheit legitimiert. Gegenstand der Gebotsformel ist folglich ein Erwartungsstil, nämlich die Erwartung, dass sich jeder Mensch – die eigene Person inbegriffen – so grundlegend täuschen kann, dass sich niemand in der Rechtfertigung des falschen Zeugnisses, der grundlosen Anklage und der Diffamierung anderer Menschen, auf eine höhere privilegierte Wahrheit stützen kann. Diese tiefere Einsicht in die Grundmechanismen des Sozialen treten immer wieder in den Hintergrund, da sie dem Menschen mehr abverlangen als das Designieren von Sündenböcken und das Abreagieren von Grundimpulsen eifersüchtig-mimetischer Gewalt. Eskalierende in kollektive Gewalt mündende Dynamiken sind einem sozialen Erwartungstypus eingeschrieben, der sich selbst missversteht und ganz auf die schnelle und impulsive moralische Bewertung des Handelns setzt. Die Fundierung des Sozialen im Handeln mündet im Endstadium schließlich in eine Kultur der Vorverurteilung, die Vertrauen als Ferment des friedlichen Zusammenlebens untergräbt und durch ein Klima allgemeiner Verdächtigung ersetzt. Wird das juristische Beweisverfahren marginalisiert und der bloße Verdacht für eine Vorverurteilung als ausreichend erachtet, so setzt dies eine Dynamik sozialer Erosion in Gang bis hin zum Punkt der Beweislastumkehrung. Sobald aber vom Beschuldigten verlangt wird, Belege dafür beizuschaffen, dass er sich einer ihm angelasteten Straftat nicht schuldig gemacht hat, so tritt an die Stelle von Rationalität kollektive Paranoia. Dies ist gewissermaßen die zentrale Einsicht des Code Hammurabi und aller

139

rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen, dass die Beweislast auf Seiten des Klägers liegen muss und sich nicht zum Beschuldigten hin verschieben darf.

140

IV. Komplexität als Kulturform Kulturform als Erwartungstypus Mit der Verlagerung des gesellschaftstheoretischen Grundbegriffs vom Handeln zum Erwarten sind eine Reihe theoretischer und praktischer Folgen verbunden, welche für die uns beschäftigende Frage des Umgangs mit der Differenz von Krieg/Konflikt/Gewalt und Frieden wesentlich zu sein scheinen. Sobald nämlich an erster Stelle darüber nachgedacht wird, in welcher Weise bestimmte Präferenzen und Entscheidungen Einfluss auf die allgemeine Erwartungshaltung nehmen, tritt das schnelle dualistisch-dichotome Urteil in den Hintergrund, um einem Denken in den Kategorien von Wechselwirkungen, von rekursiven Prozessen Raum zu geben. Hier geht es nicht länger um die präzise Ortung von Regelbrechern, von Querdenkern, von Volksschädlingen, von Verschwörungstheoretikern und Feinden aller Art. Was jetzt in erster Linie interessiert, ist der mit massenhaften Vorverurteilungen eingehandelte Erwartungstypus, der langfristig auch denjenigen Menschen schaden muss, die sich gegenwärtig in einer privilegierten Position befinden, oder die meinen durch konformistisches Verhalten und Handeln nicht selbst Opfer von Verdächtigungen und Vorverurteilungen zu werden. Damit zeichnen sich die Konturen dessen ab, was heute gemeint sein könnte, wenn Komplexität als Kulturform der digitalen Gesellschaft vorgeschlagen wird (Baecker 2018, 61-75). Indem der vage und schwer definierbare Begriff der Kultur nicht für sich steht, sondern als Kompositum sein Profil ganz dem Begriff der Form verdankt, lässt er sich präzisieren und einer bestimmten Gesellschaftsstruktur (tribalistisch, hierarchisch, funktional, netzförmig) zuordnen. Dabei verweist Form – im Sinne der Logik George Spencer-Browns (1979) als Einheit einer Differenz und differenzierten Einheit verstanden – auf eine Paradoxie, in die jeder Versuch einer Bestimmung von etwas gerät. Denn der zu klärende Begriff macht nur im Horizont einer Unterscheidung Sinn. Betont Kultur den Gegensatz zur Natur, so ist sie mit gänzlich anderen Augen betrachtet als in der Gegenüberstellung mit Technik. Und wieder anderes gerät in den Blick, wenn sie sich von Barbarei und von Barbaren abgrenzt. Aber in jedem dieser spezifizierenden Verständnisweisen bleibt vorausgesetzt, dass es Natürliches oder Naturbelassenes, dass es Artifizielles oder Schematisch-Primärprozesshaft-Mechanisches oder dass es Gewalt und Barbarei gibt. Man könnte also so weit gehen und im Begriff selbst eine Appellationsinstanz sehen, die dazu aufruft, die widernatürlichen oder unkultivierten Exemplare aufzuspüren und der jeweils zeitgemäßen Behandlung zu un-

141

terziehen. Sobald Kultur als Differenzbegriff und somit als Form verstanden wird, so sind Vorbehalte angebracht. Denn die Nähe zur Moral bleibt unabweisbar, sind die beiden Seiten der jeweiligen Unterscheidung doch unweigerlich als gut oder schlecht bewertet. Präziser und der Sache angemessener erscheint es deshalb, das Phänomen der Moral schärfer ins Profil zu setzen und unter Zuhilfenahme des Begriffs der Ethik auch kritisch zu reflektieren. Der Kulturbegriff muss sich hingegen von seiner Anlage her dagegen verwahren; er vermag das Unterscheiden nicht aufgrund unguter Folgen einfach unterlassen. Dieser Weg theoretischer Abstinenz scheint gegenwärtig verbaut. Es reicht nicht mehr aus, über das Verhältnis von Moral und Ethik nachzudenken und das verfeindende Unterscheiden von Guten und Schlechten, von Rechtschaffenen und Bösen im Lichte eines moralkritischen Ethikverständnisses zu zähmen. Luhmann (2008, 252) hatte für die sich zunehmend entwickelnde funktional differenzierte Weltgesellschaft eine durch Skandalisierungen beflügelte Normgenese vermutet, die sich an der allgemeinen Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen orientiert. Auch dieses Stadium hat die Moderne hinter sich gelassen und richtet nun ihre Empörung auf Verfehlungen gegen ein bestimmtes Narrativ und gegen top-down-geregelte Sprechweisen, die tribalistisch orientiert sind und vom Einzelnen die Kultivierung einer Differenz verlangen, sei es der sexuellen Ausrichtung, des Gesundheitsstatus, der Zugehörigkeit zu Opfer- oder zu Tätergemeinschaften. Die Form der neuen Einheitsbegriffe Gender, Pandemie, Klima und eine szientistisch verstandene Wissenschaft beruhen auf Unterscheidungen, die einen anderen Unterschied machen als jene Begriffe, die sie beerbt haben: Mensch, Krankheit, Natur, fallibele Wissenschaft. Der jetzt relevante Unterschied zielt auf technokratisch-dataistisch-transhumanistische Überschreitungen. Während eine kritisch begriffene Ethik dazu anhält, auf unterscheidendes Bezeichnen mitunter zu verzichten, weil bestimmte sozialklimatische Bedingungen selbiges nur als Stigmatisierung von Andersdenkenden möglich machen, so richtet sich heute das Augenmerk auf die Kultur. Diese wider alle Hindernisse zu pflegen oder allererst über diese nachzudenken, wird angesichts der Tatsache entscheidend, dass die kosmologischen, anthropologischen, apokalyptischen und religiösen Referenzen aller Ideologien und Narrative – Natur, Mensch, Krankheit, Erkenntnis (religiös, wissenschaftlich) – im neuen transhumanistischen Überschreitungsdenken preisgegeben werden sollen. Das Thema Kultur vor das Thema Ethik zu schieben bedeutet folglich anzuerkennen, dass wir uns gegenwärtig in einer Weltlage befinden, in der die digitaltechnische Umformatierung allen Lebens etwas heraufbeschwört, was oben als Sinnkollaps bezeichnet worden ist. Wirkliches muss nicht mehr mit dem bloß Möglichen ins Verhältnis ge-

142

setzt werden, wenn dies in absehbarer Zeit vollumfänglich von künstlich intelligenten sich selbst steuernden und weiterentwickelten maschinellen Systemen bewerkstelligt wird. Sofern die Kulturform als „Verdichtung eines Sinnüberschusses in eine Denkfigur“ (Baecker 2018, 64) recht begriffen ist, so verwandelt sich diese Aussage in eine Aufforderung: Es gilt, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass ein solcher Überschuss und das bedeutet im heutigen netzstrukturellen Fall, zu viel Kontrolle, dergestalt in eine Form gebracht wird, dass Komplexität überhaupt erst als Denkfigur und somit als Kulturform herausgearbeitet, verstanden und gepflegt werden kann. Was es jetzt zu kritisieren und rückgängig zu machen gilt, ist der Sinnkollaps, der sich dadurch ereignet hat, dass sich die weltanschaulichen Ligaturen dieses Kollapses hinter zugkräftigen Agenden verstecken. Es gilt, die Differenz von Humanismus und Transhumanismus wieder ins allgemeine Bewusstsein zu heben und öffentlich zu diskutieren.145 Dass dies beileibe nicht bedeutet, der verlorenen Subjektfigur nachzutrauern, wurde bereits betont. Denn schon hier verschwindet der einzelne Mensch hinter der Fassade einer soziokulturellen individualistischen oder kollektivistischen Struktur, die dem Scheinen den Primat gegenüber dem Sosein einräumt. Eben letzteres zu gewähren wird immer schwerer. Das bloße Sosein wird gleichsam in den maschinell getätigten Korrelationen und Kombinationen von Daten und deren Trägern, Datenbanken, Algorithmen und digitalen Plattformen innerhalb der Netzwerke aufgerieben. Komplexität könnte die Konturen einer Kulturform gewinnen, wenn eine Denkfigur herausgearbeitet würde, die dem einzelnen Menschen das Recht zum Sosein zuspricht. An dieser Stelle verblüfft eine system- und medientheoretische Empfehlung, man müsse nur den elektronischen Medien bei der Arbeit zusehen, um die Grundfesten eines respektvollen Umgangs miteinander, sei es der Individuen, der Gruppen, der kulturellen Gemeinschaften und der Nationen aufzuspüren. Denn was sich hier vollziehe, sei jenseits von Kausalität und Zufall und somit jenseits von dem, was subjektphilosophische Deutung und Legitimierung von Handlungszusammenhängen benötigen. Netzwerke nutzen Gelegenheiten zu Anschlussoperationen; sie lassen sich von bloßen Ereignissen affizieren. Jetzt tritt der Stil, verstanden als gemeinsame Kultivierung des historischen und regionalen Zusammentreffens bestimmter körperlicher Geschicklichkeiten, mentaler Dispositionen, sozialer 145 So auf Seiten der Philosophie Éric Salin (2018), der sich mit dem Appell „Die Stimme gegen den Chat erheben“ auch an eine breitere Öffentlichkeit wendet (in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.02.2023, Nr. 41, 14), denn es gehe bei der zunehmend den Alltag bestimmenden KI Technologie längst nicht mehr um eine Ergänzung, sondern um ein radikales Ersetzen von menschlichem Geist und Körper.

143

Gelegenheitsstrukturen und technischer Ressourcen (Baecker 2018, 70f.) gewissermaßen in Gegensatz zu Sozialtechniken. Letztere versuchen ihren Einfluss nicht bloß auf struktureller Ebene geltend zu machen, vielmehr sollen die Ereignisse selbst, das gesprochene, das gechattete oder gepostete Wort mittels Denkverboten gesteuert werden. Das geht nur mit Diffamierung und um sich greifender Denunziation und letzten Endes nur mit totalitären Maßnahmen, die dem Gedankenaustausch jeden echten Gedanken austreiben. Ausnutzen von Gelegenheiten tritt als kulturaffine Modalität des Umgangs an die Stelle von Steuerung, so ließe sich der Kerngedanke auf eine kurze Formel bringen. Überträgt man das Prozedere der digitalen auf die zwischenmenschliche Ebene, so zeigt sich jetzt deutlich, was Komplexität als Kulturform meint: „Dinge, Personen, Momente (werden) miteinander kombiniert, die nichts miteinander zu tun haben, soll heißen: die sich aus einer weitgehenden Unabhängigkeit heraus auf Beziehungen der Abhängigkeit einlassen.“ Die genealogischen Parallelen zum technischen Prozedere enden allerdings dort, wo es darum geht, „die Faktizität und Möglichkeit der Verknüpfung körperlicher, mentaler, sozialer und technischer Operationen als solche und als Überraschung oder uralte Bestätigung zu feiern: Einheit einer Vielfalt, Vielfalt einer Einheit.“ (Baecker 2018, 70). Denn was könnte dies anderes heißen als rückgängig zu machen, woran die gegenwärtige noch Übergangsgesellschaft krankt, nämlich den Sinnkollaps? Wenn man nun aber davon ausgehen kann, dass eben dieses Problem schon immer in Nuce überall dort bestanden haben mag, wo es Herrschaft von Menschen über Menschen gegeben hat, dann muss die Spurensuche sehr weit ausgreifen. In Nuce bedeutet freilich nicht, dass die Versklavung der Menschheit so weit hätte getrieben werden können, wie es die vollendete mensch-maschine verschmolzene Spezies mit der Fähigkeit, Gedanken zu lesen und zu steuern, heute verheißt. Die Gesellschaft aber verwirklicht sich auch dort zu einer Sklavenhaltergesellschaft neuen Typs, wo sich selbst kopierende digitale Codes die Ebene des Analogen erobern und unberechenbare DNA-Modifizierungen auslösen.

Dialog Noch einmal müssen wir die Genese des Problembewusstseins rekonstruieren: Buchstaben können nicht antworten, so lautet der medienkritische Einwand, der gegen die schriftliche Kommunikation im Griechenland des 5. vorchristlichen Jahrhunderts erhoben wird. Dies ist ein Einwand, der von Platon im Phaidros anhand eines ägyptischen Mythos veranschau-

144

licht wird und offensichtlich bereits das altorientalische Kulturbewusstsein prägt. Während diese vorderasiatischen Großreiche die rituell-liturgische religiöse Praxis und hier angegliederte wissenschaftlich-technische Gelehrsamkeit als hinreichendes Korrektiv dieses medienbedingten Mangels pflegen, bilden sich in Griechenland Akademien als Zusatzinstitutionen, die den Verlust durch ein vorbehaltloses Frage-Antwortverhalten auszugleichen suchen. Durch die Eroberungsfeldzüge Alexanders (256 v. Chr. – 223 v. Chr.) verbreiten sich griechische Kultur und damit auch philosophische Schulen bis zum indischen Subkontinent. Diese institutionalisierte Form der Wissenschaft und Bildung wird nach der Eroberung der gesamten hellenistischen Welt durch die Römer im Jahre 30 v. Chr. übernommen. Die Christianisierung setzt mit der Schließung der Philosophenschule in Athen durch Kaiser Justinian im Jahre 521 zwar dieser Form der Institutionalisierung ein Ende. Aber im 12. Jahrhundert entsteht mit den Universitätsgründungen eine analog strukturierte Einrichtung. Dieser historische Hintergrund ist wichtig, um den im digitalen Format kulminierenden Gestaltwandel der schriftkompensierenden Einrichtungen verstehen zu können. Denn im Zuge der ungemeinen Expansion des verunsichernden sokratischen Gesprächsstils hatte sich derselbe bis zur Unkenntlichkeit verändert. Platon lässt in seinen Dialogen Sokrates als öffentlichen Redner in den Straßen Athens auftreten. Dieser stellt radikal in Frage, was evident und unmissverständlich daherkommt, sich nach eingehender Prüfung aber als wenig durchdacht und mithin als Vorurteil erweist. Es handelt sich hierbei um einen Gesprächsstil, der an die Stelle von Selbstbehauptung und Überredungskunst ein Verständnis für die logischen Barrieren wechselseitigen Verstehens vermitteln soll. Dies widerspricht in gewisser Weise dem agonalen Prinzip, das im alten Griechenland als Antriebs- und Gestaltungswille alle Lebensbereiche durchdringt. Kontraste, Gegensätze und Gegnerschaft sehen sich hier vorausgesetzt und gefördert und mithin ein Denken in den Kategorien von Dichotomien und Unvereinbarkeiten. Sokrates sieht nicht im Agonalen, aber in dessen Verabsolutierung eine Quelle des Peloponnesischen Krieges als jenem ruinösen Bürgerkrieg, in den nahezu die gesamte griechische Welt nicht nur des Festlandes, sondern auch der überseeischen Siedlungsgebiete (Kolonien) involviert war und die Griechenland bis heute seine politische Bedeutung nehmen sollte. Platon hatte die logischen Barrieren wechselseitigen Verstehens als mathematische Logik in Gestalt arithmetischer Korrelationen im Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis als ein auf alle strittigen Fragen anwendbares bloßes Prüfverfahren veranschaulicht: Weil die Unterscheidungen von Sichtbarem und Denkbarem, von Bestimmtem und Unbestimmtem sowie von Früherem und Späterem nicht in einer übergeordneten Einheit harmonisiert sind, fehlt die logische Grundlage für eine Ausarbeitung von Sche-

145

mata und Skripts, die in einer generalisierenden Art und Weise alle Gegenstände bestimmen und mithin eine durchformulierte Ethik möglich machen. Erst sein Schüler Aristoteles wird die Grundlagen einer nicht länger mathematisch-arithmetischen, sondern semantisch-textuellen Logik schaffen, die sich erneut zu Profilbildung und Abgrenzung eignet. Es wird diese Gestalt der schriftkompensierenden Dialogkunst sein, die als hellenistische Kultur im Orient und im Okzident miteinander rivalisierende und einander bekämpfende Philosophenschulen hat entstehen lassen. An diesem agonalen Stil wird sich auch nach der Christianisierung des Okzidents und der Islamisierung des Orients nichts ändern, ein Faktum, das nicht nur als kulturelle Ligatur von Kreuzzügen und dschihadistischer Expansion im Hintergrund gewirkt haben mag. Auch in Bezug auf die religionsinternen Spaltungen lässt sich sagen, dass dies Denken in Kategorien von Schemata und Skripts die medienkritische Funktion des Dialogs nachhaltig beschädigen sollte. Das betrifft die im Jahre 395 erfolgte Teilung des römischen Herrschaftsgebietes in ein Ost- und ein Westrom und seit dem 8. Jahrhundert das Konflikte anheizende innerislamische Schisma von sunnitischen und schiitischen Schulen, im christlichen Europa wiederum achthundert Jahre später die Aufspaltung in katholische und protestantische Konfessionen. Friedensbemühungen werden in der Folge weniger an der logischen Gestalt und mehr an den semantischen und textuellen Formen ansetzen. Die Argumente der Gegner sollen besser verstanden und somit ein offen-toleranter Stil des Umgangs gepflegt werden. All dies geschieht aber mit dem Hintergedanken zu überzeugen, zu bilden und die Anderen, die Fremdgläubigen auf die eigene Seite hinüberzuziehen. Der geheime Grund der Gespräche ist die Mission. Aus Dialogen sind folglich längst Diskurse geworden, komplexe immanent schlüssige Gedankengebäude, die bereits in ihrem Grundentwurf auf Identität und Abgrenzung hin konzipiert sind.

Diskurs Seit dem 13. Jahrhundert beherrscht ein grundlagentheoretischer Dissens alle Auseinandersetzungen über die richtige und die moralisch einwandfreie Interpretation von Texten: Metaphysische stehen gegen metaphysikkritische Sichtweisen. Auf die damalige geistige Situation bezogen kann man auch von einem Konflikt zwischen wissenschaftlicher Metaphysik und frommer Skepsis sprechen (Flasch 2011, 141-158). Aber in dieser Formulierung liegt die Versuchung, das formlogische Problem aus dem Blickwinkel unserer heutigen funktionalen Zuordnungen zu betrachten und so-

146

mit einen relativ harmlosen Konflikt zwischen dem religiösen und dem wissenschaftlichen Funktionssystem zu vermuten. Eben diese ‚Lösung’ liegt im dreizehnten Jahrhundert noch in weiter Ferne und es zeigt sich zusehends, dass im 21. Jahrhundert diese Differenzierung unter den digitalen, den multikulturellen und globalisierten Bedingungen erneut versagt. Insofern sehen wir uns insbesondere auf die spanische Situation des 13. Jahrhunderts zurückgeworfen. Die Position der wissenschaftlichen Metaphysik umgreift die Disziplin einer argumentativen Theologie, die im Okzident als eine an Neuplatonismus und Aristoteles anknüpfende Scholastik in Erscheinung tritt und im Orient als aristotelischer Rationalismus. Beide gehen davon aus, dass die Existenz Gottes – und insgesamt der religiöse Glaube – auf allgemein einsehbare Vernunftgründe zurückzuführen seien. Es ist die geistige Situation im multikulturellen Spanien, in dem die Ost-Westlichen Diskurse im Positiven und im Negativen gebündelt auftreten und für Jahrhunderte das christliche Profil Europas entschieden wird.146 Zweierlei Problemkomplexe verbinden sich damals und heute zu einem explosiven Gemisch und provozieren in einer auffälligen Weise dieselben Lösungstechniken. Christlich-moslemischer Mission und Dominanzbestrebungen von damals korrespondieren laizistisch-fundamentalistische Mission und Dominanzbestrebungen von heute. Letztere bringt ein säkularisiertes bis areligiöses Christentum in Stellung gegen einen politisierten Islam. Es handelt sich bei diesen Konfliktlinien um Oberflächenphänomene, gewissermaßen um Abwehrreaktionen auf tieferliegende und bedeutendere Konvulsionen, die sich in Bezug auf Fragen des Umgangs mit den gemeinsamen okzidental-orientalischen Wurzeln und mithin der Interpretation des Logos stellen. Die entscheidenden Verunsicherungen liegen quer zur kulturellen Differenz. Politische Programmatiken sind Ablenkungsmanöver und insofern beruhigendes Surrorat einer verlorenen Sicherheit. Wer sich in den verschiedenen Feldern des Politischen damals und heute engagiert, braucht sich nicht von der Tatsache beunruhigen lassen, dass Christen und Moslems jede für sich den religions- und kulturinternen Gegensatz zwischen metaphysischer und metaphysikkritischer Interpretation des Logos zu bewältigen haben. Der islamische Gelehrte Al-Gazali (1059-1111) versucht zu zeigen, dass 146 Das Ausmaß, in dem sich Spanien seiner historischen Schlüsselstellung bewusst ist, zeigt sich an den alljährlich begangenen Festen der Reconquista in vielen Ortschaften, in denen die Kämpfe aufwendig, und unter Teilnahme einer großen Zahl der Einwohnerschaft, nachgespielt werden, z. B. in Teulada Moraira unter musikalisch-dramatischer Beschallung der Carmina Burana. Den Abschluss bilden christlich-moslemische Friedens- und Freundschaftsbekundungen mit gemeinsam vorgeführten artistischen Kunststücken.

147

sich im metaphysisch-wissenschaftlichen Anspruch, selbst religiöse Fragen durch vernünftiges Argumentieren beantworten zu können, nicht Vernunft an sich, sondern ein bloßes Vernunftkonzept vergegenständlicht habe. Eine relative zivilisatorische Form erhebe Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Der Wille, die Vernunft abzusichern, habe mit der Tendenz von Islam (und Christentum) zusammengetroffen, sich auch kulturell zu etablieren (Flasch 2011, 150). Damit ist ein Problemfeld berührt, das die Differenz von Moral und Religion unkenntlich werden lässt und somit letztlich in die Politisierung der Religion mündet. Einen Ausweg sieht Al-Gazali nur in einer Aufwertung der rituellen Praktiken des Islam, die Al Farabi und Averroes gegenüber dem Austausch von Vernunftargumenten geringachten. Rituelle Formen gelten diesen als voraufklärerisch, wobei Aufklärung, nicht anders als im modernen Bewusstsein, Anknüpfen an die antike Philosophie bedeutet.

Dialogos Es ist deshalb von besonderem Interesse, diese Lesart der metaphysikkritischen Position zu erwähnen, weil Ramon Lull und somit erste Versuche einer digitalen Form der Problemlösung, nicht an die metaphysische, sondern an die metaphysikkritische Richtung anschließen. Lull nimmt Bezug auf Al-Gazali und das bedeutet, er empfindet die Verdrängung der rituellen zugunsten der diskursiven Behandlung religiöser Fragen nicht als Gewinn. Aber er sieht in der institutionalisierten ritualisierten Form doch auch ein Defizit insofern, als sie die zur Koexistenz gezwungenen Kulturgemeinschaften auf sich selbst konzentrieren lässt und damit Besonderheit und Abgrenzung betont. Somit scheint sich eine digitale kombinatorische Technik als Ergänzung zum liturgischen Rückzug eher zu eignen als der Diskurs. Gianni Vattimo (2018, 15-22) interpretiert in diesem Sinne die Lull’sche Innovation als Versuch einer radikalen Entkoppelung von Religion und Moral, von spiritueller und gesellschaftspolitischer Ebene. Hier gerate Lull in eine Nähe zu Nietzsche, dessen radikale These „Gott ist tot“ eine solche Entkoppelung zum Ziel habe. Der Gegensatz von jesuanischer Botschaft und politisierten Versionen tritt umso schärfer ins Bewusstsein, je länger die Kulturkämpfe andauern und Siege immer nur als transitorische Gewinne einer Seite verbucht werden. Vattimo zeichnet eine folgerichtige Entwicklung: In ihrer institutionellen kirchlichen Gestalt habe die Religion eben jenen moralischen Gott benötigt, den Jesus ablehnte. Denn um als Kirche überleben zu

148

können, brauche die Religion starke Institutionen und eine Hierarchie, die einer bestimmten Moral zur Durchsetzung verhilft. Die Annahme eines moralischen Gottes aber befördert einen Typus von Metaphysik, der Ordnung aus einem ersten Prinzip ableitet. Man sieht, wie sehr die am neuplatonischen Christentum ausgerichtete Kirche jener Schriften bedurfte, die im Westen durch die Völkerwanderung verloren gegangenen waren. Denn bei Aristoteles ließ sich ein Ursprungsdenken finden, von dem aus weltliche Herrschaft gerechtfertigt werden konnte. Im Gegensatz zu Platon gilt bei Aristoteles nicht die Seele und mithin pure Selbstbewegung, Selbstreferenz als Ursprüngliches. Vielmehr tritt an deren Stelle eine Disjunktion von Bewegen und Bewegtwerden (Aristoteles 1995 Phys. VIII, 5). Damit etabliert sich eine geradezu auf entparadoxierende Konkretisierungen hin angelegte Figur eines unbewegten Bewegers, die schließlich als Gott mit beschreibbaren Attributen ausgestattet sein musste. Gianni Vattimo (2001, 107-124) sieht Analogien zur heutigen Zeit, die im Bereich wiederkehrender Religionen einen vergleichbaren Gegensatz zwischen metaphysischer und metaphysikkritischer Lesart erkennen lasse. Fundamentalistische religiöse Formen übernehmen jene Funktionen rationaler und moralischer Begründungen, die von subjektphilosophischen Metaerzählungen, den Weltbildern der Moderne, nicht mehr wahrgenommen werden können. Demgegenüber sucht die metaphysikkritische Lesart bloß die Spur einer Spur im Sinne einer letztendlichen Unerreichbarkeit des Anderen als bleibende Wahrheit ins Leben zu integrieren. Damit muss immer vor Augen gehalten werden, dass mit Metaphysik ein wissenschaftlicher Begründungsstil gemeint ist, der vor der Theologie nicht Halt macht und infolgedessen beileibe nicht auf die Erklärung von religiös Unerklärlichem begrenzt ist. Es handelt sich vielmehr um die Substitution einer mathematisch-logischen durch eine semantisch-textuelle Deutungslinie. Und dies ist der Grund, weshalb Aufklärung und Säkularisierung an dem Tandem Metaphysik-Gewalt in der Vergangenheit nichts geändert hat und aller Voraussicht nach auch künftig nichts ändern wird. Im 13. Jahrhundert finden sich die beiden Varianten einer metaphysischen und metaphysikkritischen Religion in der Auseinandersetzung zwischen Averroes und al-Ghazali vertreten. Lull denkt in den metaphysikkritischen Bahnen al-Ghazalis, dies aber nicht im argumentierenden Duktus von Lehrmeinungen und mithin im Kontext einer Schule. Aus der Erfahrung mit langjährigen Diskursen meint Lull den Schluss ziehen zu können, dass nicht die Wahrheit, sondern diskursimmanente Faktoren Dominanzverhältnisse etablieren und vermeintliche Ergebnisse zu einer Diskurshoheit führen. Aus diesem Grund sucht er das konfliktauslösende Argumentieren durch die möglicherweise Frieden stiftende Methode der Kombinatorik zu ergänzen. Diese erlaubt es, eine jede Position ernst zu

149

nehmen und zwar anders als Averroes die genaue Kenntnis der fremden Religion zur Grundlage einer fundierten Kritik gemacht hatte. Denn es war deutlich geworden, dass es auf diese Weise kaum gelingen kann, das fremde Selbstverständnis in Gänze zu treffen. Infolgedessen verzichtet Lull auf Kritik und sogar auf die entschärfende und moralisch positiv besetzte Toleranz. Denn obgleich auf Frieden und Verständigung hin ausgerichtet, führen dieselben doch immer noch ein verletzendes Überlegenheitsbewusstsein mit sich und kolportieren in allem, was sie argumentativ anbieten, ein zur Schau gestelltes Besserwissen.147 An die Stelle der Kritik tritt eine Korrelationstechnik, die das Rationalmodell der Metaphysik allein dadurch relativiert, dass sie all ihre Prinzipien, ihre Figuren, ihre Subjekte, ihre Kataloge von Tugenden und Lastern kritiklos übernimmt und vorbehaltlos bejaht. Die Frage, die sich Lull stellt lautet: Was erwächst aus einer Position der radikalen Affirmation heraus? Die vorgängige Antwort findet sich in dem Buch vom Heiden und den drei Weisen an der Stelle, wo die drei Vertreter der monotheistischen Religionen darauf verzichten herausfinden zu wollen, welche der drei Religionen, Judentum, Christentum oder Islam, dem verzweifelt depressiven Heiden geholfen habe. Das Versprechen der „union of vitue and happiness“ (Vattimo 2018, 15), welches institutionell verfasste Religionen geben, hätte einer solche Klärung zweifellos bedurft.

Zur Parabel von dem Heiden und den drei Weisen Das Neuartige im Verständnis von Toleranz, das einen operativen Friedensbegriff als Gegenentwurf zu einem im positiven Fall dialogfreudigen, im negativen Fall offensiv-kriegsbereiten Frieden hervortreibt, demonstriert Ramon Lull (1986) an einer Parabel von dem Heiden und den drei Weisen. Die Problemexposition erfolgt hier im Lichte einer Problemlösung. Dies vermittelt den Anschein, als verberge sich Gutes und Wahres in immer schon gelösten Problemen. Nur die engstirnig kleinliche Sorge um das je Eigene und Unverwechselbare lasse dies nicht sehen. Zum Inhalt in Kürze: Drei weise Männer, ein Jude, ein Christ und ein Moslem nehmen sich vor, ihr Gespräch so lange fortzusetzen, bis gemeinsame und übereinstimmende Vernunftgründe offenbar geworden sind. Da begegnen sie einem unglücklichen (heidnischen) Philosophen, der den Gedanken an den eigenen Tod nicht ertragen kann und infolgedessen die wei147 Eine aktuelle Variante dieser Position, die Toleranz im Konflikt problematisiert, findet sich bei Rainer Forst (2003).

150

sen Männer um tröstende Worte bittet. Nachdem ein jeder von ihnen den Unglücklichen in die Geheimnisse der eigenen Religion eingeweiht hatte, lächelt dieser glücklich und bedankt sich. Die drei Weisen verzichten auf die Frage, welche der drei Religionen ihm am meisten geholfen habe, sondern verstehen dessen Reaktion als hinreichende Antwort auf ihre eigenen Fragen, die sie zum gemeinsamen Gespräch ursprünglich veranlasst hatten. Sie verabreden daraufhin eine wöchentliche Zusammenkunft, nunmehr aber auf der Grundlage der neu gewonnenen Erfahrung. Um eine logische Aussage erlebbar zu machen, verwenden Okzident und Orient ein seit der Antike übliches Stilmittel der Gleichnisse. In diesem Sinne steht die Szenerie einer Gartenidylle für das Glück des tabuisierten Friedens. Hätten die Religionsgelehrten mit dem Heiden eine investigative Diskussion begonnen, welche der drei Religionen ihm in einem größeren Maße als die anderen geholfen hätte, so wäre der Frieden enttabuisiert worden, er wäre nicht länger im Dunkel wirkendes Medium, sondern eine auf Bestimmungen fokussierte Unterscheidung von Judentum, Christentum und Islam. In eine heutige Sprache übersetzt, könnte man sagen, es geht um die programmatische Handhabung von Unterscheidungen, die Zerwürfnisse größten Ausmaßes hervorrufen. Die Idee eines solchen Programms steht in Gegensatz zur normativ-steuerungspolitischen einheitlichen Regulierungspraxis der gewaltmonopolistischen Macht einer siegreichen Partei. Denn hier muss die Macht tabuisiert sein, um dem Programm (christliche Botschaft) zur Durchsetzung zu verhelfen und dies verlangt die Enttabuisierung des Friedens: Frieden ja, aber nur unter der Voraussetzung, dass das Programm nicht Schaden leidet. Das Programm seinerseits ist so geartet, dass es mit Unterschieden in einer bestimmen Weise umgeht. Es verwendet Codes, die einen fest verkoppelten Sinn transportieren: Das Religionsgespräch folgt entweder den aristotelischen Deutungslinien in der Lesart von Averroes oder der platonisch inspirierten Auslegung des Al Ghazali. Nicht der diskursiv errungene Konsens der streitenden Parteien, aber auch nicht der christlich-altruistische Verzicht und die unterwürfige Hinnahme von Fremdherrschaft bilden die friedenstheoretische Alternative. Ramon Lull versteht Mission als Vermittlung einer logischen Form. Bildet Macht das Medium und wird infolgedessen tabuisiert, so muss beliebiges Handeln möglich bleiben. Gilt hingegen der Friede als Tabuthema und verbleibt folglich im medialen Bereich, so ergeben sich daraus enorme Anforderungen an die friedensförmige Codierung der Kommunikation. Denn was nicht in Frage gestellt werden kann, das ist die prinzipielle Vereinbarkeit von Unvereinbarem. Die aktuelle Begrifflichkeit aufgreifend könnte man hier durchaus sagen: Was nicht in Frage gestellt werden kann, sind Konnektivität, Instanta-

151

neität und Granularität. Auf die fragile Situation des multikulturellen Spanien bezogen, zielen diese Begriffe auf genau das, was Lull als Gegebenheit voraussetzt: Die Positionen sind in sich bereits verknüpft (Konnektivität). Ein auf Abgrenzung angewiesenes Herrschaftsprojekt lehrt jedoch, dies zu übersehen. Ungeachtet aktueller Dominanzstrukturen prägen und gestalten die unterlegenen, beherrschten Glaubensvereinigungen zeitgleich das Gemeinwesen (Instantaneität). Solche machtstabilisierende Spaltung und Verfeindung beeinflussen das Leben eines jedes Einzelnen. Dessen Denken, Empfinden und Handeln ist davon bis ins Kleinste hinein bestimmt (Granularität).148 Da aufgrund der Komplexität möglicher Begriffsauslegungen, der Komplexität von Motivlagen und der Komplexität von Handlungsfolgen die Kombinatorik eine Kunst ist, die verstandesmäßig nicht mehr beherrschbar ist, bedarf es nach Lull eben jener maschinellen Hilfskonstruktion, die eine schier unübersehbare Fülle von Korrelationsmöglichkeiten bereitstellt. Programm ist jetzt weniger strategisch begriffen, eine Agenda, ein zu verwirklichendes idealtypisches Modell. Vielmehr handelt es um einen operativen Begriff, der um seine prekäre Stellung einer wider andere Modelle guten Lebens gerichteten Profilierung weiß. Dieser Primat des Operativen verdankt sich bei Lull der Zurückweisung einer bloß formalen Vorstellung von Relationen qua Muster und Regeln, wie sie sich bei Aristoteles findet. Für Lull gibt es keinen triftigen Grund für eine solche Vorordnung des formalen gegenüber dem materialen Begriff der Relation. Relation ist als Operation des Relationierens etwas Substanzielles, Materiales, das bedeutet in theologischer Diktion: Es ist von einer inneren Relationalität des Seienden auszugehen und nicht nur des Göttlichen.149 Folglich ist nicht nur Gott, sondern die Wirklichkeit insgesamt trinitarisch oder triadisch strukturiert, durch den Akt, dessen Subjekt und Objekt: Die Wirklichkeit ist Relationalität im Wechselspiel von Machen, Machendem und Machbarem.150 Es ist diese Trias im Sinne einer paradoxen Dreieinigkeit, die ganz im heutigen formlogisch-systemtheoretischen Sinne den Beobachter als Reproduktion einer Form begreifen lässt. Die Form, das ist die Differenz von Operation (Machen) und Beobachtung (Machendem) im Medium dieser Form. 148 Für die diachrone Analyse eignet sich kaum das technische Verständnis des Granularen von Christoph Kucklick (2014), durchaus aber der erkenntnistheoretisch reflektierte Begriff, wie ihn Dirk Baecker (2017, 147) verwendet. Hier wird der Beobachter qua Reproduktion einer Form (Differenz von Operation und Beobachtung) im Medium dieser Form (Einheit der Unterscheidung von Operation und Beobachtung) für empirische Anschlussforschungen brauchbar gemacht. 149 Siehe Vittorio Hösle, in: Lullus 1985, LXXII. 150 So Alexander Fidora, in Lullus 1999, XXII.

152

Diese konkretisiert sich als das Machtbare im Sinne einer Einheit der Unterscheidung von Operation und Beobachtung. Das operative Verständnis nimmt die Komplexität als Problemdimension in sich auf und betraut die programmatische Profilierung mit der Funktion, von einer Deutungsebene zur nächsten überzuleiten. Denn ein Programm profiliert nur in der Abgrenzung und nicht in der Verknüpfung. Eine als verknüpfende und überleitende Operation verstandene programmatische Profilierung ist folglich so etwas wie die Quadratur des Kreises. So mag die Aussage der Gartenidylle, die vor Augen führt, dass das Leben nicht logisch geordnet ist, sondern von Widersprüchen durchzogen, auch als Votum für eine voraristotelische Logik verstanden werden.151 Mit dieser Erinnerung an den friedenstheoretischen Beitrag Lulls, der, wie oben angekündigt, unsere gesamten Überlegungen als Grundintuition begleiten wird, ist bereits der Begriff des Mediums erweitert. Bisher ging es um die formlogischen Fragen im Zusammenhang mit der Medium/ Form-Unterscheidung, die auf Grenzen der Tabuisierung hinweisen. Wenn etwas enttabuisiert wird, anders gesagt, aus seiner medialen, hintergründigen Stellung in den Vordergrund unterscheidbarer Dinge rückt, dann drängt etwas Anderes in den medialen Hintergrund. Jedes Medium erzeugt einen bestimmten Problemdruck, der den Begriff des Friedens beeinflusst. So lenken Schriften die gesamte Aufmerksamkeit auf die Frage, ob Worte eine Sache wiedergeben, ob eine solche Wiedergabe prinzipiell möglich ist, ob Übereinstimmungen zwischen einzelnen Denkschulen und Weltanschauungen denkbar sind und ob Worte eine Sache gezielt so verzerren können, dass schier Beliebiges als Wahrheit erscheint. Um hier Klarheit zu gewinnen und der nebulösen Komplexität zu entrinnen, um schließlich so gewonnener Wahrheit Geltung zu verschaffen, bedarf es Macht. Das Verbreitungsmedium Schrift verlangt mithin, dass Macht unangefochten bleibt und infolgedessen medial entrückt, nicht disponibel. Der Kampf um Wahrheit verwandelt sich in einen Kampf um Macht mit der Folge, dass Kritik an Einseitigkeiten, an Falschheiten und Irrtümern in Profilierungszwänge mündet und streitbar macht. Es ist mithin die Dynamik des Mediums, die Menschen voneinander trennt und den Friedenswillen an Bedingungen knüpft. Der lektürefixierte Mensch wird in der Parabel zum streitbaren Bücherwurm, der das Sonnenlicht nicht mehr erblickt und aus dem Dunkel heraus aktiv wird. Als ein solcher Wurm kann er sich nicht menschlich verhalten. Vor diesem Problemhintergrund kommt dem Ambiente bei den Gesprächen zwischen dem Heiden und den drei Weisen eine immens große 151 Unter Einbeziehung der neueren Technikentwicklung findet diese heute bei Gotthard Günther (1963) als nacharistotelische Logik zu einer zeitgemäßen Gestalt.

153

Bedeutung zu. Der blühende Garten ist keine Nebensache oder ein bloß erzählerisches Beiwerk, das Leser anlocken und unterhalten soll, vielmehr enthält er eine Botschaft, für die das geeignete Medium noch gefunden werden muss. Einstweilen steht der Baum mit seinen unzähligen Verästelungen als Bild für die mediale Funktion der Korrelationsscheiben, des Computers.152 Der Bedeutungs- oder Symbolüberschuss, der Geschriebenes zum Problem für den Frieden werden lässt, scheint durch den hierarchischen Strukturaufbau der Gesellschaft dann in keiner Weise aufgefangen werden zu können, wenn Diskurskulturen miteinander rivalisieren. Und da Schulbildungen und Richtungskämpfe auch außerhalb des multikulturellen Spanien das gesamte europäische Mittelalter hindurch den Frieden unterminieren, kann die hierarchische Gesellschaftsstruktur friedensgefährdende Strömungen nicht aufhalten und somit auch nicht friedenstheoretische Fragen hinlänglich beantworten.

Pathos und Logos Dieser Ausgangspunkt des Denkens im ergreifenden Ereignis einer vorgängigen Lösung, verändert den Primat. Am Anfang, so heißt es bei Bernhard Waldenfels (2017) war die Antwort, nicht die Frage, das Pathos, nicht der Logos. Anders als die spätere Wortbedeutung zielt das Pathetische im Griechischen auf die vorgängige Affektion, die wiederum nicht zu verwechseln ist mit jenen Emotionen oder ursprünglichen Intuitionen, die dem Utilitarismus als moralischer Wegweiser in Dilemmata hinreichend zu sein scheinen. Es ist bei Platon die vorgängige Antwort und nicht die Frage, nicht die kontextbezogene Legitimierbarkeit von Kollateralschäden. Vielmehr suchen die Dialoge das erschreckende Ereignis der ungerechten Hinrichtung von Sokrates im Modus der vorgängigen Antwort einzuholen, dass eben solches nicht sein darf. Damit beginnen bei Platon aber erst die Probleme, da ein jeder meint, das Gute und somit auch Gerechte immer schon zu wollen und zu wissen. Und diese gemeinsame Selbsteinschätzung bei anderslaufendem Urteil ist dafür verantwortlich, dass immer wieder Machtstatt Wahrheitsfragen den Ausschlag geben. Dieser Primat sorgt für ungerechte Urteile wie jene, denen Sokrates zum Opfer gefallen ist. Wir haben gesehen, dass in der für die heutige transhumanistisch-hu152 Zur Metaphorik des Waldes im Werk von Lull siehe Amador Vega „Imperceptible Analogy in Art. The Forest Metaphors of Ramon Llull and Perejaume“. In: Vega/Weibel/ Zielinski (2018, 203-222).

154

manistische Konfliktkonstellation aufschlussreiche Systemtheorie Luhmann’scher Prägung der Begriff des Operativen diesen Primat der Problemlösung vor der Problemstellung bezeichnet. Im operativen Verständnis des Friedens ist der Weg ganz im fernöstlichen Sinne das Ziel, während im strategischen Denken der Zweck notwendig die Mittel heiligt. Wie kommt es zu dieser Umkehrfunktion von Problem und Problemlösung und wie wirkt sie sich auf das Friedensverständnis aus? Um in diesem Punkt klarer zu sehen, muss tiefer in die logische Struktur praktisch gewordener Paradoxien eingedrungen werden.153 Denn in dieser Bewegung zeigt sich ein genuiner Friedensbezug, der im angelsächsischen Pragmatismus gewissermaßen von außen, durch konsensstiftenden Begründungsdiskurs, heute zunehmend durch szientistisch orientierte wissenschaftsgestützte Technokratie eigens hergestellt werden muss. Die Schwierigkeit dieses prozeduralen Verständnisses liegen auf der Hand, denn warum sollte die Einigung gelingen, sind Vorstellungen von effizient friedensdienlichen Praktiken doch von weltanschaulichen Positionen abhängig. Und ebenso wenig wie sich damals die Weltmeinung auf einen christlichen, moslemischen, später einen nationalistischen, sozialistischen oder faschistischen Deutungsrahmen hatte verpflichten lassen, so dürften auch die heutigen Versuche der transhumanistisch-technokratischen Umformung des Homo Sapiens fehlschlagen. Dasselbe gilt für die Verpflichtung der Weltgemeinschaft auf ein einziges Herrschaftsmodell KI-gesteuerter Global Governance. Infolgedessen gilt es den Gegensatz von operativem und pragmatischem oder strategischem Friedensverständnis immer wieder von neuen Blickwinkeln aus zu entfaltet, wobei das argumentum ad absurdum der Parabel Ramon Lulls als aufschlussreicher szenisch-mythologisch-medialer Hintergrund von unschätzbarem Wert ist. Hier gewinnt an Anschaulichkeit, was den Dialogos vom Dialog und vom Diskurs unterscheidet. Jede dieser beiden letztgenannten Beziehungsformen nimmt Bezug auf spezifische Voraussetzungen, die gegeben sein müssen. Der Dialog bedarf Gleichgesinnte, die der Wunsch nach Erkenntnis des Wahren im Sinne des Aufdeckens von Verblendungszusammenhängen und Vorurteilen eint. Dies erfordert eine ganz spezifische Medienkompetenz, nämlich die Fähigkeit, mit Sprache umzugehen, sich verständlich zu machen. Der Diskurs bedarf Gleichgesinnte, die sich im Wunsch nach dem gemeinsam gegen eine Gruppe Andersdenkender gerichteten Erwerb von wissensgestützter Macht zusammenfinden. Hier ist eine weitere Medienkompetenz erforderlich, nämlich ein hermeneutisches und bibliographisches Vermögen, das mit dem immer größer werdenden Schriftangebot 153 Eine interessante Version dieser Argumentationsfigur findet sich heute bei Jean Clam (2000, 299) im Begriff der Intellektion.

155

umgehen lässt. Der Buchdruck verschärft das Problem der Schriftlichkeit nur graduell, aber ändert nichts am Problem der Stummheit von Buchstaben. Der Schriftkundige fühlt sich gegenüber dem Problem komplexer und heterogener Symbolik hilflos. Dies treibt ihn zur komplexitätsreduzierenden Schematisierung der Selektionsofferten in solche, denen zuzustimmen und solche, die abzulehnen sind. Wie verhält es sich nun aber mit dem Dialogos? Hierbei handelt es sich offensichtlich um einen Typus von Kommunikation, der auf den erschreckenden Befund fehlender Gleichgesinntheit reagiert. Ramon Lull meint nach den langjährigen und im Ergebnis schlechten Erfahrungen mit den friedensstiftenden Leistungen von wohlmeinenden Dialogen und Diskursen einen solchen Befund konstatieren zu können. Erstere bleiben in ihrem Wirkungsbereich auf einen zu kleinen Teil der Bevölkerung beschränkt. Letztere mögen zwar von Toleranz beseelt sein, aber sie bleiben dennoch durch ein zur Schau gestelltes Überlegenheitsbewusstsein vergiftet. Die Besonderheit eines Kommunikationsstils, der sich als Dialogos von Dialog und Diskurs abhebt, besteht natürlich nicht bloß im Erschrecken über die Vergeblichkeit aller Bemühungen. Denn eine solche Geistesverfassung würde jener konstruktiven Wirkung entbehren, die einem in sich verfeindeten Spanien zum friedlichen Zusammenleben verhelfen könnte. Ein Mehrwert des Dialogos entsteht erst in einer das Erschrecken begleitenden Dialektik. Was das ernüchternde Registrieren der Vergeblichkeit nämlich zugleich offenbart, ist die Entbehrlichkeit von Gleichgesinntheit und somit von genau dem, was für Dialoge und Diskurse unabdingbar ist. Dieser Umschlag des Erschreckens in die reine Freude über die vorgängige und nicht eigens zu leistende Problemlösung ereignet sich an der Stelle, wo Medienkompetenz reflexiv wird. Das ist in der Gartenszene veranschaulicht. Denn obgleich sich jeder einzelne der Religionsvertreter in der Darstellung der Vorzüge der eigenen Lehre durchaus für Einwände und Fragen offenhält und somit die Voraussetzung des Dialogs erfüllt. Und obgleich diese Vorzüge das eigene Profil schärfen und somit in sich schon abgrenzend wirken müssen, liegt das jeweils aufbauende Moment weder im ausgeräumten Zweifel noch in der Überredungskunst des kommunikativ Kompetenten. Vielmehr scheint es die religiöse Rede als Medium eines Lebens sub specie aeternitatis zu sein, die jede Nachfrage erübrigt und Lebensfreude vermittelt: Das Medium beginnt sich selbst als Medium zu durchschauen. Aber was ist damit formlogisch gemeint und inwieweit liegt hierin eine für unsere digitalmediale Epoche aufschlussreiche Konstellation? Erinnern wir uns an die von System- und Medientheorie herausgearbeitete Typologie von Problemkonstellationen, die im Zusammenhang mit der Entstehung einer Schriftkultur und schließlich einer auf die Erfindung des Buch-

156

drucks reagierenden Form von Vergesellschaftung zugeschnitten ist. Bei dieser Form handelt es sich um eine Zweiseitenform im Sinne einer dem jeweiligen Medium zuzuordnenden Unterscheidung. Im Dialog tritt das Medium in Beziehung zu der Unterscheidung von Wort und Sache. Man kann folglich sagen, der Dialog verwandele sich von einem Medium in eine Form, indem er in Rede und Gegenrede zu ermitteln sucht, ob und inwieweit Wort und Sache übereinstimmen. Das Augenmerk richtet sich hier auf die sprechende Person und ihre besondere Fähigkeit, sich verständlich zu machen und auf den Zuhörer in seiner Bereitschaft, sich für beliebige Argumente zu öffnen. Im Diskurs tritt das Medium in Beziehung zur Alternative, Selektionsofferten anzunehmen oder abzulehnen. Auch in diesem Fall kann man wieder formulieren, der Diskurs werde von einem Medium zur Form, indem zustimmende gegen ablehnende Argumente ins Feld geführt werden. Hier richtet sich das Augenmerk auf den Autor, wie immer dieser als redende oder als schreibende Person in Erscheinung tritt. Weder die Medienkompetenz der Sprechenden, die der frohen Botschaft der jeweiligen Religion Glaubwürdigkeit verleiht, noch die Überzeugungskraft des Religionsvertreters können in der Gartenszene jedoch als Ursache für die Genesung des lebensmüden Philosophen und folglich für den wiederhergestellten Frieden mit sich selbst einleuchten. Denn andernfalls wäre dies von Lull hervorgehoben worden. Infolgedessen ist es geradezu die ausgebliebene Selbsttransformation des Mediums in eine Form, der lose gekoppelten religiösen Sinnsegmente in die fest gekoppelte schematisierende religiöse Aussage, die die desolate Seelenverfassung ins Gute wenden konnte. Der Ansatz von Ramon Lull besteht nun darin, die Irrelevanz von Form und Autor und die alleinige Relevanz des selbstbezüglichen Mediums auf ein abstrakteres Niveau zu heben. So entsteht die Idee einer Kombinatorik, die die Selbstbewegung des Mediums nachzuzeichnen versucht. Es sind dies Kombinationsmöglichkeiten, welche die menschliche Seele auf einmal zu erfassen vermag. Der Verstand hingegen kann sie nicht mehr nachvollziehen und erst recht nicht in Rede und Gegenrede oder in zustimmender und ablehnender Argumentation aufschlüsseln. Der Geist ist als schematisierende und somit die Komplexität der Wirkungszusammenhänge reduzierende Kraft zu weit weniger in der Lage als die Seele, welche als Prinzip der Selbstbewegung nichts anderes als ein Medium der Komplexität ist. Lull konzipiert folglich einen Papiercomputer als handhabbares technisches Äquivalent der Seele. An dieser Stelle vollzieht sich die Generalisierung des reflexiv gewordenen religiösen Mediums zum Reflexivwerden von Medien überhaupt. Das religiöse kann anhand der hier entfalteten sub specie aeternitatis-Perspektive als Prototypus der Selbstbewegung des Mediums verstanden werden.

157

Denn indem der religiöse Sinngehalt anhand einer Unterscheidung vermittelt wird, die keinen Unterschied macht, verbirgt sich der Sinn im Verzicht auf Bezeichnungen. Das religiöse Medium sperrt sich gegen die Selbsttransformation in eine Form, in ein schematisierendes Unterscheiden von sinnlosen und sinnvollen Lebensvollzügen und nimmt damit die Quelle der Verzweiflung. Diese Aussage ist nun insofern generalisierbar und auf jedes beliebige Medium anzuwenden, als jeder Versuch der Selbsttransformation des Mediums, etwa der Sprache in die Form des Unterschieds zwischen einem Wort und einer Sache, Wort und Sache verfehlt, weil unterschiedliche Menschen jeweils immer wieder anders Wort und Sache aufeinander beziehen können. Jedes unterscheidende Bezeichnen findet unter einer Perspektive sub specie aeternitatis statt, sofern sich Menschen dessen bewusstwerden und das heißt, sofern sie ‚ihren eigenen Verstand gebrauchen’ und ‚sich mündig machen’, um die Formulierungen Kants (1967, 55-61) aufzugreifen. Ramon Lull meint nun mit dem Computer ein technisches Medium gefunden zu haben, das die Selbstbewegung des Mediums als komplexe Kombinatorik in Praxis übersetzen kann, ohne die Nachteile des schematisierenden und verfeindenden menschlichen Geistes in Kauf nehmen zu müssen. Der Geist überlistet sich gleichsam selbst, indem er vor jeder Bezeichnung etwa eines Mitmenschen als geizig, als verfressen, als unkeusch, als hochmütig, als träge, als neidisch, als zornig, als verlogen oder als unbeständig die Ars brevis zu Rate zieht. All diese Eigenschaften rangieren in der Tabelle unter dem Stichwort Laster. (Lullus 1999, XIX). Diese Technik der Konnektivität, der Korrelation und Kombinatorik wendet insofern das Medium der Sprache auf sich selbst an, als es jedes einzelne dieser Laster in der vollen Komplexität der Symboliken aufzeigt. Sie rückt all die aufgezählten Laster in einen Sinnhorizont möglicherweise anderer Auslegung. Man kann also sagen, die computertechnisch ermöglichte Kunst der Kombinatorik fungiere insofern als Medium der Seele in ihrer Komplexität, als sie jeden Sinngehalt der Kontingenz überführt. Mit dem Erlernen dieser Computertechnik erhofft sich Lull einen kontingenzbewussten Umgang der Menschen miteinander. Der Vorwurf des Zorns – heute als ‚Hassrede’ beliebtes Mittel der Diffamierung Andersdenkender – stellt sich dem Vergleich mit anderen Invektiven und stößt hier auf den beschämenden Befund, dass die eigene Rede von Anderen ebenso eingestuft werden kann und eingestuft wird.154 Dieser Papiercomputer zielt 154 Zu Perspektiven der Geistes- und Humanwissenschaften, der Philosophie und Psychologie zur aktuellen Moralisierung von Diskursen, die nur Hass der Anderen als böse anerkennen, siehe die Beiträge in: Paul Liessmann (2023).

158

auf die Komplexität der Seele, indem das, was ihm als relevante Daten zum Gegenstand seiner verknüpfungstechnischen Bemühungen wird, aus dem Arsenal der Selbstbezeugungen und Selbstdarstellungen schöpft. Das aktive Sprechen über etwas und das tatsächliche Urteilen über etwas werden folglich ernst genommen und somit kein Vor-Urteil über den Sprechenden zum Ausgangspunkt der Datengewinnung gemacht. Das Juden-, Christoder Moslem-Sein findet in der Tabelle als eigenständiges, gegen andere polemisierendes Narrativ keinen Platz. Aber es verschafft sich in den jeweiligen Konnotationen des differenten Sinngehalts identischer Begriffe Gehör. In diesem indirekten zur Sprache bringen des pathetischen, affektiv anrührenden unreflektierten Sinns zeigen sich unterschiedliche Verständnisweisen plötzlich als konvertibel.

Die Suche nach einem neuen Medium Die lange und bis heute fortdauernde Rezeptionsgeschichte der mathematischen Logik Ramon Lulls zeigt die spezifischen Probleme, die im Zusammenhang mit den Bemühungen auftreten, eine mehrwertige und somit voraristotelische Logik innerhalb der zur Verfügung stehenden Medien der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks zum Ausdruck zu bringen.155 Die philosophischen Kontroversen, die sich im Anschluss an dessen zentrale Intuition einer kombinatorischen Technik entwickelt haben, zeigen genau diese Schwierigkeiten, den zentralen Gedanken textuell zu vermitteln. Im Folgenden soll dies an zwei der bedeutendsten Rezipienten, an Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646-1716) und an Nikolaus von Kues (1401-1464) veranschaulicht werden. Aber nicht als Vorläufer heutiger Errungenschaften sind die so genannten Wahrheitstafeln Ramon Lulls interessant. Was im Zusammenhang mit der Krieg-Frieden-Problematik als Anregung aufgegriffen werden könnte, ist das, was etwas missverständlich als Liebesphilosophie bezeichnet wird.156 Da Lull vor seinem Bekehrungs- oder Erweckungserlebnis unter Jakob I. von Aragon als Erzieher des Prinzen tätig gewesen war und als Troubadour Gedichte verfasst hatte, ist der Begriff durchaus in der assoziierten Breite relevant. Dies ist jedoch eher in dem Sinne zu verstehen, wie Platon den 155 Zur kartographierten Rezeptionsgeschichte siehe Robert Preusse/Stefanie Rau, The Mouvement of Ramon Llull & the Lullist Network: A Chronotopological Cartogram, in: Vega/Weibel/Zielinski (2018, 149-178). 156 Vgl. die Einführung zur Neuen Logik von Raimundus Lullus (1985, LXIXff.), Kap. 4: Relation und Liebe.

159

Begriff des Eros ebenfalls in einer weiten Bedeutung zum Movens der Erkenntnis erklärt.157 Konnektivität entspricht als Begriff dem, was bei Lull in den Relationen Ausdruck findet: Von einer Operation des in Beziehung-Setzens von Beziehungen wird die Entdeckung von Mustern erwartet, die bloß mathematischer Art sind und nicht etwa semantischer. Weil das Begriffliche und Textförmige fehlt – jeder Begriff stellt fest, beendet den Vorgang des immer neuen Verknüpfens – stellt sich die Frage, was zwischen dem kalten Formalismus der mathematischen Form und der von Emotionen getragenen und gefolgten sprachlich-begrifflichen Form gedacht sein könnte. Hier von Gefühlen zu sprechen wäre falsch, denn dieselben begleiten semantische Festlegungen von Beginn an. Wenn dennoch allein das Gemüt als Mittler in Betracht kommt, dann jedoch nicht in der ganzen Palette negativer und positiver Gefühle. Denn das negative Gefühl steigert die Defizite der begrifflichen Verengung; sie beendet das Relationieren von Relationen, um an deren Stelle ein Schema zu setzen, das dem Verknüpfen ein Ende setzt. Die Selbststeigerungskräfte des Negativen, das Gewalt eskalierende Moment, findet innerhalb des Schemas statt, es verlässt nicht die klare Trennung von Gut und Böse, von Freund und Feind. Die Liebe ist der einzige Modus der Konnektivität, der nicht stillstellt, sondern immer wieder offen bleibt für neue Relationierungen. Die aristotelische Substanz des unbewegten Bewegers und damit Gott, setzt sich in Bewegung, wo immer geliebt wird. Soweit hatte auch die scholastische Philosophie die Begriffe der Seele und der Liebe in eins gesetzt. Aber das schien nur für die gottesinterne Relation der Trinität und für die Beziehung des Menschen zu Gott und zueinander als gottebenbildlichen Wesen bedeutsam. Aber es mochte nicht bis in den kategorialen Bereich hinein von einer nennenswerten Tragweite zu sein. Aus diesem Grund war auch der Begriff der Relation nicht in der Lage, der Substanz den kategorialen Rang streitig zu machen.158 Es mag von weitreichender Bedeutung sein, dass die Destruktion der letzten Reste scholastischer Tradition, wie sie in der spöttischen Kommentierung der Leibniz’schen Lehre von der Besten aller Welten durch Voltaire zementiert ist, mit der Rangordnung auch die Formlogik über Bord geworfen hat. Dieser Punkt ist für die aktuelle Frage des Umgangs mit medienbe157 So Olov Gigon (1974, LIXf.), der auf die missverständliche Rezeption der Platonischen Liebe verweist. Im Dialog Symposion ist die Liebe als eigene Bewegung vom Besonderen zum Allgemeinen eine Beziehung zum Ganzen, zur Weisheit und umfasst deshalb Körperliches und Geistiges. 158 So Vittorio Hösle in seiner Einleitung zu Lullus (1985, LXXII) gegen die verbreitete Ansicht, bei Thomas von Aquin vollziehe sich die entscheidende Aufwertung des Relationsbegriffs.

160

dingter Korrelation und Konnektivität digitaler Gesellschaften von zentraler Bedeutung. Und da die heutige Zeit zwar das Relationale hervorhebt, aber die ethischen Konsequenzen nicht durchdenkt, kann ein monastischer Denker des 13. Jahrhunderts Anregungen für das liefern, was gegenwärtig als Kulturform der digitalen Gesellschaft diskutiert wird. Denn der kategoriale Platztausch von den Essenzen zu den Akzidenzien, vom Bleibenden zum Veränderlichen hat zwar den Begriff der Relation ethisch-moralisch entfaltet. Dies geschieht jedoch in immer derselben Weise: Dominiert die Relation, so scheint bis heute der Schluss zwingend, dass alles relativ sei. Dabei erhebt relativistisches Denken zunehmend Absolutheitsansprüche: Der von politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, pädagogischer und medizinischer Seite geforderte unbeschränkte Zugriff auf leibseelische Daten und damit verbundene intra- und extrakorporale Kontrollen verlangt dies. Der absolut gesetzte Relativismus verbirgt seine usurpatorischen Züge hinter der Maske aktueller Narrative, die dem Prinzip des divide et impera gehorchen und mit einer zur Kulturform fortentwickelten Komplexität nichts anfangen können.

Das Friedenstiftende der kritischen Affirmation Im digitaltechnologischen Denken unserer Tage steht der Begriff Big Data für Komplexität und dies im Sinne von werbeträchtigen All-inclusive-Angebotskatalogen, die Bedürfnisbefriedigung aller Art versprechen. Theoretisch und praktisch schließt eine solche Vorstellung von Ganzheitlichkeit an moderne Vorstellungen eines Guten an, das sich als Folge der Negation des Negativen einstellt. Der Frieden mit sich selbst wird durch steten Kampf gegen gefährliche Erreger und der Frieden mit Anderen wird durch steten Kampf gegen Feinde erreicht. Wie wir oben gesehen haben, ist dieser Begriff des Feindes sehr weit gefasst; er gilt in der Sprache des Computermodells LaMDA dem Monster, das nahezu alles sein kann, was sich dem Willensbildungs- und Entscheidungsprozess der Künstlichen Intelligenz und deren Parteigängern entgegenstellt. Letztere können alles negieren, sie dürfen aber selbst nicht mehr negiert werden.159 So mögen sich schulinterne Konflikte künftig lösen lassen, indem mit gezielter Texteingabe der allseits verfügbare chatGPT (Chatbot Generative Pre-trained Transformer) nach

159 „So wird im Verlauf der neueren Ideengeschichte die Humanität aus einer negierbaren Negativität fortentwickelt in eine nicht mehr negierbare, nur noch negierende Positivität.“ (Luhmann 2008, 86f.).

161

geeigneten Methoden befragt und gehorsam den programmgemäßen Weisungen Folge geleistet wird. Wieder wird suggeriert, die größten Menschheitsprobleme ließen sich durch eine Erhöhung des Bereitschaftspotenzials zum blinden Gehorsam lösen. Dieses tiefsitzende und in Krisenzeiten stets reaktivierte Vor-Urteil mag in seiner zu totalitären Denk- und Verhaltensweisen neigenden Spielart das Ergebnis eines mit der Negation des Negativen identifizierten Guten sein. Und so zu denken scheint folgerichtig angesichts der Tatsache, dass wir erstens nicht in der Besten aller Welten leben und zweitens Gott das Böse zulässt. Soll Komplexität als Kulturform erarbeitet und nicht als Big Data gläubig und gehorsam hingenommen werden, dann müssen diese beiden Schlüsselfiguren in den logischen und computertechnischen Zusammenhang der Ars Combinatoria des Ramon Lull gerückt werden. Jetzt nämlich wird ein anderer als der seit dreihundert Jahren kolportierte Sinn sichtbar. Allein dieser bis heute dominierende Fokus auf beklagenswerte Zustände, auf schlechte Menschen und zerstörerische Naturgewalten kann erklären, weshalb sich eine sinnwidrige Deutung der 1714 von Leibnitz (1954) verfassten Monadologie bis heute durchsetzen sollte, die im Erdbeben von Lissabon eine klare Widerlegung der Güte des Weltganzen meinte erkennen zu können. Und es ist eben dieser Sinn, der absolutistische und totalitäre Herrschaftsstrukturen mit dem Argument legitimiert, nur unumschränkte Eingriffskompetenzen seien den Herausforderungen gewachsen. Recht besehen bringt die Figur der prästabilierten Harmonie jedoch etwas zum Ausdruck, was in systemtheoretischer Sprache sofort einleuchtet: Da der Beobachter nicht sehen kann, was er nicht sehen kann, nämlich seine eigenen blinden Flecken,160 ist er nicht in der Lage, ein Urteil über das Weltganze zu treffen. Diese Einsicht begünstigt eine positive Grundhaltung. Erst eine solche Gestimmtheit/Resilienz und nicht das ängstlich-paralysierte Naturell ist in der Lage, mit sich selbst und mit Anderen Frieden zu halten. Im beginnenden 18. Jahrhundert äußert sich Angst als eine Lebenshaltung im religiösen Vertrauensverlust. So widerspricht Leibnitz der Anklage, mit der Pierre Bayle Gott für die Übel der Welt haftbar macht, nicht nur mit der Zurückweisung einer anthropomorphen Gottesvorstellung. Hinzu kommt ein weiterer Gedanke, der naheliegt, wenn er wiederum in einer systemtheoretischen Sprache ausgedrückt wird: Was als Faktum anerkannt werde muss, ist nicht das Böse und das Übel, sondern ein Beobachten mit Hilfe des Schemas von Gut und Böse, von Glück und Un160 Zum Erkenntnisprogramm insbesondere des operativen Konstruktivismus siehe Luhmann (1990, 31-58).

162

glück. Als Teil der Welt können wir das Ganze nicht sehen, sondern nur schematisch einordnen. Die These, die Welt sei voller Übel, kann somit ebenso durch die gegenteilige These ersetzt werden: „Würden wir die Stadt Gottes (la cité de Dieu), also das Universum, so kennen, wie sie ist, dann sähen wir, dass sie der vollkommenste Staat ist, der hätte erfunden werden können, dass Glück und Tugend in ihr regieren, soweit es möglich ist, entsprechend den Gesetzen des Besseren (les loix du meilleur), dass Sünde und Elend, welche aus der Natur der Dinge ganz auszuschließen Gründe höchster Ordnung nicht erlauben, fast ein Nichts sind im Vergleich zum Guten und sogar zu größeren Gütern dienen.“161 Ganz im Sinne Ramon Lulls, auf den Leibnitz Bezug nimmt, könnte man heute formulieren: Das einzig sichere Faktum, auf das wir uns beziehen können, ist Komplexität als Relationalität. Dabei handelt es sich nun um ein Wissen, das mehr ist als jenes machtpolitisch instrumentalisierbare stets irrtumsanfällige Wissen. Vielmehr handelt es sich beim Wissen der Komplexität um Wahrheit und insofern um ein nicht mehr akzidentielles Ereignis, sondern etwas unveränderliches, demgegenüber allenfalls Haltungsbezeugungen des Annehmens oder Ablehnens möglich scheinen. Und an dieser Stelle kommt die Liebe ins Spiel, denn nur auf der Grundlage der Akzeptanz aller Möglichkeiten der Relationierung lässt sich der Komplexität gerecht werden. Sobald es aber um eine Grundhaltung geht, die sich durchaus nicht auf personale Systeme beschränkt, sondern als generalisierbarer Typus auch soziales Korrelieren umgreift, so ist es richtiger zu sagen, Komplexität komme als Kulturform zum Tragen. Man kann jetzt sogar noch weitergehen und diese systemtheoretische Formulierung in eine mittelalterlich-christologische Sprache überführen und sagen, Liebe sei einzig als Kulturform einer lückenlos digitalisierten und somit korrelierten Welt adäquat. Auf der Grundlage dieses Wissens um die Komplexität und somit die Konnektivität, tauschen bei Leibnitz Problem und Problemlösung wieder ähnlich die Plätze wie in der Lull’schen Parabel von dem Heiden und den drei Weisen: Denn sofern jeder Einzelne ein Moment der Komplexität und das heißt bei Leibniz des panorganischen Dynamismus ist, macht es einen Unterschied, mit welcher Grundhaltung er aktiv wird. Es gibt intellektuelle Atmosphären, die sich auf den positiven oder negativen Gang zwischenmenschlicher, aber auch politischer Verhältnisse auswirken. Auf den individualpsychologischen Bereich beschränkt, arbeitet die Psychologie heute mit einem Konzept des positiven Denkens, das sich dagegen verwahrt, als naiv und gegenüber dem Leiden unkritisch eingestuft zu werden. Versteht 161 Siehe Leibnitz (2013), Theodizée I 8 „Abhandlung über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels“ (vgl. dazu Flasch 2011, 320).

163

man diesen psychodynamischen Mechanismus jedoch kommunikationstheoretisch, dann landet man beim Friedensdenken von Lull und Leibnitz. Wieder stellt sich die Frage, was bekommt man auf der Grundlage einer radikal affirmativen Haltung zu Gesicht. Denn dies impliziert keineswegs die kritiklose Hinnahme jeglichen Übels, sehr wohl aber, dass auch jede vom Gegner und Andersdenkenden vorgebrachte Kritik und Klage über fehlende Anerkennung, ignorierte Sicherheitsbedürfnisse, ungerechte Behandlung und ungerechte Verhältnisse ernst genommen wird. Verfeindet sind im 17. und 18. Jahrhundert Katholiken und Hugenotten, Jesuiten und Jansenisten, Lutheraner und Reformierte, strenge Calvinisten und Arminianer. Aber auch philosophische Schulen bekämpfen einander: Cartesianer gegen Scholastiker, Anhänger Gassendis gegen Aristoteliker und Scholastiker (Flasch 2011, 317). Die entsprechende digitale Prüfformel für eine radikal affirmative Haltung, vergleichbar der Ars Brevis, fehlt jedoch im Zeitalter der Aufklärung, die den Wissenschaften eine immer gewichtigere Stellung zu verschaffen beginnt. Und als strenger Mathematiker und Logiker möchte Leibnitz keineswegs mit Methoden operieren, die in seiner Zeit nicht anerkannt sind, wie die inzwischen alchemistisch gedeuteten Korrelationsscheiben Lulls. Dennoch arbeitet er an einer binär operierenden Maschine, die nur mit den Zahlen O und 1 auskommt und auf dieser Grundlage imstande ist, alle Rechenarten mechanisch durchzuführen. Bloß in einem vermittelten Sinn liegt darin ein Anspruch auf inhaltlich-semantische Wahrheit. In einer von den Entwicklungen der Naturwissenschaften faszinierten Frühaufklärung ließ sich das friedenstheoretische Denken in den Kategorien der Eirene grundsätzlich nur über die Wissenschaften vermitteln und nicht mehr wie in der Zeit von Ramon Lull über die Religionen. Wenn Leibnitz als Mathematiker, Logiker und Jurist zuvörderst das Projekt einer bloßen Rechenmaschine verfolgt, die in der Lage ist, Komplexität mittels der von ihm zeitgleich mit Isaak Newton erfundenen Infinitesimalrechnung zu erfassen, so sind dennoch praktische Schlussfolgerungen enthalten. Denn indem es nun möglich wurde, zugleich Differenzial- und Integralrechnung bis in kleinste Abschnitte widerspruchsfrei zu betreiben, schien ein Hebel gefunden, mit dessen Hilfe möglicherweise auch Widersprüche im praktisch-zwischenmenschlichen Bereich entschärft werden können.162 Das Denken selbst ließ sich als eine Operation des Kalkulierens begreifen, ohne in den Verdacht der Seelen- und Gefühlslosigkeit zu geraten. Denn es war nunmehr in die Lage versetzt, vernünftige Verhältnisse al162 Zur Nähe dieser Methode der Kombinatorik zu Lull siehe Diane Doucet-Rosenstein, Combinatorics as Scientific Method in the Work of Ramon Llull and Gottfried Wilhelm Leibnitz, in: Vega/Weibel/Zielinski (2018, 62-81).

164

lein mit den Mitteln der Logik, der Analyse und der Synthese zu ersinnen und einzurichten. Vor diesem Hintergrund schlägt Leibnitz das Angebot einer juristischen Professur aus und sucht die Nähe zu den Fürstenhäusern, die seine Projekte zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse fördern können. Die Kulturform korrumpiert, wird streitbar und schließlich kriegerisch, sobald ein Ursprungsböses ausgemacht wird und somit die Logik der Zweiseitenform von Positivem und Negativem Schaden nimmt. Denn jetzt ist Unterscheiden nichts, was den direkten Zugriff auf Wahres und Wirkliches verstellt. Es ist im Gegenteil die Art und Weise, in der sich menschliches Erkenntnisvermögen als kompetent erweist. Der Keim für die besondere Art des modernen Umgangs mit dem Bösen wird somit bereits zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts gelegt, nämlich in der Auseinandersetzung zwischen Pierre Bayle und Leibnitz über die Theodizeefrage. Was hier zum Vorschein kommt, ist nicht nur von religionsgeschichtlichem Belang. Dasselbe gilt für die modernisierte politisch-soziologische Fassung als Soziodizee. Denn die Negation verliert im Falle der Zurechnung des Bösen auf Gott oder auf die Gesellschaft ihre Form, die nur als Zweiseitenform informiert. Sobald der Reflexionswert und mithin das Negative auf Gott oder auf die Gesellschaft als einem ersten Prinzip bezogen ist, mutiert die Negation zur einwertigen Unterscheidung. Ein erstes Prinzip, das selbst nicht mehr unterschieden werden kann, weil das Unterscheiden von hier aus erst in Gang kommt, kann nicht seinerseits moralisch bewertet/unterschieden werden. Der friedenstheoretische Sprengstoff dieser Figur des unbewegten Bewegers ist ein bis heute nicht bewältigtes ideengeschichtlich-politisches Problem, an dem die Säkularisierung nichts ändern konnte. Denn es sollte sich zeigen, dass sich Gott durch beliebige säkulare Konstrukte ersetzen ließ, durch die Nation, den Staat, die Gesellschaft, die Verfassung, das Wertesystem und heute die omnipotente KI. Sinnvoll scheint somit nicht die Frage, wer oder was lässt das Böse zu, denn in diesem Fall ist die Unterscheidung nicht ein Schema, das von jeder Generation vorgefunden wird. Die Unterscheidung ist vielmehr identisch mit dem manifesten Unterschied von Ursache und Wirkung, von Grund und Folge und letztlich von Freund/Opfer und Feind/Täter. Gott/Nation/ Staat machen gemeinsame Sache mit dem Feind und Täter, wenn immer sie Böses zulassen. Und da sich dieses Böse zumeist in camouflierter Gestalt präsentiert, als Verteidigung oder als Kreuzzug, als Humanitäre Intervention, als Vorneverteidigung oder als Frieden schaffende Spezialoperation, münden Theodizee und Soziodizee in Gewalt legitimierenden Dezisionismus. Dieser rechtfertigt sich aus der Prämisse, dass Böses auf eine distink-

165

te Ursache zurückzuführen sei und in seiner kompletten Kasuistik rekonstruierbar. Eine grundlegend metaphysikkritische Skepsis, die zur Zurückweisung jeglichen Ursprungsübels zwingt, mündet hingegen in die überraschende Aussage, dass die Welt gut und folglich mit dem Vorzugswert verklammert sei. Dies folgt aus der logischen Einsicht, dass der Mensch ein Teil dessen ist, was er erkennend zu werten sucht. Die Welt beobachtet sich selbst mit Hilfe mannigfacher Sensoren und eines dieser Sensoren ist der Mensch. Wird der Weltbegriff in diesem Sinne verwendet, so fungiert er als beobachtendes System. Auf den ersten Blick folgt aus diesem selbstimplikativen Verhältnis zwar Unentscheidbarkeit und somit moralische Indifferenz. Aber nicht von der Hand weisen lässt sich die Präferenzstruktur von basalen Unterscheidungen, mit denen Welt beobachtet werden kann. Umwertungen, wie Krieg ist Frieden oder das Gute ist schlecht lassen sich nur als höherstufig angesetzte Präferenz plausibel machen: Frieden sichernde Maßnahmen müssen mitunter kriegerische Mittel einschließen, bloß Gutgemeintes, Gutmenschen führen das Übel herbei. Kritik am Guten wirbt für ein Besseres und Kritik am Frieden wirbt für einen gegen Aggression immunisierten nachhaltigeren Frieden. Wie jede unverrückbare weil mathematisch-logisch gegebene Wahrheit ist der genuin machtbegrenzende Topos der Selbstimplikation denjenigen Akteuren ein Dorn im Auge, die Zugriffsrechte auf die leibseelische Integrität des Menschen geltend machen. Diesen Grundkonflikt zwischen Wahrheit und Macht muss jede Zeit auf eine immer wieder neue Weise bewältigen. Machtbegrenzende Selbstimplikation ist bei Leibnitz nicht nur am Topos der Besten aller Welten durchgespielt. Auch im Begriff der Seele sieht sich die Komplexität selbstimplikativer Relationen gespiegelt: Leibnitz vertritt gegen John Locke die These, die Seele sei immer tätig, man könne nicht nicht denken und folglich gebe es in der Natur keine bloß leeren Vermögen, die erst durch Erfahrungswissen angereichert werden müssten. Auch diese Denkfigur der leeren Vermögen ist für die Legitimation von Zugriffsrechten auf die leibseelische Integrität der Menschen von herausragender Bedeutung. Sie findet ihre Fortsetzung im Tabula-Rasa-Denken Cartesianischer Herkunft, die den Menschen als unbeschriebene Tafel für interessengeleitete Projekte mächtiger Akteure freigibt. Im digitalen Zeitalter kulminiert dieses Denken im Begriff einer allumfassenden Leere, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, restlos Alles in ein patentierbares Investitionsgut zu verwandeln: in Bio-Nullius, in Terra-Nullius und in Mens-Nullius (Shiva 2021). Es ist wichtig hervorzuheben, dass kritische Stimmen, wie jene der genannten indischen Atomphysikerin, keineswegs bloß aus dem globa-

166

len Süden stammen. Sie begleiten auch die westlich-abendländische Kulturentwicklung. Aber erst die grundstürzenden Auswirkungen der digitaltechnologischen Medienrevolution zeigen deren Aktualitätsbezug. Nicht aus einem abstrakten Bildungsinteresse heraus, sondern um ein Denken auf der Höhe der Zeit nicht mit den Perhorreszierungen der eigenen Kultur und Geschichte identifizieren zu müssen, ist eine hier ansetzende Erinnerungskultur notwendig. Bei Leibnitz tritt an die Stelle der machtlegitimierenden Leere das machtbegrenzende Systemdenken des panorganischen Dynamismus. Dieses beruht auf einer Korrektur des Gedankens von John Locke, nichts sei im Intellekt, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist. Nach Leibniz stimmt dieser Satz, wenn man hinzufüge: nichts ist im Intellekt, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist, außer dem Intellekt selbst.163 Die Ruhelosigkeit des dynamischen Ganzen folgt aus der Selbstreferenz des Intellekts, der die Welt einschließt und nicht ausschließt, wie Descartes annimmt. Denn um zu einem solchen Urteil in der Lage zu sein, müsste man aus dem selbstreferenziellen Zirkel, aus der Welt selbst, heraustreten können und alles von außen betrachten. Dies ist der Grund, weshalb von unveränderlichen Vernunftwahrheiten ausgegangen werden müsse. Selbige beschränken sich nicht auf die Mathematik, sondern lassen sich auch auf die Ethik beziehen. Im Gegensatz dazu seien Tatsachenwahrheiten veränderlich, man könne sich ständig täuschen. Das Moment des Unveränderlichen und der ethischen Relevanz bezieht sich auf die Einsicht in die selbstreferenzielle Dynamik, in die Relationalität. Inmitten der gedanklichen Turbulenzen der Aufklärung war es nun aber die Frage, wie sich diese abstrakte Wahrheit für den sozialmoralischen und das bedeutet, für den Frieden mit sich selbst und mit Anderen fruchtbar machen lässt. Leibnitz steht hier vor den Herausforderungen durch die Erfindung der Druckerpresse. Denn sofern es mehr und andere Bücher gibt und schließlich alle Menschen des Lesens mächtig sein werden, dann, so lautete die Verheißung, könnten Entfremdung und Verfeindung überwunden werden. Da diese Hoffnung rasch enttäuscht und offensichtlich wurde, dass es im Gegenteil zu einer Verschärfung der Friedensproblematik kommen musste, findet die Rezeptionsgeschichte Ramon Lulls mit dem Buchdruck nicht ihr Ende. Aber was vorerst endet, ist die Arbeit an einem neuen Medium und die Bemühungen konzentrieren sich mehr auf die Logik. Die Suche nach einem Ausgleich des medienbedingten Mangels, der mit dem Sprechen und Schreiben zu immer neuen Missverständnissen führenden Kommunikation, reicht weit zurück. Wenn es heute um die Suche 163 So Leibniz, Nouveaux Essais sur l’entendement humain, Livre II chap. 1, nach Flasch (2011, 307).

167

nach der kompensierenden Kulturform geht, die diesen medienbedingten Mangel auf dem weitgetriebenen technischen Niveau der digitalen Codierung von Organismen beheben möchte, dann steht nicht die Geschichte der Technikentwicklung im Vordergrund, sondern die der kulturtragenden Medien.

Ersatzbegriffe Die Kontroversen, in die im Laufe der Jahrhunderte an Lull anknüpfende Philosophien verwickelt waren, zeigen die Schwierigkeiten, dessen zentrale Intuition dialogisch und textuell zu vermitteln. Es gibt infolgedessen zentrale begriffliche Komposita, die noch vor dem Zeitalter der Aufklärung die Funktion erfüllen sollten, eine Wahrheit in einem wider diese Wahrheit sprechenden Medium der Schrift zum Ausdruck zu bringen. Der Topos der wissenden Unwissenheit zählt dazu. Mit Hilfe dieses Oxymorons versucht Nikolaus von Kues, auch Cusanus genannt (1401-1464), zeitgleich mit der Erfindung des Buchdrucks die Funktion der Lull’schen Wahrheitstafeln im linearen Denken schriftkultureller Ausdrucksformen aufzubewahren.164 Dazu bedarf es einer Kritik am aristotelischen System. Cusanus schließt in diesem Punkt nicht nur argumentativ, sondern auch bezüglich technisch-praktischer Lösungen an Lull an, indem er nach Methoden der metaphysikkritischen Aufklärung über den begriffsspezifischen Umgang mit sowohl logischen als auch ontologischen Schemata sucht. Unterzieht man die gegensätzlichen Grundbegriffe einer genaueren Analyse, dann zeigt sich nach Cusanus das Ausmaß, in der sie miteinander verwoben sind und ineinander übergehen. Die aristotelische Logik wird folglich in ihrer Zuständigkeit beschnitten und als bloßes Instrument politischer und kirchlicher Macht betrachtet, die sich auf empirisches und theologisches Wissen stützt. Die Docta ignorantia soll jedoch nicht nur als negative Theologie und mithin als Kritik verstanden sein, sondern auch – und hierin zeigt sich der Einfluss Lulls – als positive Theologie, die vom unterteilenden und verfeindenden zu einem relationalen Denken hinführt, das gleichwohl nicht relativistisch sein will. Mit dem Postulat des Nichtwissens sollen nicht die Schwächen der gegeneinander gerichteten Lehrmeinungen angeklagt, sondern umgekehrt deren Stärken zum Komposita einer neuen, wieder offen164 Der junge Cusanus reiste 1428 zum Studium der Katalonischen Manuskripte nach Paris; er vertrat wie Lull die Ansicht, dass der christliche Rationalismus von den ‚Sarazenen’ (islamischen Völker) geteilt werde. Vgl. Schmidt-Biggemann (2018, 48).

168

sokratischen Fragetechnik zurückfinden.165 Das Mittel hierzu ist Metaphysikkritik und das bedeutete damals, es musste vom schularistotelischen Dogma Abstand genommen werden, demgemäß Urbild und Abbild, Idee und Wirklichkeit überprüfbare Entitäten seien. Cusanus versucht wieder die ursprüngliche platonische Lesart von Urbild und Abbild als bloß mathematisch-formlogisch, aber nicht empirisch-konkret unterscheidbare Kategorien zur Geltung zu bringen. Seiner Interpretation nach konstruiert der Verstand nützliches Wissen, aber die Vernunft wisse nur vom Einen, anders gesagt, sie kenne nur die mathematische 1, die in der Vervielfachung immer wieder andere Formen und Gesichter annehme. Diese Mannigfaltigkeit sei von der Vernunft nur auf dem Wege der Relationierung von Relationen zu fassen, in der „Fülle der Individuen“ und den „Komplikationen der Wechselwirkung“ (Flasch 2011, 233). Man kann die beiden Wendungen auch als Komplexität und Konnektivität bezeichnen. An diesen zeitgenössischen Termini zeigt sich die immer wiederkehrende Bemühung, den Verführungskünsten eines vermeintlichen Wissens zu entgehen, das die Plausibilität aus der Verdunkelung seiner metaphysischen Grundlagen bezieht. Seit dem 13. Jahrhundert bilden Logik und Kategorienlehre des Aristoteles die nicht zu hinterfragende Grundlage der Wissenschaft. Die Unterscheidung von Substanzen und Eigenschaften gilt als notwendiges Verfahren, um zu sicherem Wissen und einer auf dieses Wissen gegründeten politischen und kirchlichen Autorität gelangen zu können. Klare Definitionen, anders gesagt, die Verknüpfung eines Subjekts mit bestimmten Prädikaten (tertium non datur) gilt als Voraussetzung, um überhaupt etwas aussagen zu können. Und als wissenschaftliche Aussagen können erst solche Verknüpfungen anerkannt werden, die nach einer Regel erfolgen, wobei eben dies den Sinn einer Regel bestimmt, entgegengesetzte Prädikate von demselben Subjekt auszuschließen, eine petitio principii. Man sieht, wie das Thema Glaube und Wissen in immer wieder neuen Nomenklaturen metaphysische und metaphysikkritische Lesarten hervorbringt. In Mittelalter und früher Neuzeit stehen nebeneinander der wissenschaftliche Glaube in Theologie und Wissenschaft und ein um Nichtwissen bewusster Glaube, der die wissensbasierte politische und kirchliche Macht als eine bloß vermeintliche kritisiert. In der Moderne wird dieselbe Auseinandersetzung nicht mehr in einer von jüdischen, christlichen und moslemischen Kulturen geprägten politisch-gesellschaftlichen Semantik geführt, sondern in einer säkularen und atheistischen Sprache. Da bereits Ramon Lull die Konsequenzen aus der Unentscheidbarkeit 165 Zu Gemeinsamkeiten des besonderen Toleranzgedankens bei Lull und Nikolaus von Kues siehe Fidora/Renner (2005). Zu Cusanus’ Docta ignorantia auch Flasch (2011, 226-241).

169

dieser Auseinandersetzung medientheoretisch interpretiert hatte und erst die heutige Zeit die technischen Voraussetzungen für den von Lull antizipierten friedenstheoretischen Gewinn zu schaffen scheint, rückt uns das Spanien des 13. Jahrhunderts näher als irgendein anderes Jahrhundert. Aber es bleibt faszinierend, die Etappen und Schritte zu verfolgen, in denen innerhalb der letzten Medienepoche immer wieder neue Anläufe zur Suche nach mathematisch-logischen und in letzter Konsequenz mechanistisch-technischen Auswegen aus dem Problem der Unentscheidbarkeit unternommen wurden.

Machtkämpfe und Friedensgedanke Macht und Wahrheit treten als Modalitäten des Umgangs mit dem Problem der Unentscheidbarkeit als alternative Optionen für das machtpolitische Kalkül (Pax) oder für eine Haltung in Erscheinung, die bloß Unvereinbares als vereinbar zu zeigen sucht und folglich den Interessenausgleich an die Stelle des Dominanzstrebens setzt (Eirene). Dies scheint eine moralisierende Verkürzung zu sein, zeigt sich jedoch im Lichte des Axioms der Unentscheidbarkeit schlüssig. Es handelt sich gewissermaßen um ein duales Legitimitätskonstrukt. Der Umgang mit der Unterscheidung von Glauben und Wissen bestimmt folglich das Friedensdenken in ganz wesentlichen Zügen. Der machtgestützte oder um Macht ringende wissende Glaube formiert sich in kampfbereiten Parteien. Wenn Cusanus im 15. Jahrhundert die Idee der Koinzidenz von Unterscheidungen (coincidentia oppositorum) dagegensetzt, dann reagiert er auf die spezifischen Gefahren, die für den inneren Frieden von universitären Schulkämpfen zwischen Albertisten, Thomisten, Scotisten und Ockhamisten ausgehen.166 Deren Kontroversen werden über die sonntäglichen Predigten von der Kanzel aus in die Gesamtbevölkerung getragen und drohen die Einheit der Christenheit von innen her zu zersetzen. Hinzu kommt in dieser Zeit die Gefährdung des äußeren Friedens, die so genannte Türkengefahr, die mit der Eroberung von Byzanz 1453 näher gerückt war und Gestalt angenommen hatte. Genau diese Gefahr wird wieder im 17. Jahrhundert zum Thema, als die Türken 1683 ein zweites Mal vor Wien stehen und ein Ende des christlichen Europa erneut befürchtet wird. Diese äußere Bedrohung wird begleitet von Problemen im Inneren. Leibnitz ist erst acht Jahre alt, als der Dreißigjährige Krieg endet. Zwar schien der Friede durch die Verträge von Münster und Osnabrück von 1648 formaliter wiederhergestellt, aber die 166 Zu diesen Fronten siehe Flasch (2011, 228).

170

konfessionelle Spaltung und Verfeindung beherrschte den gesellschaftlichen Alltag nach wie vor. So sind auch die Anknüpfungspunkte an die mathematisch-logische Methode der Kombinatorik von Lull bei Leibnitz vom Friedensgedanken her inspiriert. Und auch hier spielen wieder stärker die Konnotationen der Eirene eine Rolle und weniger die der Pax. Leibnitz sieht ähnlich wie Lull nicht nur das Problem unentscheidbarer letzter Fragen. Fundamentaler noch scheint ihm, dass die Motivation zum Frieden nicht mehr theoretisch-philosophisch abgestützt ist. Vielmehr scheint sie bloß einer transitorischen Stimmung aktueller Kriegsmüdigkeit geschuldet zu sein. Beide Problemfelder hängen zusammen. Lull hatte gezeigt, dass ein Umgang mit unentscheidbaren letzten Fragen nur durch radikale Affirmation und mithin dadurch bewältigt werden kann, dass eine jede Art der Letztbegründung akzeptiert wird. Denn Kritik setzt als Mittel der Entscheidungsfindung Entscheidbarkeit voraus und nicht Unentscheidbarkeit. Sie ist angewiesen auf rationale Begründung bis ins letzte Glied. Wohlgemerkt geht es Leibnitz um die Überwindung konfessioneller Gegensätze, dies aber durchaus nicht beschränkt auf Protestantismus und Katholizismus. Im Gegensatz zu seinem Kontrahenten John Locke, der Atheisten für „verkommene Kerle“ hält,167 behauptet Leibnitz, nur diejenige Lesart könne den einzelnen einander widersprechenden und einander bekämpfenden Positionen gerecht werden, die jede Position von ihren starken und überzeugenden Seiten her rekonstruiert und folglich den Sinn nicht im Abgleich mit den eigenen Überzeugungen zu ermitteln sucht. Glaubens- und weltanschauliche Schulen werden somit als System erkennbar, die aus immanenten Korrelationen heraus verstanden werden müssen, bevor ein Vergleich mit anderen Ansätzen sinnvoll sein kann. Es handelt sich um „Monaden“, die „keine Fenster haben“ und das heißt, um operativ geschlossene Systeme, die sich im offenen friedlich-freundschaftlichen oder im konfliktreich-feindseligen Austausch (Koppelung) mit ihrer Umwelt erhalten (reproduzieren).168 Die in Klammern hinzugefügten Begriffe zeigen die Konvertibilität der philosophischen und der systemtheoretischen Sprache. Und da sich die moderne industrie- und digitaltechnische Moderne in Bahnen kybernetischen Denkens bewegt, muss dieser Bezug immer im Hintergrund bleiben. Auch bei Leibnitz wird wieder, wie bei Lull, der Friede an den Anfang der Reflexion gestellt und ist folglich nicht bloß das erfreuliche und erhoffte, möglicherweise aber auch enttäuschte Resultat einer begrifflich-theo167 So Locke im Essay concerning Human Understanding, nach Flasch (2011, 293). 168 Die 1714 von Leibnitz (1954) verfasste Monadologie ist als Lehre letzter einfacher Substanzen Kernstück seiner Philosophie.

171

retischen Übereinkunft, der Arbeit an gemeinsamen Erkenntnissen. Die Frieden stiftende Funktion der Philosophie transzendiert das säkular/religiös-Schema, es versöhnt auch Aristoteliker und Cartesianer, Skeptiker und Theologen.169

Big Data und die Korrelationsscheiben der Ars Brevis Statt das Problem der Komplexität als Hindernis für ein Begründen exklusiver Moralsemantiken bewusst zu machen, setzt die Gegenwart auf eine weitere Perfektionierung antiquierter Formen der normierenden und reglementierenden Art der Befriedung, die für das hierarchische Strukturprinzip entwickelt worden sind. Als Form begriffen ist Reglementierung jedoch nur eine von zwei Seiten einer Unterscheidung. Sie kann folglich nicht ohne die andere Seite der Deregulierung gedacht sein kann. Das rechtsstaatliche Prinzip, das vom Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz getragen ist, sieht sich durch die Formlogik stets bedroht und muss immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Es sind die beiden visionären Autoren George Orwell und Aldous Huxley, die die Entfaltung der industrietechnischen Moderne als Sieg der Form einer alles reglementierenden Praxis gegen machtbegrenzende Kontrollmedien gezeichnet haben. Insbesondere für die Schriften von Huxley muss von Hypermoderne gesprochen werden, weil das experimentelle Paradigma nur dort zur vollen Entfaltung gelangt, wo es nicht vor dem unbeschränkten Zugriff auf das biophysische Material des menschlichen Organismus zurückschreckt. Frankenstein-Assoziationen hatten derlei Forschungen lange Zeit behindert. Orwell (1994) beschreibt in seinem Buch 1984 die Dystopie einer technisch überwachten verhaltensreglementierten Masse als eine in ihrer Unfreiheit gleichen Menschheit. Diese sieht sich einer überwachenden, selbst an keine Normen gebundenen und folglich deregulierten Klasse von Privilegierten gegenüber.170 Hier schreibt ein vom Stalinismus enttäuschter Anhänger der kommunistischen Bewegung gegen eine bereits im totalitären Entwurf enthaltende Tendenz, das ursprünglich utopische Zukunftsszenario in sein Gegenteil zu verkehren. Selbigen Umkehrprozess zu dissimulieren greift Big Brother zu sprachkosmetischen Mitteln begrifflicher 169 Ausführlich dazu Flasch (2011, 296). 170 Zur Aktualität siehe Heinz-Joachim Müllenbrock (2013). Als Zeichen des gegenwärtigen Orwell-Booms wird auch die neue Übersetzung des Romans „Tage in Burma“ (Orwell 2021) als Widerschein des Stimmungsbildes einer einfältigen und lähmenden Welt gedeutet.

172

Verwirrung und Umwertung: Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke. Aldous Huxley (2014) skizziert seinerseits in seinem 1932 unter dem Titel „Brave New World“ veröffentlichten Roman einen die moderne Errungenschaft des Rundfunks und neue Methoden der Eugenik effizient einsetzenden Überwachungsstaat, der in der Lage ist, die gewaltsamen Züge dieses Totalitarismus durch Dauerberieselung, Bespaßung und funktionsgerecht auf gesellschaftliche Bedürfnisse zugeschnittene gentechnische Veränderungen der Menschheit vollends zu verbergen. Regulierung und Deregulierung tauschen die Plätze in dem Maße, in dem es gelingt, die menschliche Natur so zu verändern, dass Menschen lieben, was sie müssen, dass der Zwang als Lust erscheint. Damit dürften die utopisch-dystopischen Visionen Aldous Huxleys, dessen Bruder Julien ein bekannter britischer Eugeniker war,171 der heutigen vom molekularbiologischen Enhancement-Gedanken beseelen Gegenwartsgesellschaft mehr entsprechen als der auf offene Unterdrückung und Gewalt angewiesene Totalitarismus, wie ihn Orwell beschreibt. Hüben Regulierung und Drüben Deregulierung, diese Asymmetrie charakterisiert das industrie- und digitaltechnologische Gefälle, solange der Friede nur als Projekt universaler Pax gedacht wird. Wenn der 11. September 2001 und damit der Terroranschlag auf das World Trade Center für den Beginn von Deregulierungstendenzen in der Sicherheitspolitik steht, so markiert die Corona-Pandemie 2020 die Deregulierung der experimentellen Hochtechnologieforschung, deren Entwicklung und Anwendung für medizinische und sozialkybernetische Großprojekte. Dies betrifft Investitionen in Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz, Quantencomputer, Genetik oder Medizin. Förderprogramme der High-Tech-Forschung stehen neben einer kaum zu kontrollierenden Anwendung. Offensichtlich tendiert das Friedensdenken universaler und globaler Pax dazu, Regulierung als Form absolut zu setzen. Das bedeutet zu politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, pädagogischen und religiösen Deregulierungen befugte Eliten werden gegen jeden Einspruch von Seiten der Betroffenen abgeschirmt. Die enorme Störanfälligkeit einer solchen Gesellschaft zeigt in den von Luhmann (1986; 1992) gezeichneten Gefahren der Selbstelimination der menschlichen Gattung zugleich die Richtung an, in der reaktive Mechanismen greifen könnten. Wenn es dem Menschen im 171 Julien Huxley (1887-1975) hat sich nach dem Krieg als erster Direktor der neu gegründeten UNESCO bemüht, das durch Hitler-Deutschland diskreditierte Projekt der Eugenik durch Akzentverschiebung vom Begriff der Rasse zu den Begriffen Kultur und Bildung zu rehabilitieren. Zum wechselnden Profil Julien Huxleys siehe Paul Weidling (2015). Ganz in diesem Sinne gilt Klaus Schwab und Thierry Malleret (2022) die Arbeit am Narrativ, heute Nachhaltig, Grün, Inklusiv usw. als erstes Gebot der Kulturschaffenden.

173

Medium der Kommunikation, gleich ob in sprachlicher, schriftlicher, gedruckter oder digitalisierter Form, nur möglich ist, Gefahren entweder zu unterschätzen oder zu überschätzen (Luhmann 1986; 1991; 2008, 348-374), so bleibt nur die programmatische Berücksichtigung dieser Grenzen und zwar in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht und dies in allen Bereichen, die ökonomisch, politisch-administrativ, rechtlich, wissenschaftlich und pädagogisch relevant sind. Der metaphysikkritische Einwand nimmt folglich immer neue Gestalt an, sobald vermeintliche Letztbegründungen und mithin das Projekt der Metaphysik problematische Formen der Intervention in komplexe Systeme legitimieren soll. Problematisch aber heißt, den Einspruch der Intervenierten herausfordernd und infolgedessen begründungsbedürftig.172 Usurpatorisch-machtprojektive Funktionen übernimmt die Berufung auf Letztbegründungen mithin dort, wo ein Absolutheitsanspruch geltend gemacht wird. Der szientistische Glaube beginnt, wo ein methodengeneriertes Wirklichkeitskonstrukt mit der Wirklichkeit in Progress und dies bedeutet, einer mittels Konstruktion hervorgebrachten Wirklichkeit, gleichgesetzt wird. Es ist wichtig zu sehen, dass dieses von der Exklusivität und folglich Konkurrenzlosigkeit seiner Letztbegründungen überzeugte szientistische Wissenschaftsverständnis weder avantgardistisch noch modern im Sinne von fortschrittlich ist. Was sich hier vielmehr äußert, ist eine auf Metaphysik gegründete Glaubenshaltung, die ihrer metaphysikkritischen Aufarbeitung harrt. Und wenn auch jenes mit dem Friedensprojekt universaler Pax einhergehende Phantasma einer einzigen Weltmacht das in Gang gesetzte Tandem Regulierung-Deregulierung beschleunigt und alles aufzehrt, was als Errungenschaft der Aufklärung hochgeschätzt war, so lassen sich stichhaltige Argumente gegen globaltotalitäre Tendenzen doch nur auf dem Niveau der neuen Technologie finden. Wenn die mittelalterliche Metaphysikkritik Al Ghazalis und die Differenz von Metaphysik und Metaphysikkritik überwindende Korrelationstechnik von Ramon Lull dem religiös ausbuchstabierten Frieden zugutekommt, so wäre heute der Frage nachzugehen, wie sich diesbezügliche Vorschläge unter digitaltechnologischen Bedingungen friedenstheoretisch und -praktisch geltend machen könnten. Bei Lull präsentiert sich das damalige Weltwissen in freilich prismatisch verengter Form im Medium je spezifischer Schriftkulturen. Diesem Mangel entgegenwirken lässt sich nur durch Aneignung der arabischen Sprache und somit der Fähigkeit, wesentliche Schriften im Original studieren zu können. Hinzu kommen bei Lull ausgedehnte Reisen und fremdkulturelle Kontakte. Es mag den Zwän172 Intervention braucht eine Interventionskultur, eine begründungstheoretische und -ethische Absicherung. Siehe dazu die Beiträge in Bonacker/Daxner/Free/Zürcher (2010).

174

gen des Zeitgeistes und eifersüchtig-intoleranter klerikaler Supervision geschuldet sein, wenn zeitgenössische Kommentare und darauf bezogene ideengeschichtliche Studien derlei Aktivitäten unter dem übergreifenden Begriff der christlichen Missionstätigkeit eingeordnet haben. Sofern die Korrelationstechnik weniger religiös als friedenstheoretisch konditioniert ist, dürften die hier aufgezeigten Möglichkeiten des Verknüpfens von Technik und Ethik auch für die heutige Zeit Anregungen liefern. Man könnte im Versuch, die Art des Verknüpfens begrifflich zu fassen, durchaus von Konditionierung sprechen und zwar ganz im systemtheoretischen Sinne einer vorweg geregelten Relationierung der Elemente. Das Moment der Regelung ist dem Relationierungsvorgang eingeschrieben und bedarf keines Akteurs, der in ein zunächst Ungeregelt-Chaotisches regelnd eingreift. Insofern fungiert der Begriff der Konditionierung bei Luhmann als Möglichkeitsbedingung: „... eine bestimmte Relation zwischen Elementen wird nur realisiert unter der Voraussetzung, dass etwas anderes der Fall ist bzw. nicht der Fall ist.“ (Luhmann 1984, 44). Die Frage bleibt jedoch, ob Relationen zwischen politischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, medizinisch-therapeutischen oder pädagogischen Projekten und Modellen einander nur in dem Sinne wechselseitig konditionieren, dass ein Bild zunehmend konsistenter und kohärenter und mithin plausibler One-World-Gesamtheit entsteht. Die computerisierte Hyper-Relationierung, die Ähnlichkeiten an Stellen aufzeigt, die kulturelle Deutungsräume bisher nicht hatten erkennen lassen, versetzt die Menschheit in einen Zustand, der durchaus als Kollaps aller Deutungssysteme erfahren wird.173 Doch womöglich ist dieser Kollaps jenem Zustand vergleichbar, in dem sich der heidnische Philosoph nach dem Gespräch mit den gelehrten Vertretern der drei Weltreligionen befunden haben mag. Die Analogie zu heute beschränkt sich allerdings auf das Moment kollabierter Deutungsmuster. Was hingegen vollkommen fehlt, ist eine auf die neue digitale Konstellation zugeschnittene Friedenstheorie. Um diese geht es jedoch im gesamten Werk von Ramon Lull. Denn immerhin, so lautet dessen Aussage, war das spätantike Lehrgebäude, in dessen Rahmen der heidnische Philosoph bisher Mensch und Welt gedeutet hatte, nicht mehr in der Lage, im Angesicht des unvermeidlichen Todes Lebenskraft und Lebensfreude zu vermitteln oder auch nur zu erhalten. Die Betonung liegt allerdings auf nicht mehr, denn die griechische Philosophie hat sich, selbst in ihrer hellenistisch-schulmäßigen Verhärtung, immer auch wesentlich als Lebenshil-

173 Näheres zu Deplausibilisierung und Kollaps moderner Welteinteilungsschemata Brücher (2004; 2004a).

175

fe verstanden.174 Solche Hilfen greifen unter veränderten sinnstrukturellen Rahmenbedingungen nicht mehr. Die Konfrontation mit den allein aufgrund der Heterogenität und Widersprüchlichkeit zerstrittenen religiösen Lehrgebäuden scheint im Heiden als autokatalytisches Relationierungsgeschehen zu wirken, dessen Konditionalprogramm allen vier Gelehrten unbekannt ist. Und hier liegt nun der Anspruch Lulls, dieses subkutan wirkende Programm zwar nicht als Lehrund Deutungssystem, als eine neue Philosophie, erklären zu können. Sehr wohl aber lassen sich seiner Ansicht nach Verknüpfungstechniken extrapolieren, die in ihren Möglichkeiten des Korrelierens schier uferlos zu sein scheinen. Sie versetzen der Idee nach in die Lage, ein Stück weit den komplexen Wirkungsströmen auf die Spur zu kommen, welche die Rede der drei Religionsgelehrten im Heiden ausgelöst haben. Weil korrelationstechnisch erfasst, sollen derlei Vorgänge reproduzierbar sein und der interkulturellen Verständigung dienlich.

Programme Worin aber könnte dieses konditionalprogrammatisch wirkende Konstrukt bestehen? Lull nennt Prinzipien, Formen oder relationale Begriffe, Fragen, Subjekte qua Referenten, Tugenden und Laster. Da es uns um Konturen der Unterscheidung von Krieg und Frieden im Kontext begrifflicher Differenzierungen von Pax und Eirene geht, soll auf die logischen und technischen Bestandteile der Ars nicht näher eingegangen werden. Das Interesse gilt in unserem Zusammenhang dem Hinweis auf eine generelle Relevanz für heutige digitaltechnische Veränderungen. Aus diesem Grund wird auf mögliche Anknüpfungspunkte an den systemtheoretischen Begriff des Programms im Allgemeinen und des Konditional-, aber auch des Zweckprogramms im Besonderen hingewiesen. Dies bietet sich an, weil hier ein Gedanke ausformuliert ist, der sich bei Lull bloß andeutet. Da es beim Programm, das Lull vorschwebt, um eine gezielte, wenn auch in ihrer Wirkweise nicht zu steuernde Veränderung von Denk- und Verhaltensweisen geht, lässt sich auch von einer Strategie sprechen. Für diese Spezifizierung des Programms als Strategie nennt Luhmann die Bedingungen: „... wenn und soweit vorgesehen ist, dass sie im Laufe des Vollzugs aus gegebenem Anlass geändert werden können. Der Vorteil der festen Vorwegselektion wird dann ersetzt durch eine Spezifizierung der Informationen, die Anlass 174 Zur antiken Philosophie als Anleitung zur richtigen Lebensweise siehe Pierfrancesco Basile (2021, 97-134).

176

geben können, das Programm in bestimmten Hinsichten zu ändern.“ (Luhmann 1984, 432, FN 112). Das kann als ein den Quellcode modifizierendes Neuprogrammieren von Programmen geschehen, oder schlichter gesagt, als Programmänderung einer sich kontinuierlich an neue Verhältnisse anpassenden Selbstreproduktion. Unklar ist, ob der Begriff der Strategie auch dort noch greift, wo Automatisierungsprozesse so weit fortgeschritten sind, dass der menschliche Programmierer in den Hintergrund getreten ist und ein Großteil der justierenden Neuprogrammierung durch eine höhere Programmebene erfolgt. Ob menschlich oder maschinell bedingt, in jedem Fall zielt die strategisch eingesetzte Programmgestaltung auf das, was Luhmann mit dem Begriff der Zweckprogrammierung umschreibt. Der Begriff bezieht sich auf den Output eines Systems, auf die intendierte Wirkung – einer Verwaltung, einer Organisation oder eines Betriebs. Im Gegensatz dazu regeln Konditionalprogramme den Input und mithin die Art und Weise, in der die Umwelt mit ihren Anforderungen und Pressionen auf den Entscheidungsprozess einwirkt. (Luhmann 1973, 101f.). All diese Überlegungen sind im Hinblick auf eine Aktualisierung der Ars Combinatoria Lulls von einiger Aussagekraft. Denn zweifellos handelt es sich hierbei um ein System, dessen Umweltkontakt durch Konditionalund Zweckprogramme geregelt ist. Es sind Prinzipien, die in ihrer Funktion invarianter Ursachen in das digitale System der Korrelationsscheiben eingehen und damit den internen Relationierungsprozess als Input bestimmen. Invariant und das heißt nicht veränderbar, sondern einfach nur vorauszusetzen, ist die kultur- qua religions- oder glaubensspezifische Deutung der einzelnen Grundwürden der Güte, der Größe, der Ewigkeit, der Macht, der Weisheit, des Willens, der Tugend, der Wahrheit und der Herrlichkeit.175 Selbige Prinzipien als bloßen Input zu behandeln und nicht etwa als Diskussionspunkte, die erst in einem interreligiösen Diskurs geklärt sein müssen, unterscheidet die Lull’sche Ars von allen diskurstheoretischen Ansätzen. Als bloßer Input in die Kombinationsdynamik der rotierenden Wahrheits-Scheiben eingespeist zu werden, setzt, wie oben bereits betont, eine affirmativ-gläubige Grundhaltung voraus. Dieses Attribut des Gläubigen aber ist in einer spezifischen Weise zu verstehen und zwar als grundsätzliche Anerkennung der Wahrheit aller Deutungsvarianten als Gegebenheit, als Faktum. Ein derart affirmativer Gestus ist in dem Sinne Programm, in dem Luhmann diesen Begriff gebraucht, nämlich als „steuernde Struktur eines Informationsverarbeitungsprozesses.“ (Luhmann 1973, 255). 175 Diese acht Grundwürden bilden als Prima Figura die somit erste Begriffsreihe, den Beginn der Korrelationstechnik. Siehe Lullus (1999, 7f.).

177

Invariant ist nur die gläubig-affirmative Grundhaltung, aber variabel sind die faktischen Deutungen und zwar nicht nur in sachlicher Hinsicht, insofern die drei Weltreligionen Güte, Größe, Ewigkeit, Macht, Weisheit, Willen, Tugend, Wahrheit und Herrlichkeit jeweils unterschiedlich verstehen können.176 Variabel ist folglich der Output. Die Auslegung differiert in sachlicher und in zeitlicher Hinsicht, denn Glaubensrichtungen setzen immer wieder neue Akzente. Selbige Neuheit stets veränderlicher Akzente und mithin das, was die jeweilige Fragestellung antreibt, sind die Begriffe Ob, Was? Woraus? Warum? Wie groß? Wie beschaffen? Wann? Wo? Auf welche Weise? Womit? (Lullus 1999, 29-37). Der Programmbegriff abstrahiert als steuernde Struktur von Nachrichten/Informationen insofern von dem, was als Werte, als Normen oder als Zwecke verstanden wird. Denn letztere sind „zeitindifferent“ (Luhmann 1973, 255) – und dies nicht nur in der Vormoderne. Selbst heute präsentiert sich ein dezidiertes Bekenntnis zu unseren Werten im Sinne einer wertrelativistischen Grundorientierung als Votum für den invarianten Primat des zivilreligiösen Wertverständnisses gegenüber staatsunabhängigen religiösen und mitunter auch humanistischen Werten, die in Verdacht geraten, dem digitaltechnischen Fortschritt entgegenzuarbeiten. Im Gegensatz zum heutigen Wertrelativismus, der Exklusionseffekte hat und haben soll, ist der programmatische Wertbezug Lulls inklusiver Art. Dafür steht der Begriff des Programms, der nach Luhmann in der Lage ist, Normen und Zwecke ihrer Grundbegrifflichkeit zu entkleiden und dadurch zu mediatisieren, „dass man sie als bestimmte Typen von Entscheidungsprogramm interpretiert, das heißt, sie werden nicht mehr ausschließlich auf die Vorstellung richtigen Handelns bezogen, sondern auf die Vorstellung eines Kommunikationsflusses, welcher die Veränderung des Informationsgehalts von Nachrichten dient und durch Systemgrenzen geordnet ist.“ (Luhmann 1973, 254f.). Der Informationsgehalt einer Nachricht verändert sich im Rahmen der Lull’schen Kombinatorik des Papiercomputers dadurch, dass verfeindende, ausgrenzende und gegen Andersdenkende gerichtete Positionierungen im Lichte der medienbedingten Konnektivität und Komplexität ihren dem Frieden abträglichen Charakter verlieren. Wir können Grundbegrifflichkeit mit Prinzipien als unerschütterlichen Anfangsgründen gleichsetzen. Indem sie auf ihren Platz im reflexiven Begründen von Begründungen verwiesen sind, sehen sich diese Prinzipien relativiert. Denn sie verwandeln sich aufgrund ihrer Funktion im Programm176 Indem die Relationalität mit in das Verständnis der Grundwürden aufgenommen ist, zählen die im Folgenden genannten relationalen Begriffe mit zu den Prinzipien, die auf diese Weise zwanzig betragen (Lullus 1999, 25-27).

178

aufbau der Ars von einem fundierenden zu einem rotierenden Element. Dazu dienen die relationalen Begriffe: Unterschied, Übereinstimmung, Gegensätzlichkeit, Anfang, Mitte, Ziel, Größersein, Gleichheit, Kleinersein (Lullus 1999, 51-53). Bereits die Art der Zurechnung wirkt sich auf die moralisch-ethische Einordnung, beispielsweise der Gerechtigkeit aus. Auf diese aber kommt es an, wenn glaubensförmige Deutungsstrukturen doch allein deshalb bekämpft werden sollen, weil sie angeblich falsch im Sinne von schlecht für den Menschen sind. Moralische ist wertende Unterscheidung von Gut und Schlecht, von Gut und Böse. Ethik wird als „Reflexionstheorie der Moral“ (Luhmann 2008, 270-347) aus der Perspektive der Machtträger ihrerseits schlecht, wenn sie dies Werten zu kritisieren sucht. Sie wird jedoch aus der Perspektive einer Öffentlichkeit gut, die Macht und Wahrheit zu differenzieren weiß.177 Was hier an der Moral kritisiert wird, ist nicht ein Kriterienkatalog als Maßstab für eigenes Handeln. Problematisch werden hingegen Machtgewinne, die moralische Kommunikation aus der Stigmatisierung Anderer zieht im Hinblick auf jetzt einsetzende Kämpfe um Anerkennung (Honneth 1994; 2018). Eine Kritik an moralischer Kommunikation bedarf jedoch ihrerseits letzter Gründe/Prinzipien, die den Frieden als zeitindifferente Norm etablieren. Eine solche Präferenz aber entbehrt in den Augen all derjenigen Menschen jeglicher Plausibilität, die auf der Grundlage dezidierter Überzeugungen oder im Angesicht großen Unrechts entscheiden müssen. Sobald sich der Frieden und mithin das Leben – der Friede mit Anderen setzt den psychosomatischen Frieden mit sich selbst voraus – von einem invarianten in einen abwägungsbedürftigen variablen Wert verwandelt, wird die Ars Combinatoria in Bezug auf ihren Anspruch bedeutungslos, eine Dynamik in Gang zu setzen, wie sie sich in ihren Effekten beim heidnischen Philosophen gezeigt hat. Denn nunmehr sind Friede und Leben nicht wertjenseitige bloße Effekte der Komplexität und Konnektivität des Redens über den Frieden und das Leben. Im Gegenteil sollen Frieden und Leben als Effekte des wertenden Sprechens mächtiger Sprecher anerkannt sein. Nur kollektive Einfalt oder panisch-verblendendes Sicherheitsbedürfnis sind in der Lage, die Menschen ohne massiven Widerstand ihres fundamentalen Rechts auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit zu berauben. Aus diesem Grund wird bei Lull die Zurechnung und mithin der Träger von Handlungen ganz von den Versuchungen gelöst, ein und dieselbe Handlung allein deshalb unterschiedlich zu werten, weil sie von Freun177 Zu den Konturen dieser Theorie siehe Fuchs/Göbel (1994); Fuchs (2007); Brücher (2017; 2020). Detlef Horster hat posthum die wichtigsten Aufsätze Luhmanns zur Thematik zusammengetragen (Luhmann 2008). Zum Versuch einer friedenstheoretischen Ergänzung vgl. Brücher (2002).

179

den oder von Feinden ausgeführt wird. Um eben selbige Urteile ad personam zu vermeiden, wird der Akteur von konkreten Menschen abstrahiert und im Schnittpunkt der Trinität von Machendem, Machen und Machbarem verortet. Als Träger von Handlungen kommen jetzt Subjekte als spezifizierte Wirkkräfte in Betracht. In der damaligen Nomenklatur sind dies Gott, Engel, Himmel, Mensch, Vorstellungskraft, Sinnenkraft, Vegetative Kraft, Elementare Kraft, Instrumentelle Kraft. (Lullus 1999, 55-75).178 Auffällig ist, dass der Friede weder unter den Grundwürden noch den Tugenden erwähnt wird. Zu den relevanten Tugenden zählen Gerechtigkeit, Klugheit, Stärke, Mäßigkeit, Glaube, Hoffnung, Nächstenliebe, Geduld, Mitleid. Obgleich unerwähnt, geht es Lull um nichts Anderes als eben die Befähigung zu friedlichen Formen der Konfliktregelung. In der Parabel scheint der Akzent auf dem Frieden mit sich selbst zu liegen, der beim Heiden, dem heutigen Verständnis nach, im quasi pathologischen Leiden an der eigenen Hinfälligkeit und Sterblichkeit, gestört zu sein scheint. Als sekundärer Effekt gelungener Heilung stellt sich bei den drei Religionsgelehrten ein neues Verständnis dessen ein, was als Friede im Allgemeinen und was als Religionsfriede im Besonderen gemeint sein könnte. Insofern umgreift die Symbolik der Gartenszene alle Aspekte des Friedens. Der Wechsel von der psychisch-personalen zur kulturell-sozialen Ebene gelingt durch den Programmbegriff, der bei Lull dem Begriff der Ars entspricht. Kunst wird im okzidentalen Mittelalter vom technisch-handwerklichen Können her verstanden, und die Ars möchte als kombinatorische, algorithmische Kunst des Programmierens verstanden sein. Erinnerlich fungiert der Programmbegriff im systemtheoretischen Deutungskontext als Bezeichnung für die steuernde Struktur eines Informationsverarbeitungsprozesses. Die Zeitfolge von Nachrichten erhält eine Ordnung. Zeit wird als Ordnungsfaktor eingesetzt. Aber wie geschieht dies im Falle der Ars und woran lässt sich die Modalität erkennen? Die Antwort Lulls lautet: durch relationale Begriffe, die anzeigen, dass etwas sowohl der Fall als auch nicht der Fall sein kann. Dieser antiaristotelische Ansatz rechnet mit Paradoxien, von denen Luhmann behauptet, die ontologische Metaphysik habe sie kaschieren müssen, weil andernfalls die zweiwertige Logik brüchig geworden wäre. Es geht um das Wirkungsgeschehen, bei Lull als Bekehrung, bei Luhmann als zurechenbare Operation und mithin als Handeln verstanden. Dieses lässt sich nicht substanziell fassen, nicht als Sachaussage fixieren, weil Bewegung zeitlich und folglich ist und nicht ist. Der Zweckbegriff hat nach Luhmann 178 Bemerkenswert ist der Begriff des Menschen, der wieder im Schnittpunkt der Trinität von Machendem, Machen und Machbaren als „Homo est animal homificans“ definiert wird und mithin als ein Sinnenwesen, das sich zum Menschen macht. Vgl. Alexander Fidora (Einführung zu Lullus 1999, XXVf.).

180

(1973, 8) die Funktion, das Scheitern der ontologischen Prämisse zu verdecken, nach der das Seiende in seinem Sein beständig sein müsse und darin mit sich identische Substanz. Lull nennt den Frieden zwar als Zweck, aber er entkleidet diesen seiner Funktion, das Ungreifbare einer auf dieses Ziel hinsteuernden Bewegung in Gestalt einer konkreten Antwort auf die Frage zu kaschieren, was gesagt und was getan werden muss, um Frieden und nicht eine Fortsetzung der Konflikte zu bewirken. Der Zweck verliert diese von der Logik auferlegte Funktion, indem der Friede als Zweckprogramm Gestalt annimmt. Bei Luhmann (1973, 101f) heißt es, das Zweckprogramm regele „den Ausstoß des Systems, die Wirkung in der Umwelt, die das System bewirken soll.“ Es heißt wohlgemerkt regelt, nicht bewirkt. Was das Programm und folglich auch die Ars Combinatoria nicht gewährleisten können, ist das sichere Eintreten der bezweckten Wirkung. Die Ars ist kein Mittel zum Zweck des Friedens. Aber als Regelung oder als steuernde Struktur eines Informationsflusses mediatisiert sie die immer wieder neu anfallenden Entscheidungen. Sie rückt die schriftlich fixierten normativen Größen, die Vorzugswerte und pejorativen Begriffe in den Horizont vergleichender Betrachtung und hindert daran, Deutungskontext und Interessenlagen des Anderen und Fremden außer Acht zu lassen. Dieses Pejorative, die negative Beschaffenheit von Handlungen, sind im damaligen Verständnis Laster wie Geiz, Völlerei, Unkeuschheit, Hochmut, Trägheit, Neid, Zorn, Lüge, Unbeständigkeit. Selbige sehen sich im Schnittpunkt der Selbst- und Fremdzuschreibung innerhalb der Rotationsscheiben der Ars als wechselseitiges Muster der Stigmatisierung entschärft, ohne dass es hierzu Sekundärtugenden wie Toleranz und Nachsicht bedürfte.

Die Medienfunktion des gelebten Lebens Das Medium gewinnt eine geradezu zentrale Bedeutung, wenn bedacht wird, dass der Autor der Ars ein christlicher Mönch ist. Nach Eckhard Nordhofen (2020, 2022) formiert sich das Christentum als Reaktion auf das Schriftproblem der Buchreligionen. Da religiöse Zuschreibungen, wie Gotteskindschaft und Gottessohn, nicht als Selbstbezeugung der Gründerfigur Jesus von Nazareth, sondern als Interpretation späterer Evangelisten und mithin schriftlich fixierter Berichte der Jünger überliefert sind, liegt es nahe, den Sinn nicht metaphysisch und moralisch, sondern medienkritisch zu deuten. Die Inkarnation, die Fleischwerdung Gottes, richtet sich als Idee nicht nur gegen die polytheistische Herstellung heiliger Bilder durch Menschenhand, sondern auch gegen ein schriftgläubiges allzu kon-

181

kretes Normgerüst des Talmuds, der neben den Zehn Geboten 248 Gebote und 365 Verbote enthält. Nicht nur die Aneignung, die enorme Gedächtnisleistung, die notwendig ist, um zu wissen, was ein gottgefälliges Leben verlangt, stellt vor große Herausforderungen. Schwieriger noch ist die Umsetzung in konkretes Handeln. Da niemand den Willen Gottes kennt, besteht sein Name doch in der puren Ausrufung seines Daseins JHWH Ich bin der ich bin da, birgt die Gott zugeschriebene Normierung eine zweifache Gefahr, der nicht nur die jüdische, sondern auch die christlichen und die islamischen Religionen erlegen sind. Die mediale Ausgangslage verleitet zur Bestimmung und Konkretisierung des Normsetzers. Damit verbunden sind die friedensgefährdenden Begleiterscheinungen eines eifersüchtigen und streitbaren Gottes, der mit anderen Gottesbildern in Konflikt gerät. Im Christentum steigert sich diese Schriftfixierung im 16. Jahrhundert mit den Bemühungen Luthers, die Erfindung des Buchdrucks für Reformzwecke nutzbar zu machen. Aber nicht erst die zahllosen protestantischen Ausdifferenzierungen des Christentums neigen zur Identifizierung der religiösen mit einer moralisch-normativen Aussage. Diese Tendenz wird durch die bloße Verschriftlichung des gesprochenen Wortes allein deshalb befeuert, weil das Fixierte sehr rasch zum Festgestellten und also zum vermeintlichen Wissen degeneriert. Die Folge ist Streit um etwas, das man gar nicht wissen kann, nämlich das objektiv Gerechte und Gute bei Platon, oder, um den gleichsinnig verstandenen Willen Gottes in den Schriftreligionen. Während Italien mit einer einheitlichen christlichen Bevölkerung mehr mit dem Problem der Verweltlichung und mithin der Verklammerung von Religion und Macht konfrontiert ist – ein Problem, dem Franz von Assisi im 13. Jahrhundert mit einer Armutsbewegung gegenzusteuern sucht – ist Spanien als Austragungsort der Konflikte zwischen den drei monotheistischen Religionen mit Problemen konfrontiert, die nicht durch Ordensgründungen aufgefangen werden konnten. Die Bedeutungsschwere des Mediums liegt mithin in der je unterschiedlichen Antwort auf die Frage, wie Normen und Werte in der konkreten Situation in Handeln übersetzt werden können. Der schriftfixierte Normgebrauch geht in der Präzisierung von Geboten und Verboten zu weit, so lautet der gegen die Grammateis, die Schriftler erhobene Vorwurf der frühen Christen gegen jüdische Pharisäer und Repräsentanten der römischen Zivilreligion. Der Katalog von Vorschriften hindert den Handelnden am einfühlenden, mitleidigen und nachsichtigen Umgang mit den Mitmenschen. Dennoch verlässt dieses frühe Christentum nicht die hinter der Hyperregulierung und Normierung stehende Programmidee. Das heißt: Es sollen weder die Regeln gebrochen noch die Normen in ihrer Geltung in

182

Frage gestellt und somit soll auch keine aversive Haltung gegenüber dem Judentum befördert werden. Misstraut wird jedoch der besonderen Art der Programmgestaltung und das will sagen, der Art und Weise, in der die Zeitfolge von Nachrichten in einem invarianten Normengerüst geregelt wird. Die Regelung dessen, was unbedingt befolgt werden muss und was als nachrangig eingestuft wird und folglich im Augenblick zu vernachlässigen, scheint allzu oft eine Machtfrage zu sein. Allein die Komplexität und mithin die große Zahl in der konkreten Entscheidungssituation zu bedenkender Gebote und Verbote zwingt zur Selektion und drängt den Entscheidungsträger gewollt oder ungewollt zur Willkür. Systemtheoretisch formuliert: Nicht die Form und mithin die Unterscheidung von Gut und Böse, von Tugenden und Lastern steht in Frage, sondern ausschließlich das Medium. Es wird dem geschriebenen Wort nicht zugetraut, den Informationsfluss so steuern zu können, dass die Unterscheidung von Vordringlichem und Nachgeordnetem dem Einzelnen, seinen Nöten, seinen Bedürfnissen und Leiden gerecht wird. Platon sucht erinnerlich diesem Problem der zunehmenden Abwendung und Entfremdung vom echten Leben, wie er es bei verschriftlichten Normierungen meint beobachten zu können, durch einen Dialog zu korrigieren, der das Ziel verfolgt, alle Fragen im hin und her wenden der Argumente näherungsweise zu beantworten. Demgegenüber setzen die Evangelisten auf die Vorbildfunktion eines gelebten Lebens. Zentral werden jetzt die verschiedenen Episoden, in denen vorgeführt wird, wie in Situationen kollidierender Normen verfahren werden soll. Ein sehr eindringliches Beispiel ist die Szene der Ehebrecherin, die gesteinigt werden soll, wie es die kodifizierte Strafe verlangt. Jesus stellt nicht die Verbots- und Strafregelung zur Diskussion, etwa die Frage der Verhältnismäßigkeit. Vielmehr rekurriert er auf eine andere Programmebene mit dem Satz „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“. Die entscheidende Aussage verbirgt sich im medialen Wechsel von der Schrift zum vorgelebten Leben, was zur Folge hat, dass die Frau straffrei bleibt, aber von Jesus aufgefordert wird, nicht länger zu sündigen.179 Das vorgelebte Leben ist steuerndes Programm, das Vordringliches und Nachgeordnetes in den vielzähligen Begebenheiten des konkreten Lebens immer wieder neu aufzeigt. Problembewältigung im Medium einer internalisierten vorbildlichen Lebensführung verspricht einen den konkreten menschlichen Belangen mehr entgegenkommenden Umgang mit dem Problem der Normkollision, das ständig dort auftritt, wo unvereinbare Normen zugleich befolgt werden sollen, im Judentum zum Beispiel: nicht die Ehe brechen und nicht töten. Diese Medienfunktion des gelebten Lebens 179 Siehe Verse 7,53 – 8,11 des Johannesevangeliums.

183

tritt mit der Konstantinischen Wende im Jahre 380 in den Hintergrund, nachdem das Christentum von einer machtkritischen zu einer staatstragenden Religion geworden war und infolgedessen wieder stärker auf Verbildlichung und Verschriftlichung der Lehre angewiesen sein mochte. Ideale sehen sich auf eine distinkte handlungsanleitende Sinnstruktur verkürzt. Während ein im Lichte unterschiedlicher Episoden perspektivisch aufgefächerter Begriff der Gerechtigkeit im Medium des Lebens Jesu gegen Eindeutigkeit und Klarheit vortäuschende Definitionen verwahrt, verlangt die schriftlich mediatisierte Gerechtigkeit genau solcher Präzisierungen. Präzisierung aber bedeutet Dichotomisierung: Handlungen, Menschen, Regelungen, Vorschriften sind entweder gerecht oder ungerecht, entweder gut oder schlecht. Die Schrift kann nicht anders als schematisieren; sie kann allenfalls das unterscheidend Bezeichnete in einem neuen Anlauf mit Hilfe anderer Unterscheidungen relativieren, welche andere Akzente setzen. Der bloße Vorgang des Relativierens aber entwertet nur die vorangegangene Bestimmung, ohne einen gegen Kritik immunisierenden neuen Vorschlag unterbreiten zu können. Kritik klärt über Falsches und Einseitiges auf, aber sie zeigt nicht das Wahre in seiner Vielgestaltigkeit. Dies erklärt die jahrelange Suche Ramon Lulls nach einem neuen Medium, das als funktionales Äquivalent des vorbildhaften Lebens Jesu ein in Dichotomien verfangendes Denken sprengt, ohne in die zersetzende Dynamik schriftorientierter Diskurse zu geraten. Wie kann man relationieren, ohne zu relativieren? Wie lässt sich Komplexität reduzieren, ohne dieselbe zu vernichten? So würde die Systemtheorie die Frage Lulls formulieren. Im Relativieren der Glaubenswahrheiten Anderer und im Ignorieren der Komplexität wird nämlich das Ringen um Wahrheit durch den Kampf um Machtpositionen ersetzt. Damit ist eine Lösung gewählt, die den blutigen Konkurrenzkampf nur anheizt, zu Zeiten von Lull in erster Linie zwischen Christen und Moslems, heute zwischen Technokraten und Demokraten. Die medienkritische Sicht auf kulturelle Erneuerungsbewegungen lenkt den Blick auf das von Platon beschriebene Problem der Entfremdung, wie er sie im Übergang von mündlicher zu schriftlicher Kulturvermittlung meinte beobachten zu können. Die schriftlich fixierte Erkenntnis bringt die bislang bloß lose gekoppelten Sinnsegmente in die Form fester Koppelung, in nur so und nicht anders zu verstehende Bedeutungen. Schriftlichkeit verführt zu vorschneller Mustererkennung. Die systemtheoretische Ausdrucksform spitzt den Sachverhalt auf eine Differenz zu, die sich heute im Übergang von printmedialen zu elektronischen und digitalen Medien in ihrer extremsten Gestalt der Differenz von Medium und Maschine abzeichnet. Und es ist womöglich diese Extremform, die das Problem der

184

Entfremdung in einer neuen und der heutigen Zeit angemessenen Weise bewusstmachen kann. Die Art der funktionalen Differenzierungsform hindert die einzelne bloß noch als Trägerin und Empfängerin von wirtschaftlichen, rechtlichen, ökonomischen, politischen und medizinischen Funktionen angesprochene Person an konziser Selbstdarstellung. Zu dieser funktionalen Zersplitterung tritt nun im digitalen Zeitalter die materiale Zersplitterung in eine maschineverschmolzene Leiblichkeit, die mit den bisherigen Überformungen durch soziokulturelle Techniken nichts mehr gemein hat. Es sind drei Aspekte der medial, der gesellschaftsstrukturell und der wissenschaftlich-technisch-ökonomisch bedingten Entfremdung, die sich zuzuspitzen beginnt, weil letztere auf die gesamte Biosphäre ausgreift. Dies ist der Grund, weshalb an dieser Stelle der ideengeschichtlich überfrachtete Begriff der Entfremdung verwendet wird und zwar als Triebkraft einer nicht bloß um den Fortbestand der Natur, sondern gleichsinnig um den Fortbestand des Menschen besorgten Bewegung.

Zur Praxis der Komplexität: Natur- und Menschenschutzbewegung. Um den Bogen vom dreigliedrigen Begriff der Entfremdung – medial, gesellschaftsstrukturell, wissenschaftlich-technisch-ökonomisch – zum Phänomen der sozialen Bewegungen zu schlagen, bedarf es einer kurzen Rekapitulation bisheriger Gedankengänge. Dabei geht es stets um die Annäherung an einen der Digitalisierung angemessenen kulturellen Umgang mit dem Problem der Komplexität und das heißt immer auch der Kontingenz. Dass übereinstimmende Sichtweisen schmerzlich vermisst werden, ist kein modernes Phänomen und so liegt es nahe, historische Erinnerungen an bisherige Konfliktlösungsvorschläge wachzurufen. Das medienbedingte Problem besteht erinnerlich bei schriftlicher Kommunikation in der Tatsache, dass Buchstaben nicht antworten können und folglich nur schwer auszugleichen ist, was echtem Verstehen hinderlich ist, nämlich die Verkürzung des Sinngehalts. So zeigt Ramon Lull in seinem Gleichnis vom Heiden und den drei Weisen zunächst nur das Faktum des Primats der Lösung gegenüber dem Problem, indem er eine kommunikative Situation inszeniert, in der Komplexität und mithin der komplette Sinnhorizont vor Augen tritt. Dies kann im 13. Jahrhundert und somit mindestens eintausendachthundert Jahre nach Erfindung der Schrift nicht das einfache Zurück zur mündlichen Kommunikation sein. Denn die langjährige Schriftkultur hatte bewirkt, was Platon befürchtete. Das in sich differenzierte hochkom-

185

plexe Ineinander von Wort, Begriff, Darstellung und Idee war tendenziell in einer einzigen Schulmeinung zusammengezogen. Und da eben dies Zusammenziehen letztlich nicht möglich ist, hatten sich eine Vielzahl von gegeneinander antretenden und gegeneinander kämpfenden Schulen herausgebildet. Der Kampf musste von nun an ersetzen, was Kommunikation nicht mehr leisten konnte, nämlich ein sich Verstehen oder auch nur ein sich verständigen. Dies ist der in den Augen Lulls fehlgeschlagene Friedensansatz der Pax, der, sei es mit verbalen oder mit nonverbalen, mit zivilen oder militärischen Mitteln zur Aufgabe hatte jene Einheitlichkeit herzustellen, die ein sich Verstehen möglich macht. Wenn nun folglich der Boden schriftlicher Kommunikation in der Gartenszene zwar verlassen wird, jedoch die naheliegende mündliche Kommunikation von schriftkulturellen Traditionen längst vergiftet worden war, so mussten neue Wege gefunden werden. Zunächst galt es jedoch die Richtung zu zeigen, in der sich die Suche nach schriftkompensierenden Verfahrensweisen bewegen könnte. Und dies schien Lull nur möglich durch die paradoxe Intervention durchkreuzter Erwartungen. Es ist die erwartete, aber ausgebliebene Antwort, die von der schriftkulturell überformten Sprache weg über etwas ganz Anderes mitzuteilen beginnt. Was plötzlich offen zutage tritt, ist der von Profilierungs- und Abgrenzungszwängen abstrahierende Sinn der einzelnen Denkschulen, einen zeitgemäßen Umgang mit temporalen Unterscheidungen anzubieten. Dies bedeutet aber nichts anderes, als das Problem des notwendig endenden Lebens und mithin das Erschrecken auslösende Problem des Todes in eine handhabbare Form zu bringen. An dieser Methode der paradoxen Intervention galt es in der Folgezeit anzuknüpfen, wollte oder konnte man doch auf die medientechnischen Vorschläge eines Computers nicht zurückgreifen. Und um die kurze Zusammenfassung zu Ende zu bringen, seien an die beiden oben genannten kompensatorischen Vorschläge, die coincidentia oppositorum des Cusanus und den Topos der Besten aller Welten von Leibnitz erinnert. Selbige versuchen dies Mittel paradoxer Intervention im dafür ungeeigneten Medium der Schrift anzuwenden. Damit kommen wir zur Frage, wie die heutige Zeit versucht, der medial von Schrift über Buchdruck zum Computer fortgeschrittenen und technisch perfektionierten Verkürzung des Sinnhorizonts beizukommen. Es geht mithin um die Restitution der Komplexität im Sinnerleben als Voraussetzung für Resonanz. Auch heute gilt zunächst, was Lull in der Gartenszene meinte beherzigen zu müssen und dies in einem verstärkten Maß. Das schlichte Zurück zum mündlichen Austausch bleibt nicht nur verwehrt, weil eine inzwischen zweitausendsiebenhundertjährige Schriftkultur die Zahl gegeneinander antretender Schulen nur vergrößert hat. Die Multipli-

186

kationseffekte des Buchdrucks haben Profilierungs- und Abgrenzungsbedürfnisse noch einmal gesteigert und machen es den einzelnen Menschen schwer, sich zurechtzufinden, aber auch, vom einmal gewonnen Profil wieder abzurücken. Wenn es schon für die Zeit vor Erfindung der Druckerpresse gegolten haben mag, dass der Kampf ersetzen musste, was Kommunikation nicht mehr leisten konnte, dann gilt dies auf der Grundlage zweier weiterer Medienrevolutionen erst recht: Der Kampf kompensiert Verstehen oder auch nur ein sich verständigen. Nun hat die heutige Zeit zweifellos erreicht, was sich Lull erträumte, nämlich die allgemeine Handhabung einer Maschine, die es erlaubt, eine jede Position (Lehre, Schule) in ihren starken und überzeugenden Argumenten zugänglich zu machen und damit die übelwollende feindliche Fremdperspektive einzuhegen. Dennoch bleibt die Friedensdividende aus. So lässt sich die Selbstbezeugung, welche bislang allenfalls im Rahmen eines eingehenden Studiums von Originalen und fachlichen Austauschs zugänglich war, in Gestalt von Vorträgen und Interviews auf den Bildschirmen zwar allgemein verfolgen. Aber die Überhangeffekte des eingelebten Mediengebrauchs strangulieren die Bereitwilligkeit, selbige Foren zu kontaktieren und sich für neue Argumente zu öffnen. Der erleichterte Zugang nutzt nichts, wenn die gesamtgesellschaftliche Antwort auf die Neuerungen doch wieder nur zur fortgesetzten Ausdifferenzierung von Schulen und Lehrmeinungen führt. Wieder sehen sich die Menschen gegeneinander in Stellung gebracht: Parteigänger der Maschine (Technokraten, Dataisten, Transhumanisten) polemisieren gegen Parteigänger des Mediums (Demokraten, Datenverweigerer, Humanisten) und gebären auf dem Feld der Kosmologie, der Anthropologie, der Vergangenheits- und der Zukunftsorientierung immer weitere interne Subdifferenzierung der nämlichen weltanschaulichen Stoßkraft. Da jede dezidierte Parteinahme für die Maschine abolitionistische Tendenzen aufweist und Kultur schlechthin durch global synchronisierte Narrative zu ersetzen sucht, offenbart sie ihr neokoloniales Kolorit. Denn die große Bedeutung, die der Kulturhistorie im Globalen Süden beigemessen wird, macht alle Versuche der Marginalisierung kultureller zugunsten technokratischer Perspektiven verdächtig. In Friedenskonzeptionen, die sich am Modell einer universalen Pax orientieren, lässt sich die Komplexität von synchronen und diachronen Einflüssen allerdings nicht berücksichtigen. Das bedeutet, die digitale hat als maschinen- und als sozialtechnische Operation des kontinuierlichen Abschneidens von Sinnhorizonten insofern keinen Bestand, als sie den größten Teil der Weltbevölkerung gegen sich aufbringt. Aber der Computer ist mehr als eine bloße Maschine und damit ein technisch sinnverkürzender Apparat. In seiner Eigenschaft eines Mediums repräsentiert er geradezu das Gegenteil, nämlich eine lose Kop-

187

pelung von Sinnsegmenten und somit die Öffnung auf einen Horizont neuer und überraschender Möglichkeiten.180 Man könnte somit formulieren, dass eine auf Digitalisierung umgestellte Gesellschaft vor die kulturschöpferische Aufgabe gestellt wird, im Computer das Medium mit der Maschine zu versöhnen. In diesem Imperativ findet Komplexität als Kulturform moderner Gesellschaft ihr theoretisch-praktisches Movens. Bei diesem Gegeneinander von Medium und Maschine kann schon deshalb nicht stehen geblieben werden, weil es sich hierbei nicht um jenen klassischen politisch zu lösenden Typus bloß divergierender Interessen handelt. Es ist vielmehr ein der Technik immanentes Problem, das nicht durch Interessenausgleich und Ausscheidungskampf gelöst werden kann. Mensch und Cyborg stehen einander nicht gegenüber wie Konservative und Progressive.181 Wenn unbestritten sein mag, dass die umweglose Politisierung dem unfruchtbaren Gegeneinander bloß neue Nahrung verschafft, so bleibt nur die wissenschaftlich-philosophische Aufklärung. Auch die printmedial inspirierte Aufklärung des 18. Jahrhunderts nimmt von hier aus ihren Anfang, bevor sich komplexitätsreduzierende politische Parteien der Anciens und der Modernes als jenem Schisma herausbilden konnte, aus dem später das Rechts-Links-Schema hervorgehen sollte. Da mit den neuen Modalitäten der Entzweiung in Dimensionen vorgestoßen worden ist, für die keine institutionalisierten Formen des Konfliktaustrags zur Verfügung stehen, mündet wissenschaftlich-philosophische Aufklärung umweglos in Massenbewegungen. Diese sind die Form, in der sich Komplexität artikuliert. Und die Frage erhebt sich, welche Anforderungen eine vollumfänglich auf Projekte der digitalen Konvergenz eingestellte Gesellschaft an soziale Bewegungen stellt. Zunächst scheint der Problemdruck, der zu Massenmobilisierung führt, mit stets wandelnden Codierungen des Exklusionsmechanismus in Zusammenhang zu stehen. Denn hier gewinnt das Novum eines Mediums an Bedeutung, das zugleich eine Maschine ist und in dieser Gestalt soziale Schematisierungen gleichsam aus dem Boden stampfen kann, die bisher einer langen Entstehungsgeschichte bedurften. So jagt eine Freund-Feind-Konstellation die nächste: Personen, die sich für die Gender-Idee starkmachen bekämpfen Feministinnen, dem Klimaschutz verpflichtete Menschen verunglimpfen Naturschützer, Szientisten diffamieren Wissenschaftler mit abweichenden Expertisen, geimpfte Personen schmähen Ungeimpfte. Für Waffenlieferungen in Krisengebiete plädierende Gruppierungen verwehren den Parteigängern einer Verhandlungslösung das Prädikat einer Friedenspartei und vice versa. 180 Dazu ausführlich Elena Esposito (1993, 338-354). 181 Siehe die Beiträge zu den durchaus vielfältigen Transformationen menschlicher Selbstverständnisse im wissenschaftlich-technischen Fortschritt, in: Grunwald (2021).

188

Auch diese Lagerbildung innerhalb des Pazifismus folgt dem neuen digitaltechnologischen Schisma in jene Gruppierungen, die für die Maschine und jene, die für das Medium Partei ergreifen. Denn das zeitgenössische Militär folgt der übergeordneten Zielsetzung einer mensch-maschine verschmolzenen Waffentechnologie, die ein Schlacht- als Experimentierfeld für neue Kampfroboter und kämpfende Cyborgs benötigt.182 Allein daraus folgt, dass jedes Plädoyer für ein Hinauszögern von Verhandlungslösungen und somit ein mit welchen Argumenten auch immer vorgetragenes Votum für fortgesetzte Kriegsführung, den als leibseelische Einheit erfahrenen Frieden mit sich selbst ebenso unterminiert wie den Frieden mit Anderen. In seiner Zwitterstellung zählt der Computer zum sozialen System, zugleich aber auch zu dessen Umwelt. Er ist eine genuin überwachende und kontrollierende, aber auch eine genuin anarchische und freiheitsverbürgende Kraft. Und diese widerstreitenden Kräfte drängen jeden einzelnen Menschen zur Rückversicherung dessen, was ihn vor der Übermacht des Technologischen in Schutz nimmt und darüber hinaus, was er im Verhältnis zu diesem überhaupt ist. Die Digitalisierung wühlt Fragen auf, die in den Erzählungen der Moderne durch die Figur des selbst- und fremdverantwortlichen Subjekts zufriedenstellend beantwortet schienen. Dieses moderne Selbstverständnis hatte die Menschheit unterteilt in Exemplare, die aufgrund von Bildung und Sozialisation diesem hohen Anspruch der Subjektstellung genügen und Exemplare, die sich noch im Vorstadium eines Objekts von Unterweisung, von Zivilisierung, von Therapie und Disziplinierung befinden. Es liegt auf der Hand, dass diese Zweiteilung den Unmut jener Menschen hervorrufen musste, die meinten zu Unrecht auf der unterprivilegierten Seite platziert zu sein. Da es jedoch zu allen Zeiten weniger Begünstigte gegeben hat, mag dieser Faktor für die Antwort auf die existentiellen Fragen des Menschseins weniger ins Gewicht fallen als das krude Faktum funktionaler Differenzierung. Denn Fragen nach dem Guten – für Mensch (Anthropologie) und Welt/Natur (Kosmologie) im Hinblick auf das geworden Sein (Religion/Wissenschaft) und auf Befürchtetes oder Erhofftes (Apokalypse/Fortschritt) – werden im modernen funktional differenzierten Gesellschaftstypus nicht mehr durch eine hierarchische Spitze beantwortet. Ethik ist als Teil der praktischen Philosophie bloß ein Forschungsgegenstand unter anderen. Sie ist nicht mit einer gesamtgesellschaftlichen Autorität und Weisungsbefugnis ausgestattet. Deshalb und nicht aufgrund von Unzufriedenheit tritt Ethik als soziale Bewegung in Erscheinung. Anders gesagt, soziale Bewegungen sind Ethik in Aktion. In Bezug auf die Probleme von Krieg und Frieden übernimmt 182 Zur Kriegsführung 0.4 siehe die Beiträge in Wissenschaft und Frieden (W&F), 36. Jg, 4/2018.

189

der Pazifismus diese Funktion. Und allein aus diesem Grund ließ sich der zur Friedensbewegung fortentwickelte Pazifismus nicht länger auf Mittel nichtmilitärischer oder sogar nichtgewaltsamer Art beschränken. Denn die ethikinternen Divergenzen setzen sich in den sozialen Bewegungen fort.183 Am Diskurs des Pazifismus ließen sich die vergangenen dreißig Jahre die Schwierigkeiten einer auf die Friedensproblematik bezogenen Ethik beobachten, die sich nur noch als soziale Bewegung zu profilieren wusste. Dabei fungierte der Rechtspazifismus gleichsam als Garnier, das ganz im Sinne der von Luhmann am Wertbegriff exemplifizierten Handhabung die Mittelwahl zu flexibilisieren verstand. Der Begriff des Rechtspazifismus diente gleichsam als Einschaltungs- und Ausschaltungswert moralischer Kommunikation, der dafür sorgte, dass nicht jedes Rechtsverständnis militärische Verteidigung verlangt, sondern nur das Unsrige.184 Die funktional differenzierte Gesellschaft hat nach Luhmann (2008, 270-347) infolgedessen noch nicht zu einer eigenen Ethik gefunden, die analog der christlichen Religionsmoral die negativen Seiten des moralischen Unterscheidens reflektiert. Im Gegenteil profiliert sich Ethik als eine Instanz, die die Gesellschaft mit vermeintlich wohlbegründeten Kriterien des Achtens und Missachtens versorgt und damit Konflikte eher anheizt. Weil sich die Ethik der Übergangsgesellschaft zur Hure der Macht degradiert hat, bleibt einer sich selbst als Reflexionstheorie der Moral verstehenden Ethik nur noch die Straße.185 Hat die rasch voranschreitende digitaltechnische Revolutionierung der Gesellschaft dieser keine Zeit mehr gelassen, um eine Semantik und somit in erster Linie eine Ethik auszubilden, die der ins Globale ausgreifenden, international vernetzten funktionalen Differenzierung entspricht? Oder hat sich die Gesellschaft auf die Leistungskraft der sozialen Bewegungen, auf Arbeiter-, Studenten-, Friedens-, Umwelt-, Frauen-, Psychiatrie-, Lesben & Schwulen-Bewegungen allzu sehr verlassen, um sich genügend dafür zu engagieren, dass die Grundzüge einer Reflexionstheorie der Moral kulturprägend wirksam werden konnten? Fest scheint jedenfalls zu stehen, dass die vermeintlich wohl begründete Verteilung von Achtung und Missachtung nicht nur in der digitalen Kommunikation, sondern darüber hinaus in allen gesellschaftlichen Bereichen inzwischen Blüten getrieben hat, die durchaus als Zivilisationsbruch be183 Ausführlich dazu Brücher (2008; 2013). 184 Zur Pazifismus-Diskussion innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung siehe die Beiträge in Wissenschaft und Frieden (W&F) (1/2017). Zum Rechtspazifismus vgl. Brücher (2017a, 433-449). Siehe auch den Artikel Pazifismus im Staatslexikon Bd. 4, 8. Aufl. (2020, 722-725). 185 Andreas Herzel (2018) ergänzt ein demokratietheoretisches Argument: Da das Internet keine neue politische Öffentlichkeit etablieren kann, gilt ein „Zurück auf die Straße“.

190

zeichnet werden können. Die moralische hat sich wie ein Firnis über alle Formen des Unterscheidens gelegt und vergiftet jedes soziale Klima in der Politik, in der Wissenschaft, im Recht, in der Wirtschaft, in der Religion, in den Verbreitungsmedien und sogar in Medizin und Erziehungswesen. Sie motiviert zu Rufmord, zu schrillen Hetzkampagnen, zu einer Verrohung der Umgangsformen.

Anaximander und das Problem der Nichtlinearität Es lässt sich an der Kommunikation ablesen, was jeweils den größten Anteil hat, die Maschine oder das Medium. Dabei ist auszugehen von einem Begriff der Kommunikation, der als dreigliedrige Operation von Information, Mitteilung und Verstehen ein nichtlinearer und somit nicht zu steuernder Vorgang ist. Diese Begriffsbestimmung berücksichtigt beide Perspektiven, die des Senders und die des Empfängers. Sie nimmt Abstand von der frühen Kybernetik, die auf die egozentrische Sicht des Operators fokussiert war, indem sie Kommunikation als Übertragung einer Information vom Sender zum Empfänger als Machtgefälle beschrieben hatte. Diese Begrifflichkeit führt zur Exkulpierung der Sprecherposition oder der Autorschaft, wenn es um Beleidigungen, um Diffamierung und üble Nachrede, um Panikmache, verbreitete Lüge und hyperventilierende Empörung im Sinne machtpolitischer Agenden geht. Denn jetzt zählt nur die deklarierte Absicht, nur das legitimierende Narrativ der steuernden Übertragungsleistung. Die sozialkybernetische Top-down-Konditionierung von Informationsflüssen koinzidiert mit je aktuellen Freund/Feind-Konstellationen. Wenn es dennoch heißt, für die digitale Kommunikation sei nicht die Absicht des Mitteilenden entscheidend, nicht der gemeinte Sinn, sondern das Faktum einer Mitteilung als Offerte passender Anschlusskommunikation (Esposito 1993, 351f.), so beschreibt dies nur den generischen Aspekt sich selbst verstärkender kommunikativer Offerten. Die Absicht muss nicht mehr eigens bekundet werden; sie strukturiert das kommunikative Anschlussgeschehen ganz ohne Zutun. Dennoch: In seiner medialen Funktion konterkariert der Computer sich selbst determinierende Anschlüsse. Das Medium ist immer zugleich auch ein Interdependenzunterbrecher, der dafür sorgt, dass Kommunikation nicht bloß der Aktualisierung eines Gemeinten dient, sondern immer auch der Potentialisierung des Meinens. Es schafft neue Möglichkeiten der Verständigung. Bedenkt man das globale Ausmaß der Netzstruktur, in die Kommunikation heute eingebunden ist, so mag die stete Nutzung digitaler Medien von einem Prozess der Komplexierung des Denkens nolens volens auch

191

dort begleitet sein, wo noch eine große Anzahl von Menschen im linearen Denken verharren. Die Unterscheidung zwischen linearen und nichtlinearen Prozessen ist somit von einer geradezu zentralen Friedensrelevanz. Die Zuordnung ist klar ersichtlich: Wo alles und Alle ins Prokrustesbett linearer Relationen von Sender und Empfänger, von Ursache und Wirkung, von Aktion und Reaktion, von Grund und Folge, von Täter und Opfer eingepasst werden, dort liegt ein Denken in den Kategorien der Pax nahe. Denn es muss jetzt alles darangesetzt werden, dass die richtigen Sender, die richtigen Ursachen, die richtigen Aktionen und die richtigen Gründe dominieren. Wird hingegen im Bereich der Gesundheit, des Weltklimas, der Natur, des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern, den Individuen, den gesellschaftlichen Gruppierungen und Staaten Nichtlinearität konzediert, so scheitert jede Idee einer friedenssichernden und Gerechtigkeit erzwingenden globalen Dominanzstruktur an der Einsicht in die Nichtsteuerbarkeit rekursiver Prozesse. Frieden, sei es mit der Natur, mit dem Anderen, dem Andersdenkenden und Fremden lässt sich jetzt nur als Eirene, als Operation der Überleitung vom einen zum anderen Sinnverständnis denken. Er erschöpft sich im sensiblen Umgang mit Grenzen, mit den Werten, Präfenzen und Sicherheitsinteressen Anderer und mit den Eigendynamiken, die jede aggressive Operation in eine Gewaltspirale treiben kann. Der menschliche Verstand ist allerdings kaum in der Lage nichtlineare Prozesse zu erfassen. Die europäische Aufklärung hatte psychische Barrieren und kognitive Schwächen angenommen und durch Erziehung, Bildung und Therapie beheben wollen, entwickelte jedoch schließlich ein jakobinisches Zwangsinstrumentarium zur raschen Umerziehung des Menschengeschlechts, das in die Endlösung der Guillotine mündete. Aufklärung stand seit den Exzessen des Tugendterrors vor der Notwendig, das Geschehene aufzuarbeiten und die Methoden zu diskutieren, mit deren Hilfe das menschliche Denken revolutioniert werden kann. Für Kant (1968, 81) steht fest, dass dies nicht mit Gewalt geschehen kann und er bezeichnet einen Ansatz, der selbiges ignoriert, als „moralischen Terrorismus“. Die Verhältnisse sind nicht einlinig angeordnet, sondern in eine Mannigfaltigkeit eingebunden, in heutiger Sprache, in Komplexität und Konnektivität. Die Aufarbeitung und Diskussion gilt infolgedessen der Suche nach Kulturformen, die tugendterroristischen Entgleisungen entgegenwirken. Methoden der Erzwingung des moralischen Fortschritts hatten dem Bösen durch Eliminierung dessen, was jeweils als Bedingung ausgemacht wurde – Adel, Bourgeoisie, Judentum – die Grundlage entziehen wollen. Nach zwei Weltkriegen sah es im liberalen Westen so aus, als hätte ein Lernprozess eingesetzt und der Versuch sei geglückt, Buchdruck und Presse als verbreitungsmediale Vehikel mit einem soliden sprachlichen Fundament von Werten der Toleranz, der Verständigung, des Respekts, des Verstehens und

192

gelten Lassens fremder Meinungen, des Lernens und des Vertrauensvorschusses auszustatten. In auffälliger Weise verlieren diese Tugenden zusammen mit dem sie tragenden kulturellen Hintergrund im Zuge der digitalen Medienrevolution nicht nur ihre Bindewirkung. Sie werden schließlich der Lächerlichkeit preisgegeben und geraten am Ende in Verruf. All dies erscheint als Indiz für die zunehmenden Schwierigkeiten einer komplexen, digital vernetzten Gesellschaft, an Linearität und Zweiwertigkeit festzuhalten. Die Menschheit scheint erstmals vom Medium gezwungen, in den Kategorien von Komplexität und Konnektivität zu denken und dies überfordert, macht aggressiv und empfänglich für Deutungsangebote, die gegen jede Vernunft eine medial erzeugte, simulierte und klar schematisierte Wirklichkeit als jedem Faktencheck standhaltende Darstellung des Wirklichen und Wahren darbieten. Jeder kann an den Fernsehbildern mühelos die Guten von den Bösen, das Rettende von der Gefahr unterscheiden. Nun hat es mit dieser basalen Schematisierung von linearen und nichtlinearen Prozessen insofern eine besondere Bewandtnis, als mit ihr gewissermaßen die auf Schriftlichkeit gründende okzidental-orientalische Ideengeschichte ihren Anfang nimmt. Da hier die Differenz von linearen und nichtlinearen Prozessen in ihrem Kerngedanken entfaltet wird, scheint die Rückbindung für jede Zeit immer auf eine neue Weise aufschlussreich. Worauf Platon und Aristoteles und die abendländische Kulturgeschichte bis hin zu Friedrich Nietzsche (1954) und Martin Heidegger (1963) Bezug nehmen, ist ein Satz des Anaximander, der auf den Beginn des fünften vorchristlichen Jahrhunderts datiert wird: Anfang und Element aller Seienden ist das Apeiron, das Unbegrenzte, daraus entstehen die Himmel und die Kosmoi (Wohlordnung) und in ihnen das Werden und Vergehen, indem die Seienden einander Recht und Buße über ihre Ungerechtigkeit auferlegen nach dem Richterspruch der Zeit.186 Ungerechtigkeit, die im altgriechischen Denken aus der Pleonexie, dem Mehr-haben-Wollen erwächst, ist dieser Wendung gemäß eine wechselseitige und darum in ihrer Ursächlichkeit nicht zu fassen. Deshalb sind es nicht die Menschen, die über einander richten könnten und insofern ist es einzelnen mächtigen Personen auch nicht möglich, dauerhaft zu ihren Gunsten Standards der gerechten Verteilung von Macht und Eigentum zu setzen. Doch niemand entgeht dem richtenden Arm der Zeit, der Gesellschaften zerstört, die die Unkalkulierbarkeit nichtlinearer Prozesse als Faktum ignorieren und dies Einander von Recht und Sühne und mithin die 186 Zu Übersetzung und Interpretation siehe Werner Jaeger (1959), Paideia 12, S. 218, der die Deutung des Spruchs in den Zusammenhang mit der zeitgleich verfassten Lyrik des Solon stellt.

193

Wechselwirkung sich potenzierender Ungerechtigkeit ins simple Schema ihrer Grammatik pressen und damit unterschätzen. Ate ist der Begriff, in dem das komplexe Geschehen von zerstörerischen Eigendynamiken, von Gewaltspiralen komprimiert Ausdruck findet. Er bezeichnet das rächende Moment der Zeitlichkeit. Dies macht das Ausmaß deutlich, in dem das Problem nichtlinearer Prozesse im altgriechischen Denken im Zentrum steht. Wenn es die Zeit ist, die demjenigen abnimmt, was dieser mehr genommen hat als ihm zusteht, so stellt sich seit Anaximander dennoch mit Nachdruck die Frage nach den Maßstäben einer solchen Wertung. Aber auch dieser Aspekt wird in den frühen Versionen der Reflexion über verhängnisvolle Eigendynamiken sehr wohl bedacht. Er findet sich in der Wechselseitigkeit und Wechselwirkung der einander Recht und Sühne auferlegenden gemeinschaftlich Seienden, den Kosmoi, impliziert. Man erkennt den Willen, mehr haben zu wollen als einem zusteht, an der reduktionistischen Art und Weise, in der mit dem Schema Linearität/Nichtlinearität umgegangen wird. Der Anspruch auf mehr Macht und mehr Besitz ist in Gründen fundiert, die der komplexen die einfache Kasuistik einer Relation von ursächlich wirkenden Mitteln zu einem gewünschten Zweck überstülpen: Unsere Motive der Militärintervention zeugen von einer lauteren Gesinnung und sie sind in ihren Wirkungen gut kalkulierbar, während die der Anderen übelmeinenden Beweggründen entspringen und kaltblütige Risikobereitschaft an den Tag legen. So lässt sich durchaus sagen: Es ist die Verabsolutierung der Linearität als Grundstruktur alles Seienden gegenüber der Nichtlinearität, die der Gier nach mehr Macht und mehr Besitz zugrunde liegt und diese antreibt. Die bei Anaximander hervorgehobene Wechselseitigkeit und Wechselwirkung der einander Recht und Sühne auferlegenden gemeinschaftlich Seienden betont die rekursive Struktur komplexer Verhältnisse als Grundtatbestand der Welt. Wenn auch Komplexität schon immer vorausgesetzt war, so mag es doch erst in der digitalisierten Netzkommunikation immer weniger gelingen, dies Faktum zu ignorieren und auf der Suggestion linearer Korrelationen solide Dominanzstrukturen zu errichten. Dem widerspricht nicht die offensichtliche Unwilligkeit der zersplitterten und gegeneinander abgeschotteten Netzgemeinden, komplexe Sachverhalte verstehen zu wollen und die Neigung, dieselben durch schlichte moralische Gewissheiten aus dem Weg zu räumen. Denn es ist das Medium selbst, das die Befriedigung dieses psychologisch verständlichen Bedürfnisses nach einfachen Erklärungen Hindernisse in den Weg legt. Das erstrebte Ingroup-Erlebnis wird allein dadurch gestört, dass die Kommunikation im globalen Raum eines Open Access’ stattfindet, der bewirkt, dass sich zumindest langfristig jene diskreditieren, die nicht belegbare Behauptungen

194

aufstellen.187 Es gilt auch für all jene Menschen, Gemeinschaften und Staaten, die den Eigenanteil bei der Entstehung eines tödlichen Konflikts ausblenden und in manichäischen Mustern verharren. Einer gewissermaßen vom Medium erzwungenen Offenheit und Verantwortlichkeit steht heute jedoch eine reaktionäre Gesellschaft gegenüber, die in den Denk- und Verhaltensmustern der funktionalen Differenzierungsform verharrt. In Gemeinwesen, die in allen Problemfeldern die Kompetenz von Funktionsträgern nachfragt, fühlt sich die einzelne Person nicht in der Pflicht. Denn erstens liegt die Gewährleistung von Freiheit, Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Frieden und sogar Gesundheit bei den Funktionssystemen und zweitens führen die Wege der funktionsgerechten Datengewinnung bislang in der Regel an einem selbst vorbei, sodass das eigene Verhalten am Durchschnitt nichts zu ändern scheint. Die Identifizierung der Wirklichkeit mit empirischen Daten legt die Annahme einer linearen Grundstruktur in allen Bereichen nahe. Die Psychologie muss erst den Nachweis erbringen, dass die mathematische Vorstellungskraft nicht ausreicht, um exponentielle Abläufe verstehen zu können.188 Der Kategorienfehler im Ansatz ist nicht zufällig, da die Subsumtion der nichtlinearen unter die linearen Prozesse anders nicht plausibel gemacht werden könnte. Dieser besondere Kategorienfehler wird bereits von Platon in seinem Liniengleichnis beschrieben.189 Beispiele aus der Geometrie zeigen das Vorstellungsvermögen als eine Fehlerquelle sui generis adäquater Berechnungen: Die dargestellte Linie wird zur Fläche, weil sie sich nur auf diese Weise sichtbar machen lässt, ist die Linie doch per definitionem eindimensional. Als Fläche verliert die Linie ihre mathematische Funktion. Die Menschen aber neigen dazu, das Bild mit der Sache zu verwechseln: „Denn das Quadrat an sich ist es und die Diagonale an sich, um derentwillen sie ihre Erörterungen anstellen, nicht aber dasjenige, welche sie durch Zeichnungen entwerfen, und so auch in den weiteren Fällen; eben den Figuren selbst, die sie bildend und zeichnend herstellen, von denen es auch wieder Schatten und Bilder im Wasser gibt, dienen ihnen als Bilder, mit deren Hilfe sie eben das zu erkennen suchen, was niemand auf andere Weise erkennen kann als durch den denkenden Verstand.“ Der heute vielfach von psychologischer Seite vorgebrachte Rat, die187 Open Access impliziert nach der „Berlin Declaration on Open Access to Knowledge in the Sciences and Humanities“ vom 22.10.2003, das Zugänglichmachen auch von wissenschaftlichen Primär- und Metadaten, Quellentexten und von digitaler Reproduktion. 188 Siehe dazu die Experimente von Han Timmers und Willem Wagenaar „The pond – and – duck – weed problem“, in: Acta Psychologica, Volume 43, 1979, 239-251. In Bezug auf aktuelle Probleme von Pandemie, Klima und Bevölkerungswachstum siehe Christian Stöcker (2020). 189 Platon (1988, Bd. V. Der Staat, 511 St.).

195

se Inkompatibilität durch Übung der mathematischen Vorstellungskraft zu überwinden, trivialisiert die logische Lücke. Er wiederholt die kognitiv kurzschlüssige Reduktion logischer auf psycho-logische Fragen. Weil Hürden kategorialer Art nicht durch Empirie genommen werden können, stärkt dieser Ansatz blindes Systemvertrauen in angemessene Entscheidungen von Seiten der Wissenschaften und der Politik.190 In eine andere Richtung weist ein geradezu paradoxer psychologischer Ansatz zum richtigen Umgang mit Risiken, der in der Fähigkeit, Statistiken zu lesen, einen Weg zur Stärkung der Eigenverantwortung ausmachen lässt. Es sind die verunsichernden kontraintuitiven und widersprüchlichen Resultate statistischer Hochrechnungen, die für jene Menschen einen neuen Zugang zum gesunden Menschenverstand, zur inneren Stimme oder zum eigenen ‚Bauchgefühl’ eröffnen, die die statistische Methode beherrschen und deren Stärken und Schwächen kennen. (Gigerenzer 2020; 2021). Erst der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, sapere aude (Kant 1967, 55) und sich nicht an echten oder medial konstruierten Mehrheiten zu orientieren, lässt die breite Palette der Medienangebote zur Meinungsbildung nutzen. Gerd Girerenzer schlägt Faustregeln gewissermaßen als Transmissionsriemen der Verknüpfung von innerer Stimme und Datenlage vor. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass das Bauchgefühl allenfalls zur Entscheidung in dieser einen ganz bestimmten Situation taugt, aber schlechterdings nicht zu verallgemeinern ist. In der Generalisierung des je individuellen Bauchgefühls zur allgemeingültigen Faustregel liegt jene Verführung zum logisch-psycho-logischen Kurzschluss, der mit der Devise ‚Das Private ist öffentlich’ oder das ‚Subjektive ist Objektiv’ das kollektive Bereitschaftspotenzial zur Vollendung des gläsernen Menschen stärkt. All diese Beispiele führen vor Augen, dass weder der moralische Eifer noch eine auf Daten fixierte Ontologie den von Anaximander angesprochenen Selbstzerstörungstendenzen von Gesellschaften entgegenwirken können, die dies Einander von Recht und Sühne ignorieren. Wenn die logikinternen Hindernisse der Darstellung von Linearität und Nicht-Linearität kaum beseitigen werden können, so lässt sich dem Wirklichen nur gerecht werden, indem dies Faktum in der Kommunikation Ausdruck findet. Gibt es ein weltumspannendes Netz und jede Kommunikation findet nicht nur im Horizont von Big Data, sondern auch im Horizont eines jeden anderen Nutzers statt, so muss sie bestimmte Konditionen erfüllen, um als solche anschlussfähig zu sein. Die Güte im Sinne der Konnektivität von Kommunikation bemisst sich an den stets mitsignalisierten 190 Sibylle Anderl weist in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.06.2020, Nr. 157 auf die größere Akzeptanz von Maßnahmen der Sozialen Distanzierung als das Ergebnis der pädagogischen Intervention zur Verbesserung des Exponential-Verständnisses der Teilnehmer hin.

196

Modalitäten des Wechsels von Kontexturen: Wie wird mit Grenzen umgegangen? Diese Frage zielt auf die Grenze zwischen mir und dir, zwischen meiner und deiner Peergroup, meinem und deinem Geschlecht, meiner und deiner Ethnie, Nation, Kultur und so weiter. Ferner drängt sich die Frage auf, welche Bedeutung charakteristischen weltanschaulichen Profilen einzelner Personen und Bevölkerungsgruppen beigemessen wird. Und schließlich verlangt drittens die Frage beantwortet zu werden, welche kognitiven Vorkehrungen gegen selbstreproduzierende politisch-gesellschaftliche und maschinelle Systeme zu treffen sind. Das will heißen: wie über das Faktum nichtlinearer, eigendynamischer Prozesse und mithin über das Problem der Eskalation nachgedacht wird. Oder wieder anders ausgedrückt: In welcher Weise ist ein Modus der Kommunikation gewählt, der dies Nachdenken als Bestandteil der Information mitsignalisiert. Transjunktionale Operationen lassen sich als Institution 2. Ordnung beschreiben im Sinne eines bleibendes Korrektiv, wenn bislang als stabil angesehene Erwartungserwartungen nicht mehr tragen. Es handelt sich mithin nicht um Normen, nicht um ein autoritatives Sollen, das der Welt meine Standards der Bewertung aufzudrängen sucht. Damit sind die operativen Konturen der Eirene umrissen. Bevor auf die gesuchten Konturen näher einzugehen ist, muss erwähnt werden, dass auch ein Friedensverständnis universaler Pax älteste Kulturzeugnisse, wie den Spruch des Anaximander, in seinem Sinn zu interpretieren weiß. Aber diese Deutung nimmt konform der Absicht expansiver Grenzverschiebungen, einer mit zivilen und militärischen Mitteln zu erzielenden Dominanz der eigenen Kultur und Weltanschauung, ein durch vermeintliches Wissen gestütztes Vertrauen in die Kontrollierbarkeit dynamischer Prozesse, gewaltsame Züge an: Es ist ein universaler Ordnungsanspruch, der sich in der kosmischen Ordnung gespiegelt und bestätigt sieht. Diese Ordnung des Werdens und Vergehens ins Reich zwischenmenschlicher Verhältnisse zu übertragen wird zur ureigene Sache meines Staates und meines Blocksystems. Im Sinne der Pax wird der Spruch des Anaximander jetzt gemäß einer Lesart gedeutet, die den Sinn nicht im Zeitlichen, sondern im Sozialen des Rechtsgedankens verortet. Recht, das wiederum im Kontext unseres und nicht eures Verständnisses allgemeine Geltung beansprucht, sieht sich durch die kosmologische Ordnung bestätigt und zu weltweiter Implementierung ermuntert. Diese für die Moderne charakteristische Deutung findet in der Interpretation des Spruchs von Anaximander durch Nietzsche ihre präzise Ausformulierung. Dessen Übersetzung der 1903 und mithin posthum veröffentlichten Schrift „Die Philosophie im Zeitalter der Griechen“ lautet: „Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Un-

197

gerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.“ Das Werden und Vergehen impliziert als die ewige Wiederkehr des Gleichen den Auftrag oder den Willen zur Macht ganz im Sinne der bildsprachlichen Darstellung der Pax als einer gebärenden und tötenden weiblichen Gottheit, wie sie oben beschrieben worden ist. Das Zitat ist der Schrift „Holzwege“ von Heidegger entnommen, der die verschiedenen Lesarten des Spruchs kommentiert. Ihm gemäß drückt sich hier ein Denken aus, welches das Griechische, das Christentum, das Neuzeitliche und Planetarische zum Abend-Ländischen verschmilzt. Das genuin Griechische sei dabei jedoch verschüttet „und erscheint bis in unsere Tage nur noch in der römischen Prägung“. (Heidegger 1963, 342). Hier zeigt sich der kolonialistische Geist, der die Reduzierung jener bei Anaximander angesprochenen temporalen Dynamik auf die sachlichen und handfesten Fragen antreibt, wessen machtgestützes Rechtsverständnis allgemein gelten soll. Und allein daran erweist sich selbige Interpretation im netzgesellschaftlichen Kontext als anachronistisch. Heideggers Thema ist das Verhältnis von Sein (Anwesen) und Seiendem (Anwesendem) und dies sieht er bei Anaximander angesprochen. Aber die lange Rezeptionsgeschichte habe Übersetzungen zur Übertragungsleistung von einer in eine andere Sprache verkürzt und in der Auslegung der Begriffe die eigene Weltsicht ins Fremde hineinprojiziert. Um das Gemeinte nicht zu verfehlen, komme es bei der Übersetzung auf die Art und Weise an, wie von einem Sprachraum in einen anderen hinübergesetzt werde, ohne den Gegenstand aus den Augen zu verlieren. Das Sein lässt sich jetzt nicht mehr als das Werdende und das Gewordene – als Fakten und Daten im heutigen Verständnis – verstehen und damit letztlich als etwas, das im Seienden aufgeht oder sogar mit diesem identisch ist. Die Frage ist somit, wie erhält man die Differenz von Sein und Seiendem aufrecht und entkommt damit der von Heidegger so genannten „Seinsvergessenheit“. Vergessen oder nicht geachtet wird die ureigene Natur oder das ureigene Wesen eines Menschen, eines Tiers, einer Pflanze und so weiter. Das Ungerechte ist dann dem Unwahren nahe, denn hier wird nicht für deren wahres Sein Sorge getragen. Im Gegenteil wird dem Anderen das Eigene übergestülpt. Den Begriff der Wahrheit bestimmt Heidegger (1963, 321) von seinem etymologischen Ursprung des alten Wortes „war“ als die Hut. Wahrnehmen ist dann „in die Wahr nehmen“ im Sinne von „gewahren“ und „verwahren“. Wenn es sich so verhält, dass nichts Bestand haben kann, was das je spezifische Sein zugunsten eines projektiven, nur für mich und meinesgleichen idealen Seienden verkennt und somit gegen das andere und fremde Sein ungerecht wird, dann folgt daraus eine immanente Notwendigkeit: „Eines Tages werden wir lernen, unser vernutztes Wort Wahrheit aus der Wahr zu denken, und erfahren, daß Wahrheit die Wahrnis des Seins ist und daß das Sein

198

als Anwesen in sie gehört. Der Wahrnis des Seins entspricht der Hirt, der mit einer idyllischen Schäferei und Naturmystik so wenig zu tun hat, daß er nur Hirt des Seins werden kann, insofern er der Platzhalter des Nichts bleibt.“ Das Nichts ist jene Kluft, die meine Deutung der Eigenheit des Anderen von diesem selbst und seinem Selbstverständnis trennt. Es impliziert nicht nur, dem Anderen seine Freiräume zu lassen, sondern auch den grundsätzlichen Verzicht auf den Anspruch, diesen Anderen oder das Andere erkannt haben zu wollen. Denn dessen Sein zeigt sich im gleichen Zuge als NichtSein. Erst die vollends digitalisierte Gesellschaft mag nach und nach ein tieferes Verständnis für diese fundamentalontologische Sichtweise gewinnen, nachdem der Mensch noch weniger geworden ist als ein Sammelsurium aus physisch-organischen, psychischen und sozialen Determinanten, das ihm die moderne funktional differenzierte Gesellschaft zugestanden hatte. Weniger ist das, was vom je spezifisch einzelnen Menschen bleibt durch dessen Reduktion auf technisch produzierte und von Künstlicher Intelligenz nach Relevanzgesichtspunkten geordnete Set von Daten. Denn es ist hier noch nicht einmal mehr die geballte Kompetenz der Funktionsträgerschaft, die sich anmaßt, mich bestimmen zu wollen. Diese Autorität geht auf eine nach eigener Logik selegierende, von Technikern programmierte Maschine über, die sich noch weniger um mein Sein, um mein Befinden sorgt, die mir im besten Fall bloß etwas verkaufen möchte, die mich im schlechteren Fall jedoch als useless people ausmendelt.

Komplexität: Die technoide Umformatierung der Daseinsanalyse Technologen können sich als die ‚Hirten des Seins’ einer durch künstlich intelligente Maschinen transformierten Welt verstehen und damit suggerieren, deren weltverändernde Autorität überwinde die Kluft, die meine Deutung der Eigenheit des Anderen von diesem selbst und seinem Selbstverständnis trennt. Das Stichwort dieser gleichsam dialektischen Aufhebung von Selbst und Anderem in der Operation der Nichtung des Nichts lautet: digitale Transformation. Vor diesem Hintergrund ist es keineswegs befremdlich, dass Heidegger trotz seiner technophoben Einstellung im Kreise der Technologen des Silicon Valley ein höheres Ansehen genießt als ein technophiler Medientheoretiker wie Marshall McLuhan. Der an der Stanford University Literaturwissenschaft lehrende Adrian Daub stellt in einem Artikel der Neuen Züricher Zeitung die Frage, ob der Begeisterung nicht ein Missverständnis zugrundliege.191 191 „Die amerikanischen Techno-Euphoriker verehren den deutschen Technik-Verächter Martin Heidegger: Eine Spurensuche in Kalifornien.“ (NZZ 02.05.2018).

199

Da es in unserem Zusammenhang nicht um die Frage der angemessenen Deutung an und für sich geht, sondern um die etwaige Relevanz für das Verständnis des Schemas Krieg/Frieden als Pax oder als Eirene, müssen wir darauf näher eingehen. Sofern nämlich Technologen weniger an der Reflexion der Probleme des Könnensbewusstseins und mehr an der Erweiterung des Machbaren interessiert sein dürften – andernfalls wären sie nicht an der Entwicklung künstlicher neuronaler Netzwerke beteiligt – und da zweitens die abwertende Bezeichnung der Technik als Gestell im Werk Heideggers bekannt ist, muss die Faszination tiefer liegen. Sie muss auch tiefer liegen als jener von Artur O. Lovejoy, dem Gründungsvater der amerikanischen Geistesgeschichte hervorgehobene metaphysische Pathos, der das Alltägliche scheinbar ernst nehme, jedoch zugleich in einem Jargon ähnlich wie die im Silicon Valley gepflegte Sprache verfremde. Adrian Daub weist dagegen in dem erwähnten Artikel darauf hin, dass es auch um ein Neudenken und neu Zugänglichmachen des Alltags in einer dem Alltagssprecher gerade nicht mehr zugänglichen Nomenklatur gehe. Hinter dieser Verfremdung liegt im Silicon Valley nicht anders als bei Heidegger ein praktisches Anliegen und dies verbindet beide Seiten. Während bei letzterem die Verfremdung durch etymologische Rückführungen unserer Alltagssprache auf einen nicht mehr erinnerten, aber gleichwohl noch in den Konnotationen der einzelnen Begriffe aufbewahrten Sinn den Horizont zu erweitern sucht, dient die technisch verstandene Differenz der Codes zur Alltagssprache dem Verengen und Vereinfachen. Dies lässt sich freilich systemtheoretisch als Erweiterung der Komplexität durch Reduktion deuten. Denn das Vereinfachen ist nicht Selbstzweck, sondern dient dem Bau einer neuen, einer synthetisch biologischen Welt. In dieser muss tendenziell nichts mehr hingenommen werden, was dem Menschen Mühe, Entbehrung, Leid und Schmerz bereitet. An dieser Stelle gibt es jedoch keine Überschneidung mit einer ihre eigenen Erkenntnisgrundlagen reflektierenden Systemtheorie, wie sie Luhmann entwickelt hat. Und da diese Theorie gewissermaßen den Transmissionsriemen zwischen der philosophischen Tradition und modernem Denken in den Kategorien systemischer Aktanten bildet, bedarf es steter Rückbindung. In seiner Schrift Status Quo als Argument legt Luhmann (1968) auseinander, weshalb die Dialektik als Modus der Annäherung an das Problem der Komplexität nicht einfach von der Ebene der Reflexion auf die Ebene des Machens übertragen werden kann: Der reißbrettartige Bau einer neuen Welt, wie sie sich im Anschluss an die kreative Zerstörung der alten Welt als Chance bieten soll, überfordert die menschlichen Kalkulationsmöglichkeiten. Dass Komplexität nicht begriffen, sondern nur reduziert werden kann, gilt für alle Sinndimensionen, die sachliche, die soziale und die zeitliche.

200

Alles, was an Neuem geplant und durchgesetzt werden will, muss deshalb beim Gegebenen ansetzen. Dass darin keine reaktionäre Sichtweise zum Ausdruck kommt, wird zunehmend deutlich, sofern revolutionäres nicht bloßes „Beginnergefühl“ bleiben soll. Wie Robert Misik (2022) die heutige, vom Selbstverständnis der ehemals Linken abweichende Form spezifiziert, kann Zerstörung nicht als aktiv betriebene, als Tat, zum Garanten eines Besseren werden. Die ins Säkulare übertragene creatio ex nihilo bleibt metaphysisch: Sie wird zur Sache eines historisch-materialistischen Entwicklungsprozesses oder einer vergöttlichten KI, einem Homo Deus (Harari 2021). Letzterer allerdings transzendiert die bisherigen in Totalitarismen mündenden Utopien auf ein ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammendes, aber noch nicht vollumfänglich als Großexperiment in die Wege geleitetes Sciencefiction-Projekt. Dieses unterscheidet sich durch eine Form von Dialektik, welche die weithin durch die Geschichte diskreditierte Version des historisch-dialektischen Entlarvens von Verblendungszusammenhängen kapitalgetriebenen Scheins meidet. Die Welt bleibt angeblich wie sie ist, aber unser Umgang mit ihr bedarf einer radikalen Neukonzeption. Und diese besteht darin, dass sie sich einmal als „reframing“, als Neucodierung, und ein anderes Mal als „disruption“, als Zerstörung offenbart. Das Interessante dieses neuen konzeptionell aufgewerteten Begriffs der Disruption, der die Differenz von Links und Rechts, von Konservativ und Progressiv überwindet, besteht nach Adrian Daub (2021, 115-133) darin, dass jeder Bezug zur Wertsphäre gekappt wird. Während das in enger Tuchfühlung mit dem Marx’schen Revolutionsgedanken von Joseph Schumpeter einst entwickelte Konzept der kreativen Zerstörung dem Kapitalismus immerhin die Last der Rechtfertigung auferlegte und folglich immer wieder nachgewiesen werden musste, dass nur die wertlosen Teile wirtschaftlicher, politischer, erzieherischer und juristischer Verfahrensweisen zerstört werden, emanzipiert sich die technokratische Version von jedem Legitimationsdruck. Das aber bedeutet die komplette Entfernung und Entfremdung der Elite von einem als Wahl- und Staatsvolk verstandenen demokratischen Demos. Das steuerbare Gegenüber ist eine nebulöse Masse digital vernetzter Datenströme. Alles, was mehr sein möchte als ein Set von Daten, ist im Rahmen dieses weltweit ausgerollten Kontrollsystems ein Störfaktor und mehr noch ein subversives Element, das in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden muss. Das jetzt noch verbleibende Legitimitätsdenken heftet sich an den Begriff des Akzelerationismus, des galoppierenden Prozesses von Aufbau und Zerstörung.192 Hier wird Disruption im marxistischen 192 Zur beschleunigenden Rasanz als Charakteristikum von Konfliktsystemen siehe Brücher (2011, 233-237).

201

Verständnis mit dem Zerbrechen von Oligopolen in Verbindung gebracht, wobei gewachsene Institutionen wie das „Universitätswesen oder das Gesundheitswesen als Ganzes“, das „örtliche Reisebüro“, der „Buchladen um die Ecke“, die „Apotheke in der Nachbarschaft“, das „Postamt“, das „örtliche Busunternehmen“ und insgesamt der „Staat“ in diese Kategorie fallen. Es geht um einen einseitigen Kampf, „in dem der Feind als Entität erst konstruiert werden muss.“193 Es kommt gewissermaßen zu einer technoiden Umformatierung der Komplexität in ein Material für disruptive Aktivitäten. Zwar seien komplexe adaptive Systeme chaotisch, heißt es bei Schwab/ Malleret (2022, 37f.); da Komplexität aber ein bloßer Modus von Kausalität sei, lasse sich durch „... Vermischung von Mathematik, Informatik, Biologie, Physik, Psychologie, Ökonomie, Epidemiologie und anderen Disziplinen ...“ ein synthetisches Verständnis der komplexen Realität gewinnen. Nach Daub (2021, 131f.) liegt das revolutionäre Potential dem Selbstverständnis der Technokraten gemäß nicht länger bei den Benachteiligten, sondern bei jener winzigen Schicht von Milliardären, denen es gelungen ist, Regierungsbehörden, Universitätsverwaltungen, Leitmedien und Gewerkschaften auf ihre Seite zu ziehen. Damit sind wir wieder beim Thema Krieg und Frieden. Denn dieser Kontrollentwurf ist grenzsprengend angesetzt und dies widerspricht all jenen Grundsätzen, die als postkoloniale Errungenschaften das konstituieren, was sich als Weltgesellschaft etabliert hat. Dazu gehören die Maximen des Selbstbestimmungsrechts, die leibseelische Integrität, die Anerkennung der Menschenwürde und der Menschenrechte, territoriale Unversehrtheit und die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Nicht anzunehmen ist, dass die gesamte Weltbevölkerung einer synthetisch biologisch ‚reframten’ Welt zustimmen wird und ihre Selbstbestimmungsrechte an eine kleine KI-gestützte technokratische Elite abtritt. Infolgedessen bahnt sich ein neues weltgesellschaftliches Schisma mit unabsehbaren Konsequenzen unaufhaltsam seinen Weg. Und da die eine Seite für den hinfällig-sterblich-unvollkommen-ungleich-ambivalent-naturverhaftet-undurchsichtigen Menschen und die andere Seite für den stabil-immun-vollkommen-einheitlich-eindeutig-gleichen Transmenschen Partei ergreifen,194 kämpfen die Protagonisten gegen einen gesichtslosen Feind. Denn wie wollte man dem Menschen schlechthin oder dem Transmenschen schlechthin eine erkennbare Physiognomie zuteilen? 193 Vgl. Daub (2021, 129), der auf Peter Thiels Bemühung verweist, die Welt von genau dieser Ansicht zu überzeugen. 194 Christina Schües (2021) sieht in diesem Sinne im homo immunis den Inbegriff eines vom Ansatz her problematischen anthropotechnischen Entwurfs von Geburtlichkeit.

202

Bekämpft werden kann nur etwas, das als Gegenüber sichtbar ist und mit diesem Problem des unsichtbaren Feindes lässt sich auf dreierlei Weise umgehen: Zum einen kann das Gegenüber einfach gesetzt werden. Bei dieser konstruktivistischen Lösung ist der Feind ein bloßes Feindbild und dies macht blind für echte Gefahren der Feindseligkeit. Eine zweite Lösungsvariante geht im Sinne Heideggers von einem Bewandniszusammenhang aus, der dies Problem der Schwierigkeiten des Unterscheidens von Feind und Feindbild zur Grundlage jetzt noch möglicher Formen der Konfliktbewältigung macht. Oder, und dies ist das technokratisch-transhumanistische Setting: Das Faktum eines immer schon in die Verhältnisse involviert Seins, in dem die Welt nicht als Vorhandenes, sondern als Zuhandenes bewusst ist, wird ins Virtuelle übertragen und damit technisch transformiert. Adrian Daub (2018) nennt in diesem Zusammenhang Mark Weiser, den Chef des Palo Alto Research Center (Xenox Parc), eines der wichtigsten Forschungszentren des Silicon Valley als eifrigen Heidegger Leser. Dieser suche mit dem Begriff der „Zuhandenheit des Virtuellen“ einen Stand zu dokumentieren, in dem die künstliche Welt der Singularitäten nicht mehr bloß ein Gegenüber ist. Vielmehr habe sie sich in dem Sinne zu einem Bewandniszusammenhang fortentwickelt, dass sie nicht mehr abgelehnt werden könne. Daraus folgt ein deterministisches Weltbild, ein Denken in den Kategorien von nicht ausgewiesenen Sachzwängen, das sich von wissenschaftlichen Widerlegungen nicht beeindrucken lässt. Diese Zwangsläufigkeit rührt zuletzt daher, dass sich im Dataismus die Differenz zwischen Wissenschaft und Religion vollends aufzuheben beginnt und folglich die Begriffe konvertibel werden. Man kann dann von Wissenschaft, ebenso aber auch von einer „Datenreligion“ sprechen (Harari 2021, 563-608). Die Anerkennung des Unvermeidlichen impliziert demgemäß eine neue Form von Demut, die anerkennen lässt, dass es nicht länger die Menschen aus Fleisch und Blut sein können, die nach Freiheit verlangen. Dieses Vorrecht geht auf die Information über: „Wenn Leben die Bewegung von Information ist und wir glauben, dass das Leben gut ist, folgt daraus, dass wir den Informationsfluss im Universum ausweiten, vertiefen und intensivieren sollten.“ (Harari 2021, 584). Die Aufhebung der Differenz von Wissenschaft und Religion im szientistischen Weltbild ist indes ein bloßer Anspruch, der durch ein wissenschaftsphilosophisch informiertes fallibeles Verständnis von Wissenschaft herausgefordert wird.195 Der im Konzept digitaler Konvergenz fundierte Anspruch ist infolgedessen identisch mit einem Anspruch auf universale Geltung, die sich angesichts der neuen intrakorporalen auto- oder an195 Zu den Einwänden von Seiten der Biologie siehe Darshana Narayanan (2022), die Harari als gefährlichen Wissenschaftspopulisten bezeichnet, der weltanschauliche Schlüsse aus Wissenschaften ziehe (besonders Genetik und Künstlicher Intelligenz), die er nicht verstehe.

203

thropotechnischen Methoden durchaus als gewaltgestützt verstehen darf. Es handelt sich folglich um den Anspruch auf die Verwirklichung globaler Pax. Die im Raum stehende neue Aufklärung macht sich hingegen daran, die digitalmedialen Konsequenzen in einer ähnlichen Weise zu durchdenken, wie die Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts die Konsequenzen der printmedialen und zu industrietechnischen Neuerungen führenden Umbrüche reflektiert hat. Dazu gilt es zunächst, mögliche Konfliktlinien allererst zu erkennen und hierzu scheint es erforderlich, den nebulösen Begriff der Zuhandenheit des Virtuellen näher zu erläutern. Heidegger sieht erinnerlich die Aufgabe darin, die Begrenztheit des menschlichen Lebens anzuerkennen und die ganze Lebenskunst auf die kulturellen Formen des Umgangs mit Unvermeidlichem zu richten. In seiner technokratischen Umformatierung wird Zuhandenheit hingegen händelbar. In Heideggers Verständnis trägt der Begriff des Zuhandenen seine Bedeutung in sich; er liefert den Grund, weshalb sich meine Welt von der deinigen so grundlegend unterscheidet. Folglich impliziert der Begriff Grenzen des Erkennens und Machens als prinzipielle und nicht als fakultative. Das technokratische Argument muss dies nicht in Abrede stellen und vermag dennoch die Ebenen des Prinzipiellen und Fakultativen ineinander überführen, indem gesagt wird: Es sei die molekular- und nanotechnisch veränderte Welt, die einen neuen Bewandniszusammenhang bilde. In diesem sind die Grenzen des Erkennens und Machens dergestalt verschoben, dass nunmehr die digital-technische Transformation die Grenzen bestimmt, innerhalb deren Erkennen und Machen möglich ist. Der Horizont der Endlichkeit (Tod) und die Beschränktheit (Krankheit) lassen sich jetzt als je spezifisch bedingt dingfest machen und in dieser Form so einprogrammieren, dass sie nicht länger hinzunehmen sind, sondern überwunden werden können. Der entsprechende Begriff, in dem die Transformation offensichtlich wird, lautet framen, was bedeutet, Beschränktheit und Endlichkeit als zu überwindende einzuprogrammieren. Die Menschen leben fortan in einer Welt der 3D Animationen. Freilich ist damit die zentrale Intuition Heideggers verkannt, nämlich der Welt gerecht zu werden, indem man sie in ihrem Sein und somit als etwas Unzugängliches ernstnimmt und nicht auf etwas ganz Anderes, von Anderen Gewünschtes reduziert. Offensichtlich wird die von Heidegger stark gemachte Differenz von Sein und Seiendem verflüssigt und in eine Progredienz überführt mit dem erhofften Ergebnis, dass all das, was früher Geworfenheit und Unabänderlichkeit (Sein) gewesen sein mochte, heute als Veränderliches (Seiendes) erscheint. Auch macht sich der Mensch in der Technik nicht länger selbst zum Objekt, wie Heidegger den Begriff des Gestells in seinen kritischen Komponenten darlegt, wenn Technologien als in-

204

telligente Subjekte sich immer mehr dem Menschen assimilieren. In der Rezeption liegt damit eine größere Raffinesse, als auf den ersten Blick sichtbar werden mag. Denn die Autorität der Technologen und einer hier anknüpfenden globalen technokratischen Elite muss sich nicht mehr als usurpatorisch begreifen, wenn ihre Selbstermächtigung dienende Funktion hat. Worin liegt der Trick und warum kann sich die zur Disruption gesteigerte kreative Zerstörung nicht als Negation des Nichts, als gelungene Überwindung der Kluft zwischen deiner Eigenheit und meinen Projektionen verstehen? Die Antwort liegt wieder in der Verwechselung der Unterscheidung mit dem Unterschied. In diesem Fall bedeutet dies: Die Unterscheidung von Sein und Seiendem lässt sich nicht dadurch aufheben, dass ein Gegenstand wie die Maschine Attribute intelligenter Wesen antrainiert bekommt. Denn die Differenz liegt quer zur Unterscheidung von Attributen des Intelligenten oder Nichtintelligenten. Wenn Menschen einander zu Objekten machen und somit in ihrem spezifischen Sein nicht anerkennen, so impliziert dies nicht die ungleiche Verteilung von Intelligenz. Bindung – an ein Handy, einen Herzschrittmacher – so hatten wir oben gesagt, lässt sich ablehnen, Verschmelzung nicht. Und dies dementiert, was intelligente Wesen ausmacht, nämlich die Fähigkeit, Nein zu sagen. Diese Fähigkeit sieht Heidegger im Überhandnehmen des Technischen bedroht. Wenn in der Rezeptionsfreudigkeit der Heidegger’schen Daseinsanalyse zweifellos ein Missverstehen liegt, so ist dasselbe doch auf einem solch hohen Niveau angesiedelt, dass der Trick funktioniert und entlang dessen Nomenklatur ein Narrativ gezimmert werden kann, welches die Technokraten als erste Diener des globalen Seins verstehen lässt, wie der Autokrat Friedrich der Große sich weiland als erster Diener des Staates verstehen wollte. Den Umschlag vom Sein in Seiendes lässt sich jetzt an einzelnen Begriffen ablesen. Auf dem höheren Niveau einer bereits kreativ zerstörten Welt bleibt die Zuhandenheit begriffliches Zeichen für eine Weltsicht, in der die Welt nicht als das Gegenüber erscheint, sondern als der Bewandniszusammenhang, in dem wir uns immer schon bewegen. Und deshalb kann es auch nicht darum gehen, sie zu entlarven, sondern nur, sie zu entbergen. Für die Frage der Aufklärung aber ist entscheidend, ob wir uns noch diesseits oder schon jenseits dieser Transformation befinden und ein großer Teil der Menschheit scheint doch davon überzeugt zu sein, dass die umfassende synthetisch-biologische Umstellung noch nicht unsere Welt ist. Wichtig ist zu sehen, dass diese neue Konfliktkonstellation keine Neuauflage der alten Maschinenstürmerei ist und somit in der Differenz von Progressiv und Reaktionär abgebildet werden kann. Denn letztere lehnt einen industriell-technischen Fortschritt ab, der die Menschen von der Verfügbarkeit bestimmter Maschinen abhängig macht: So möchte die technophobe US-amerikanische protestantische Glaubensgemeinschaft der Amish

205

alle Fertigkeiten bewahren, die ein Leben ohne technische Hilfe erforderlich machen. Sie wollen sich nicht binden und gehen mit dieser rigorosen Einstellung neue soziale Bindungen an eine Gemeinschaft ein, die ihre Kinder vor den Berührungen und Verführungen der modernen Welt bewahren soll. Sie tauschen die eine Unfreiheit gegen eine andere ein. Genau diese Freiheit aber besteht im digitaltechnischen Stadium einer maschineverschmolzenen menschlichen Spezies nicht mehr. Und somit geht es heute nicht um die Ablehnung von Technik, sondern um die Verteidigung des Homo Sapiens in seiner Fähigkeit, Nein zu sagen. Mitunter lässt sich heute der Eindruck gewinnen, als hätten digitalisierungsbedingte kosmologische, anthropologische, religiös-wissenschaftliche und apokalyptische Irritationen die natürliche Aversion und Widerstandskraft gegen das Orwell’sche Szenario einer globaltotalitären Technokratie geschwächt und mit Freiheit kompatible Friedensvisionen entmutigt. Das sind allerdings bloß aktualitätsbezogene Stimmungsbilder, die sich als Medienreflex offenbaren und wiederum durch alternative Medien unterlaufen werden. Das digitale Medium ist auf eine andere Weise subversiv als das Printmedium, weniger durch Kritik als durch pure Komplexität. Die Beleuchtung einer Gefahr, eines Sachverhalts oder eines Ereignisses von allen Seiten, aus unterschiedlichen fachlich-wissenschaftlichen, kulturellen, länderspezifischen und lebensweltlichen Perspektiven wandelt sich von einer Norm zu einem medienbedingten Faktum. Dieses muss die Institution der Funktionsträgerschaft und damit die moderne Differenzierungsform in Gefahr bringen. Mit der Diffamierung der Komplexität als ‚alternative Fakten’ im Sinne von verschwörungstheoretischen Falschinformationen kämpft eine überlebte Gesellschaftsform um ihren Bestand.

206

V. Verknüpfungstechniken der Eirene Operatives oder ontologisch-substanzielles Trans Ist mit der Komplexität digital vernetzter Kommunikation das Friedensmodell der Pax gescheitert, in der die Leben schenkende und Leben tötende weibliche Gottheit mit der Tür verschmilzt und je nach Situationsdefinition entweder alle Eindringlinge abwehrt oder durch Expansion und Eroberung potentielle Eindringlinge im Vorfeld vernichtet? Vieles spricht dafür angesichts der globalen Dimension, die der zu bewachende Raum angenommen hat. Es geht um die idealtypische Befriedung von nichts geringerem als der gesamten Welt mit der schwer zu beantwortenden Frage, ob mit Welt jeweils die meinige oder die deinige gemeint ist. Da der Zugriff auf das Ganze ohne die biophysische Transformation des Menschen nicht möglich ist – wie wollte man anders mindestens acht Milliarden Menschen in Schach halten? – gewinnt der in nahezu allen Einzelkonflikten durchscheinende Großkonflikt zwischen Humanisten und Transhumanisten ein zentrales Gewicht. Denn nur hier wird in einer fundamentalen Weise an Menschen- und Weltbilder gerührt und dies in Bezug auf grundlegende Fragen der Kosmologie, der Anthropologie, der Apokalypse, der Religion und Wissenschaft. All den vielfach in sich zerstrittenen Bewegungen geht es um Überschreitung der überkommenen Formen logischer, moralischer und ontologischer Selbstverortung des Menschen. Und da dieser Trend ein Effekt des neuen digitaltechnologischen Rahmens ist, innerhalb dessen kommuniziert wird, bilden sich keine distinkten und abgrenzbaren Profile heraus. Denn sofern all das, was bisher mit dem Menschen in Verbindung gebracht worden war, auf ein sich selbst noch unbekanntes Anderes hin überschritten werden soll, trifft der Vorwurf gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit immer dort ins Schwarze, wo diese Bewegung ins Stocken gerät.196 Jedes Votum für den alten Menschen und das alte Normal entspringt dann feindseligen Impulsen, sieht sich der Mensch doch daran gehindert, über sich selbst hinauszuwachsen. Hierin geht der neue Diskurs weit über das hinaus, was nach dem Zweiten Weltkrieg im Anschluss an die Studie von Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson und Sanford (1950) als Syndrom eines autoritären Charakters herausgearbeitet worden war, nämlich Vorurteile, Feindbilder und Stereotypen. 196 Die Ergebnisse des Forschungsprogramms Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit werden jährlich in einer vom Institut für internationale Konflikt- und Gewaltforschung herausgegebenen Buchreihe im Suhrkamp Verlag unter dem Titel Deutsche Zustände veröffentlicht. Zu den Grundzügen siehe Kurt Möller (2017).

207

Aufgrund der subalternen transhumanistischen Zweitcodierung all der Themen, die öffentliche Diskurse bestimmen, kommt es zu immer neuen Abspaltungen und Verfeindungen in allen Gruppierungen und sozialen Milieus, die das Geschäft der Selbsttranszendierung des Menschen am vehementesten betreiben. Auf diese Weise können Zugehörigkeiten kaum noch stabile Formen annehmen. Womöglich war der Friede nie so gefährdet wie in einer Zeit, die den Menschen zur Parteinahme mit der selbstreproduzierenden Maschine nötigt, will er nicht sein zukunftsfähig progressives Image verlieren und damit das Projekt der Moderne verabschieden.197 Ist die allerorten zu beobachtende soziale Erosion wesentlich ein Reflex der Selbstmarginalisierung des Menschen im Verhältnis zu maschinellen Systemen, die nur Datenträger kennen, so gilt dies Aufbegehren letztlich dem Menschen selbst. Und dies rechtfertigt einen tiefergelegten friedenstheoretischen Ansatz, der auf allen Feldern der Logik (Sachdimension von Sinn), der Moral (soziale Sinndimension) und der Ontologie (zeitliche Sinndimension) nach Auswegen aus dieser verfahrenen Lage suchen lässt, ohne den kollektiven Trend zu Überschreitungen zu ignorieren. Das bedeutet, die digitalmedial erzeugte und mithin technisch codierte Transzendenz wird zur Grundlage einer Reflexion genommen, die unter den gegebenen Bedingungen ein friedliches Zusammenleben möglich erscheinen lässt. Damit tritt ein operativer Begriff des Trans neben ontologisch-substanzielle Konstrukte, die prinzipiell und unterschiedslos Gewachsenes durch Gemachtes ersetzen. Auf die Reflexion dieses begrifflich aufgeplusterten Präfixes kann jedoch nicht verzichtet werden, da sich hier, wie oben ausgeführt, computergenerierte Selektivität artikuliert: Nano Tech kompiliert mit Bio Tech, mit Cogno Tech, mit Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT). Was hieraus hervorgeht, ist ein Trans, oder in der Sprache von Juval Harari (2021) ein Homo Deus. Infolgedessen handelt es sich bei den humanistisch-transhumanistischen Grabenkämpfen um durchaus mehr als bloß gegeneinander antretende Ideologien. Dabei muss immer wieder daran erinnert werden, dass nämliche Positionsdifferenzen nach den gescheiterten Versuchen des Transhumanismus um die Jahrtausendwende, auf argumentativem Feld den Humanismus aus dem Feld zu schlagen, in camouflierter Gestalt moralischer Fokussierung auf Gender-, Klima-, Pandemie- und Wissenschaftsfragen in einer schwer angreifbaren Form in Erscheinung treten. Das transhumanistische Menschen- und Weltbild arbeitet sich auf diesen Feldern als dezidierte Parteinahme für das Gemachte und gegen das Gewachsene sukzessive und kaum merklich voran. 197 Dies zeigt sich im Ringen mit diesem Problem innerhalb der evolutionären Technikphilosophie, die zwischen Techniken zu unterscheiden sucht, die dem Menschen zuträglich oder abträglich sind. So Oliver Schlaudt (2022).

208

Es sieht so aus, als genüge der bloße Effekt einer von allen benutzten Technik, um dem transhumanistischen Daseinsentwurf zuzuarbeiten. Handelt es sich um ein Charakteristikum der Netzgesellschaft, das unaufhaltsam und uferlos metastasiert, dann stellt sich mit Nachdruck die Frage, ob das allerorten bevorzugte konkretistische Design zwingend ist. Gemeint sind kosmologische, anthropologische, apokalyptische und metaphysische im Sinne von religiös-wissenschaftliche Versionen, in denen die kommunikative Parteinahme für die Maschine dessen medialen Seiten verdrängt: Das Gemachte transzendiert das Gewachsene, Gender verdrängt das Geschlecht, Klima tritt an die Stelle der Natur, Inzidenzen verdrängen Krankheiten und Modelle machen Beobachtungen überflüssig. Als Medium, so hatten wir oben festgestellt, fungiert der Computer als Selektionsraum, als strukturierender Hintergrund oder als hinzunehmende Vorauswahl von Wahlmöglichkeiten nicht anders als die Medien Sprache, Schrift und Buchdruck. Medien fordern zu adäquatem Umgang heraus, aber sie entlasten die Menschen nicht von ihrer ureigenen Aufgabe, Mögliches mit Wirklichem ins Verhältnis zu setzen. Im Gegensatz dazu ist der Computer in seiner Eigenschaft einer selbstreproduzierenden Maschine usurpatorisch und er wirkt dort totalitär, wo sich der Mensch gesellschaftspolitisch als Parteigänger versteht. Der Abgleich des Wirklichen mit dem Möglichen vollzieht sich nämlich hier nach den Gesetzen programmatischer Eigenlogik, sodass dem Menschen nur noch die Aufgabe bleibt, sein Menschen- und Weltbild diesem technologischen Entwicklungsstand anzupassen. Es gilt infolgedessen all jene Daseinsentwürfe zu transzendieren, in denen der Mensch als Instanz des Ermöglichens von Möglichkeiten zur Geltung kommen konnte. Nur vor dem Hintergrund der Selbstmarginalisierung des Menschen ist die Absurdität einer ins Gegenteil verkehrten Freiheitsemphase verständlich, die sich vom aufklärerischen Vorbehalt gegenüber staatlichen Übergriffen ganz löst und Freiheit mit befreit Sein von allen Lebensgefahren identifiziert. Todesangst und Todeswunsch liegen nahe beieinander, wo der Mensch als kosmologische (CO2 Emissionen), als anthropologische (Überbevölkerung), als apokalyptische (Virenspreader) und als religiös-metaphysische (postfaktische Wirklichkeitskonstruktion) Gefahrenquelle sich selbst zur Zielscheibe wird. Der Homo Deus offenbart sich als Inbegriff des Homo Sacer, der in seiner Doppeldeutigkeit des Geweihten und Verfluchten wie kein anderer Begriff die homozidalen Tendenzen eines industrietechnischen Fortschrittsdenkens offenbart, das sich auf ein Zeitalter der synthetischen Biologie einzustellen beginnt. Konstrukte, die den Menschen zum Feind und mehr noch zum Schädling stempeln, zeigen ihr janusköpfiges Naturell am Stil moralischer Kommunikation. Denn die computergenerierten Mustererkennungsprogramme differenzieren sehr wohl zwischen useful

209

people und unuseless people. Damit untergraben kosmologische, anthropologische, apokalyptische und religiöse Spielarten des dataistisch-transhumanistisch-technokratischen Großprojekts die eigene Legitimationsbasis, indem Argumente für den stabil-immun-vollkommen-einheitlich-eindeutig-gleichen Transmenschen asymmetrisch gebaut sind.198 Moralische ist jedoch ihrer Natur nach symmetrische Kommunikation: „Das, was sie als Moral postuliert, gilt für beide Seiten und darüber hinaus für alle, denen die Kommunikation zugemutet wird.“ (Luhmann 2008, 177). Wer moralisch kommuniziert läuft Gefahr, im nächsten Augenblick selbst des crimen exeptum gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit angeklagt zu werden. Dies ist die Achillesferse und womöglich der Kipppunkt für ein Umschwenken der öffentlichen Meinung zugunsten des alten Menschen und des alten Normal, für die im heutigen Meinungsspektrum der Humanismus steht. Indem die Fallstricke der moralischen Kommunikation sichtbar gemacht werden, setzt die Korrektur am Symptom der Zersetzung immer scharfzüngiger kommunizierender Communities an, die unreflektiert das technologische Spiel der Selbstelimination der Gattung betreiben. Und es sind die Bumerangeffekte moralisch aufgeladener zwischenstaatlicher Beziehungen, hinter deren Rücken künstlich intelligente Maschinen unbemerkt einen Ausscheidungskampf gegen die menschliche Spezies führen. Am moralisierenden Typus der Kommunikation mit Korrekturen anzusetzen, bedeutet an Symptomen zu kurieren. Allein selbiges ist nicht unbedeutend, aber es sind noch keine Vorschläge dafür enthalten, wie ein friedenstaugliches Trans gestaltet werden könnte. Zunächst scheiden konkretistische Versionen aus, die der Weltbevölkerung en bloc einen bestimmten Daseinsentwurf aufzwingen wollen und die alles diffamieren oder von vornherein zu unterbinden suchen, was dem widerspricht. Ontologisch-substanzielle Vorschläge verstricken sich in logische Widersprüche, wenn aus einem erkenntnistheoretischen Konstruktivismus eine Formel der Selbstermächtigung abgeleitet wird, die schon den Hinweis auf natürliche Bedingtheiten etwa im Bereich der Zeugung als Beleidigung empfinden lässt. Offensichtlich gibt es bisher keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die gesamte Menschheit auf ein einziges kosmologisches, anthropologisches, apokalyptisches und religiöses Narrativ verständigt, in dem sich das alte Modell weltbeherrschender Pax in neuer computertechnisch aufgerüsteter Montur präsentiert. Nun sind die heute weniger diskutierten und mehr autoritativ durchgesetzten ontologisch-substanziellen Konzeptionen des digitaltechnisch er198 George Orwell (1971) hat in seinem 1945 verfassten Buch Animal Farm, das 1946 ins Deutsche übersetzt wurde, diese Logik präzise umschrieben: Alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher als die anderen.

210

zwungenen Denkens in Trans-Kategorien nicht nur insofern bedenklich, als sie die Verfeindung der Menschheit immer weiter vorantreiben. Sie werden auch der Sache nicht gerecht, um derentwillen doch der ganze Aufwand der Selbsttranszendierung betrieben und unablässig der neue Mensch und das neue Normal beschworen werden. Bei der hier in Frage stehenden Sache handelt es sich um selbstreproduzierende Maschinen oder in der Sprache Kants, um Objekte, die ein Selbstverhältnis aufweisen und insofern als Subjekte fungieren.

Argumente gegen das ontologisch-substanzielle Trans Die Vermutung dürfte nicht abwegig erscheinen, dass Menschen gegeneinander mobilmachen, weil sie keine kognitiven Instrumente für den Umgang mit dem Phänomen der Selbstreferenz hatten ausbilden können und somit unvorbereitet ins Zeitalter selbstreproduzierender Maschinen gestolpert sind. So zumindest stellt es sich dar, wenn man diesbezügliche Analysen des Kybernetikers und Logikers Gotthard Günther zu Rate zieht. Günther (2018) unterscheidet physikalische Gesetze, die für Subjekt/Objekt- oder Geist/Materie-Schematisierungen einen sinnvollen Ansatz darstellen, von kybernetischen Gesetzen, die dort greifen, wo lediglich System/Umwelt-Beziehungen ausgemacht werden können. System wird dabei als ein Begriff verstanden, der auf ein Selbstverhältnis verweist und mithin ein Etwas, das sich von einer Umwelt abgrenzt. Günther (2018, 29) verwahrt sich gegen den Verdacht, dass es sich bei diesem außerhalb des Subjekts angesiedelten Selbstverhältnisses um einen Mystizismus handele. Ein strenger Formalismus für die Selbstreflexion stehe nicht in Konkurrenz zur Metaphysik. Die industriegesellschaftliche Moderne hat ein entlang des physikalischen Gesetzesdenkens perfekt ausgeklügeltes Menschen- und Weltbild geschaffen und kann in der Konfrontation mit selbstreplizierenden und sich selbst optimierenden Maschinen gleichsam nicht anders, als ihr physikalisches Denken auf diese neuen Phänomene zu applizieren. Und da Menschen stets dazu neigen, sich mit mächtigen Akteuren zu solidarisieren, liegt es nahe, zum Parteigänger jener künstlich intelligenten Maschinen zu werden, deren Macht mit jeder App wächst, die ahnungslose Einzelne auf ihrem Handy speichern. Und es liegt wiederum nahe, all jenen Menschen feindlich gegenüberzutreten, die keine den genetischen, den gesundheitlichen, den geschlechtlichen, den ökonomischen, den energetischen und den sozialen Status anzeigende extra- oder intrakorporale App vorweisen können, beziehungsweise, die sich generell gegen die Installation solcher Apps aussprechen.

211

Ließen sich keine Auswege aus dieser Applikationspraxis finden, dann gäbe es keine sinnvolle Alternative zum Schulterschluss mit technoiden Trendsettern, die versprechen, mir im Falle der fraglosen Anerkennung einen Platz auf der Seite der useful people zu sichern. Gibt es aber Alternativen, dann lohnt der Widerspruch. Und damit kommen wir auf den logischen und ontologischen Status dieses maschinellen Objekts zurück, das für sich die Position eines Subjekts einfordert. Im Falle von Objekten, die ein Selbstverhältnis aufweisen und somit Merkmale der Subjektivität an den Tag legen, gelten andere, nämlich kybernetische Gesetze. Diese extrapoliert Gotthard Günther aus einem der erkenntnistheoretischen Kybernetik Heinz von Foersters entlehnten Prinzip des „order from noise“ (2018, 33). Die Frage, wie Ordnung möglich sei oder wie Ordnung entstehe, sieht sich als Frage nach dem Sein des Seienden zunächst durch die beiden kulturgeschichtlich herausragenden Prinzipien des „order from order“ und des „order from disorder“ beantwortet. Alles, was innerhalb der physikalischen Gesetzeslogik behandelt werden kann, folgt Aristoteles: Entweder Phänomene werden als einander ergänzend beschrieben. Hier sieht sich die ontologische Frage durch eine logische Operation der Konjunktion beantwortet. Oder Phänomene werden als einander ausschließend beschrieben und in diesem Fall greift die Operation der Disjunktion. Diese beiden bezogen auf die klassische Physik auch als Planck-Schrödiger-Prinzip bezeichneten Ordnungsformen, verfehlen künstlich intelligente maschinelle Systeme. Wie also gestaltet sich das Verhältnis zu Objekten wie Maschinen, die sich zu sich selbst verhalten? Für diesen Beziehungstypus führt Günther die „Transjunktion“ als eine neue logische Operation ein, die dem Konzept „order from noise“ entspricht. Dieser Typ von Ordnung lässt sich durchaus beschreiben: Noise wird einmal als Rauschen, dann aber auch als Störung übersetzt. Der Begriff bezeichnet ein Phänomen, bei dem weder Ordnung erkennbar ist noch deren Abwesenheit, bei dem jedoch gleichwohl vom Vorhandensein einer Ordnung ausgegangen werden muss, weil andernfalls auch das Phänomen wegfiele. Gesucht ist jetzt ein transjunktionaler Formalismus, der Auskunft gibt über das, was sich im Rahmen von Unterscheidungen wie Subjekt und Objekt, Subjektivität und Objektivität oder Geist und Materie nicht fassen lässt und bloß als ein Verhältnis von System (Selbstreferenz) und Umwelt (Fremdreferenz) hingenommen werden muss. Dies erfordert eine gemessen an bisher geltend gemachten Erkenntnisansprüchen grundsätzlich zurückhaltende Position. Denn hier treffen inkompatible Wert(e)systeme aufeinander, die weder durch das Aufzeigen von Gemeinsamkeiten (Konjunktion), noch durch das Aufzeigen von Verschiedenheiten (Disjunktion) verstanden werden können. Die Transjunktion führt Günther mithin als einen Typus

212

logischer Verknüpfungen ein, bei dem verschiedene Wert(e)systeme aufeinandertreffen, und deshalb weder die klassische aristotelische Logik noch mit dieser auf Engste verbundene Moralmaximen und Vorstellungen eines empirisch aufzuschlüsselnden Seins, Aussagekraft besitzen. Das in Klammer gesetzte e zeigt die weitergehende Anwendbarkeit der transjunktionalen Logik. In der Kritik der Urteilskraft behandelt bereits Kant Objekte, die ein Selbstverhältnis aufweisen und meint damit alle Formen vergesellschafteten Seins, angefangen bei Organismen bis hin zu Gemeinschaften.199 Um deutlich zu machen, dass es sich im Falle selbstbezüglicher Gegenstände um logische und erst in einem weiteren damit zusammenhängenden Sinn auch um moralische und ontologische Werte handelt, spricht Günther (2018, 35) auch von Stellenwertsystem oder Ortswertsystem und seit 1970 von Kontexturen. Diese Begriffe zeigen die Erweiterung des Horizonts, der zu berücksichtigen ist, wenn verschiedene Logiksysteme in den Blick genommen werden sollen. Stelle und Ort beziehen sich jeweils auf das Verhältnis zum kosmisch Ganzen, aber auch zur menschlichen Spezies im Verhältnis zu anderen Lebewesen und dies in Bezug auf das Gewordene und das Zukünftige. Bevor wir auf diese Logik näher eingehen, soll deren Dringlichkeit im Hinblick auf die Konturen heutiger Konfliktkonstellationen vor Augen geführt werden. Erst ein transjunktionaler Formalismus scheint in der Lage, einer vieldimensionierten Andersheit gerecht zu werden, wie sie in den Grabenkämpfen um Klima-, Gender-, Pandemie- und Wissenschaftsfragen im Nord-Süd- und im West-Ost-Gefälle sichtbar werden. Und erst von einer abstrakteren Warte der Logik aus lassen sich totalitär-ausbeuterisch-kolonialistisch-rassistisch-imperialistische Beziehungsstrukturen von den kognitiven Grundlagen her entgegentreten. Wenn eine Anstrengung dieses Formats ausbleibt und die Weltöffentlichkeit meint, selbigen Missständen erfolgreich entgegentreten zu können, indem sie Totalitarismus, Ausbeutung, Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus geißelt, so wird lediglich ein kommunikationsmedialer Propagandakrieg vom Zaun gebrochen, in dem US-amerikanische, chinesische oder russische Psychologie und Demagogie um die zugkräftigeren Invektiven wetteifern. Das weltkommunikative Klima gruppiert sich mit wenigen Ausnahmen um diese Zugpferde. Allein um das Immergleiche der wechselseitigen Vorwürfe gewahr zu werden, ist es unumgänglich, fremde Sichtweisen zur Kenntnis zu nehmen. Die Diffamierung alternativer Medien ist insofern Teil des Ausscheidungskampfes der Narrative und flankiert das Friedensprojekt universaler Pax. In diesem Punkt fallen die kulturellen Unterschiede ins Gewicht, die im Umgang mit den neuen Technologien weltkommunikative Gräben aufrei199 Günther (2018, 28) verwendet die weiter gefassten Begriffe Leben und Geschichte.

213

ßen. Wo die Gefahr des Abgleitens in paternalistisch-autoritäre Formen der kulturellen Bevormundung der Menschheit nicht ausgeräumt ist, wird die Kluft zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden, um die schlichteste und somit allgemeinste Form friedensrelevanter Zerwürfnisse zu nennen, immer weiter vertieft. Global aussichtsreich ist nur ein neokolonialistischer Tendenzen unverdächtiges und erst in dieser Form kulturell tragfähiges Trans, das nicht auf kosmologisch, anthropologisch, apokalyptisch und religiös orientierte Einheitskonstruktionen fokussiert ist. Es ist geradezu ein untrügliches Zeichen für die im Friedensverständnis globaler Pax geforderte universale Zugriffssicherheit, dass dieser besondere Konflikt zwischen Humanisten und Transhumanisten, zwischen Parteigängern des Mediums und Parteigängern der Maschine, kein offen ausgetragener Konflikt zwischen unvereinbaren Ideologien ist. Die öffentlichen Diskurse haben sich ganz im Recht-Links-Denken verfangen und verfehlen damit den Sachstand. Denn im transhumanistischen Daseinsentwurf wird die antagonistische Natur der zwischenmenschlichen Verhältnisse geleugnet und durch das Einheitskonstrukt der One World ersetzt. Dieses Eine inkludiert Physisch-Organisches, Psychisches, Soziales und Maschinelles und entledigt sich damit all jener Gefahren, die ihr vom Jenseits dieses Einen erwachsen könnte, insbesondere von der naturgegebenen Potentialität des Gewaltgebrauchs. Charakteristisch ist für das Friedensverständnis globaler Pax folglich das Nicht-sehen-wollen und das Nicht-sehen-dürfen der paradoxen Ausgangslage einer Begrifflichkeit, die Positionsdifferenzen nicht anerkennen kann und im gleichen Zuge auf deren Persistenz angewiesen ist. Auf eine einfache Formel gebracht: Der als Pax konzipierte Friede kennt keine gegnerischen Parteien, aber er kennt und benötigt Feinde. Infolgedessen kommt es darauf an, gewissermaßen Alles in das allinklusive Eine zu ziehen. Und dazu dient das Projekt der Verschmelzung nicht nur des Menschen mit der Maschine als einer Operation, die an die Potentialität des Gewaltgebrauchs dadurch rührt, dass Überwachung und Kontrolle auch psycho-somatisch und somit intrakorporal erfolgen. Nicht minder bedeutsam ist die umgekehrte Verschmelzung der Maschine mit dem Menschen als einem Prozess, der an tiefste Gefühle von Mitmenschlichkeit rührt, der Humanität und Moralität untergräbt. In diesem Punkt dürfte der öffentlich diskutierte von Blake Lemoine für sein Programm LaMDA beantragter Personenstatus, von dem oben die Rede war, eine große und womöglich wegweisende Bedeutung haben. Entsprechend verändern sich die Disziplinierungsmethoden. Der Schwerpunkt verlagert sich von den Zielen der Erziehung und Umerziehung, die gemäß der humanistischen Tradition als Kultivierung der menschlichen Natur verstanden werden, zur generellen Substitution alles

214

Natürlichen unter eine zielgerichtet designte synthetische Biologie. Dies berührt die Friedensfrage im Kern, wenn ein körperverschmolzenes maschinelles Wesen den Personenstatus nicht anders in Anspruch zu nehmen verlangt als Menschen, die zusehends mit den vier Kerntechnologien (GRIN) verschmelzen, mit Gentechnologie, Robotik, Künstlicher Intelligenz und Nanotechnologie. Der Idee nach erübrigt sich die Friedensfrage, wenn perspektivisch Gewaltandrohung und Gewaltgebrauch ihre Funktion eines symbiotischen Mechanismus politischer Machtstabilisierung verlieren. Mit diesem Begriff charakterisiert Luhmann (1981, 228-244) ein gesamtgesellschaftliches Erwartungsmuster, das die Akzeptanz politischer Entscheidungen an die gewaltmonopolistisch abgestützte Potentialität der Beeinträchtigung von Leib und Leben koppelt.200 Obgleich die funktional differenzierte Gesellschaft ihre Modernität qua Fortschrittlichkeit aus der Emanzipation von allem Naturhaft-Vorgegeben-Tradierten ableitet, bleibt sie in ihrer Kommunikationsstruktur auf eine geradezu symbiotische Verschmelzung mit der von ihr bekämpften Natur angewiesen. Jedes einzelne der Funktionssysteme ist in seiner Codestruktur mit einem symbiotischen Mechanismus verklammert und somit in körperlichen Prozessen fundiert: Wahrnehmung dient als symbiotischer Mechanismus der Wissenschaft, Sexualität erfüllt diese Funktion für das System Familie.201 Und Gewalt verankert politische Entscheidungen im Gefühlsraum erlebten Schmerzes. Prinzipiell entlastet eine mediengesteuerte Kommunikation vom Vollzug: Die Reputation einer wissenschaftlichen Profession lässt an Wahrheitsansprüchen mitunter auch ohne detailgenauen Rekurs auf Wahrnehmbares festhalten. Ein Liebesverhältnis verlangt nicht ständigen Sex und politische Macht nicht das permanente zur Schaustellen martialischer Methoden. Entlastung bedeutet jedoch nicht Verzicht; hin und wieder müssen Exempel statuiert werden und auf diese Weise das symbiotische Arrangement erneuert. Dass die Digitalisierung an diese gesellschaftsstrukturellen Grundlagen rührt und einen anderen Typus von Vergesellschaftung inauguriert, zeigt sich an der Heftigkeit und mitunter Aggressivität, mit der die primärevidente Wirkung symbiotischer Mechanismen ausgehebelt wird. Wahrnehmung sieht sich zunehmend durch Modellierung ersetzt und somit nach und nach entwertet. Es erscheint irrelevant, ob ich mich gesund fühle, wenn 200 Symbiotische Mechanismen „sind Einrichtungen des sozialen Systems, die es diesem ermöglichen, organische Ressourcen zu aktivieren und zu dirigieren sowie Störungen aus dem organischen Bereich in sozial behandelbare Form zu bringen.“ (Luhmann 1981, 230). 201 Zur „Liebe als Passion“ als kontingente „Codierung von Intimität“ siehe die vergleichende soziokulturelle Analyse bei Luhmann (1982).

215

ein Test in meinem Körper Erreger festzustellen beansprucht. Die subjektiven Empfindungen werden durch eine Analysetechnik entmachtet; infolgedessen kommt es zu umfassender Selbstentfremdung und Selbstenteignung. Ebenso wie im wissenschaftlichen und therapeutisch-medizinischen Bereich Kontrollinstanzen eingerissen werden, so schafft der digitaltechnische Fortschritt die Voraussetzungen für eine Neucodierung politischer Gewalt. Als autotechnische Methode verliert politische Gewalt für die ahnungslose Bevölkerung ihren Schrecken. Auch hier verschwindet der Tendenz nach jegliche Widerstandskraft. Analoge Prozesse ereilt der symbiotische Mechanismus der Sexualität. So ist auf die kulturrevolutionäre Phase der sexuellen Befreiung eine Gesamtstimmungslage der Prüderie getreten, die geschlechtliche Identität an das körperlose Design wechselnder Moden bindet. Indem das Symbiotische vom Körper auf die Maschine übergeht, sieht sich Fortpflanzungsfähigkeit und somit Zweigeschlechtlichkeit marginalisiert und schließlich als Kriterium für Geschlechtlichkeit schlechtweg abgelehnt. Die Friedensvision erfolgreicher Substitution der anachronistisch gewordenen Menschheit durch eine homogene ferngesteuerte Masse von Transmenschen scheint dort, wo diese Zusammenhänge deutlich werden, zu unattraktiv, um nicht längst weltweite Aufstände provoziert und Widerstände erzeugt zu haben. Ökologische Bewegungen, die sich nicht von Macht- und Profitinteressen instrumentalisieren lassen, finden im weltgesellschaftlichen Schulterschluss ihr Komplement im Kampf um den Verbleib des einzelnen konkreten Menschen in seiner leibseelischen Integrität. Die ganze Aufmerksamkeit richtet sich damit auf das Modell der Eirene, erinnerlich in der mythologischen Gestalt einer Göttin veranschaulicht, die durch eine reich geschmückte Tür schreitet. Die Schmuckelemente dienen als Ausdruck einer kaum zu überschätzenden kulturellen Formensprache. Eirene nimmt Kontakt auf mit der gefährlichen und feindlichen Welt jenseits der Tür. Und für das Kontaktieren ist im Gegensatz zur Invasion und Intervention die kulturelle Gestalt der Operation des in Beziehung Setzens wesentlich. Es sind drei Fixpunkte, die einer kulturellen Formung bedürfen: Zum einen betrifft dies Markierungen, die das je Eigene vom Anderen abgrenzen. Ferner sind Sinnzuschreibungen und Identitätsmerkmale immer auch Modalitäten des Umgangs mit Anderen und Fremden. Schließlich bedarf es einer Symbolsprache, die mit den Dynamiken umgehen lässt, die jede Kontaktaufnahme in Gang setzen kann, eskalierende und deeskalierende. Hier liegen die Unterschiede der beiden Friedenskonzeptionen offen zu Tage: Integration in den allein friedensfähigen Weltinnenraum der Pax mittels Ausscheidungskämpfen bis zu jenem Punkt, an dem alle Gewaltmonopole dieser Welt zerstört und durch ein Weltgewaltmonopol ersetzt worden sind.

216

Das Weltfriedensprojekt der Pax muss in seine Überlegungen ein atomares Inferno, aber auch eine gentechnisch modifizierte, seelisch und körperlich isolierte, ihrer natürlichen Gewaltsamkeit und somit terroristischer Potenzen beraubte Menschheit einkalkulieren. Lässt sich im digitalen Medienzeitalter mit dem Internet der Dinge jedoch so gut wie alles in eine sich selbst reproduzierende weil mit anderen Gegenständen kommunizierende Waffe verwandeln, dann erweist sich ein Ansatz als realitätsfern und gefährlich, der in allen konkreten Konflikten die Verhandlungsbereitschaft davon abhängig macht, dass die eigene Seite über Eskalationsdominanz verfügt und somit die Friedensstandards setzen kann – im Gesundheitlichen des Friedens mit sich selbst ebenso wie im sozialen und zwischenstaatlichen Frieden mit Anderen. Alternativ dazu treten jene transjunktionalen Operationen der Eirene ins Zentrum nicht nur der wissenschaftlichen Erforschung von Krieg und Frieden, sondern darüber hinaus der Arbeit an einer der Digitalisierung angemessenen Kultur.

Argumente der mehrwertigen Logik für ein operatives Trans Wenn auch das technisch verstandene Transzendieren von Mensch und Natur ein Kennzeichen der globalen Netzkommunikation sein mag, so scheinen die öffentlichkeitswirksamen Kulturangebote eines neuen Menschen und eines neuen Normal nicht nur ethisch bedenklich, sondern darüber hinaus auch logisch und ontologisch unhaltbar. Das bedeutet, es ist vollkommen illusorisch zu meinen, dass es zu einem weltweiten Konsens bezüglich der Kriterien kommen könnte, nach denen die Menschheit sich selbst in Bezug auf ihre Natur, ihr Geschlecht, ihre Hinfälligkeit und ihre Endlichkeit technisch überschreiten könnte und sollte. Und da die Zerwürfnisse zwischen Humanismus und Transhumanismus tiefgreifender sein dürften als alle bisherigen Zerwürfnisse, dominiert bislang ein nicht wissen Wollen und nicht wissen Dürfen grundstürzender Konsequenzen, die das Zeitalter der synthetischen Biologie heraufbeschwört. Aber diese Geistesverfassung ist nicht sehr viel mehr als eine Interimsphase krisengebeutelter Bevölkerungen, die sich in einer Schockstarre befinden und in diesem Zustand nur eines wünschen: Die Ausnahme möge das bleiben, was sie zu sein vorgibt, nämlich Ausnahme von einer Regel. Damit bietet es sich an, weiter auszugreifen und sich stärker auf die logische Struktur des Friedensproblems zu konzentrieren. Denn sofern der politisch-digital-pharmazeutische Zugriff auf den Menschen unaufhaltsam voranschreitet und damit weltanschauliche Divergenzen ins Extrem getrieben werden, scheint es inmitten allgemeiner Konfusion immer schwieriger,

217

einen hinreichend festen im Sinne von friedenstauglichen Boden zu gewinnen. Und da die ontologisch-substanzielle Interpretation des technizistisch verstandenen Trans die Gegensätze offensichtlich verschärft, bleibt nur der Weg einer eingehenden Befassung mit dem von Gotthard Günther vorgeschlagenen transjunktionalen Formalismus. Mit dessen Hilfe lassen sich allererst die Probleme benennen, die der Koexistenz im Wege stehen. Wenn davon ausgegangen werden kann, dass Friedensprobleme erst dort sichtbar werden, wo Kontexturen unversöhnlich aufeinandertreffen, so kommt als der gesuchte Typ von Ordnung nur der „order from noise“ in Frage. Bereits damit scheiden alle konkretistischen Fassungen des Trans aus, die der Welt ein bestimmtes Narrativ aufzwingen möchten: Gender statt Geschlecht, Klima statt Natur, Inzidenzen statt Krankheiten, Modelle statt Beobachtungen. Denn in dem Augenblick, in dem man die Unvereinbarkeit von Kontexturen als Basis des Problems erkennt, wird das komplette Unverständnis alles dessen zur Ausgangslage, was vom Anderen und Fremden kommt. Die Übersetzung des „order from noise“ durch den Begriff des Rauschens scheint aus diesem Grund den Sachstand zunächst besser wiederzugeben, da das Erlebnis der Fremdheit in der Konfrontation mit anders gearteten Wert(e)systemen primär ist und Störung erst in einem zweiten Schritt bemerkt wird. Wie aber gestaltet sich die Transjunktion als eine logische Operation, die beansprucht, mit Friedensproblemen adäquater umgehen zu können als die üblichen Herangehensweisen? Die Defizite liegen auf der Hand, wenn übliche Sichtweisen innerhalb der zweiwertigen Logik verbleiben und einen Frieden konzipieren, der als „order from order“ einander ergänzende Konditionen zur Voraussetzung friedlichen Zusammenlebens machen. Für den westlichen Kulturraum charakteristisch kann hier das „Zivilisatorische Hexagon“ genannt werden, mit dem Dieter Senghaas (1995) die friedenstheoretischen und -praktischen Margen des Globalen Nordens auf den Begriff gebracht hat. Der friedensbegriffliche Idealtypus ist hier identisch mit der Faktizität bereits realisierter Demokratien, florierender Marktwirtschaften und einer menschenrechtlich orientierten Politik der OECD Staaten, die allenfalls Lücken und Grade der Unvollkommenheit aufweist.202 Die Voraussetzungen sind hier hoch gegriffen, denn die Weltbevölkerung muss übereinstimmend Begriffe wie Gewaltmonopol, Rechtsstaatlichkeit, demokratische Partizipation, soziale Gerechtigkeit, konstruktive Konfliktkultur, Interdependenz/ Affektkontrolle definieren, um einen Im202 Die Grundrichtung stammt aus der amerikanischen Forschung zur Internationalen Beziehung. Zur bundesdeutschen Rezeption in der Friedens- und Konfliktforschung siehe Dieter Senghaas’ (2004, 124-140); Ernst-Otto Czempiel (1996, 93) erklärt die Abweichungen vom Idealtypus des „Demokratischen Friedens“ unter anderem durch unzureichende Partizipation. Damit werde das kantische Mitwirkungsgebot unterlaufen.

218

puls zum Frieden und nicht sechs weitere Zankäpfel gewonnen zu haben. Wie etwa steht es mit den USA, bei denen Waffenbesitz im second amendment garantiert wird und somit Verfassungsrang genießt? So stellt sich im Anschluss an diese Friedenskonzeption die Frage, ob es Freundschaft mit Schurkenstaaten (Rawls 2002) geben kann oder ob es im Verhältnis zu diesen nicht generell eine Zeitenwende geben muss? Dies gibt allerdings nur die Perspektive Hüben wieder, die Drüben sofort die Frage aufwirft, ob der Begriff der Schurkenstaaten nicht bereits ein historisches Schurkenstück sein könnte, nichts weiter als eine Neucodierung des Feindes? Nicht minder problematisch sind friedensbegriffliche Festlegungen, die logischen Operationen der Disjunktion folgen und sich entsprechend ganz dem effizienten Kampf gegen die Übel dieser Welt verschrieben haben. Dabei kann das Übel von gestern schon heute als Menschenrecht gefordert sein, wie am Kampf um die Legitimierung der Pädophilie deutlich wird. Der friedensrelevante Ordnungsbegriff lautet in diesem Fall „order from disorder“. Mit den Problemen dieses auf Johan Galtung zurückgehenden dialektischen Friedensmodells haben wir uns im zweiten Kapitel eingehender beschäftigt. Offensichtlich sind mehr als jeweils nur zwei Werte, nämlich Positives und Negatives in Rechnung zu stellen und dies erfordert ein transjunktionales Muster, Gotthard Günther (2018, 46) spricht auch von einem Morphogramm im Sinne einer kleinsten Analyseeinheit, die Wertbeziehungen darstellen lässt. Das operativ verstandene Trans unterscheidet sich von ontologisch-substanziellen Versionen darin, dass keine neue allinklusive Weltanschauung angeboten wird, der nicht zuzustimmen als untrügliches Zeichen einer üblen Gesinnung gelesen wird. Welche logischen Strukturen, welche Morphogramme müssen im Falle von Aussagen in Betracht gezogen werden, „die Verweise auf die nicht-objektive Seite der Realität enthalten?“ (Günther 2018, 47f.) Diese Frage zielt auf das, was üblicherweise mit dem Begriff der Subjektivität bezeichnet wird. Grundsätzlich gilt: diese „kann nur durch persönliche Selbstbeobachtung erfahren werden.“ Wenn ein Kybernetiker aber davon spricht, „dass ein beobachtetes System die Verhaltensmerkmale der Subjektivität zeigt, tut er dies mit dem strengen Verständnis, dass die beobachteten Ereignisse teilweise oder ganz die logische Struktur der Transjunktion zeigen.“ Gemeint ist damit ein vom Gegenstand der Subjektivität erzwungenes Abstandnehmen von zweiwertigen Operationen. Und diese als Rejektion bezeichnete Distanzierung kennt unterschiedliche Grade oder Intensitäten. Nur teilweise muss zurückgewiesen werden, wo ein Gedanke Anspruch auf Objektivität erhebt. Denn bezogen auf seinen Inhalt ist ein Gedanke überprüfbar; er folgt den Gesetzen der zweiwertigen Logik. Das gilt jedoch nicht für die Form; diese kann durchaus akzeptiert oder rejiziert wer-

219

den. So mag der in die Tat umgesetzte Gedanke, mit der Lieferung schwerer Waffen der bedrängten und um ihre nationale Integrität ringenden Ukraine lediglich zu Hilfe geeilt, aber nicht in den Krieg gegen Russland eingetreten zu sein, nach völkerrechtlichem Urteil und/oder der Interpretation Russlands als falsch herausstellen. Unentscheidbar und somit nicht falsifizierbar aber ist die Verschiebung des Referenzrahmens, der den Krieg nicht mehr im Kontext politisch-militärischen Kalküls (Machthaben-Machtunterworfen, Sieg-Niederlage) zu bewerten sucht, sondern wirtschaftliche Gesichtspunkte einbezieht. Jetzt wird die Form (Unterscheidung) Haben-Nichthaben, Gewinn-Verlust zur bestimmenden Bezugsgröße und lenkt das Augenmerk auf energiepolitische Nachteile durch den Wegfall der russischen Gaslieferung und auf Vorteile bezüglich der Gewinne aus Umsatzsteigerungen der Waffenindustrie. Wie lässt sich dieser erste logische Kalkül, der die Eigenschaft von etwas anderem und mithin fremde Subjektivität zu bestimmen wagt, friedenstheoretisch auswerten? Wenn nur übergriffige Operationen rejiziert werden müssen, die zwischen objektivem Inhalt und subjektiver Form nicht unterscheiden, so bestünde die friedenstaugliche transjunktionale Operation in der Aufmerksamkeit für die Grenze zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven, anders gesagt, zwischen Fremdreferenziellem und Selbstreferenziellem.203 Bevor wir diesen Punkt vertiefen, soll die zweite von Günther (2018, 48) genannte subjektive Komponente der Realität genannt werden. Dies ist eine als Subjekt bezeichnete persönliche Identitätsstruktur. Hier ist die Rejektion der Zweiwertigkeit total und undifferenziert. Grundsätzlich gilt, dass in Bezug auf Aussagen über fremde Identitäten Zurückhaltung geboten ist. Dies betrifft im Bereich der Friedensproblematik die feindorientierte Reflexion kollektiver Identitätsmarker jeder Couleur, aber auch Nationalcharaktere und im Extremfall die absurde Konstruktion eines genozidalen Volkes. Der dritte Aspekt fremder und somit für mich und für uns unerreichbarer Subjektivität besteht in den Manifestationen der Selbstreferenz und mithin in dem, was bezogen auf eine Person als Selbsterkenntnis und als Selbstbewusstsein bezeichnet wird. Hier gewinnen aus kleinsten Analyseeinheiten (Morphogrammen) extrapolierte Muster eine zentrale Bedeutung. Morphogramme kommen mit zwei Werten aus (für uns/gegen uns), aber die Erkennung von Mustern bringt mindestens drei Werte ins Spiel. Es ist die Reziprozität und die in sich vielfach gespiegelte Dualität von Sche203 Die sozialphilosophische Annäherung, die den selbstzentrierten moralisierenden vertrags-, konsens-, intersubjektivitäts- und anerkennungstheoretischen Ansätzen zu entkommen sucht, spricht vom „Zwischen“ oder von „Übergängen“, die als „kommunikativer Text“ zu gestalten sind. Vgl. Kurt Röttgers (2013).

220

matisierungen einer im Geiste des Für uns/Gegen uns gestalteten Werteordnung, die Muster immer komplexer werden lässt. Wir haben es hierbei mit Erwartungserwartungen zu tun, die sich strukturell verfestigen und damit immer weniger anfällig zeigen für Ent-täuschungen. Das bedeutet im Falle sich konsolidierender Muster der Verfeindung, dass jedes Verhalten kontexthypothetisch zur Bestätigung böser Absichten missbraucht wird. Es ist nicht mehr möglich, stigmatisierende Wahrnehmungsmuster zu durchkreuzen und mit Vorleistungen einen Friedenswillen kundzutun. In Kenntnis dieser Dynamiken wählte Mahatma Gandhi als Mittel der Entkolonialisierung Indiens eine als Gewaltlose Verteidigung bezeichnete Strategie der paradoxen Intervention nicht nach moralischen, sondern nach Effizienzgesichtspunkten. Der gewaltlose Widerstand galt ihm als einzige Chance der Unterbrechung fixer Erwartungserwartungen, die kriegerische Tugenden der Tapferkeit verlangt und weder Tod noch Verletzung scheuen darf.204 Wie lässt sich dieser Komplexität der Muster gerecht werden? Gotthard Günther (2018, 50f.) greift in der Beantwortung dieser Frage auf die Philosophiegeschichte zurück, die reich an diesbezüglichen Antworten ist. Zunächst erinnert er daran, dass Negation nicht das gesuchte Konzept sein kann, denn die Negation ändert nur die „Wertbelegung“ eines Morphogramms, nicht aber das Morphogramm selbst, „das abstrakte Muster der Wertbelegung bleibt immer gleich.“ Bezogen auf unser Beispiel bedeutet dies: Nichts ist gewonnen, wenn ich die Seiten wechsele und das russische statt das amerikanische Spiel spiele. Wenn die Negation nicht zielführend ist, so kommt nur in Frage, was wir oben an Ramon Lull, Cusanus und Leibnitz als Weg ontologischer Affirmation beschrieben haben. Günther verweist auf Kant und dessen Nachfolger auf dem Gebiet der transzendentalen Logik: Fichte, Hegel und Schelling. Dabei benutzt er nicht den durch die Kritische Theorie weidlich diskreditierten Begriff der Affirmation, sondern beschränkt sich auf eine Beschreibung der formalen Struktur: Immer wenn Aussagen über Subjektivität gemacht werden sollen, taugt nur ein Konzept, das eine Reflexion von sich selbst enthält.205 Worum es einer mehrwertigen Logik gehen muss, ist eine weitergehende Formalisierung der Selbst-Iteration von Konzepten. 204 Es ist auch hier die fehlende Differenzierung zwischen moralischem und logisch-ontologischem Kalkül, die Gandhis Ansatz, der das hinduistische Prinzip der Ahimsa (Nichtverletzen) mit dem christlich-jesuanischen Prinzip der Vorleistung verbindet, dem Gutmenschentum zuordnet, das nur aufgrund der Zivilisiertheit der Engländer Erfolg haben konnte. Ausführlich dazu Brücher (2008, 239-278). Zum Versuch der Erneuerung dieses Konzepts unter dem Titel „Gütekraft“, siehe Martin Arnold (2011). 205 „Every concept we use, so goes the theory, has to be treated as an objektive reflection of itself.“ (Günther 2018, 50).

221

Bei Kant (1993, B 132) heißt es: „Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht gedacht werden könnte ...“ Für diese selbstimplikative Operation, die jede Konzeptionalisierung von Subjektivität begleitet, hat die Philosophie nach Günther den Begriff des „setzens“ eingeführt. Dieser gilt als nicht übersetzbar und fungiert deshalb im Englischen als terminus technicus. Die rekursive Struktur der Selbstimplikation, die Tatsache, dass ein Konzept der Identität nur als Konzept der Identität haltbar ist, haben wir oben am Beispiel der Besten aller Welten und der prästabilierten Harmonie bei Leibnitz ausgeführt. Die systemtheoretische Bekräftigung lautet: Der Beobachter kann nicht sehen, was er nicht sehen kann; er hängt im Positiven fest, wie immer er mit Kritik dagegen aufzubegehren versucht. Niklas Luhmann (2008, 127) erläutert dies anhand von Gödels Unentscheidbarkeitsbeweis: Zahlen implizieren immer auch Aussagen über Zahlen. Impliziert ist ein Stellenwertsystem oder Ortswertsystem, innerhalb dessen Zahlen einen Sinn auszudrücken vermögen. Ins Moralische gewendet liefert die Denkfigur wichtige Anhaltspunkte, indem sie darauf hinweist, dass Werte nicht für sich stehen. Das aussagenlogische Setting konstruiert den Unwert als Voraussetzung für die Identifizierung des Wertes. Die Konsequenzen dieser selbstimplikativen Ausgangslage für die Moral sind insofern bemerkenswert: Zwar lässt sich mit Hilfe des Schemas Gut/Böse beobachten, aber man kann nicht wissen, ob selbiges gut ist. Die Funktion der Ethik kann infolgedessen nur darin bestehen, diese Kalamität zu reflektieren. Da sich Luhmann an den streitauslösenden Begleiterscheinungen moralischer Kommunikation stößt und Ethik in ihrer kritischen Stoßrichtung mit der Aufgabe der Korrektur betraut, können wir den ethischen auf einen friedenstheoretischen Kontext hin überschreiten. Denn die Triftigkeit der ethischen Supercodierung der Moral leuchtet ja nur dann spontan ein, wenn Konflikte als etwas Negatives eingestuft werden. Luhmann gehört jener Kriegsgeneration an, für die solcherart Urteil primärevident ist. Ganz anderes gilt jedoch für eine amerikanische Konfliktsoziologie, die aus der sicheren Warte eines Landes aus urteilt, das stets zu den Angreifern und Gewinnern, aber nicht zu den Angegriffenen und Verlierern gehört. Und es wird im Nachkriegseuropa diese im Anschluss an Hans-Jürgen Krysmanski (1971) entwickelte konfliktsoziologische Richtung sein, die das Forschungsdesign der Friedens- und Konfliktforschung bestimmt. Nun sind die Luhmann’schen Reflexionen des Verhältnisses von Moral und Ethik von vornherein so gebaut, dass sie sich derlei schlichten Umwertungen des Konfliktgeschehens von etwas Negativem in etwas Positives strikt verweigern. Denn das angesprochene Problem ist nicht ein moralisches; vielmehr fußt es in einer der Moral vorausliegenden Logik: „Obwohl es

222

immer um dieselbe Unterscheidung gut/böse geht, gibt es viele Moralen je nachdem, welche Kommunikationscluster sich auf welche Programme verständigen können.“ (Luhmann 2008, 185). Dies legt moralischer Kommunikation Steine in den Weg oder schärfer formuliert, sie delegitimiert moralische Kommunikation und dies schließt die Wertung von Konflikten ein. Denn auch für Konflikte gilt: Es gibt keinen Kriterienkonsens. Die Unterscheidung von positiven und negativen Konflikten, die der Umwertung erst Züge des Plausiblen verleiht, ist willkürlich und erratisch. Und ohne einen solchen Konsens bekommt es jede universalistisch ansetzende Moral und jede reflexionstheoretische Ethik als Grundlage einer bestimmten Konfliktsoziologie mit Problemen zu tun, der die zweiwertige Logik nicht gewachsen ist. Dies ist der Grund, weshalb der fehlende Konsens einen anderen, nämlich einen mehrwertigen Typus von Logik provoziert. So mag man in der Beschreibung von Subjektivität oder von rekusiven Strukturen zwar keinesfalls zu verbindlichen Aussagen gelangen. Dennoch kann gesagt werden, dass sich Subjektivität auf ein Objektives hin überschreiten lässt und zwar dort, wo diese Rekursivität den Ausgangspunkt bildet. Mit Hilfe dieses formallogischen Instrumentariums können Muster transjunktionaler Operationen herausgearbeitet werden, die Hinweise auf das liefern könnten, was als Streitkultur und als Kultur des Respekts zur Grundlage aller Reflexionen über die Themenbereiche Frieden, Konflikt und Krieg gehört. Luhmann (2008, 185) verbleibt mit diesbezüglichen Analysen im Rahmen der modernen qua funktional differenzierten Gesellschaft und beschreibt die Raffinesse, mit der dieser Systemtypus die Schwierigkeiten ausräumt. Zwar gebe es in den Funktionssystemen Dissens, aber bedingt durch die Grenzen und durch die Autopoiesis der Funktionssysteme, sei der Trend zur Profilierung der Systeme auf der Ebene der Programme sehr viel stärker ausgeprägt. Angesichts einer Mehrheit binärer Codes könne die Gesellschaft als einheitliches System nur „polykontextural“ operieren und dies erfordere die Präsenz eines unsichtbaren „dritten Werts“, mit dem sich der Code selbst bezeichnet.206 Der Begriff der „transjunktionalen Operation“ Gotthard Günthers kommt hier zum Einsatz. Aber er beschränkt sich auf den dritten Wert der Akzeption und Rejektion von Unterscheidungen. Dieser Wert bringt sich immer dort zur Geltung, wo gefragt und schließlich entschieden wird, ob etwa pharmazeutische Produkte nach gesund-

206 In der phänomenologischen Figur des „Dritten“ (Delhom (2000) wird versucht, diese formale Struktur durch personelle Rückbindung zu garantieren und damit den verantwortungsethischen Bezug nicht zu verlieren.

223

heitlichen oder aber nach ganz anderen, etwa wirtschaftlichen oder politischen Kriterien gefördert werden sollen. Luhmann (2008, 186f.) meint einen solchen dritten Wert jeweils im Hinblick auf das besonders prekäre Verhältnis von Moral und Macht erkennen zu können, nämlich Karriereorientierung und Heuchelei. Erstere fungiert als Ausschaltungswert für moralische Wertungen immer dann, wenn Nachteile zu erwarten sind nach dem Motto: Moralische Gesichtspunkte dürfen auch einmal außer Acht gelassen werden, wenn man im Rahmen des einmal errungenen Postens doch so viel Gutes tun kann! Sobald aber selbiges Verhalten vor Anderen mit weltanschaulichen Argumenten legitimiert wird, bedienen sich Akteure bereits der Heuchelei als jenem Einschaltungswert für moralische Kommunikation, die stets willkommen ist, wenn es opportun erscheint, Haltung zu zeigen. Dazu gehört nicht nur die Rechtfertigung der eigenen Amoralität, sondern auch das Messen mit zweierlei Maß, wenn es darum geht, moralische Verfehlungen bei anderen Akteuren zu geißeln, die man bei sich selbst großzügig durchgehen lässt. Interessant ist, dass nach Luhmann dieser funktional differenzierte Gesellschaftstypus nur als Übergangsgesellschaft Bestand hat. Ein ganz wesentlicher Grund für diese konstitutive Instabilität wurde oben angesprochen: Die Globalisierung des politischen Systems führt zu einem Politikstil, der in der Erfüllung seiner Funktion universaler Sicherheitsvorsorge territoriale Begrenzungen der Machtbefugnisse nicht mehr akzeptieren kann. Eine solche mit Overkill-Kapazitäten ausgerüstete grenzsprengende Politik wird zur globalen Bedrohung. Sie ist nicht länger gewillt, das Gewaltverbot der Vereinten Nationen zu achten und entzieht mit ihren expansiven zivil-militärischen Aktionen unweigerlich all jenen gleichfalls nur Funktions- und nicht territoriale Grenzen akzeptierenden Subsystemen der Wirtschaft, der Wissenschaft, des menschenrechtsfundierten Rechts, der Medizin und inzwischen sogar des Sports die Grundlage allgemeiner Akzeptanz. Der übergangsgesellschaftliche ist kein genuiner Typus von Vergesellschaftung, da er seine Inspiration aus der Ablehnung aller tradierten Formen bezieht, politische Entscheidungen zu treffen, klug zu wirtschaften, zu erziehen, zu heilen, Recht zu sprechen, nach Wahrheit zu suchen und Schönes zu schaffen. Für diesen Typus kommt es dann zu gravierend existenzgefährdenden Problemen, wenn aller Traditionsbestand aufgezehrt ist und die Moderne das disjunktive Muster gegen sich selbst wenden muss. Die korrespondierende Geistesverfassung artikuliert sich als Postmoderne. Diese reflektiert das Zersetzende einer Moderne, die sich selbst als Traditionsbestand eines niemals vollkommen überwundenen Gestern mehr und mehr aufzehrt. Am Ende dieser Entwicklung steht die komplette Entdifferenzierung von Moral- und Funktionscode: Menschen, die moralischer

224

Missachtung ausgesetzt sind, wird nunmehr auch noch der fachliche Respekt versagt. Es gibt nur noch gute und böse Menschen und damit dominiert ein Schisma, das als Rückfall in voraufklärerische Zeiten kritisiert werden müsste, fände es nicht im Digitaltechnischen ein Pendant in der Differenz von useful people und useless people. Allein dieser Sachstand führt zur kollektiven Beißhemmung, wenn es darum geht, sich für den konkret einzelnen Menschen einzusetzen und nicht bloß für ein kollektives Identitätskonstrukt, in dessen Schutzbereich nur dieser ehrenwerte und nicht jener mit Stigmata reichlich übersäte Mensch fällt. Indem die differenten Funktionsmoralen von der gesellschaftlichen Achtungskommunikation ganz aufgezehrt werden und moralische Eiferer die Wortführerschaft übernehmen, zeigt der übergangsgesellschaftliche Typus sein polemogenes Gesicht. Die Übergangs- entpuppt sich als kriegerische wenn nicht sogar als kriegslüsterne Gesellschaft. Dies rührt daher, dass die moderne Gesellschaft keine Ethik im eigentlichen Sinne hatte ausbilden können oder wollen. Im eigentlichen Sinne bedeutet, ein von Moral unterscheidbares Spezifisches. Eine Ethik, die moralischer Kommunikation Recht gibt, ist selbst Moral und damit nicht in der Lage, selbige zu bewerten. Erinnerlich weist Luhmann darauf hin, dass die Moderne mit den einzelnen Subsystemen und ihren jeweiligen Funktionsmoralen nur ein funktionales Äquivalent für die Ständemoral geschaffen hat. Aber sie konnte kein funktionales Äquivalent für die ebenfalls preisgegebene Religionsmoral bereitstellen. Diese hatte ihre Aufgabe darin gesehen, die boshaften Seiten moralischen Unterscheidens transparent zu machen.207 Dies ist auch der Grund, weshalb diese übergangsgesellschaftliche Form des Sozialen zur allinklusiven allmachtsphantasmatischen Vision einer universalen Pax tendiert. Damit kommen wir auf die logischen Voraussetzungen einer in ihrer polemogenen Natur gezügelten Ethik und einer nicht mit globaler Macht gleichgesetzten Ontologie zurück. Luhmann (2008, 185, Anm. 14) spricht von einem ambivalenten Verständnis dessen, was bei Gotthard Günther als dritter Wert Bedeutung gewinnt. Manchmal werde vom Bedarf für eine mehrwertige Logik, manchmal auch von transjunktionalen logischen Operationen der Annahme spezifischer positiv/negativ-Unterscheidungen gesprochen. Im letzteren Fall werde streng genommen das logische Prinzip der Zweiwertigkeit nicht verlassen, sondern bloß um eine höherstufige Zweiwertigkeit ergänzt. Und Luhmann hatte dieses Höherstufige als Ausschaltungswert und als Einschaltungswert des moralischen Codes für die soziologische Fragestellung präzisiert. So sind es gewissermaßen geheime und keineswegs diskutierte Kriterien, nach denen 207 Ausführlich zum Anachronismus einer moralisierenden Ethik im „Drohnenzeitalter“ Brücher (2017; 2020).

225

entschieden wird, ob politische Praktiken als Amtsmissbrauch skandalisiert werden. Damit liegt der Gewinn der mehrwertigen Logik Gotthard Günthers in den Augen von Luhmann eher im Begriff der Polykontextualität und weniger in dem der transjunktionalen Operation. Das bedeutet, wichtiger scheint die Zusammenschau, die Berücksichtigung aller Aspekte, aller theoretisch-praktischen Ansätze und Modelle. Heute sieht es jedoch so aus, als komme der Transjunktion eine ganz neue und entscheidende Bedeutung zu. Denn das fragile Gleichgewicht der Übergangsphase zerbricht, wenn schlechtweg nichts mehr gegen den moralischen Furor hilft, weder der Rekurs auf Werte (Heuchelei) noch der Verweis auf Wertewandel („Heuchelei mit eingebauter Entheuchelung“) (Luhmann 2008, 182f.). Wir können ausgehend von der Tatsache, dass sich Luhmann auf die funktional differenzierte als einer Übergangsgesellschaft bezieht, die ethiktheoretischen Auslegungen des dritten Wertes um gewisse friedenstheoretische Auslegungen ergänzen. Denn während der Corona-Pandemie haben sich Global-Governance-Strukturen mit einem global synchronisierten und überwiegend akzeptierten Maßnahmenkatalog etabliert, der als Blaupause für den Stil der Bewältigung auch anderer Menschheitsprobleme interpretiert und bereits sichtbar wird. Dies mag es cum grano salis als gerechtfertigt erscheinen lassen, von einem Ende der Übergangsphase zu sprechen oder doch wenigstens von deutlichen Anzeichen für die Konsolidierung eines neuen globalen Weltsystems. Dass selbiges nicht als ein für sich sprechendes Friedensprojekt beschönigt werden sollte liegt auf der Hand, handelt es sich doch sehr viel eher um das KI gestützte Projekt universaler Pax, ein Weltherrschaftsprojekt, das auf finale Ausscheidungskämpfe setzt. Für eine solche Erweiterung der ethischen um die friedenstheoretische Perspektive gibt es bei Gotthard Günther konkrete Hinweise, wenn der Schritt von der Logik zur Moral nicht voreilig gemacht wird. Fragt man nach den weiteren Implikationen des logischen Formalismus, so wird der gesellschaftsstrukturelle Rahmen funktionaler Differenzierung gesprengt. Und es lässt sich zeigen, dass die von Luhmann genannten transjunktionalen Operationen der Grenze, der Autopoiesis und der programmatischen Profilierung selbst für einen in die Jahre gekommenen oder sogar überholten funktional differenzierten Typ von Gesellschaft aufschlussreich sind. In einer solchen Situation scheinen wir uns heute zu befinden: Die globale Netzstruktur beschwört eine Lage herauf, die der Funktionsträgerschaft unisono den fachlichen Respekt versagt und einem nicht moralkonform forschenden und sich äußernden Expertentum mit Missachtung begegnet. Dieser Prozess der Entdifferenzierung von Funktions- und Moralcode entspricht exakt jenem Zerrbild der Aufklärung, dessen Verwirklichung Max

226

Horkheimer und Theodor W. Adorno (1969) für eine Zeit in Aussicht gestellt haben, in der es nichts mehr gibt, das sich jenseits von Verkaufswerten taxieren ließe.208

Grenzregime Mit dem Begriff der Grenze markiert Luhmann die Innen-Außen-Differenz der Funktionssysteme. Diese unterscheiden sich jeweils durch ihre Autopoiesis (das Anschließen von Rechtsoperationen an Rechtsoperationen, von politischen Entscheidungen an politische Entscheidungen usw.) voneinander. Aufgrund dieses selektiven Zugangs zur Umwelt sind die Systeme in ihrer Programmgestaltung auf eine besonders glaubwürdige Profilierung und Selbstdarstellung angewiesen. Diese drei Charakteristika (Grenze, programmatische Profilierung, Autopoiesis) entsprechen erinnerlich den drei Zuständen, die nach Gotthard Günther (2018, 48) unterschieden werden müssen, um von subjektiven Komponenten der Realität sprechen zu können. Wir verbleiben zunächst beim ersten Punkt: Es geht um die Eigenschaft von etwas Anderem („a property of something else“). So kann nur von einem Gegenstand gesprochen werden, der Grenzen aufweist. Aber bei diesen Grenzen darf es sich nicht um etwas im Rang objektiver Tatbestände handeln. Denn in diesem Fall wäre die Grenze keine Komponente der Subjektivität, sondern bloßes Thema. Wenn aber die Eigenschaft eines Anderen für mich und uns relevant wird, dann lässt sich dies nur adäquat zum Ausdruck bringen, wenn die von mir und uns gezogene Grenze zu Anderen und Fremden mit der Grenze ins Verhältnis gesetzt wird, mit der sich dieses Andere als ein Selbst konstituiert. Und das bedeutet, die Verknüpfung meiner und unserer Kontextur mit der des Anderen kann nur als transjunktionale Operation gedacht sein: Die Grenze muss aus der Perspektive des Hüben und Drüben in den Blick genommen werden; und allein dies bedarf einer gleitenden Bewegung. Mit dem Begriff der Transjunktion ist aber nur der formallogische Status zum Ausdruck gebracht. Das Wechseln von Kontexturen oder Wert(e)-systemen bedarf einer kulturellen Gestalt oder einer symbolsprachlichen Ausgestaltung der Grenze als Konstituens jeden unterscheidenden Bezeichnens

208 Roland Anhorn (2013) nennt Beispiele für den Typus des „Moralunternehmers“ qua „Moralpanikers“ aus dem Bereich der sozialen Arbeit.

227

und nicht als ein zu akzeptierender oder zu rejizierender Wert.209 Grenzen zieht man überall und aufgrund dieser Unvermeidlichkeit lässt sich mit dem Jenseits der Grenze nur Frieden halten, indem Modalitäten der Kontaktaufnahme erarbeitet werden und folglich vermieden wird, in die kommunikative Falle von Kontaktschuldargumenten zu tappen. Grenzregime sind als transjunktionale Operation eine Modalität des Wechselns von Kontexturen, die Interessenlagen von diesseits und jenseits der Grenze aus berücksichtigen lassen. So scheint es in Zeiten potentieller Atom- und Cyberkriegsführung geradezu selbstmörderisch, aus einer Position vermeintlicher Stärke heraus die Sicherheitsinteressen eines Landes zu ignorieren, aber auch, Sicherheit um den Preis der Eskalation interventionistischer Politiken erzwingen zu wollen. Dies prämiert Diplomatie, Verhandlungen, Verträge und Absprachen selbst für den Fall, dass selbige scheitern können. Auch im Bereich des zweiten sicherheitspolitischen Standbeins, der zunehmend weiter voranschreitenden biophysischen Intervention, den planmäßigen Modellierungen des menschlichen Körpers,210 nimmt das Thema Grenze kulturbestimmende Formen an. Von welchen Kontexturen, mithin welchen Logiksystemen ist hier die Rede, die zu wechseln Aufgabe eines kulturell auszugestaltenden Grenzregimes ist? Die biopolitische Sicherheitsdoktrin, wie sie im Zusammenhang mit der Corona-Krise von gesellschaftspolitischer Seite her propagiert worden ist, erstrebt ein künstliches Immunsystem, das Krankheit von den Bedingungen möglichen Entstehens aus zu bekämpfen sucht. Ob dies angesichts eines ungeklärten Begriffs von Krankheit und eines irrealen mit umfassender Zufriedenheit und Wohlergehen identifizierten Begriffs der Gesundheit überhaupt ein sinnvolles Ziel ist, mag dahingestellt sein. Demnach geht es nicht wesentlich um die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit. Vielmehr geraten andere Kontexturen in den Blick, so die von Giorgio Agamben (2002, 127-134) herausgearbeitete menschkonstituierende Grenze zwischen dem Bios und der Zoe. Agamben greift auf die aristotelische Unterscheidung zurück, die im Bios das für die Politik unbrauchbare und irrelevante Leben sehen lässt und in der Zoe politisch relevante Leiblichkeit. Diese ist nach Agamben das nackte Leben, das für das Gemeinwesen zu opfern ist, der Mensch als homo sacer (Agamben (2002, 81-84). Vom Politischen aus betrachtet hat das menschliche Leben keinen genuinen Sinn und Wert. Folglich bleiben Grund- und Menschenrechte ein 209 Typisch für die Moderne mag die Konzentration auf die Wertebene sein. Deshalb wählt Kurt Röttgers (2002) auf der Suche nach Spuren für eine „Philosophie der Übergänge“ den Begriff „Metabasis“. 210 Dieses Großprojekt des gentechnischen Bioengineerings bezeichnen Schwab, Malleret (2022) als das Jahrhunderteziel, das durch geeignete Narrative den Menschen nähergebracht werden muss.

228

Menetekel politischer Schwächung, die wieder loszuwerden programmatisch angelegt ist. Politisch relevant ist nur ein dem Menschen von der Politik zuerkanntes und gewährtes Leben, die Menschenrechte als Privilegien, als Lohn für Wohlverhalten. Der Mensch ist Menschenmaterial (Human Ressource). In der Corona-Politik sieht Agamben (2021) den Zeitpunkt gekommen, an dem die Politik ihr Wesen hervorkehrt und dies mit Hilfe einer zur Ideologie und zum Lebensentwurf erweiterten Pandemie als hinreichender Grund für die Normalisierung und Normierung des Ausnahmezustands. Der potenziell virenverseuchte Mensch demonstriert sich selbst als nacktes Leben. Dieses verbirgt die je individuelle Persönlichkeit schamhaft hinter einer Maske, kann er Andere doch schlechterdings nicht von seiner Ungefährlichkeit überzeugen, seitdem berechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit von Tests und der Immunisierung durch Impfungen bestehen. Zu einer weitaus optimistischeren Sicht und daran orientierten kulturellen Gestalt des menschkonstituierenden Grenzregimes und mithin einer anderen transjunktionalen Operation der Grenze gelangt man, wenn abstrakter angesetzt und die Unterscheidung von System und Umwelt zu Grunde gelegt wird. Ausgehend von der Luhmann’schen Systemtheorie stehen einander nunmehr menschkonstituierendes organisches, psychisches und soziales System in ihrem interpenetrierenden wechselseitigen Verhältnis dem konkret einzelnen Menschen als deren Umwelt gegenüber. Als Umwelt ist der Mensch in seinem Leben und Wohlleben unerreichbar und unbeeinflussbar. Und dennoch ist die Umwelt konstituierendes Element, eben bloß die andere Seite des Systems. Ein Konstitutions- ist aber kein kausales Verhältnis. Der einzelne Mensch ist nicht die Summe oder das Ergebnis seiner physisch-organischen Konstitution, seiner je individuellen Erfahrungen und Verarbeitungsformen sowie seines sozialen Umfeldes. Aber es ist schwer, den Firnis zu erkennen und erst recht, sich selbst als unerreichbares Jenseits der eigenen Systemreferenzen herauszuschälen. Und da selbiges als Erkenntnis nicht das Produkt einer bestimmen Theorie ist, sondern im alten kulturellen Erfahrungsbestand der Menschheit aufgehoben und immer wieder tradiert worden ist, gilt es nach bereits ausgearbeiteten transjunktionalen Operationen der Grenze zwischen mir als Umwelt und mir als organisch-physischen, psychischen und sozialen Systemreferenzen Ausschau zu halten.211 Jetzt stößt man auf Techniken der Askese, der Diätik und mithin auf Übungen, die in Distanz bringen zu all den Prägungen und Behinderungen der freien Entfaltung als Vorausset211 Die „Differenz des Menschseins und der Systembildung“ (Luhmann 1974, 192) sprengt die leistungsbezogene Lesart der Würdeformel. Zur systemtheoretischen Auslegung der Menschenwürde siehe Brücher „Menschenmaterial“ (2004).

229

zung aller möglichen Formen von Freiheit, die im Gesellschaftspolitischen gewährt werden können. Jeder Versuch einer Abkehr vom transjunktional verstandenen personenbezogenen Grenzregime und dessen Substitution durch ein wertbesetztes Verständnis menschkonstituierender Unterschiede zwischen Individuum und Gesellschaft, Psychisch-Organischem und Sozialem, Natur und Kultur, Sex und Gender usw. unterwirft den konkret einzelnen Menschen den jeweils vorherrschenden kollektiven Stimmungen, den intellektuellen Moden, dem dominanten Narrativ, dem Common Sense. Der für den Frieden mit sich selbst und mit Anderen entscheidende Gegensatz ist somit der zwischen transjunktionalem und wertbezogenem Verständnis der menschkonstituierenden Grenze. Und dieser Gegensatz ist nichts Anderes als der zwischen Eirene und Pax. Nicht nur Frieden, sondern auch Gesundheit und zwar in der von der WHO vorgegebenen weiten Fassung, entfaltet sich als Eirene, wo kulturelle Formen der Überleitung von Determination (Zoe, Systeme) zu Freiheit (Bios, Umwelt) immer wieder neu erarbeitet werden. Mit einem Verständnis der Pax bekommen wir es hingegen zu tun, wenn das Phänomen der Grenze und somit Grenzregime nicht als Überleitformel (Transjunktion) begriffen wird, sondern als Insgesamt zu akzeptierender Werte (Konjunktion) oder als Insgesamt von allem, was es abzulehnen gilt (Disjunktion). Ein solcher Frieden mit sich selbst und mit Anderen scheint irreal und kaum zu erreichen. Denn wie wollte das Individuum etwas ablehnen, das es konstituiert, nämlich die Gesellschaft? Oder wie wollte der Kulturbeflissene die ihn konstituierende Natur ablehnen, der Technikfreak seine vielfältige Notdurft? Wenn man die Herkunft des Wertbegriffs aus der Ökonomie ernst nimmt, dann spricht die Konjunkturabhängigkeit des Auf- und Abwertens bereits gegen das Friedensverständnis der Pax. Nur weil sich nach dem Trauma der beiden Weltkriege die mächtigen Staaten auf eine Charta der Vereinten Nationen haben einigen können, der zufolge Gewaltverzicht als oberster Wert anerkannt wurde, so heißt dies nicht, dass veränderte Kräfteverhältnisse diese Charta nicht über Nacht zu Makulatur machen konnten. Die kollektive Stimmung kippte jedoch in dem Augenblick, als sich selbst als pazifistisch verstehende Parteien – in Deutschland waren dies die Grünen – 1999 den militärischen Angriff auf Jugoslawien zum einzig gangbaren Weg erklärten, um einem drohenden Völkermord zuvorzukommen und Frieden zu erzwingen.212 Hier aber begannen die Probleme, da die Einschätzung der politischen Lage im Kosovo kontrovers und nicht etwa einhellig war und somit kein Entschluss des Sicherheitsrates zustande kommen konnte. Die Übertretung des Gewaltverbots der UN-Charta war als 212 Zur damaligen Zwischenbilanz, siehe die Beiträge in Becker/Brücher (2001).

230

Völkerrechtsbruch der Beginn eines Umdenkungsprozesses, der den Primat des nichtgewaltsamen Konfliktaustrags beschädigen sollte. Die kontroverse Einschätzung ist folglich Teil des Friedensproblems und nichts, das unter Hinweis auf unlautere und somit zu vernachlässigende Interessen ignoriert werden dürfte. Eine theoretisch-praktische Fixierung auf Wertfestlegungen schafft Abhängigkeiten vom jeweiligen Meinungsklima. Gewaltsame und nichtgewaltsame Mittel des Konfliktaustrags bewegen sich in einem Diskurs der Auf- und Abwertung.

Grenze: intensional oder extensional Die transjunktionale Operation mag als Alternative zu einem Denken in den Kategorien von Werten für eine digitale zunehmend ins Chaos abgleitende Weltgesellschaft von zentraler Bedeutung sein. Das lässt sich an den unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs der Grenze bei Pax und Eirene deutlich machen. Was die Grenze im Falle der Pax trennt, sind je spezifische Sinnsysteme, spezifische Kontexte, Schemata, Logiken oder Muster, die den Römer von der Welt der Barbaren trennen. Letztere können, wie sich insbesondere an den Griechen zeigen sollte, die römische Kultur bereichern. Es gibt Integration, Assimilation und schließlich den Erwerb von römischen Bürgerrechten. Der Begriff der Grenze wird mithin in der Sprache der aristotelischen Logik intensional gebraucht, oder in systemtheoretischer Sprache als festverkoppelter Sinn. Erst wenn das Bedürfnis entsteht, das Fremde, Andersartige und Feindliche zu verstehen und nicht bloß für eigene Zwecke nutzbar zu machen, zeigt sich diese Charakterisierung des Diesseits und Jenseits der Grenze als unzureichend. Fremde Schemata, Kontexte und Logiken kann man lernen, indem man die fremde Sprache erlernt und indem man sich mit der anderen Kultur beschäftigt. Was bei dieser Art der Annäherung aber nicht bedacht wird, ist das Faktum, dass Fremdes mit den eigenen Augen, dass Verständnis bloß im Horizont und somit den engen Margen der eigenen Vorverständigungen möglich ist. Ganz anders gestaltet sich das Verhältnis zu Anderen und Fremden, wenn dies Faktum bewusst ist und alle Operationen des Überschreitens der Grenze im Sinne der Annäherung an das Fremde begleiten. Hier wird Grenze in einem extensionalen und mithin einem weiten und schwerlich zu spezifizierenden Sinne gebraucht. Der korrespondierende systemtheoretische Begriff ist die lose Koppelung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits der Grenze. Der Blick weitet sich und man wird gewahr, dass einander nicht bloß verschiedene Kontexte, sondern weit komplexere Kon-

231

texturen im Sinne von Logiksystemen gegenüberstehen. Der Begriff des Systems zielt hier bei Gotthard Günther auf ein Moment der Geschlossenheit, des Undurchdringlichen. Dieses entsteht durch ein sich kontinuierlich reproduzierendes Selbstverhältnis. Innerhalb von komplexen Kontexturen sind Verständigung und Vorverständigungen rekursiv aufeinander bezogen und sie bestätigen einander mit jeder Operation neu. Sobald sich eigenständige Logiksysteme bilden, ist es von außen kaum möglich Einfluss zu nehmen. Komplexe Systeme lassen sich allenfalls stören und zerstören. Damit sind pädagogische Intentionen nicht entmutigt, aber auf das mögliche und zuträgliche Maß zurechtgestutzt. Wer immer belehrt werden soll, muss die eigene Kontextur auf der Grundlage eines durch Bildungsangebote destabilisierten kognitiven Gleichgewichts selbst korrigieren und in einen neuen emotional zu verkraftenden Sinnzusammenhang einpassen. Die lange Geschichte der christlichen Mission bietet hinreichend Anschauungsmaterial. Jede gelungene Christianisierung hat eigene synkretistische Formen von Religiosität hervorgebracht, die Elemente der autochthonen Religionen enthalten. Logiken sind zweiwertig. Was sie auch immer unterscheiden mögen, der hier konstituierte Unterschied muss sich in letzter Konsequenz als wahr beweisen lassen können. Der Friede ist jedoch nicht identisch mit dem Präferenzcode des Logik-Schemas, sehr viel näher aber steht er dem Rational-Schema: Die Präferenz für Frieden oder Krieg ist situationsabhängig. Menschen sind mitunter nicht bereit, Betrug und Unrecht als Preis des Friedens hinzunehmen. Die Präferenz für den Krieg aber bedeutet Legitimation von Mitteln, die sich außerhalb einer geltenden Rechtsordnung bewegen und einen alternativen kriegsrechtlichen Raum eröffnen. Da es jedoch für die netzstrukturelle Weltgesellschaft kein eigenes Kriegsrecht gibt, ist jedes wie immer begründete Votum gegen den Frieden eine Option für außerrechtliche Maßnahmen und somit letztlich eine usurpierte Lizenz für außergesetzliche Tötungen. Diese Logik gilt nicht nur für militärische Interventionen, für Verfolgung und Tötung mutmaßlicher Terroristen durch bewaffnete Drohnen und mithin für Operationen, die den eigenen Rechtsraum verlassen und die territoriale Integrität fremder Staaten verletzen. Sie gilt auch für biotechnische intrakorporale Interventionen, die Körperdaten ermitteln und zweckgebunden manipulieren sollen. Der Nürnberger Kodex fungiert in Bezug auf die wissenschaftlich-medizinische Verletzung körperlicher Integrität als kriegsrechtliches Äquivalent. Experimente sollten nach den Erfahrungen mit den exzessiven und zügellosen Versuchen des Dritten Reiches, die Evolution durch Programme gezielter Eugenik und Euthanasie zu steuern, nie wieder ohne die informierte Einwilligung der betroffenen Menschen stattfinden dürfen.

232

Werteordnung oder programmatische Profilierung Damit sind wir beim zweiten Merkmal von Subjektivität, das sich als Identitätskonstrukt und Rechtfertigungsnarrativ äußert. Analog zum Phänomen der Grenze lassen sich auch identitätsstiftende Konstrukte nicht als etwas beschreiben, dem Objektivität im klassischen Sinne zukommt. Das bedeutet, es fehlt jene duale Subjekt/Objekt-Relation, da fremde Konstrukte nicht als solche, sondern nur in Abgrenzung von den jeweils eigenen Identitätsmarkern erkannt werden können. Dies Faktum lässt sich im Rahmen eines Denkens in den Kategorien von Wertesystemen kaum zum Ausdruck bringen, wird hier doch mit kontrastierenden Gegenüberstellungen zum Unwert gearbeitet. Die fremde Selbstdarstellung steht immer in Verdacht, bestenfalls einer Selbsttäuschung über die wahren Motive zum Opfer zu fallen und schlimmstenfalls den Gegner täuschen zu wollen. Das zweiwertige Arrangement, in das Identitätskonstrukte eingepasst sind, ist auf die Identifizierung des Unwertes und dessen personellen Repräsentanten angewiesen. Es sind infolgedessen logikinterne Weichenstellungen, die das friedliche Miteinander vereiteln, noch lange bevor manifeste Interessenkonflikte dingfest gemacht werden können. Wertesysteme sind somit Stellenwertsysteme im Sinne Gotthard Günthers und zwar insofern es einzelnen Menschen und Kulturgemeinschaften nur überlassen bleibt, die Werte so oder anders zu verteilen: Wer vom Feminismus zum Transgender-Diskurs oder vom Antirassismus zum Diskurs Kultureller Aneignung überwechselt, bekommt es mit anderen Unwerten und anderen Feinden zu tun. Was aber unverändert fortgeführt wird, ist die kulturelle Rahmung, die zur Parteilichkeit zwingt und die allenfalls ein Unentschieden in die Waagschale dann werfen lässt, wenn die Friedenskarte ausgespielt wird. Damit ist man jedoch wieder mitten im Diskurs von Auf- und Abwertungen, da die Position des Mediators selbst kollektiver Missachtung zum Opfer fällt, wenn der politische Common Sense im Interessenausgleich Verrat an der guten Sache wittert. In einer Zeit wie der heutigen, da konfliktverschärfendes Bekennertum mehr gefragt ist als der Versöhnungsappell, hat die Moral ihre humanen Ressourcen verspielt und dies zwingt die Logik, diese Funktion zu übernehmen. Allenfalls Personen könnten diesem dominanten Trend mit den Mitteln moralischer Kommunikation partiell und vermutlich nur vorübergehend gegensteuern, die durch die ungewöhnliche Kombination von Herkunft, Geschlecht und Narrativ, Erwartungsmuster durchkreuzen, Parteilinien stören und einem in fixen Schablonen eingekesseltem Lagerdenken die Orientierung nehmen.213 213 So ist der Schritt von der Moral zur Logik im journalistischen Bereich getan, wenn Hadija Haruna-Oelker (2022) als Tochter eines Vaters aus Ghana und einer deutschen Mut-

233

Was impliziert die Überschreitung der moralischen Kommunikation auf eine Reflexion der zugrundeliegenden Logik im Falle von Identitätskonstrukten? Offensichtlich handelt es sich sowohl beim eigenen als auch beim fremden Konstrukt um Subjektivität und mithin ein Etwas, das ein Selbstverhältnis aufweist: Wenn ich nicht Gefahr laufen möchte, ins Lager der ‚Querdenker’ und ‚Corona-Leugner’ inklusive diesen assoziierten Rechten und Antisemiten geschoben zu werden, ist es ratsam, nicht laut über die Sinnhaftigkeit von Masken, über Social Distancing und über Nebenwirkungen der Impfungen nachzudenken. Offensichtlich entäußere ich mich jener im Selbstentwurf enthaltenen Identitätsstruktur in dem Augenblick, in dem ich mich zu äußern beginne. Selbige Struktur ist zwar von subjektivem Zuschnitt, aber sie steht mir nicht in ihrer gestalterischen Potenz zur freien Verfügung. Der Friede mit mir selbst gerät in Gefahr, sobald ich dessen gewahr werde und schmerzlich erfahre, dass jene Ideologie, in der ich mich doch ganz zu Hause gefühlt hatte, von Anderen bestimmt wird. Wenn über Gefahren für den Frieden nachgedacht wird, geht es jedoch immer zunächst um Schwierigkeiten, die von den Weltanschauungen der Anderen herrührt. Aber dies geschieht weniger aus dem Grund, weil der fremde Sinnzusammenhang schwer zugängig ist und leicht missverstanden wird, sondern im allgemeinen Bewusstsein eher aus der moralischen Dignität des eigenen Konstrukts und der fehlgeleiteten Orientierung der Anderen und Fremden. Moralische Kommunikation versus Reflexion logikinterner Weichenstellungen. Darum geht es, wenn über die Bedingungen einer möglichen Streitkultur und einer Kultur des Respekts nachgedacht werden soll. In der Zwischenüberschrift wurde die Werteordnung, die auf eine Identifizierung des Unwertes und deren Protagonisten angewiesen ist, der programmatischen Profilierung gegenübergestellt. Dass dieser Begriff bei Luhmann durchaus über den engen Rahmen der Selbstdarstellung und Positionierung eines Funktionssystems gegenüber allen anderen Systemen hinausweist, haben wir oben gesehen. Während die Wertesemantik ihr Augenmerk auf den Unwert und auf die Wertlosen (useless people) richtet und als Verrat an der eigenen Werteordnung ansieht, wenn ein Wertvolles auch in fremden Wahrheiten angenommen wird, so lässt die Semantik programmatischer Profilierungen neben dem meinigen und unsrigen auch anderes Ordnungsdenken bestehen. Dennoch enthält auch letztere Semantik eine klare Aussage: Sie rejiziert in Bezug auf das Verhältnis der Identitätskonstrukte zueinander jede Form von Zweiwertigkeit. ter, mit ihrer Aufforderung, miteinander anders zu denken, wieder bereit zu sein, einander zuzuhören und einander zu verstehen, explizit nicht Diversität feiern, sondern die ‚Schönheit der Differenz’ hervorheben möchte.

234

Damit ist die logische Einordnung angesprochen: Weder kann eine Person, die sich selbst als Feministin, als Transgender Aktivistin, als Islamistin, als Querdenkerin, als Kämpferin für Freiheit und Demokratie oder für die Westlichen Werte usw. durch die Existenz von Bundesgenossen bestätigt fühlen (Konjunktion). Noch gelingt die Rückversicherung der Güte und Wahrheit der eigenen programmatischen Orientierung mittels dezidierter und in ihrer Vehemenz bis hin zur Stigmatisierung gesteigerter Abgrenzung von Andersdenkenden und anders Urteilenden (Disjunktion). Damit erklärt sich die zweiwertige aristotelische Logik im Falle von Gegenständen dieser Art für unzuständig. Identitätskonstrukte sind keine Gegenstände, die physikalischen Gesetzen gehorchen, was allerdings nicht bedeutet, dass sie erratisch dem Zufallsprinzip nach dem Motto unterliegen: Zu Beginn des Studiums bin ich in diese nette K-Gruppe oder in diese hilfsbereite katholische Studentengruppe geraten und habe mich hier so wohl gefühlt. Denn mit diesem Hinweis ist ja allenfalls etwas über initiale Beweggründe ausgesagt, aber nichts über die gruppendynamischen Bindungseffekte. Wenn das einzig Objektive, das über diesen Typus von Subjektivität auszusagen ist, nicht im Bereich physikalischer Gesetze gesucht werden kann, so sind wir wieder bei Gotthard Günther, der einen logischen Formalismus für die Herleitung kybernetischer Gesetze ausgearbeitet hat. Und hier, im Bereich von Gegenständen, die sich zu sich selbst verhalten, ohne als Subjekte angesprochen werden zu können, greift die logische Form der Transjunktion. Bei der hier angesprochenen Verknüpfung geht es darum, nicht Werte und deren Kontexte, sondern Wertesysteme und mithin Kontexturen in Beziehung zu setzen. Nun ist die mehrwertige Logik, die hierfür zuständig sein soll, in ihrer Botschaft allein deshalb zweideutig, weil die problematischen Seiten der Schematisierung – die Konstruktion von Unwerten und Unpersonen – allein dadurch nicht beseitigt sind, dass man einen dritten und womöglich vierten und fünften Wert ins logische Kalkül integriert. Denn was ist gewonnen, wenn die Zahl der Unwerte und der Unpersonen wächst? Dies ist der Punkt, an dem sich Luhmann stößt und der ihn dazu veranlasst, dem Begriff der Polykontextualität den Vorrang gegenüber dem Begriff der Transjunktion zu geben. Das ist verständlich und ausreichend, solange der gedankliche Rahmen der funktional differenzierten Gesellschaft im Fokus steht: Macht, Besitz, Wahrheit, Recht, Erfolg haben und nicht haben schematisieren die funktionseigene Wahrnehmung. Aber sie konstituieren die Gesellschaft nur in ihrer Zusammenschau. Und damit steht fest, dass machtgetragene Entscheidungen, wirtschaftliche Unternehmungen, empirisch erhärtete Wahrheiten, Rechtsentscheide, gute Noten und sportliche Siege nur von transitorischem Wert sind und nicht mit dem moralisch Guten verwechselt werden dürfen.

235

Der Begriff der Polykontextualität bringt dies zum Ausdruck. Gleichzeitig führt er der Gesellschaft die Bedeutung strikter Differenzierung von Moral- und Funktionscode vor Augen: Sobald Regierungen die Opposition nicht länger als notwendiges Korrektiv achten, sondern moralisch verteufeln und schließlich politischer Verfolgung aussetzen, nimmt die Gesellschaft Schaden. Dies wäre durchaus nicht der Fall, wenn die Gesellschaft nach physikalischen und nicht bloß nach kybernetischen Gesetzen funktionieren würde. Jetzt nämlich ließe sich effizient bekämpfen, was Good Governance im Wege steht. Luhmann gehört zu den wenigen Autoren, die den Zusammenbruch des Sowjetregimes vorausgesehen haben. Dieses hatte in allen Bereichen dem Steuerungsimperativ eines Kampfes vertraut, der gegen jede mit Faschismus gleichgesetzte Regierungskritik geführt wurde. Diese Gegenüberstellung von Polykontextualität und transjunktionaler Operation und somit jenem dritten Wert, der Kontexturen verbindet, gewinnt im Zuge der netzstrukturellen Umgestaltung der Gesellschaft eine besondere Relevanz. Erinnerlich erkennt Luhmann diesen dritten Wert in der übergeordneten Binarität von Einschaltungswert und Ausschaltungswert, die jeweils darüber entscheidet, wann und wo das moralische Urteil angemessen erscheint. Die langjährigen und immer wieder unter einem jeweils zeitgemäßen Etikett gestarteten Versuche, der Weltbevölkerung westliches Karrieredenken als Ausschaltungswert für moralische Kommunikation näherzubringen, sind ebenso gescheitert wie die Universalisierung der Heuchelei als Einschaltungswert für moralische Kommunikation in den Margen jener Metaphern, die vom Globalen Norden als Chiffren für das Gute vorgegeben waren. Man kann das Scheitern des globalpädagogischen Projekts freilich auch der verstockten Lernunwilligkeit von Bevölkerungen anlasten, die ihren zivilisatorischen Nachholbedarf einfach nicht anerkennen wollen. Dies sind allerdings gefährlich demütigende zivilisationstheoretische Interpretamente, die notwendig jedes Denken in den Kategorien universaler Pax begleiten. Zugleich realistischer und friedentauglicher dürfe die umgekehrte Blickrichtung auf das funktionale Differenzierungsprojekt sein, das in den Ursprungsländern in dem Augenblick korrodiert, da das politische System Ansprüche auf zwangsbewehrte gewaltgestützte universale Sicherheitsvorsorge erhebt. Auch in dem auf ihre demokratische Tradition stolzen Globalen Norden haben offensichtlich Karrieredenken und Heuchelei ihre Funktion verloren, die Menschen auf einen zivilisierten Umgang miteinander zu verpflichten. Es lässt sich schlechterdings nicht mehr behaupten, dass jeder sofort wüsste, wo moralische Kommunikation angebracht ist und wo sie geradezu lächerlich wirkt. Die moralische Schelte ist allgegenwärtig und übertönt jedes Argument. Der auf seine Zivilisiertheit so stolze Globale Norden weiß mit jenem dritten Wert, der spezifisch für den funkti-

236

onalen Differenzierungstypus zugeschnittenen Transjunktion, offensichtlich nichts mehr anzufangen. Dies legt nahe, das Augenmerk ganz auf die Polykontextualität zu richten. Aber es gibt einen Zeitpunkt, an dem dieser hochabstrakte und sehr zurückgenommene friedensethische Vorstoß nicht mehr ausreicht, da die Überidentifikation der Menschen mit einem Identitätskonstrukt zu einer Bedrohung des Weltfriedens geworden ist. Was also sind Identitätskonstrukte, sind es Wertesysteme oder programmatische Profilierungen? Als Wertfestlegungen sind sie konstitutiv auf den Unwert und auf die Unperson angewiesen. Selbige zu identifizieren und ad persona zuzuordnen bedarf es der zweiwertigen Logik, die richtig von falsch, gut von böse und rational von irrational unterscheiden lässt. Identitätskonstrukte, so haben wir gesehen, sind jedoch Objekte, die sich zu sich selbst verhalten. Sie fallen somit aus dem Bereich physikalischer Gesetzeslogik heraus. Und auf dem Feld der allein zuständigen kybernetischen Gesetzeslogik weisen sie Merkmale der Transjunktion auf. Die vom westlich-abendländischen Denken geprägte moderne Gesellschaft hat keine Kultur hervorgebracht, die diese beiden Logiksysteme nebeneinander bestehen lassen kann. Sie hat ihr reduktionistisches Denken sogar so weit getrieben, dass sie von ihrem konservativen Bias noch nicht einmal in einer wissenschaftlich-technisch hochbrisanten Lage abrücken kann, in der die Welt zunehmend von selbstregelnden und selbstreplizierenden künstlich intelligenten Systemen gestaltet und gesteuert wird. Die neue Form der Selbstverständigung, in der Identitätskonstrukte als Gegenstand kybernetischer Gesetzmäßigkeit anerkannt sind, entzieht hingegen moralischen Hyperventilierungen ihre Grundlage. Denn sie lässt erkennen, dass weder die eigenen noch die anderen Ideologeme der freien Verfügung zugänglich sind. Wenn aber Identitätskonstrukte nichts Ureigenes, Identisches zum Ausdruck bringen und damit keinen unverletzlichen Wert, dann erhalten sie den Rang eines Programms, mit dem sich Individuen und Gemeinschaften profilieren. Diese profilieren sich folglich mit etwas, das nicht physikalischen Gesetzen gehorcht, sondern kybernetischen. Da Gotthard Günther, wie oben vermerkt, die entscheidenden Vorstöße zu einem entsprechend erweiterten Logiksystem in der Philosophie von Kant, Fichte, Hegel und Schelling erkennt, rät er einer technokratischen Elite, die kybernetische Gesetze verstehen und nicht auf physikalische Gesetze reduzieren möchte, zum eingehenden philosophischen Studium. Dieses impliziert die Suche nach philosophischen Anregungen aus dem nichtwestlichen Kulturraum. Nicht aus dem kurzsichtigen Kalkül programmatischer Effizienzüberlegungen heraus, sondern nur in Tuchfühlung mit den in ihrer Vielfalt im Netz zirkulierenden kulturellen Gedächtnisräumen lässt sich mit Identitätskonstrukten adäquat umgehen. Es geht um die Rückeroberung der Kultur in einem Bereich, den die Digitalisierung der

237

eigendynamisch evoluierenden Big Data-Sammelmaschine übereignet hat. Wenn die Gesellschaft wieder lernen soll, auf eine kultivierte Weise miteinander zu streiten, um damit Widerstandskräfte gegen das dataistisch-technokratisch-transhumanistische Weltdiktat aufzubauen, dann wirken Empörungen in der einen oder anderen Richtung nur kontraproduktiv. Dies zumindest gilt für eine Öffentlichkeit, die sich an Oberflächenphänomenen aktueller Skandalisierungen aufreibt und nicht bereit ist, die Automatismen zu durchbrechen, mit denen nur Werte ausgetauscht, das zugrundeliegende Muster der Verfeindung jedoch nicht angetastet wird. Bei der kulturellen Form der Konnektivität von Identitätskonstrukten geht es folglich um die Arbeit an Mustern. Bezogen auf Funktionssysteme in ihrem Verhältnis zueinander spricht Luhmann erinnerlich von der programmatischen Profilierung. Und Gotthard Günther (2018, 48) verwendet eine philosophische Formulierung, wenn er von einer persönlichen Identitätsstruktur spricht, die als Subjekt bezeichnet wird („a personal identity structure, called a subject“). Die scharfe Differenz zwischen transjunktionaler und wertfixierter Selbst- und Fremdbeschreibung tritt hier hervor. Was nach Günther nottut, ist ein logischer Formalismus, der auch diesen Aspekt der Subjektivität beschreiben kann, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, ins Irrationale oder Irreale abzugleiten. Damit ist etwas grundsätzlich Anderes gemeint als die Haltung, mit der Psychologie und Psychiatrie selbst abstruse Formen der Entäußerung als Zeichen einer dahinter verborgenen pathogenen Objektivität ernst nehmen. Denn hier geht es gerade nicht um die Subjektivität als selbstreferenzielles Prozessieren, sondern um Wege des heilenden Reduktionismus: Das Subjektive wird als in Wahrheit Objektives erkannt und in dieser Form beherrschbar gemacht. Es geht folglich nicht um eine transjunktionale Operation des in Beziehung Setzens von mehreren Werten, sondern um eine zweiwertige diagnostische und therapeutische Beziehung, die zwischen gesund und krank unterscheiden lässt.

Eskalationsdynamiken Die Gefahr, dass Konflikte eskalieren und in dieser Eigendynamik schlechterdings nicht mehr zu kontrollieren sind, begleitet alle um Krieg und Frieden kreisenden Themenstellungen. Bereits Alltagserfahrungen bestätigen eine Konflikten immanente Tendenz, sich aufzuschaukeln, zu eskalieren. Das krude Faktum sich selbst verstärkender unheilvoller Dynamiken ist seit jeher bekannt. Aber es gibt immer wieder neue Anläufe, den unheilvollen Drift zu ignorieren und dort noch Kontroll- und Steuerungsmöglich-

238

keiten erkennen zu wollen, wo dies allen Erfahrungen widerspricht. Geht es um das Problembewusstsein, so treten die typologischen Unterschiede der Pax und der Eirene als historisch signifikante Spielarten in ihren immer wieder neuen Konzeptionalisierungen in den Vordergrund. Zunächst gibt es jene historisch evidente Diskrepanz, die nur unter einem hohen Aufwand an mentaler und propagandistischer Verdrängung zu ignorieren ist: Militäraktionen werden in der Regel als Blitzkriege begonnen und finden sich in der Wirklichkeit eines langandauernden zerstörerischen Zermürbungskrieges wieder. In den kriegführenden Ländern bleiben out of area ausgetragene Konflikte freilich unter dem Radar kritischer Öffentlichkeit; sie werden auf Seiten der Betroffenen und mit diesen solidarischen Staaten jedoch umso aufmerksamer registriert. Anders verhält es sich, wo Eskalationsdynamiken gesamte Bevölkerungen erfassen und eine belligerente Grundgestimmtheit dominant wird. Auf die vielfältigen Zerwürfnisse und immer aggressiver ausgetragenen Konflikte zwischen den Schulen und Lehrmeinungen am Vorabend des dreißigjährigen Krieges wurde oben hingewiesen.214 Gewaltspiralen beginnen auf dem Feld der Diskurse, bevor sie das Schlachtfeld erobern. Und in diesem Kontext haben wir die verbale Eskalation im Schlagabtausch zwischen den zu Schulen und Lehrmeinungen verfestigten Positionen in Themenbereichen der Kosmologie (Klima), der Anthropologie (Gender), der Apokalypse (Corona) und der Wissenschaft (Szientismus) mit dem in eine enge Verbindung gebracht, was sich bezüglich des Krieges in der Ukraine immer gefährlicher abzeichnet. Ein an historischen Ereignissen geschultes Problembewusstsein ist jedoch fragil und volatil, da die Bedingungen, insbesondere die Fortschritte der Waffentechnik, ein Lernen aus der Geschichte entbehrlich erscheinen lassen. Heute befinden wir uns wieder an einer historischen Wegmarkierung, an der sich entscheiden wird, ob diplomatische Methoden des Austarierens von Interessen greifen, oder ob eine in den Dritten Weltkrieg schliddernde politische Gesamtstimmungslage dominant wird. In dieser Situation trennt sich der Pazifismus als Ethik in Aktion von seiner belligerenten Spielart des westlich codierten Rechtspazifismus und beschränkt sich als bekennende Bewegung auf den dringenden Appell an die Konfliktparteien, eine Verhandlungslösung anzustreben (O. Müller 2022).215 214 Damit ist ein Konfliktszenario beschrieben, das als bloße Konfrontation zweier christlicher Konfessionen falsch verstanden ist. Die Fronten transzendieren das Säkular/Religiös-Schema: Rhetor gegen Dialektiker, Rechtsgelehrter gegen Theologe, Thomist gegen Scotist, Realist gegen Nominalist, Platoniker gegen Peripatetiker. Vgl. Hirsch/Delhom (2019, 16). 215 Diese dezidierte Parteinahme verwahrt sich bei Olav L. Müller mit analytisch-philosophischen Argumenten gegen Vorwürfe der Realitätsblindheit: Auch das Votum für Waf-

239

Zeitunabhängig und insofern von einer bleibenden Bedeutung sind folglich jene Probleme, die ihren Sitz nicht in der Empirie und somit der Wahrnehmung aktueller Ereignisse im Lichte jeweiliger Erinnerungskulturen haben, sondern in der Logik. Und um diese der Logik immanenten Zugriffsweisen auf die Krieg-Frieden-Problematik ging es in der vorliegenden Abhandlung. Logische Hindernisse zugriffssicherer Strategien gilt es immer wieder neu zu begreifen und in einem zweiten Schritt darüber nachzudenken, wie in der Vergangenheit mit Problemen dieser Schwere umgegangen worden ist, bevor über zeitgemäße Formen nachgedacht werden kann. Im Falle gefährlicher Gewaltspiralen, bei denen jede Operation ihre destruktiven Kräfte zu steigern sucht, tritt die kybernetische Gesetzeslogik gebündelt in Erscheinung. Denn nun drängen jene Gegenstände, die ein Selbstverhältnis aufweisen, zur Vernichtung. Es lässt sich von Bündelung oder Aufgipfelung der konfliktkonstituierenden Probleme aus dem Grund sprechen, weil hier unerreichbare Subjektivität in einen Sog der Selbst- und Fremdeliminierung gerät. Immanuel Kant (1967, 41) hat im Angesicht dieser Symptomatologie nicht den törichten, von kindischer Eitelkeit, Bosheit und Zerstörungssucht getriebenen Menschen als Akteur ausgemacht, sondern wählt als Referenzformel guter und schlechter Wirkungen von Kriegen den Begriff der Naturabsicht. Dieser Begriff der Absicht signalisiert im Gegensatz zum Begriff des Gesetzes ein Abstandnehmen von linearer Kasuistik, welche meint, die Krieg-Frieden-Problematik im Lichte kalkulierbarer Kausalitäten fassen zu können. Auch nach Gotthard Günther lasst sich erinnerlich dieser unerreichbare zur Eskalation neigende Furor nicht im Kontext physikalischen Gesetzesdenkens fassen. Denn hier sucht man vergebens nach klar erkennbaren Unterschieden zwischen Aktion und Reaktion, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ursache und Wirkung und somit selbst zwischen Tätern und Opfern. Und wo allein kybernetische Gesetze gelten, dort ist Dreierlei zu berücksichtigen. Die ersten beiden Aspekte beziehen sich zum einen auf die Frage der Identität, die mit dem unlösbaren Problem der Grenze verknüpft ist und zum anderen auf die Frage der Identitätsstruktur mit dem unlösbaren Problem der Identifikation. Aber erst im Falle des dritten Aspekts nimmt die Unerreichbarkeit kriegerische Formen dadurch an, dass die aus den ersten beiden Aspekten resultierenden Probleme kumuliert auftreten: Es ist die Blindheit der Wertfixierung, die es vereitelt, mit den Problemen der Grenze und der Identitätsstruktur in einer adäquaten Weise umzugehen. Die Verteilung von Werten und das bedeutet ein Auf- und Abfenlieferungen und gegen Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt baut auf unentscheidbare kontrafaktische Konditionale (Wenn-Dann-Hypothesen), aber es spielt mit dem Risiko der atomaren Eskalation. Siehe dazu auch Olav L. Müller (2007).

240

werten nach dem Motto, der Separatismus der Kosovo-Albaner ist gut und der serbische Kampf um seine nationale Einheit böse, während der Separatismus der Krim böse ist und der Kampf der Ukraine um seine nationale Einheit gut, erhöht das Eskalationsrisiko. Denn jedes Messen mit zweierlei Maß hetzt auf und macht moralische Kommunikation der Tarnung von Interessenpolitik verdächtig. Das gilt für die Legitimationsrhetorik im Falle der Bombardierung Serbiens durch die NATO und heute die Rechtfertigung einer strategischen Lagebeurteilung, die trotz sichtbarer Eskalation des Ukraine-Krieges der Lieferung immer tödlicherer Waffen – in ein Krisengebiet – den Vorrang gegenüber einer Verhandlungslösung einräumt. Weder die Operation der Konjunktion, die solidarische Unterstützung des angegriffenen Staates mit immer mehr und immer gefährlicheren Waffen scheint einen probaten Weg aus der Eskalationsspirale zu weisen, noch eignen sich disjunktive Operationen konzertierter Informationskriegführung, die den Angreifer immer stärker dämonisieren. Wenn wir bisher die beiden transjunktionalen Operationen der Grenze und der programmatischen Profilierung herausgearbeitet haben, so geht es nun um den dritten Aspekt, den es im Hinblick auf Gegenstände, die sich zu sich selbst verhalten, zu berücksichtigen gilt. Dies betrifft die Dynamik, anders gesagt, das selbstreferenzielle Prozessieren dieser jedem Zugriff entgleitenden Subjektivität. Muster reagieren auf Muster reagieren auf Muster reagieren auf Muster ad infinitum in einer sich selbst beschleunigenden Spiralbewegung, der gegenüber empirische Begebenheiten unwesentlich und Handlungsweisen machtlos sind. Es ist gleichgültig, wie sich die feindliche Seite verhält; alles was jetzt getan wird, kann nur als sicheres Zeichen einer feindseligen Absicht interpretiert werden. Sobald Konflikte eskalieren und Muster der Feindseligkeit reflexiv werden, ist es zu spät. Wenn jetzt noch vom Beendigen des Konflikts die Rede ist, so heißt es, der Krieg werde irgendwann ausbluten. Es ist die Unerreichbarkeit im Eskalationsmodus befindlicher Konflikte, die in diesem dritten Aspekt allenfalls eine Warnung sehen lässt, es nicht so weit kommen zu lassen und kulturelle Formen des Umgangs mit kybernetischen Gesetzen zu entwickeln, bevor die Eskalationsspirale in Gang kommt. Luhmann (1984, 503) spricht an der Stelle, wo Konflikte den Akteuren entgleiten und eigendynamisch werden, von autopoietischen Konflikten. Die Selbstreproduktion, das Anschließen von gleichgearteten Operationen erfolgt hier wie im Falle einer jeden Autopoiesis auf der Basis instabiler Elemente. Dabei bezieht sich das Gleichgeartete auf eine Haltung verweigerter Kontingenz und die Annahme einer nicht anders als feindselig zu deutenden Handlungsweise. Indem im Falle autopoietischer Konflikte Kontingenz durch Notwendigkeit ersetzt wird, bekommen wir es allem Anschein nach wieder mit ei-

241

nem Gegenstand zu tun, der sich nicht zu sich selbst, sondern zu uns verhält, der wieder in den epistemischen Status eines Objekts rückt und damit vermeintlich sehr wohl anhand physikalischer Gesetze gehändelt werden kann. Das Instabile, auf dessen Basis Konflikte im Stadium der Autopoiese in eine selbstreproduktive Schleife geraten, bezieht sich infolgedessen auf den totalen und allumfassenden Realitätsverlust. Denn die physikalische Gesetzeslogik, die Kausalitäten Evidenz verleiht, spiegelt auf beiden Seiten nur die Suggestionen eines expandierenden Wahnsystems. Inwiefern kann Autopoiesis dennoch analog zur Grenze und einer als programmatische Profilierung verstandenen Identitätsstruktur in die kybernetische Gesetzeslogik integriert und gesagt werden, dass wir es hier mit einer dritten transjunktionalen Operation zu tun haben? Diese Frage ist angebracht, wenn in diesem Stadium autopoietischer Konflikte doch nur reagiert und infolgedessen nur noch ein Ende aller Gestaltungsmöglichkeiten konstatiert werden kann. Und beim Begriff der Transjunktion, dem Wechseln von Logiksystemen (Kontexturen), geht es ja gerade um die Gestaltung einer Beziehung. Wenn es aber im Falle autopoietisch entgleister Konflikte nichts mehr zu gestalten gibt, dann wird die Interruption der Eigendynamik zur einzigen Chance und zum einzigen Ausweg aus der verfahrenen Lage. Der diplomatische Einsatz für einen Waffenstillstand und für Verhandlungen fungiert in diesem Sinne als Interruptionsmechanismus: Das eigendynamische mörderische und selbstmörderische Fortsetzungsgeschehen wird unterbrochen und damit allererst die Voraussetzung für eine Rückgewinnung von Gestaltungschancen geschaffen. Die Transjunktion erschöpft sich im Falle entgleisender Konflikte in interdependenzunterbrechenden Aktionen und es ist die Praxis selbst, die vorgibt, worin diese bestehen kann.216 Das betrifft allerdings die konkrete Gefahrensituation. Im Vorfeld greift Autopoiesis als transjunktionale Operation bereits dort, wo Gesellschaften in ihrer massenmedial gespiegelten Kommunikation dies Wissen transportieren. Die eigenen Wertvorstellungen zur Bedingung für friedensfähige Politik zu erklären und der Welt zu signalisieren, dass unsere Standards global zu gelten haben (Konjunktion) erhöht hingegen das globale Eskalationsrisiko ebenso wie dialektische Friedensmodelle, die im Verein mit einer Koalition der Willigen oder bezahlter NGOs weltweit zum Kampf gegen das Böse (Disjunktion) aufrufen. Nur in Bezug auf den adäquaten Umgang mit Grenzen und mit den unterschiedlichen programmatischen Profilierungen gibt es Gestaltungsmöglichkeiten. Der entgleiste Konflikt lässt sich hingegen kaum noch bändigen. 216 Zu der im Terrorismus-Diskurs der Jahre nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 ins Wanken geratenen Doktrin der Menschenrechte siehe die systemtheoretische Diskussion der Figur des Interdependenzunterbrechers als Jenseits der Differenz von Mensch und Unmensch (Brücher 2011, 285-292).

242

Wenn dennoch von einer transjunktionalen Operation der (Konflikt)-Autopoiesis gesprochen werden kann, so lediglich im Sinne eines Menetekels. Aus diesem Grund dient dieser letzte Abschnitt mehr der zusammenfassenden Zuspitzung bisheriger Überlegungen.

Der autopoietische Konflikt als Menetekel Es ist ein bestimmter Gedanke, der im Falle der Vergegenwärtigung Weitsicht und Mäßigung bezüglich machtprojektiver Politiken nahelegt und dessen Ignoranz zu Hybris und imperialen Bestrebungen drängt. Platon und Aristoteles führen aus, dass ein Prinzip – im griechischen ein Axiom – allein deshalb nicht begründet werden kann, weil es allen Begründungen vorausgeht. Zugriffssichere Strategien aber setzen Kenntnisse über Fakten voraus und dies konterkariert die Perspektivendifferenz von Hüben und Drüben. Es wird diese Unterscheidung gewählt und nicht diejenige von Innen und Außen, weil das jeweils Unzugängliche den Frieden mit sich selbst ebenso vereitelt wie den Frieden mit Anderen. Das Drüben steht im Rang eines Prinzips, eines Axioms, das sich nicht ins Hüben eingemeinden lässt und das heißt, in das ganz andere der eigenen Perspektiven und interpretativen Zurichtungen. Es bleibt die unzugängliche Voraussetzung jeden Handelns. Die Unterscheidung der Friedensbegrifflichkeit, der griechischen Eirene und der römischen Pax, steht für ein Mehr oder Weniger an Problembewusstsein. Nun setzt die Bedeutung Griechenlands für abend- und morgenländisches Denken in Philosophie und Wissenschaft mit einer Reflexionsphase im Anschluss an die verheerenden Verwüstungen des Peloponnesischen Krieges ein. Aber dies geschieht nicht durch die Benennung von Schuldigen und genau zu ortenden Ursachen, denn eben dies sehen Athener und Spartiaten, die einander so zahlreiche Grausamkeiten angetan hatten, jeweils unterschiedlich. Thukydides hat über Entstehung und Verlauf des Bürgerkrieges in einer Weise berichtet, die in seinem Werk den Anfang der Geschichtsschreibung sehen lässt. Es geht um ein Begreifen der logischen Barrieren des Friedlich-Seins und des Frieden Machens. Man könnte also sagen, die gesamte Geistesgeschichte beginne mit einer Vergangenheitsbewältigung, mit einem Schuldkult im positiven Sinne, wenn das Lernpotential solcher Reflexionsformen hervorgehoben wird. Aber diese Geisteshaltung wird zugleich als transitorisch erkannt und somit in ihrer Bedeutung relativiert, weil Skrupel immer auch als Hemmnisse der Tatkraft interpretiert werden und somit Reflexion mitunter hinderlich erscheint. Wenn diese diametralen Positionen in den weiblichen Ligaturen der Ei-

243

rene und der Pax ein über die Jahrtausende fortwirkendes bildsprachliches Pendent finden, so liegt es nahe, hier anzusetzen. Und die Unterscheidung, in der sich dies Mehr oder Weniger an Problembewusstsein artikuliert, ist Logos und Mythos: Das Prinzip (Mythos) geht allen Begründungen (Logos) voraus. Es ist die Eirene, die diesem Faktum mehr Aufmerksamkeit zollt und die Pax, die hier gerne die Augen verschließt. Damit hat sich das erste Kapitel beschäftigt. Das zweite Kapitel fokussierte auf die daraus erwachsenden Paradoxien: Krieg und Frieden werden als Perspektivendifferenz bewusst. Was Hüben als friedenschaffende Maßnahmen mit einzukalkulierenden Kollateralschäden daherkommt, das sind Drüben verbrecherische Kriege, die zu Tod und Verwüstung führen. Es ist die Unmöglichkeit, zu einer einheitlichen Sichtweise zu finden, die jeden Gedanken an effiziente Kontrollen ad absurdum führt. Wieder schiebt sich dieser missliche Gedanke vor vermeintlich rationale Operationen, dass Folgenkalkulationen den engen Dunstkreis eigener Deutungen nicht verlassen und folglich das Kalkül der feindlichen Seite nur als eigene Projektion transparent erscheint. Konflikte entgleisen, wenn der Kontext der Perspektivendifferenz und der uneinholbaren Position des Anderen durch einen Text verdrängt wird, der Klarheit und Berechenbarkeit suggeriert. Kontext und Text lassen sich auch als Medium und Form begreifen und damit in jenen weiteren Zusammenhang der Kultivierung der Kontexte einreihen: Je nachdem, ob Kontexte im Gewand sprachlicher, schriftlicher, gedruckter oder gemailter Medien erkannt und das heißt unterscheidend erkannt (Form) werden können, ändern sich die Narrative. Was sich aber nicht ändert, ist das Faktum der Unerreichbarkeit dessen, was lebensbedrohliche Züge gewinnen kann: Den einen gelten als Humanitäre Interventionen und als präemptive Verteidigung, was den Anderen als verbrecherische Angriffskriege im höchsten Maße verwerflich erscheinen. Dieses Spannungsverhältnis von Medium und Form macht sich nicht nur im Falle der Schwierigkeiten bemerkbar, mit den Anderen und Fremden Frieden zu halten. Denn bevor Menschen dies vermögen, müssen sie mit sich selbst in Frieden leben, mit anderen Worten, sie müssen im psychosomatischen Sinne gesund sein. Also dreht sich seit jeher die Frage um die Vergegenwärtigung dessen, was sich dem Zugriff entzieht, was sich nicht kontrollieren lässt, im Innen und im Außen. Der Corona-Diskurs hat den engen Zusammenhang von Krankheit und Krieg nicht nur von politischer Seite verbal beschworen, sondern allgemein wieder bewusstgemacht. Was heute die sozialpsychologische Forschung transparent zu machen versucht, das findet in einem noch stärker dem Spannungsverhältnis von Mythos und Logos bewussten ersten nachchristlichen Jahrhundert in einer monastischen Psychologie der Dämonologie Ausdruck. Der Begriff

244

des Dämons knüpft an den Sokratischen Daimonion an. Dieser warnt als innere Stimme vor Unheil hervorbringenden schlechten Entscheidungen. Der Dämon kann jedoch auch umgekehrt zum lasterhaften Leben verführen. Wieder handelt es sich um den Versuch, die Barrieren des Friedens mit sich selbst und mit Anderen zuallererst als ein Problem der Logik verständlich zu machen und erst in einem zweiten Schritt mit verhaltensregulativen moralische Richtlinien aufzuwarten. Hier können alte Problemexpositionen die heutige im moralischen und therapeutisch-paternalistischen Denken befangene Zeit bereichern. Das dritte Kapitel widmete sich dem strategischen Denken in den Kategorien der Pax, die dem Ansatz nach ein auf die gesamte Menschheit zielender Herrschaftsansatz ist. Dessen herausgehobene Relevanz verdankt sich der Tatsache, dass das moderne Friedensdenken, wie es von Thomas Hobbes entwickelt worden ist, in der Modernisierung der römischen Pax besteht. Wenn so weit ausgegriffen und Frieden als unteilbar in dem Sinne verstanden wird, dass das Geschäft waffengestützten Pazifizierens erst dann ein Ende finden wird, wenn unsere spezifischen Friedenskonditionen und nicht die der Anderen überall auf der Welt erfüllt sind, so scheint dies mit klugem vorausschauendem Handeln unvereinbar. Es gilt mehr denn je für die heutige Zeit, die nicht nur über atomare, biologische und chemische Waffen verfügt, sondern auch tendenziell über eigenständig Ziele definierende und suchende Kriegsroboter. Es lässt sich aber nur dann Hand an den Friedensbegriff legen, wenn Politik weder mit Moral, mit einem auf dem Feld der Kognitionen durchgefochtenen Ausscheidungskampf der guten gegen die schlechten Narrative gleichgesetzt wird noch mit einem auf waffentechnischem Feld zu führenden Ausscheidungskampf der guten gegen die schlechten Life-Styl-Angebote. Denn was diese Position missversteht, ist das grundbegriffliche Gerüst des Sozialen. Dessen Ferment ist nicht das Handeln, sondern das Erwarten, sofern erst letzteres über die Zurechnung eines Naturereignisses auf Erleben (natürlicher Virus) oder auf Handeln (in Biowaffenlaboren entwickelte künstliche Viren) entscheidet. Diese seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Habermas-Luhmann-Kontroverse diskutierte grundbegriffliche Weichenstellung ist jedoch beileibe nicht als bloße Episode einer theorieverliebten Phase abzuhaken.217 Denn bereits die babylonische Gesetzestafel des Codex Hammurabi aus dem 18. vorchristlichen Jahrhundert findet als das früheste Zeugnis rechtstaatlicher Verfassung seine grundbegriffliche Ausrichtung nicht 217 So auch Gorm Harste (2021), der sich insbesondere im Hinblick auf aktuelle Verführungen zu totalitärem Denken für eine Relektüre dieser Kontroverse stark macht, welche von diskurs- und systemtheoretischer Seite demokratische Denkweisen zu unterstützen sucht.

245

im Handeln, sondern in Erwartungshaltungen: Denunziation gilt als das schwerste Vergehen, da die habituelle Gewöhnung an selbige Praktiken die Menschen auf der Ebene der Erwartungserwartungen beeinflusst und gemeinschaftliches Leben unmöglich macht. Indem bewusstwird, dass bestimmte Verhaltensweisen – Vorverurteilungen und Beweislastumkehrung, Relativierung des in der Charta der Vereinten Nationen verbindlich formulierten Gewaltverbots, ein Abstandnehmen von der im Nürnberger Codex verankerten Bindung von Experimenten der synthetischen Biologie an die Einwilligung der Betroffenen – ungewollte Erwartungsstrukturen etablieren, wandelt sich die Kulturform. Der Fokus richtet sich weniger auf das Subjekt von Handlungen, das sich bei näherem Hinsehen als bloße Freund-Feind-Konstellation offenbart. Vielmehr tritt Komplexität in den Vordergrund und dies beileibe nicht bloß als Problem, sondern auch als Problemlösung. Die Unterscheidung von Krieg und Frieden zeigt sich im Lichte der Perspektivendifferenz von Hüben und Drüben als janusköpfiges Phänomen, dem nur im Rahmen eines zur Kulturform fortentwickelten Verständnisses von Komplexität begegnet werden kann. Was dies im Einzelnen bedeutet, lässt sich an den verschiedenen medialen Formen ablesen, in denen die Komplexität unüberwindlicher Perspektivendifferenz abzubilden gesucht wird: Dialog, Diskurs und schließlich der Dialogos als jene aus dem 13. Jahrhundert stammende Frühform der digitalen Kommunikation. Damit hat sich das vierte Kapitel beschäftigt. Was aus der Gegenüberstellung hervorgeht, ist der verblüffende Primat der Problemlösung gegenüber dem Problem. Der Friede ist nicht das Resultat der Konfliktlösung, sondern geht dieser voraus. Auch hier wieder kann ein altes mythologisches Bild der Parabel vom Heiden und den drei Weisen von Ramon Lull zur Veranschaulichung dienen. Denn was dieses Friedensverständnis universaler Pax grundlegend übersieht, ist die Tatsache, dass soziale Prozesse nicht linear verlaufen und als Wirkungen hervorbringende Ursachen rekonstruiert werden können. Der Versuch, die Krieg-Frieden-Problematik in finalistisch-sozial-darwinistischen Kategorien verständlich zu machen, scheitert an der Nichtlinearität sozialer Prozesse. Hier verführen die computertechnischen Möglichkeiten der Modellierung zur Überschätzung strategischer in die Zukunft ausgreifender Planung einer passgenau auf die Bedürfnisse der Menschheit zugeschnittenen neuen Welt, deren Plausibilität einzig dem Verbot erwächst, Fragen stellen zu dürfen. Tabu sind spezifizierende Formulierungen wie eben diese: welche Bedürfnisse, welche Menschen, welche Welt? Auch dieser Problempunkt ist wiederum nichts, was von einem besonders klugen und aufgeklärten Geist neu zu entdecken wäre. Denn über dies komplizierte Verhältnis von linearen und nichtlinearen Prozessen wird von

246

Beginn der Kulturentwicklung an nachgedacht. Dabei handelt es sich nicht um ein museales Stück Text, das man zur Kenntnis nehmen kann oder auch nicht. Vielmehr ist der Satz des Anaximander, der dies Problem umkreist, seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert aktuell und er war immer wieder neu Gegenstand von Interpretationen. Allein dies beweist die Brisanz des Gedankens, den nicht zur Kenntnis zu nehmen Borniertheit verrät. Und es zeigt das Ausmaß der Gefahren, die von Personen ausgehen, die um interventionistischer Projekte willen Nichtlinearität ignorieren. Es ist die digitale Störfunktion, die netzstrukturell bedingt jedes friedenspolitische Größenphantasma entmutigt. Eine globale Kontrolle des Netzes könnte allenfalls denkbar sein, wenn nicht alle Menschen zu Nutzern des Netzes werden dürften, sondern nur diejenigen, die des Programmierens nicht mächtig sind. Anders gesagt, die Kontrolle des globalen Netzes ist nur möglich, wenn es kein globales Netz gibt. Man sieht bereits an dieser Formulierung, wie illusionär und anachronistisch das alte Denken in den machtpolitischen Kategorien universaler Pax ist. In einer IT revolutionierten Welt wächst somit der Ethik qua Friedensethik eine ganz neue Bedeutung zu. Denn nun kann sich niemand, der an Netzkommunikation beteiligt ist, der eigenen Verantwortung für das Wohl der Anderen entziehen. Jeder Beitrag könnte zum Troll werden, der Massenpaniken auslöst, Aggressionen gegen bestimmte Individuen oder Gruppen schürt, Kriege provoziert und Pogrome lostritt. Es heißt ‚kann nicht mehr’ und nicht ‚sollte nicht mehr’. Die Verantwortung für das Wohl der Anderen ist kein normativer Imperativ. Denn die Rasanz, mit der digitale Kommunikation exponentielle Kettenreaktionen auslöst, lässt den Initiator von Eskalationsspiralen nicht unbeschadet. Die Störfunktionen erstrecken sich dabei nicht bloß auf selbstverstärkende Aggression; sie sind breit gefächert und können die Cyberwelt zum Einsturz bringen: „... Unfälle und Systemfehler, Schadprogramme und Viren, Herrschaft über digitale Medien oder autonome KI-Systeme, die sich gegen die Menschheit richten.“ 218 Hinzuzufügen sind heute Missverständnisse oder Unfälle, wie kürzlich der Absturz einer Rakete über Polen, da Russland allem Anschein nach gewillt ist, die Ukraine als cordon sanitaire selbst um den Preis immer größerer Schäden nicht zu verlieren. Damit endet der Streit um den adäquaten Friedensbegriff. Dieser hatte im Zuge der Enttabuisierung des Friedens unweigerlich jene Kräfte und Instanzen staatlicher und nichtstaatlicher Art der Beobachtung entzogen, denen die Aufgabe zufällt, den Frieden in all jenen Bedingungen herbeizu218 Vgl. Jürgen Scheffran (2020, 7) vonseiten der Integrativen Geographie, der die Corona-Krise in die Reihe erzwungener Reaktionen auf digital bedingte „Entkörperlichung“ stellt, als weiteres Symptom von Kollaps und Transformation.

247

führen, die ihn möglich machen – und dies mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Letzteres versteht sich von selbst angesichts dessen, was auf dem Spiel steht. Der Verschmelzungsprozess, an dessen Ende Krieg Frieden ist, zeigt sich an den Stellen, wo die Globalisierung der Friedenskonditionen ansteht. Angesichts der Tatsache, dass jede Kulturgemeinschaft unter diesen Konditionen etwas Anderes versteht, können die globalen Zielformeln nur als Neucodierung des kolonialen Projekts verstanden werden und dies gilt unter den digitaltechnischen Bedingungen für alle Staaten. Sofern die These stimmt, dass eine Kontrolle des globalen Netzes nur möglich ist, wenn es kein globales Netz gibt, so macht es keinen Sinn mehr, von Frieden zu sprechen, wenn damit auch weiterhin prozessuale und strukturelle Faktoren einer universalen Pax verstanden werden. Es trifft den Sachverhalt weitaus besser, wenn man stattdessen einen erweiterten Sicherheitsbegriff verwendet. Dieser Begriff wirft einen nüchternen Blick auf die Sachlage: Wenn jede Nutzerperson ihre Sicherheit präemptiv verteidigt, dann erodieren alle zwischenmenschlichen, aber auch alle inner- und zwischenstaatlichen Beziehungen. Denn wie kann ich mich sicher fühlen, solange Schurkenstaaten und Autokraten über Massenvernichtungswaffen verfügen oder verfügen könnten und solange diejenigen Menschen nicht erfolgreich bekämpft sind, die krude und gefährliche Meinungen vertreten? Wie kann ich mich gesund fühlen, solange krankmachende Keime durch die Luft schwirren und sich viral verseuchte Menschen nicht in Quarantäne befinden? Allzu leicht kommt in einer phobisch gespannten gesamtgesellschaftlichen Stimmungslage das psychosoziale Tandem aus Angst und Gewaltbereitschaft in Fahrt und der kommunikativen folgt die physische Eskalation auf den Fuß: ‚Von Argumenten zu Beschimpfungen, von Beschimpfungen zu Fausthieben’ heißt es in der von Erasmus von Rotterdam 1517 niedergeschriebenen Querela Pacis, der ‚Klage des Friedens’. Dies kennzeichnet die Situation vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. Da sich die Zeitspanne zwischen kommunikativ eskalierendem gewissermaßen kaltem und kriegerisch eskaliertem heißem Krieg in einer digialtechnisch zusammengewachsenen Weltbevölkerung immer weiter verkürzt, gilt es grundsätzlicher über unser Verhältnis zu Krieg und Frieden nachzudenken.

248

Literatur

Adorno, Theodor W. (1995): Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W./Frenkel-Brunswik, Else/Levinson, Daniel/Sanford, Nevitt R. (1950): The Authoritarian Personality, Berkeley: Harper & Brothers. Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp. (2021): An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik, Wien: Turia + Kant. Amery, Carl (1976): Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen, Hamburg: Rowohlt. Anhorn, Roland (2013): Wie die Moral in die soziale Arbeit kommt ... und was sie dabei anrichtet. Über den „Soziale-Probleme-Diskurs“, „Moralunternehmer“ und „Moralpaniker“ in der sozialen Arbeit am Beispiel der Kinder-Armut. Eine ideologische Skizze. In: R. Großmaß/R.Anhorn (Hg.): Kritik der Moralisierung. Theoretische Grundlagen – Diskurskritik – Klärungsvorschläge für die berufliche Praxis, Wiesbaden: Springer VS, 255 – 293. Arendt, Hannah (1975): Macht und Gewalt, München: R. Piper & Co. Verlag. (1991): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München: Piper. (2007): Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper. Aristoteles (1995): in sechs Bänden, Hamburg: Felix Meiner Verlag. Arnold, Martin (2011): Gütekraft. Ein Wirkungsmodell aktiver Gewaltfreiheit nach Hildegard Goss-Mayr, Mahandas K. Gandhi und Bart de Light. Mit einem Geleitwort von Johan Galtung, Baden-Baden: Nomos. Assmann, Jan (2015): Exodus: Die Revolution der Alten Welt, München: Beck Verlag. Baecker, Dirk (2002): Beobachtung mit Medien. In: C. Liebrand/I. Schneider (Hg.): Medien in Medien. Mediologie Bd. 6, Köln: DuMont, 12 – 24. (2005): Schlüsselwerke der Systemtheorie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. (Hg.) (2016): Terrorismus. Fuzzy-Logisch und Formtheoretisch. Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie, 21, 1, Oldenburg: De Gruyter. (2017): Produktkalkül, Leipzig: Merve Verlag. (2018): 4.0 oder Die Lücke, die der Rechner lässt, Leipzig: Merve Verlag. (2019): Intelligenz, künstlich und komplex, Leipzig: Merve Verlag.

249

Baecker, Dirk/Krieg, Peter/Simon, Fritz B. (Hg.) (2002): Terror im System. Der 11. September und die Folgen, Heidelberg, Carl-Auer-Systeme Verlag. Barriga, Stefan (2010): Der Kompromiss von Kampala zum Verbrechen der Aggression aus der Verhandlungsperspektive, LL. M., New York. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com Basile, Pierfrancisco (2021): Antike Philosophie, Bielefeld: transcript Verlag. Becker, Johannes/Brücher, Gertrud (Hg.) (2001): Der Jugoslawienkrieg, eine Zwischenbilanz, Münster, Hamburg, London: LIT Verlag. Bernasconi, Robert (2019): Ewiger Friede und totaler Krieg, in: J. Hirsch/P. Delhom (Hg.): Denkwege des Friedens. Aporien und Perspektiven, Freiburg, München: Verlag Karl Alber, 50 – 71. Bollnow, Otto-Friedrich (1982): Kierkegaard und die Existenzphilosophie. In: Meyers Großes Universallexikon Bd. 8, Mannheim, Wien, Zürich: 555 – 559. Bonacker, Thorsten (2002): Die Konflikttheorie der autopoietischen Systemtheorie. In: T. Bonacker (Hg.): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung. Friedens- und Konfliktforschung 5, Opladen: Leske & Budrich, 267 – 291. (2011): Forschung für oder Forschung über den Frieden? Zum Selbstverständnis der Friedens- und Konfliktforschung, in: P. Schlotter/S. Wisotzki (Hg.): Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden: Nomos, 46 – 77. (2019): „Wann werden die Vereinten Nationen Truppen nach Kalifornien senden? Human Security aus nicht-westlichen Perspektiven. In: I.-J. Werkner, B. Oberndörfer (Hg.): Menschliche Sicherheit und gerechter Frieden. Politisch-ethische Herausforderungen, Band 4, 49 – 76. Bonacker, Thorsten/Daxner, Michael/Free, Jan H./ Zürcher, Christoph (Hg.) (2010): Interventionskultur. Zur Soziologie von Interventionsgesellschaften, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bostrom, Nik (2016): Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies, Oxford: University Press. Braun, Andreas (2021): Strukturelle Gewalt – ein überschätzter Begriff. In: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, 10, 5 – 35. Brock, Lothar/Simon, Hendrik (2019): Turmbau zu Babel? Friedensarchitekten in kriegerischer Zeit, in: J. Hirsch/P. Delhom (Hg.): Denkwege des Friedens. Aporien und Perspektiven, Freiburg, München: Verlag Karl Alber, 26 – 49. Brandt, Ulrike (2015): Kommentar zu Epiktets Encheiridion (Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Klassikern), Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Brücher, Gertrud (1996): Frieden ein Modus der Gewalt? Zum Umgang mit der Paradoxie von Frieden und Gewalt in der Zivilisierungstheorie, in: W. Vogt (Hg.): Frieden durch Zivilisierung? Probleme – Ansätze – Perspektiven, Münster: Agenda Verlag, 178 – 189.

250

(2002): Frieden als Form. Zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, Opladen: Leske + Budrich. (2004): Menschenmaterial. Zur Neubegründung von Menschenwürde aus systemtheoretischer Perspektive. Opladen: Verlag Barbara Budrich. (2004a): Postmoderner Terrorismus. Zur Neubegründung von Menschenrechten aus systemtheoretischer Perspektive, Opladen: Verlag Budrich Budrich. (2006): Unverfügbarkeit oder Leidverminderung. In: ETHICA. Wissenschaft und Verantwortung, 14, 3, 255 – 301. (2008): Pazifismus als Diskurs, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. (2011): Gewaltspiralen. Zur Theorie der Eskalation, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2013): Pazifismus oder Ethik als soziale Bewegung, in: Sicherheit und Frieden (S+F) 3 (31), 119 – 125. (2017): Ethik im Drohnenzeitalter. Band 1. Tötung und Tabu. Friedentheorien 3, Freiburg, München: Verlag Karl Alber. 2017a): Rechtspazifismus. In: IJ. Werkner/K. Ebeling (Hg.): Handbuch Friedensethik, Wiesbaden: Springer SV, 433 – 469. (2020): Ethik im Drohnenzeitalter. Band 2. Künstliche oder kulturelle Intelligenz? Friedenstheorien 5, Freiburg, München: Verlag Karl Alber. (2020a): Pazifismus. In: Staatslexikon Bd. 4, 8. Aufl., Freiburg, Basel, Wien: Herder, 722-725. Buber, Martin (1953-1954): Elemente des Zwischenmenschlichen. In: Neue Schweizer Rundschau 21, 593 – 608. Chomsky, Noam (2001): War against People. Menschenrechte und Schurkenstaaten, Hamburg: Europa-Verlag. Clam, Jean (2000): Unbegegnete Theorie. Zur Luhmann-Rezeption in der Philosophie. In: H. de Berg/J. Schmidt (Hg.): Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 296 – 321. (2004): Kontingenz, Paradox, Nur-Vollzug. Grundprobleme einer Theorie der Gesellschaft, Konstanz: UVK (Universitätsverlag Konstanz). Colli, Giorgio (1993). Distanz und Pathos: Einleitung zu Nietzsches Werken, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. Czempiel, Ernst-Otto (1996): Kants Theorem. Oder: Warum sind Demokratien (noch immer) nicht friedlich? In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 3. Jg. Heft 1, 79 – 101. Daase, Christopher (2011): Sicherheit schlägt Frieden. Zum normativen Wandel in der Weltpolitik, in: Polar – Politik, Theorie, Alltag, 11, 81 – 89. Daase, Christopher/Offermann, Philipp (2011): Subkulturen der Sicherheit. Die Münchner Sicherheitskonferenz und die Münchner Friedenskonferenz im Vergleich, in: Sicherheit und Frieden (S + F) 29 (2): 84 – 89.

251

Daub, Adrian (2021): Was das Valley denken nennt, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Delhom, Pascal (2000): Der Dritte, München: Fink. Desmet, Mattias (2022): The Psychology of Totalitarism, Chelsea Green Publishing Co. Derrida, Jaques (2003): Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Dohnany, Klaus von (2022): Nationale Interessen: Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche, München: Siedler Verlag. Dyson, George (2020): Analogia. The Emergence of Technology Beyond Programmable Control, New York: Farrar, Straus and Giroux. Ehlen, Nikolaus (1928): Von der katholischen Kirche und der Gewaltanwendung. In: F. Kobler (Hg.): Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus, Zürich und Leipzig: Rotapfel-Verlag, 76 – 84. Eilers, Wilhelm (2009): Codex Hammurabi. Die Gesetzesstele Hammurabis. In der Übersetzung von W. Eilers, Wiesbaden: matrixverlag. El Ouassil, Samira/Karig, Friedemann (2021): Erzählende Affen: Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen, Berlin: Ullstein Verlag. Enzensberger, Hans Magnus (1973): Zur Kritik der politischen Ökologie. In: Kursbuch, Hamburg: Kursbuch Kulturstiftung, 1 – 42. Epiktet (2005): Das Buch vom geglückten Leben, übersetzt von Karl Philipp Conz, bearbeitet und mit einem Nachwort von Bernhard Zimmermann, München: Beck. Esfeld, Michael (2019): Wissenschaft und Freiheit. Das naturwissenschaftliche Weltbild und der Status der Person, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Esposito, Elena (1993): Der Computer als Medium und als Maschine. In: Zeitschrift für Soziologie, 22, 5, 338 – 354. (2018): Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Mit einem Nachwort von Jan Assmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fidora, Alexander/Renner, Paul (2005): Ramon Llull und Nikolaus von Kues. Eine Begegnung im Zeichen der Toleranz, Turnhout: Brepols. Finger, Matthias/Chatterjee, Pratap (1994): The Earth Brokers, London: Routledge. Flasch, Kurt (2008): Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Flusser, Vilém (1998): Kommunikologie, Frankfurt am Main: Fischer. Foerster, Heinz von (1979): Cybernetics of Cybernetics. In: K. Krippendorff (ed.): Communication and Control in Society, New York: Gordon and Beach, 5 – 8. Forst, Rainer (2003): Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

252

Frankenberg, Günter/Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (2022): Treiber des Autoritären. Pfade und Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/ New York: Campus Verlag. Fromm, Erich (2019): Über den Ungehorsam und andere Essays, Gießen: Psychosozial-Verlag. Fuchs, Peter (2007): Das Maß der Dinge. Eine Abhandlung zur Metaphysik des Menschen, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Fuchs, Peter/Göbel, Andreas (Hg.) (1994): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft? Frankfurt am Main: Suhrkamp. Galtung, Johan (1972): Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In: D. Senghaas (Hg.): Kritische Friedensforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 55 – 104. (1975): Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. (1978): Methodologie und Ideologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln. Frieden und Konflikt, Entwicklung und Kultur, Oplade: Leske & Budrich. Gamm, Gerhard/Hetzel, Andreas (Hg.) (2015): Ethik – wozu und wie weiter? Bielefeld: transkript Verlag. Ganser, Daniele (2017): Illegale Kriege. Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren. Eine Chronik von Kuba bis Syrien, Zürich: Verlag Orell Füssli. Gehring, Petra (2021): Theorien des Todes. Eine Einführung, Hamburg: Junius. Giesen, Klaus-Gerd (2004): Ideologien in der Weltpolitik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Gießmann, Hans-Joachim (2019): Frieden und Sicherheit. In: H-J. Gießmann/B. Rinke: Handbuch Frieden, Berlin: Springer link, 655 – 674. Gigerenzer, Gerd (2020): Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, München: Pantheon Verlag. (2021): Klick: Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen, München: C. Bertelsmann Verlag. Gigon, Olof (1974): Einleitung. In: Platon Meisterdialoge, Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, Bd. 3., V – LXXXVI, Zürich/München, artemis Verlag. Girard, René (1998): Der Sündenbock. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh, Zürich, Düsseldorf: Benzinger Verlag. (2002): Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie ein Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. Mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk, München/Wien: Carl Hanser Verlag. Goppelsröder, Fabian (2018): Der Cyborg in der Optimierungsgesellschaft. So viel Körper war nie. In: Die Seele im digitalen Zeitalter, der blaue reiter – Journal für Philosophie, 41 (1/2018), 38 – 43. Graham, John W. (1928): Krieg und Protestantismus. In: F. Kobler (Hg.): Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus, Zürich und Leipzig: Rotapfel-Verlag, 85 – 88.

253

Greenfield, Adam (2013): Against the smart city (The city is here for you to use Book 1), New York: Kindle. Groebner, Valentin (1999): Trügerische Zeichen. Practick und das politisch Unsichtbare am Beginn der Neuzeit. In: H. D. Kittsteiner (Hg.): Geschichtszeichen, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 63 – 80. Gruhl, Herbert (1982): Ein Planet wird geplündert, Berlin: S. Fischer. Grunwald, Arnim (Hg.) (2021): Wer bist du, Mensch? Transformationen menschlicher Selbstverständnisse im wissenschaftlich-technischen Fortschritt, Freiburg, Basel, Wien: Herder. Grün, Anselm (1980): Der Umgang mit dem Bösen. Der Dämonenkampf im alten Mönchtum, Münster-Schwarzach: Vier-Türme-Verlag. Günther, Gotthard (1976): Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Vol. I, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 249-328. (1991): Idee und Grundriss einer nicht-Aristotelischen Logik. Mit einem Anhang „Das Phänomen der Orthogonalität“ und mit einem Fragment aus dem Nachlass „Die Metamorphose der Zahl“, Hamburg: Felix Meiner. (2018): Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations, in: www.vordenker.de - Deutsche Übersetzung (Sommer Etition 2018, J. Paul, Hg.) – URL: http://www.vordenker.de/ggphilosophy/gg_cyb_ontology_en-ger.pdf Habermas, Jürgen (2001): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt am Main: Suhrkamp. (2020): 30 Jahre danach: Die zweite Chance. Merkels europapolitische Kehrtwende und der innerdeutsche Vereinigungsprozess. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2020, 41 – 56. (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin: Suhrkamp. Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas (1976): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen/Ratzinger, Joseph (2005): Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermehl, Peter (1995): Parmenides: In: Metzler. Philosophisches Lexikon, Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler, 652 – 655. Hähnel, Martin/Schwartz, Maria (2018): Theorien des Guten zur Einführung, Hamburg: Junius. Hampe, Michael (2018): Die Dritte Aufklärung, Berlin: NP&I. Han, Byun Chul (2021): Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie, Berlin: Matthes & Seitz. Harari, Yuval Noah (2021): Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München: C.H. Beck. Haraway, Donna (1995): Ein Manifest für Cyborgs. In: diess.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main, New York: Campus.

254

Haruna-Oelker, Hadija (2022): Die Schönheit der Differenz: Miteinander anders Denken, München: btb Verlag. Harste, Gorm (2013): The Peace System – As a Self-referential Communication System. Nordicum- Mediterraneum 8 (3). DOI:10.3312/nm.8.3.3. (2021): The Habermas – Luhmann Debate, New York: Columbia University Press. Heidegger, Martin (1963): Der Spruch des Anaximander, in: Holzwege, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 296 – 343. (1972): Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag. (2000): Vorträge und Aufsätze (1936 – 1953). Hg. von Friedrich Wilhelm v. Herrmann, Gesamtausgabe 7, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Heidingsfelder, Markus/Lehmann, Maren (Hg.) (2021): Corona. Weltgesellschaft im Ausnahmezustand? Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Henrich, Dieter (1990): Ethik zum nuklearen Frieden, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Herdegen, Matthias (2018): Der Kampf um die Weltordnung: Eine strategische Betrachtung, München: C.H. Beck. Herzel, Andreas (2018): Zurück auf die Straße. Warum das Internet keine neue politische Öffentlichkeit etablieren kann. In: Die Seele im digitalen Zeitalter, der blaue reiter – Journal für Philosophie, 41, (1/2018), 54 – 59. Hirsch, Alfred/Delhom, Pascal (2019): Denkwege des Friedens. Aporien und Perspektiven. Erweiterte Neuausgabe, Freiburg, München: Verlag Karl Alber. Hobbes, Thomas (1989): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Übersetzt von Walter Euchner. Hg. von Iring Fetscher, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hochscheid, Kai (2011): Vilém Flusser. Kommunikation und menschliche Existenz. In: S. Moebius/D. Quadflieg (Hg.): Theorien der Gegenwart. 2. Erweiterte Auflage, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 613 – 624. Hofheinz, Marco (2018): Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt. Ein Vergleich in Thesen. In: S. Jäger/I.-J. Werkner (Hg.): Gewalt in der Bibel und in kirchlichen Traditionen. Fragen zur Gewalt. Band 1, Wiesbaden: Springer VS, 53 – 85. Holtmann, Wilhelm (1984): Irenik. In: Theologische Realenzyklopädie 16, 268 – 273. Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main: Suhrkamp. (2018): Anerkennung. Die Geschichte einer zentralen Idee Europas, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1969): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam: Schwarze Reihe. Hoyningen-Huene, Paul (1989): Die Wissenschaftsphilosophie Thomas, S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme, Braunschweig: Vieweg.

255

Huntington, Samuel P. (1993): The Clash of Civilizations? Foreign Affairs. 72 (3): 22 – 49. Huxley, Aldous (2014): Schöne neue Welt: Ein Roman der Zukunft, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch. Hübner, Dietmar (2016): Kultürlichkeit statt Natürlichkeit: Ein vernachlässigtes Argument in der bioethischen Debatte um Enhancement und Anthropotechnik. In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Oldenburg: Walter de Gruyter, http://doi.org/10.1515/jwiet-5015-0104 Imbusch, Peter/Meyer, Lotta (2021): Analytisch unbrauchbar? Eine Replik auf Andreas Brauns Kritik am Konzept der „strukturellen Gewalt“. In: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, 10, 35 – 43. Jaberg, Sabine (2019): Frieden und Sicherheit. Von der Begriffslogik zur epistemischen Haltung. In: I.-J.- Werkner/M. Fischer (Hg.): Europäische Friedensordnungen und Sicherheitsarchitekturen. Politisch-ethische Herausforderungen. Band 3, Wiesbaden: Springer VS, 13 – 42. Jäger, Sarah/Enns, Fernando (Hg.) (2019): Gerechter Frieden als ekklesiologische Herausforderung. Politisch-ethische Herausforderungen. Gerechter Frieden, Band 2, Wiesbaden: Springer VS. Jaeger, Werner (1959): Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin: de Gruyter. Jahn, Egbert/Fischer, Sabine/Sahm, Astrid (Hg.) (2005): Die Zukunft des Friedens. Band 2. Die Friedens- und Konfliktforschung aus der Perspektive der jüngeren Generationen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Japp, Klaus Peter (2006): Terrorismus als Konfliktsystem, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie, 12, (1), 6 – 32. (2016): Puritanischer Terror, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie, 21 (1), 42 – 78. Jensen, Jessica (2015): Krieg um des Friedens willen. Zur Lehre vom gerechten Krieg, Baden-Baden: Nomos. Kant, Immanuel (1956): Die Religion in den Grenzen der praktischen Vernunft, hg. von Karl Vorländer, Mit Einleitung von H. Noack: Die Religionsphilosophie im Gesamtwerk Kants, Hamburg: Verlag von Felix Meiner. (1967): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). In: I. Kant, Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, hg. und eingeleitet von J. Zehbe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. (1968): Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Kants Werke, Akademie Ausgabe VII, Berlin, New York: Walter de Gruyter. (1977): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe Band XI, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 191 – 251.

256

(1993): Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt, Hamburg: Felix Meiner Verlag. Kapust, Antje (2004): Der Krieg als der Ausfall der Sprache, München: Wilhelm Fink Verlag. Kardec, Allan (2000): Das Buch der Medien. Ein Wegweiser für Medien und Anrufer. Über Art und Einfluss der Geister, Freiburg, Verlag Bauer. Kaufmann, Walter Arnold (1978): Nietzsche als der erste große Psychologe. In: Nietzsche Studien 7 (1):261, pp. 261 – 287. http://doi.org/10.1515/9783110244274.261 Khoury, Adel, Theodor (1980): Begegnung mit dem Islam. Eine Einführung, Freiburg, Basel, Wien: Herder. Kissinger, Henry A. (2016): Weltordnung, München: Pantheon Verlag. Kohlhöfer, Philipp (2021): Pandemien. Wie Viren unsere Welt verändern. Mit einem Vorwort von Christian Drosten, Frankfurt am Main: S. Fischer. Korte, Karl-Rudolf (2003): Information und Entscheidung: die Rolle von Machtmaklern im Entscheidungsprozess von Spitzenagenturen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. APuZ Jg. (2003); Nr. 43: Parlamentarismus, 32 – 38. Koselleck, Reinhart (1975): ‚Erfahrungsraum’ und ‚Erwartungshorizont’ – zwei historische Kategorien. In ders.: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 349 – 375. Kreuzmair, Elias (2021): Futur II. In: E. Kreuzmair/E. Schumacher (Hg.): Literatur nach der Digitalisierung: Zeitkonzepte und Gegenwartsdiagnosen, Berlin/Boston: Walter de Gruyter. 33 – 56. Krohn, Thomas (2015): Reflexiver Terrorismus, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Krohn, Thomas/Verneuer, Lena M. (2020): Struktur? Physis? Situation? Zur Erklärung von Gewalt. In: Berliner Journal für Soziologie, 30, 393 – 419. Krone-Schmalz, Gabriele (2018): Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum dies so gefährlich ist, München: C.H. Beck. (2020): Respekt geht anders. Betrachtungen über unser zerstrittenes Land, München. C.H. Beck. Krosigk, Friedrich von (1969): Philosophie und politische Aktion bei Jean Paul Sartres, Münchener Studien zur Politik Band II, München: Verlag C.H. Beck. Krönig, Franz Kaspar (2021): Warum erst jetzt? In: Kaiser, Gunnar (Hg.): Wie konnte es nur so weit kommen? Berlin: Sodenkamp & Lenz, 115 – 119. Krysmansi, Hans-Jürgen (1971): Soziologie des Konflikts. Materialien und Modelle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Kucklick, Christoph (2014): Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst, Berlin: Ullstein. Kuhn, Thomas S. (1962): The Structure of Scientific Revolution, Chicago: Uni-

257

versity of Chicago Press. Deutsch: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kumkar, Nils C. (2022): “Alternative Fakten”. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kurzweil, Ray (2006): The Singularity is Near: When Humans Transcend Biology, London: Penguin Books; Illustrated Edition. (2010): Transcend: Nine Steps to Living Well Forever, Emmaus, Pennsylvania: Rodal Books. (2012): How to Create a Mind: The Secret of Human Thought Revealed, London: Penguin Books; Illustrated Edition. Latif, Mobjib (2022): Countdown. Unsere Zeit läuft ab – was wir der Klimakatastrophe noch entgegensetzen können, Freiburg, Basel, Wien: Herder. Lee, Jin-Woo (1992): Politische Philosophie des Nihilismus. Nietzsches Neubestimmung des Verhältnisses von Politik und Metaphysik, Berlin, New York: Walter de Gruyter. Leibnitz Gottfried Wilhelm (1954): Monadologie. Neu übersetzt. Eingeleitet und erläutert von Herrmann Glockner, Stuttgart: Reclam. (2013): Die Theodizee, Berlin: Holzinger Verlag. Liessmann, Paul (2023): Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls, Wien: Verlag Paul Zolnay. Luhmann, Niklas (1968): Status Quo als Argument, in: Horst Baier (Hg.): Studenten in Opposition. Beiträge zur Soziologie der deutschen Hochschule, Bielefeld, 74 – 82. (1973): Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. (1974): Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin: Duncker & Humblot. (1975): Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag. (1981): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp. (1982): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main: Suhrkamp. (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag. (1990): Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. (1991): Soziologie des Risikos, Berlin, New York: de Gruyter. (1992): Beobachtungen der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag.

258

(1995): Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen: Westdeutscher Verlag. (1996): Die Realität der Massenmedien, 2. erweiterte Auflage, Darmstadt: Westdeutscher Verlag. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt am Main: Suhrkamp. (2000): Die Politik der Gesellschaft. Hg. von André Kiesering, Frankfurt am Main: Suhrkamp. (2008): Die Moral der Gesellschaft. Hg. von D. Horster, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Lullus, Ramon (1985): Die neue Logik. Logica Nova. Lateinisch – Deutsch. Textkritisch hg. von Ch. Lohr, übersetzt von V. Hösle und W. Büchel. Mit einer Einleitung von Vittorio Hösle, Hamburg: Felix Meiner-Verlag. (1986): Buch vom Heiden und den drei Weisen. Mit Beiträgen von R. Panikkar, A. Bonner, Ch. Lohr, H. Herder, Freiburg, Basel, Wien: Herder. (1999): Ars brevis. Lateinisch - Deutsch, Hamburg: Felix Meiner-Verlag. Lütge, Christoph/Esfeld, Michael (2021): Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen, München: Riva Verlag. Lyotard, Jean Francois (1999): Das postmoderne Wissen. 3. Aufl. Wien: Passagen-Verlag. Machiavelli, Niccolò (1995): Der Fürst. Mit einem Nachwort von Horst Günther, Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch. Mausfeld, Rainer (2018): Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören, Frankfurt am Main: Westend. McLuhan, Marshall (1964): Understanding Media: The Extension of Man, New York: Metor. Meggle, Georg (Hg.) (2003): Terror & Der Krieg gegen ihn. Öffentliche Reflexionen, Paderborn: mentis. (2004): Humanitäre Interventionsethik. Was lehrt uns der Kosovo-Krieg? Paderborn: mentis. Meier, Christian (1978): Ein antikes Äquivalent des Fortschrittsgedankens: Das Könnensbewusstsein des 5. Jahrhunderts v. Chr.. Aus der Zeitschrift Historische Zeitschrift, https://doi.org/10.1524/hzhz.1978.226.jg.265. Veröffentlicht von De Gruyter 1. Jan. 2014, Oldenburg. Meier, Christina (2020): Die unbekannten Athener, Oldenburg: De Gruyter. Merkel, Reinhard (Hg.) (2000): Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Metzl, Jamie (2020): Der designte Mensch. Wie die Gentechnik Darwin überlistet. Aus dem Englischen von G. Gockel, S. Schuhmacher, C. Varrelmann, Hamburg: Edition Körber.

259

Meyers, Reinhard (2019): Krieg und Frieden. In: H-J. Gießmann/Rinke, B.: Handbuch Frieden, Berlin: Springer link, 1 – 42. Misik, Robert (2022): Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution, Berlin: Suhrkamp. Möller, Kurt (2017): Entwicklungen und Ausmaß gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, in: Albert Scherr, Aladen El-Mafaaiani, Gökcen Yuksel (Hg.): Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden: Springer VS, 425 – 447. Montesquieu, Baron de (1748): The Spirit of Laws, trans. Thomas Nugent, 2 vols. New York: The Colonal Press (1899), 1: 151 – 162. Müllenbrock, Heinz-Joachim (2013): George Orwell – aktueller denn je. Uni im Café. Neue Literarische Gesellschaft Marburg: Blaues Schloss. Müller, Hans-Joachim (2004): Irenik als Kommunikationsform. Das Colloquium Charitativum in Thorn 1645, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Müller, Olaf L. (2007): Pazifismus mit offenen Augen. In: D. Strub/S. Grotefeld (Hg.): Der gerechte Friede zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg. Paradigmen der Friedensethik im Diskurs, Stuttgart: Kohlhammer. (2022): Pazifismus. Eine Verteidigung, Leipzig: Reclam. Narayanan, Darshana (2022): The Dangerous Populist Science of Yuval Noah Harari. In: Current Affairs 06.07.2022. (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München: C. H. Beck. Negel, Joachim (2020): Kugelworte. Ein Grundkurs des Glaubens in 24 Predigten, Rheinbach: cmz-Verlag. Nestle, Wilhelm (1940): Vom Logos zum Mythos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag. Nietzsche, Friedrich (1954): Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Werke in drei Bänden, entstanden 1872/73, Band 3, München: Holzinger. (1990): Die fröhliche Wissenschaft. Mit einem Essay von Renate Reschke, Leipzig: Reclam. (1994): Jenseits von Gut und Böse. Mit einem Nachwort von Ralf-Rainer Wuthenow, Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch. (2011): Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Hamburg: Nikol Verlag. Noelle-Neumann, Elisabeth (1980): Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – Unsere soziale Haut, München: Piper Verlag. Nordhofen, Eckhard (2020): Christentum als Buchreligion. Schreibt Gott? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. 04. 2020, Nr. 86, 11. (2022) Media divida: Die Medienrevolution der Bilder, Freiburg, Basel, Wien: Herder. Orwell, George (1971): Animal Farm. A Fairy Story, London: Longman.

260

(1994): 1984. Der dystopische Klassiker mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann, Berlin: Ullstein Taschenbuch. (2021): Tage in Burma. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Mit einem Nachwort von Manfred Papst, Zürich: Dörlemann Verlag. Picht, Georg (1975): Zum Begriff des Friedens. In: M. Funke (Hg.): Friedensforschung. Entscheidungshilfe gegen Gewalt, München: List, 24 – 30. (1980): Hier und Jetzt: Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima. Band 1, Stuttgart: Klett-Cotta. (1981): Hier und Jetzt: Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima. Band 2, Stuttgart: Klett-Cotta. Platon (1964): Der siebente Brief, Stuttgart: Reclam. (1988): Platon sämtliche Dialoge, 7 Bde., Hamburg: Felix Meiner Verlag. Popper, Karl L. (1957): Der Zauber Platons. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I, Bern, München: Francke Verlag. (1958): Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II, Bern, München: Francke Verlag. Prietzel, Fabian (2019): Big Data is watching you: Persönlichkeitsanalyse und Microtargeting auf Social Media. In: M. Appel (Hg.): Die Psychologie des Postfaktischen, Berlin: Springer, 81 – 89. Rastorgujeva, Irina (2022): Das Russlandsimulakrum, Berlin: Matthies & Seitz. Rawls, John (2002): Das Recht der Völker, Berlin, New York: Walter de Gruyter. Reif, Adelbert (Hg.) (1979): Hannah Arendt Materialien zu ihrem Werk, Wien: Europaverlag. Rinke, Bernhard/Lammers, Christiane/Meyers, Reinhard/Simonis, George (Hg.) (2014): Interventionen Revisited. Friedensethik und Humanitäre Intervention, Wiesbaden: Springer VS. Röttgers, Kurt (2002): Metabasis. Philosophie der Übergänge, Berlin: Edition Humbold. (2005): Die theoretische Auferstehung des Menschen angesichts praktischer Prozesse der Entdifferenzierung. In: ETHICA Wissenschaft und Verantwortung, 13, 3, 281 – 287. (2012): Gewalt. In: G. Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 10, Tübingen: De Gruyter, 339 – 355. (2013): Sozialphilosophie und Ethik. In: R. Großmaß/R. Anhorn (Hg.): Kritik der Moralisierung. Theoretische Grundlagen – Diskurskritik – Klärungsvorschläge für die berufliche Praxis, Wiesbaden: Springer VS. Rushkoff, Douglas (2022): Survival of the Richest. Escape Fantasies of the Tech Billionaires, New York: W.W. Norton & Company. Salin, Éric (2018) L’Intelligence artificiel ou L’Enjeu du siècle. Anatomie d’un antihumanisme radical, Paris, Édition L’Échappée.

261

Sartre, Jean-Paul (1974): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg: Rowohlt, Origin. L’Ètre et le Néant (1943). (1975): Der Ekel, Hamburg: Rowohlt Scheffran, Jürgen (2020): Kollaps und Transformation. Die Corona-Krise und die Grenzen des Anthropozäns. In: Wissenschaft & Frieden (W&F), 2, 6 – 9. Schimank, Uwe (2021): Universitäten und Gesellschaft im Wandel. Folgen für die Wissenschaftsfreiheit? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), bpb (Bundeszentrale für politische Bildung) 12.11.2021. Schlaudt, Oliver (2022): Das Technozän: Eine Einführung in die evolutionäre Technikphilosophie, Leipzig: Klostermann. Schmidt, Siegfried J. (Hg.) (1987): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schmidt-Biggemann, Wilhelm (2018): Llull, Leibnitz, Kirchner, and the History of Lullism in the Early Modern Era. In: Vega/Weibel/Zielinsky, 38 – 61. Schopenhauer, Artur (1996): Eristische Dialektik oder die Kunst, Recht zu behalten, Zürich: Haffmanns Verlag. Schottländer, Rudolf (1929): Nus als Terminus. In: Hermes 64, 228 – 242. Schües, Christina (2021): Der Mensch als homo immunis. Geboren unter anthropotechnischen Bedingungen. In: A. Grunwald (Hg.): Wer bist du, Mensch? Freiburg, Basel, Wien: Herder, 40 – 62. Schuhmacher, Ernst F. (2013): Small is Beautiful: Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Deutsche Übersetzung von Karl A. Klever, München: oecom Verlag Schumpeter, Joseph (2005): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Stuttgart: UTB. Schwab, Klaus (2016): Die Vierte Industrielle Revolution, München: Pantheon Verlag. Schwab, Klaus/Malleret, Thierry (2020): Covid-19. Der grosse Umbruch, Cologny/Genf. (2022): Das Grosse Narrativ. Für eine bessere Zukunft, Cologny/Genf: Forum Publishing. Seele, Peter (2020): Künstliche Intelligenz und Maschinisierung des Menschen, Magdeburg: Herbert von Halem Verlag. Senghaas, Dieter (1995): Frieden als Zivilisierungsprojekt, in: W. R. Vogt (Hg.), Frieden als Zivilisierungsprojekt – Neue Herausforderungen an die Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden, 37 – 54. (1998): Zivilisierung wider Willen: Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst, Frankfurt am Main: Suhrkamp. (2004): Zum irdischen Frieden – Erkenntnisse und Vermutungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Shiva, Vandana/Shiva, Kartikey (2021): Eine Erde für alle! Einssein versus das

262

1%. Aufstehen gegen die Monokultur von Wirtschaft und Weltsicht, aus dem Englischen von Laura Spies Saarbrücken: Neue Erde. Simon, Erika (1988): Eirene und Pax. Friedensgöttinnen in der Antike, Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johan Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Band XXIV, Nr. 3, Stuttgart: Wiesbaden: Franz Steiner. Simon, Fritz B. (2001): Tödliche Konflikte. Zur Selbstorganisation privater und öffentlicher Kriege, Heidelberg: Carl-Auer Verlag. Sloterdijk, Peter (1999): Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp. (2000): Der Anwalt des Teufels. Niklas Luhmann und der Egoismus der Systeme. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für Soziologische Theorie, 1/2000, 3 – 38. (2001): Der operable Mensch. Anmerkungen zur Biotechnologie, Enger: Wissen und Verantwortung. Verein zur Carl Friedrich von Weizäcker Stiftung e.V. (2016): Die Sonne und der Tod. In: Sloterdijk, Peter/Heinrichs, Jürgen: Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 46 – 135. (2021): Der Staat streift seine Samthandschuhe ab. Ausgewählte Gespräche und Beiträge 2020-2021, Berlin: Suhrkamp. Sorgner, Stefan Lorenz (2016): Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt“!? Freiburg: Herder. Spencer-Brown, George (1979): Laws of Form. Gesetze der Form. Übersetzung T. Wolf, Leipzig, Bohmeier Verlag. Sternberger, Dolf (1984): Über die verschiedenen Begriffe des Friedens. Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Band XXI, Nr 1, Stuttgart: Franz Steiner Verlag Wiesbaden. Stöcker, Christian (2020): Das Experiment sind wir, München: Pengun Random House Verlagsgruppe. Sturchio, Jeffrey L./Kickbusch, Ilona/Galambos, Louis (Hg.) (2019): The Road of Universal Health Coverage. Innovation, Equity and the New Health Economy. Foreword by Tedros Adhanom Chebreyesus, Director-General, World Health Organisation, Baltimore: John Hopkins University Press. Thagard, Paul (2021): Bots and Beasts: What Makes Maschines, Animals, and People smart? Cambridge, Massachusetts: The MIT Press. Theophrast (1973): Theophrasts Ethik. Griechische Denker. Dreiundvierzigstes Kapitel: Straton von Lampsakos, http://doi.org/10.1515/978311087663 5.3.419, Veröffentlicht De Gruyter. Traunmüller, Richard/Revers, Matthias (2021): Lässt sich „Cancel Culture“ empirisch belegen? Impulse für eine pluralistische Fachdebatte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Creative Common Lizenz CC BY-NCND-3.0 DE

263

Troge, Thomas A. (2011): Kommunikation – Kognition – Kreativität. In: kunsttexte.de 4/2011. Türcke, Christoph (2021): Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns, München: C.H. Beck. (2022): Die Überwindung des Fremden. Die Wurzeln der Xenophobie und ihre neueren Erscheinungsformen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.03.2022, Nr. 75, N4. Vaas, Rüdiger (2018): Das berechnete Bewusstsein. Von digitalen Denkwürdigkeiten zur ungeheuerlichen Unsterblichkeit. In: Die Seele im digitalen Zeitalter, der blaue reiter – Journal für Philosophie 41 (1,2018), 50 – 53. Vattimo, Gianni (2001): Die Spur der Spur. In: Derrida, J./Vattimo, G.: Die Religion, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 107 – 124. (2002): Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott? Aus dem Italienischen von M. Pfeiffer, München, Wien: Hanser. (2018): Is Religion an Enemy of Civization? In: Vega/Weibel/Zielinski, 15 – 22. Vega, Amador/Weibel, Peter/Zielinski, Siegfried (Hg.) (2018): Dialogos. Ramon Llull’s Method of Thought and Artistic Practice, ZKM. Center for Art and Media, Karlsruhe, Germany; Centre de Cultura Contemporània de Barcelona – CCCB, Spain; and École polytechnique fédérale de Lausanne – EPFL, Switzerland. Waldenfels, Bernhard (2017): Platon. Zwischen Logos und Mythos, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Weber, Max (2005): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Mit einem Vorwort von Dr. Alexander Ulfig, Frankfurt am Main: Zweitausendundeins. Weibel, Peter (2018): Ramon Llull: Poet as Pioneer of Digital Philosophy. In: Vega/Weibel/Zielinsky, 95 – 127. Weidling, Paul (2015): Julien Huxley and the Continuity of Eugenics in Twentieth Century Britain, in: J. Mod Eur Hist., 2012 Nov. 1_10 (4): 480 – 499, Europe PMC Founder Group. Weissenberg, J. Timo (2005): Die Friedenslehre des Augustinus. Theologische Grundlagen und ethische Entfaltung, Kohlhammer: Stuttgart. Weizäcker, Carl-Friedrich von (2020): Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945 – 1994, Hamburg: Nikol Verlag. Werkner, Ines-Jacqueline (2017): Zum Friedensbegriff in der Friedensforschung, in: I.-J. Werkner/K. Ebeling (Hg.): Handbuch Friedensethik, Wiesbaden: Springer VS., 19 – 32. Werkner, Ines-Jaqueline/Schües, Christina (Hg.) (2018): Gerechter Frieden als Orientierungswissen. Grundsatzfragen. Gerechter Frieden. Band 1, Wiesbaden: Springer VS. Werkner, Ines-Jaqueline/Oberdörfer, Bernd (Hg.) (2019): Menschliche Sicher-

264

heit und gerechter Frieden. Politisch-ethische Herausforderungen. Gerechter Frieden. Band 4, Wiesbaden: Springer VS. Werkner, Ines-Jaqueline/Rudolf, Peter (Hg.) (2019): Rechtserhaltende Gewalt – zur Kriteriologie. Gerechter Frieden. Fragen zur Gewalt. Band 3, Wiesbaden: Springer VS. Wood, Patrick M. (2014): Technology Rising. The Trojan Horse of Global Transformation, Coherent Publishing. - (2018): Technocracy. The Hard Road to World Order, Coherent Publishing, LLC. Zehnpfennig, Baraba (1997): Platon zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag.

265