Komplikationen in der Notfallmedizin: Fallbeispiele - Analyse - Prävention [1. Aufl. 2019] 978-3-662-56474-5, 978-3-662-56475-2

Das Werk beschreibt praxisnah anhand von 29 Fallbeispielen wie es zu Beinahe-Zwischenfällen, Zwischenfällen oder Komplik

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Komplikationen in der Notfallmedizin: Fallbeispiele - Analyse - Prävention [1. Aufl. 2019]
 978-3-662-56474-5, 978-3-662-56475-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVII
Übersicht über die rettungsdienstlichen Strukturen in Deutschland und der Schweiz (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 1-4
Basiswissen zu Human-Factors, non-technical skills sowie Performance (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 5-9
Wenn einen die eigene Geschichte einholt – Intoxikation (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 11-15
Skiunfall – Innere Homöostase (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 17-31
Was ist denn mit dem los? – Sucht, Depression (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 33-40
Zugunfall – Posttraumatische Belastungsstörung (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 41-47
Wenn so vieles schlecht läuft (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 49-55
Explosionsunfall – Verschiedene mentale Modelle (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 57-61
Person unter LKW - Wenn vieles gut läuft (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 63-67
Aneinander vorbeireden – Medikamentenverwechslung (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 69-73
Schwer krankes Neugeborenes – Die Sache mit der Selbsteinschätzung (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 75-81
Nicht so recht Bescheid wissen – Gerätekenntnis (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 83-87
Verkehrsunfall – Auf einer Ansicht beharren (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 89-94
Grenzen von Algorithmen – Outdoor (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 95-104
Bedrohungslage (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 105-109
Plötzlicher Kindstod – Kommunikation mit Eltern (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 111-119
Leichenschau – Umgang mit Rechtsvorschriften (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 121-128
Motorradunfall – Auf einer Sache beharren (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 129-136
Internistischer Notfall – Unterforderung (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 137-143
Intensivverlegung – Ärger im Team (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 145-153
Intensivtransport – Darf man reinreden? (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 155-163
Andere Länder, andere Sitten – Auslandseinsatz (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 165-172
Ausländischer Patient – Umgang mit anderen Kulturen (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 173-178
Fahrradunfall – CRM-Leitsätze (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 179-185
Rutschen auf nasser Straße – Decision-Making (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 187-194
Unfall auf Parkplatz – Der fehlende Überblick (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 195-201
Verdacht auf Schlaganfall – Die Sache mit den Schnittstellen (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 203-209
Das Gefühl der Machtlosigkeit (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 211-216
Ist Fehler gleich Fehler? – CIRS-Programm (Thomas Ahne, Wolfgang Mayer Scarnato)....Pages 217-226
Back Matter ....Pages 227-233

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Thomas Ahne · Wolfgang Mayer Scarnato

Komplikationen in der Notfallmedizin Fallbeispiele - Analyse - Prävention

Komplikationen in der Notfallmedizin

Thomas Ahne • Wolfgang Mayer Scarnato

Komplikationen in der Notfallmedizin Fallbeispiele - Analyse - Prävention

Dr. Thomas Ahne Gesundheitszentrum Todtnau Todtnau, Deutschland

Dr. Wolfgang Mayer Scarnato Klinik Hirslanden Institut für Anästhesiologie Klinik Hirslanden Zürich, Schweiz

ISBN 978-3-662-56474-5    ISBN 978-3-662-56475-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi­bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Fotonachweis Umschlag: © Dino Janser Umschlaggestaltung: deblik Berlin Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort zur 1. Auflage

Nicht ohne Stolz dürfen wir Ihnen und Euch die erste Auflage von „Komplikationen in der Notfallmedizin“ vorstellen. Wir sind fest überzeugt, dass die menschlichen Faktoren massgeblich wenn sogar nicht überwiegend unsere Leistungsfähigkeit bestimmen. Besonders in schwierigen und komplexen Situationen tritt dieser Fakt besonders zu Tage. Bereits vor uns haben sich schon andere Autoren dieser Thematik gewidmet, beispielsweise der Bestseller aus der Anästhesie ebenfalls im Springer Verlag. Warum braucht es dann ein eigenes Buch aus der Notfallmedizin? Die Leser lernen besonders gut, wenn sie sich in die geschilderten Fälle hineinversetzen können, weil sie ähnliche Situationen aus ihrem eigenen Arbeitsumfeld kennen. Zwar treten in allen Fachbereichen und Branchen die gleichen Herausforderungen und Gesetzmäßigkeiten zu Tage, aber es braucht für einen guten Transfer einen direkten Bezug zur eigenen Tätigkeit. Wir haben aber bewußt nicht die anderen Bücher zur gleichen Thematik in anderen Bereichen für die Notfallmediziner übersetzt, sondern einen eigenen Ansatz an die arbeitstäglichen Herausforderungen entwickelt. Es soll sich jeder in der Akut- und Notfallmedizin Tätige angesprochen fühlen und sich im Buch wieder finden. Daher haben wir bewußt versucht einen interdisziplinären und interprofessionellen Ansatz zu wählen unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse in allen deutschsprachigen Ländern. Wir haben deutsche Wurzeln, arbeiten beide aber für ein Schweizer Luftrettungsunternehmen im deutsch-schweizer Grenzgebiet mit alltäglichen Einsätzen in beiden Ländern. Aber auch in Österreich und neuerdings in Liechtenstein waren wir bereits notärztlich tätig und kennen die entsprechenden Rettungssysteme mit ihren Stärken und Schwächen und versuchen diese im vorliegenden Buch wieder zu geben. Der geschätzte Leser bzw. die Leserin soll sich in die Fälle hinein versetzen können, sie haben oftmals auch einen reellen Bezug zu stattgehabten Erlebnissen, sie wurden aber allesamt stark verfremdet. Dadurch wollen wir die Originalpersonen schützen, denn es geht nicht um das „wer“ sondern um das „was“ und „warum“. Ebenso können wir oftmals auch kein Allheilmittel für die entsprechende Problematik bieten, aber wir können dafür sensibilisieren und zur Diskussion anregen. Dies wäre uns auch die größte Freude: Die Leser sollen über die Inhalte diskutieren und eigene Lösungsstrategien entwickeln, wir freuen uns auch über jede Rückmeldung hierzu. Ebenso möchten wir dazu aufrufen uns V

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Vorwort zur 1. Auflage

auch Problemfelder zu melden, die wir in dieser ersten Auflage noch nicht berücksichtigt haben. Die jetzigen Kapitel sind nur eine erste Auswahl und erheben sicherlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir möchten aber die Chance bei dieser Gelegenheit nicht versäumen herzlich „Danke“ zu sagen: Unseren Ehefrauen und Kindern, die aufgrund dieses Projekts noch mehr als sonst auf uns verzichten mußten, haben unsere Passion mit viel Geduld und Nachsicht ertragen. Der Firma Alpine Air Ambulance (AAA) aus der Familie der Lions Air Group gilt unser Dank, da sie uns beide zusammengebracht und zu stetem innovativen Denken angeregt hat, auch wenn wir uns einer prinzipiell „heißen Thematik“ angenommen haben – denn wer will sich denn schon mit Komplikationen oder gar Fehlern in Verbindung bringen lassen. Ein Großes Glück hatten wir zudem mit der überaus konstruktiven und extrem hilfreichen wie warmherzigen Zusammenarbeit mit dem Springer Verlag um Frau Dr. Krätz und Herrn Treiber. Aber auch unseren Lesern wollen wir herzlich danken, dass sie sich die Zeit nehmen sich dieser in unseren Augen so wichtigen Thematik an zu nehmen – dies ist in unserer hektischen Zeit keine Selbstverständlichkeit mehr. Wir hoffen schwer auf eine weiterhin gute und kollegiale Zusammenarbeit mit allen Beteiligten an künftigen Einsatzstellen, wir suchen nicht nach Komplikationen oder Fehlern, sondern vielmehr nach Beispielen guter Kooperation. Eine Warnung sei uns noch gestattet: Die Terminologie im Bereich der Human Factors und non-technical skills ist nicht einheitlich geregelt, daher kommt es zu unterschiedlichen Unterteilungen und Bezeichnungen. Dies ist durch den Input aus verschiedenen Bereichen (Psychologie, Luftfahrt, Medizin, Ingenieurwesen) geschuldet, ist jedoch in unseren Augen aber auch nicht weiter schlimm, so lange die Aussagen in sich kongruent und verständlich sind. Wir bitten hier um Verständnis. Nun aber genug der Vorworte, wir wünschen nun lieber nur noch lehrreiche und inte­ ressante Impulse durch dieses Buch! Freiburg im Breisgau, Deutschland Zürich, Schweiz Im Herbst 2019 

Thomas Ahne Wolfgang Scarnato

Übersicht der Fallbeispiele

1. Übersicht über die rettungsdienstlichen Strukturen in Deutschland und in der Schweiz (Wolfgang Scarnato) 2.

Basiswissen zu den Human Factors, non-technical Skills sowie Performance (Thomas Ahne)

3.

Wenn einen die eigene Geschichte einholt – Intoxikation (Wolfgang Scarnato) Med: Intoxikation mit Antidepressiva Human Factors: Erschöpfung des Helfers, Selbstbetroffenheit

4.

Skiunfall – Innere Homöostase (Thomas Ahne) Med: General Impression – Venöse Zugänge – Tranexamsäure – GCS – kardiogenes Lungenödem – pneumogene Sepsis – Indikation nicht-invasive Beatmung – Patientenwille Human Factors: Performance – Schlafdefizit – Arbeitsverdichtung – Hitze/Kälte – Hunger/Durst – Struktur – Konzentration – Fokussierung – Debriefing – Fixierungsfehler

5.

Was ist denn mit dem los? – Sucht, Depression (Thomas Ahne) Med.: Hypertensive Entgleisung, DD Brustschmerz, OPQRST, Alkoholkrankheit Human Factors: Burnout, Depression, Sucht, Suizidalität

6.

Zugunfall – Posttraumatische Belastungsstörung (Thomas Ahne) Med: Einsätze im Gleisbereich, Erwachsenen-Reanimation Human Factors: Leadership, Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

7.

Person unter Zug – Wenn vieles schlecht läuft (Wolfgang Scarnato) Med: Zuständigkeit bei Patientenverlegung Human Factors: Priorität, Teamführung, Rollenverteilung, mentales Modell, 10 für 10, Heuristik VII

VIII

Übersicht der Fallbeispiele

8.

Explosionsunfall – Verschiedene mentale Modelle (Wolfgang Scarnato) Med: Explosionsunfall, MANV Human Factors: Mentales Modell

9.

Person unter LKW – Wenn vieles gut läuft (Wolfgang Scarnato) Med: Reanimation beim Traumapatienten Human Factors: closed loop, Aufgabenverteilung, speak up

10. Medikamentenverwechslung – Aneinander vorbeireden (Wolfgang Scarnato) Med: Inhalationstrauma, Medikamente beim Verbrennungspatient Human Factors: „Schweizer-Käse-Modell“, Time-out 11. Schwerkrankes Neugeborenes – Die Sache mit der Selbsteinschätzung (Wolfgang Scarnato) Med: Atemnotsyndrom des Neugeborenen, Laryngospasmus Human Factors: Selbsteinschätzung, Erfahrung 12. Gerätekenntnis – Nicht so recht Bescheid wissen (Wolfgang Scarnato) Med: NIV-Beatmung, Indikation, Handhabung Human Factors: Interaktion Mensch-Technik 13. Verkehrsunfall – Auf einer Ansicht beharren (Wolfgang Scarnato) Med: ABCDE-Schema Human Factors: Checkliste, Algorithmus, Vorurteil, Leadership 14. Outdoor -Grenzen von Algorithmen (Thomas Ahne) Med: Polytrauma, Rekapillarisierungszeit, Hypothermie, Crash-Bergung, Polytrauma-­ Leitlinie, Analgesie, Gefahren an der Einsatzstelle. Human Factors: Umgang mit Leitlinien, Umgang mit Kritik, Konfliktmanagement, Resilienz 15. Bedrohungslage – Taktische Medizin (Thomas Ahne) Med: PTBS, Taktische Medizin Human Factors: Bedrohungslagen, Angstreaktion, Erhalt der Handlungsfähigkeit 16. Plötzlicher Kindstod – Kommunikation mit Eltern (Thomas Ahne) Med.: Plötzlicher Kindstod. Kinderreanimation, intraossärer Zugang, CO-­Vergiftung, Anwesenheit der Eltern

Übersicht der Fallbeispiele

IX

Human Factors: Kommunikation mit den Eltern, eigene Betroffenheit, second-­ victim-­Phänomen, Konfliktmanagement 17. Leichenschau – Umgang mit Rechtsvorschriften (Thomas Ahne) Med.: PEA, potentiell reversible Ursachen des Kreislaufstillstands, Notfallsonographie, Abbruch der Reanimation, Leichenschau, Todesarten Human Factors: Umgang mit Rechtsvorschriften 18. Motorradunfall – Auf einer Sache beharren (Wolfgang Scarnato) Med: Indikation zur präklinischen Intubation, Spannungspneumothorax Human Factors: System 1&2, Heuristik, Kompetenzschutz, Bestätigungsfehler, Fixierungsfehler 19. Internistischer Notfall – Unterforderung (Thomas Ahne) Med: Synkope, ACS, Hypoglykämie, Herzinsuffizienz, Klappenvitium, Exsikkose, Neurologisches Ereignis Human Factors: Unterforderung; Boreout, Performance, Selbstwirksamkeit, Selbstbewußtsein, Motivation, Konfliktscheue 20. Intensivverlegung – Ärger im Team (Thomas Ahne) Med: OGI-Blutung, akute Blutung, Sekundärverlegung, Patient Blood Management, Gerinnungsmanagement, Transfusion, SOP, Golden hour of shock, Umgang mit Angehörigen, Patientenwille, Patientenverfügung, ABCDE, SAMPLER, SBAR, Therapiebegrenzung, Therapiezieländerung, Sterbehilfe, palliative Behandlung, Allow natural death (AND) Human Factors: Leadership, Kommunikation, Situation Awareness, 10-für-10, Timeout, Konfliktmanagement, Mediation, Disruptives Verhalten, Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Resilienz 21. Intensivtransport – Darf man reinreden? (Wofgang Scarnato) Med: Planung Intensivtransport, Anästhesie bei arterieller Hypotension, schwieriger Atemweg bei Intensivpatienten Human Factors: situation awareness, speak up 22. Andere Länder, andere Sitten – Auslandseinsatz (Thomas Ahne) Med: Cholzystitis, Cholangene Sepsis, Xarelto, DOAK, Sepsistherapie, Hypovolämiezeichen Human Factors: Kulturelle Unterschiede, Rollenverständnis, Improvisation, Kompromissbereitschaft.

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Übersicht der Fallbeispiele

23. Ausländischer Patient – Umgang mit anderen Kulturen (Thomas Ahne) Med: Synkope, Fasten Human Factors: Umgang mit fremden Religionen, Umgang mit fremdländischen Gewohnheiten, Unzufriedenheit mit der Arbeitsstelle 24. Fahrradunfall – CRM-Leitsätze (Thomas Ahne) Med: Polytrauma, Videolaryngoskopie, Amputationsverletzung Human Factors: CRM-Leitsätze 25. Rutschen auf nasser Straße – Decision Making (Thomas Ahne) Med: Versorgungsstrategien, Schocktherapie, Thoraxdrainage, Notfallsonographie Tranexamsäure, Fibrinogen. Human Factors: Decision Making, Debriefing. 26. Unfall auf Parkplatz – Der fehlende Überblick (Wolfgang Scarnato) Med: Beckenfraktur, Antikoagulatien beim Trauma Human Factors: Aufmerksamkeit, Hintergrundkontrolle 27. Verdacht auf Schlaganfall -Die Sache mit den Schnittstellen (Wolfgang Scarnato) Med: Neurologische Untersuchung, optimaler Blutdruck beim Stroke, Beurteilung Stroke Human Factors: Teamführung, decision making, Schnittstelle 28. Sterbende Patientin – Gefühl der Machtlosigkeit (Thomas Ahne) Med: Akuter Gefäßverschluss, Palliativversorgung, Sterbehilfe Human Factors: Empathie, Kritikfähigkeit, Konfliktmanagement 29. Ist Fehler gleich Fehler? – CIRS-Programm (Thomas Ahne) Med: Zahnschaden bei Intubation, Medikamentenverwechslung Human Factors: CIRS, Fehlermanagement, Regelverstöße, Überlastung, Denkfehler, Konfliktmanagement

Inhaltsverzeichnis

1 Übersicht über die rettungsdienstlichen Strukturen in Deutschland und der Schweiz ��������������������������������������������������������������������������������������������������   1 2 Basiswissen zu Human-Factors, non-­technical skills sowie Performance������   5 Weiterführende Literatur����������������������������������������������������������������������������������������   9 3 Wenn einen die eigene Geschichte einholt – Intoxikation��������������������������������  11 3.1 Falldarstellung����������������������������������������������������������������������������������������������  11 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  15 4 Skiunfall – Innere Homöostase ��������������������������������������������������������������������������  17 4.1 Falldarstellung����������������������������������������������������������������������������������������������  17 4.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse������������������������������������������������������������������  27 Weiterführende Literatur����������������������������������������������������������������������������������������  31 5 Was ist denn mit dem los? – Sucht, Depression������������������������������������������������  33 5.1 Falldarstellung����������������������������������������������������������������������������������������������  33 5.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse������������������������������������������������������������������  38 Weiterführende Literatur����������������������������������������������������������������������������������������  40 6 Zugunfall – Posttraumatische Belastungsstörung��������������������������������������������  41 6.1 Falldarstellung����������������������������������������������������������������������������������������������  41 6.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse������������������������������������������������������������������  45 Weiterführende Literatur����������������������������������������������������������������������������������������  47 7 Wenn so vieles schlecht läuft������������������������������������������������������������������������������  49 7.1 Falldarstellung����������������������������������������������������������������������������������������������  49 7.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse������������������������������������������������������������������  52 Weiterführende Literatur����������������������������������������������������������������������������������������  55 8 Explosionsunfall – Verschiedene mentale Modelle ������������������������������������������  57 8.1 Falldarstellung����������������������������������������������������������������������������������������������  57 8.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse������������������������������������������������������������������  59

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Inhaltsverzeichnis

9 Person unter LKW - Wenn vieles gut läuft��������������������������������������������������������  63 9.1 Falldarstellung����������������������������������������������������������������������������������������������  63 9.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse������������������������������������������������������������������  66 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  67 10 Aneinander vorbeireden – Medikamentenverwechslung��������������������������������  69 10.1 Falldarstellung��������������������������������������������������������������������������������������������  69 10.2 Fallnachbesprechung/Fallanalyse ��������������������������������������������������������������  72 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  73 11 Schwer krankes Neugeborenes – Die Sache mit der Selbsteinschätzung ������  75 11.1 Falldarstellung��������������������������������������������������������������������������������������������  75 11.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse����������������������������������������������������������������  80 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  81 12 Nicht so recht Bescheid wissen – Gerätekenntnis ��������������������������������������������  83 12.1 Falldarstellung��������������������������������������������������������������������������������������������  83 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  87 13 Verkehrsunfall – Auf einer Ansicht beharren����������������������������������������������������  89 13.1 Falldarstellung��������������������������������������������������������������������������������������������  89 13.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse����������������������������������������������������������������  93 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  94 14 Grenzen von Algorithmen – Outdoor����������������������������������������������������������������  95 14.1 Falldarstellung��������������������������������������������������������������������������������������������  95 14.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 103 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 104 15 Bedrohungslage���������������������������������������������������������������������������������������������������� 105 15.1 Fallbeschreibung ���������������������������������������������������������������������������������������� 105 15.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 107 Weiterführende Literatur���������������������������������������������������������������������������������������� 109 16 Plötzlicher Kindstod – Kommunikation mit Eltern������������������������������������������ 111 16.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 111 16.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 118 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 119 17 Leichenschau – Umgang mit Rechtsvorschriften�������������������������������������������� 121 17.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 121 17.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 127 Weiterführende Literatur���������������������������������������������������������������������������������������� 128

Inhaltsverzeichnis

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18 Motorradunfall – Auf einer Sache beharren ���������������������������������������������������� 129 18.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 129 18.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 133 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 135 19 Internistischer Notfall – Unterforderung���������������������������������������������������������� 137 19.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 137 19.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 142 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 143 20 Intensivverlegung – Ärger im Team ������������������������������������������������������������������ 145 20.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 145 20.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 151 Weiterführende Literatur���������������������������������������������������������������������������������������� 153 21 Intensivtransport – Darf man reinreden?��������������������������������������������������������� 155 21.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 155 21.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 161 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 162 22 Andere Länder, andere Sitten – Auslandseinsatz�������������������������������������������� 165 22.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 165 22.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 171 Weiterführende Literatur���������������������������������������������������������������������������������������� 172 23 Ausländischer Patient – Umgang mit anderen Kulturen �������������������������������� 173 23.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 173 23.2 Fallnachbetrachtung/Analyse���������������������������������������������������������������������� 176 Weiterführende Literatur���������������������������������������������������������������������������������������� 178 24 Fahrradunfall – CRM-Leitsätze ������������������������������������������������������������������������ 179 24.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 179 24.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 184 Weiterführende Literatur���������������������������������������������������������������������������������������� 185 25 Rutschen auf nasser Straße – Decision-­Making���������������������������������������������� 187 25.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 187 25.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 191 Weiterführende Literatur���������������������������������������������������������������������������������������� 194 26 Unfall auf Parkplatz – Der fehlende Überblick������������������������������������������������ 195 26.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 195 26.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 199 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 200

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Inhaltsverzeichnis

27 Verdacht auf Schlaganfall – Die Sache mit den Schnittstellen������������������������ 203 27.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 203 27.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 207 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 209 28 Das Gefühl der Machtlosigkeit �������������������������������������������������������������������������� 211 28.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 211 28.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 215 Weiterführende Literatur���������������������������������������������������������������������������������������� 216 29 Ist Fehler gleich Fehler? – CIRS-Programm���������������������������������������������������� 217 29.1 Falldarstellung�������������������������������������������������������������������������������������������� 217 29.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse���������������������������������������������������������������� 224 Weiterführende Literatur���������������������������������������������������������������������������������������� 226 Stichwortverzeichnis���������������������������������������������������������������������������������������������������� 227

Über die Autoren

Dr. med. Thomas Ahne  war vor und während seinem Medizinstudium als Lehrrettungsassistent tätig. Seit 2013 aktiver Notarzt bodenwie luftgebunden in Deutschland, Österreich und der Schweiz – seit 2016 auch für die Alpine Air Ambulance (AAA). 2016 Facharzt Anästhesie am Universitätsklinikum Freiburg. Im Verlauf auch Tätigkeit in der internistischen Intensivmedizin und nun Quereinstieg zum Facharzt für Allgemeinmedizin am Gesundheitszentrum Todtnau. Instruktorentätigkeit für den ERC. Betreiber des Notfallmedizin-Blogs www.passion-notfallmedizin.de  Dr. med. Wolfgang Mayer Scarnato  ist Jahrgang 1966.  Während des Medizinstudiums war er als Rettungshelfer beim DRK-Rettungsdienst tätig. Hier entstand das Interesse an präklinischer Notfallmedizin und Anästhesie. Nach Abschluss der Facharztausbildung in Anästhesie und Intensivmedizin erfolgte dann ein Wechsel in die Schweiz. Aus der Möglichkeit, kinderanästhesiologische Erfahrungen zu intensivieren, entstand eine Oberarzttätigkeit am Inselspital Bern. Seitdem ist er auch als PALS-Instruktor tätig. Seit 10 Jahren ist er in der Klinik Hirslanden Zürich als Anästhesist tätig und führt Ausbildungen klinikintern auf dem Gebiet von CRM und Simulationstraining durch. Mittlerweile macht er seit 20 Jahren Notarztdienste boden- und luftgebunden, aktuell bei der AAA Alpine Air Ambulance und Regio 144.

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Abkürzungen

RTW Rettungswagen RTH Rettungshelikopter HEMS Helicopter emergency medical service HZV Herzzeitvolumen RS Rettungssanitäter RA Rettungsassistent BURP Backward-upward-right-pressure (Hilfsgriff zur besseren Intubation) SHT Schädel-Hirn-Trauma FAST Focussed assessement with sonografie for trauma NEF Notarzteinsatzfahrzeug PEEP Positive endexspiratory pressure CPAP Continous positive airway pressure NIV Non invasive ventilation CCT Cranial computertomography COPD Chronical obstructive pulmonary disease ASB Assisted Spontaneous ventilation APGAR Atmung, Puls, Grundtonus, Aussehen, Reflexe (zur Neugeborenenbeurteilung) ACLS Advanced cardiac life support ETC European trauma course PHTLS Prehospital trauma life support

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Übersicht über die rettungsdienstlichen Strukturen in Deutschland und der Schweiz

Deutschland In Deutschland gibt es ein mehrstufiges Ausbildungskonzept im nicht-ärztlichen Bereich des Rettungsdienstes: Gerade als Fahrer im Krankentransport kommen sog. Rettungshelfer (RH) zum Einsatz. Gerade auch junge Menschen können nach dieser etwa vier wöchigen Ausbildung im Rahmen eines „freiwilligen sozialen Jahres“ oder „Bundesfreiwilligendienstes“ erste Erfahrungen im Rettungsdienst/Krankentransport sammeln. Die nächste Ausbildungsstufe ist der Rettungssanitäter (RS) mit einem 520  h-­ Ausbildungscurriculum. Er trägt die Verantwortung auf einem Krankentransportwagen (KTW) oder wird als Fahrer auf einem Rettungswagen (RTW) in der Notfallrettung eingesetzt. Die Einführung der dreijährigen Ausbildung zum Notfallsanitäter (NFS) löste die Qualifikation zum Rettungsassistenten (RA) (der wiederum ursprünglich einmal aus dem RS hervorging) ab. Es gab und gibt zudem verschiedene Quereinstiege und Zusatzqualifikationen vom RS zum RA und vom RA zum NFS. Ziel des Notfallsanitäter-­Gesetzes war die Schaffung eines Ausbildungsberufes im Rettungsdienst und eine Zunahme der Kompetenzen des nichtärztlichen Rettungsdienstpersonals. Die Umsetzung insbesondere bezüglich der höheren Regelkompetenzen gestaltet sich aber aktuell in vielen Regionen Deutschlands noch schleppend. Der Großteil des nichtärztlichen Rettungsdienstpersonals ist hauptamtlich bei den Rettungsdienstträgern angestellt, in vielen Bereichen ist aber auch weiterhin eine ehren- oder nebenamtliche Tätigkeit möglich und notwendig. Dies liegt an der immer größer werdenden Personalknappheit. Zudem besteht so auch die praktische Möglichkeit die ehrenamtlichen Einsatzkräfte des Sanitätsdienstes und Katastrophenschutzes praktisch fit und routiniert zu halten. Die notärztliche Ausbildung wird zwar bundesweit durch eine Musterweiterbildungsordnung und ein (veraltetes) Mustercurriculum für Notarztkurse geregelt, die Umsetzung

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_1

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1  Übersicht über die rettungsdienstlichen Strukturen in Deutschland und der Schweiz

erfolgt aber mit z. T. deutlichen Unterschieden auf Ebene der Landesärztekammern der verschiedenen Bundesländer. Aktuell soll es nur noch die Qualifikation zur sogenannten „Zusatzweiterbildung Notfallmedizin“ geben, früher gab es noch eine kürzere Ausbildung zur „Fachkunde Rettungsdienst“. Für die Zusatzbezeichnung wird zumeist neben mindestens einer zweijährigen klinischen Tätigkeit in der Akutmedizin auch ein mindestens sechsmonatiger Einsatz auf einer Intensivstation gefordert. Während dieser innerklinischen Ausbildung müssen diverse notfallmedizinische Kompetenzen vermittelt werden, die der Weiterbildungsbefugte bestätigen muss. Die theoretischen Inhalte und auch viele praktische Fertigkeiten werden in einem 80h-Kurs für angehende Notärzte vermittelt, gefolgt von 50 NA-Einsätzen als Hospitant. Den Abschluss bildet eine Prüfung vor der Ärztekammer. Viele deutsche Notärzte versehen ihre Tätigkeit als Teil ihrer Dienstaufgabe in einem Krankenhaus, ein erheblicher Anteil wird aber auch als sogenannte „Freelancer-Tätigkeit“ abgeleistet. Rein hauptamtliche Notärzte sind in Deutschland noch selten, ihre Anzahl nimmt aber zu. Geregelt wird der Rettungs- und somit auch Notarztdienst in den Landesrettungsdienstgesetzen der einzelnen Bundesländer. Hierbei wird auch die gesetzliche Hilfsfrist (i.  d.  R. max 15 Minuten in mind. 95% der Einsätze) und die Aufgaben der einzelnen Funktionsträger im Regel- sowie Großschadensfall geregelt. In einigen Bundesländern wird hier auch die Funktion eines „Ärztlichen Leiters Rettungsdienst“ benannt, welcher eine gewisse Aufsichtsfunktion gegenüber den anderen Notärzten und nichtärztlichen Mitarbeitern hat. Er kann auch einzelne an sich ärztliche Massnahmen unter bestimmten Bedingungen und Kontrollmöglichkeiten an die Notfallsanitäter freigeben. Die Leitstellen disponieren die Einsätze eines Rettungsdienstbereichs, hinzu kommen meistens noch weitere Aufgaben wie die Alarmierung der Feuerwehren und der Einheiten des Katastrophenschutzes. Die technische Ausstattung der Leitstellen hat sich auch sehr gewandelt, so kann zumeist in Echtzeit der Standort und die Verfügbarkeit der Rettungsmittel verfolgt werden. Dies ermöglicht die Ermittlung der Rettungsmittel, die bei Eingang eines Notrufs die Einsatzstelle am schnellsten erreichen können. Ein Großteil der Rettungsdienstträger sind in Deutschland im öffentlichen Auftrag weiterhin die Hilfsorganisationen (DRK  – Deutsches Rotes Kreuz, MHD  – Malteser Hilfsdienst, JUH – Johanniter Unfallhilfe, ASB –Arbeiter-Samariter-Bund), gerade in Ballungszentren stellen aber überwiegend die Berufsfeuerwehren den Rettungsdienst. In Norddeutschland sind es teilweise die Landkreise, welche den Rettungsdienst organisieren. Es gibt aber auch eine zunehmende Anzahl von privaten Unternehmen, die sich an der Notfallrettung und dem Krankentransport beteiligen. Die Klinikinfrastruktur erlebt in Deutschland in den letzten Jahren einen erheblichen Wandel: Viele kleinere Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung werden geschlossen und so konzentriert sich die stationäre Krankenversorgung auf immer weniger aber dafür große Kliniken der Schwerpunkt- bzw. Maximalversorgung. Hierdurch ließ sich der Versorgungsqualität erheblich steigern, jedoch sind für die Patienten und ihre Angehörigen die Wegstrecken deutlich länger geworden. Dies führt auch zu beson-

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deren H ­ erausforderungen für den Rettungsdienst, da die Fahrzeuge längere Zeit pro Einsatz gebunden sind und auch die Zahl der Sekundäreinsätze (Interhospitaltransfer) stetig steigen. Schweiz Rettungssanitäter Hf ist eine dreijährige Ausbildung mit Diplomabschluss. Das Hf steht für „höhere Fachschule“. Der Auszubildende hat eine feste Anstellung im Rettungsdienst und besucht blockweise Unterricht an einer Fachschule. Begleitend finden Praktika an speziellen Orten (Anästhesie, Psychiatrie) statt. Die Auszubildenden werden im Betrieb von einem Berufsbildner begleitet und werden stufenweise nach einem Lernplan an verschiedene Massnahmen herangeführt. Zum Abschluss gehört auch die Erstellung einer Diplomarbeit zu einem selbstgewählten Thema. Rettungssanitäter haben gegenüber dem deutschen Rettungsassistent eine deutlich intensivere Ausbildung, erhalten in ihrer Berufsausübung weiter gefasste Kompetenzen und dürfen viele Massnahmen selbstständig durchführen. Hierzu gehören das Legen einer Infusion mit Medikamentengabe, reflexlose Intubation und das Einlegen einer supraglottischen Atemwegshilfe oder den Einsatz einer halbautomatischen Defibrillation. Die Freigabe ihrer Kompetenzen erfolgt durch den ärztlichen Leiter des Rettungsdienstes. Dieser hat die Qualifikation der Mitarbeiter zu prüfen für diese Freigabe. Entsprechend ist die Tätigkeit eines Rettungssanitäters regional sehr unterschiedlich. Der Leser dieses Buches muss sich dieses Umstandes bewusst sein, um einige Fallbeispiele richtig zu verstehen. Für deutsche Leser mag manche Tätigkeit oder eine Äusserung von nicht ärztlichem Personal ungewohnt erscheinen. In manchen Regionen wird Anästhesiepflegepersonal im Rettungsdienst systematisch eingesetzt. Da diese Berufsgruppe auch innerklinisch hohe Kompetenzen hat (z. B. selbstständige Überwachung und Durchführung einer Anästhesie), kommt dies auch präklinisch zur Anwendung. So werden diese Personen in Gebieten eingesetzt, die keinen flächendeckenden Notarztdienst vorhalten und sie haben hier vergleichbare Zuständigkeiten (Anästhesieeinleitung, Medikamentengabe, Leitung einer Reanimation). Notärzte in der Schweiz müssen folgendes Curriculum durchlaufen: Mindestens 3 Jahre klinische Tätigkeit davon 1 J Anästhesie, 1 J Innere Medizin, Pädiatrie oder Chirurgie, je 3 Monate IPS und Notfallstation, Notarztkurs SGNOR (4 Tage), ALS und PALS-Kurs, 50 Einsätze (NACA >= 4) nach Abschluss der Kurse (Stand 01.01.2018) Nach Durchlaufen dieser Ausbildungsteile erhalten sie den Titel Notarzt SGNOR (Schweizer Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin). Zum Einsatz als Notarzt ist dieser Titel aber nicht Voraussetzung. Sie können je nach örtlicher Regelung vor dem Ausbildungsabschluss eingesetzt werden. Rettungsdienste sind in der Schweiz in manchen Regionen an Spitäler angeschlossen, so dass das Rettungsdienstpersonal dort angestellt ist und vorallem in sehr kleinen Krankenhäusern auch innerklinisch eingesetzt wird. Viele Rettungsdienste sind aber ei-

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1  Übersicht über die rettungsdienstlichen Strukturen in Deutschland und der Schweiz

genständige Betriebe in öffentlicher oder privater Hand. Sie können durch den Interverband für Rettungswesen (IVR) zertifiziert werden, wenn entsprechende Vorgaben erfüllt sind. In der Schweiz werden Krankenhäuser in der Regel als Spital bezeichnet, was auch in den Fallbeispielen dieses Buches zum Ausdruck kommt. Auch in der Schweiz gibt es Traumanetzwerke und Kliniken für hochspezialisierte Medizin. Viele spezielle Verfahren (Thoraxchirurgie, Coronarangiografie) werden aber auch von kleineren Kliniken durchgeführt. Dies erfordert vom Rettungsdienstpersonal gute Kenntnis der regionalen Versorgungsstrukturen. Generell ist das Versorgungsnetz an speziellen Therapieformen (Stroke Unit, kardiolog. Interventionen) deutlich enger angelegt als in Deutschland.

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Basiswissen zu Human-Factors, non-­technical skills sowie Performance

Inhaltsverzeichnis Weiterführende Literatur 

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Human-Factors Ihren Ursprung hat die Untersuchung der menschlichen Faktoren an Fehlern und Unfällen in der Luftfahrt genommen. Zuvor mussten die Verantwortlichen anerkennen, dass bei ca. 70 % der Unfälle der menschliche Faktor eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Für die Luftfahrtindustrie zunächst auch eine gute Nachricht, da die Technik nicht mehr die Unfallquelle No1 ist, wie es in der Anfangszeit der motorisierten Fliegerei war. Die Flugzeuge wurden rasch leistungsfähiger und eben auch technisch sicherer, dafür aber auch deutlich komplexer. Dies führte dann auch zu den vermehrten Flugunfällen, denn die Piloten wurden nicht fliegerisch schwächer, sondern sie kamen zunehmend mit der Komplexität der Fluggeräte nicht mehr zurecht, was zu einer erhöhten Fehlerrate führte. Die Lösung war demnach aber nicht der Einbau weiterer Geräte, die bedient werden wollten. Dies war eine der Geburtsstunden der sogenannten Human-Factors-Forschung, zunächst mit dem Fokus die Bedienbarkeit und Übersichtlichkeit der komplexen Geräte zu steigern. Dieser technische Ansatz der Human-Factors wird bis heute betrieben, die Terminologie ist jedoch teilweise anders besetzt als der psychologische Ansatz, wie wir ihn auch in der Medizin kennen. Die Hauptsäulen der Human Factors sind: –– –– –– –– ––

Situation Awareness Decision-Making Communication Teammanagement Leadership

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_2

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Die englischen Begriffe haben sich etabliert und sind teilweise nur schwer ins Deutsche zu übertragen, daher an dieser Stelle nur eine kurzer Erläuterung der Begriffe: Bei Situation Awareness, welche man auch als Situative Wahrnehmung übersetzen kann, handelt es sich um die subjektive und somit reduzierte Wahrnehmung der tatsäch­ licheren objektiven Realität. Dies kann in der gleichen gegebenen Situation interindividuell sehr unterschiedlich sein, was fast bei jedem Notfalleinsatz spätestens bei der Nachbesprechung, manchmal aber auch schon im Einsatz zu Tage tritt. Dies wird dann häufig als Mißverständnis bezeichnet, wobei es kein falsches Verständnis, sondern eben eine differente (Teil-) Wahrnehmung der selben Situation ist. Decision-Making beschreibt den Vorgang der Entscheidungsfindung. Wir treffen täglich hunderte Entscheidungen, wobei die meisten davon einfach zu treffen sind, da es nicht viele Entscheidungsoptionen gibt: Kaffee oder Tee? Auto oder Fahrrad? Fleisch, Fisch oder besser Vegie? In komplexen Situationen, wie es die Akutmedizin eigentlich immer ist, bedeutet ein gutes Decision-Making jedoch häufig einen Kraftakt und bedarf eines guten Fach- und Sachwissens sowie bestenfalls auch einen bestimmten Grad an Erfahrung. Zunächst gilt es die aktuelle Situation angemessen zu erfassen (siehe Situation Awareness), dann werden diese Eindrücke mit Ereignissen in der Vergangenheit wie Schablonen abgeglichen. Besteht eine Vergleichbarkeit mit vergangenen Situationen, so wird als nächstes geprüft, ob man nicht wieder den gleichen Lösungsweg wie damals nehmen kann. Ansonsten muss man nach neuen passenden Lösungsmöglichkeiten suchen, was aber zeitaufwendig ist und auch eine mentale Beanspruchung bedeutet. Im normalen geselligen Umgang miteinander scheint die Kommunikation kein Pro­ blem zu sein – es wird geschnattert und man scheint sich „auch blind zu verstehen“. Doch jeder in der Akutmedizin war schon in vielen oftmals stressbeladenen Situationen, in denen es rasch zu schwerwiegenden Kommunikationsstörungen gekommen ist, die ohne Weiteres eine ganze Patientenversorgung ins Kippen bringen kann. Es gibt jedoch eine ganze Reihe von Hilfsmöglichkeiten, die ermöglichen die Kommunikation auf einem sachlichen, strukturierten und doch konstruktiven Niveau zu halten. Das Teammanagement hat ebenfalls eine zentrale Bedeutung im Bereich der menschlichen Faktoren. Jeden Tag agiert jede Einzelperson in einer Vielzahl verschiedener Teams oder sozialen Gruppen: Angefangen von der Familie, über den Freundes- und Bekanntenkreis bis hin zu vordefinierten Teams am Arbeitsplatz oder im Sport. Oftmals ist im Alltag kein „Management“ im eigentlichen Sinne notwendig, um die Gruppenziele bzw. die an die Gruppen gestellten Erwartungen zu erreichen. Das Rollenbild der einzelnen Gruppenmitglieder muss nicht jeden Tag neu definiert oder gar ausgefochten werden. Sind die Aufgaben bzw. Anforderungen an das Team jedoch komplex und besteht ein professioneller bzw. nach Exzellenz strebender Ansatz, so muss mehr in das Teammanagement investiert werden. Hierzu gehört zunächst die Auswahl der richtigen Anzahl an und v. a. von geeigneter Personen. Im Weiteren müssen die einzelnen Rollen, Verantwortlichkeiten und oft auch eine gewisse Hierarchie geklärt werden. Zudem entwickelt sich auch eine gewisse aber stets individuelle Gruppendynamik. Der nächste Schritt im Teammanagement ist dann die gemeinsame Vorbereitung auf die bevorstehenden Aufgaben, zumeist im Sinne

2  Basiswissen zu Human-Factors, non-technical skills sowie Performance

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eines Trainings oder einer Übung. Gestärkt durch diese Massnahmen mit verbesserten Fähig- und Fertigkeiten kann dann die eigentliche Gruppenaufgabe wahrgenommen werden. Zwar wirken die einzelnen Faktoren recht rigide, das Team muss sich aber auch immer eine gewissen Flexibilität erhalten, um schnell auf sich ändernde Anforderungen reagieren zu können. Essentiell ist auch eine Nachbetrachtung der Teamarbeit, um konsequent und effektiv das Team weiter zu verbessern. Um sich diese abstrakt wirkenden Elemente des Teammanagements besser vor Augen führen zu können, empfiehlt sich der Vergleich mit einem Team im Mannschaftssport. Allerdings hat man häufig in der akutmedizinischen Realität mit einer Sonderform des Teammanagements zu tun – dem sog. ad hoc-Team. Hierbei muss sich ohne weitere Vorbereitung prompt ein an sich oft unbekanntes Team formieren. Um eine effektive und harmonische Arbeit leisten zu können, bedarf es eines hohen Grades an Selbstdisziplin und Teamfähigkeit. Für die Leitungsrolle sind hierbei auch ganz spezielle Führungsqualitäten notwendig. Grundsätzlich gilt aber auch für ad hoc-Teams wie für alle Gruppen der bekannte Leitspruch: Teams werden nicht geboren, sie werden gemacht! Eng verbunden mit der Teamarbeit ist der Begriff Leadership. Darunter ist die Fähigkeit zu einer Leitungsfunktion zu verstehen. In Deutschland ist der Begriff der „Führung“ ja leider unheilvoll besetzt, dennoch sollte man ihn völlig losgelöst von negativen Beispielen nutzen dürfen, denn dieser Begriff beschreibt diesen Aspekt wortwörtlich am Besten. Ein Führer beherrscht nicht sein Team, sondern er führt es achtsam zum gemeinsam definierten Ziel. Er ist bildlich gesprochen der gute Hirte, der seine eigenen Bedürfnisse nicht in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit stellt. Vielmehr ist das Wohl der Gruppe im Zentrum seiner Bemühungen. Er kennt seine Gruppenmitglieder außerordentlich gut und kann individuell auf sie eingehen. Er fordert und fördert ohne Überforderung des Einzelnen sein Team. Er verteidigt sein Team gegen Kritik und Einflüsse von Außen, sofern sie die Integrität der Gruppe bedrohen. Erfolgreiche und beliebte Führungspersönlichkeiten besitzen zumeist von vorn herein besondere charakterliche Eigenschaften wie ein gesundes Selbstbewußtsein, eine gute Wahrnehmungsfähigkeit, außerordentliches Kommunikationsgeschick und die Gabe sich auf andere Menschen ein zu lassen. Man darf daher schon von einem Talent für Führungsaufgaben sprechen, dennoch kann man aber auch effektiv und aktiv an seinen Führungsaufgaben arbeiten, so dass man nicht allein auf seine Veranlagungen angewiesen ist. Non-technical Skills Die non-technical skills sind vereinfacht gesagt die praktische Umsetzung der Kenntnisse aus dem Human-Factors. Übersetzt sind Skills Fertigkeiten. Diese sind von Natur aus zumeist praktisch bzw technisch, und so spricht man dann auch von „hard skills“ oder „technical skills“. In Abgrenzung hierzu spricht man bei den eher psychologischen Fertigkeiten, welche aus den Human-Factors hervorgegangen sind von den „non-technical skills“ oder „soft skills“. Egal welcher Art sie sind, alle Fertigkeiten haben die Gemeinsamkeit, dass sie erlern- und trainierbar sind. Man kann also aktiven Einfluss nehmen und ist nicht auf seine natürlichen Veranlagungen angewiesen. Ein Klassiker der non-technical

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2  Basiswissen zu Human-Factors, non-technical skills sowie Performance

Skills sind die Leitsätze des CRM (Crisis Ressource Management) nach Gaba/Rall. Diese pragmatischen Hinweise und Strategien helfen sehr wirkungsvoll die aus den Human-­ Factors hervorgehenden Schwächen bzw. Risiken zu minimieren. Es gibt jedoch auch noch weitere hilfreiche non-technical skills außerhalb der CRM-Leitsätze, sie werden in den folgenden Kapiteln einzeln vorgestellt (jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Es reicht jedoch nicht die Kenntnis dieser Hilfestellungen und Fertigkeiten, man muss sie auch aktiv „leben“, ansonsten sind sie ineffektiv. Also macht auch hier mal wieder „die Übung den Meister“. Performance Ein anderer Ansatz das menschliche Verhalten und Handeln zu verbessern kommt ursprünglich aus den Sportwissenschaften, die sogenannte Performance-Forschung. Hierbei geht es nicht um Fehlervermeidung oder – bewältigung. Es setzt vorher ein: Was für Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit man auf den Punkt volle Leistung erbringen kann? Was unterscheidet einen Hochleister von den weniger erfolgreichen Kollegen. Auch hier lassen sich wieder einige Einflussfaktoren identifizieren, die nicht nur auf den Leistungssport zutreffen, sondern auch auf andere Branchen. Und man darf vermutlich schon der Notfallmedizin den Anspruch unterstellen, auch ein Hochleistungssystem zu sein. Adaptiert auf die Akutmedizin lassen sich folgende Performance-Faktoren ohne Anspruch auf Vollständigkeit definieren: –– Intrinsische Faktoren: –– „Charakter“ –– Empathie –– Wertvorstellungen –– Motivation/Antrieb/Ansprüche an sich selbst/Sozialer Aspekt/Ziele –– Achtsamkeit/Resilienz/Gesundheit –– Extrinsische Faktoren: –– Fachwissen –– Skills –– Sachkenntnis –– Müdigkeit, Hunger, Durst –– Alkohol, Drogen –– Über-/Unterforderung –– Konzentration/Störungen/Multi Tasking –– Körperliche Fitness –– Teamarbeit –– Das Gute im Arbeiten und Sein der Anderen (an-)erkennen, Lernen am Vorbild –– Freundlichkeit/Entschlossenheit –– Vernachlässigung der eigenen Performance – Durchwursteln –– Vertrauen auf Selbstwirksamkeit/Selbstvertrauen

Weiterführende Literatur

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Dark Side: Erniedrigung/Kränkung, Enttäuschung, Scheitern, Fehler Trainingsoptionen Eigen-/Fremdwahrnehmung, der erste Eindruck Strukturierung, Priorisierung Feiern können/dürfen Erfahrung/Routine Führung Umgang mit dem Ungewissen

Die intrinsischen Faktoren gehen von der Einzelperson selbst aus und sind daher bereits vorab gegeben. Sie können nicht oder nur noch sehr schwer beeinflusst werden. Diese Faktoren sind jedoch potentiell bei der Personalauswahl und –entwicklung zu explorieren, um geeignete neue Mitarbeiter zu finden, welche grundsätzlich in der Lage sind eine gute Performance in der Akutmedizin zu zeigen. Die extrinsischen Faktoren gehen hingegen mehr vom System als vom Individuum aus. Es besteht jedoch eine viel Größere Chance der Einflussaufnahme auf diese Faktoren, sprich sie sind erlern- und trainierbar. In den Fallbeispielen dieses Buches findet man auch einige Performance-Faktoren, die zu diesem Fall beigetragen haben, wohlwissend, dass eben die Performance vor der Komplikation ansetzt. Es fällt jedoch vielen einfacher, sich mit der Entwicklung ihrer Leistungsfähigkeit auseinander zu setzen als mit ihrer Fehleranfälligkeit. Es macht ja schließlich auch mehr Freude sich ausgiebig und konzentriert auf einen Sportwettkampf vor zu bereiten als nach einem schlecht verlaufenen Wettkampf dann die Fehler zu analysieren, was inhaltlich aber natürlich auch extrem lehrreich ist. Es ist also auch aus motivationalen Gründen ratsam künftig mehr das Themengebiet der persönlichen Performance in der Aus-, Weiter- und Fortbildung zu thematisieren. Jedoch muss dabei zunächst herausgefunden werden, welche Leistungsziele jeder Einzelne hat, es will auch nicht jeder ambitionierte und motivierte Sportler einen 100 km-Lauf absolvieren. So würde vermutlich auch jeder eine andere Priorisierung der oben genannten Liste der Performance-Faktoren vornehmen. Es ist mehr als mühsam an einem Performance-Faktor zu feilen, der für die Einzelperson nur eine untergeordnete Bedeutung hat.

Weiterführende Literatur 1. Flin R, O’Connor P, Chrichton M (2008) Safety at the sharp end. Ashgate, Farnham 2. Marx D (2014) Faktor Mensch – Sicheres Handeln in kritischen Situationen, 2., Überarbeitete. Aufl. MEDILEARN, Ottendorf 3. St. Pierre M, Hofinger G (2014) Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin, 3. Aufl. Springer, Berlin

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Wenn einen die eigene Geschichte einholt – Intoxikation

Inhaltsverzeichnis 3.1  Falldarstellung  Literatur 

3.1

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Falldarstellung

Was geschah … „Leblose Person“ lautete die Einsatzmeldung. Also begab sich Matthias als Notarzt unverzüglich zum NEF. Er hatte bereits einen strengen Nachtdienst hinter sich. Aber irgendwie war ihm das jetzt auch egal, wenn er nochmal raus musste. Er war zur Zeit soviel am arbeiten, dass es für ihn fast nichts anderes mehr gab. Auf der Hinfahrt grosses Schweigen im Fahrzeug, denn auch der NEF-Fahrer Pascal spürte das Schlafdefizit nach den vielen Einsätzen. Nach 15 Minuten kamen sie an dem abgelegenen Bauernhof an. Auch die RTW-­ Besatzung war gerade eingetroffen und lud das notwendige Material aus. Von einem Mädchen im Teenageralter wurden sie ins Haus geführt. Im Schlafzimmer lag der Patient tief bewusstlos im Doppelbett; der erste Eindruck lies einen Herz-Kreislauf-Stillstand vermuten. Nach kurzer Pulskontrolle durch den Notarzt bestätigte sich dieser Verdacht und das Rettungsteam nahm den Patienten sofort auf den Fussboden, um mit der Reanimation zu beginnen. Halb bewusst nahm Matthias wahr, dass die ganze Wand des Schlafzimmers voll war mit aufgehängten Fotos der Familie bzw. des Patienten mit seiner Frau. Dazwischen unzählige kleine Zettel, die von Hand beschrieben waren. Aber jetzt war keine Zeit für solche Sachen, er musste die Wiederbelebung führen. Das eingespielte Team begann damit, viele Rollen und Aufgaben waren klar. Die Thoraxkompressionen wurden im Verhältnis 30:2 zur Beatmung durchgeführt. Letztere führte Matthias selbst durch, weil er © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_3

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3  Wenn einen die eigene Geschichte einholt – Intoxikation

­ ächstens intubieren würde. Nach 2 Zyklen meinte der Rettungsassistent, welcher die n Herzmassage durchführte: „Matthias, kannst Du bitte beatmen“. Dieser hatte seinen Einsatz nach der 30. Kompression irgendwie verpasst. Er schien nicht recht bei der Sache zu sein. Da der initiale Herzrhythmus ein Kammerflimmern war, führten sie eine Defibrillation durch, sobald der Defibrillator bereit war. Unmittelbar danach wollte Matthias eine Pulskontrolle durchführen. „Wir müssen zuerst weiter drücken“; meinte wieder der Rettungsassistent. Richtig! Also wurde weiter gedrückt und nach dem nächsten Zyklus erfolgte eine Rhythmuskontrolle am Monitor und das Tasten des Pulses. Nun lag ein bradykarder Rhythmus mit sehr breiten QRS-Komplexen vor. In Verbindung mit weiterhin fehlendem tastbarem Puls wertete das Team dies als pulslose elektrische Aktivität (PEA). Über den venösen Zugang erfolgte auf Anordnung von Matthias die Gabe von 1 mg Adre­ nalin und sie setzten die Wiederbelebung fort. Matthias war mit der Beatmung nicht allzu stark gefordert und lies seinen Blick erneut über die kleinen Zettel und Postkarten an der Wand schweifen. Da standen Sätze wie „Du bist das Geschenk meines Lebens!“, „Ohne Dich wäre mein Leben nur Dasein!“ und „Danke, dass Du immer wieder den Neuanfang mit mir schaffst!“. Eine grosse romantische Liebeserklärung an der anderen. Das berührte ihn. Er kannte so etwas. Die Reanimation zog sich mittlerweile über 15 Minuten hin. Trotz Beatmung über den endotrachealen Tubus, mehreren intravenösen Gaben von Adrenalin und konsequenten Thoraxkompressionen bestand weiterhin eine Asystolie. Die Pupillen des Patienten waren weit und ohne Lichtreaktion. Sie hatten die sogenannten H’s und T’s durchgecheckt. Da war nicht viel dabei herausgekommen, ausser dass der Patient wohl chronisch Antidepressiva nahm. Er habe heute morgen nach einem Streit mit seiner Ehefrau einen Suizid angedroht und die Medikamentenpackung schien jetzt auffallend leer. „Sollen wir noch Natriumbikarbonat geben“, schlug ein Rettungsassistent vor. Das sei heutzutage obsolet in der Reanimation, meint der Notarzt. „Damit verstärken wir nur die intrazelluläre Azidose!“

Intoxikation mit Trizyklischen Antidepressiva

Vergiftungen mit trizyklischen Antidepressiva (z. B. in suizidaler Absicht) gehören zu den häufigsten schweren Vergiftungen in der Notfallmedizin [1]. Neuere Wirkstoffe haben eine grössere therapeutische Breite, doch werden immer noch vielen Patienten die konventionellen Wirkstoffe wie Amitriptyllin verschrieben [2]. Die toxischen Nebenwirkungen betreffen das parasympathische und sympathische System und das zentrale Nervensys tem. Trizyklische Antidepressiva werden im Gastrointestinaltrakt schnell absorbiert, haben eine grosse Proteinbindung und ein grosses Verteilungsvolumen. Im Fall einer Intoxikation wird durch respiratorische Störung eine Azidose ausgelöst, was zu einer Verminderung der Proteinbindung führt. Damit liegt mehr freie wirksame Sub­

3.1 Falldarstellung

stanz vor, was die toxische Wirkung vermehrt [3]. Am cardiovaskulären System sind im Fall einer Intoxikation folgende Störungen zu beobachten [4]: –– Sinustachykardie durch anticholinerge Wirkungen und erhöhte Noradrenalinspiegel –– Verlängerung von QRS-Komplex und PQ-Intervall durch Verlängerung der Depolarisation mit Prädisposition zu cardialen Arrhythmien –– Verringerung der Kontraktilität und des peripheren Gefässwiderstandes mit konsekutiver arterieller Hypotonie Neben den cardiovaskulären Störungen kommt es zu Krampfanfällen. Diese lösen respiratorische Störungen aus, was zu Hypoxie und Azidose führt. Dies verstärkt die toxische Wirkung am cardiovaskulären System (s. o.). Das Management der Vergiftung zielt auf Mechanismen der Pharmakokinetik und Wirkungen an der Zellmebran (Na-Kanäle) [2]. Weil die gastrointestinale Aufnahme sehr schnell erfolgt, erscheint eine Magenspülung und die Gabe von Aktivkohle wenig erfolgversprechend und wird nicht empfohlen, wenn mehr als eine Stunde seit Substanzeinnahme verstrichen sind [5]. Die antitoxische Wirkung durch Alkalisierung des Blutes wurde schon früh beschrieben [6] und mehrfach in Fallberichten und tierexperimentellen Studien bestätigt [2, 7]. Im Fall der Azidose erscheint dieser Schritt logisch, weil durch höhere Proteinbindung die Menge des freien verfügbaren Wirkstoffes verringert wird. Daneben scheint aber auch die Erhöhung des intrazellulären Natriums sich antitoxisch auszuwirken. Von der Gabe von Antiarrythmika und Betablockern wird abgeraten, hingegen scheint Magnesium positive Effekte zu haben [2]. Grundlage der Intoxikationsbehandlung sind aber auch Sicherstellung einer ausreichenden Ventilation und Oxygenierung, die antikonvulsive Behandlung und eine Korrektur der arteriellen Hypotension. Alleine schon durch diese Massnahmen werden Störungen am cardiovaskulären System korrigiert. Führt eine Intoxikation sogar zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand so wird eine verlängerte Reanimation empfohlen. Hintergrund ist die lange Verweildauer der toxischen Substanz [8]. Damit die lange Reanimation sinnvoll erscheint, muss deren gute Qualität erkennbar sein (z. B. entsprechender CO2-Nachweis endtidal). Weite Pupillen müssen durch die anticholinerge Wirkung der Antidepressiva kein Hinweis einer zerebralen Hypoxie sein. Eine Elimination der toxischen Substanz z. B. durch Dialyseverfahren ist nicht erfolgversprechend aufgrund des grossen Verteilungsvolumens [9].

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3  Wenn einen die eigene Geschichte einholt – Intoxikation

… so geht es weiter … Während das Team die Reanimation fortführte, suchte Matthias das Gespräch mit der Ehefrau und den beiden Töchtern. Die Partnerin des Patienten konnte nicht viel sagen; sie sass schwer bedrückt am Tisch. Die beiden Teenager hingegen machten ihren Emotionen Luft: Seit Monaten ginge das nun schon. Immer wieder Streit zwischen den Eheleuten, immer ginge es um die gleichen Sachen, ständig wäre von Trennung zu hören. Und dann jedes Mal wieder grosse romantische Versöhnung. Sie hielten dieses Hin- und Her einfach nicht mehr aus. Die Ehefrau meinte dazu nur: „Ich hätte nicht geglaubt, dass er sich wirklich etwas antut.“ Weitere Minuten der Reanimation fanden statt und im Team kam der Vorschlag auf, die Reanimation als erfolglos zu betrachten und abzubrechen. Unbeobachteter Kollaps, weite lichtstarre Pupillen seit über 25 Minuten und eine fortbestehende Asystolie waren die Argumente. Matthias wollte dem nicht zustimmen. „Was ist denn mit dem heute los,“ fragte sich Pascal, der NEF-Fahrer. Unklare Angaben zum Reanimationsablauf und Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen. Das kannte er von dem erfahrenen Arzt nicht. Matthias wirkte abwesend und gar nicht bei der Sache. Je länger sich der Einsatz hinzog, desto mehr schien er sich in Gedanken zu verlieren. Pascal wurde klar: sein Doc war entscheidungsunfähig, er brauchte Unterstützung. Er nahm Matthias etwas zur Seite, erklärte ihm die Situation in ruhigen Worten und legte erneut den Abbruch der Reanimation nahe. Matthias lies sich überzeugen und nach Beendigung der Wiederbelebungsbemühungen machte sich der Notarzt an die Erledigung der Formalitäten. Er schien völlig apathisch und teilnahmslos. Das Gespräch mit den Angehörigen wurde an Rettungsassistent und den eingetroffenen Hausarzt delegiert. Pascal machte sich Sorgen um Matthias. Auch auf der Rückfahrt zur Klinik konnte dieser kaum reden, schien sich wie hinter einer Nebelwand zu befinden. Auf der Wache drängte Pascal den Arzt zu einem Gespräch. Da zeigte sich: Matthias hatte tief emotional auf die „Ausschmückung“ der Schlafzimmerwände und die Schilderungen der Töchter reagiert. „Das ist wie bei uns daheim, weist Du. Seit einem Jahr erlebe ich diesen Wechsel von Streit und Versöhnung. Schon x-mal sind wir an dem Punkt gestanden, dass wir uns trennen sollten. Und dann wieder liegt morgens so eine liebevolle Nachricht am Frühstückstisch. Dann scheint wieder die Versöhnung so logisch. Und dazu arbeite ich immer mehr. An der Arbeit finde ich Abstand zu diesem Geschehen. Und je mehr ich arbeite, desto mehr spitzt sich die Lage zuhause zu. Ich kann einfach nicht mehr.“ … das Ende des Falles Matthias wird nach diesem Dienst krankgeschrieben. Unter der Diagnose „Burn-out“ fällt er 3 Monate am Arbeitsplatz aus. Danach ist sein Arbeits- und Privatleben nicht mehr dasselbe. Er hat im beruflichen wie auch im privaten Umfeld eine neue Verhaltensweise. Immer wieder kommen ihm die Bilder dieses Einsatzes in den Sinn.

Literatur

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Literatur 1. Henry JA, Alexander CA, Sener EK (1995) Relative mortality from overdose of antidepressants. BMJ 310:221–224 2. Kerr GW, McGuffie WS (2001) Tricyclic antidepressant overdose: a review. Emerg Med J 18:236–241 3. Calvey T, Williams N (2001) Priciples and practice of pharmacology for anaesthesists. Blackwell Science Osney Mead, Oxford; ISBN 0-632-05605-3 4. Marshal JB, Foker AD (1982) Cardiovascular effects of tricyclic antidepressant drugs: therapeutic usage, overdose, and management of complications. Am Heart J 103:401 5. Body R, Bartram T, Azam F, Mackway-Jones K (2011) Guidelines in Emergency Medicine Network (GEMNet): guideline for the management of tricyclic antidepressant overdose. Emerg Med J 28(4):347–368 6. Brown TCK, Barker GA, Dunlop ME et al (1973) The use of sodium bicarbonate in the treatment of tricyclic antidepressant-induced arrythmias. Anaesth Intensive Care 1:203–210 7. Ramasubbu B, James D, Scurr A, Sandilands EA (2016) Serum alkalinisation ist he cornerstone of treatment for amitriptylline poisoning. BMJ 10:1136 8. https://cprguidelines.eu/sites/573c777f5e61585a053d7ba5/content_entry573c77e35e61585a053d7baf/573c78115e61585a053d7bce/files/S0300-9572_15_00329-9_main.pdf 9. Bailey RR, Sharma JR, O’Rourke J et al (1974) Haemodialysis and forced diuresis for tricyclic antidepressant poisoning. BMJ 4:230–231

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Skiunfall – Innere Homöostase

Inhaltsverzeichnis 4.1  Falldarstellung  4.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Weiterführende Literatur 

4.1

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Falldarstellung

Was geschah … Timo ist begeisterter Notarzt, er opfert viel seiner sogenannten „Freizeit“ von seinem eigentlichen Klinikjob als Anästhesist für Freelancerdienste in der Notfallmedizin. Der 36jährige ist ansonsten sportlich aktiv (Ausdauer- und moderater Kraftsport) und versteht dies auch als gute körperliche Vorbereitung für seine Notarzttätigkeit. Gutes Essen zählt zu seinen Leidenschaften, er versucht dennoch sein Gewicht im Griff zu behalten. Schon lange hatte sich Timo auf seine Dienste auf dem österreichischen Hubschrauber im alpinen Raum gefreut. Er hatte sich extra hierfür seine Klinikdienste so gelegt, dass er diesmal ohne Urlaub zu nehmen vier Tage in Folge auf der Helibasis im Skigebiet seinen Dienst versehen kann. Hierdurch waren die Klinikdienste zuvor zwar recht gedrängt, aber für seine notfallmedizinische Leidenschaft nimmt dies Timo gerne in Kauf, auch wenn das sich daraus ergebende Schlafdefizit nicht unerheblich ist. Es ist zwar Anfang April am Ende der Skisaison, aber in den Bergen ist es noch recht kalt. Täglich gibt es mehrere Einsätze im Skigebiet in über 2000 m. -so auch am ersten Diensttag für Timo. Das Wetter ist zwar nicht optimal, der Wind ist böig und die Sicht war auch schon besser, aber die Skitouristen hält es ja auch nicht ab und bevölkern die Pisten. So kommt es bereits vor dem Mittagessen nach einer Bagatellverletzung am Morgen zum zweiten Einsatz, einem gemeldeten Schädel-Hirn-Trauma im Steilgelände. Die ­anwesende

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_4

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4  Skiunfall – Innere Homöostase

Pistenrettung empfiehlt einen schwebenden Ausstieg des Notarztes und eine spätere Taubergung des erstversorgten Patienten. Es fröstelt Timo, als er die Seitentür des Helikopters öffnet und mit seinem Rucksack über die Kufe aussteigt. Der Hubschrauber dreht daraufhin ab und Pilot sowie Luftretter bereiten sich an einem Zwischenlandeplatz auf die Taubergung vor. Timo muss noch ca. 30 Höhenmeter auf der steilen vereisten Skipiste hinaufsteigen, um zum Patienten zu gelangen. Auch wenn der eiskalte Wind scheinbar mühelos durch die Funktionskleidung pfeift kommt Timo bei seinem strammen Marsch über die Piste ganz schön ins Schwitzen. Die Pistenrettung stellt den Patienten vor: Der (mal wieder!) unbehelmte Patient sürzte ohne Fremdeinwirkung auf der schwarzen Skipiste, überschlug sich mehrfach und blieb dann regungslos liegen. Ersthelfer sprechen von einer „langen Zeit“ der Bewußtlosigkeit mit schnarchender Atmung bis der ca. 50jährige Patient wieder etwas zu sich kam. Nun besteht laut Pistenrettung eine leichte Agitation sowie eine Amnesie zum Ereignis, an äußeren Verletzungen fällt auf den ersten Blick nur eine leichte Blutung aus der Nase auf. General Impression

Hierbei handelt es sich um den unmittelbaren Ersteindruck vom Patienten. Dabei ist die Erfahrung des Anwenders enscheidend. Berufsanfänger können davon zumeist wenig profitieren. Bei dieser Strategie macht man sich die menschliche Eigenschaft zugunste, Situationen zu kategorisieren und somit zu vereinfachen („Schub­ ladendenken“), Dabei werden Vorerfahrungen als Kategorisierungs- und Handlungsschablone genutzt. Dies hat zwar auch seine Risiken (man steckt die aktuelle Situation in die falsche Schublade), jedoch auch große Vorteile, da man nicht die gesamt komplexe Situation neu durchdenken muss. Durch die General Impression wird insbesondere die Bedrohlichkeit und somit die Dringlichkeit bewertet. Dies geschieht für die kurze Zeit und die wenigen zur Verfügung stehenden Informationen intuitiv erstaunlich sensitiv. Allerdings muss man sich bewußt sein, dass es sich eben nur um einen Ersteindruck handelt, und dadurch kein Fixierungsfehler passieren darf: Die Notfallsituation ist aller Wahrscheinlichkeit nach dynamisch und muss daher regelmäßig reevaluiert und hinterfragt werden.

… so geht es weiter … Timo gibt eine erste Rückmeldung an das wartende Heliteam, dass vermutlich aufgrund der Unfallkinetik eine liegende Taubergung notwendig werden wird. Anschließend versucht er mit dem Patienten in Kontakt zu treten, was aufgrund Timos schlechter Holländischkenntnisse nur eingeschränkt gelingt. Der offensichtlich auch alkoholisierte Patient gibt einen diffusen Ganzkörperschmerz an, greift sich wiederholt an die blutige Nase ehe er nach Timo greift. Er ist nur zur Person, jedoch nicht zum Ort, der Zeit oder dem Ereignis orientiert. Nur mit Mühe lässt es der Patient widerwillig zu sich mit Hilfe der ­Pistenrettung eine Cervikalstütze an zu legen, auch die Anlage eines peripheren Venenzu-

4.1 Falldarstellung

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gangs (PVZ) erweist sich bei motorischer Unruhe und zittrig-kalten Fingern von Timo als schwierig, gelingt jedoch im zweiten Anlauf. Timo bittet den Flugretter mit dem Bergesack ein zu fliegen. Wenige Minuten später trifft der Flugretter mit Bergesack am Tau ein. Während der Umlagerung kreist der Hubschrauber bereit zur Taubergung über der Einsatzstelle. Nun will sich plötzlich der Patient auf der steilen Piste nicht mehr in den Bergesack legen lassen und fuchtelt mit den Armen unkoordiniert herum. Timo ist in absolutem Handlungszwang, fühlt sich jedoch etwas überrumpelt. Schnell appliziert er dem Patienten 3 mg Midazolam, woraufhin sich dieser in den Bergesack legen und dort anschnallen lässt. Der Hubschrauber fliegt eingesprochen durch den Flugretter heran und nimmt den Patienten sowie Flugretter und Notarzt auf. Ca. 2 min dauert der Flug durch den eiskalten Wind mit kräftiger Rotation am Tau bis zum Zwischenlandeplatz, Timo weiss nicht ob er sich mehr an der sich entwickelnden Übelkeit oder dem Kältezittern stören lassen soll. Zudem hat er während des unruhigen Abtransports zum Zwischenlandeplatz kaum Patientenzugang. Am Zwischenlandeplatz entscheidet sich das Team aufgrund des eiskalten Windes für das schnelle Verladen des Patienten in den Helikopter um dort von Timo weiterversorgt zu werden, während der Flugretter das Bergetau verstaut. Erleichterung macht sich bei Timo breit, als er im Hubschrauber merkt, dass der Patient zwar schläft, aber immerhin scheinbar nur leicht schnarchend frei atmet. Das angelegte Pulsoxymeter kann aufgrund kalter Extremitäten keine Werte ermitteln, der Blutdruck lässt sich mit Mühe palpatorisch nach Aufschneiden der Skijacke mit ca 100 mmHg bestimmen. Das EKG zeigt einen normofrequenten Sinusrhythmus an. Es wird ein Wärmepack auf die Brust des Patienten gelegt und eine Sauerstoffinsufflation mit 6l/min über eine Maske begonnen. Auf Schmerzreiz hin kommt es zu einer gezielten Abwehrbewegung, eine verbale Antwort ist dem Patienten nicht zu entlocken. Der Pilot drängt aufgrund sich verschlechternden Wetters zum raschen Abflug, der Flugretter hat das Bergetau auch schon wieder im Heck verstaut. Timo hämmert es durch den Kopf, ob er den somnolenten Patienten noch intubieren soll, bei besseren Umgebungsverhältnissen würde er dies tun, aber im Hubschrauber erscheint ihm auch als Anästhesist die Narkoseeinleitung mit Atemwegssicherung als zu riskant, auch ein erneutes Entladen aus dem Heikopter ist aufgrund der Witterung keine Option. Einfacher tut er sich mit der Klinikauswahl: Da nur in der ca. 70 km entfernten Universitätsklinik eine neurochirurgische Versorgung möglich wäre wird der dortige Schockraum avisiert. Ca. 20 min dauert der Flug in die Klinik, Timo ist erleichtert, dass sich scheinbar nichts negatives am Patientenzustand verschlechtert. Nur Timos Magen meldet sich zunehmend mit einer Mischung aus Übelkeit und Hunger. Der Pilot heizt die Kabine bei seinem holprigen Flug über die Gebirgszüge ordentlich ein, was dem Patienten, aber nicht Timo zuträglich ist. So ist Timo erleichtert und glücklich, als endlich der Kliniklandeplatz in Sicht kommt. Im Schockraum angekommen versucht sich Timo zu konzentrieren, um dem gehetzt wirkenden Schockraumteam (im Nachhinein kommt heraus, dass es bereits der fünfte Schockraumpatient an diesem Tag ist) eine strukturierte Übergabe zu bieten, was ihm mit Merkhilfen wie ABCDE und SAMPLE auch recht gut gelingt. Der Traumaleader

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4  Skiunfall – Innere Homöostase

wiederholt Timos Angaben und hat dann noch einige Nachfragen. An sich sind diese vermutlich nicht böse gemeint, legen aber den Finge in Timos Wunden: –– Warum wurde nur ein PVZ gelegt? –– Wie war der GCS vor und nach der Erstversorgung und weshalb wurde bei deutlich herabgesetzter Vigilanz und bei nasaler Blutung gefährdeten Atemwegen nicht intubiert? –– Warum wurde beim zunehmenden tachykarden und hyptonen Patienten (wie sich im Schockraum herausstellt) kein Volumenersatz begonnen? Warum wurde keine Tranexamsäure verabreicht? –– Wurde die Temperatur und der Blutzucker gemessen? Gerade beim offensichtlich auch intoxikierten Patienten … –– Laut Protokoll wurde die „Golden Hour“ überschritten, jedoch der Patient nicht adäquat primärversorgt? –– Warum wurde die Vakuummatratze nicht abgesaugt bzw. warum wurde diese nicht kontrolliert? Timo wird es ganz schwindelig, er fühlt sich körperlich wie mental und emotional ausgelaugt und erschöpft. Er versucht mit ungünstigen Umgebungsverhältnissen zu argumentieren, was ihm nur eingeschränkt gelingt, der seine Übergabeperformance auch allgemein nicht gerade überzeugend ist. Timo ist froh, als er den Schockraum endlich verlassen kann, er ist völlig demotiviert und er es macht sich das Gefühl von Inkompetenz breit. Er freut sich schon fast kindisch, als ihm der Pilot am Dachlandeplatz noch ein Mineralwasser reicht, welches er förmlich begeistert annimmt, ehe der Heimflug angetreten wird.

Zweiter periphervenöser Zugang

In einigen Leitlinien zur Behandlung vital bedrohter Patienten wird ein zweiter periphervenöser Zugang empfohlen. Es ist schlichtweg unmöglich hierzu eine Studie zu machen, die die Überlegenheit dieser Massnahme im Sinne einer Morbiditätsund Mortalitätssenkung beweist. Es muss daher eher als „good clinical practice“ angesehen werden. Jeder in der Notfallmedizin Erfahrene wird es aber schon erlebt haben, dass ein mühsam gelegter venöser Zugang seine Funktion im Laufe der Versorgung aus verschiedensten Gründen verloren hat. Ist der Patient von diesem Gefäßzugang abhängig (Katecholamingabe, totalintravenöse Anästhesie, Volumengabe) gerät man somit in eine weitere kritische Situation. Es kann daher nur rational empfohlen werden bei eben solchen Patienten einen weiteren venösen Zugang als Reserve an zu legen. Dies darf jedoch nicht zu einem unverhältnismäßigen Zeitverlust führen oder gar zu einer invasiven Massnahme (i.o.-Zugang trotz einer gut lau-

4.1 Falldarstellung

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fenden venösen Infusion). Weiter kann die Notwendigkeit einer maximal effektiven Fixierung der venösen Kanüle nicht überbewertet werden. GCS Die Glasgow Coma Scale (GCS) ist ein notfallmedizinischer Evergreen. Sie wurde entwickelt und validiert die Schwere (und somit Prognose) eines Schädel-­Hirn-­ Traumas (SHT) bei Erwachsenen sowie die Notwendigkeit der endotrachealen Intubation zu bestimmen, wobei sich für Zweiteres in unterschiedlichen Büchern ein Graubereich zwischen 6 und 8 angegeben wird. Wichtig ist hierbei sich stets in Erinnerung zu rufen, dass es für Patienten mit SHT entwickelt wurde, und beispielweise nicht für alleinig alkoholintoxikierte Patienten – ansonsten bräuchten schon Kleinstädte jedes Wochenende eine weitere Intensivstation zur elektiven Extubation der Alkoholintoxikierten. Weiter muss klar sein, dass sich durch die Dynamik der Notfallsituation auch der GCS-Wert eines Patienten im Laufe der Versorgung verändern kann, weshalb eine wiederholte Erhebung notwendig ist. Andere wichtige Prognosefaktoren wie die Pupillen gehen erst gar nicht ein. Was den Entschluss zur Intubation angeht sollte dieser einzelfallabhängig und in Abstimmung mit dem gesamten Rettungsteam erfolgen mit der Frage im Kopf, ob die Schutzreflexe intakt und der Atemweg nicht bedroht ist. Tranexamsäure Über die Gabe von Tranexamsäure bei verschiedensten Blutungssituationen wurde in den letzten Jahren mitunter hitzig und nicht evidenzbasiert diskutiert. Belegt ist die frühe Gabe bei unkontrollierter Massenblutung beim polytraumatisierten Patienten. Viele weitere Indikationen sind denkbar, aber zumeist noch nicht belastbar belegt und somit immer noch eine Einzelfallentscheidung (off-label use). Ganz ohne Risiken ist auch dieses Medikament nicht, insbesondere wenn man es in hoher Dosierung verabreicht, man denke dabei beispielsweise an die recht hohe Patientenzahl mit einem hohen thromboembolischen Risiko. Aktuell sind auch andere gerinnungsfördernde Medikamente in der Diskussion: Das präklinische Mitführen von Plasmaderivaten erscheint aktuellen Daten zu Folge nicht flächendeckend sinnvoll zu sein, da man mit deren Inhalt an gerinnungsaktiven Substanzen keine derrangierte Gerinnung stabilisieren kann. Erfolgsversprechender sind da Daten über eine frühe Gabe von Fibrinogen. Man darf gespannt sein, welche Datenlage sich hier durchsetzt und sich demnach dann in den kommenden Jahren in den Leitlinien durchsetzt. Nicht geheimer Geheimtip: Wenn man eine Blutung stillen will, sollte man auch an die Normothermie des Patienten, den Azidoseausgleich, den Calciumhaushalt und die mechanische bist sogar chirurgische Blutstillung nicht vernachlässigen. Es wäre nicht der erste Patient, der mit der Anmeldung „nicht beherrschbare Blutung“ die Klinik erreicht, der aus einer unversorgten und prinzipiell komprimmierbaren Wunde blutet.

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4  Skiunfall – Innere Homöostase

… so geht es weiter … Timo freut sich schon sehr auf das gemeinsame Mittagessen zusammen mit den Kollegen auf der Basis, er hat das große Bedürfnis auch nochmal einige Punkte des vergangenen Einsatzes mit dem Team an zu sprechen und auf zu arbeiten. Doch soweit kommt es leider nicht, die Leitstelle fragt an, ob man eine bewußtlose Patientin in einem Pflegeheim eines Seitentals versorgen könnte. Der Pilot gibt grünes Licht und dreht zum neuen Einsatzort ab. Timo hätte sich lieber etwas erholt und seinen nun deutlich knurrenden Magen befriedigt, freut sich nun aber über das zunehmende sonnigere Wetter bei Alpenföhn, welcher auch die Temperaturen nach oben schnellen lässt. Als der Heli ca. 10  min in der Tallage zur Landung geht, weht Timo ein überraschend warmer Föhnwind ins Gesicht. Bereits zum zweiten mal an diesem Tage kommt Timo daraufhin beim schnellen Marsch vom Ortsrand zum Pflegeheim kräftig ins Schwitzen. Bepackt mit dem kompletten Notfallequipment (da bei der Landung scheinbar noch kein Rettungsmittel vor Ort) erreicht Timo kurz nach dem RTW das Pflegeheim. Da die RTW-Besatzung den alten Aufzug benutzt entscheidet sich Timo engagiert für die Treppe, was ihn jedoch dann im kräftig geheizten Seniorenheim erstaunlich anstrengt. Die Strapazen werden aber so gut als möglich ausgeblendet, als Timo bei der Patientin zusammen mit dem RTW-Team eintrifft. Die Pflegekraft berichtet: Frau Schneider ist 88 Jahre alt, hat diverse Vorerkrankungen wie eine schwere Demenz sowie eine Herzinsuffizienz, und ist nun kaum noch erweckbar. Bereits die letzten zwei Tage habe sich der Zustand verschlechtert, die informierten Angehörigen wünschen wohl eine umfängliche Therapie. Frau Schneider erscheint Timo blass und schweißig, im Beutel des Blasendauerkatheters ist nur wenig konzentrierter Urin. Die Extremitäten sind offensichtlich ödematös, über der Lunge besteht ein Distanzrasseln. Die RTW-Besatzung erhebt folgende Vitalfunktionen: HF 106/min arrhythmisch, RR 158/89, SpO2 unter Raumluft 86 %. Es wird umgehend eine Sauerstoffmaske angelegt und ein venöser Zugang etabliert. Timo will keine erneute Angriffsfläche bieten und lässt sofort den Blutzucker bestimmen, welcher mit 236 mg/dl gemessen wird. Timo vermutet in Zusammenschau des Distanzrasselns und Kaltschweißigkeit sowie respiratorischer Einschränkung bei bekannter Herzinsuffizienz ein kardiales Lungenödem und lässt 40 mg Lasix i. v., 2 mal 2 Hub Nitro und insgesamt 6 mg Morphin verabreichen. Eine Möglichkeit der nichtinvasiven Beatmung besteht im RTW nicht, immerhin erholt sich die Sauerstoffsättigung und Insufflation auf 94  %. Zur Optimierung der Lagerung wird im Rahmen der Umlagerung auf die Trage der Oberkörper bis fast zu einer sitzenden Haltung erhöht. Frau Schneider wird in den RTW verbracht und dort nochmal ein Patientenstatus erhoben. Am Distanzrasseln und der gequälten Atmung hat sich leider nichts verändert, der Blutdruck liegt jedoch nun leider nur noch bei 82/46 mmHg bei weiterhin arrhythmischer Schmalkomplextachykardie. Umgehend wird das Kopfteil der Trage abgesenkt, was den Blutdruck zwar auf eine Systole von ca. 90 mmHg anhebt, dafür fällt die Sättigung bei nun deutlich verlangsamter Atmung mit einer Frequenz von ca. 6/min auf 82  % ab. Die

4.1 Falldarstellung

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­ auerstoffinsufflation wird auf 15l/min erhöht und titriert eine Ampulle Akrinor verabS reicht, woraufhin sich die Situation leidlich stabilisiert, nach der Morphingabe ist Frau Schneider fast komatös. Bei zunehmender Instabilität entschließt sich der in seiner gefütterten Bergkleidung schweißgebadete Timo für den bodengebundenen Transport mit dem RTW in das ca. 25 min entfernte Krankenhaus der Regelversorgung, welches glücklicherweise auf Nachfrage hin auch seine Aufnahmebereitschaft auf der Intensivstation signalisiert. Der Vollständigkeit halber erhebt der versierte Notfallsanitäter des RTW vor Transportantritt die Körpertemperatur und informiert Timo über die febrile Temperatur von 38,6 °C tympanal. Während der Fahrt mit Sondersignal fällt es Timo wie Schuppen von den Augen: Liegt gar kein Lungenödem, sondern vielmehr eine pneumogene Sepsis vor? Dies würde nach der verabreichten Medikation die Hypotonie und die persistierende respiratorische Einschränkung erklären. Daraufhin lässt Timo sich vom Notfallsanitäter einen Noradrenalinperfusor richten und beginnt mit einer Volumengabe mittels kristalloider Lösung. Kardiogenes Lungenödem

Es handelt sich hierbei um einen häufigen Einsatzanlass insbesondere beim geriatrischen Krankengut. Ein ganzer bunter Strauß an Ursachen kann zur Entwicklung des Lungenödems führen, nicht immer ist es wirklich kardial bedingt. Wichtig und zumeist einfach ist es erst einmal vom toxischen Lungenödem wie beispielsweise bei der Rauchgasintoxikation oder anderer reizender Stoffe ab zu grenzen, weil es eine ganz andere Therapie benötigt. Das scheinbar kardiale Lungenödem kann auch mal herzfern durch ein akutes Nierenversagen mit hydropischer Dekompensation auftreten. Ansonsten sind die Ursachen schon im Herz-Kreislauf-System zu finden: –– Hypertensives Lungenödem –– Akutes Pumpversagen des Herzens (kardiogener Schock), meistens durch ein Akutes Coronarsyndrom (ACS) ausgelöst –– Dekompensiertes Klappenvitium mit Rückstau des Blutes in die Lungenstrombahn –– Herzrhythmusstörung (bradykard wie tachykard) mit low-output-Symptomatik des Herzens. In fast allen notfallmedizinischen Büchern, insbesondere den Deutschsprachigen, findet sich dann der gleiche Massnahmen-Kanon: Oberkörperhochlagerung, Sauerstoffgabe, Diuretikum, Morphin und Nitroglycerin. Doch dies ist sehr vereinfachend und man wird damit nicht allen Patienten gerecht. Im kardiogenen Schock mit Hypotonie ist es keine gute Idee auf eine eine Oberkörperhochlagerung zu be-

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4  Skiunfall – Innere Homöostase

stehen, weil somit noch weniger Blut das Gehirn erreicht. Eine Sauerstoffgabe macht nur bei einer tatsächlichen Hypoxie Sinn, was glücklicherweise nicht immer gegeben ist. Das Diuretikum erfüllt nur dann einen segensreichen Effekt, wenn Erstens die Niere überhaupt Flüssigkeit ausscheiden kann und Zweitens wenn es sich um eine intravasale Hypervolämie handelt. Häufig, gerade bei chronischer Herzinsuffizienz, liegen zwar periphere Ödeme vor, intravasal können diese Patienten aber hypovoläm sein, so dass ein Volumenentzug durch eine Diuretikagabe dem Patienten eher schadet als hilft. Die Gabe von Morphin (oder anderen sedierender Medikamente) ist ein Spiel mit dem Feuer. Vorteile sind sicher die Anxiolyse, die Dämpfung der quälenden Atemnot sowie eine gewisse Vorlastsenkung. Trotzdem sollte man sich klar werden, dass der Patient nicht ohne Grund so eine hohe Atemarbeit leistet. Er braucht diese Mühe um genügend Sauerstoff auf zu nehmen und Kohlenstoffdioxid ab zu atmen. Bremse ich diese physiologischen Bemühungen pharmakologisch aus, kann es rasch zu einer respiratorischen Dekompensation kommen. Besteht wie im hier geschilderten Fall nicht die Möglichkeit einer nicht-invasiven Beatmung hat man dann trotz des guten Willens dem Patienten keinen Gefallen getan. Die Gabe von Nitroglycerin kann über die Vasodilatation zu einer Vorlastsenkung einen mildernden Effekt haben, aber wie oben bei der Diuretikagabe ist die Vorlast nicht immer das Problem. Im Gegenteil, ein Patient mit einem Rechtsherzversagen ist sogar auf die Vorlast und somit die Füllung des rechten Herzens angewiesen. Trotzdem sind die Handlungsempfehlungen nicht grundsätzlich falsch, denn sie bringen den Patienten ja schon oftmals Erleichterung. Man sollte die Empfehlungen nur wie viele Dinge des Lebens abwägen und mit Bedacht umsetzten, damit man nicht vom Regen in die Traufe kommt. Neben einem 12-Kanal-EKG zur Suche nach einem STEMI-ACS kann auch hier die Notfallsonographie sehr hilfreich sein: Man kann die Gefäßfüllung über die Weite der Vena cava inferior abschätzen, die Pumpfunktion des Herzens lässt sich orientierend bewerten, ein Perikarderguss lässt sich ausschliessen und an der Lunge lassen sich sonographisch bei einem schweren Ödem B-Linien als Ausdruck des erhöhten Flüssigkeitsgehalts der Lungen nachweisen. Weiter kann man innerhalb kürzester Zeit mit dem Ultraschallgerät auch erkennen, ob es Hinweise auf ein postrenales Nierenversagen (Harnstau in den Nieren und ggf. Harnverhalt der Blase) vorliegen bzw. ob sich größere Pleuraergüsse zeigen, die die Atmung behindern. Therapeutisch muss man sich vielleicht auch mit einer symptomatischen Therapie zufrieden geben, und das wäre beim kardialen Lungenödem insbesondere die bereits präklinisch begonnene nicht-invasive Beatmung.

4.1 Falldarstellung

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Pneumogene Sepsis

Auf den ersten Blick kann es aussehen wie ein akutes Lungenödem: Der Patient ringt nach Luft und besteht auch eine Hochlagerung des Oberkörpers. Mit dem Stethoskop ist es gar nicht so einfach zwischen Ödemrasseln und dem Rasseln aufgrund eitrigen Sekrets zu unterscheiden. Auch die Farbe und Beschaffenheit des Auswurfs ist nur in den Lehrbüchern eindeutig unterschiedlich. Die pneumogene Sepsis als Sonder- bzw. Extremform der Pneumonie hat eine hohe Mortalität. Verwechselt man sie mit einem kardialen Lungenödem, entsteht v.  a. durch die Lungenödem-­ Erstmassnahmen eine weitere Gefährdung des Sepsis-Patienten, denn dieser benötigt dringend eine initiale Volumengabe (und keinen Entzug) und keine Vorlastsenkung. Neben der Volumengabe ist eine Hypotonie mittels Noradrenalin aggressiv zu therapieren. Innerhalb einer Stunde sollte in der Klinik die Erregersicherung abgeschlossen und die erste Gabe des Antibiotikums begonnen worden sein, was v. a. in den meist überfüllten Notaufnahmen ein ambitioniertes Vorhaben ist. Daher ist es wichtig für die Präkliniker, dass sie den Sepsisverdacht bei der Übergabe benennen und begründen, damit der Patient in der Notaufnahme eine hohe Priorität erhält.

… so geht es weiter … In der Klinik angekommen blickt Timo vollkommen erschöpft in die mürrisch wirkenden Augen des diensthabenden Oberarztes auf der Intensivstation. Timo rafft sich zusammen und macht eine erneut recht strukturierte Übergabe. Der Oberarzt hält die Verdachtsdia­gnose pneumogene Sepsis für sehr wahrscheinlich, er bringt nur seine Verwunderung zum Ausdruck, wie man zunächst trotz vorliegender Sepsiskriterien auf ein kardiales Lungenödem kommt. Ebenso fragt er nach, warum nicht das neu beschaffte und medial gefeierte Beatmungsgerät des Hubschraubers mit der Option der nichtinvasiven Beatmung eingesetzt wurde. Timo kommt erneut ins Stottern … der Hubschrauber stand doch am Ortsrand … allerdings fuhr man mit dem RTW dort direkt vorbei … Eine Intensivpflegekraft hat sogleich einen zwei Monate alten Arztbrief ausgedruckt, aus dem hervorgeht, dass die Patientin ausdrücklich entgegen dem Wunsch seiner ihrer Angehörigen jede Intensivtherapie ablehnt …

Indikation nichtinvasive Beatmung

Die nichtinvasive Beatmung wird schon seit über zwanzig Jahren auf den Intensivstation flächendeckend eingesetzt und hat innerhalb der letzten zehn Jahren nun (zu) langsam auch Einzug in die präklinische Notfallmedizin durch weiterentwickelte Notfallrespiratoren gehalten. Der große Vorteil ist hierbei der Verzicht auf eine Intubation und damit einhergehend einer tiefen Analgosedierung. Somit entfällt das oftmals mühsame Beatmungsweaning bis zur Extubation. Es kann nach einer effektiven Schulung auch durch nichtärztliches Personal eingesetzt werden.

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Grundsätzliche Indikationen sind: –– Akute Oxygenierungsstörung –– Akute Repiratorische Insuffizienz (hyperkapnisch/hypoxisch) –– Beispielhaft Lungenödem, infektexazerbierte COPD und pneumogene Sepsis. Man muss jedoch beachten, dass dabei kein Aspirationsschutz gewährleistet werden kann und es besteht eine recht hohe Personalbindung (Vermeidung der Maskensdislokation, Führung des Patienten). Direkte Kontraindikationen wären: –– –– –– ––

Fehlende Eigenatmung des Patienten Bedrohter Atemweg Blutung oder sonstiges Sekret im oberen Atemwegsbereich Hohe Aspirationsgefahr wie bsp. bei Ileus

Patientenwille

Es ist juristisch wie medizin-ethisch ganz klar geregelt: Der Patientenwille entscheidet über seine Therapie, sofern er die Vor- und Nachteile der Therapie abwägen kann und kein selbstschädigendes Verhalten vorliegt. Doch nicht immer kann der Patient in einer Akutsituation dem Behandlungsteam seinen Willen mitteilen, so dass häufig Angehörige/Freunde, Vorsorgebevollmächtigte und bestellte Betreuer (in aufsteigender Wertigkeit) zu Rate gezogen werden müssen. Dabei ist es ganz wichtig wiederholt darauf hin zu weisen, dass weder die Meinung des Behandlungsteams, noch der Angehörigen/Freunde oder der Bevollmächtigten/Betreuer zählt. Alleinig ausschlaggebend ist der vermeintliche und aktuelle Patientenwille, auch wenn er es nun nicht direkt äußern kann. In den letzten Jahren haben daher viele Patienten eine Patientenverfügung aufgesetzt, was grundsätzlich zu begrüßen ist, jedoch häufig auch für Schwierigkeiten sorgt: –– Patientenverfügung liegt nicht rechtzeitig vor –– Patientenverfügung ist mit einem viele Jahre zurückliegendem Datum versehen –– Es muss angezweifelt werden, ob der Patient bei der Erstellung voll urteilsfähig und frei von äußerer Einflussnahme war –– Die Patientenverfügung ist zu pauschal gehalten und daher auf die Akutsituation nicht übertragbar Es ist in diesem Bereich also noch sehr viel Überzeugungsarbeit und Nachbesserungen zu leisten.

4.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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Widerspricht der Patientenwille glaubhaft den Plänen des Behandlungsteams, so ist der Patientenwille entscheidend, auch wenn er gegen den medizinischen Sachverstand spricht. Eine entsprechende Dokumentation der durchgeführten und insbesondere der unterlassenen Massnahmen ist obligat. Zumeist beinhalten die Patientenverfügungen auch die Bitte um palliativen Beistand, was auch ernst genommen und nachgegangen werden sollte.

… das Ende des Falls Eine dreiviertel Stunde später sitzt Timo endlich am Essenstisch der Hubschrauberbasis und kann Durst und Hunger stillen, sonderlich gesprächig ist das erschöpfte Team jedoch nicht. Die Besatzung freut sich auf einen Kaffee oder einen kleinen Mittagsschlaf zur Rekompensation und Regenerierung, aber die Leitstelle durchquert diesen Plan mit einer erneuten Alarmierung zum Spaltensturz auf einem Gletscher …

4.2

Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

Performance Die Leistungsfähigkeit des Einzelnen liegt in vielen Bereichen wie beispielsweise dem Leistungssport im Fokus der Weiterentwicklung. Im medizinischen Bereich ist dies leider noch nicht oder nicht in diesem Ausmaß der Fall. Dazu hinkt der medizinische Sektor noch zu weit hinterher. Mit größter Mühe etabliert sich in der Medizin erst ein strukturiertes Risiko- und Fehlermanagement. Man findet jedoch keinen Leistungssportler, der sich vorsorglich mit seinen künftigen Fehlern beschäftig, sondern er setzt alles daran seine Leistung zu steigern und somit seine Fehleranfälligkeit auf ein Minimum zu reduzieren. Sehr viele Faktoren gehen in die individuelle Leistungsfähigkeit (=Performance) mit ein und oftmals lässt sich ihr ein Einfluss nicht offensichtlich auf eine Situation nicht leicht erkennen. Es ist jedoch sehr lohnenswert diese Einflüsse zu identifizieren, denn man kann ausnahmslos an allen Aspekten arbeiten (trainieren) und somit extreme Fortschritte erzielen. Im Folgenden werde exemplarisch in dieser Fallanalyse einige Performance-Faktoren angesprochen, die offensichtlich Auswirkungen auf den geschilderten Fall hatten. Schlafdefizit Jeder kennt es von sich selbst, doch wird unsere Belastbarkeit dadurch oft regelmäßig strapaziert. Zwar unterscheidet sich der individuelle Schlafbedarf und häufig hört man von mitunter prominenten Menschen, denen 3 Stunden Schlaf pro Nacht ausreichen. Dies ist aber sicher nicht die Regel, eigentlich werden 6–8 Stunden pro Nacht empfohlen, und dies möglichst auch noch ohne zwischenzeitliche Störungen. Die meisten jungen Eltern werden nun bereits schon neidisch auf diese Empfehlungen blicken. Und diese Empfehlung hinkt bereits bei Schichtarbeitern, denn diese müssen nach einem Nachtdienst ihre Schlafphase

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4  Skiunfall – Innere Homöostase

auf die Tagstunden verschieben. Ein weiteres Phänomen aus diesem Bereich ist „decision fatigue“, was bedeutet, dass man am Ende einer Schicht die meisten irrationalen Entscheidungen trifft. „Fatigue“ an sich bedeutet in diesem Kontext die bleierne Müdigkeit insbesondere nach Nachtschichten. Nach einer traurigen Häufung tödlicher Arbeitsunfälle hat man im NHS in Großbritannien Kampagnen zum hilfreichen Umgang mit Müdigkeit aufgrund Schichtarbeit ins Leben gerufen. Im deutschsprachigen Raum hinkt man hier noch hinterher und muss sich die Problematik erst einmal angemessen bewußt machen. Arbeitsverdichtung durch mehrere Arbeitsstellen Viele Angestellte haben heutzutage noch eine oder mehrere Nebentätigkeiten um das Gehalt auf zu bessern. Dies ist auch grundsätzlich nichts Schlechtes, weil es das Berufsleben bereichert und für Abwechslung sorgt. Herrscht beim Hauptarbeitgeber wie zumeist eine hohe Arbeitsverdichtung, so wird die dienstfreie Zeit aber auch zur Regeneration benötigt, was häufig unterschätzt und somit mißachtet wird. Die Notwendigkeit der Regeneration zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit steckt übrigens auch hinter dem Arbeitszeitschutzgesetz. Es geht weniger darum die Arbeiter vor zu viel Arbeit zu schützen, sondern der primäre Fokus liegt auf der dienstfreien Zeit, die für die Regeneration genutzt werden soll. Somit liegen die Pflichten dieses Gesetzes längst nicht nur beim Arbeitgeber, sondern auch beim Arbeitnehmer sich wieder für die nächste Diensttätigkeit zu erholen. Hitze/Kälte Die Umgebungstemperatur hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf unsere Leistungsfähigkeit, auch wenn man es sich oftmals nicht eingestehen will und man auch nicht immer Einfluss darauf hat, gerade in der präklinischen Notfallmedizin. Von Arbeitgeberseite ist darauf zu achten, dass den Mitarbeitern eine gute Arbeitskleidung für einen breiten Temperaturbereich zur Verfügung gestellt wird, was zugegebenermaßen aufwendig und somit teuer ist. Dennoch sollte auch der Dienstherr bedenken, dass dadurch auch Fehler vermieden und die Performance gesteigert werden können, weil die Konzentrationsfähigkeit bei der sogenannten Indifferenztemperatur am Besten ist. Hunger/Durst Es ist zwar interindividuell auch sehr unterschiedlich, doch haben auch Durst und Hunger einen erheblichen Einfluss auf die Performance. Jeder ist sich dessen eigentlich bewußt, doch berücksichtigt wird es selten. Zumeist ist es möglich kurzzeitig etwas zu trinken oder einer Kleinigkeit zu essen. Es sollte nicht belächelt werden sondern eine Selbstverständlichkeit sein, bei der Arbeit etwas zu Trinken bzw. zu Essen mit sich zu führen. Dies sollte aber nicht mit der ebenfalls nicht zu unterschätzenden richtigen und formellen Arbeitspause verwechselt werden, die auch einen direkten regenerativen Charakter hat. Struktur Strukturiertes Arbeiten hat große Vorteile, da es ermöglicht mehr pro Zeiteinheit zu erledigen und weniger zu Vergessen. Die Verwendung von Merkhilfen erleichtert diese Ver-

4.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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besserung der Arbeitsweise. Jedoch sollte man diese innere Struktur nicht für sich behalten sondern sie vielmehr offen kommunizieren, da diese Struktur nur dadurch für Dritte plausibel wird. Zudem sollte man sich durch diese vorgefertigten Strukturen nicht sich seiner eigenen Freiheiten und Entscheidungsspielräume berauben. Gerade Merkhilfen sind entworfen worden um in einer Vielzahl, aber sicherlich nicht in allen Situationen die beste Handlungsvariante dar zu stellen, es wird zumeist eine individuelle Einzelfallentscheidung bleiben. Konzentration Die Konzentration ist der nächste Mythos aus dem Bereich der Performance. Der Mensch hat größte Schwierigkeiten, insbesondere bei Störfaktoren von Außen (wie sie in den meisten Arbeitsbereichen die Regel sind), sich angemessen auf eine Situation zu konzentrieren. Ausdauernd ist der Mensch dabei auch nicht gerade, daher sind regelmäßige Pausen und Wiederholungen von großer Wichtigkeit. Es lohnt sich auch sehr zu versuchen die bereits genannten Störfaktoren rigoros auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. ­Nachdem man dadurch zunächst auf ungläubig große Augen stößt wird man schnell Verständnis erfahren. Fokussierung Dieser Begriff wird häufig als Synonym für die Konzentration verwendet, es gibt jedoch aber auch Unterschiede in der Bedeutung. Zwar ist für die Fokussierung auch eine recht hohes Aufmerksamkeitslevel notwendig, es bezeichnet jedoch eher die Fertigkeit sich einem einzelnen Aspekt (= Ziel) besonders zu widmen. Dies kann kurzfristig und auch langfristig sein, jedoch hat es dann jeweils eine etwas andere Bedeutung. Kurzfristig kann zum Beispiel eine Notfallintubation sein, bei der sich der Ausführende ganz auf diese Aufgabe konzentriert, und sich dabei gegenüber störenden Einflüssen abschottet. Langfristige Fokussierung bedeutet eher die Eigenschaft, sich einem persönlichen übergeordneten Ziel zu verschreiben und dabei die dazu notwendige Motivation permanent aufrecht zu erhalten. Diese Zielverfolgung ist interindividuell unterschiedlich und kann alle Lebensbereiche wie Beruf, Hobbies oder das Privatleben betreffen. Das verfolgen persönlicher Ziele scheint aber etwas aus der Mode gekommen zu sein, so können heutzutage viele insbesondere junge Menschen bei einer vertraulichen Befragung keine langfristigen Ziele mehr zu benennen, was natürlich auch große Auswirkungen auch beispielsweise auf die Karriereplanung hat. Diesen Effekt sollten sich auch die Personalverantwortlichen von Betrieben bei der Bewerberauswahl immer vor Augen halten. Ist kein persönliches Ziel definiert, muss eine Firma auf ganz andere Art und Weise für die anhaltende Mitarbeitermotivation eingehen. Debriefing Die Sinnhaftigkeit und der nachhaltig-positive Effekt von Debriefings ist gut belegt. Dennoch werden sie leider nur in den wenigsten Organisationen auch wirklich institutionalisiert durchgeführt und somit „gelebt“. Ein Debriefing bezieht sich auf die Arbeit einer

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4  Skiunfall – Innere Homöostase

Gruppe, wohingegen sich ein Feedback an eine Einzelperson richtet. Um Lehren aus einem solchen Gespräch (egal ob Debriefing oder Feedback) zu ziehen, braucht es gewisse Regeln, damit sich die Teilnehmer nicht angegriffen oder persönlich verletzt fühlen. Die Inhalte sollen so objektiv wie möglich diskutiert werden und die einzelnen Aspekte müssen mit Argumenten hinterlegt sein. Dies erzeugt eine gewisse Neutralität und Nüchternheit. Es gibt einige Grundvorraussetzungen, die es zu berücksichtigen gilt: Das Debriefing sollte möglichst zeitnah an der zu besprechenden Situation erfolgen und diejenigen Personen umschließen, die auch tatsächlich daran beteiligt waren. Dritte sollten nur dann zugelassen werden, wenn sie etwas zum Gespräch konstruktiv beitragen können und sie sich an die Vertraulichkeit halten. Grundsätzlich neigen wir insbesondere im deutschsprachigen Bereich dazu in einem solchen Gespräch nur auf Dinge ein zu gehen, die aus Sicht der Teilnehmer nicht gut gelaufen sind. Ist scheinbar die Situation fehlerfrei abgelaufen, wird das Debriefing mit einem „gut gemacht – weiter so“ abgetan. Beides ist nicht Sinn der Sache: Bei einem Debriefing sollte das zu besprechende Ereignis strukturiert und ausführlich durchgesprochen werden. Gerade auch Aspekte, die besonders gut gelöst wurden gilt es genau zu analysieren, weil man sie in ähnlicher Form so auch auf weitere Situation anwenden kann. Grundsätzlich ist fest zu halten, das zumeist mehr Dinge gut als schlecht gelaufen sind, und es nun darum gehen soll, Optimierungspotentiale zu identifizieren und spezifische Lösungsansätze zu erarbeiten. Dabei spielt es keine Rolle, wer etwas nicht optimal gemacht hat, sondern dass es überhaupt so weit kam und was für Gründe dazu beigetragen haben. So kann die ganze Gruppe ohne Emotionen von einem solchen Gespräch profitieren. Fixierungsfehler Notfallsituationen sind hoch komplexe und zudem auch noch dynamische Ereignisse. Gerade zu Beginn prasseln eine Unmenge an Eindrücken und Informationen auf die Beteiligten ein. Da die menschliche Auffassungsgabe vollkommen natürlich beschränkt ist, muss der Einzelne mehr oder minder unbewußt (daran kann man arbeiten) eine Auswahl der Informationen treffen um sich damit dann eine zunächst schlüssige Erklärung der aktuellen Situation zu kreieren. Dies ist zwar fehleranfällig, aber so gelingt es dem Menschen (im Gegensatz zu den Maschinen, die in einer solchen Situation aufgrund überforderter Rechenleistung ihre Arbeit einstellen würden) trotz überwältigender Informationslage handlungsfähig zu bleiben. Dies ist somit keine Schwäche, sondern eine Stärke des Menschen. Wichtig ist nur sich klar zu machen, dass man zunächst nur mit und an einer Hypothese zur aktuellen tatsächlichen Situation arbeitet, die man permanent auf ihre Richtigkeit durch Plausibilitätsprüfungen überwachen und durch Hinzunahme weiterer Erkenntnisse weiter entwickeln muss. Gerade in unübersichtlichen Situationen gelingt es insbesondere dem Unerfahrenen häufig nicht diese Initialhypothese weiter zu entwickeln und er/sie „beisst sich förmlich an ihr fest“ und man spricht dann von einem Fixierungsfehler. Dabei wird in der Regel ein individuell vereinfachendes Erklärungsmodell kon­ struiert, mit dem man gut zurecht kommt, aber vermutlich der reellen Situation nicht gerecht wird.

Weiterführende Literatur

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Eine gute und offene Kommunikation im Team hilft diese Fixierungsfehler auf zu decken und gemeinsam konstruktiv an einem angemessenen Erklärungsmodell zu arbeiten. Mit einem gemeinsam erarbeiteten mentalen Modell der aktuellen Situation sinkt das Risiko für einen Fixierungsfehler auf ein Minimum.

Weiterführende Literatur 1. S3 Polytrauma-Leitlinie 2. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/012-019.html 3. Badke-Schaub, Hofinger, Lauche: Human Factors – Psychologie des sicheren Handelns in Risikorbranchen, 2. Aufl. Springer, 4. Stulberg, Magness: PEAK PERFORMANCE, New York Times

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Was ist denn mit dem los? – Sucht, Depression

Inhaltsverzeichnis 5.1  Falldarstellung  5.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Weiterführende Literatur 

5.1

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Falldarstellung

Was geschah … Sabine ist nun schon 13 Jahren als Rettungsassistentin im „Notfallmedizin-Geschäft“, dennoch ist ihr Ihre Begeisterung und Motivation bisher voll erhalten geblieben. Auch die soziale Interaktion mit ihren Kollegen/-innen ist ihr sehr wichtig, denn sie hält das kollegiale Miteinander für eine Schlüsselressource im an sich potenziell belastenden Arbeitsumfeld. Bei Schichtbeginn auf dem NEF schaut sie, welcher Notarzt denn wohl heute seinen Dienst versieht. Erfreut liest sie, dass Harald heute eingeteilt ist, ein als erfahren geltender Facharzt, den Sabine schon seit vielen Jahren als NA kennt und ihn aufgrund seiner besonnenen und kompetenten Art zu schätzen gelernt hat. Sie haben schon einige Schichten miteinander bewältigt; Harald ist zwar eigentlich Anästhesist in einer anderen Klinik, aber aufgrund eines Hauskaufs und der daraus resultierenden knappen Finanzlage macht er vergleichsweise viele NA-Dienste. Sabine schätzt an Harald, dass er offensichtlich für seine Arbeit brennt: Keine Zusatzschicht ist zu viel, kein Einsatz zu aufwendig, immer begeistert bei der Sache, auch wenn manchmal das Schlafdefizit aufgrund der hohen Arbeitsbelastung hoch ist. Aber irgendetwas hat sich in den letzten Wochen und Monaten mit Harald verändert. Früher war er eine sehr humorvolle Frohnatur, der auch mal einen scherzhaft gemeinten Flirt mit Sabine nicht scheute. Nun wirkte er nicht nur Sabine

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_5

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5  Was ist denn mit dem los? – Sucht, Depression

gegenüber stets ernst und lediglich sachorientiert, sondern auch bei anderen. Früher nahm er aktiv am Leben auf der Rettungswache teil und beteiligte sich an der Kameradschaftspflege. Nun zog er sich immer sogleich in seinen Ruheraum zurück, auch Sabines Kollegen war dies schon aufgefallen. Von seiner humorigen Art ist leider nicht viel übriggeblieben, auch von einigen gereizten Reaktionen war schon berichtet worden. Sabine will sich hiervon aber nicht vorab beeinflussen lassen, sondern will vielmehr mit der ihr von den Kollegen nachgesagten „sensiblen Antenne“ achtsam sein, wie es um Harald wirklich steht. Auch in dieser Schicht grüßt der erschöpft wirkende Harald nur kurz und knapp, ehe er sich in seinen Ruheraum zurückzieht. Etwa zwei Stunden nach Dienstbeginn erfolgt die erste Alarmierung zu einer älteren Patientin mit hypertensiver Krise. Sabine erinnert sich an Haralds flapsigen Spruch vor länger Zeit: „Lieber zu viel Druck als garkeinen …“. Nun sitzt er annähernd teilnahmslos und wortkarg neben ihr im NEF.  Auf Sabines lockere Frage, wie es ihm geht erwidert er nur kursorisch, dass sein Chef ihm in der Klinik mit Arbeit überschüttet, seine Kollegen aber in Karriereangelegenheiten bevorzugt. Wenig zuträglich sei es, dass es in der Familie wohl auch relativ viel Unmut über seine vielen und langen Abwesenheiten gibt, was auch schon zu offenen Konfliktsituationen geführt hätte. Ergänzend fügt er hinzu, dass ihm der ganze Ärger den Schlaf rauben würde, ehe er schon fast erschrocken stockt, scheinbar weil er Sabine gegenüber spontan so viel erzählt hat. Der Rest der Fahrt bleibt wortlos. An der Einsatzstelle angekommen befragt Harald recht knorrig die über achtzigjährige Patientin, die berichtet, dass Sie mehrfach mit ihrem eigenen Blutdruckmessgerät am Handgelenk für sie unübliche Blutdruckwerte über 180 mmHg systolisch gemessen hat. Körperliche Symptome verspürt sie eigentlich keine, doch sei sie wegen der erhöhten Werte nun zunehmend beunruhigt, und der Anrufbeantworter des Hausarztes hätte „im Notfall“ auf den Rettungsdienst verwiesen. Für Sabine völlig überraschend und plötzlich platzt Harald der Kragen. Er fährt die Frau an, warum sie einen Notruf abgesetzt hätte, der nun zu einem in seinen Augen völlig unangemessenen Notarzteinsatz geführt hat. Die ältere Dame weiß gar nicht wie ihr geschieht und ringt nach einer Erklärung für ihr Hilfegesuch. Harald lässt aber nicht locker und fragt die Patientin, ob sie auch den Notruf gewählt hätte, wenn sie selbst und nicht die Krankenkasse dafür aufkommen müßte. Da sie diese Frage für vollkommen überzogen und unsachlich hält, springt Sabine spontan dazwischen und beschwichtigt die aufgebrachte Patientin mit ihrer empathischen Art. Harald scheint dies nicht zu stören, er zieht sich an den Küchentisch in der Wohnung zurück und schreibt kurz und knapp ein Notarztprotokoll, aus dem hervorgeht, dass er keinen rettungsdienstlichen Behandlungsbedarf oder gar die Notwendigkeit einer stationären Einweisung ins Krankenhaus sieht. Über die Besatzung des parallel eingetroffenen Rettungswagens lässt er den kassenärztlichen Notdienst verständigen mit den Worten: „Soll der sich doch um den Sch … kümmern.“

5.1 Falldarstellung

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Hypertensive Krise

Der (Notarzt-)Einsatzanlass hypertensive Krise ist ein Schmankerl der insbesonderen deutschen Notfallmedizin. Die meisten Alarm- und Ausrückeordnungen (AAO) der Rettungsleitstellen sehen hier einen Notarzteinsatz vor. Die Disponenten handeln also korrekt, wenn sie den Notarzt aufbieten. Allerdings ist dies medizinisch gesehen äußerst fragwürdig Fahrzeuge mit Sondersignal durch die Gegend zu scheuchen oder gar einen Hubschrauber aufsteigen zu lassen. Zweifellos hat ein chronisch erhöhter Blutdruck schwere negative Folgeerscheinungen, die Liste der drohenden Organschäden ist lang und hier sicher auch unvollständig: Herz, Niere, Gefäße, Gehirn, Augen … Jedoch bemisst die Zeitdauer mit erhöhtem Blutdruck (meist in Monaten oder gar Jahren) diese Organschäden und nicht die absolute Höhe bei einer kurzfristigen Entgleisung. Häufig setzt auch noch eine unheilvolle Spirale ein, wenn der Patient beschwerdefrei selbst einen erhöhten Blutdruck misst, was ihn beunruhigt und verängstigt, was wiederum den Sympathikus ankurbelt. So ist es nicht überraschend, wenn der Blutdruck immer höher klettert. Doch leider hat der Notarzt in der Regel gar keine medikamentösen Optionen den Blutdruck mittel- bzw. langfristig zu senken, so dass es dann trotzdem zu einer Klinikvorstellung kommt. Somit ist die alleinige hypertensive Entgleisung kein Notfall, dies bestätigt auch die Leitlinie des ESC [1]. Anders ist es natürlich, wenn die hypertensive Entgleisung Folge oder Begleiteffekt einer anderen bedrohlichen Störung ist: Man denke hier an zerebrale Ereignisse, akute Sehstörungen, Angina-Pectoris oder das Akute Aortensyndrom. Einen Sonderfall nehmen schwangere Patientinnen ein, hier will wohl niemand die Verantwortung übernehmen ab zu warten. Eine Klinikvorstellung ist hier absolut indiziert. Ansonsten ist der sonst beschwerdefreie Patient mit hypertensiver Entgleisung kein Notfallpatient, da bei den o  g. Störungen eine weitere Symptomatik vorliegen müsste. Eine Ausnahme gilt es noch zu benennen, bei der die Organschädigung direkter Effekt einer Blutdruckkrise ist: Das hypertensive Lungenödem (Sympathetic Crashing Acute Pulmonary Edema – SCAPE) sollte durch aggressive Blutdrucksenkung und wenn notwendig durch nicht-invasive Beatmung therapiert werden. Aber auch dieses Krankheitsbild liegt sicher nicht vor, wenn der Patient beim Notruf keine entsprechende Symptomatik aufweist. … so geht es weiter … Als das Rettungsdienstteam die Wohnung mit der verdattert wirkenden Patientin verlässt, weiß Sabine nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen soll. Die Rückfahrt bleibt annähernd wortlos, Harald betont nur, dass er auf einen ruhigen Dienst hofft. Diese Hoffnung bleibt leider unerfüllt, am späteren Abend kommt es zu einer erneuten Alarmierung mit dem Stichwort Brustschmerz. Langsam läuft Harald ans NEF und lässt

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5  Was ist denn mit dem los? – Sucht, Depression

sich auf den Beifahrersitz plumpsen, er wirkt in Sabines Augen müde und schon fast gar verlangsamt und verhangen. Auf der Fahrt sagt Harald etwas leise und undeutlich, dass er für den Patienten sehr hoffe, dass es nicht wieder eine Banalität wie beim Einsatz zuvor ist. Noch mehr als über diese Äußerung ist Sabine über etwas Anderes erschüttert: Riecht Harald etwa nach Alkohol? Oder ist es doch nur ein Deo bzw. Parfum? Sabine fällt an der Einsatzstelle angekommen auf, wie schwerfällig und behäbig sowie plump sich Harald bewegt. Diesmal handelt es sich um einen knapp sechzigjährigen Patienten mit einem NSTEMI-ACS. Harald fragt den Patienten wenig zielführend, ob ihn seine Arbeit so krank gemacht hätte. Ansonsten arbeitet er den Einsatz rasch und motivationslos ab. Er drängt die RTW-Besatzung sogar auf einen unbegleiteten Transport in die nächste Schwerpunktklinik, da er sich nicht wohl fühle und wieder ins Bett will. Sabine ist ziemlich ratlos: Was ist denn mit dem los? Auch auf der Rückfahrt bekommt Harald kaum seinen Mund auf, Sabine ist sich dennoch zunehmend sicher Alkoholgeruch wahr zu nehmen. Harald geht sofort wieder in seinen Ruheraum und schließt die Tür hinter sich ab.

DD Brustschmerz

An anderer Stelle wurde schon Einiges zum Akuten Koronarsyndrom (ACS) geschrieben, daher sei an dieser Stelle nur kurz an die Hitliste der häufigsten Differentialdiagnosen (DD) zum ACS bei Brustschmerz erinnert: –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– ––

Lungenembolie Aortendissektion Pleuritis Pleuropneumonie Pneumothorax Pankreatitis Ösophagitis Ulcus ventriculi/duodeni Vertebragene Schmerzen (von der Wirbelsäule ausgehend) Rippenfraktur „Funktionelle“ Beschwerden Myokarditis Perikarditis …

Gerade präklinisch können diese DD in der Regel weder bestätigt noch ausgeschlossen werden, aber es ist sehr hilfreich wenn möglichst frühzeitig begonnen wird durch eine differenzierte körperliche Untersuchung und fokussierte Anamnese Indizien zu sammeln.

5.1 Falldarstellung

OPQRST Im Bereich der Notfallmedizin hat sich zur genaueren Schmerzbeschreibung das Akronym OPQRST etabliert, was hier nochmal kurz vorgestellt werden soll: –– Onset: Wann war der Schmerzbeginn, kam er plötzlich oder langsam? Was wurde gerade bei Schmerzbeginn gemacht? –– Provocation/Palliation: Wie kann man den Schmerz lindern oder verstärken? Gibt es eine Langerungsabhängigkeit? –– Quality: Schmerzqualität stechend, dumpf, drückend oder brennend? –– Radiation: Wo ist der Schmerz? Gibt es eine Ausstrahlung? –– Severity: Subjektive Schmerzwahrnehmung auf einer Skala von 0–10 Time: Wie hat sich der Schmerz mit der Zeit verändert? Initialer Zerreissungsschmerz, Kolikschmerz oder Entzündungsschmerz? Alkoholkrankheit [2] Zur genaueren Betrachtung muss man zunächst zwischen einer akuten Alkoholintoxikation mit oder ohne Zusammenhang mit einer chronischen Alkoholabhängigkeit unterscheiden. Es ist extrem schwer zuverlässige Daten zur Häufigkeit beider Entitäten zu generieren, da bekanntlich nicht jede Alkoholintoxikation im Krankenhaus endet und es auch kein zentrales Register für Alkoholabhängigkeit mit lückenloser Erfassung gibt. Jedem ist aber klar, dass es kein seltenes Randphänomen im Gesundheitswesen ist. Es ist vielmehr weiterhin eine absolut ernst zu nehmende und bedrohliche Volkskrankheit. Allein in Deutschland versterben daran mindestens 16000 Menschen und es entsteht ein volkswirtschaftlicher Schaden von ca. 20 Milliarden Euro pro Jahr. Man muss annehmen, dass Mitarbeiter im Gesundheitswesen (und insbesondere Ärzte) ein überdurchschnittliches Risiko haben daran zu erkranken, paradoxerweise obwohl sie die schädlichen Auswirkungen besonders gut kennen. Elementar ist die Sucht als Krankheit an zu erkennen: So ist der Betroffene, so lange er sich nichts zu Schaden kommen lässt, nicht zu bestrafen sondern zu unterstützen sich in eine Behandlung zu begeben. Ist ein Drittschaden eingetreten, so muss dafür natürlich der Betroffene zur Rechenschaft gezogen werden. Jeder Arbeitgeber im Gesundheitswesen sollte von vorn herein eine Strategie festlegen, wie sie mit betroffenen Mitarbeitern umgehen wollen und welche Hilfen wie angeboten werden können. Sehr wichtig, aber nicht zu erzwingen, ist ein guter sozialer Zusammenhalt in der Belegschaft, der das Benennen der Krankheit, welches ein großes Schamgefühl auslöst, häufig erst ermöglicht. Wie bei anderen Sucht- oder psychischen Erkrankungen auch, kann auch hier nur dazu aufgerufen werden pietätvoll die Vermutung gegenüber dem vermeintlich Betroffenen aus zu sprechen und ein Hilfsangebot zu unterbreiten. Nicht zu vermeiden ist trotz allen guten Bemühens, dass es eine unangenehme Situation für alle Beteiligten darstellt, was diesen zu Gute gehalten werden muss.

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5  Was ist denn mit dem los? – Sucht, Depression

… das Ende des Falls Glücklicherweise verläuft der Rest der Schicht ohne weiteren Einsatz. Hierüber ist auch Sabine sehr froh, denn sie ist von den Erlebnissen der letzten Stunden schockiert und zugleich ratlos. Wie soll sie damit bloß umgehen? Sollte sie Harald direkt darauf ansprechen oder gar eine formelle Meldung an den Rettungswachenleiter verfassen? Was Sabine noch mehr bedrückt sind die traurigen Erinnerungen an den jungen Rettungsassistenten Patrick, der vor zwei Suizid begangen hatte. Die gesamte Belegschaft war damals von diesem Schicksalsschlag völlig überrumpelt und lange in einer Art Schockstarre verfallen. Niemand hatte damit gerechnet oder wußte von einer Depression. Im Nachhinein kamen mehrere etwaige Anzeichen zu Tage wie gedrückte Stimmung, sozialer Rückzug, viele Krankheitstage, etc.. Aber eigentlich gelang es Patrick (leider) lange gut seine Fassade zu wahren. Dass er sich dann mit Medikamenten von der Rettungswache, zu der jeder Mitarbeiter Zugang hat, selbst tötete war für die Kollegen eine besonderer Schock und man fragte sich, ob ein paar Fehlbestände im Medikamentendepot im Vorfeld der Selbsttötung auch schon in Zusammenhang mit Patricks Erkrankung standen.

5.2

Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

Burnout Zu diesem Thema wurden schon ganze Bücherregale voll Literatur verfasst und Burnout scheint in aller Munde zu sein. Häufig hat man den Eindruck, dass es auch zu einer Modediagnose verkommen ist. Damit tut man aber den wirklich Betroffenen unrecht, denn diese haben einen realen Leidensdruck. Klassische Zeichen sind ein ausgeprägtes Erschöpfungsgefühl und eine berufliche Resignation. Häufig sind die eigentlich hoch engagierten und motivierten Mitarbeiter betroffen, die die berufliche Tätigkeit in den Lebensmittelpunkt stellen. Dadurch bleibt für Ausgleichsaktivitäten kaum noch Zeit und innere Ressourcen. Einerseits sollte man die Betroffenen nicht stigmatisieren, andererseits sollte man die Beschwerden ernst nehmen und wirkungsvolle Massnahmen ergreifen. Hierzu ist zumeist eine zumindest temporäre Auszeit notwendig, begleitet ggf. durch eine Psychotherapie und/oder eine psychopharmakologische Unterstützung. Depression Einerseits lässt sich keine klare Grenze zwischen einem Burnout und einer Depression ziehen (insbesondere für den psychitarischen Laien), andererseits wird weiterhin heftig diskutiert, ob es wirklich ein Kontinuum zwischen Melancholie, Burnout bis zur Depression ist oder unterschiedliche Entitäten sind. Klassische Hinweise auf eine Depresssion ist die scheinbar verloren gegangene Möglichkeit sich über etwas zu freuen, häufig verbunden auch mit schwerwiegenden Schlafstörungen und insbesondere morgendlicher Antriebsstörung. Im Gegensatz zum Burnout gibt es hier keinen Zweifel, dass es sich um eine ernst zu

5.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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nehmende und bedrohliche Erkrankung handelt, die dringend einer adäquaten Behandlung Bedarf. Hierzu ist eine regelmäßige Psychotherapie und Pharmakotherapie, ggf. im Rahmen einer anfänglich stationären Behandlung in einer psychiatrischen Einrichtung. Suchterkrankung Suchterkrankungen jeglicher Art (Alkohol, Drogen, Medikamente) sind keine Seltenheit und werden zu allermeist unterschätzt. Dazu trägt massgeblich bei, dass Suchterkrankungen noch mehr als Burnout & Co zu einem Tabuthema gehört. Gerade bei Alkohol ist zwischen Genußkonsum, schädlichem Konsum und Sucht ein schmaler Grat. Den wenigsten Betroffenen gelingt die Abstinenz ohne externe Hilfe, hinzu kommt auch die Gefahr eines Entzugssyndroms. Alkohol ist eine annähernd unlimitiert-zugängliche Volksdroge. Medikamente sowie die eigentlichen Drogen sind dagegen deutlich schwerer zu beschaffen. Mitarbeiter des Gesundheitswesens haben jedoch eine deutlich bessere Möglichkeit an Medikamente mit Suchtpotential zu gelangen. Ist eine Abhängigkeit entstanden sorgt das Suchtgefühl dann dazu, dass auch gesetzliche Regularien dann nicht mehr greifen. Wird der unberechtigte Gebrauch entdeckt und greifen die angedrohten Konsequenzen, kommt es häufig zu einer Eskalation der Situation, in der die Betroffenen maximal gefährdet sind ein selbstschädigendes Verhalten zu entwickeln. Konsequenterweise sind solche Patienten, denn Sucht ist eine unbestreitbar schwere Erkrankung, engmaschig zu betreuen. Langfristig sorgt der schädliche Medikamentengebrauch häufig dazu, dass die Tätigkeit im Gesundheitswesen nicht mehr oder nur unter strengen Kontrollauflagen ausgeübt werden kann. Suizidalität Aus unterschiedlichen Gründen (u.a. Depression, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, Psychosen) kann es zu selbstschädigendem Verhalten bis hin zu suizidellen Handlungen kommen. In Deutschland versterben deutlich mehr Menschen durch Selbsttötung als im Rahmen von Verkehrsunfällen. Häufig sagen Menschen aus dem persönlichen Umfeld des Betroffenen zunächst, dass die Handlung völlig plötzlich und unerwartet aufgetreten sei, retrospektiv findet man dann jedoch häufig doch Andeutungen oder Warnzeichen. Daher ist es dringend angezeigt gerade unter Angehörigen, Freunden und Kollegen jegliche Andeutungen ernst zu nehmen und diese offen an zu sprechen. Dies ist sicherlich und nachvollziehbarerweise eine unangenehme Situation für alle Beteiligten, aber vielleicht die letzte Möglichkeit einen unheilvollen Verlauf zu verhindern. Besondere Umstände in der Akutmedizin Gerade in der Akutmedizin mit zunehmender Arbeitsverdichtung, hoher Arbeitsbelastung, traumatisierenden Situationen, leichter Zugang zu Medikamenten sowie einem erweiterten Wissen zu Suizidmethoden besteht ein ausgeprägtes Risikoprofil für die oben genannten Erkrankungen. Jedoch besteht in der Akutmedizin auch eine ausgesprochen hilfreiche Ressource, nämlich der Kollegenkreis. „Akutmedizin ist eine Teamsportart“ – dies sollte nicht nur zu einer guten Performance der Gruppe führen, sondern auch zu einem gestei-

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5  Was ist denn mit dem los? – Sucht, Depression

gerten Zusammenhalt und Achtsamkeit für die anderen Mitglieder der Gruppe. ­Auffälligkeiten sollten zunächst kollegial und offen angesprochen werden, wobei nur davor gewarnt werden kann ernst zu nehmende Situationen dann innerhalb der Gruppe ineffektiv zu vertuschen. Denn kommt es zu einer Eskalation, so sind die Selbstvorwürfe immens.

Weiterführende Literatur 1. Zusammenfassung der ESC-Leitlinie zur Hypertonie. https://www.hochdruckliga.de/tl_files/content/dhl/downloads/2014_Pocket-Leitlinien_Arterielle_Hypertonie.pdf 2. Sehr ausführliche und gut recherchierte Zusammenfassung zum Thema Alkoholkrankheit. https:// de.wikipedia.org/wiki/Alkoholkrankheit

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Zugunfall – Posttraumatische Belastungsstörung

Inhaltsverzeichnis 6.1  Falldarstellung  6.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Weiterführende Literatur 

6.1

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Falldarstellung

Was geschah … Franziska ist neu auf der Rettungswache, aber die freundlichen Kollegen und ihre 8 jährige Erfahrung (als Rettungsassistentin und nun seit ein paar Monaten auch als Notfallsanitäterin) machen ihr den Start an der neuen Arbeitsstelle leicht. Heute ist sie erstmalig mit dem jungen Rettungssanitäter Jakob auf dem RTW eingeteilt. Bisher kennt Franziska Jakob nur vom Sehen, er macht ihr aber auch einen sympathischen und kollegialen Eindruck, wobei er grundsätzlich eher der introvertierte Typ zu sein scheint, denn er sucht kaum den Kontakt und erzählt nicht viel von sich aus. Leider kam sie heute nicht weiter dazu ihn kennen zu lernen, da unmittelbar nach Dienstübernahme drei Routineeinsätze abgearbeitet werden mussten. Franziska ist froh Jakob an ihrer Seite zu haben, denn obwohl er noch nicht so lange im Rettungsdienst tätig ist, kennt er die lokalen Verhältnisse und Ansprechpartner sehr gut. Obwohl er heute müde zu sein scheint macht er diszipliniert und höflich seine Arbeit. Gegen 11 Uhr wird der RTW dann mit Sondersignal zu einem „unklaren Notfall im Gleisbereich des Hauptbahnhofes“ alarmiert, die Meldung sei über die Bundespolizei gekommen sagt die Leitstelle, Näheres sei aber nicht bekannt.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_6

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6  Zugunfall – Posttraumatische Belastungsstörung

Einsätze im Gleisbereich

Diese unterscheiden sich erheblich von allen anderen Einsatzlagen im Rettungsdienst, insbesondere was die Verantwortlichkeiten angeht. An größeren Bahnhöfen ist ein Sicherheitsdienst der Bahn vor Ort und ist Ansprechpartner des Rettungsdienstes. In Deutschland gilt, dass polizeiliche Aufgaben an Bahnhöfen und im Gleisbereich ist nicht Aufgabe der Landes- sondern der Bundespolizei. Dies bedeutet, dass man die Einsatzkräfte der Bundespolizei nicht so schnell und einfach wie gewohnt die Kollegen der Landespolizei erreichen kann. Die Landespolizei unterstützt aber ggf. ihre Kollegen der Bundespolizei im Rahmen der Amtshilfe, sie hat dann aber in einem solchen Falle eigentlich nie die polizeiliche Einsatzleitung. Was die Feuerwehr angeht ist es die Verantwortlichkeit der örtlichen Feuerwehr, bei kleineren Gemeinden kommt es aber rasch zum Einsatz größerer Bezugswehren, die eine spezielle Ausrüstung und Ausbildung für den Einsatz auf Gleisanlagen haben. Wie immer hat der Einsatzleiter der Feuerwehr die Gesamteinsatzleitung der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr, er hat jedoch bei Einsätzen an Bahnanlagen einen Notfallmanager der Bahn als unmittelbaren Berater zur Seite, der v.  a. die Sicherheit der eingesetzten Einsatzkräfte gewährleisten soll. Er hat ggf. die Aufgabe über die Betriebsleitungen der Bahn den Zugverkehr zu stoppen oder die Oberleitungen zu erden. Die Zufahrten zu den Bahnanlagen sind oftmals nicht einfach zu finden und schwer zugänglich, was einen Routineeinsatz schnell komplex machen kann. Bereits die Bahnhöfe haben oftmals mehrere Zufahrten, aber auf freier Strecke ist es oftmals noch viel aufwendiger, so dass es auch manchmal gilt längere Wegstrecken zwischen Zufahrt und eigentlicher Einsatzstelle zu bewältigen. Der Gleisbereich darf jedoch erst betreten werden, sobald von der Bahn zuverlässig bestätigt wurde (i. d. R. über den Notfallmanager), dass die Strecke gesperrt und der Zugang freigegeben ist. Neben dem rollenden Eisenbahnverkehr geht natürlich die größte Gefahr an Bahnanlagen vom Starkstrom aus, zumeist durch Oberleitungen, bei U-/S-Bahnen können diese aber auch mit Stromleitungen im Gleisbereich versorgt sein. Es fließen so hohe Ströme, dass es nicht ausreichend ist, wenn es „heißt“ der Strom „sei“ abgeschalten worden, sondern es muss ebenfalls eine Erdung vorgenommen werden, um auch vor Wiedereinschalten des Stroms zu schützen. Glücklicherweise sind diese zwar statistisch gesehen selten, dennoch kann man sich natürlich leicht auch größere Schadenslagen bedingt durch Eisenbahnen vorstellen, sei es weil der Zug mehrere Personen oder gar Fahrzeuge erfassen kann, oder der Zug selbst verunfallt. Hier kommen einem schnell wieder Bilder des verheerenden ICE-Unglücks von Eschede Ende der 1990iger-Jahre in de Kopf, welches das deutsche Rettungswesen von der Bewältigung von Großunfällen bis hin zur psychosozialen Betreuung auch der traumatisierten Einsatzkräfte maßgeblich geprägt hat. Der Zugverkehr gilt durch eine ausgefeilte Sicherheitstechnik als vergleichs-

6.1 Falldarstellung

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weise sicher, kommt es aber zu einem Zugunglück, sind die Auswirkungen jedoch häufig katastrophal und eine Bewährungsprobe für die gesamte Gefahrenabwehr. Aber auch Unfälle mit einem einzelnen Geschädigten können bereits als sehr belastend empfunden werden, da es durch die hohe kinetische Energie häufig zu bizarren und grotesken Verletzungen kommt, wie sie heute glücklicherweise sonst selten geworden sind. … so geht es weiter … Franziska ist verunsichert, wie in solch einem Fall die Zufahrt zum Bahnhof ist. Daher wendet sie sich zu Lokalmatador Jakob zu um nach zu fragen, dieser erscheint aber plötzlich wie ausgewechselt: Er macht einen sehr bleichen und schweißigen Eindruck und scheint auch zu zittern. Franziska ist froh, dass sie den RTW lenkt. Fahrig erklärt Jakob wie man zum Bahnhof kommt und fragt mehrfach nach, ob wohl auch ein NEF auf Anfahrt ist. Dies ist aus der Einsatzmeldung nicht ersichtlich, daher ist nicht von einer parallelen Alarmierung aus zu gehen, was Jakob sichtlich nervös macht und er äußert darüber sein Unverständnis („Ansonsten schicken Sie doch auch bei jedem Mist den Notarzt mit …“). Am Bahnhof angekommen zeigt Jakob beim Weg zu den Gleisanlagen ein offensichtliches Vermeidungsverhalten. Ein Bundespolizist weist dem Rettungsteam den Weg zu Gleis 3, man sieht dort auch einen ICE stehen. Auf halben Weg erhält der Bundespolizist einen Funkspruch der sich bereits vor Ort befindlichen Kollegen, man solle an den Anfang des Zuges kommen und sich beeilen, denn „es sähe nicht gut aus“. Daraufhin stoppt Jakob spontan. Er lässt sich nur widerwillig dazu überreden weiter zu laufen. Franziska versteht die Welt nicht mehr. Kurz vor Ankunft beim Patienten sieht man bereits, dass durch die Beamten der Bundespolizei eine Basisreanimation durchgeführt wird. Jakob macht bei seinem Eintreffen keinen einsatzfähigen Eindruck, so dass Franziska die Polizisten bittet erst einmal fort zu fahren und übernimmt selbst die Nachalarmierung des Notarztes. Die Polizisten berichten, dass der ältere Herr direkt beim Einstieg in den Zug kollabiert sei, er habe unmittelbar keine Lebenszeichen mehr gezeigt, weshalb Passanten einen Notruf abgesetzt hätten. Erwachsenen-Reanimation

Die Reanimation von Erwachsenen Patienten werden in Europa durch die Leitlinien des European Resuscitation Council (ERC) standardisiert geregelt, welche alle fünf Jahre aktualisiert werden. Zwar lässt die Laienhelferausbildung in den Basisreanimationsmassnahmen (BLS) im deutschsprachigen Bereich noch zu wünschen übrig, doch ist die Ausbildung und regelmäßige Auffrischung im Gesundheitswesen (und insbesondere im Rettungsdienst) zu den erweiterten Reanimationsmassnahmen (ALS) flächendeckend etabliert. Wenn möglichst alle professionelle Helfer nach den gleichen Leitlinien geschult sind, fällt es leicht „eine Sprache zu sprechen“ und gut auf allen Positionen im Rettungsteam zu kooperieren.

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6  Zugunfall – Posttraumatische Belastungsstörung

… so geht es weiter … Franziska verspürt Erleichterung, denn es entpuppt sich zwar als vital bedrohliches Ereignis, aber dennoch als rettungsdienstliches Routine-Szenario mit ausreichend Ausrüstung und Helfern. Franziska besitzt auch genug Selbstvertrauen temporär die Teamleitung zu übernehmen bis der Notarzt eintrifft und weist das Team ruhig und routiniert an. Nur Jakob macht ihr weiterhin Sorgen, denn er macht zwar einen etwas besseren Eindruck, scheint aber dennoch neben sich zu stehen und bleibt offensichtlich hinter seiner sonstigen Performance zurück. Leadership

Zwar ist Franziska neu an der Rettungswache beschäftigt und kennt daher noch nicht zuverlässig alle Kompetenzen ihrer Kollegen, da sie aber vermutlich auch nochmal im Rahmen der Weiterbildung zum Notfallsanitäter mit reichlich praktischen Erfahrungen im Kopf standardisiert in den Reanimationsmassnahmen geschult wurde, fällt es ihr vergleichsweise einfach zumindest temporär die Leitungsrolle des Behandlungsteams zu übernehmen, bis der Notarzt eintrifft. Auch dieser muss dann nicht gezwungenermaßen die Leitung übernehmen, so lange Franziska „fest im Sattel sitzt“. Vielmehr hat dann der Notarzt die Chance sich einzelnen Aufgaben gezielt zu widmen – wie beispielsweise die Atemwegssicherung oder einem Angehörigengespräch. Führungsstärke ist zwar auch eine Charaktereigenschaft und somit zumindest z. T. gegeben, doch man kann auch sehr gut durch entsprechende Schulungen daran arbeiten. Diese Schulungen sind um so mehr zu empfehlen, um so weniger Führungsstärke von vorn herein vorliegt.

… das Ende des Falls Nach Eintreffen des Notarztes stellt sich nach insgesamt ca. 18 min ALS-Massnahmen ein ROSC ein. Bei infarkttypischen EKG-Veränderungen wird der Patient mit Hilfe der Polizisten in den RTW verbracht und direkt in das nächstgelegene Herzkatheterlabor gefahren. Franziska ist erleichtert über den erfreulichen Ausgang und ihre eigene Performance, dennoch platzt es ihr beim Aufrüsten des Fahrzeugs unmittelbar heraus: „Jakob, was ist denn bloß mit Dir los?“ Jakob schießen daraufhin die Tränen in die Augen und wendet sich von Franziska ab, er bekommt kein Wort heraus. Franziska weiß sich nicht anders zu helfen als den RTW bei der Leitstelle ab zu melden und die Rettungswache an zu fahren. Der Rettungswachenleiter wird über die Leitstelle informiert und erwartet die Besatzung bereits, als diese in die Fahrzeughalle einfährt. Jakob zeigt sich weiterhin apathisch und wortlos. Franziska erzählt von dem auch für sie aufwühlenden Einsatz, woraufhin der Rettungswachenleiter die Übernahme des RTW durch eine andere Besatzung anordnet, die sich auch erstmal um Jakob kümmern soll, während Franziska den Vorgesetzten in sein Büro folgt.

6.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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Dieser ist peinlich berührt und fragt unter vier Augen Franziska: „ Wußtest Du nichts davon? …. Jakob war vor ca sechs Wochen bei einem tragischen Einsatz beteiligt. An einem anderen kleinen Bahnhof stürzte eine Jakob persönlich bekannte und alkoholisierte Jugendliche akzidentiell vor einen einfahrenden Regionalzug. Die unter der Lok schwer eingeklemmte Patientin zeigte initial noch Lebenszeichen, konnte aber nicht rechtzeitig befreit werden und verstarb noch unter dem Zug. Nach der Befreiung zeigten sich extrem schwere und grotesk anmutende Verletzungen. Jakob meldete sich daraufhin für zwei Tage krank, wünschte aber keine weitere Hilfe und wollte danach lieber wieder „normal“ seiner Arbeit nachgehen.“ Wie es dann häufig so ist geriet der Vorfall dann in Vergessenheit … bis heute …. Franziska ist über die Aufklärung der Ereignisse schockiert und sehr traurig, Jakob tut ihr unendlich leid. Auch wenn es objektiv nicht so ist, fühlt sie sich spontan verantwortlich und will sich um Jakob kümmern. Sie bittet den Wachenleiter um eine Freistellung der Beiden vom heutigen Dienst um sich in Ruhe mit Jakob zusammensetzen zu können, der dieser Bitte gerne nachkommt.

6.2

Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

Jakob zeigt klassische Anzeichen für eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), auch wenn sie scheinbar bisher weder diagnostiziert noch behandelt wurde. In diesem Artikel beschränkt man sich auf die im beruflich-notfallmedizinischen Setting erlebten traumatischen Ereignisse. Die PTBS gehört zu den anerkannten psychiatrischen Erkrankungen, auch wenn es prinzipiell nichts Abnormes („Störung“) oder Krankhaftes ist, sondern vielmehr eine physiologische Reaktion des Körpers um ein traumatisches Ereignis besser verarbeiten zu können. Trefflich kann man sich streiten, was nun genau zu einem traumatischen Ereignis gezählt werden oder wie lange man welche Symptome haben darf, ehe man es als krankhaft bezeichnet. Ernst zu nehmen ist es allemal, egal ob man selber an den Folgen eines außerordentlichen Ereignisses leidet oder diese Folgen an einem Arbeitskollegen bzw. Freund oder Familienmitglied bemerkt. Die Folgen der PTBS können große Auswirkungen haben wie eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer Depression, ein erhöhtes Suizidrisiko oder auch die Arbeitsunfähigkeit. Und: PTBS ist keine Colibri-Diagnose, denn die Lebenszeitprävalenz (die Wahrscheinlichkeit mindestens einmal im Leben eine solche Diagnose gestellt zu bekommen), liegt beim notfallmedizinischen Personal (egal ob ärztlich oder nichtärztlich) bei bis zu 50 %. Dies können schon rein statistisch nicht nur schwache Charaktere oder emotional instabile Persönlichkeiten sein, sondern Jedermann/-frau kann davon betroffen sein (übrigens gibt es auch keinen relevanten Geschlechterunterschied, also auch dieses Klischee kann man getrost unbemüht lassen). Unzweifelhaft ist eine PTBS aber keine individuelle Schwäche. Gerade Diejenigen, die die Betroffenen früher belächelt haben, scheinen ein erhöhtes Risiko für eine PTBS zu haben, denn Ihnen fehlen protektive Fertigkeiten wie eine Sensibilität und Akzeptanz der eigenen Verwundbarkeit und weiterer Resilienzfaktoren, die bei der Bewäl-

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6  Zugunfall – Posttraumatische Belastungsstörung

tigung belastender Ereignisse helfen. Beachtlich sind die großen Unterschiede, was als traumatisches Ereignis subjektiv empfunden wird. Auch eine Einzelperson kann einmal mit einer Situation gut zurecht kommen und eine objektiv ähnliches Ereignis zu einem anderen Zeitpunkt hebelt das Individuum aber aus. Daher lassen sich auch keine Vorhersagen bei einem konkreten potententiell belastenden Ereignis treffen. Folgende potentielle Symptome haben sich für die PTBS identifizieren lassen, die aber nicht immer alle gemeinsam auftreten müssen: –– Es muss sich ein auslösendes Ereignis identifizieren lassen und der Betroffene muss es benennen können. –– Häufiges aufdrängendes Erinnern und erneutes Durchleben der belastenden Situation durch oft nicht benennbare Trigger-Momente oder in Alpträumen (Flashback’s). –– Vermeidungsverhalten –– Psychovegetative Symptome von Schlafstörungen über Gereiztheit bis hin zu Verdauungsstörungen, Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Gastritis oder muskulärer Beschwerden. –– Die Symptomatik muss innerhalb der ersten sechs Monate nach dem auslösenden Ereignis beginnen und dauert über einen Monat an, wobei die Zuordnung bei mehreren belastenden Erlebnissen nicht immer einfach ist. –– Es kommt häufig zum sozialen Rückzug (Bindungsstörungen) und zu einer depressiven Stimmungslage bis hin zur akuten Suizidalität. –– Manchmal besteht eine gewisse Amnesie zum auslösenden traumatisierenden Ereignis, da sich „das Gehirn“ dazu entschieden hat diese überwältigenden Erlebnisse zu verdrängen. Dies wird häufiger auch bei polizeilichen Vernehmungen zum Problem, da sich die Befragten dann wirklich nicht an relevante und ggf. auffällige Einzelheiten erinnern kann. Die Behandlung einer PTBS macht oftmals eine temporäre Arbeitsunfähigkeit notwendig, wenn das traumatische Erlebnis aus dem beruflichen Umfeld kommt. Ansonsten sind mehrere psychotherapeutische Verfahren und auch einige Psychopharmaka für die Therapie zugelassen. Die wichtigste Behandlungsoption ist jedoch die Akzeptanz der familiären und weiteren persönlichen wie beruflichen Umfelds für die Erkrankung und ein fortgesetzter intensiver persönlich-sozialer Rückhalt. Es gibt auch protektive Faktoren für eine Wahrscheinlichkeitsreduktion der PTBS: Hierzu gehören ein strukturierter, intensiver sowie kollegialer Dialog im beruflichen Team. Werden Briefings und Debriefings mit der Möglichkeit einer persönlichen Feedbacks regelmäßig und strukturiert durchgeführt, steigt die Wahrscheinlichkeit für einen positiv-konstruktiven Umgang mit dem belastenden Ereignis. Zudem gibt es aus dem weiten Feld der Resistenzstrategien viele förderliche Ideen und Fertigkeiten, die hilfreich für die persönliche Verarbeitung sind. Diese Techniken lassen sich allerdings nicht einer breiten Masse einfach überstülpen, sondern es bedarf individu-

Weiterführende Literatur

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alisierter Schulungen nach den persönlichen Bedürfnissen und Befindlichkeiten. Nur dann werden die entsprechenden Fertigkeiten auch effektiv umgesetzt. Bei dem hier geschilderten Fall tritt nicht nur Jakobs scheinbar ausgeprägtes PTBS zu Tage, sondern sein „Handicap“ hat auch auf den aktuellen Einsatz große Auswirkungen. Da er anhaltend mental blockiert und kaum arbeitsfähig ist, bleibt er weit hinter seiner gewohnten und zu erwartenden Performance zurück und gefährdet so den gesamten ­Einsatzablauf. Da Franziska nichts von Jakobs traumatischen Erlebnis wußte, hatte sie auch keine Chance adäquat und hilfreich auf Jakob ein zu gehen. Es ist somit ein weiteres Beispiel für die Notwendigkeit einer gelebten Transparenz und Offenheit in einem Team, jedoch auch einer Untersagung der sich vielleicht daraus ergebenden Stigmatisierung des Betroffenen. Dies wäre auch töricht, wenn sich jeder Einzelne vor Augen führt, dass die Chance bei 50 % liegt mal unter den gleichen Symptomen zu leiden. Vielmehr ist ein größeres Augenmerk auf resistenzfördernde Strategien zu legen.

Weiterführende Literatur 1. ERC-Leitlinien für die Reanimation Erwachsener (2015) 2. https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/ erkrankungen/posttraumatische-belastungsstoerung-ptbs/was-ist-eine-posttraumatische-belastungsstoerung-ptbs/ 3. https://de.wikipedia.org/wiki/Posttraumatische_Belastungsstörung

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Wenn so vieles schlecht läuft

Inhaltsverzeichnis 7.1  Falldarstellung  7.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Weiterführende Literatur 

7.1

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Falldarstellung

Was geschah … Mit der Meldung „Person unter Zug, Polytrauma, Amputation“ war die Crew des Rettungshelikopters nachts unterwegs zum Einsatzort. Susanne war die Notärztin an Bord. Während der Pilot eine Rekognostizierungsrunde flog, kam der Funkspruch, dass der Patient mit dem RTW in das örtliche Spital zur Erstversorgung gebracht würde; dort könnten sie auch gut landen. Dieses Spital war ein Haus der erweiterten Grundversorgung und für die endgültige Behandlung dieses Patienten sicher ungeeignet. Sie trafen dort zeitgleich mit dem Patienten im Schockraum ein. Anwesend waren zunächst nur die RTW- und NEF-Besatzung, die medizinische Crew des RTH und zwei Notfallpflegepersonen. Der Patient war intubiert, hatte zwei Infusionen und im Bereich des rechten Oberschenkels wurde eine lokale Kompression durch einen Polizisten durchgeführt. Susanne sah sich in der Rolle, dass sie zunächst eine schnelle Beurteilung der Situation machen sollte, ob noch akut Massnahmen notwendig waren oder der Patient direkt zum schnellen Transport übernommen werden sollte. Die Beatmung wurde vom NEF-Notarzt durchgeführt und schien kein Problem zu sein; der Patient hatte einen ausreichenden Blutdruck. Unmittelbar im Hüftbereich war das rechte Bein fast vollständig abgetrennt, eine Gefässklemme war vom ersten Team gesetzt worden, eine starke Blutung war im Moment nicht zu erkennen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_7

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7  Wenn so vieles schlecht läuft

Schon war auch mehr Spitalpersonal dazu gekommen und schnell wurde die Situation hektisch und unübersichtlich. Zwei Anästhesisten, ein chirurgischer Oberarzt, einige Pflegende waren jetzt auch noch da, gaben Anweisungen und führten Massnahmen am Patienten durch. Die verschiedenen Personen kannten sich nicht alle; auch die jeweiligen Funktionen waren für Susanne nicht zu erkennen. Den Patienten wollte sie so schnell wie möglich ins Zentrumsspital transportieren, bevor Kreislauf und Gerinnung schlecht wurden. Frei in die anwesenden Personen kommunizierte sie diesen Strategieentscheid. Der Paramedic des RTH begann daraufhin mit dem Wechsel der Überwachung auf den Monitor des RTH. Susanne gab der RTW-Besatzung noch den Auftrag, dass der Patient einen Beckengurt erhalten sollte. Sie half selbst bei der Anlage mit. Dieser Gurt lies sich aber nach Zuganwendung nicht im geschlossenen Zustand fixieren. Auch ein zweiter Versuch scheiterte, so dass Susanne meinte: „Wir lassen das, der Patient muss jetzt so schnell wie möglich ins Zentrum!“ Und sie übernahm die Position am Kopf des Patienten. Ein Arzt der Notfallstation machte einen provisorischen Verband am Oberschenkel, der chirurgische Oberarzt war mit der telefonischen Anmeldung des Patienten bei seinem Kollegen beschäftigt und ein Anästhesiemitarbeiter wechselte eine Infusion auf eine Kurzinfusion mit Tranexamsäure. So war es einerseits eine Übernahme des Patienten und andererseits wurden noch therapeutische Massnahmen durch Spitalmitarbeiter durchgeführt. Und mitten in dieser undurchsichtigen Lage sah Susanne am Monitor, dass der Patient bradykard wurde. Eine Carotispalpation ergab keinen Puls. „Wir müssen reanimieren“, rief Susanne aus. Sofort wurde dies ausgeführt. Von Susanne wurde eine Pflegeperson angewiesen, dass sie nach 30 Kompressionen eine Pause für die Beatmung machen sollte. Jetzt war nicht mehr klar, ob man diesen Patienten transportieren würde oder ob nicht eine Notfall-OP vor Ort indiziert sei. Susanne hatte gar nicht wahrgenommen, dass auch schon eine FAST-­ Ultraschalluntersuchung am Laufen war. Der Untersucher teilte mit, dass im Bauch keine freie Flüssigkeit zu sehen, in den Lebervenen aber auffällig Luft nachzuweisen sei. „Der Patient blutet vielleicht gar nicht ins Abdomen, sondern hat eine schwere Beckenverletzung. Das sehen wir im Ultraschall nicht!“ Susanne veranlasste mit dieser Aussage doch noch einen Versuch, den Beckengurt zu palzieren. Durch zwei Rettungsdienstmitarbeiter gelang dies sofort. Nach etwa 2 Minuten Reanimation mit Kompressionen und einer Adrenalingabe konnte bei der Rhythmuskontrolle ein Carotispuls getastet werden. Die verschiedenen anwesenden Personen evaluierten die Situation. Für Susanne war immer noch nicht klar, wer eigentlich welche Rolle hatte. Bei einem Arzt neben ihr, erkannte sie auf dem Namensschild, dass er ein Oberarzt der Anästhesie war. „Wir müssen noch den Tubus wechseln, weil der Cuff undicht ist. Ich möchte dies über einen Tube-Exchanger machen,“ teilte sie ihrem Kollegen und dem Anästhesiepfleger mit. Susanne führte den Führungsstab in den liegenden Tubus ein und war etwas irritiert, weil sich der Anästhesiearzt unmittelbar an dieser Manipulation beteiligte. Als der Tube-Exchanger in der Trachea lag, war aber das

7.1 Falldarstellung

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Einführen des neuen Tubus darüber nicht möglich. Irgendwo am Larynx stand man an. Beide Ärzte versuchten den Tubus über den Widerstand zu bringen, was die Massnahme nicht einfacher machte. Susanne nahm ihre Hände weg und überlies das Plazieren des Tubus ihrem Kollegen. Zuständigkeit und Verantwortung

In der Notfallmedizin arbeiten häufig Personen spontan zusammen, die sich bisher nicht kennen. Namen und vorallem Funktionen sind in der Regel nicht bekannt. In der dringlichen Situation wird hier eine entsprechende Vorstellung unterlassen. Sind die Mitarbeiter mit Name und Funktion angeschrieben, ist dies hilfreich. Ist nicht klar, wer die Führung über den Fall hat, muss dies für alle im Team geklärt werden. Solange sich der Patient im Bett der abgebenden Klinik befindet und hier noch Massnahmen durch das Klinikpersonal stattfinden, ist in der Regel auch der zuständige Arzt der Klinik verantwortlich. Das transportierende Team kann explizit seine Mithilfe anbieten, es ist aber tunlichst zu vermeiden, ungefragt mit Massnahmen (z.  B.  Wechsel des Monitorings) zu beginnen. Der transportierende Arzt hat vor Übernahme beratende Funktion und ab Transportbeginn die Gesamtverantwortung. Vor Beginn der Patientenübernahme macht es Sinn, zunächst einen Übergaberapport durchzuführen. Alle Mitglieder des Transportteams sollten hier zuhören. So sind von Anfang an alle über die Besonderheiten des Einsatzes informiert. Dann legt z.  B. der transportierende Arzt den Ablauf und die Struktur der Übernahme fest. Handelt es sich um einen sehr dringlichen Fall, bei welchem der schnelle Transport für den Patienten entscheidend ist, oder hat man noch genügend Zeit, um vor Transportbeginn Massnahmen durchzuführen. Im vorliegenden Fall erscheint es, dass die adäquaten lebensrettenden Massnahmen nur im geeigneten Zentrumsspital durchführbar sind. In einem anderen Fall befindet sich der beatmete Patient vielleicht schon länger auf einer Intensivstation und die sorgfältige Fortführung und Überwachung einer differenzierten Beatmung sind von entscheidender Bedeutung. Während des gesamten Vorgangs der Übernahme muss der Patientenzustand (z. B. auf dem Monitor) und der Ablauf der Handlungen von einer Person kontrolliert werden. Dies kann z. B. der Transportarzt sein, der dann aber nicht durch Gespräche oder Handlungen abgelenkt sein darf. Letztlich muss das transportierende Team beurteilen und festlegen, ob der Patient mit den eingesetzten Mitteln so transportiert werden kann. Tauchen hierbei Zweifel auf, müssen abgebender und transportierender Arzt die Situation gemeinsam sachlich evaluieren. Die Dringlichkeit und Notwendigkeit noch erforderlicher Massnahmen und des Transportes sind festzulegen. Am passenden Zeitpunkt erfolgt ein klarer Transfer der Verantwortung. Dies muss deutlich für alle Teammitglieder erkennbar sein [1, 2].

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7  Wenn so vieles schlecht läuft

… das Ende des Falles Endlich schien man den Patienten transportieren zu können: Monitoring war umgehängt, Patient mit Beckengurt in der Vakuummatratze des RTH, Beatmung suffizient über den neuen Tubus, es bestand ein suffizienter Kreislauf. Schnell begab sich die Crew zum Rettungshelikopter, der Patient traf 20 Minuten später im Schockraum des Zentrumspitals ein. Seit dem Unfall waren nun 90 Minuten verstrichen. Zurück blieb bei Susanne ein ganz schlechtes Gefühl. Und sie machte sich folgende Gedanken: Wäre es besser gelaufen und wären sie vorallem schneller gewesen, wenn eine Übernahme direkt am Unfallort stattgefunden hätte? Effizientere Versorgung, weil sie im kleinen übersichtlichen Team gearbeitet hätten? Sie hätte sich besser zunächst gar nicht an der Versorgung des Patienten beteiligt, bis dieser klar zum Transport gewesen wäre. Wieder einmal war in einer kritischen Situation nicht klar gewesen, wer die Führung über den Fall hat. Unfallchirurg, Anästhesieoberarzt oder sie als Notärztin? Dabei schulte sie in Kursen immer wieder, dass man unbedingt immer eine Führung klarstellen muss. Warum hatte sie dies hier nicht verlangt? Wie konnten ihr Fehler unterlaufen wie etwa schlechte Anlage des Beckengurtes, falscher Reanimationsmodus beim intubierten Patienten (30:2 statt kontinuierliche Kompressionen) und Unfähigkeit einen Tubus zu wechseln? Auf dem Heimweg kam ihr die Idee, dass sie wirklich am besten die Versorgung dem Spitalteam überlassen hätte. So war sie wieder einmal in ihre eigene Falle getappt: Sich vor anderen profilieren müssen und dann im Stress den Überblick verlieren und Fehler machen. Da wollte sie dran arbeiten.

7.2

Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

Dieser Fall zeigt deutlich, dass manchmal gleich mehrere Gesichtspunkte einer guten Teamarbeit ungünstig verlaufen. Man kann hier folgende Faktoren beispielhaft erkennen: Teamführung Eine Teamführung empfiehlt sich, wenn kritische Situationen unübersichtlich und komplex sind, mehrere Personen mit verschiedenen Kompetenzen und Aufgaben an einem gemeinsamen Projekt tätig sind, klare Struktur und Strategie gefordert sind. Die Teamführung soll nicht selbst mit Aufgaben am Patienten beschäftigt werden, sondern sich ganz auf die Führungsaufgabe konzentrieren können. Dazu holt sich diese leitende Person Informationen aus dem Team („Wie ist der Atemweg“?) und erstellt aus der Synopsis aller Informationen eine Prioritätensetzung, Strategie und Zielsetzung. Diese wiederum werden den Teammitgliedern mitgeteilt. So wird erreicht, dass Alle auf dem gleichen Weg unterwegs sind. Teamführung soll auch die grundsätzliche Strategie festlegen (der Kapitän gibt den Kurs vor). Es muss für das Team erkennbar sein, was man aktuell will und worauf hin man

7.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

53

arbeitet (basale Erstversorgung im regionalen Spital oder schneller Transport). Dann können die Teammitglieder mitdenken, welche Massnahmen diesem Ziel dienen. Wenn die grundlegende Strategie der schnellst mögliche Transport ins Traumazentrum ist, macht der Vorschlag einer Thoraxröntgenuntersuchung keinen Sinn. Die Person, welche die Ultraschalluntersuchung durchführte, machte ein sogenanntes „Speak up“. Die lautstarke Mitteilung, dass im Abdomen keine freie Flüssigkeit nachgewiesen werden konnte, war wichtig. Denn anderenfalls hätte man sich wohl für eine Versorgung vor Ort entschieden. Und doch hatte Susanne es zunächst nicht wahrgenommen, denn sie war ja mit ihrer Position am Kopf beschäftigt. Die Führungsperson muss nicht selbst über einzelne Fachkenntnisse verfügen (z. B. Durchführen von invasiven Massnahmen). Der Inhaber dieser Rolle muss aber die jeweiligen Algorithmen und Behandlungspfade kennen. Er sollte ausreichende Erfahrung haben in der grundsätzlichen Behandlung solcher Krisensituationen. Seine Hauptaufgabe sind Zuweisung von Einzelaufgaben und Prioritätensetzung. Wer das Team führt, muss unbedingt zu Beginn des Einsatzes festgelegt werden. Hat erst das Arbeiten am Fall begonnen, ist eine solche Definition viel schwieriger. Bei Teams, die sich aus verschiedenen Betrieben zusammensetzen, ist es sinnvoll, dass die Teamführung aus dem aktuellen Zuständigkeitsbereich gewählt wird. Im vorliegenden Fall wäre dies die Klinik, in welcher der Patient gerade erstversorgt wird. Das Team, welches den Patienten anschliessend transportieren soll, ist zunächst gar nicht zuständig. Hier war nun der besondere Fall eingetreten, dass das Team für den Sekundärtransport kurz vor dem eigenen Klinikpersonal eingetroffen war und sich somit in der Pflicht zur Hilfeleistung sah. Umso mehr hätte aber mit dem Eintreffen der Klinikmitarbeiter schnell eine Führung bestimmt werden müssen. Die fehlende zentrale Führung war schnell im Einsatzverlauf bemerkbar. So wurden unterschiedliche Strategien verfolgt und Prioritäten gesetzt. Die einzelnen Tätigkeiten am Patienten waren nicht koordiniert. Susanne machte auch Fehler, weil Anweisungen ans Team und gleichzeitige Massnahmen am Patienten sie überforderten. So instruierte sie eine Pflegeperson zu Thoraxkompressionen 30:2, obwohl der Patient ja schon intubiert war. Rollenverteilung, Zuständigkeiten Ebenso wie die Definition einer Leitungsfunktion sollten auch die einzelnen Zuständigkeiten festgelegt werden (z. B. Legen von Infusionszugängen oder das Bereitstellen von Medikamenten). Hier ist es durchaus sinnvoll die Einzelkompetenzen und Fachkenntnisse zu nützen. Das Legen der Thoraxdrainage überlässt man z. B. dem Unfallchirurgen. Hat ein Mitarbeiter nicht die Fachkenntnis eine Massnahme durchzuführen (hier die Anlage der Beckenschlinge), soll er dies dem Teamleader klar mitteilen. Hier wäre wahrscheinlich ein Rettungssanitäter für den Beckengurt eine kompetente Person gewesen. Durch die Verteilung der Einzelaufgaben wird die Effizienz erhöht (paralleles Arbeiten), der jeweilige Mitarbeiter kann sich ganz auf die zugewiesene Aufgabe konzentrieren und durch klare Zuteilung ist definiert, wer für was zuständig ist. So wird einerseits

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7  Wenn so vieles schlecht läuft

s­ ichergestellt, dass eine Massnahme auch tatsächlich durchgeführt wird („Peter, du legst einen venösen Zugang!“) und andererseits werden Doppelspurigkeiten vermieden (z. B. führen zwei Mitarbeiter ohne Absprache miteinander eine Klinikanmeldung durch). Jede Aufgabe wird von der bestmöglichen Fachkompetenz betreut. Stattdessen haben sich hier z. B. mehrere Helfer gleichzeitig mit dem Atemweg beschäftigt; haben sich vielleicht sogar gegenseitig behindert. Die Rollenverteilung beinhaltet auch, dass man Informationen aus seinem Teilbereich aktiv dem Teamführer bzw. dem ganzen Team mitteilt („Wir haben eine Asystolie!“). Auch das erfolgreiche Durchführen einer Massnahme ist ein wichtiger Punkt, welcher der leitenden Person kommuniziert werden muss. So hat diese den Überblick, was von ihren Anweisungen erledigt wurde. In einer Gruppe, in der sich die Mitglieder nicht kennen, ist eine Rollenverteilung von noch grösserer Bedeutung. Denn gerade hier ist den Einzelnen nicht klar, wer für was zuständig ist. Sie kennen ja nicht ihre jeweiligen Fachkompetenzen. Eine Vorstellung der eigenen Person mit Funktion, Fachausbildung und Fähigkeiten macht hier Sinn. Mentale Modelle Um erfolgreich zu sein, müssen Teams eine gemeinsame Strategie, einen Plan haben. Was liegt hier vor, was muss erledigt werden und was ist unser gemeinsames Ziel? Das sind Aspekte, die für alle Mitarbeiter einheitlich geklärt sein müssen. Nur so kann erreicht werden, dass synergistisch und nicht gegeneinander gehandelt wird. In gemischten Teams verfolgen die Personen durch ihre jeweilige Fachdisziplin unterschiedliche Strategien und setzen andere Prioritäten. Während der Transportarzt die Notwendigkeit einer schnellen Verlegung in die Zentrumsklinik anstrebt, verfolgt der örtliche Chirurg eine Erstversorgung vor Ort. Die verschiedenen mentalen Modelle müssen miteinander abgeglichen werden, das Für-und-Wider der Modelle muss abgewogen werden, um schliesslich den besten Plan für alle Beteiligten zu erstellen. Am Schluss gibt der Kapitän durch, auf welchem Kurs man unterwegs ist. Prioritätensetzung, Strategie In Notfallsituationen ist es oft zeitkritisch die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es ist nicht genügend Zeit für eine ausführliche Diskussion und es stehen oft nicht alle erforderlichen Informationen zur Verfügung. Und doch kann eine Entscheidung fatale Folgen haben, wenn z. B. eine wichtige Massnahme nicht erfolgt. Um die richtigen Prioritäten zu setzen und nichts Wichtiges zu verpassen, haben sich internationale Algorithmen etabliert. Faktoren, die für das Outcome des Patienten vitale Bedeutung haben, werden in einheitlicher Reihenfolge berücksichtigt. So macht es keinen Sinn eine medikamentöse Kreislaufstabilisierung zu priorisieren, solange die äussere Blutung nicht gestoppt wird. In einem Team, welches regelmässig zusammen arbeitet, sind die Prioritäten und Strategien häufig schon grundsätzlich geklärt; man redet eine einheitliche Sprache. Als Beispiel: Kennt der Hausarzt das Notfall- A/B/C-Schema, welches das Rettungsteam benützt? Er hingegen kennt „seinen“ Patienten sehr gut und damit vielleicht seine Hauptproblematik.

Weiterführende Literatur

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In stressvollen Krisensituationen vertiefen wir uns schnell in Detailaufgaben und verlieren den Blick auf das Ganze. Jeder hat nun das Bedürfnis, etwas für den Patienten tun zu können. Wir meinen, wenn ich jetzt diese Massnahme erfolgreich durchführe (z.  B. einen venösen Zugang), habe ich für den Patienten etwas Sinnvolles getan. Ob diese Massnahme auch tatsächlich gesamthaft von Bedeutung ist für den Patienten, wird im Stress schnell nicht mehr hinterfragt. Auch Heurismen kommen hier zum Tragen. Um ökonomisch handeln zu können, ziehen wir schnelle Schlüsse und handeln affektiv. „Das ist ein Traumapatient, also muss sein schlechter Blutdruck ein Volumenmangel sein!“ ist im jeweiligen Fall vielleicht nicht die richtige Erklärung und führt zu einer vorschnellen Infusionstherapie. Dabei hätte die korrekte Abarbeitung des Schemas im „B“ einen Spannungspneumothorax gezeigt. Im vorliegenden Fall hätte ein „Time-out“, ein „10 für 10“ (10 Sekunden für 10 Minuten) wahrscheinlich Ruhe und Struktur in das Geschehen gebracht. So aber fehlten die gemeinsame Analyse der Situation und eine Festlegung der Versorgungsstrategie. Mit einer Unterbrechung von wenigen Sekunden hätte man alle Helfer auf einen Kurs bringen können.

Weiterführende Literatur 1. Sieber R (2009) Strukturierte Patientenübergabe. Star Life 2:17–21. https://www.sgnor.ch/ uploads/tx_frptaggeddownloads/Uebergabe_FLUSSDIADR_rev_4_3_09.pdf 2. Harmsen AMK (2017) Limitations in prehospital communication between trauma helicopter, ambulance services and dispatch centers. J Emerg Med 52:504–512

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Explosionsunfall – Verschiedene mentale Modelle

Inhaltsverzeichnis 8.1  F  alldarstellung  8.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse 

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Falldarstellung

Was geschah … Es war eine dieser Meldungen, die auch einen erfahrenen Notarzt wie Manuel aufrütteln. Da stand auf seinem Einsatzmail: „Explosion in bewohntem Gebiet, mehrere Kinder verletzt, eine Extremität abgetrennt“. Die Anfahrt mit dem NEF sollte ca. 10 Minuten dauern. In dieser Zeit machte sich Manuel natürlich die ersten Gedanken zum Geschehen. Er würde einer der ersten Retter vor Ort sein, wie sollte er die ersten Momente bewältigen, wie schnell würden weitere Mittel nachkommen, was war bereits aufgeboten? Es ging ihm also sehr viel durch den Kopf und so war er etwas erleichtert, als ihm die Einsatzzentrale noch auf der Anfahrt per Funk durchgab: „ Wir haben gleich noch einen Rettungshelikopter, zwei bodengebundene Notärzte und den leitenden Notarzt aufgeboten.“ Er sollte also innert kurzer Zeit viel Verstärkung haben. Und dann trafen sie ein am Unglücksort. Dieser befand sich auf dem Gelände einer stillgelegten Fabrik. Die räumlichen Verhältnisse waren sehr eng. Das heisst die Zufahrt direkt zu den Patienten war für einen RTW gerade möglich. Sie stellten ihr NEF einige Meter weiter vorne ab um nicht die Rettungsachse für weitere Fahrzeuge zu blockieren; Feuerwehr und Polizei waren auch bereits vor Ort. Da nicht klar war, welche Rettungsmittel bereits eingetroffen waren, nahmen die NEF-Fahrerin und Manuel das wichtigste Material wie Rucksack, Sauerstoff, Monitor mit. Am eigentlichen Unglücksort herrschte verständlicherweise grosse Aufregung, die verletzten Kinder wurden jeweils durch © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_8

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8  Explosionsunfall – Verschiedene mentale Modelle

Erwachsene betreut; vom einzigen RTW, der bisher eingetroffen war, hatte sich ein Rettungssanitäter (RS) durch eine Weste als „Einsatzleiter“, der andere als „Chef Front“ erkenntlich gemacht. Manuel hatte sich auf der Anfahrt fest vorgenommen, zunächst keine eigentliche Patientenbetreuung vorzunehmen, sondern als erste Massnahme zusammen mit dem Einsatzleiter (EL) sich einen Überblick zu verschaffen. Also ging Manuel sofort zu diesem und stellte sich vor. „Was möchtest Du, was ich als erstes mache, fragte er den EL“. „Mach bitte schnell eine Triage, um zu sehen, was wir an Verletzungen bzw. Dringlichkeiten haben“, war die Antwort. Manuel machte die Runde durch die Patienten. Sie befanden sich alle im Umkreis von wenigen Metern, zwei weinten fest, schienen aber unverletzt, drei waren auffallend ruhig. Ein Kind hatte eine Amputation am Unterarm, eines eine grosse Weichteilverletzung in der linken Gesichtshälfte und einem Kind hatte es das Gesicht mit Haaren und Hals verbrannt. Alle Kinder waren bei vollem Bewusstsein und gaben adäquate Antworten auf die Fragen von Manuel. Somit hatte für ihn kein Patient eine hoch dringliche vitale Versorgungspriorität: An der Amputationswunde und der Gesichtsverletzung bestanden keine schwere Blutungen, Verbände waren bereits angelegt. Das Gesicht des einen Kindes war 1°–2° verbrannt, aktuelle Zeichen eines Inhalationstraumas bestanden nicht. Diese Situation meldete Manuel an den EL zurück, Amputations- und Augenverletzung stellten für ihn die höchste Transportpriorität dar. Er teilte dem EL mit, dass er sich nun mit der Versorgung des Kindes mit Unterarmamputation beschäftige. Er wurde dabei von der NEF-Fahrerin unterstützt. Unterdessen erstellte der RS „Chef Front“ eine Liste der Patienten. Noch während Manuel dem Kind eine Infusion legte und unter komplettem Monitoring Fentanyl gab, trafen bereits der Notarzt des RTH und ein weiterer bodengebundener Notarzt ein ausserdem ein zweiter RTW. Somit war für jedes verletzte Kind ein Rettungsteam vorhanden. Da trat ein weiterer RS zu Manuel, an der Weste war er als „Chef Transport“ zu erkennen. Manuel solle sofort die Rolle des leitenden Notarztes (LNA) übernehmen, denn er sei als erster Notarzt vor Ort gewesen und der LNA wäre erst auf der Anfahrt. Manuel übergab „seinen“ Patienten an die NEF-Fahrerin. Jetzt war er allerdings etwas verwirrt. Sollte er einfach dieses Kind aus den Händen geben. Er war doch für dieses in den letzten Minuten Bezugsperson gewesen, hatte das Geschehen die ganze Zeit verfolgt. Und die anderen Teams arbeiteten sehr autonom, so dass die Versorgung aller Patienten sichergestellt war. Er sah nicht recht die Notwendigkeit einer leitenden Funktion sondern mehr die seiner ärztlichen Leistung zur Patientenversorgung. Dieses überschaubare Geschehen konnte der EL doch ohne ihn organisieren. Manuel ging nun mit dem „Chef Transport“ die Patienten durch. Sie erstellten eine Liste der drei Verletzten mit den jeweiligen Verletzungen und der erforderlichen Zielklinik. Der „Chef Transport“ informierte über die vorhandenen Transportmittel. Als die Zuteilung der Patienten zu Klinik und Transportmittel erfolgt war, konnte das erste Kind bereits mit dem Helikopter abtransportiert werden. Als auch ein zweites RTH-Team eintraf, informierte Manuel den Notarzt über den Patientenzustand und die bisherigen ­Massnahmen. Dabei wurde er teilweise von der NEF-Fahrerin korrigiert, da sich die Situation mittlerweile geändert hatte.

8.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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Schliesslich wurde Manuel von „Chef Transport“ und „Einsatzleiter“ einem dritten Kind zugeteilt, welches mit dem RTW in die Kinderklinik transportiert werden sollte. Dieses war von einer Notärztin aus dem benachbarten Zuständigkeitsbereich versorgt werden. Diese sollte den Transport aber nicht selbst durchführen, damit sie wieder einsatzbereit wäre. Es erfolgte eine Patientenübergabe und Manuel war nun mittlerweile für einen Patienten zuständig, welchen er nicht selbst versorgt hatte, den er aber in der Klinik übergeben sollte. … das Ende des Falles Manuel war nach dem Einsatz der Meinung, dass er dieses Ereignis anders organisiert hätte. Nun ja, das hätte er sagen müssen. Beim Debriefing nach dem Einsatz wurde ihm erst richtig deutlich, wie unterschiedlich die Denkweise der beteiligten Personen war. So deutlich hatte er das noch nie erlebt.

8.2

Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

Mentale Modelle Wenn wir eine Situation beurteilen, Erklärungen suchen oder Entscheidungen treffen müssen, hat jeder ein sogenanntes mentales Modell. Es ist das individuelle Verständnis der vorliegenden Situation. Dies beinhaltet zunächst die Einschätzung, was hier stattfindet oder stattgefunden hat. Diese Einschätzung kommt durch unsere Wahrnehmung zustande. Was sehen, was hören wir usw. Also unsere Sinne geben uns Informationen, die wir dann verarbeiten. Wenn die Sinneseindrücke zunächst noch objektiv erscheinen, so ist deren Verarbeitung dann sicher subjektiv. Geprägt durch Persönlichkeitsfaktoren interpretiert jedes Individuum das Wahrgenommene unterschiedlich. Das eigene aktuelle Konzentrationsvermögen, zurückliegende Erlebnisse oder Stress sind solche Faktoren. Der Umgang mit Sinneswahrnehmungen ist nie objektiv. Jedes Individuum erstellt sich sein eigenes mentales Modell vom Geschehen. Der Umgang mit Sinneseindrücken und Wahrnehmungen ist geprägt von eigenen Erfahrungen und Denkgewohnheiten. Wir suchen in unserer Erinnerung nach Bekanntem, das zur Erklärung der aktuellen Situation hilfreich ist. Mit dieser inneren Ausgangslage suchen wir dann Erklärungen zur bestehenden Lage. Was hat hier stattgefunden? Was sind Bedrohungen, welche Prioritäten sollen gesetzt werden bei Handlungen? So sieht z. B. ein Helfer eine bewusstlose Person auf der Strasse liegen neben ihrem Fahrrad. Der Helm ist deutlich beschädigt. Der Helfer geht von einem schweren Schädelhirntrauma aus und wird diese vitale Gefährdung in den Fokus seiner Handlungen stellen. Ob eine Intoxikation zur Bewusstseinsstörung geführt hat, ist zunächst nicht Teil seiner Arbeitshypothese. Aus der Verarbeitung der Sinneswahrnehmungen, dem Aufbau einer Arbeitshypothese und der inneren Planung erstellen wir ein mentales Modell. Wir schreiben innerlich eine Art Drehbuch zum Geschehen. Wenn wir im Team mit anderen Personen zusammenarbeiten, erstellt jedes Teammitglied für sich ein individuelles mentales Modell. Da wir dieses

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8  Explosionsunfall – Verschiedene mentale Modelle

Modell von aussen nicht erkennen können, wissen wir auch nichts über die Modelle der Anderen. Wieder sehen wir z. B. die Handlungen unseres Arbeitskollegen und schliessen aufgrund dieser Handlungen evtl. auf sein mentales Modell; also wieder eine Interpretation. So können Teammitglieder an einem Projekt gemeinsam arbeiten und dabei unterschiedliche Pläne zur Abarbeitung der Lage haben. Womöglich arbeiten sie so mit ganz verschiedenen Priorisierungen und Zielsetzungen. Das Team nützt also nicht Synergien, behindert sich vielleicht sogar gegenseitig. Eine zuverlässige Information zu den mentalen Modellen der Teammitglieder erhalten wir nur, wenn jeder sein mentales Modell offenlegt. Klare objektive Mitteilung der Sinneswahrnehmungen („Ich sehe eine starke äussere Blutung“), der Beurteilung („ dies ist eine vitale Gefährdung, ein C-Problem“) und die Handlungsempfehlung („Ich möchte, dass hier ein Druckverband angelegt wird“) ist hier zielführend. Die anderen Teammitglieder erfahren von dieser Person direkt, was sie denkt. Nur so kann ein Abgleich mit dem eigenen mentalen Modell erfolgen. Wenn Person A sagt, dass sie sofort intubieren möchte, kann Person B z. B. auf die schwierigen räumlichen Verhältnisse hinweisen. Person B hat den inneren Plan, dass der Transport durchs enge Treppenhaus mit spontan atmendem Patienten einfacher und schneller geht. Die verschiedenen Teammitglieder teilen also ihre jeweiligen Hypothesen und Pläne mit, die unterschiedlichen Modelle können dann abgeglichen werden, so dass idealerweise alle Beteiligten am gleichen Plan und mit der gleichen Zielsetzung handeln. Durch Abgleich der mentalen Modelle wird die Handlungsfähigkeit des Team erweitert, weil die Wahrnehmungen Aller genützt werden. Fehler von einzelnen Personen (z. B. Fixierungsfehler) können korrigiert werden. Wenn das eigene mentale Modell offen gelegt wird, können andere Mitglieder ihre Bedenken einbringen und evtl. darauf hinweisen, dass Sachverhalte gegen dieses Modell sprechen. Da nun alle Beteiligten den gemeinsamen Arbeitsplan kennen, können Synergien genützt werden. Ein ganz schneller Abgleich des mentalen Modells ist z. B. die Mitteilung „Dieser Patient ist kritisch bzw. unkritisch“. So wissen alle im Team, ob die unmittelbare Beseitigung einer vitalen Bedrohung erforderlich ist. Eine andere Möglichkeit ist das „Time out“ oder „10 für 10“ (s. dort). Hier kann innert Sekunden geklärt werden, ob alle den gleichen Plan haben. Auch ein Lagerapport bei einem Grossereignis dient dem Abgleich unter den beteiligten Rettungsorganisationen. Oder beim Verkehrsunfall mit eingeklemmter Person spricht sich der Notarzt mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr über die Vorgehensweise ab. Mentale Modelle sind grundsätzlich hilfreich. Denn gerade in Situationen, die komplex und zeitkritisch sind, ist ein effizientes Handeln gefordert. Wir greifen auf bereits Erlebtes und unser Wissen zurück. So kommen wir schneller zu Erklärungen und Entscheidungen, können Ressourcen sparen und sind handlungsfähiger. Der Erfahrene hat ein breiteres Spektrum an mentalen Modellen, weil er bereits mehr erlebt hat und über ein grösseres Fachwissen verfügt. Er kann somit mehr unterschiedliche Krisensituationen bewältigen. Das schnelle Erklären und Einschätzen kann aber auch zu einem falschen Handlungspfad führen. Ob die aktuelle Situation auf das innerlich abgerufene Modell passt wird nicht

8.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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genügend hinterfragt (Fixierungsfehler). Verbindet man die verschiedenen mentalen Modelle im Team, können solche Fehlschlüsse verringert werden. Im geschilderten Fall schätzte der Notarzt alle Patienten nicht vital gefährdet ein, er sah genügend Rettungskräfte, um zunächst eine individuelle medizinische Versorgung durchzuführen. Er hätte deshalb weniger Personen zu Funktionsträgern gemacht. Sein Ziel war eine unmittelbare Patientenversorgung wie persönliche Betreuung, Infusionstherapie, Analgesie etc.. Um mit dem Einsatzleiter ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, hätte er sein mentales Modell klar kommunizieren müssen. Nur so wäre ein Abgleich der unterschiedlichen Vorstellungen und eine Korrektur möglich gewesen. Stattdessen führte die fehlende Absprache später im Einsatz zu Handlungen, die ineffizient waren und die Kontinuität der Patientenversorgung beeinträchtigten. Bei Unklarheit im Team also nachfragen: „Was ist Dein Plan?“

9

Person unter LKW - Wenn vieles gut läuft

Inhaltsverzeichnis 9.1  Falldarstellung  9.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Literatur 

9.1

 63  66  67

Falldarstellung

Was geschah … „Person unter LKW, Feuerwehr aufgeboten“, so hiess die Einsatzmeldung. Corinna machte sich als Notärztin auf den Weg zur Einsatzstelle; in 10 Minuten würde sie dort eintreffen. Es war später Herbstabend und die Lichtverhältnisse auf den Strassen waren sehr schlecht. Als Corinna am Einsatzort eintraf, war dort schon ein grosses Aufgebot an Rettungskräften am arbeiten. Die Feuerwehr hatte abgesperrt und für Licht gesorgt, zwei RTW waren auch schon da und für die Ärztin war die Lage auf den ersten Blick recht unübersichtlich. Sie fand schliesslich das Rettungsteam neben dem LKW auf der Strasse, drei Helfer waren am reanimieren. Sie kannte die Kollegen gut aus dem eigenen Rettungsdienstbetrieb. Corinna nahm in gewohnter Weise die Position am Kopf ein und liess sich die Situation beschreiben. Die junge Fussgängerin war unter den LKW geraten, es war sofort ein Notruf abgesetzt worden. Sie war dann vom ersten eintreffenden RTW-Team geborgen worden und bei Pulslosigkeit wurde eine Reanimation begonnen. Corinna war unwohl bei dem Gedanken, ein schweres Trauma zu reanimieren. Da waren die Erfolgsaussichten doch sehr schlecht. Aber nun war die Rea schon am laufen. Es war also selbstverständlich, weiter zu machen, und ausserdem war die Patientin sehr jung. Da wollte Corinna alles versuchen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_9

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9  Person unter LKW - Wenn vieles gut läuft

Reanimation beim Trauma

Bis vor einiger Zeit wurde eine Reanimation beim Traumapatienten sehr kritisch betrachtet. Sie galt bei den schwer verletzten Patienten als aussichtslos. Entweder eine Reanimation war primär bereits erfolglos oder das neurologische Ergebnis war in fast allen Fällen sehr schlecht [1, 2]. Dies wurde darauf zurückgeführt, dass in diesen Fällen ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, ein grosser Gefässabriss oder eine schwere Blutung mit fataler Hypvolämie vorliegen. Während bei einem solchen schweren SHT a priori das Outcome sehr schlecht ist, erschien eine Reanimation bei schwerster Hypovolämie ebenfalls aussichtslos. Dann tauchten zunehmend Berichte auf, dass die Reanimation in begründeten Fällen doch indiziert sein könnte. Ahmed et al. [3] berichten von 13 % Überlebenden, wenn innerhalb der ersten Stunde nach Trauma reanimiert werden musste und folgern daraus, dass in diesem Zeitintervall eine aggressivere Behandlung indiziert sei. Schliesslich wird der Gesichtspunkt der Reanimation auch erwähnt in der S3-Richtlinie zur Versorgung von Schwerverletzten [4]. „Bei definitiv vorliegendem Herz-Kreislauf- Stillstand, bei Unsicherheiten im Nachweis eines Pulses oder bei anderen klinischen Zeichen, die einen Herz-Kreislauf-Stillstand wahrscheinlich machen, soll unver- züglich mit den Interventionen der Reanimation begonnen werden.“ Die verschiedenen Situationen sollen differenziert betrachtet werden. So ist ein Spannungspneumothorax auch präklinisch einfach zu beheben und darf unbehandelt nicht zu einem Abbruch der Reanimation führen. SHT und HWS-Verletzungen können schnell zu einem A- oder B-Problem führen, welches durch Rettungsdienstpersonal ebenfalls einfach zu beheben ist. Ein hypoxiebedingter Herzkreislaufstillstand kann so behandelt werden, wenn das Zeitintervall entsprechend kurz ist [5]. Thoraxverletzungen gelten im Rahmen der traumaassoziierten Reanimation als die Konditionen mit den schlechtesten Prognosen. Sieht man bei einem traumabedingten Herzkreislaufstillstand Erfolgsaussichten, muss eine Hypoxie schnell und aggressiv behandelt werden. Blutungen sind durch äussere Kompression oder Tourniquet, innere z. B. durch einen Beckengurt zu behandeln. Die entstandene Hypovolämie muss aggressiv beseitigt werden. Ein Spannungspneu wird durch Nadeldekompression oder besser durch eine Thorakotomie beseitigt.

… so geht es weiter … Corinna konnte gut mit Maske beatmen, Julia als Rettungsassistentin führte die Thoraxkompressionen im Verhältnis 2:30 durch. Gemäss Andreas, dem anderen Rettungsassistenten, lag eine Asystolie vor, als sie über die Defi-Pads eine Rhythmusanalyse gemacht hatten. Corinna holte sich weitere Informationen ein: Ein RTW war zufällig direkt nach dem Ereignis am Unfallort vorbei gefahren. Die Besatzung hatte also innerhalb von ca. 5 Minuten nach dem Notrufeingang mit der Reanimation begonnen. Eine relevante äussere Blutung war nicht zu erkennen. Während sich Corinna jetzt Gedanken machte zum

9.1 Falldarstellung

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weiteren Vorgehen, rief Andreas aus „Ich habe einen i.o.-Zugang! Hast du das gehört, Corinna?“ Jene war froh um diese Mitteilung und gab folgende Anweisung: „Andreas, gib jetzt darüber 1 mg Adrenalin!“ Zusätzlich informierte sie das gesamte Team lautstark darüber, dass sie nach dem Adrenalin einen Zyklus weiter reanimieren würden und dann in der nächsten Kompressionspause eine Puls- und Rhythmusanalyse stattfinden würde. Julia gab zu verstehen, dass sie dies verstanden habe. Florian, ein weiterer Rettungsassistent, teilte mit, dass er das Intubationsmaterial vorbereiten würde. „Ja danke. Ich möchte aber zuerst eine sichere suffiziente Reanimation durchführen, bevor wir intubieren,“ sagte die Notärztin. „Beatmung geht gut und im Moment sind die durchgehenden Kompressionen das Entscheidende.“ Andreas hatte darüber informiert, dass das Adrenalin gegeben worden war und mittlerweile war es tatsächlich Zeit zur Rhythmusanalyse. Auf dem Monitor war ein Sinusrhythmus zu erkennen und an der Carotis war ein Puls zu tasten. „Wir haben einen Rhythmus mit Puls! Im Moment keine weitere Reanimation. Julia sorge bitte für eine Blutdruckmessung.“ So gab Corinna den aktuellen Stand an Alle weiter. Wenn der Kreislauf ausreichend wäre, würde sie jetzt intubieren. Schliesslich war die endotracheale Intubation durchgeführt, das endtidale CO2 war im Normbereich und am kompletten Monitoring war bei einem Sinusrhythmus ein suffizienter Kreislauf mit systolischen Werten um 120 mmHg zu erkennen. Corinna wollte nun die Situation analysieren: „Wir machen jetzt einen Body-Check von Kopf bis Fuss. Das mache ich, während Julia die weitere Beatmung übernimmt.“ „Gut, dann bereite ich in der Zeit die Immobilisation und die Transportbereitschaft vor,“ gab Andreas zu verstehen. „A propos Transport. Florian, du kümmerst dich darum, ob wir in nützlicher Frist einen Hubschrauber bekommen. Wir haben 30  Minuten Fahrzeit ins Zentrum! Wenn wir parallel zum Anflug des Hubschraubers die weitere Versorgung durchführen, haben wir ein gutes Zeitmanagement,“ergänzte Corinna. Florian bestätigte seinen Auftrag und begab sich zum NEF an den Funk. Der Body-Check hatte tatsächlich keine relevante Blutung ergeben. Die Lunge war unter Beatmung seitengleich mit unauffälligem Geräusch belüftet und mit 50 % Sauerstoff wurde eine Sättigung über 95 % erreicht. Der Kreislauf war weiter stabil. Bauch und Becken waren unauffällig. Am linken Bein war eine offene dislozierte Unterschenkelfraktur zu erkennen. Die Pupillen waren beidseits mittelweit, rechts frontal war eine deutliche Prellmarke zu erkennen. Das Team begann nun mit der Immobilisation auf einem Spineboard und die Patientin erhielt dazu Dormicum und Ketamin über den i.o.-Zugang. ­Danach ging es schnell in den RTW, da der Jahreszeit entsprechend kühle Temperaturen herrschten. Im RTW meinte Andreas: „Wir legen noch einen zweiten Zugang, denke ich. Soll ich da noch einen Zucker bestimmen, damit wir im „D“ komplett sind?“ Corinna war dankbar für den Vorschlag. Von Florian erfuhren sie, dass der Hubschrauber fliegen können und in ca. 10 Minuten am Landeplatz am Ortsrand eintreffen würde. „Gut, dann fahren wir dorthin und machen dann nochmals ein Re-Assessment,“ informierte Corinna das Team. Die Übergabe an das Hubschrauberteam ging schnell und ruhig vonstatten. Die Patientin war weiterhin ohne Katecholamine völlig stabil, was die Notärztin etwas verwundert aber erfreut zur Kenntnis nahm.

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9  Person unter LKW - Wenn vieles gut läuft

… das Ende des Falles Einige Tage später erkundigte sich Corinna in der Klinik nach der Patientin. Sie war nach der unfallchirurgischen Versorgung am Tag nach dem Unfall gut erwacht und zeigte ausser einer ausgeprägten Amnesie keine neurologischen Ausfälle. Der Herzkreislaufstillstand wurde folgendermassen gedeutet: Durch eine schwere Commotio war es unter dem LKW bei der Patientin zu einer Verlegung der Atemwege gekommen. Da das „A“-Problem schnell gelöst worden war (zufällig eingetroffenes RTW-Team), waren für eine Reanimation gute Voraussetzungen geschaffen worden.

9.2

Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

Zeitkritische Situationen verursachen schnell Stressreaktionen bei den Einsatzkräften. Mehrere Massnahmen sollen ab besten zeitgleich durchgeführt werden, die kognitiven Fähigkeiten werden schnell durch Überforderung beeinträchtigt und wenn viele Helfer tätig sind, wird die Lage unübersichtlich. Stresssituationen liegen typischerweise vor, wenn die Überforderung sich einstellt, es um viel geht (hier die Reanimation einer jungen Patientin), unter Zeitdruck gearbeitet wird, so dass keine Zeit bleibt, langwierige gründliche Entscheidungsfindungen zu machen. Verändert sich die Lage immer wieder, so wird das Stresslevel deutlich erhöht. Es ist deshalb wichtig sich darüber bewusst zu sein, dass die eigenen Fähigkeiten einer einzelnen Person nicht ausreichen. Führt man mehrere Tätigkeiten gleichzeitig durch (z. B. Atemwegsmanagement, Überlegungen zum Reanimationsablauf, Teamführung), so leidet die Qualität der einzelnen Leistungen. Es macht also Sinn, verschiedene Massnahmen, die durchzuführen sind, an die verschiedenen Teammitglieder zu delegieren. So können die gesamten Möglichkeiten der vorhandenen Ressourcen genützt werden. Jeder erhält einen Auftrag und kann sich voll auf dessen Durchführung konzentrieren. Zur Sicherstellung der Aufgabenverteilung wird der Beauftragte direkt, am besten mit seinem Namen, angesprochen. Auch die Aufgabe selbst muss klar ausgesprochen werden („Du kümmerst Dich jetzt um den Hubschraubertransport!“) Bestätigt der Angesprochene seinen Auftrag, so sprechen wir von „Closed loop“. Durch diese Bestätigung erhält der ­Auftraggeber (in der Regel der Teamführer) die Sicherheit, dass der Auftrag durchgeführt wird. Er selbst kann sich somit wieder anderen Aufgaben widmen; er hat wieder den Kopf frei. Ist die angeordnete Massnahme tatsächlich durchgeführt, wird auch dies zurück gemeldet („Der venöse Zugang liegt“). Diese Information ist wichtig für den weiteren Handlungsablauf und die Einsatzstrategie. Hätte z. B. im geschilderten Fall der Hubschrauber wegen schlechten Wetters nicht fliegen können, hätte dies für die Planung Auswirkungen gehabt. Florian hätte dies dann klar und frühzeitig mitteilen müssen. Kennen sich die Einsatzkräfte persönlich, fällt die personenbezogene Aufgabenverteilung leichter. Schon das Ansprechen mit dem Namen, macht die Auftragserteilung einfacher und klarer. Arbeitet man mit Helfern zusammen, die sich nicht kennen, so ist dies schwieriger und die klare Zuteilung noch wichtiger. Teammitglieder, die bisher noch nicht

Literatur

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zusammen gearbeitet haben, führen Tätigkeiten durch, die nicht im Team abgesprochen sind (mentale Modelle). Hier ist es noch entscheidender, dass der Beauftragte den Auftrag bestätigt; geht er vom gleichen aus wie der Auftraggeber oder liegt ein Missverständnis vor. Im vorliegenden Fall lief dies optimal, weil die Beteiligten schnell wussten, was gemeint war. Sie kannten sich aus der alltäglichen Zusammenarbeit. In der Notfallmedizin entstehen Teams oft erst am Einsatzort direkt am Patienten. Dann ist es wichtig, Missverständnisse zu verhindern. Closed loop verhindert diese. Ist die Botschaft des Senders beim Empfänger angekommen? Hat ein Helfer eine wichtige Information („Der venöse Zugang liegt, soll ich Adrenalin geben?“), so sollte er dies klar und deutlich aussprechen („Speak up“). Das Team erfährt, dass man einen Schritt weiter ist, dass weitere Therapiemassnahmen möglich sind. Nicht nur der Teamleader, sondern auch die anderen Helfer wissen, wo man steht. Mit einer solchen Aussage bestätigt man aber nicht nur die erfolgreiche Erledigung eines Auftrags, sondern dieses Teammitglied hat auch mitgedacht. Mit der Frage nach der Adrenalingabe unterstützt es die Führung in deren Überlegungen. Da wir im Stress überfordert sind und deshalb schnell etwas vergessen oder übersehen, können solche Hinweise hilfreich sein. Den Vorschlag zur Intubation hat Corinna zunächst abgelehnt. Sie hat den Hinweis auf seine aktuelle Relevanz überprüft und sich für eine Priorisierung der Basisreanimationsmassnahmen entschieden („decision making“). Da die Aufgaben verteilt waren, Corinna nicht mehrere Dinge gleichzeitig tun musste, hatte sie eine bessere mentale Leistung; sie konnte klar denken. Und auch in einer Art closed loop teilt sie ihre Überlegungen dem Team mit. Ihre Kollegen werden auf die Wichtigkeit einer guten Reanimation mit suffizienten Kompressionen hingewiesen. Der geschilderte Fall lief sehr gut und die gute Teamperformance hat sicher zu dem guten Ergebnis bei der Patientin beigetragen. Die Bedingungen waren optimal (professionelle Hilfe war schnell vor Ort, die Beteiligten kannten sich gut). Durch gute Aufgabenverteilung konnten mehrere Massnahmen gleichzeitig stattfinden, die Helfer konnten sich auf ihre jeweiligen Aufgaben konzentrieren. Die Massnahmen waren aber aufeinander abgestimmt, strukturiert und Missverständnisse wurden verhindert. Dies gelang durch gute Kommunikation in Form von „closed loop“ und „Speak up“.

Literatur 1. Bennet M, Kisoon N (2007) Is cardiopulmonary resuscitation warranted in children who suffer cardiac arrest post trauma? Pediatr Emerg Care 23(4):267–272 2. Boullion B, Walter T, Krämer M, Neugebauer E (1994) Posttraumatic cardiac arrest in 224 patients. Cardiopulmonary resuscitation in Cologne 1987–1990. Anästhesist 43(12):786–790 3. Ahmet N, Greenberg R, Johnson V, Davis J (2017) Risk stratification of survival in injured patients with cardiopulmonary resuscitation within the first hour of arrival to trauma centre: retro­spective analysis from the national trauma data bank. Emerg Med J 34(5):282–288 4. Donaubauer B et al (2014) Interdisziplinäres Traumamanagement. Anaesthesist 63:852–864 5. Lockey DJ et al (2013) Traumatic cardiac arrest treatment algorithm. Resuscitation 84:738–742

Aneinander vorbeireden – Medikamentenverwechslung

10

Inhaltsverzeichnis 10.1  Falldarstellung  10.2  Fallnachbesprechung/Fallanalyse  Literatur 

 69  72  73

10.1 Falldarstellung Was geschah … Monika ist Anästhesistin und hat als Notärztin Wochenenddienst auf dem Rettungshelikopter. Seit 2 Jahren macht sie hier Notarztdienst. Es ist nachmittags gegen 15:00 als der Alarm eingeht: „Verbrennungsopfer, Helikopter nachgefordert zum Transport ins Verbrennungszentrum“. Alles läuft routiniert ab bis Monika am Einsatzort in den RTW einsteigt. Hier findet sie ein RTW-Team bestehend aus einem Notfallsanitäter und einem Rettungssanitäter in Ausbildung, die einen männlichen Patienten betreuen. Dieser erlitt beim Anzünden eines Grills eine schwere Verbrennung an Oberkörper, Armen und Gesicht. Er klagt unruhig über starke Schmerzen, die auch nach 200  mcg Fentanyl nicht besser werden; am rechten Auge kann er nichts sehen. Haare, Bart, Lippen sind stark versengt, so dass das Team die Indikation zur frühzeitigen Intubation sieht bei Inhalationstrauma. Monika wird diese gemeinsam mit der RTW-Besatzung durchführen, während der HEMS-Paramedic des RTH mit der Leitstelle einen Platz in einer Verbrennungsklinik sucht. Der HEMS-­Rettungssanitäter verbleibt dazu im RTW. Monika möchte mit Ketamin und Midazolam eine Anästhesie durchführen. Der Notfallsanitäter fragt erstaunt nach, ob sie tatsächlich Ketamin nehmen möchte. Monika wiederum ist auch erstaunt. Was soll die Frage, was redet ihr der Notfallsanitäter (NS) rein, sie weis doch wie sie eine Anästhesie machen soll. „Was spricht Deiner Meinung nach gegen Ketamin?“,

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_10

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10  Aneinander vorbeireden – Medikamentenverwechslung

fragt sie leicht pikiert. „Das ist bei Verbrennungspatienten kontraindiziert“, antwortet der NS. „Das wäre mir völlig neu“, kommt es nicht ganz emotionslos von Monika zurück. „Und als Relaxans hätte ich gerne Rocuronium“. Das hätten sie nicht, sagt der Sanitäter. „Dann nehmen wir eben Ephedrin!“ Monika beobachtet teilweise, wie die Medikamente vom NS aufgezogen werden, während sie dem Patienten das Vorgehen erklärt. Dabei fällt ihr auf, dass das Relaxans 10 ml sind. Sie kennt Rocuronium, also Esmeron, nur als 5 ml Ampullen.

Intubation beim Inhalationstrauma

Bei der Beurteilung eines schwer verbrannten Patienten steht die Beurteilung des Atemwegs im Vordergrund. Gemäss dem bekannten A/B/C-Schema ist ein offener Atemweg für den weiteren Verlauf entscheidend. Beim Inhalationstrauma kommt es häufig zu einer Störung im Bereich Atemweg und Respiration. Während sich hohe Temperaturen auf die supraglottischen Bereiche auswirken, werden tiefere Atemwege und Lungengewebe vorallem durch chemische Schädigungen betroffen. Typischerweise werden folgende Zeichen als Hinweis für ein Inhalationstrauma aufgeführt [1]: –– –– –– ––

Verbrennungen im Gesicht (mit Versengung Augenbrauen, Naseneingang etc.) Heiserkeit oder Stridor Abhusten von russigem Sekret Dyspnoe und schlechte Oxygenierung

Von Verbrennungszentren wird andererseits berichtet, dass die Diagnose relevantes Inhalationstrauma zu häufig und eine Intubation zu grosszügig durchgeführt wird [2]. Vorallem Versengungen von Gesichtshaaren und russiges Sputum allein gelten als unsicherer Hinweis auf ein Inhalationstrauma. Das Inhalationstrauma wirkt sich generell ungünstig auf die Prognose des Verbrennungspatienten aus, beim schweren Inhalationstrauma steigt die Mortalität deutlich an. Für die Akutphase ist bedeutend, dass es zu einer Anschwellung der Atemwege kommen kann. Dies kann schnell soweit gehen, dass eine Intubation schwierig oder gar unmöglich ist. Aus diesen Überlegungen wird eine frühe endo­ tracheale Intubation empfohlen [1]. Andererseits zeigen Studien, dass viele Patienten schnell wieder extubiert werden konnten, die Indikation zur invasiven Atemwegssicherung also zu grosszügig gestellt wurde [3, 2]. Zusammenfassend kann man sagen: Die Vorhersage, ob der jeweilige Patient eine Atemwegssicherung durch endo­ tracheale Intubation benötigt, ist schwierig; eine genaue Verlaufsbeurteilung der Atemwege ist entscheidend. Neben der klinischen Überwachung bezüglich Atemwegsobstruktion ist eine endoskopische Untersuchung der Atemwege entscheidend für das weitere Vorgehen. Die Indikationstellung zur Intubation und deren sichere Durchführung braucht gute Erfahrung mit beiden Punkten [3, 4, 2].

10.1 Falldarstellung

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… so geht es weiter … Monika nimmt die Position am Kopf des Patienten ein, um mit der Präoxygenierung zu beginnen. Sie verteilt die Rollen im Team, wozu sie immer vor Anästhesieinduktion ein sogenanntes 10 für 10 macht. Der Rettungssanitäter i.  A. soll die Medikamente geben, weil er in der Nähe des venösen Zugangs steht, der Notfallsanitäter wird beim Atemwegsmanagement assistieren, also Absaugpumpe und Intubationsmittel anreichen. Der HEMS hat sein Telefonat beendet und hält sich zur Reserve im Hintergrund. Monika wiederholt nochmals, damit alle wissen wie der Plan ist: „Wir geben zuerst 3 mg Midazolam, das sind 3 ml, dann 10 ml Ketamin, das sind 100 mg und direkt danach vom Esmeron 5 ml, das ist also die halbe Spritze, die Du in der Hand hälst.“ Midazolam und Ketamin werden gespritzt, Monika führt eine assistierte Beatmung zur Präoxygenierung durch. „So und jetzt das Esmeron!“. Auch dieses wird dem Patienten vom Auszubildenden injiziert, da meldet sich der Notfallsanitäter zu Wort: „Ich habe kein Esmeron aufgezogen, ich habe Ephedrin aufgezogen!“ Einen kurzen Moment schauen sich die Teammitglieder erstaunt an, dann reagiert Monika möglichst ruhig und gelassen: „Dann zieh jetzt bitte Esmeron auf und gib es dem Patienten so schnell wie möglich“. Die Maskenbeatmung gelingt ihr ohne Pro­ bleme und die Sauerstoffsättigung bleibt konstant über 95 %. Schliesslich wird das Muskelrelaxans injiziert, die endotracheale Intubation gelingt und der Patient kann pro­blemlos beatmet werden. Der Blutdruck beträgt jetzt 210/115 mmHg!

Medikamente beim Verbrennungspatient

Nach schweren Verbrennungen kommt es im Verlauf zu verschiedenen Veränderungen im Körper, welche sich auf die Wirkung von Medikamenten auswirkt. Während das Herzzeitvolumen (HZV) in der Frühphase vermindert ist, kommt es mit Einsetzen der sogenannten inflammatorischen Phase zu einer deutlichen Steigerung des HZV.  So werden in dieser zweiten Phase Medikamente vermehrt eliminiert. Zur schneller nachlassenden Wirkung der Medikamente kommt eine zunehmende Toleranz z. B. auf Sedativa und Analgetika, so dass diese für weitere Anwendungen höher dosiert werden müssen [4]. Auf der Muskelmembran kommt es zu Veränderungen der Acethylcholin-­ Rezeptoren, die Wirkungsort für Muskelrelaxantien sind. Dies führt bei einer Anwendung vom depolarisierenden Succinylcholin zu einer lebensbedrohlichen Kaliumfreisetzung und einer verminderten Wirkung vom depolarisierenden Rocuronium. Diese Veränderungen treten aber wie gesagt erst verzögert auf, so dass Succinylcholin nach 24–48 Stunden als kontraindiziert gilt [4]. Für die Frühphase, also der präklinischen Versorgung am Unfallort, haben diese Prozesse noch keine Bedeutung. Die Anwendung von Ketamin ist beim Verbrennungspatienten sehr üblich und wird von vielen Autoren empfohlen. Es bewirkt eine zufriedenstellende Analgesie und die Spontanatmung bleibt meist auch bei höherer Dosierung erhalten. Es sollte zur Vermeidung von Alpträumen immer mit einem Benzodiazepin kombiniert werden.

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10  Aneinander vorbeireden – Medikamentenverwechslung

… so geht es weiter … Monika vermeidet eine Diskussion über das Stattgefundene in der aktuellen Situation. Sie spürt die Unstimmigkeit zwischen ihr und dem Notfallsanitäter, hält aber ein konzen­ triertes Arbeiten für wichtiger als jetzt noch zu klären, wer denn nun Recht habe. Auch von Seiten des NS kommen keine weiteren Kommentare und der Transport des Patienten ins Verbrennungszentrum geht ohne weitere Zwischenfälle vonstatten. … das Ende des Falles Nach dem Einsatz spricht Monika den HEMS-Paramedic auf die Medikamentenverwechslung an. Wie denn der Notfallsanitäter auf die Idee käme, Ihr bei der Auswahl der Anästhetika reinzureden und dann aber eine so fundamentale Medikamentenverwechslung zu machen. Der HEMS daraufhin: „Ich habe mit einem Ohr mitgehört, dass Du Ephedrin wolltest. Habe mich gewundert, wollte Euch aber nicht reinreden. Denn es heisst ja immer wieder, wir sollen uns um unsere Arbeit kümmern und den Notarzt mit dem Team vor Ort zusammenarbeiten lassen.“ „Habe ich denn wirklich Ephedrin statt Esmeron gesagt?“ fragt Monika. Sie kann das fast nicht glauben. Wenn das wirklich so ist, dann wäre Monika sehr froh gewesen, Ihr Rettungsdienstkollege hätte das in der Situation sofort zur Sprache gebracht. War das die Sache mit der Closed-loop-Konversation? Ausserdem würde sie sich in Zukunft wieder die Ampullen der aufgezogenen Medikamente zeigen lassen.

10.2 Fallnachbesprechung/Fallanalyse Im vorliegenden Fall sind gleich mehrere Sachen schief gelaufen: –– Durch innere Ablehnung zwischen Notärztin und Notfallsanitäter kam es gleich zu Beginn des Prozesses zu einer Störung der Zusammenarbeit. –– Ein verbales Missverständnis bleibt unbemerkt, da die Verordnung vom Ausführenden nicht wiederholt wird. –– Eine Beobachtung von der Notärztin (auffällige Ampullengrösse) wird gedanklich nicht weiter verfolgt. –– Die Wahrnehmung eines Missverständnisses durch den HEMS-Paramedic wird nicht aktiv angesprochen. –– Beim 10 für 10-Time-out beteiligt sich der Notfallsanitäter nicht aktiv. Er hat sich vielleicht wegen der anfänglichen Unstimmigkeit vom Geschehen distanziert. Wäre nur ein einziger Punkt im Prozess korrigiert worden, so hätte die Medikamentenverwechslung wahrscheinlich nicht stattgefunden. Meist sind es Kombinationen von Störfaktoren, die zum Zwischenfall führen („Schweizer-Käse-Prinzip“).

Literatur

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10 für 10 als Time-out Wird eine Situation komplex oder unübersichtlich lohnt sich eine ruhige gemeinsame Beurteilung der Situation. Schon das kurze Innehalten alleine sorgt meist dafür, dass man wieder klarer denken kann. Das streng fokusierte Betrachten von Einzelheiten („Tunnelblick“) weicht einem distanzierten Überblick aus einer „Giraffenperspektive“. Dieses Innehalten und laut artikulierte Abarbeiten von Punkten führt dazu, dass alle Teammitglieder wieder einen gemeinsamen Plan von der Arbeitsstrategie bekommen. Es gibt auch jedem Teammitglied die Möglichkeit, eigene Beobachtungen und Vorschläge einzubringen; Unklarheiten über das weitere Vorgehen können mit dem Teamleader ausgeräumt werden. So hätte im vorliegenden Fall in diesem Moment auffallen müssen, dass das falsche Medikament aufgezogen worden ist. Die Person, welche das Medikament anfordert, die zweite Person, die das Medikament bereit macht und die dritte Person, welche das Medikament verabreicht: Reden alle drei vom Gleichen? Das Time-out dient also einerseits der Zusammenfassung und Beurteilung des Vergangenen, andererseits aber auch der Planung des Kommenden. So kann im ersten Fall bewusst gemacht werden, was manchem Teammitglied, insbesondere dem Teamleader vielleicht entgangen ist. Im zweiten Fall werden zukünftige Fehler vermieden, die z. B. durch Missverständnisse zustande kommen würden. Insgesamt führt dieses gemeinsame Besprechen der Situation dazu, dass alle Teammitglieder wieder von der gleichen Situation ausgehen und ein gemeinsames Ziel verfolgen (mentales Modell) Immer wenn ein Teammitglied den Eindruck hat, dass Unklarheit bzgl. des weiteren Vorgehens besteht, soll dieser Mitarbeiter ein Time-out auslösen. Auch wenn sich eine Situation akut und unerwartet ändert, hilft diese Massnahme um den Behandlungsplan festzulegen. Zum Beispiel, beim Vorgang der Anästhesieeinleitung kann ein Time-out für die Festlegung der Rollen im Team genützt werden. Diese Unterbrechung kostet nur sehr wenig Zeit, hat aber bedeutende positive Auswirkungen auf den Fortgang des Einsatzes.

Literatur 1. Sheridan R (2016) Fire-related inhalation injury. N Engl J Med 375:464–469 2. Oscier C (2014) New perspectives on airway management in acutely burned patients. Anaesthesia 69:105–110 3. Endorf F, Ahrenholz D (2011) Burn management. Curr Opin Crit Care 17:601–605 4. Bittner E, Shank E, Woodson L, Matyn J (2015) Acute and perioperative care of the burn-injured patient. Anesthesiology 122:448–464

Schwer krankes Neugeborenes – Die Sache mit der Selbsteinschätzung

11

Inhaltsverzeichnis 11.1  Falldarstellung  11.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Literatur 

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11.1 Falldarstellung Was geschah … An jenem Zentrumsspital war der Notfalldienst für schwer kranke Neugeborene und Säuglinge so organisiert, dass ein erfahrener Arzt und eine Pflegefachperson der Kinderintensivstation zusammen ausrückten. Dieses Team wurde entweder mit einem Rettungswagen oder dem Helikopter zum Patienten ins periphere Spital gebracht. Dort wurde das Kind beurteilt, erhielt eine erste Versorgung und wurde dann auf die Kinderintensivstation gebracht. Heute hatten Felix als Kinderarzt und Marion als Kinderintensivpflegekraft Dienst. Am Abend wurden sie zu einem kranken Neugeborenen gerufen. Dieses war in einem Spital der Grundversorgung am selben Tag geboren worden und hatte sich wohl innerhalb von wenigen Stunden zunehmend respiratorisch verschlechtert, so dass nun eine Verlegung ins Zentrum erforderlich wurde. Felix verbrachte schon einige Monate auf der pädiatrischen Intensivstation, nachdem er seine Facharztausbildung als Anästhesist abgeschlossen hatte; Marion war bereits seit vielen Jahren auf dieser Station tätig. Die beiden waren also ein erfahrenes Team und hatten innerklinisch bereits unzählige Neugeborene versorgt. Der Transport erfolgte mit dem Helikopter, da die Distanz 80 Kilometer betrug. Im Zielort angekommen, präsentierte sich ihnen folgende Situation: ein termingebo­ renes Neugeborenes lag auf einer Neonatal-Versorgungseinheit unter einer Wärmelampe

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_11

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11  Schwer krankes Neugeborenes – Die Sache mit der Selbsteinschätzung

und erhielt über einer Trichter Sauerstoff. Am angeschlossenen Monitor waren eine Herzfrequenz von 160/min und eine Sauerstoffsättigung von 90  % zu erkennen. Das Kind wirkte eher adynam, atmete sehr schnell und angestrengt. Marion zählte eine Atemfrequenz von ca. 60/min, während Felix leichte inspiratorische Einziehungen interkostal feststellte. Nach dieser ersten Beurteilung besprach Felix die Situation mit dem anwesenden Gynäkologen. Das Kind war nach einer unauffälligen Schwangerschaft vaginal entbunden worden und zeigte anfangs eine unauffällige Adaption mit normalen APGAR-Werten. Dann sei innerhalb weniger Stunden die Dyspnoe mit erhöhter Atemfrequenz und abfallenden Sättigungswerten entstanden. Felix schilderte dem Kollegen, dass es sich offensichtlich um ein Atemnotsyndrom des Neugeborenen handele. Dies sei für sie als Kinder­ intensivmediziner ein sehr häufiges Problem; Felix versorge täglich solche Patienten. Nun schlage er folgendes Vorgehen vor: das Kind benötige dringend eine Atemunterstützung. Dabei ginge es weniger um den Sauerstoff, sondern mehr um eine intrapulmonale Druckerhöhung, um die Alveolarfläche wieder zu vergrössern. Man könne dies durch CPAP via Tubus im Hypopharynx erreichen oder es werde eine endotracheale Intubation durchgeführt. Er wolle Letzteres machen. Denn die Verhältnisse im Helikopter seien sehr eng; das Kind im „Brutkasten“ schlecht zugänglich. Ausserdem sei die Kommunikation mit der Assistenzperson beeinträchtigt und die visuelle Patientenbeurteilung in der Nacht ebenfalls. Da wolle er sichere stabile Verhältnisse, was er mit Anästhesie und Intubation für besser gegeben hielt. Das Atemnotsyndrom des Neugeborenen

Ein Atemnotsyndrom von Neugeborenen und Säuglingen kann vielerlei Ursachen haben. Bei der ersten Gruppe finden sich häufig perinatale Störfaktoren (Unreife) und Missbildungen (Herzvitien). Insgesamt verursachen bei allen diesen kleinen Kindern häufig Infektionen eine akute respiratorische Störung. Diese Patientengruppe ist aus verschiedenen anatomischen Ursachen heraus anfällig für eine schnelle Dekompensation. Die Rippen stehen horizontal und deren Bewegung ist deshalb weniger effektiv für eine einzelne Inspiration. Der Thorax ist noch sehr weich und elastisch, so dass sich bei einer angestrengten Inspiration die Thoraxwand nach innen ziehen lässt. Diese Einziehungen (interkostal, subkostal, supraklavikulär) sind ein typisches klinisches Zeichen für das Atemnotsyndrom (respiratory distress). Die nicht ausreichende Erhöhung des Tidalvolumens wird durch eine Erhöhung der Atemfrequenz versucht zu kompensieren. Nun ist aber der Anteil an schnellen Muskelfasern (Typ 1) beim Kleinkind noch sehr gering. Dies führt zu einer schnellen Erschöpfung bei diesen Patienten [3]. Ist erst einmal der Punkt der respiratorischen Erschöpfung erreicht, geht diese Dekompensation sehr schnell. Hypoxie und Hyperkapnie nehmen rasch vital bedrohliche Ausmasse an und sind Hauptursache der Herz-Kreislauf-Stillstände bei

11.1 Falldarstellung

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Kindern [1]. Deshalb muss diese Situation rechtzeitig erkannt und behandelt werden. Wichtiges Therapieziel ist die Eröffnung kollabierter Lungenareale bzw. Alveolen und damit Wiederherstellung einer ausreichenden Austauschfläche. Dies wird durch intrapulmonale Druckerhöhung erreicht. Schon die Maskenbeatmung mit PEEP und längeren inspiratorischen Blähmaneuvern kann eine schnelle Besserung bewirken. Für die längere Anwendung kommen dann Beatmungsformen mit kontinuierlichem positiven Druck zum Einsatz (CPAP nasal oder via nasopharyngeal Tubus, High-Flow-Insufflation nasal). Mit diesen wenig invasiven Massnahmen kann eine endotracheale Intubation meist vermieden und die Spontanatmung erhalten werden; therapiebedingte Morbiditäten sind geringer.

… so geht es weiter … Klar hätte Felix auch die Sache mit dem CPAP versuchen können, Marion hatte ihn noch kurz darauf angesprochen. Aber er als Anästhesist auf der Kinderintensivstation hatte nun wahrlich schon genügend Kinder intubiert. Da hatte er Routine und es machte ihm immer wieder Spass, solche Herausforderungen anzunehmen. Also wurde das Nötige vorbereitet. Die Anlage des venösen Zugangs gelang am Fuss auf Anhieb, da konnte Felix schon mal seine Kompetenz gegenüber dem Gynäkologen unter Beweis stellen. Dann wurden das Intubationsmaterial mit einem 3,0 ID Tubus und die Medikamente vorbereitet. Felix wollte die Anästhesie mit Midazolam und Ketamin durchführen. Letzteres wählte er, weil er eine beginnende Sepsis in Betracht zog und eine Kreislaufdekompensation befürchtete. Als Relaxans wählte er Succinylcholin, denn das Kind sollte möglichst bald wieder spontan atmen können. Nach einem kurzen Check gab Marion die Medikamente, während Felix mit Maske und Beutel die Präoxygenierung durchführte. Das gelang alles wie gewohnt. Die Sauerstoffsättigung stieg sogar auf Werte über 95 % an. Na also, da fühlte sich Felix auf bekanntem sicheren Terrain. Er liess sich von Marion das Laryngoskop geben und führte dieses ein. Die Intubationsanatomie war nicht ganz einfach, eine direkte Sicht auf die Glottis nicht vollständig möglich. Aber Felix gelang die „blinde“ Intubation hinter der Epiglottis vorbei. Bei der anschliessenden Beatmung stellten sie gute Thoraxbewegungen und ein seitengleiches Atemgeräusch fest. Na also, da war doch das, was Felix erreichen wollte! Durch die kontrollierte Beatmung blieb die Sauerstoffsättigung über 95 %. „Nun wechseln wir noch auf eine nasale Intubation. Primär habe ich peroral intubiert, weil das Kind wenig respiratorische Reserven hat. Für den Transport ist aber ein nasaler Tubus zu bevorzugen, weil der weniger anfälliger ist für Lageveränderungen“, erklärte Felix selbstbewusst dem anwesenden Team. Marion hatte den zweiten Tubus schon vorbereitet. Sie führte nun die Beatmung durch, damit Felix die zweite Laryngoskopie durchführen konnte. Wieder zeigten sich nicht optimale Intubationsverhältnisse, der Larynxeingang war aber klar definiert durch den bereits liegenden Tubus, meinte Felix. Also führte er den nasalen Tubus bis in den Hypopharynx ein. Der endotracheal liegende Tubus wurde entfernt und nun sah Felix

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11  Schwer krankes Neugeborenes – Die Sache mit der Selbsteinschätzung

wieder nur die Epiglottis. Jetzt war er nicht mehr so locker. Denn das blinde Einführen des Tubus gelang dieses Mal nicht. Felix traf intralaryngeal auf einen Widerstand. Also wurde der Intubationsvorgang abgebrochen und wieder eine Maskenbeatmung durchgeführt. Auch das ging jetzt nicht mehr so gut. Die Beatmungsdrücke waren deutlich höher, bei jeder Inspiration ging Luft in den Magen. „Ich glaube, das Kind bewegt sich,“ meinte Marion. Das Succinylcholin wirkte anscheinend nicht mehr. Felix vermutete einen Laryngospasmus bei wacher werdendem Kind. Da war es kein Wunder, dass auch die Sauerstoffsättigung unter 95 % abfiel. Nun war Felix endgültig angespannt, denn wenn er die Situation nicht in den Griff bekam, würde für das Neugeborene unmittelbare Lebensgefahr entstehen. Hektisch versuchte Felix irgendwie Luft in die Lunge des Patienten zu bekommen. Aber stattdessen blähte sich der Magen immer mehr auf. Die Sättigung lag nun bei 85 %.

Larngospasmus beim Kind

Der Laryngospasmus ist eine gefährliche Komplikation in der Kinderanästhesie und zählt hier zu den Hauptrisiken für einen anästhesiebedingten Herz-Kreislauf-­ Stillstand [1]. Es kommt zu einem Verschluss im Larynxeingang, welcher sich primär durch Husten und inspiratorischen Stridor ankündigt. Im weiteren Verlauf steigen die Beatmungsdrücke an bis schliesslich eine Maskenbeatmung massiv erschwert oder gar unmöglich wird. Als Auslöser sind Risikofaktoren wie junges Alter des Kindes, respiratorische Infekte, die Unerfahrenheit des Anästhesisten und mehrfache Manipulationen am Larynxeingang bekannt [1, 2]. Neben den mehrfachen Manipulationen an den Atemwegen macht sich die Unerfahrenheit auch an der Dosierung der Anästhesie bemerkbar. Der Laryngospasmus tritt typischerweise auf, wenn das Kind nicht ausreichend tief anästhesiert ist und deshalb zuwenig gegenüber den manipulativen Reizen abgeschirmt ist [1]. Der erfahrene Anästhesist sollte die Frühsymptome wie Husten und inspiratorischer Stridor richtig deuten und rechtzeitig die Anästhesie vertiefen. Eine Maskenbeatmung sollte nicht mit hohen inspiratorischen Drücken erzwungen werden, weil dadurch vorallem zunehmend Luft in den Magen gelangt, so dass hier eine zunehmende Einschränkung der Zwerchfellbeweglichkeit provoziert wird. Dies führt zu einer zusätzlichen Verschlechterung der Beatmungssituation. Stattdessen wird durch Anheben des Unterkiefers (Esmarchgriff) eine Öffnung der oberen Atemwege versucht und über die dicht sitzende Maske ein kontinuierlicher positiver Druck appliziert [3]. Mit diesen einfachen Massnahmen, die aber praktische Erfahrung voraussetzen, können die meisten Laryngospasmen überwunden werden. Gelingt dies nicht und sinkt die Sauerstoffsättigung unter bedrohliche Werte, so ist eine Muskelrelaxierung hilfreich. Hierzu sind nur sehr geringe Dosen (Succinylcholin 0,25– 0,5 mg/kg) erforderlich [4].

11.1 Falldarstellung

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Tritt bei kleinen Kindern im Rahmen einer Anästhesieeinleitung unerwartet ein schwieriger Atemweg auf, so ist die Rückkehr zur Spontanatmung („wachwerden lassen“) keine Option. Die kleinen Patienten haben eine sehr geringe Hypoxietoleranz, so dass die Zeit bis zum Abklingen der Anästhesiewirkung länger dauert als das Absinken der Sauerstoffsättigung [1, 4]. Im Gegensatz zum Algorithmus beim Erwachsenen wird also bei einer schwierigen oder gar unmöglichen Maskenventilation der „Weg nach vorne“ weiter verfolgt und der Patient relaxiert. Succinylcholin ist mittlerweile ein nur noch selten eingesetztes Muskelrelaxans und gerade aus der Kinderanästhesie fast vollständig verschwunden [3, 4]. Grund sind schwerwiegende Komplikationen wie Muskelstörungen, Hyperkaliämien und konsekutive Herzkreislaufstörungen. Der grosse Vorteil des „Succi“ liegt aber immer noch in der sehr schnellen Anschlagszeit. Seine Wirkung setzt innerhalb weniger als einer Minute ein, besonders schnell am Larynx [4]. Dies erklärt, dass es nach wie vor bei einem vital bedrohlichen Laryngospasmus zum Einsatz kommt. Eine Wiederholungsdosis von Succinylcholin sollte nicht gegeben werden, weil dann langdauernde Relaxierungen (Phase 2 Block) und schwere Bradykardien auftreten können [4]. In der Hand des Erfahrenen ist Rocuronium eine wichtige Alternative zu „Succi“ auch in kritischen Situationen wie dem schwierigen Atemweg.

… so geht es weiter … „Ich kann keine Wiederholungsdosis von Succi geben, wegen der Nebenwirkungen!“ teilte Felix Marion mit. „Aber wir müssen dringend den Laryngospasmus beseitigen. Mach bitte Rocuronium bereit und gib 1 mg so schnell wie möglich.“ Das ging zum Glück schnell; Marion war sich der gefährlichen Lage bewusst. Eine lange Minute lang lies der Wirkungseintritt des Rocuroniums noch auf sich warten, dann endlich wurde die Maskenbeatmung besser. Felix konnte dadurch wieder Sättigungswerte über 95 % erreichen. Hörbar atmete er tief durch. Aber eine endotracheale Intubation war trotzdem noch erforderlich, da kam Felix nun nicht daran vorbei. Es wurde noch etwas Ketamin gegeben und Felix führte eine erneute Laryngoskopie durch. Zu seinem erfreuten Erstaunen konnte er nun den Larynxeingang durch Sichtbarkeit der Aryknorpel besser erkennen. Den nasal eingeführten Tubus konnte er mit der Magillzange an die richtige Stelle dirigieren und die endotracheale Intubation gelang, was auch Thoraxbewegungen und Auskultation bei der Beatmung bestätigten. Die Entspannung im gesamten Team war mit Händen zu greifen. … das Ende des Falles Felix und Marion machten sich zum Transport bereit. Die Frage der Helikoptercrew, warum sie dieses Mal länger gehabt hätten, wurde von Felix und Marion mit knapper Antwort abgetan. Da hatten sie ein einigermassen stabiles Kind angetroffen und beinahe wäre es durch ihre Massnahmen zu Schaden gekommen. Felix erkannte, dass man auch in der Routine nicht vor schwerwiegenden Überraschungen sicher ist.

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11  Schwer krankes Neugeborenes – Die Sache mit der Selbsteinschätzung

11.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Die Überlegungen von Felix zur Patientenversorgung vor Transport waren sicher gut überlegt und hatten eine logische Grundlage. Dann aber ist im Verlauf doch eine kritische Situation entstanden. Was war da passiert? Sich selbst schätzte Felix als sehr erfahren ein. Die Situation löste keinen allzu grossen Stress bei ihm aus, da er solche Fälle täglich betreute und wusste, was er zu tun hatte. Wahrscheinlich hat er deshalb einige Punkte nicht weiter hinterfragt. Es war für ihn schon alles klar. Vielleicht hat dies auch dazu geführt, dass er sich nicht so konzentrierte, wie es erforderlich gewesen wäre. Junge unerfahrene Helfer fühlen sich zunächst unsicher in ihrer neuen Tätigkeit. Dies zu Recht, denn viele Situationen und Tätigkeiten sind für sie unbekannt. Vieles ist nur aus der Theorie bekannt und wird nun zum ersten Mal real erlebt. Dazu kommt oft, dass Berufsanfänger in einer Notfallsituation auf sich alleine gestellt sind, da sie ja unerwartet eintritt und erfahrene Unterstützung erst verzögert eintrifft. Diese Unsicherheit hat also ihre Berechtigung. Haben sie dann ihre ersten Erfahrungen gesammelt, sind immer mehr Situationen bekannt und man traut sich zu, damit umzugehen. Der Mitarbeiter hat nun einige Male erlebt, dass er eine Krise bewältigen kann, er hat die Bestätigung für seine Kompetenz ­erhalten. Dies führt folglich zu einer Stärkung des Selbstvertrauens. Diese Selbsteinschätzung hat ihre Berechtigung und sie reduziert den Stress in Notfallsituationen. Erfahrung und Sicherheit führen dazu, dass Einschätzungen und Entscheidungen ohne grosses Nachdenken korrekt und schnell durchgeführt werden können. Diese Selbsteinschätzung kann aber auch zu weit gehen. Weil vermeintlich alles klar und bekannt ist, weil alles immer so schön geklappt hat in der Vergangenheit, wird das jetzt immer so sein, meint man. Die Person fühlt sich nun in der Phase angekommen, wo endlich diese ständige Unsicherheit oder Angst vor Überforderung überwunden sind. Zum Problem wird dies deshalb, weil dann die aktuelle Situation nicht mehr ausreichend hinterfragt wird. Es kommt zu Unterlassensfehler, weil Dinge übersehen oder vergessen werden. Je nach Persönlichkeit schätzt sich mancher auch früher als „erfahren“ ein, als dies tatsächlich der Fall ist. Felix hatte anfangs bei seiner Tätigkeit auf der Kinderintensivstation grossen Respekt vor der Versorgung dieser sehr kleinen Patienten. Durch einige Fälle, die er dann erlebt hatte, und eine sehr gute Betreuung durch die Oberärzte, erlangte er dann zunehmend Sicherheit. Diese Tätigkeiten waren ja offensichtlich erlernbar. Dies führte bei ihm zu einer Stärkung des Selbstvertrauens, da er ja regelmässig seine zunehmende Erfahrenheit erleben konnte. Was sollte ihm da noch passieren? In dem geschilderten Fall wurde diese Haltung wahrscheinlich verstärkt dadurch, dass er in der Teamkonstellation der Routinierteste war, was die Betreuung von Neugeborenen betraf. Ihm wurde diese Rolle von den anderen Teammitgliedern unbewusst zugeteilt und

Literatur

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er sah sich auch selbst darin. So wurde von ihm manches nicht mehr gründlich genug hinterfragt und überlegt. Seine Konzentration war nicht ausreichend. Schliesslich aber hat Felix die Situation bewältigt. Er hat aus den Schwierigkeiten die richtigen Konsequenzen gezogen. Hier zeigt sich dann tatsächlich seine Erfahrenheit. Weil er solche Ereignisse bereits einige Male erlebt hat, weis er, was zu tun ist. Und dies macht dann die Fachkompetenz aus. Einem unerfahrenen Kollegen wäre der Fall wahrscheinlich dann endgültig entglitten und Fehlhandlungen hätten zu einer vitalen Bedrohung des Patienten geführt. Werden in der Phase der Selbstüberschätzung mehrfach Krisen erlebt, so werden damit auch profunde Erfahrungen gesammelt. Die Person lernt nun auch mit unerwarteten Vorkommnissen umzugehen. Während der Unerfahrene dann überfordert ist, weil er mit noch mehr Unbekanntem konfrontiert wird, greift der erfahrene Mitarbeiter auf seine Lehren aus Krisensituationen zurück. Bei den Personen selbst löst es Verunsicherung aus, wenn Dinge nicht funktionieren, wenn die subjektive Sicherheit infrage gestellt wird. Sie selbst nehmen zunächst nicht wahr, dass nun Wichtiges dazugelernt wird. Wenn auch Felix durch seine Selbstsicherheit eine kritische Situation provoziert hat, weil er zu wenig achtsam war, so lernt er aber auch in diesen Situationen dazu. Der Übergang der unberechtigten Sicherheitsphase in die der profunden Kompetenz ist also fliessend und wird subjektiv unterschiedlich erlebt. Rückmeldungen aus dem Team, Fallbesprechungen und Debriefing können hier wichtige Hilfestellung geben. So wird die Selbsteinschätzung reflektiert. Hat eine Krise wie im dargestellten Fall stattgefunden, so kann man im Team besprechen, wie damit umgegangen wurde. Oder auch wie es zur Krise überhaupt kam und wie dies hätte vermieden werden können.

Literatur 1. Becke K (2014) Komplikationen in der Kinderanästhesie. Anästhesist 63(7):548–554 2. Benz R (2011) Atemwegskomplikationen in der Kinderanästhesie. Anästhesist 60(3):267–268 3. Höhne C (2006) Atemwegsmanagement in der Kinderanästhesie. Anästhesist 55(7):809–820 4. Sparr HJ (2002) Succinylcholin-Update. Anästhesist 51(7):565–575

Nicht so recht Bescheid wissen – Gerätekenntnis

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Inhaltsverzeichnis 12.1  Falldarstellung  Literatur 

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12.1 Falldarstellung Was geschah … In den frühen Morgenstunden wird Notärztin Angelika vom Alarmmelder aus dem Schlaf gerissen. Die Meldung lautet „Atemnot“, der Einsatzort ist im Bereich eines benachbarten Rettungsdienstes. Also rein in die Kleider und wenige Minuten später ist sie unterwegs. Die Fahrt mit dem NEF wird wohl 20 Minuten dauern. Das Mehrfamilienhaus kann nach kurzer Zeit gefunden werden, der RTW steht ja schon da. Die Patientin ist sogar schon dorthin gebracht worden. Die RTW-Besatzung besteht aus 2 Rettungsassistenten, welche Angelika nicht kennt. Die beiden haben den Notarzt nachgefordert, weil die Patientin schwerste Atemnot hat und sie die Indikation zur NIV-Beatmung sehen. Na toll denkt Angelika. Das hat sie noch nie draussen gemacht und das Beatmungsgerät des NEF hat sie auch nicht so oft in den Händen. In der Klinik haben sie nämlich ein anderes. Nun, vielleicht liegt ja gar keine Indikation zur NIV-Ventilation vor oder sie kann der Patientin anders helfen. Eine gewöhnliche konventionelle Intubation wäre für sie weniger ein Prob lem. Die Patientin sitzt schwer atmend auf der Trage. Mit massivem Einsatz der Atemhilfsmuskulatur versucht sie Luft zu bekommen. Mit grossen Augen schaut sie Angelika hilfesuchend an. Am Monitor ist eine Sinustachykardie mit 130/min, ein Blutdruck 155/90 mmHg und eine Sauerstoffsättigung von 88 % zu erkennen. Ein Rettungsassistent hält der Patientin eine Sauerstoffmaske mit Medikamentenvernebler vor das Gesicht; vernebelt wird ein Beta-2-Sympathomimetikum. Das RTW-Team berichtet, dass sie bereits © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_12

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12  Nicht so recht Bescheid wissen – Gerätekenntnis

seit 10 Minuten das Medikament verabreichen, ein dichtes Aufsetzen der Maske sei nicht möglich, weil die agitierte Patientin dies nicht toleriere. Deshalb seien sie auf die Idee gekommen, eine NIV-Beatmung einzuleiten. Indikation NIV-Beatmung

In den vergangenen Jahren hat sich die nicht invasive Beatmung (NIV) zunehmend auch im präklinischen Einsatz verbreitet und erfolgreich gezeigt. So gilt ihr Nutzen bei der COPD und dem kardialen Lungenödem als gesichert [1]. Bei der COPD zeigen Studien eine Senkung der Intubationshäufigkeit und der Letalität. Bei anderen Krankheitsbildern wie z.  B. dem akuten Lungenversagen ist die Studienlage nicht so eindeutig, dennoch wird die NIV auch hier regelmässig eingesetzt. Der positive Druck auf den Atemwegen und intrapulmonal erweitert die kleineren Atemwege, rekrutiert kollabierte Alveolen, verringert die Atemarbeit des Patienten und senkt die kardiale Nachlast. So erklärt sich die Wirkung beim hyperkapnischen Lungenversagen, der respiratorischen muskulären Erschöpfung und dem Verlust an Gasaustauschfläche durch Flüssigkeit und Atelektase. Die NIV ist gegenüber der endotrachealen Intubation durch weniger Nebenwirkungen gekennzeichnet. Dies sind z. B. höherer Bedarf an Sedativa und Relaxantien, nosokomiale Pneumonien, kardiovaskuläre Effekte [2]. Deshalb sollte bei den oben genannten Krankheitsbildern ein Therapieversuch mit NIV stattfinden, um wenn möglich die Intubation zu vermeiden. Der Erfolg der NIV zeigt sich in der Regel schnell an einer Besserung der Oxygenierung und der Dyspnoe mit Absenkung der Atemfrequenz. Weiter sollten sich PaCO2 und pH-Wert verbessern. Es braucht aber vorallem auch eine gute erfahrene Führung und Beurteilung des Patienten durch das Personal, damit ein Fehlschlagen des Verfahrens rechtzeitig erkannt wird. Gründe für den Abbruch der NIV sind: Tabelle Abbruch NIV Kriterien für einen frühen Abbruch der NIV [3]

Weiter SaO2 < 85 % Ansteigen CO2 Schlechte Kooperation des Patienten Zunehmende Bewusstseinsstörung Schwere Übelkeit mit Erbrechen (Aspiration)

… so geht es weiter … Angelika nimmt noch eine Untersuchung der Patientin vor und hört über dem Thorax fast kein Atemgeräusch. „silent lung“ kommt ihr aus der Ausbildung in den Sinn. Klinisch fällt aber ein stark verlängertes Exspirium auf, die Patientin nützt eine „Lippenbremse“. Angelika erklärt nun der Patientin, dass eine NIV-Beatmung ihr eine Erleichterung bringen würde. Sie würden dies gemeinsam schrittweise anwenden, wichtig sei eine Mitarbeit durch die Patientin. Dann wendet sich Angelika dem Beatmungsgerät zu. Schon beim Aufstarten ist sie sich nicht ganz sicher, aber sie findet schnell das Startmenü mit den möglichen Beatmungsmodi.

12.1 Falldarstellung

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Angelika wählt NIV aus. Nichts passiert; dabei ging Angelika davon aus, dass die Beatmung durch das Gerät begonnen wird nach Auswahl des Modus. Einen speziellen Knopf dafür findet sie nicht. Sie spürt die erwartungsvollen Blicke der RTW-Besatzung, was sie nicht ruhiger arbeiten lässt. Stattdessen ist sie immer mehr gestresst und sucht verzweifelt weiter am Gerät. Schliesslich erscheint es ihr notwendig, zum NIV auch den Modus ASB zu aktivieren. Und tatsächlich, jetzt startet das Gerät mit einer Beatmung. Angelika nimmt die Maske zur Hand und erklärt der Patientin das Vorgehen. Manuell setzt sie ihr die Maske auf, dicht sitzend, damit der positive Druck auch tatsächlich zur Wirkung kommt. Schnell wehrt sich die Patientin gegen die Massnahme. Angelika erklärt nochmals, dass es eine Zeit brauche, bis der Effekt der Therapie spürbar werde. Sie unternimmt einen neuen Versuch. Dieses Mal kann die Maske länger belassen werden. Zwar atmet die Patient nicht leichter, aber sie toleriert das Verfahren, so dass die Maske nun mit den Gummibändern fixiert wird. Das Team ist sich nun einig, dass der Transport zum Spital begonnen werden soll. Schliesslich sind es 30 Minuten Fahrzeit zur Klinik mit Intensivstation. Doch bereits auf halber Strecke verschlechtert sich die Situation wieder. Die Koordination von Patienteneigenatmung und Beatmung durch das Gerät ist schlecht. Viele Inspirationen finden statt, oft ohne Zusammenhang mit den Bemühungen der Patientin. So kann es nicht weiter gehen, findet Angelika. Die Patientin wirkt zunehmend adynam und teilnahmslos. Der Wert des endexspiratorischen CO2 steigt immer weiter an und liegt jetzt bei 10 kPa! Die Fahrt wird gestoppt mit der Idee, jetzt eine Intubation durchzuführen. Diese wird vorbereitet mit Ketamin, Midazolam und Rocuronium. Der Tubus kann problemlos endotracheal plaziert werden. Der endexspiratorische CO2-Nachweis zeigt einen Wert von 11,5 kPa. Die Ventilation ist möglich, wenn auch mit sehr hohen Beatmungsdrücken. Das erscheint dem Team nicht verwunderlich. Man ist sich aber einig, dass man schnellst möglich die Klinik erreichen will, um kompetente Hilfe zu haben. Auf der Fahrt dorthin wird eine weitere Vertiefung der Anästhesie durchgeführt, eine Ventilation ist manuell mit hohen Drücken und sehr langem Exspirium möglich, so dass das CO2 schliesslich sogar bis auf 8,2 kPa abgesenkt werden kann. Handhabung NIV-Beatmung

Voraussetzung für das Gelingen der NIV ist eine gute Patientenführung durch erfahrenes Personal. Die oft stark agitierten Patienten tolerieren gerade in der Anfangsphase die Anwendung schlecht und es braucht hier ein konsequentes Fortführen mit passender Einstellung. Das exspiratorische Druckniveau (PEEP) sollte 5 mbar nicht überschreiten. Eine inspiratorische Druckunterstützung ist notwendig, gestartet wird mit etwa 10 mbar. Im Verlauf wird dann das inspiratorische Druckniveau gesteigert bis optimale Atemfrequenz und Patientenkomfort sich einstellen. Bei schwerer COPD sind oft deutlich höhere inspiratorische Drücke notwendig, damit die alveoläre Hypoventilation überwunden wird [2]. Damit der Patient von Beginn an das Gefühl hat, genügend Luft zu bekommen, ist eine grosse Steilheit des Flussprofils notwendig. Mit Einsetzen der Patienteninspiration muss sofort genügend Fluss stattfinden.

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12  Nicht so recht Bescheid wissen – Gerätekenntnis

Dazu gehört auch die adäquate Einstellung des Inspirationstriggers. Dieser muss so empfindlich wie möglich eingestellt werden, ohne dass es zu einer Selbsttriggerung kommt [4]. Günstig sind Flowtrigger, weil diese die geringste Zeitverzögerung aufweisen. Typischerweise wird ein Trigger von 1–4 l/min eingestellt. Ist der Trigger zu sensibel eingestellt, kommt es zur Selbsttriggerung; schon geringe Bewegungen des Patienten oder Erschütterungen können Inspirationen auslösen. Dies führt zu einer Dyskoordination von Patient und Respirator mit zunehmender Dyspnoe.

… das Ende des Falles Sehr erleichtert gibt das Team die Patientin im Schockraum ab. Von dort geht diese wenig später auf die Intensivstation und wird dort für einige Tage beatmet. Als Diagnose wird eine infektexazerbierte COPD definiert. Unzufrieden bleibt vorallem Angelika selbst. Sie ist sich sicher, dass die NIV-­Beatmung nicht funktioniert hat, weil sie diese falsch angewendet hat. Sie geht zu ihrem Oberarzt auf der Intensivstation und lässt sich diese Therapie nochmals genau erklären. Und tatsächlich: Sie hatte die Triggerempfindlichkeit und das inspiratorische Druckniveau falsch gewählt. Da nahm sich Angelika vor, in Zukunft an ihrer Gerätekenntnis zu arbeiten. Vorgaben zur Gerätekenntnis Deutschland und Schweiz

In der Schweiz wird die Anwendung medizinischer Geräte in der Medizinprodukteverordnung (MepV) geregelt [5]. Hier wird aufgeführt welche Produkte unter diese Verordnung fallen und wie Herstellung, Inverkehrbringung und Anwendung ablaufen müssen. Aufsichtsbehörde für die Anwendung von medizinischen Geräten ist swissmedic, das Schweizerische Heilmittelinstitut. Im MepV ist nicht genau festgelegt, wie Einweisung und Anwendung eines medizinischen Gerätes ablaufen müssen. Deshalb wird dies teilweise durch Berufsverbände und die jeweiligen Betriebe geregelt. So kann es sinnvoll sein, Mitarbeiter durch einen Geräteverantwortlichen zu schulen und deren Einweisung in einem Gerätepass zu dokumentieren. In Deutschland wird die Anwendung in der Medizinprodukte-­Betreiberverordnung (MPBetreibV) geregelt [6]. Hier wird vorgeschrieben, dass Medizinalbetriebe ab einer bestimmten Grösse einen Medizinprodukteverantwortlichen bestimmen müssen. Dieser erhält von den jeweiligen Herstellern Einweisungen und Befugnisse, weiter Mitarbeiter zu schulen. Der Betreiber hat eine Verpflichtung, die sichere Anwendung von Geräten zu gewährleisten. „Medizinprodukte dürfen nur von Personen betrieben oder angewendet werden, die die dafür erforderliche Ausbildung oder Kenntnis und Erfahrung besitzen.“ (Paragraph 4, Absatz 2, MPBetreibV). Auch der Anwender wird in die Pflicht genommen. So hat er sich vor jeder Anwendung über die sichere Anwendung des Gerätes zu vergewissern (Paragraph 4, Absatz 6, MPBetreibV). So dürfen konkret Beatmungsgeräte nur von Personen angewandt werden, die von befugten Personen in die sachgerechte Anwendung eingewiesen worden sind (Paragraph 10).

Literatur

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Literatur 1. Jahn N, Huschak G, Adams HA (2016) Kaisers UX Beatmung des Intensivpatienten-eine Praxisanleitung. Anästh Intensivmed 57:730–744 2. Buchardi H, Kuhlen R, Schönhofer B, Müller E, Criee CP, Welte T (2002) Nicht-invasive Beatmung. Anaesthesist 51:33–41 3. Hamm M, Schulz A, Kloche M, Niedermeyer J, Meissner E (1999) Nichtinvasive Beatmung bei akuter respiratorischer Insuffizienz. Intensivmedizin 36:156–162 4. Larsen R, Ziegenfuss T (1997) Beatmung. Springer, Berlin/Heidelberg 5. Homepage „Schweizerische Eidgenossenschaft“. https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995459/index.html 6. http://www.gesetze-im-internet.de/mpbetreibv/MPBetreibV.pdf

Verkehrsunfall – Auf einer Ansicht beharren

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Inhaltsverzeichnis 13.1  Falldarstellung  13.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Literatur 

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13.1 Falldarstellung Was geschah … Kaum zum Dienst erschienen ging es schon los auf den ersten Einsatz und Notarzt Matthi­as eilte zum Helikopter. Es war einer dieser durchschnittlichen täglichen Einsätze. „Verkehrsunfall, unklare Lage“ hatte die Leitstelle geschrieben und ausserdem auf dem Einsatzmail vermerkt, dass bereits ein NAW vor Ort war. Der Helikopter war wohl aufgeboten worden, um einen Patienten in die weiter entfernte Zentrumsklinik zu bringen. Die Einsatzstelle befand sich in einer Region, die einen gewissen Ruf hatte im Team; hier taten nebenamtlich Notärzte Dienst, die in Hausarztpraxen tätig waren und nur wenig Notfalleinsätze leisteten. Dadurch war die Versorgungssituation vor Ort oft nicht entsprechend den üblichen Algorithmen oder wichtige Interventionen waren nicht erfolgt. Am Unfallort begab sich Matthias zum RTW; die Nacht brach schon herein und das erste Sommergewitter war durchgezogen. Im RTW lag die Patientin voll immobilisiert auf dem Spineboard, Headblocks angelegt, ein blutiger Verband war am Kopf angelegt. Anwesend waren zwei Rettungsassistenten und der Notarzt; ausserdem eine Zivilperson. Nach kurzer Begrüssung und Vorstellung begann der Notarzt zu berichten: „Also was haben wir hier? Diese junge Dame ist 12 Jahre und mit dem Fahrrad gestürzt. Hier (er zeigte auf den Verband) ist Alles offen, grosse Weichteilwunde; man sieht bis auf die Kalotte. Sie hat keine Amnesie. Ich habe ihr 20  mg S-Ketamin und 1  mg Midazolam

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_13

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13  Verkehrsunfall – Auf einer Ansicht beharren

gegeben, weil sie sehr unruhig und agitiert war. Das Problem ist, sie spricht nur albanisch! Die Begleitperson hier kann übersetzen.“ Da schien der Übergabebericht fertig zu sein. Matthias wusste irgendwie nicht so recht, was jetzt eigentlich passiert war. Das Vorurteil zu den Notärzten dieser Region schien mal wieder zuzutreffen. Er hätte sich schon etwas mehr Systematik und Struktur gewünscht. So wie es doch eigentlich heute in der Notfallmedizin üblich ist. Mittlerweile war der Kollege am telefonieren; er versuchte offensichtlich eine aufnehmende Klinik zu finden. Da intervenierte Matthias: „Bitte noch warten mit der Klinikanmeldung! Ich muss zuerst mit dem Piloten die Wettersituation anschauen wegen der Gewitter.“ Während dieses kurzen Gesprächs war die Patientin wacher und agitierter geworden. Sie versuchte unruhig die Kopffixation zu lösen. Matthias bat nun die Begleitperson, Kontakt mit der Patientin aufzunehmen. Sie solle z. B. den Mund öffnen. Er wollte sehen, ob die Patientin soweit kontaktfähig war, dass sie einfache Aufforderungen befolgte. Nun, sie bewegte zwar den Mund, öffnete auch die Augen. Eine eindeutige Kontaktaufnahme fand aber nicht statt. Vielmehr war sie weiter unruhig, agitiert und versuchte sich ungezielt aus der Immobilisation zu befreien. So konnte das ja nicht weitergehen, ein Transport im Helikopter war mit dieser unruhigen Patientin zu riskant, und Matthias gab weitere 1  mg Midazolam. In Rücksprache mit dem HEMS-Rettungssanitäter und Piloten erfolgte nun die Klinikanmeldung im Zentrum. Über die Begleitperson versuchte Matthias mehr Informationen zu bekommen. Was genau war eigentlich passiert? Wo hatte die Patientin Schmerzen? Parallel dazu wurde das Überwachungsmonitoring der Helikoptercrew angebracht. Dann konnte es ja losgehen. Die Kollegen drängten eh schon, da der Feierabend nahte. Im Helikopter verabreichte Matthias noch prophylaktisch 4 mg Ondansetron. Neulich erst hatte eine Patientin mit eingeschränkter Bewusstseinslage erbrochen und das Freihalten der Atemwege war durch die Kopffixation auf dem Spineboard nicht ausreichend möglich gewesen. Auf dem Flug begann Matthias mit dem Ausfüllen des Einsatzprotokolls. Dabei ging ihm durch den Kopf, dass er die Situation immer noch nicht so recht begriffen hatte. Warum genau hatten sie denn den Helikopter alarmiert? Und dann war dieses Ketamin einfach ein Medikament, das die neurologische Beurteilung stark erschwerte. Die Patientin neben ihm war immer wieder sehr unruhig, obwohl die Begleitperson ihr beruhigend die Hand hielt. Zum Glück hatten sie diese mitgenommen. Matthias gab noch zweimal 1 mg Midazolam, um die Situation im Helikopter nicht eskalieren zu lassen. Es war in der Dunkelheit eh schon schwierig genug zu arbeiten! Endlich im Schockraum angekommen! Bei hellem Licht fiel nun eine Patientenbeurteilung doch deutlich einfacher. Matthias gab einen kurzen Übergaberapport, dann wurde die Patientin auf dem Spineboard auf die Schockraumliege gezogen. Und da kam es nun deutlicher zum Vorschein. Aus der Kopfwunde hatte es offensichtlich stark geblutet, jedenfalls befand sich unter den Headblocks eine grosse Blutlache. Matthias wurde blitzartig klar, hier hatte er etwas Wichtiges übersehen. Durch das anwesende Schockraumteam erfolgte ein Entkleiden der Patientin und die Begleitperson wurde aufgefordert, die Patientin nochmals nach der Lokalisation der Schmerzen zu fragen. Die Patientin gab nur sehr verzögert und

13.1 Falldarstellung

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schläfrig Antwort. Sie habe Bauchschmerzen. Bei der Inspektion fiel im Oberbauch eine Prellmarke auf! Da kam es Matthias in den Sinn: Er hatte sich von vielen Störfaktoren (soziale Faktoren im Team, Vorurteil, Umgebungsfaktoren wie Nacht und Wetter, Drängen der Kollegen) ablenken lassen, seine Situationsbeurteilung hatte dadurch stark gelitten. Wie konnte er dem in Zukunft systematisch entgegenwirken?

Systematische Patientenbeurteilung nach dem A/B/C-Schema

Zur strukturierten Patientenbeurteilung und Prioritätensetzung bei der Behandlung hat sich international das sogenannte A/B/C-Schema etabliert. Es ist Grundlage von vielen Kursen, die fester Bestandteil von notfallmedizinischer Ausbildung sind (ACLS, ETC, PHTLS, etc. [1, 2]). Die einheitliche Nomenklatur führt dazu, dass Notfallteams sich besser absprechen können. Auch wenn sich die Einzelnen nicht gegenseitig kennen, sprechen sie eine gemeinsame Sprache. Beim Abarbeiten der verschiedenen Punkte verfolgt man das Prinzip „Treat first what kills first“. Es soll also einerseits keine Zeit verschwendet werden mit Dingen, welche im Moment keine Priorität haben, auf der anderen Seite sollen entscheidende Dinge nicht übersehen werden [2, 3]. Die einzelnen Buchstaben stehen für A (Airway) Atemweg, B (Breathing) respiratorische Situation, C (Circulation) Kreislaufsituation, D (Disability) neurologische Situation und E (Exposure) äussere Einflüsse. Der Patient wird auch in dieser Reihenfolge beurteilt. Mittlerweile hat sich auch die Vorgehensweise C-A-B durchgesetzt. Hierbei wird zuerst ein Patientenpuls gesucht und schwere äussere Blutungen, die sofort gestoppt werden müssen [1]. System Beurteilungspunkte A Atemweg frei? Anatomisch verlegt? Durch Fremdkörper verlegt? Durch einfache Massnahmen freizuhalten? Anhalt für HWSVerletzung? B Atmung vorhanden? Atemfrequenz? Atemanstrengung, Dyspnoe? Auffällige Thoraxbewegungen? Zeichen von Hypoxie?

Beurteilungstechnik Inspektion Hören auf auffällige Atemgeräusche

Therapeut. Massnahmen Manuelle Öffnung (UK anheben) Einlage von Oro/ Naso-pharyngealtubus Absaugen von Sekret o.ä. Ruhigstellung der HWS

Inspektion Auskultation Pulsoxymetrie

Beatmung Sauerstoffgabe Lagerung

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13  Verkehrsunfall – Auf einer Ansicht beharren

System Beurteilungspunkte C Schwere äussere Blutung? Puls vorhanden? Hautkolorit? Rekapillarisierungszeit? D Bewusstsein gemäss GCS Pupillenstatus? Extremitätenbewegung Blutzuckerwert? E Auffälligkeiten am Körper nach kompletter Entkleidung Wärmeerhalt

Beurteilungstechnik Inspektion Palpation

Therapeut. Massnahmen Blutstillung Reanimation Volumengabe

Stimulation Inspektion

Dokumentation Sicherung zerebraler Perfusionsdruck Glucosegabe

Inspektion

Entsprechende Behandlung

Ergeben sich bei der primären Beurteilung keine unmittelbar notwendigen Massnahmen wird eine systematische Körperuntersuchung durchgeführt (Body Check). Die Untersuchung von Kopf bis Fuss soll eine Beurteilung der gesamten Verletzungen ergeben. Bedeutsame Verletzungen wie dislozierte Frakturen, Beckenverletzungen o. ä. müssen erkannt werden. Relevante Blutungsorte werden als die sogenannten vier B der Kreislaufbeurteilung zugeordnet: Brust, Bauch, Becken, Beine. Ergibt sich in diesen Regionen ein Anhalt für eine mögliche innere Blutung, wird im weiteren Verlauf mit einer Verschlechterung der Kreislaufsituation gerechnet (C-­ Problem). Dieses systematische Vorgehen dient nicht nur der initialen Patientenbeurteilung, sondern wird insbesondere bei der Übernahme durch ein anderes Team (Wechsel Transportmittel, Schockraumübergabe) angewendet [4]. Da die entscheidenden Punkte vorgegeben sind und eine Checkliste abgearbeitet wird, wird der Untersucher weniger von anderen Einflüssen abgelenkt. Die Neubeurteilung durch das neue Team dient also folgenden Zielen: –– Der nun Verantwortliche macht sich ein Bild der Situation –– Im Vergleich mit Vorbefunden können Zustandsveränderungen beurteilt werden. –– Bisher unterlassene Untersuchungen bzw. Behandlungen werden nun durchgeführt Damit dieses Schema auch tatsächlich zur Anwendung kommt, muss der Verantwortliche bewusst dies initiieren. Gerade wenn äussere Störeinflüsse zum Tragen kommen, nützt es oft, gedanklich einen „Schritt zurückzutreten“ und das A-B-C explizit im Team anzukündigen.

13.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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13.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Vorurteile sind ein gefährlicher Faktor. Wir gehen mit einem vorgefertigten Bild in eine Situation. Diese wird nicht objektiv beurteilt, sondern wir passen die Interpretation unserer Sinneswahrnehmungen unserem Gedankenmodell an. Mentale Modelle werden bestätigt, statt hinterfragt. Schnell kommt es zu Fixierungsfehler. Im vorliegenden Fall hat Matthias sich durch Überlegungen über seinen Kollegen ablenken lassen. Er war mit seinen Gedanken nicht mehr bei der Sache. Die soziale Interaktion trat gegenüber der fachlichen Leistung in den Vordergrund. Schon von klein auf ordnen wir unsere Erlebnisse gerne in Klischees, Kategorien, Raster. Meist geschieht dies blitzschnell ohne dass es uns bewusst ist. Ein erster Schritt, dem entgegenzutreten, ist also sich diese Denkweise bewusst zu machen. Wenn ich weis, dass ich so funktioniere, kann ich damit umzugehen lernen. Vielleicht gelingt es Matthias beim nächsten Einsatz in diese Region, sich seiner Vorurteile zu erinnern und damit anders umzugehen. Will man eine Situation strukturiert analysieren und abarbeiten, so machen Checklisten und Algorithmen Sinn. Unabhängig von der Verschiedenheit der jeweiligen Lage, werden Punkte abgefragt. Dann tritt die soziale Interaktion hinter fachliche Leistung zurück. So hätte sich hier Matthias bewusst nicht von der unstrukturierten Übergabe beeinflussen lassen sollen. Es wäre an ihm gewesen, die objektive strukturierte Informationsabfrage einzufordern. Man kann sich z. B. zunächst die Übergabe anhören und anschliessend gemäss dem A/B/C-Schema sich selbst ein Bild von der Situation machen. Denn ab der Übernahme des Patienten war Matthias für den Patienten verantwortlich. Er machte sich also zu Recht in der Klinik ein schlechtes Gewissen, dass er Dinge übersehen hatte. Gerade weil die Informationsübermittlung lückenhaft war, wäre eine Patientenbeurteilung nach Checkliste hilfreich gewesen. So wird das Risiko vermindert, dass Dinge übersehen oder vergessen werden. Checklisten und Algorithmen erleichtern die Teamzusammenarbeit, weil die Mitarbeiter wissen, welche Schritte zu tun sind. Sie bringen auch Struktur in unübersichtliche hektische Prozessabläufe. Gerade bei Situationen, die nur sehr selten auftreten (z. B. Neugeborenen-­Reanimation), geben sie eine gute Unterstützung für wenig bekannte Aufgaben. In vielen Sicherheitsbereichen sind deshalb Checklisten für Zwischenfälle erarbeitet und ein Nichtbefolgen kann ein Fehlverhalten des Mitarbeiters bedeuten. In diesem Einsatz haben einige zusätzliche Störfaktoren eine Rolle gespielt: Die Lage am Einsatzort war nicht gut einsehbar, da Dunkelheit herrschte und die Patientin sich bereits im RTW befand. Die Patientin war unruhig und eine Kommunikation war wegen der Sprachbarriere zusätzlich erschwert. Durch die aktuelle Wettersituation und das Drängen der Kollegen entstand ein Zeitdruck für Matthias. Schnell lassen wir uns von solchen Situationsbedingungen beeinflussen, wenn wir beim arbeiten nicht recht bei der Sache sind. Hier ist die aktive Intervention Aufgabe des Verantwortlichen, hier also Matthias. Er ­übernimmt als Transportarzt die Funktion des „Leadership“ (Teamführung) und ist somit für die medizinischen Vorgaben zuständig.

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13  Verkehrsunfall – Auf einer Ansicht beharren

Literatur 1. The European Trauma Course Manual Edition 3.0 2. NAEMT (Hrsg) (2012) Präklinisches Traumamanagement, 2. Aufl. Elsevier GmbH/Urban&Fischer, München, S 300 3. Störmann P et al (2017) Das schwere Trauma im Kindesalter. Notfallmedizin up2date 12:271–285 4. Hinkelbein J, Faymonville C, Hackenbroch M, Burst V, Böttiger BW (2013) Interdisziplinäre Schockraumversorgung polytraumatisierter Patienten. Notfallmed up2date 8:177–191

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Inhaltsverzeichnis 14.1  Falldarstellung  14.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Literatur 

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14.1 Falldarstellung Was geschah …? Martin versieht stolz Dienste auf einem Notarzthubschrauber (NAH) in den Tiroler Alpen. Er hat große Freude an der alpinen Luftrettung. So auch heute, an einem sonnigen Tag bei guten Schneeverhältnissen und vielen Skitouristen auf den Pisten. Wie zu erwarten ist das Einsatzaufkommen recht groß und so überrascht es Martin auch nicht kurz vor dem Mittagessen zu einem Skiunfall mit der Notwendigkeit einer Taubergung ins nahe gelegene Skigebiet alarmiert zu werden. Den Klettergurt trägt Martin eh den ganzen Tag, vor dem Abflug überprüft er daher nur kurz ob auch der Brustgurt an der richtigen Stelle im Notarztrucksack ist. Während des kurzes Anfluges wird der NAH jedoch zu einem anderen Einsatz umdisponiert: In direkter Nähe sei es zu einem Absturz aus großer Höhe gekommen und der NAH mit Martin soll nun verifizieren, ob der Absturz über die Felswand tödlich verlaufen ist. Ggf. soll im Anschluss dann noch der andere Einsatz wieder übernommen werden. Nach einem kurzen Suchflug kann der Abgestürzte in einem sehr steilen Schneefeld am Fusse der Felswand gesichtet werden. Überraschenderweise und nicht zu erwarten sieht die NAH-Besatzung, dass der Patient sich bewegt, also glücklicherweise nicht wie vermutet tödlich verletzt wurde. Rasch wird die Leitstelle informiert und ein weiterer Hubschrauber für den anderen Einsatz auf der Piste

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_14

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14  Grenzen von Algorithmen – Outdoor

nachgefordert. Der Pilot geht rasch tiefer und bereitet einen schwebenden Ausstieg Martins in der Nähe des Patienten vor. Martin überprüft nochmal kurz, dass sein Lawinen-Pieps angeschalten und funktionsfähig ist, denn die Lawinengefahr ist gerade in ausgesetztem Gelände aktuell recht hoch. Mit dem Notarztrucksack auf dem Rücken wird Martin schließlich ca. 50 m vom Patienten im Steilgelände abgesetzt. Martin findet im steilen Gelände nur deswegen Halt, weil er bis über die Knie im Tiefschnee steht. Er kommt nur mühsam auf allen Vieren auf seinem Weg zum Patienten voran und erreicht ihn daher erst ca. 10 min später. Derweil bereitet der Rest der NAH-Crew die Taubergung an einem Zwischenlandeplatz vor. Martin findet einen prinzipiell wachen blutüberstömten jungen Mann vor, der keine Kletterausrüstung trägt (davon abgesehen, dass beim Sturz fast die gesamte Bekleidung abgerissen wurde), geht Martin von einem Sturz über die gesamte Felswand und somit über ca. 200 Höhenmeter durch extrem steiles Gelände aus. Die Atemwege des jungen Mannes sind auf den erstem Blick frei, die Atemfrequenz liegt bei ungefähr 30/min, er gibt stärkste Schmerzen bei der Atmung an. Peripher lässt sich kein Puls tasten und die Rekapillarisierungszeit ist deutlich verlängert. Immerhin zentral tastet Martin einen tachykarden Puls. Der Patient hat eine vollständige Amnesie zum Ereignis und ist desorientiert, immerhin sind die Pupillen isokor. Es blutet heftig und auch leicht spritzend aus einer großen Skalpierungsverletzung am Kopf. Die Kleidung ist fast komplett abgerissen, so dass der Patient bereits jetzt Zeichen der Unterkühlung zeigt. Martin stuft den Patienten als instabil ein, zudem erscheint das Gelände (Steilheit, Tiefschnee, unruhiger und fahriger Patient) gefährlich. Daher bittet er den Rest der NAH-Crew um eine Crash-Bergung im sog. Kong-Sitz (sitzende Position) zu einem Zwischenlandeplatz. Bis der NAH eintrifft gelingt es Martin nur mit Mühe im widrigen Gelände einen Druckverband am Kopf des Patienten an zu legen. Während des Fluges reißt sich der Patient diesen wieder vom Kopf, so dass Patient, Notarzt Martin und der Flugretter blutbesprenkelt den Zwischenlandeplatz erreichen. Am Zwischenlandeplatz pfeift ein eisiger Wind, so dass sich die Heli-Crew für ein rasches Umlagern auf die Trage und verbringen des Patienten in den Hubschrauber entscheidet, um ein weiteres Auskühlen zu verhindern. Im Hubschrauber lässt sich oszillometrisch kein Blutdruck messen, auch die Pulsoxymetrie zeigt keine Werte an. Der Patient ist aber weiterhin wach wenn auch desorientiert und zeitweise agitiert, die Schutzreflexe erscheinen aber intakt. Das EKG zeigt einen Sinusrhythmus von ca. 120/min und zentral ist weiterhin ein Puls tastbar. Der Patient klagt über Schmerzen beim Atmen und Luftnot. Auf eine Temperaturmessung wird bewusst verzichtet, da es keine therapeutische Konsequenz hat, denn der Patient wurde eh mit einem Wärmepack versorgt und in eine Rettungsdecke eingewickelt, mehr Möglichkeiten zur Wiedererwärmung bestehen vor Ort nicht. Der Kopfverband wird erneuert und diesmal besser verklebt. Über eine Sauerstoffmaske mit Reservoir werden 10l O2/min insuffliert.

14.1 Falldarstellung

Rekapillarisierungszeit (Temperaturstufe)

Jedem in der Notfallmedizin Tätigem ist diese simple Untersuchungstechnik bekannt, dennoch wird sie extrem selten tatsächlich angewendet. Dabei ist es ein probates und einfaches Mittel schnell den Grad einer Zentralisation jedweder Genese zu erfassen. Es wird dabei zumeist auf einen Fingernagel gedrückt, im pädiatrischen Bereich wird zumeist im Bereich des Thorax/Sternum mit einem Finger auf die Haut gedrückt. Innerhalb von drei bis maximal 5 Sekunden sollte sich die initiale Hautdurchblutung und somit -farbe wieder eingestellt haben. Es hat sich eingebürgert die Rekapillarisierungszeit mit dem Grad der sog. „Mikrozirkulation“ an zu geben im Gegensatz zur Blutdruckmessung zur Quantifizierung der „Makrozirkulation“. Dies ist zwar einerseits vereinfachend, hat aber insbesondere bei septischen Patienten ihre Gültigkeit. Gerade in der Initialphase der Sepsis kann der Blutdruck (Makrozirkulation) noch normal, die Rekapillarisierungszeit (Mikrozirkulation) aber schon affektiert sein. In die gleiche Richtung geht die Erfassung der Temperaturstufe: Sind die Finger kühl oder kommt es am Handgelenk zu einem Temperatursprung, so ist dies noch als normal zu werten. Ist diese deutlich weiter proximal wie beispielsweise am Ellenbogen, so ist auch dies ein dringender Hinweis auf eine Zentralisation. Grundsätzlich muss aber nochmal darauf hingewiesen werden, dass die vorgestellten Untersuchungsergebnisse sehr von den Umgebungstemperaturen abhängig sind. Man stelle sich zur Verdeutlichung einfach mal eine Probeerhebung an einer Bushaltestelle im Winter oder nach einem Saunabesuch vor. Andererseits, kann es eine absolut einfache, schnelle, kostenfreie sowie schmerz- und risikolose Informationserhebung sein, die sich in anderen Parametern nicht so einfach abbilden lassen. Hypothermie [1] Der menschliche Organismus ist auf einen eng gesteckten Temperaturbereich ausgelegt und ist daher darauf angewiesen, eine möglichst konstante Temperatur aufrecht zu erhalten. Eine Hyperthermie hat bei vielen Erkrankungen einen negativen Effekt, der sogar zu einer Morbiditäts- und Mortalitätserhöhung führt. Hier soll es nun aber um die Unterkühlung (Hypothermie) gehen. Zunächst sollte man die Entität der Hypothermie definieren, wie sie im Rahmen der Akutmedizin auftritt: –– Hypothermie als Auslöser der Notfallsituation (Bsp. Lawine, Aufenthalt in kaltem Wasser, usw.) –– Hier ist die Behebung der Unterkühlung das primäre Behandlungsziel. –– Hypothermie als Begleiteffekt einer anderen Störung (Bsp. Trauma, Intoxikation, usw.) –– Die Behebung der Unterkühlung konkurriert hier ggf. mit der Behandlung der weiteren Störung. Hier denke man beispielsweise an die operative Traumaversorgung. –– Milde Hypothermie als Therapieoption, (Bsp. nach Reanimation)

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14  Grenzen von Algorithmen – Outdoor

Die Datenlage zur therapeutischen Hypothermie nach Reanimation kam die letzten Jahre ins wanken und wird weiterhin intensiv wissenschaftlich untersucht. Sicher ist jedoch, dass febrile Temperaturen in der Postreanimationsphase dringend vermieden werden müssen, da sie zu einer erhöhten Mortalität führen. Daher ist auf jeden Fall ein sog. „Target Temperature Management“ (TTM) mit einer Normothermie/milden Hypothermie zu fordern. Es wurden in der Vergangenheit mehrere Graduierungen der Hypothermie definiert, durchgesetzt hat sich das sog. Schweizer Klassifizierungsmodell: –– Stadium I (milde Hypothermie): Bewusstsein klar, Kältezittern, Kerntemperatur 35–32 °C; –– Stadium II (mäßige Hypothermie):Bewusstsein eingetrübt, kein Kältezittern, Kerntemperatur 32–28 °C; –– Stadium III (schwere Hypothermie): Bewusstlosigkeit, Lebenszeichen vorhanden Kerntemperatur 28–24 °C; –– Stadium IV: Kreislaufstillstand oder minimaler Kreislauf, keine oder nur minimale Lebenszeichen, Kerntemperatur < 24 °C; –– Stadium V: Tod durch irreversible Hypothermie, Kerntemperatur < 13,7 °C Beachtenswert ist hierbei, dass hier immer die Körperkerntemperatur gemeint ist, die man normalerweise in der Präklinik aber gar nicht erheben kann. Hierzu wäre eine Ösophagussonde oder ein Blasenkatheter mit Temperaturfühler notwendig. In der Präklinik werden zumeist handelsübliche Ohrthermometer vorgehalten, die allerdings in ihrer Funktion zumeist auf ein Temperaturbereich von ca. 35°–40° optimiert sind. Außerhalb dieses Bereichs werden die Messungen zunehmend ungenau. Ebenso unterliegt die Temperaturmessung im Ohr natürlich auch Störfaktoren, ein Selbstversuch im Winter ist hier ratsam. Zudem muss man akzeptieren, dass es außerhalb des Krankenhauses kaum gelingen wird, einen hypothermen Patienten wieder zu erwärmen. Das Maximum ist zumeist der Erhalt der aktuellen Körpertemperatur. Ein Rettungsdecke kann zwar nicht erwärmen, aber effektiv einen weiteren Wärmeverlust durch Konvektion (Wärmeabgabe) in die Umgebungsluft und Radiation (Wärmeabstrahlung des menschlichen Körpers) verhindern. Die Konduktion (die Wärmeabgabe des menschlichen Körpers an den kalten Untergrund) kann man dadurch aber kaum reduzieren. Dennoch sollte diese oder ähnliche Decken prinzipiell Anwendung finden, da sie billig und ohne Nebenwirkungen sind. Die Gabe von warmen und gezuckerten Getränken kommt nur im Rahmen der Laienhilfe bei leichten Hypothermien in Betracht. Angewärmte Infusionen sind theoretisch sinnvoll, insbesondere bei langsamer Laufrate kühlen sie aber innerhalb des Infusionssystem bis zur Umgebungstemperatur abkühlen. Bei niedrigen Umgebungstemperaturen ist daher die Indikation zur Infusionsgabe kritisch ab zu wägen. Ein Vorheizen des Rettungswagens sollte bei hypothermen oder

14.1 Falldarstellung

hypothermiegefährdeten Patienten eine Selbstverständlichkeit sein. Effektive aber zumeist teurere Hilfsmittel sind aktive Wärmesysteme wie Wärmepacks oder Wärmedecken. Wo sie vorgehalten werden, sollten sie auch zum Einsatz kommen. Allerdings ist ihre Verwendung formell ab Stadium III umstritten, weil es bei zentraler Anwendung mit konsekutiver Vasodilatation dann zur Einschwemmung kalten Schalenbluts aus der Peripherie mit Auslösung von Herzrhythmusstörungen kommen kann. Ebenso gibt es viele Fallberichte des sogenannten Bergungstods, der vermutlich eine ähnliche Pathophysiologie mit Einschwemmen kalten Schalenbluts hat, diesmal aber ausgelöst durch eine Lageveränderung des Patienten. Daher stammt die Forderung, dass schwer hypotherme Patienten immobilisiert in Flachlagerung transportiert werden sollen. Innerhalb der Klinik gibt es dann mehrere effektive Hilfsmittel zu Wiedererwärmung von Wärmedecken/-matratzen über warme Blasenspülungen bis hin zu endovaskulären Verfahren oder dem Einsatz einer Herz-Lungen-Maschine. Gefahren an der Einsatzstelle Annähernd an jeder Einsatzstelle bestehen für Patient und Einsatzkräfte Gefahren irgendwelcher Art. Immer wieder gepredigt, aber doch selten praktiziert, wird daher ein check der Gefahrenlage bei Hinzutreten eines jeden Helfers an einen Notfallort. Um so offensichtlicher die Gefahr, um so eher wird sie detektiert und ernst genommen (Brand, Explosion, laufender Verkehr auf der Autobahn, Schusswechsel …). Es gibt jedoch auch verstecktere Gefahren, die häufig banal erscheinen, aber dennoch sehr bedrohlich sein können. Beispielsweise denke man hier an offene Ampullen auf dem Nachttisch, benutzte Nadeln (durch den Patienten selbst oder durch die Rettungskräfte), sonstige Infektionsgefahren, Strom, Haushaltsgifte, etc.. Selbst wenn „nur“ ein Helfer auf dem nassen Fußboden ausrutscht und sich dabei den Fuß verdreht, kann dies schon die ganze Notfallversorgung ins Wanken bringen oder sie zumindest verzögern. Oftmals kann man die Gefahren nicht einfach beseitigen, aber sie sind dringend zu erkennen, bewerten und zu kommunizieren! Sind technische Hilfsdienste oder die Polizei aufgrund der Gefahrensituation vor Ort ist ihren Anweisungen unbedingt Folge zu leisten (beispielsweise macht eine sog. „Care-under-fire“) hierzulande im zivilen Umfeld keinen Sinn. Die Feuerwehr nutzt für die Einschätzung des Bedrohungspotentials die etwas sperrige Gefahrenmatrix mit der Abkürzung AAAACEEEE: A – Angstreaktion A – Atemgifte A – Atomare Gefahren A – Ausbreitung C – Chemische Stoffe E – Explosion

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14  Grenzen von Algorithmen – Outdoor

E – Erkrankung & Verletzung E – Einsturz E – Elektrizität So oder so, es ist dringend an zu raten sich intensiv mit dem Gefahrenpotential der Einsatzstelle auseinander zu setzten. Crash-Bergung Der Begriff Crash-Bergung ist in der präklinischen Notfallmedizin allgemein bekannt und bezeichnet die schnellstmögliche Bergung des Patienten aus dem Gefahrenbereich bzw. die Befreiung aus einer Einklemmung. Indikation ist eine unmittelbare vitale Bedrohung, die sofort therapiert werden muss. Dabei werden in der Güterabwägung auch Transporttraumen durch die nicht schonende Bergung in Kauf genommen. Aus diesem Grunde sollte dieser Begriff bzw. die dahinter stehenden Massnahmen nicht überstrapaziert und nur nach strenger Indikationsstellung benutzt werden. Es sollte eine mehrstufige Unterteilung der zeitlichen Dringlichkeit geben. Bei der Mehrheit der beispielsweise eingeklemmten Patienten nach einem Verkehrsunfall hat man zwar nicht die Zeit für eine maximal schonende Rettung (wie beispielsweise bei einem isolierten schweren Wirbelsäulentrauma), jedoch ist auch keine Crash-Rettung von Nöten. Um diese Vorstellungen zu transportieren ist eine enge Absprache mit den technischen Hilfsdiensten (i. d. R. der Feuerwehr) notwendig. Indikationen für eine Crash-Rettung sind: unmittelbare Gefahr für Patient und Retter (Rauch, ABC-Gefahren, Terrorlage bzw. Gewaltpotential, Absturz, usw.) aktuell nicht stillbare Massenblutung aktuell nicht beherrschbare hämodynamische Instabilität aktuell verlegter/sehr bedrohter Atemweg und Unmöglichkeit der Atemwegssicherheit

… so geht es weiter … Martin drängt zu einem raschen Transport ins nächste Traumazentrum nach Voranmeldung eines instabilen Polytraumas. Während der Startvorbereitungen gelingt es Martin cubital noch einen großvolumigen Venenzugang zu legen und infundiert eine vorgewärmte kristalloide Lösung. Da der Patient sich zunehmend beruhigt (oder doch eintrübt?) verzichtet Martin auf eine Analgosedierung, aus Sorge es könnte eine zwingende und sofortige Intubationsindikation entstehen, was an Bord des NAH alles andere als trivial ist, zumal Martin alleine hinten beim Patienten sitzt. 10 Minuten nach Abflug am Zwischenlandeplatz erreicht man die zuständige Universitätsklinik, weitere ca. 5  min später kommt der Patient mit seinem Rettungsteam im Schockraum an, was Martin innerlich sehr erleichtert.

14.1 Falldarstellung

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Martin macht eine strukturierte Übergabe (ABCDE, SAMPLE) und fragt, ob es Rückfragen gibt. Daraufhin poltert der Teamleader des Schockraums los, ob er denn jemals eine Traumaleitlinie gelesen hätte und formuliert harsch folgende Vorwürfe: Der Patient trägt keine Cervikalstütze und die Vakuumatratze ist nicht angeformt/abgesaugt, somit sei die Immobilisation mehr als mangelhaft. Es liegt nur ein Venenzugang, obwohl in den Leitlinien zwei großvolumige Zugänge empfohlen werden. Obwohl der Patient starke Schmerzen angegeben hat sei ihm kein Analgetikum verabreicht worden. Auch eine Gabe von Tranexamsäure sei wohl Martin nicht geläufig. Ebenso kann der Traumaleader nicht verstehen, warum bei schwerem Thoraxtrauma, neurologisch auffälligem und hämodynamisch instabilen Patient nicht intubiert worden ist, ggf. mit einer probatorischen Minithorakotomie bds. bei schwerem Thoraxtrauma. Es werden noch mehr Vorwürfe gemacht, aber Martin kann sie garnicht mehr aufnehmen und erfassen, er ist eh so überrumpelt, dass er sich kaum zu wehren versteht. Er räumt die versäumte Tranexamsäure-Gabe ein und murmelt kleinlaut und zaghaft, dass erst 40 min nach dem Absturz vergangen sind und das Gelände sehr gefährlich war …

S3 Polytrauma-Leitlinie [2]

Die deutsche S3 Polytrauma-Leitlinie wird regelmäßig von einem multiprofessionellen und interdiziplinären Expertengremium aktualisiert und steht kostenlos zur Verfügung. Es werden eine Vielzahl von Empfehlungen für die prä- und innerklinische Versorgungsphase getroffen. Eine regelmäßige Auseinandersetzung mit diesen Empfehlungen ist für jeden zu fordern, der regelmäßig mit der Versorgung schwer traumatisierter Patienten befasst ist. Analgesie Eine Schmerzfreiheit bzw. zumindest die Reduktion starker Schmerzen ist ein Grundbedürfnis und – recht des Patienten. Es stehen mehrere Substanzgruppen mit unterschiedlichen Applikationsformen zur Verfügung. Einerseits sollten die Schmerzen effektiv behandelt werden, andererseits sind sie durch die Neben- und Wechselwirkungen der verabreichten Medikamente die Patienten nicht zusätzlich zu gefährden. Oft genannt wird das WHO-Stufenschema der Schmerzmedikation: I: Nicht-Opioid II: Schwaches Opioid und Nicht-Opioid III: Starkes Opioid und Nicht-Opioid Dieses Schema ist aber in der präklinischen Notfallmedizin nicht praktikabel und zumeist ist eh nur Stufe III ausreichend. In der Notfallmedizin werden die Analgetika zumeist intravenös/intraossär verabreicht, es kommt aber noch die rectale und intranasale Gabe prinzipiell in Betracht. Eine pharmakologische Sonderrolle nimmt das Ketamin ein, da es sich nicht um ein Opioid handelt, aber auch keine Ähnlichkeit mit den anderen Nicht-Opioiden hat

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14  Grenzen von Algorithmen – Outdoor

und auch eine deutlich stärkere Wirksamkeit aufweist. Es wird insbesondere bei traumatologisch bedingten Schmerzen oder zur Analgosedierung zu einer invasiven Intervention benutzt. Die Nebenwirkungen der einzelnen Medikamente sind substanz- und dosisabhängig, zudem gibt es große interindividuelle Unterschiede zwischen den einzelnen Patienten. Der Analgetikaeinsatz muss gut geschult sein um indikationsgerecht umgesetzt zu werden und um die Patientensicherheit maximal zu erhöhen. Allerdings ist es heutzutage auch nicht mehr zu rechtfertigen, Patienten Analgetika aus dia­ gnostischen Gründen (wie früher beispielsweise beim akuten Abdomen) vor zu enthalten. Jeder Anwender ist aufgerufen sich zügig eine belastbare Routine in der Verabreichung der zur Verfügung stehenden Substanzen an zu eignen, da einwandfrei nachgewiesen konnte, dass ungeübte Anwender eine deutlich erhöhte Rate an nicht sachgerechten Medikamentengaben verursachen. Infusionslösungen Auch über den Einsatz von Infusionslösungen zum Volumenersatz wurde die letzten Jahre intensiv diskutiert. Die kolloidalen Volumenersatzlösungen, und insbesondere die Stärkelösungen (HAES) sind nicht zuletzt aufgrund einer Vielzahl gefälschter Studien sehr in die Kritik geraten. Allerdings lassen viele Ratschläge auch die nötige Evidenz vermissen. Grundsätzlich kann man vereinfachend wohl aktuell folgende Ratschläge für die Notfallmedizin geben: Infusionslösungen erster Wahl sind balancierte Vollelektrolytlösungen (wobei auch für sie kein Überlebensvorteil gezeigt werden konnte). Wenn HAES, dann als Volumenersatzmittel bei schwerer Blutung, wenn die Gabe von Kristalloiden nicht zur Stabilisierung ausreichend ist. Keine Kolloidale beim septischen Patienten und Beachtung der Maximaldosierung (sonst sind Nierenschäden und eine Beeinflussung der Gerinnung möglich). 5 % Glucoselösungen sind als Grundinfusion verboten, da die Glucose verstoffwechselt wird und somit freies Wasser übrig bleibt. Dies kann ein schweres Hirnödem auslösen. „Physiologische“ isotonische Kochsalzlösung (0,9 %) ist alles andere als physiologisch, da sie kein Kalium etc. enthalten, dafür aber eine unphysiologische Menge an Natrium und Chlorid.

… das Ende des Falls Dann wird Martin vom alterfahrenen Flugretter Franz aus dem Schockraum bugsiert mit den Worten „komm schon, hier kannst Du eh keinen Stich mehr landen …“. Der Einsatz hinterlässt bei Martin ein extrem schlechtes und verunsicherndes Gefühl, denn er war sich bis zur Ankunft im Schockraum recht sicher situationsangepasst adäquat

14.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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gehandelt zu haben. Die herbe Kritik hat ihn auch menschlich sehr verletzt, denn eigentlich ist Martin sehr belesen und sachkompetent, so hat er sich auch die aktuellen Polytrauma-­Leitlinien gewissenhaft verinnerlicht. Vielleicht trifft Martin auch deswegen die Kritik zu hart, weil Martin weiß, dass die kritisierten Massnahmen ja schon tatsächlich dort eingefordert werden. Nicht aus Rechthaberei, sondern aus Sorge um den Patienten ist Martin beim abendlichen Rückruf auf der Intensivstation extrem über das vergleichsweise harmlose Verletzungsmuster erleichtert: Der junge Mann hat sich neben der Skalpierungsverletzung mit konsekutiv hohem Blutverlust lediglich eine Orbitafraktur links (soll erst im Verlauf operativ versorgt werden), eine Commotio cerebri (ansonsten keine intrazerebrale Traumafolge) und Rippenfrakturen beidseits mit milder Lungenkontusion (ohne Notwendigkeit einer sekundären Intubation) sowie eine Hypothermie von 32 °C tympanal zugezogen. Martin ist sehr froh, dass die ihm vorgeworfene „Unterversorgung“ somit keine negativen Konsequenzen für seinen Patienten hatte.

14.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Beim hier geschilderten Fall handelt es sich um einen medizinisch komplexen Fall in einem risikobehafteten Umfeld und der zusätzlichen Gefahr durch die voranschreitende Hypothermie, was den Einsatz auch noch mehr zeitkritisch macht. Zunächst muss sich Martin mit seinen bescheidenen materiellen Mitteln bestmöglich im Sinne eins Eigenschutzes sichern. Aber auch dann kann er sich nicht wie gewohnt dem Patienten medizinisch widmen, sondern er muss auch diesen zunächst vor einem weiteren Absturz über das Schneefeld schützen. Erst dann kann er mit der Patientenversorgung beginnen, wenn auch unter widrigen Umständen: Es fehlt an Zeit, Equipment, fachlicher Assitenz und Raum für eine adäquate notfallmedizinische Versorgung am Auffindeort. So muss sich Martin in der Gefahren- und Risikoabwägung für einer sog. Crash-Rettung entscheiden – er lässt sich mit dem Patienten (in sitzender Position trotz vermuteter Polytraumatisierung) am Tau zu einem Zwischenlandeplatz ausfliegen. Diese risikobehaftete und unwägbare Situation führt dazu, dass Martin diesen Fall nicht wie gewohnt standardisiert abarbeiten kann und er dabei nicht auf seine Vorerfahrungen vertrauen kann. Er muss sich neue, individuelle Strategien einfallen lassen und diese prüfen, um den scheinbar und offensichtlich bestmöglichen Kompromiss für sich und seinen Patienten zu finden. Die gängigen und ansonsten auch sehr praktikablen Algorithmen aus den aktuellen Leitlinien sind hier nicht hilfreich. Diese werden nämlich vielmehr für Standardsituationen konzipiert und stellen daher immer einer Vereinheitlichung dar. Daher lassen sich die Algorithmen bei Weitem nicht auf alle Einzelsituationen anwenden. Es wäre sogar töricht blind die Handlungsanweisungen unreflektiert auf alle Situationen zu übertragen, weil es dem individuellen Einzelfall nicht immer gerecht wird. Leitlinien und die davon abgeleiteten Algorithmen sind zweifellos eine große Hilfe in einer sach- und fachgerechten Patientenversorgung auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft/Empfehlungen, sie sollten

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14  Grenzen von Algorithmen – Outdoor

daher so oft als möglich Anwendung finden, aber wie heißt es zugegebenermassen in einem Ausspruch: „Leitlinien sind wie Strassenlaternen, sie weisen einem den Weg, aber nur der Betrunkene hält sich daran fest.“ Es wäre wünschenswert gewesen, dass der Traumaleader im Schockraum sich vor seiner mitunter unsachlich zu bewertenden Kritik über die Beweggründe für Martins Vorgehen erkundigt hätte. Es scheint nicht nur um die sachliche Aufarbeitung und eine künftige Steigerung der Versorgungsqualität zu gehen, sondern es schwingen auch zwischenmenschliche und bereits auch kränkend zu verstehende Aspekte und Formulierungen mit. Dies ist einerseits typisch menschlich-kommpetitiv, es belastet aber die Arbeitsatmosphäre sehr und ist somit nicht konstruktiv. Martins Resilienz-Faktoren und deren Ausprägungen sind schlagartig gefordert um wieder offen und nicht eingeschüchtert den nächsten Einsatz bewältigen zu können. Es ist nicht verallgemeinernd möglich zu empfehlen, bis zu welchem Punkt man sich auf Kritik einlässt und konstruktiv mit ihr umgeht. Ist die Zumutbarkeit in der eigenen Wahrnehmung überschritten, sollte dies (mutig) angesprochen werden, in dem man kund tut, dass man sich zu dieser als unangemessen (formuliert) empfundenen Kritik sich nicht äußern will. Dies soll nicht „bockig“ sein, sondern soll vor einer Konflikteskalation bewahren. Lange Rechtfertigungen führen oftmals zu ganz anderen Ergebnissen als es ihr initiale Intention war.

Literatur 1. Truhl A, Deakin CD, Soar J, Khalifa GEA, Alfonzo A, Bierens JJLM, Bratteb G, Brugger H, Dunning J, Hunyadi-Antičević S, Koster RW, Lockey DJ, Lott C, Paal P, Perkins GD, Sandroni C, K.-C. Thies, Zideman DA, Nolan JP (2015) Kreislaufstillstand in besonderen Situationen. Kapitel 4 der Leitlinien zur Reanimation 2015 des European Resuscitation Council. Notfall Rettungsmed 18:833–903 2. S3 Polytrauma-Leitlinie. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/012-019.html

Bedrohungslage

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Inhaltsverzeichnis 15.1  Fallbeschreibung 15.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Weiterführende Literatur

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15.1 Fallbeschreibung Was geschah … Hendrik ist nicht gerade erfreut, dass er mit seinen 47 Jahren und knapp 30 Jahren Rettungsdiensterfahrung auf dem Buckel immer noch als Rettungsassistent (RA) Samstagnacht Dienst schieben muss. Dies fällt seinem 26-jährigen Teamkollegen Dennis schon einfacher, der erst seit 5 Jahren dabei ist und letztes Jahr seine Notfallsanitäterausbildung (NFS) abgeschlossen hat. Gegen 2:30 Uhr am frühen Sonntagmorgen kommt es wie es in Hendriks Augen kommen musste: Gemeldet wird ein internistischer Notfall im WC einer Musikbar in der Innenstadt. Nach gut 5 min mit Sondersignal treffen die Beiden an der Lokalität ein, Hendrik lässt sich die Teamleitung nicht nehmen, auch wenn Dennis NFS ist. Hendrik weist Dennis an nur den „roten Rucksack“ mit zu nehmen und erstmal „schauen zu gehen“, das restliche Equipment soll im Auto verbleiben „denn man bräuchte es bei solchen Einsätzen eh nie“. Ein aufgeregter junger Mann erwartet die Beiden an der Eingangstür und zeigt ihnen den Weg quer durch die noch immer gut gefüllte und laute Bar über eine Treppe in den Keller. Dort sehen Hendrik und Dennis schnell eine Person am Ende der Treppe liegen, die scheinbar bewußtlos ist, laut röchelnd atmet und am Kopf blutet. Als Hendrik gerade beginnen will das Bewußtsein zu prüfen, wird er grob vom Einweiser an der Schulter gepackt. Der Einweiser, der offensichtlich schwer alkoholisiert ist meint, es handle sich

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_15

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15 Bedrohungslage

bei dem am Boden liegenden Mann nicht um den Patienten, sondern sein Kumpel, der drei Treppenstufen höher sitzt bräuchte dringend Hilfe, denn er hätte schreckliche Schmerzen am rechten Unterarm. Hendrik greift zum Funkgerät um weitere Rettungsmittel zu ordern, es lässt sich aus dem Keller heraus jedoch kein Kontakt zur Leitstelle herstellen, mit dem Diensthandy sieht es genauso aus. Daraufhin bittet Hendrik den bereits skeptischen Dennis doch nach oben zu gehen, um einen RTW für den sitzenden Patienten und einen Notarzt für die bewußtlose Person zu bestellen. Dies lässt jedoch der Einweiser nicht zu, man solle sich nun endlich um seinen Kumpel auf der Treppe kümmern, zwei weitere Männer (die ebenfalls einen alkoholisierten Eindruck machen), verleihen dieser Forderung Nachdruck. Dann geht alles ganz schnell: Hendrik versucht noch zu argumentieren, dass man weitere Hilfe bräuchte um beiden Patienten gerecht zu werden, dann prasselt aber schon eine verbale Attacke auf ihn ein: Die am Boden liegende S … hätte es nicht anders verdient, denn er hätte auf dem WC die Freundin des auf der Treppe Sitzenden angegraben, woraufhin es wohl zu einer Rangelei kam. Dabei sei es zu der schlimmen Verletzung am Arm gekommen, und der Betroffen nun endlich ein Schmerzmittel braucht. Dennis und Hen­ drik sind erschüttert vom irrationalen Verhalten der Männer und versuchen es nochmal verzweifelt mit Erklärungen. Daraufhin tritt einer der drei unverletzten Männer hervor und zückt ein Messer und streckt es in Richtung der beiden Rettungsdienstmitarbeiter mit den Worten: „Wenn Ihr es nicht anders versteht … los jetzt, kümmert Euch um unseren Freund!“ Davor verlässt hier keiner die Bar! Hendrik und Dennis sind wie paralysiert, denn sie erkennen, dass sie auch räumlich in der Falle sitzen und keine Flucht möglich zu sein scheint, denn sie sehen keinen zweiten Kellerausgang. Ein Hilferuf scheint auch nicht möglich. Zunächst bleibt ihnen nichts anderes übrig als den Forderungen ihrer Bedroher nach zu kommen und sehen sich den scheinbar Leichtverletzten mit seiner Armverletzung an. Der Patient gibt sich als Pit aus und gibt stärkste Schmerzen im rechten Unterarm an, weshalb er auch eine Schonhaltung eingenommen habe, die ihn auch davon abhalten würde, seinem Kontrahenten noch mehr eine Abreibung zu verpassen. Da kommt Dennis eine Idee und er meint laut zu allen Anwesenden, man bräuchte zur Schmerztherapie ein Medikament, welches aber nur im RTW verlastet sei. Im Notfallrucksack hätte man nur Mittel für den Kreislauf. Er hat es zwar nicht wirklich selber geglaubt, aber die Aggressoren stimmen zu, helfen ihrem verletzten Kumpel auf und schubsen auch die beiden Retter die Treppe hinauf. Auch im Gastraum gelingt es Hendrik und Dennis nicht sich auf ihre Notlage aufmerksam zu machen, was wohl am Dämmerlicht, der lauten Musik und dem hohen Alkoholkonsum der Gäste liegt. Vor der Tür schließt Dennis den RTW auf, schiebt Hendrik in den Patientenraum hinein und ehe Hendrik die List erkennt hat der junge Kollege schon die Türe hinter sich zu gemacht und die Zentralverriegelung betätigt. Die überrumpelten Aggressoren sowie der gehfähige Patient erkennen schnell, dass sie gelinkt worden sind und quittieren es mit heftigen Schlägen und Tritten gegen den RTW. Hendrik informiert über Funk die Leitstelle über die eigene akute Notlage und fordert die Polizei mit Eile und einen weiteren RTW und NA an. Gerade als die Delinquenten mit einem Stuhl die Seitenscheibe des Behandlungsraums einschlagen, erreicht endlich die erste

15.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

107

­ olizeistreife die Einsatzstelle, woraufhin die „Übeltäter“ reiß aus nehmen. Weitere PoliP zeistreifen nehmen die Verfolgung auf. Hendrik und Dennis hingegen gehen umgehend mit den Polizeibeamten erneut in den Keller der Musikbar, um die Erstversorgung des immer noch bewußtlosen Patienten zu beginnen. Da sie aber keinen klaren Gedanken fassen können und auch die Polizei noch einige Fragen zum Geschehen hat, sind die Beiden froh, als sie vom nachrückenden RTW und NA abgelöst werden können. Die Befragung durch die Polizei und die Begutachtung des Schadens am RTW benötigt noch eine ganze Zeit. Keiner der anderen Partygäste zeigt sich beeindruckt und keiner will etwas mitbekommen haben. Im Gegenteil, insbesondere zu den Beamten fallen im Vorbeigehen einige herabwürdigende Bemerkungen. Gerade als sich die RTW-Besatzung nicht bei der Leitstelle als nicht einsatzklar melden will, hat eine Polizeistreife die Angreifer in der Nähe stellen können und bringen sie zunächst zur Musikbar, ehe es aufs Polizeirevier geht. Hendrik und Dennis werden gebeten sich den Mann mit der Armverletzung an zu sehen, ob eine Vorstellung im Krankenhaus notwendig ist. Der Patient lächelt etwas hämisch und tut so, als würde er die beiden Helfer nicht kennen. Es fällt den beiden daraufhin sehr schwer die nötige Professionalität zu bewahren. Da sie durch den demolierten RTW keinen Transport mehr vornehmen können, bitten sie die Polizei nach einer körperlichen Untersuchung und Schienung des Unterarms um einen selbständigen Transport in die nächste geeignete Klinik, zumal die Beamten eh noch eine Blutprobe des Patienten benötigen. Nach ihrer Rückkehr auf die Rettungswache bekommen Hendrik und Dennis noch die Aufgabe den Reserve-RTW in Betrieb zu nehmen und eine Ereignismeldung zu verfassen, bis dies erledigt ist, ist auch endlich der Feierabend gekommen … was für eine Nacht! Die Folgebesatzung kommt und wundert sich, warum der Reserve-RTW in Betrieb ist und fragt: Na, wie war die Nacht? Gab es was Besonderes oder war es ätzend wie immer Samstagnacht? …

15.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Hier wird ein Fall geschildert, der zwar außergewöhnlich ist, jedoch leider immer häufiger wird. Hendrik und Dennis geraten in mehrfacher Hinsicht in eine Situation, aus der sie sich nicht befreien können und nicht mehr Herr der Lage sind. Sie werden räumlich in die Enge gedrängt, verbal attackiert und auch mit dem Messer bedroht. Nur mit Glück gelingt es die beklemmende Situation im Keller zu verlassen und vor der Lokalität im RTW Schutz zu suchen. Dieser hält zwar den Aggressionen nicht stand, er schützt aber die beiden Helfer bis die Polizei eintrifft. Schlußendlich müssen sich die beiden Bedrohten sogar noch einmal um einen ihrer Peiniger kümmern, was ihnen jede erdenkliche Selbstdisziplin abverlangt. Sieht man die Nachrichten im Fernsehen, kann man sich diese Bedrohungslagen leider nahezu beliebig größer vorstellen: Gewaltsame Massenproteste, Geiselnahmen, Ammoklagen, Terrorattentate von kleineren Angriffen bishin zu katastrophalen Ausmassen.

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15 Bedrohungslage

Aus Respekt vor den Opfern dieser Gewalttaten wurde verzichtet hier eine entsprechende Gewalttat zu skizzieren, da sich auch durch dieses „kleine“ Ereignis einige Prinzipien der sogenannten Taktischen Medizin zeigen lassen. 1. Grundsätzlich sollte man stets insbesondere bei unübersichtlichen Einsatzstellen das komplette Equipment mitführen, da es sein kann, dass man längere Zeit nicht zu seinem Fahrzeug zurückkehren kann. 2. Die Schwelle zur Hinzuziehung der Polizei sollte niedrig sein. Gerade in gewaltbereiten aber noch nicht deeskalierten Situationen ist durch die Hinzuziehung möglichst mehrerer Polizeikräfte eine Deeskalation durch Überlegenheit erreicht werden. Lässt sich ein Gefahrenbereich definieren, sollte dieser nur durch geschütztes Polizeipersonal betreten werden, der Rettungsdienst kommt frühestens an einer Übergabestelle zum (teil-)sicheren Bereich zum Einsatz. Es kann notwendig werden von dieser Übergabestelle bis zur Krankenhausaufnahme ggf. mehrfach die vermeintlichen Patienten auf ihr Gewaltpotential hin zu überbprüfen. 3. Möglichst ist zu vermeiden in eine räumliche Enge zu gelangen, wie schnell es gehen kann und wie schwer vermeidbar es ist, zeigt jedoch der geschilderte Fall. Hilfreich sind hier entsprechende Trainings aus dem Bereich der Taktischen Medizin. 4. Hendrik und Dennis versuchen trotz Bedrängung einen argumentativen Ansatz der Deeskalation, doch leider werden diese Bemühungen nicht toleriert. Neben dieser deeskalierenden Kommunikation ist auf abwehrende oder auch offene aber keinesfalls provozierende Gesten zu achten, wie es auch in Schulungen erlernt werden kann. Die Mitführung von Pfefferspray oder anderen Waffen, wie es manchmal gefordert wird, hätte auch in dieser Situation die Gefahr der weiteren Eskalation gehabt, weshalb sie nicht grundsätzlich empfohlen werden können. Nur bei direkten Angriffen sind Versuche der aktiven Selbstverteidigung zu unternehmen. 5. Flucht bei Gefahr ist nicht feige, sondern ein Schutzmechanismus. Eigenschutz geht tatsächlich vor! 6. Ein, wenn nicht das wichtigste Element einer Schulung zu solchen Bedrohungslagen ist es nicht paranoid, aber konzentriert und fokussiert die Örtlichkeit und die Anwesenheit auf ihr Bedrohungspotential zu überprüfen und sich bei drohender Gefahr eher defensiv zu verhalten. 7. Eine solche Bedrohungslage ist ein extrem belastendes Ereignis, und daher ist es eigentlich nicht adäquat einfach ein Reserve-Fahrzeug in Betrieb zu nehmen und einen Bericht verfassen zu lassen. Die Betroffenen haben ein hohes Risiko für die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). 8. Es sind gemeinsame Übungen mit der Polizei zu fordern. Immer mehr Einsätze werden gemeinsam abgearbeitet und es gibt viele Inhalte und Vorgehensweisen, die durch gemeinsame Übungen noch deutlich optimiert werden könnten. 9. Fühlt sich ein Mensch ernsthaft bedroht, fällt es ihm sehr schwer handlungsfähig zu bleiben. Es setzen dann vermehrt Schutzinstinkte ein, die dann aber eher dem Selbsterhalt als der effektiven Abarbeitung des Szenarios dienen. Insbesondere bei größeren

Weiterführende Literatur

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Gewalttaten macht dies eine ansonsten etablierte Einsatzstruktur so schwierig. Umso bewundernswerter ist es, wie es schon viele Kollegen dieser Welt geschafft haben auch grausige Großereignisse zu bewältigen.

Weiterführende Literatur 1. Neitzel, Ladehof: Taktische Medizin, 2. Aufl. Springer

Plötzlicher Kindstod – Kommunikation mit Eltern

16

Inhaltsverzeichnis 16.1  Falldarstellung  16.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Literatur 

 111  118  119

16.1 Falldarstellung Was geschah …? Franz ist mit sieben Dienstjahren ein recht erfahrener Notarzt. Auch die Facharztprüfung Innere Medizin liegt schon fünf Jahre zurück. Mit großer Freude ist er als Notarzt tätig und verbringt zum Leidwesen seiner Familie auch viel Zeit außerhalb seiner Regeltätigkeit im Kreiskrankenhaus auf der Rettungswache. Seine Frau stört bei allem Verständnis für die Tätigkeit, dass Franz seine beiden Kinder, den 5jährigen Marcel und die knapp einjährige Mara so wenig sieht, zu offenen Konflikten kam es deswegen aber bisher nicht. Kurz nach Dienstbeginn am frühen Samstagmorgen im Januar ertönt bereits der Piepser und kündigt einen Notarzteinsatz an. Es handelt sich laut der Leitstelle um einen allgemein pädiatrischen Notfall, näheres ist nicht bekannt, der Anrufer sei sehr aufgeregt gewesen. Sieben Minuten später treffen zeitgleich das NEF und der parallel alarmierte RTW ein. Ein Mann steht barfüßig und nur mit einem Schlafanzug bekleidet auf der Strasse und winkt das Team herbei. In Franz steigt schlagartig ein ungutes Gefühl auf, als er den panischen Mann in etwa seinem Alter erblickt. Zügig betritt das Rettungsteam ausgestattet mit dem gesamten Notfallequipment das deutlich in die Jahre gekommene und überhitzt wirkende Einfamilienhaus. Im Hineingehen fallen Franz zwei Kinder im Kindergarten- bzw. Grundschulalter auf, die ebenfalls mit einem Schlafanzug bekleidet

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_16

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16  Plötzlicher Kindstod – Kommunikation mit Eltern

sind. Das Wohnzimmer ist offensichtlich provisorisch zum Schlafzimmer umgewandelt worden, vor dem a­ lten Kachelofen ist die Schlafcouch ausgeklappt. Franz fällt unmittelbar auf, dass der Raum durch den Kachelofen deutlich überhitzt ist, ihm treten sofort Schweißperlen auf die Stirn. Auf dem Bett liegt die Mutter weinend wimmernd mit einem in mehrere Decken eingehüllten Säugling, im Bett fällt etwas Erbrochenes auf. Die Mutter hält Franz das eingehüllte Baby entgegen. Er legt es auf das Bett und enthüllt es aus den Decken. Die Haut ist leicht bläulich verfärbt, insbesondere die Lippen, an denen noch eingetrocknetes Erbrochenes haftet. Es lassen sich weder Atmung noch Puls feststellen, so dass umgehend mit einer Basisreanimation begonnen wird. Folgende Informationen lassen sich halbwegs schnell eruieren, wobei es Franz wie eine Ewigkeit vorkommt: Es handelt sich um die vier Monate alte Lisa, sie hätte im Bett geschlafen und sei vor ca. 15  min leblos dort zwischen den Eltern aufgefunden worden. Sie sei bisher gesund gewesen, auch die Schwangerschaft sowie die Geburt seien unauffällig gewesen. Geschlafen hätte man im Wohnzimmer, weil die Zentralheizung mal wieder kaputt gegangen ist. Alle weiteren Familienmitglieder fühlen sich unwohl und haben leichte Kopfschmerzen, haben aber weder Husten noch Fieber. Die kleine Lisa erscheint warm, eine Totenstarre ist nicht offensichtlich ausgebildet, daher leitet Franz nervös das Team zur erweiterten Kinderreanimation an. In Franz Kopf schwirren die Gedanken umher und er hat eine zittrige Stimme, nur mühsam erinnert er sich an die Grundzüge des Algorithmus Kinderreanimation. Schon immer hatte er sich vor solch einer Situation gefürchtet, zudem erinnert ihn Lisa sofort an seine Tochter Mara. Die Thoraxkompressionen erscheinen ebenso wie die Maskenbeatmung adäquat. Nach wenigen Minuten gelingt Franz zu seiner Erleichterung sogar die endotracheale Intubation, über den Tubus lässt sich kein Sekret absaugen. Die erfahrene Rettungsassistentin Sarah bietet Franz bei nicht sichtbaren Venen eine intraossäre Punktion an. Franz ist kurz ablehnend, denn er hat noch nie eine solche Punktion vorgenommen, nachdem Sarah ihm anbietet die Punktion vor zu nehmen willigt er erneut erleichtert ein. Rasch werden über den intraossären Zugang wiederholt gewichtsadaptierte Dosen an Adrenalin gegeben, im EKG zeigt sich jedoch eine anhaltende Asystolie, in der Kapnographie zeigen sich anhaltend niedrige CO2-Werte.

Kinderreanimation nach ERC 2015

Für die meisten Notärzte und natürlich auch das nichtärztliche Rettungsdienstpersonal ist eine Kinderreanimation glücklicherweise ein sehr seltenes Ereignis, daher kann man in der Regel nicht von routinierten Handlungen sprechen. Eine gute Handlungshilfe in dieser Ausnahmesituation stellen hier die aktuellen Reanimationsleitlinien des ERC [1] dar. Notfall- und Rettungsmedizin 08/2015, S 934, Abb. 1 8 Lebensrettende Basismaßnahmen beim Kind. CRP Kardiopulmonale Reanimation, S. 948, Abb. 9 9 Erweiterte lebensrettende Maßnahmen beim Kind.

16.1 Falldarstellung

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„Paediatric basic life support“ Reaktion?

Hilferuf

Atemwege öffnen

keine normale Atmung?

5 initiale Beatmungen

Lebenszeichen?

15 Thoraxkompressionen

2 Beatmungen 15 Kompressionen

Verständigung des Notfallteams nach 1 min CPR

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16  Plötzlicher Kindstod – Kommunikation mit Eltern

Paediatric Advanced Life Support keine Reaktion keine Atmung/Schnappatmung?

CPR (5 initiale Beatmungen dann 15:2) Anbringen Defibrillator/Monitor Unterbrechungen minimieren

Reanimationsteam verständigen (Einzelhelfer zuerst 1 min CPR)

EKG Rhythmus beurteilen

defibrillierbar (VF/Pulslose VT)

1 Schock 4 J/kg

sofort weiterführen: CPR für 2 Minuten Unterbrechungen minimieren nach 3. und 5. Zyklus erwäge Amiodaron bei schockrefrakträrer VF/VT

nicht-defibrillierbar (PEA/Asystolie)

wiedereinsetzender Spontankreislauf

POST CARDIAC ARREST MASSNAHMEN ƒ ABCDE-Methode anwenden ƒ kontrollierte Sauerstoffgabe und Beatmung ƒ Untersuchungen ƒ Ursachen behandeln ƒ Temperaturkontrolle

während CPR ƒ optimale CPR: Frequenz, Tiefe, Entlastung ƒ Maßnahmen planen vor CPR Unterbrechung ƒ Sauerstoffgabe ƒ Gefäßzugang (intravenös, intraossär) ƒ Adrenalingabe alle 3-5 Minuten ƒ invasive Beatmung und Kapnographie erwägen ƒ ununterbrochene Herzdruckmassage sobald Atemweg gesichert ist ƒ reversible Ursachen beheben

sofort weiterführen: CPR für 2 Minuten Unterbrechungen minimieren

reversible Ursachen ƒ Hypoxie ƒ Hypovolämie ƒ Hyper/Hypokalämie, Metabolismus ƒ Hypothermie ƒ Herzbeuteltamponade ƒ Intoxikation ƒ Thrombose (cardial oder pulmonal) ƒ Spannungspneumothorax

Intraossärer Zugang In der Notfallmedizin hat der intraossäre Zugang bei schlechten Venenverhältnissen weite Verbreitung gefunden, nicht nur bei pädiatrischen, sondern auch erwachsenen Notfallpatienten. Grundsätzlich gibt es manuelle Nadeln und mechanische Systeme. Die mechanischen Schraubsysteme scheinen Vorteile durch ihre leichte Handhabung und somit zügige Durchführung Vorteile zu haben. Weiter werden für die unterschiedlichen Patientengruppen unterschiedliche Nadellängen angeboten. Am Häufigsten wird die proximale Tibia punktiert, weitere potentielle Punktionsstellen sind der mediale Malleolus sowie der Humeruskopf. Aus der militärischen Notfall-

16.1 Falldarstellung

115

medizin kommend gibt es auch Nadeln für die Punktion des Sternums, diese sind aber für den Einsatz im Rahmen der Reanimation ungeeignet. Grundsätzlich lassen sich alle Notfallmedikamente intraossär verabreichen. Eine forcierte Volumengabe ist meistens nicht oder nur unter Druck möglich. Auch hier ist eine fundierte Schulung zu Indikation, Risiken und Durchführung essentiell. Sichere/unsichere Todeszeichen Bei Vorliegen sicherer Todeszeichen ist von einer Reanimation egal welchen Patientenalters ab zu sehen. Dazu gehören: –– –– –– ––

Leichenstarre Leichenflecken Fäulnis Verletzungen die mit dem Leben nicht vereinbar sind

Die nicht sicheren Todeszeichen schließen hingegen einen Reanimationsversuch nicht aus, der Tod darf noch nicht im Sinne einer Leichenschau bestätigt werden. Zu den nicht sicheren Todeszeichen gehören: –– –– –– ––

Apnoe Pulslosigkeit Hypothermie Ausfall der Reflexe [2]

… so geht es weiter … Auch eine halbe Stunde nach Beginn der Reanimationsmassnahmen hat sich keine Verbesserung der Situation ergeben. Es stellt sich nicht nur bei Franz, sondern auch beim gesamten Team eine bleierne Ratlosigkeit ein. Sarah hat bereits parallel zu den Reanimationsmassnahmen über die Leitstelle ein Kriseninterventionsteam zur Betreuung der Eltern alarmieren lassen. Etwas scheu und ratlos blickt Franz in die Runde, niemand kann ihm scheinbar noch einen hilfreichen Ratschlag geben. Es fällt Franz sichtbar schwer die Notwendigkeit des Reanimationsabbruchs zu verbalisieren und als er es schließlich doch tut fällt es ihm schwer Worte zu finden und es schießen ihm die Tränen in die Augen. Beim ganzen Team nimmt er Erleichterung war, als er darum bittet die Reanimationsmassnahmen zu beenden. Die anwesenden Eltern von Lisa erscheinen zwar fassungslos und verzweifelt, aber Franz ist überrascht, dass die Eltern keine Fortführung der Wiederbelebung einfordern. Sie setzen sich weinend zu ihrer verstorbenen Tochter und streicheln ihr über das leblose Gesicht. Die Leitstelle lässt bei der Information über den Reanimationsabbruch nachfragen, ob die Polizei nachalarmiert werden soll und was für eine Todesursache vermutet wird. Franz

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16  Plötzlicher Kindstod – Kommunikation mit Eltern

ist nun völlig verunsichert, da er darüber noch gar nicht nachgedacht hat. Als Erstes kommt ihm der Plötzliche Kindstod in den Sinn, aber warum dann die Polizei? Franz ist froh, dass er in Baden-Württemberg als Notarzt nicht die ganze Leichenschau durchführen und die entsprechenden Dokumente ausfüllen muss. Gerade fertig trifft die Polizei ein und fragt relativ zügig ob Franz Hinweise für eine Kindesmisshandlung hätte, die zur Alarmierung der Polizei geführt hätte. Nachdem Franz dies konsterniert verneint wird gefragt warum er nur die Todesfeststellung ausgefüllt und nicht die gesamte Leichenschau durchgeführt hat, da man so noch einen weiteren Arzt bemühen müsse. Schließlich, so sagen die Beamten, denen die tragische Situation ebenfalls mehr als unangenehm ist, würde ja kein Unfall und eben auch wie Franz sagt keine Kindstötung vorliegen. Aber ist ein V.a. plötzlichen Kindstod wirklich eine natürliche Todesursache da ohne äußere Einwirkung? Oder „ungeklärt“ da Franz sich nicht sicher sein kann? Oder doch ein unnatürlicher Tod? Nach langen Diskussionen mit den Ermittlungsbeamten und dem Rettungsteam wird schlußendlich doch eine Meldung an die Staatsanwaltschaft gemacht. Nachdem ca. 10min später das Kriseninterventionsteam zu Betreuung der Eltern eintrifft verlässt Franz und seine Kollegen die Einsatzstelle mit einem mehr als unbefriedigenden Gefühl. Der Einsatz lässt ihn nicht los.

CO-Vergiftung

Das geschilderte Szenario lässt auch an eine Intoxikation mit Kohlenmonoxid denken: Die Zentralheizung ist ausgefallen, so dass ein Kachelofen in Betrieb genommen wird. Über die Funktion des Kamins ist nicht bekannt. Alle Familienmitglieder klagen über Unwohlsein und Kopfschmerzen, die Hinweis auf einen erhöhten CO-Gehalt in der Raumluft sein können. Weitere klinische Zeichen könnten Bewußtlosigkeit oder Krampfanfälle sein. Im Verdachtsfall ist es angezeigt den geschlossenen Raum sofort zu verlassen, dies wäre auch in diesem Fall gerechtfertigt gewesen. Im Rettungsdienst haben mittlerweile CO-Warngeräte weite Verbreitung gefunden, seitdem gibt es eine große Zunahme an Meldungen zu erhöhten CO-­ Konzentrationen. Allerdings schließt der fehlende Alarm des Messgeräts die erhöhte CO-Konzentration nicht definitiv aus, ggf. ist die Feuerwehr nach zu fordern. Diese kann ebenfalls und zuverlässiger den CO-Gehalt messen sowie einen weiteren Schaden durch eine Ursachensuche ausschließen. Die Gefahr durch Kohlenmonoxid besteht in der viel höheren Bindungsfähigkeit am Hämoglobin als von Sauerstoff. Daher besteht die notfallmedizinische Therapie auch in der Zufuhr maximaler Konzentrationen von Sauerstoff (Insufflation, nicht-invasive oder invasive Beatmung). In schweren Fällen ist eine hyperbare Sauerstofftherapie in der Druckkammer indiziert. Klinisch ist zu beachten, dass es bei einer CO-Vergiftung zu einer eher rosigen bis kirschroten Hautfarbe und nicht zu einer erwarteten Zyanose kommt, auch postmortal sind häufig die rötlichen Leichenflecken auffällig. [2]

16.1 Falldarstellung

117

Risikofaktoren Plötzlicher Kindstod [2] Der plötzliche Kindstod ist immer ein unerwartetes und somit schicksalhaftes Ereignis. Die Pathogenese ist weiterhin nicht geklärt, mehrere Theorien werden diskutiert. Allerdings wurden mehrere Risikofaktoren (die auch in diesem Fall teilweise vorlagen) identifiziert, die die statistische Wahrscheinlichkeit erhöhen, auch wenn es insgesamt ein glücklicherweise seltenes Ereignis bleibt. Zu den Risikofaktoren gehören: –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– ––

Bauchlage im Schlaf Alter der Mutter < 30 Jahre Alleinstehende Mutter Komplette Überdeckung Rauchen in der Schwangerschaft und in Gegenwart des Kindes Schwacher sozioökonomischer Status der Familie Mehr als drei vorangegangene Lebendgeburten Niedriges Geburtsgewicht Frühgeburtlichkeit Nicht-Stillen Co-Sleeping (Schlafen im Elternbett) Überwärmung

Viele kausale Zusammenhänge beim plötzlichen Kindstod sind noch nicht verstanden. Daher ist dringend die (rechtsmedizinische) Aufarbeitung dieser tragischen Fälle zu fordern, damit weitere Erkenntnisse gewonnen und optimalerweise protektive Aspekte identifiziert werden können. Anwesenheit der Eltern Über die Anwesenheit der Eltern bei Reanimationsmassnahmen an ihren Kindern wird viel, heftig und emotional diskutiert. Als Begründung die Anwesenheit nicht zu zu lassen, wird häufig der „unschöne Anblick“ der Maßnahmen genannt oder die Sorge die Eltern könnten die Reanimationsmassnahmen stören (was aber laut Fallberichten vergleichsweise selten der Fall ist). Hingegen berichten die Mehrzahl der verwaisten Eltern von tröstlichen Impulsen durch die Reanimationsbemühungen und die Transparenz bzw. die Information über die Massnahmen. Wenn man die Eltern warum auch immer hinaus bittet, muss man sie aber auf jeden Fall betreuen und kann sie nicht alleine lassen, insbesondere wenn ein Elternteil alleine ist, da sie sich in einer absoluten Ausnahmesituation befinden. In den ERC-Leitlinien wird ebenfalls die Anwesenheit der Eltern bei den Reanimationsmassnahmen empfohlen. [1]

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16  Plötzlicher Kindstod – Kommunikation mit Eltern

… das Ende des Falls In der Tat denkt Franz die kommenden Tage viel über den Einsatz nach und die traurigen Bilder von Lisa und ihren Eltern lassen ihn nicht los. Schlußendlich sucht er den Kontakt zum zuständigen Institut für Rechtsmedizin. Franz ist überrascht wie hilfsbereit und vorurteilsfrei man dort auf seine Fragen reagiert. Es wird bestätigt, dass Lisa dort obduziert wurde und dies auch angemessen war, denn schließlich sei ja eben die Todesursache nicht vor Ort klärbar gewesen und auch der Plötzliche Kindstod eine Ausschlußdiagnose ist. Daher sollten als Kinder mit dieser Verdachtsdiagnose obduziert werden, nicht zuletzt weil man sich so auch erhofft von dieser Entität mehr zu erfahren und es ist auch für die Eltern bei entsprechender Vermittlung ein tröstender Baustein in der Trauerarbeit zu wissen, dass man nichts falsch gemacht hat und der Tod nicht zu verhindern war. Etwas peinlich berührt ob seiner Wissenslücken bezüglich pädiatrischer Notfallsituationen und den allgemeinen Vorgaben rund um die Leichenschau nimmt sich Franz vor sich intensiv mit diesen Themen auseinander zu setzen, damit ihn solch ein Unsicherheitsgefühl nicht nochmals überwältigt.

16.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Haltung zu und Kommunikation mit den Eltern Es ist schwer in einer solch hoch komplexen, dynamischen und emotional besetzten Situation wie einer Kinderreanimation sich angemessen mit den Eltern auseinander zu setzen. Dabei ist es für das Rettungsteam schon einmal wichtig und hilfreich sich als „Schicksalsgemeinschaft“ mit den Eltern in dieser tragischen Situation zu verstehen. Man arbeitet nicht gegen, sondern mit den Eltern – dies sollte den Eltern gegenüber so auch verbalisiert werden. Ansonsten ist eine offene und ehrliche Art sowie eine transparente Information der Eltern sehr ratsam. Das Verstecken hinter medizinischen Fachausdrücken ist gegenüber der Bezugspersonen nicht hilfreich sondern sollte lediglich im Team für eine effektive interne Kommunikation genutzt werden. Auch wenn sich ggf. ein Verdacht aufdrängt, so ist auf jeden Fall von einem Vorwurf ab zu sehen, denn dies macht die Situation keinesfalls besser. Bestenfalls führt es zu einer Rechtfertigung der Eltern, ansonsten ist sogar eine weitere Eskalation der Situation zu befürchten. Es ist menschlich und für die Eltern daher auch hilfreich, wenn auch dem Rettungsteam mal die Worte fehlen und auch Emotionen gezeigt werden, man muss sich daher ihrer nicht schämen. Strategien im Umgang mit eigener Betroffenheit Wie im geschilderten Fall ist es zumeist nicht möglich in solch einem tragischen Fall unberührt zu bleiben, was Ausdruck unserer Menschlichkeit ist, die uns empathisches Auftreten ermöglicht. Man ist häufig dann besonders betroffen, wenn man subjektiv eine hohen Ähnlichkeit mit dem Patienten (gleiches Alter, Name, Beruf etc. …), den Angehörigen (Elternrolle etc. …) oder der Situation (ähnliches Ereignis, „flash back“) erkennt. Diese hohe Betroffenheit kann zu einem Gefühl der Blockierung führen, daher muss das Ziel der Erhalt der Handlungsfähigkeit sein. Hilfreich sind hier „Rituale“ wie ein 10-für-­10, ein Time-Out oder das strukturierte Abarbeiten von Handlungshilfen wie Algorithmen aus

Literatur

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den gängigen Leitlinien. Nach der Akutsituation ist es hilfreich und hoch an zu rechnen, wenn man zu der eigenen Betroffenheit steht und diese auch verbalisiert. Sicher ist dies kein Zeichen von Schwäche. Häufig wird auch geäußert, man hätte als Mitglied des Behandlungsteams nicht die Möglichkeit gehabt sich vom Verstorbenen zu verabschieden, was aber zumeist nicht nachvollziehbar ist. Ein kurzer persönlicher Abschied ist in der Regel möglich und sollte sich ggf. eingefordert werden. Second-victim-Phänomen Dieser Begriff erfährt eine zunehmende Bedeutung in der psychologischen Krisenintervention und ist Gegenstand vieler wissenschaftlicher Fragestellungen. Im Prinzip meint es, dass man sich bewußt machen sollte, dass es wie im beschrieben Fall nicht nur um den Patienten (als „Opfer“ geht), sondern auch um alle anderen Beteiligten, insbesondere die Eltern geht. Auch Mitglieder des Behandlungsteams können sich als „Opfer“ der Situation fühlen. Als hilfreich haben sich zwei Massnahmen erwiesen: –– Akzeptanz dieses Phänomens –– Der offene Umgang und eine ehrliche Kommunikation hierüber

Konfliktmanagement Die Zusammenarbeit mit der Polizei scheint in diesem Fall nicht unbelastet gewesen zu sein. Ehe es zu einer zunehmenden Kommunikationsstörung im Sinne eines Mißverständnisses kommt, sollte gehandelt werden: Zunächst ist es wichtig ruhig, emotionslos und objektiv zu bleiben und begründet zu argumentieren. Kommt es zu einer offensichtlichen Konfliktsituation, so ist der Mut ratsam dieses beklemmende Situation zu benennen und den Willen zu bekunden, die Situation rein rational abarbeiten will. So kann man sich in diesem Fall darauf berufen, dass der Verdacht auf einen plötzlichen Kindstod keine natürliche Todesart sein kann. Der plötzliche Kindstod ist per se eine Ausschlussdiagnose nach der Obduktion, in dem sich keine Hinweise auf eine andere Todesursache ergeben. Im geschilderten Fall kann an der Einsatzstelle ein Unfallereignis (wie bsp. eine CO-­Vergiftung) oder ein Tötungsdelikt (durch Mißhandlung) sicher ausgeschlossen werden. Daher ist die Todesart mindestens als ungeklärt an zu geben, zumal sich keine WHO-­ Kausalkette als Voraussetzung einer natürlichen Todesart herstellen lässt. Da eine nachweislich bewußt falsche Angabe der Todesart einen Straftatbestand darstellt, ist zum Eigenschutz auf die fachlich-richtige Klassifizierung der Todesart zu b­ estehen.

Literatur 1. Maconochie IK, Bingham R, Eich C, López-Herce J, Rodríguez-Núñez A, Rajka T, Van de Voorde P, Zideman DA, Biarent D (2015) Lebensrettende Maßnahmen bei Kindern („paediatric life ­support“). Notfall Rettungsmed 18:932–963 2. Ahne T, Ahne S, Bohnert M (2011) Kapitel 6 der Leitlinien zur Reanimation2015 des European Resuscitation Council in Rechtsmedizinische Aspekte der Notfallmedizin, Thieme

Leichenschau – Umgang mit Rechtsvorschriften

17

Inhaltsverzeichnis 17.1  Falldarstellung  17.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Weiterführende Literatur 

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17.1 Falldarstellung Was geschah … Sven, ein knapp 10 Jahre erfahrener Facharzt Innere Medizin und aktiver Notarzt, wundert sich, als er in der Klinik von der Polizei angerufen wird. Es ist die örtliche Kriminalpolizei, die Rückfragen zu einem Notarzteinsatz vor ca. drei Wochen hat. Man bittet Sven, vor seinem morgigen Spätdienst für ein Protokoll auf das Polizeirevier zu kommen. Sofort bekommt Sven „Bauchschmerzen“, um welchen Einsatz geht es wohl? Was hat er sich zu Schulden kommen lassen? Warum lässt es sich nicht am Telefon klären? Der Nachtschlaf ist auch dementsprechend knapp und verunsichert macht sich Sven am folgenden Vormittag auf den Weg zur Kriminalpolizei. Es ist schon ein komisches Gefühl, ansonsten kennt er das Polizeirevier nur von Notarzteinsätzen und hatte bisher einen kollegialen Umgang mit den Beamten. Es ging aber immer um Dritte, nun geht es um ihn, was ihm den Mund schon etwas trocken und das Herz schneller schlagen lässt. Herr Friedrich, ein Anfang fünfzigjähriger Sachbearbeiter der Kriminalpolizei lässt Sven nach einer kurzen Wartezeit ein. Herr Friedrich hat einige Fragen zu einem Notarzt­ einsatz am Samstagmittag vor drei Wochen in einem Kurzzeitpflegebereich eines Pflegeheims. Auch wenn es für Sven kein außergewöhnlicher Einsatz war, so hat kann er sich doch spontan daran erinnern:

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_17

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17  Leichenschau – Umgang mit Rechtsvorschriften

Gemeldet war eine bewußtlose Person. Es handelte sich um die fast achtzigjährige Frau Schneider. Sie hatte nach Angabe der Pflegekräfte bereits seit dem Morgen über Schmerzen im linken Bein geklagt und hätte daraufhin ein Analgetikum aus der Bedarfsmedikation erhalten, da sie wiederholt unter starken Schmerzen nach zwei Lendenwirbelkörperund einer Beckenfraktur litt. Im Verlauf sei es zu Luftnot und kurz darauf, aber unbeobachtet, zum Kollaps der eigentlich in einen Pflegestuhl mobilisierten Patientin gekommen. Nun liegt Frau Schneider am Boden und ist leblos. Sichere Todeszeichen liegen noch nicht vor, trotzdem zögert Sven mit dem Beginn der Reanimationsmassnahmen beim fortgeschrittenen Patientenalter, der scheinbar vorbestehenden Pflegebedürftigkeit und ausgeprägten Vorerkrankungen. Unterlassen einer Reanimation

Das nichtärztliche Personal ist immer dann angehalten eine Reanimation zu beginnen, so lange keine sicheren Todeszeichen vorliegen. Bei Ärzten ist es deutlich differenzierter zu betrachten: Natürlich sollten auch Ärzte beim Vorliegen sicherer Todeszeichen nicht reanimieren, sie können aber auch schon eher von einer Reanimation absehen: Zum Einen wenn es eine Willensbekundung des Patienten gibt, die einer Wiederbelebung entgegenspricht. Zum Anderen kann der Arzt auf eine Reanimation verzichten, wenn er keinen Aussicht auf Erfolg mehr sieht. Dies muss aber natürlich gut begründet werden, sollten zum Beispiel die Hinterbliebenen im Nachhinein diese Entscheidung anzweifeln. Weiter gibt es noch andere Sonderfälle, die gegen die Einleitung einer Reanimation sprechen: Beispielsweise wäre es kontraindiziert, wenn der Patient nicht zugänglich ist (Bsp. Einklemmung) oder die Gefahr für die Helfer zu groß ist (Bsp. Brandereignis). Auch bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV) muss zumeist in der Initialphase von Reanimationsbemühungen abgesehen werden, so lange noch nicht genügend Helfer vor Ort sind. Patienten der Sichtungskategorie Rot und Gelb (Transport- und Behandlungspriorität) ist vor den blauen Patienten (Reanimation bzw. sterbend) Priorität ein zu räumen. Dies ist leicht in der Theorie fest zu legen, in der Praxis ist es eine mehr als bittere Entscheidung.

… so geht es weiter … Eigentlich zur Todesfeststellung wird von der parallel eingetroffenen RTW-Besatzung ein EKG angelegt. Für Sven überraschend zeigt sich dort eine Schmalkomplex-PEA mit etwa 160/min. Daraufhin lässt Sven doch mit Reanimationsmassnahmen beginnen, da er eine reversible Ursache für den Kreislaufstillstand vermutet und sich zudem noch vom Patientenwillen Frau Schneiders ein Bild machen will. Es gibt wohl laut der Pflegekräfte eine Patientenverfügung, die aber erst aus der Heimverwaltung geholt werden muss. Währenddessen führt Sven parallel zu den Reanimationsmassnahmen eine fokussierte Notfallsonographie durch, um die reversiblen Ursachen nach den ERC-Leitlinien ab zu

17.1 Falldarstellung

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arbeiten. Für die grundsätzliche Reversibilität spricht, dass sich sonographisch eine schwache tachykarde Pumpfunktion zeigen lässt, die jedoch mit keinem tastbaren Puls einhergeht. Bedeutung einer sonographisch nachweisbaren Mykardkontraktion für die Reanimations-Prognose

Studien konnten zeigen, dass es unter den Patienten mit einer PEA grundsätzlich zwei Gruppen gibt. Patienten ohne jede Kontraktionszeichen in der Notfallsonographie des Herzens haben die gleiche schlechte Prognose wie Patienten mit einer Asystolie. Zeigen sich in der Sonographie zumindest eine schwache Kontraktion, ist die Prognoseerwartung ähnlich „gut“ wie bei Patienten mit einem Kammerflimmern. Eine PEA mit Kontraktionszeichen ist ein wichtiger Hinweis auf das Vorliegen einer potentiell reversiblen Ursache (4 H, HITS nach ERC s.u.).

… so geht es weiter … Sven geht strukturiert durch: –– Hypoxie: Zwar klagte die Patientin über Atemnot vor ihrem Kollaps, sie lässt sich jetzt aber gut mit 100 % Sauerstoff beatmen und die tachykarde PEA spricht nicht für eine Hypoxie als Ursache. Für ein Bolusgeschehen gibt es auch keine Hinweise. –– Hypovolämie: Es lässt sich sonographisch weder intraabdominell noch intrathorakal freie Flüssigkeit nachweisen, die Vena cava inferior erscheint er weit. –– Hypo-/Hyperkaliämie: Eine Messung der Elektrolyte ist präklinisch nicht möglich, besondere Risikofaktoren liegen wohl aber nicht vor. –– Hypothermie: Im geschlossenen Raum ist eine Hypothermie als Reanimationsursache wohl ausgeschlossen, auch hier passt zudem der Herzrhythmus nicht. –– Herzbeuteltamponade: Während der Rhythmusanalyse im Rahmen der Reanimation kann Sven eine Herzbeuteltamponade sonographisch ausschließen. –– Intoxikation: Zwar hat Frau Schneider kurz vor ihrem Kollaps 10 mg Morphin oral aus der Bedarfsmedikation erhalten, jedoch hatte sie die selbe Dosis bereits mehrfach vorher erhalten. –– Thromboembolisches Ereignis: Anamnestisch spricht nichts für einen Myokardinfarkt, auch hier wäre eine tachykarde PEA unüblich, aber statistisch wäre eine Myokardinfarkt die wahrscheinlichste Ursache. Zu einer Lungenembolie würde die PEA passen und auch die vorausgehenden Beinschmerzen als Indiz für eine tiefe Beinvenenthrombose sowie die Dyspnoe vor dem Kollaps. In der Sonographie erscheint der rechte Ventrikel weit, aber eine schwere Rechtsherzbelastung, wie für die Lungenembolie typisch, lässt sich unter der Reanimation nicht ausschließen. –– Spannungspneumothorax: Sonographisch kann ein Pneumothorax ausgeschlossen werden.

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17  Leichenschau – Umgang mit Rechtsvorschriften

Potentiell reversible Ursachen des Kreislaufstillstandes

Seit weit über 10 Jahren werden in den Kursen des ERC die potentiell reversiblen Ursachen mit der Merkhilfe 4 H und HITS unterrichtet. Im angloamerikanischen Bereich spricht man von den 4 H und 4 T, es sind aber die gleichen Begriffe. Bei jeder Reanimation sollte nach Abarbeiten der wichtigsten Massnahmen wie effektive Herzdruckmassage und Beatmung mit Atemwegssicherung, ggf. Defibrillation, Installation eines Gefäßzugangs und erster Medikamentengabe gemeinsam im Team die potentiell reversiblen Ursachen diskutiert werden. Somit wird auch ein gemeinsames mentales Modell und somit eine verbesserte Situation Awareness zur Ursache erreicht. … so geht es weiter … Kurz darauf ist eine Pflegekraft mit der Patientenverfügung zurück. In dieser steht, dass dann von Reanimationsmassnahmen Abstand zu nehmen sei, wenn eine neurologische Erholung nicht mehr zu erwarten sei. Sven bespricht sich daraufhin mit seinem Team und stellt dann die Reanimation ein, da es sich primär um einen unbeobachteten Kreislaufstillstand ohne folgende Laienreanimation handelt. Es ist mit einer „no-flow time“ von mindestens gut 10 Minuten zu rechnen. Zudem zeigten auch die vergangenen ca. 10 Minuten mit ALS-Massnahmen keinen Erfolg. Abbruch einer Reanimation

Es kann keine klare Empfehlung gegeben werden, nach welcher Zeit die Reanimationsmassnahmen eingestellt werden sollten. In den ersten Minuten ist die Wahrscheinlichkeit für eine Rückkehr des Spontankreislaufs (ROSC) am Höchsten. Es gibt jedoch auch Patientengruppen, die von einer verlängerten Reanimationsdauer profitieren (insbesondere Hyopthermie oder Intoxikationen). Natürlich muss auch der Patientenwille Berücksichtigung finden, sobald dieser plausibel und verlässlich bekannt wird. So oder so muss der Abbruch einer Reanimation immer einer verantwortungsvolle Einzelfallentscheidung bleiben, die in ihrer Verantwortung dem anwesenden und verantwortlichen Arzt vorbehalten ist. Grundsätzlich ist diese schwerwiegende und mitunter sehr belastende Entscheidung im Team zu diskutieren. Es ist grundsätzlich ratsam so lange fort zu fahren, bis ein Konsens für diese Entscheidung erreicht werden konnte. … so geht es weiter … Da Sven in Baden-Württemberg tätig ist, sollte er von seinem Recht Gebrauch machen und nur eine Todesfeststellung dokumentieren und keine Leichenschau durchführen, um möglichst schnell wieder seine Einsatzbereitschaft für weitere Notfälle her zu stellen. Sven kennt jedoch die schwierige Situation mit dem für die Leichenschau an Wochenenden zuständigen Kassenärztlichen Notdienst. Dieser kennt Frau Schneider genau so wenig wie Sven und müßte erst auch noch über die ergriffenen Massnahmen unterrichtet werden. Da auf dem NEF ein Dokumentensatz für die Leichenschau mitgeführt wird, füllt Sven diese

17.1 Falldarstellung

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­ okumente aus um die erneute Leichenschau durch den Kassenärztlichen Notdienst zu verD meiden. Da er längere Zeit erfolglos reanimiert hat, kann er die Leichenschau auch gleich durchführen und muss nicht auf sichere Todeszeichen warten. Die betreuende Pflegekraft freut sich über dieses unbürokratische Vorgehen, zumal sie sich wünscht, dass nicht wie beim letzten plötzlichen Todesfall auch noch die Polizei involviert wird. Sven winkt beruhigend ab, denn er sieht keinen Hinweis für einen unnatürlichen Todesfall sondern hält aufgrund der Anamnese und der Befunde eine Lungenembolie für die w ­ ahrscheinlichste Todesursache und trägt es auch so als WHO-Kausalkette und natürliche Todesart in die Dokumente ein …. Leichenschau

Die Leichenschau und die damit verbundene Dokumentation ist in Deutschland Ländersache. Dies bedeutet, dass jedes Bundesland sein eigenes Bestattungsgesetz und weitere Verordnungen erlässt. In Österreich und der Schweiz sind die Vorgaben nochmal anders. Dies führt unter den Ärzten zu einer großen Unsicherheit, insbesondere wenn es Einsätze über Ländergrenzen hinweg gibt. Es bleibt nichts Anderes übrig als sich früh- und vorzeitig mit dieser Thematik und den vor Ort geltenden Regularien kundig zu machen. Geschieht dies erst im konkreten Einsatzfall, ist es meisten für eine praktikable und v. a. rechtssichere Durchführung zumeist zu spät. Dokumente Für die Dokumentation einer Leichenschau (bzw. die Todesfeststellung ohne Ursachenfeststellung in manchen Bundesländern), existieren vorgefertigte Formularsätze, die benutzt werden müssen. Die Einträge müssen korrekt und die Angaben lesbar sein, ansonsten liegt formell bereits eine Ordnungswidrigkeit vor. Daher ist es auch hier sehr ratsam, sich vorzeitig mit diesem Dokumentensatz zu beschäftigen und bestenfalls vorab mal einen Satz „zur Probe“ für einen fiktiven Patienten aus zu füllen. Todesart In den Dokumenten zur Leichenschau wird eine Angabe der Todesart verlangt, die dann auch unmittelbar praktische Konsequenz hat. Natürliche Todesart: Hierbei muss der tödliche Verlauf einer vorbestehenden schweren Erkrankung ohne Einwirkungen Dritter erkennbar und plausibel begründbar sein. Dies ist im Rahmen der WHO-Kausalkette zu dokumentieren. Todesart ungeklärt: Es gibt zwar keine Hinweise für einen nicht-natürlichen Tod in der Situation vor Ort bzw. im Rahmen der Leichenschau, aber er kann auch mangels weiterer notwendiger Informationen über den Patienten und seine Krankengeschichte nicht ausgeschlossen werden. In solchen Fällen oder bei nicht identifizierbaren Leichen ist die Polizei zu verständigen. Nicht-natürliche Todesart: Hierzu gehören Unfälle aller Art, Selbsttötungen oder Hinweise auf eine Fremdeinwirkung. Die Leichenschau ist sofort ab zu brechen und entsprechend in den Dokumenten zu erfassen, um die Spurenlage nicht unnötig zu verändern. Selbstverständlich ist sofort die Polizei zu informieren.

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17  Leichenschau – Umgang mit Rechtsvorschriften

… so endet der Fall Eigentlich hat Sven den Einsatz in recht guter Erinnerung und ist weiterhin im Glauben, richtig im Sinne der Patientin gehandelt zu haben. Ganz so einfach ist es nicht meint Herr Friedrich von der Kriminalpolizei. Er fragt ob Sven Einsicht in die Pflegeunterlagen und den wohl beigelegten Arztbrief genommen habe bzw. ob er den Versuch unternommen hätte den Hausarzt von Frau Schneider zu kontaktieren. Beides muss Sven verneinen, denn für ihn war auch so die Sache recht klar und die Zeit drängte, daher hatte er von weiteren Recherchen abgesehen. Herr Schneider fragt, ob er wüßte, dass er laut Bestattungsgesetz bzw. Bestattungsverordnung Baden-Württemberg im Rahmen der Leichenschau verpflichtet sei sich einen Überblick über die Krankengeschichte zu verschaffen. Zähneknirschend und bereits peinlich berührt nickt Sven, so etwas hatte er schon einmal bei einem Fortbildungsvortrag gehört. Herr Friedrich berichtet, dass sich die Hinterbliebenen an die Unfallversicherung von Frau Schneider gewandt hätten in dem Glauben, sie hätten Anspruch auf eine Versicherungsleistung. Drei Wochen zuvor war die bis dahin sehr rüstige und für ihr Alter kerngesunde (es ist nur eine arterielle Hypertonie und eine Hypercholesterinämie bekannt) Frau Schneider bei einer ihrer Fahrradtouren von einem Auto erfasst worden, welches ihr die Vorfahrt genommen hat. Dabei hatte sich Frau Schneider die beiden Lendenwirbelkörper und das Becken gebrochen. Aufgrund der immobilisierenden Schmerzen war Frau Schneider dann gut zwei Wochen in stationärer Krankenhausbehandlung. Eine Operationsindikation bestand bei stabilen Frakturen nicht, aber die Schmerztherapie war eine große He­ rausforderung. An eine kurzfristige Rückkehr in ihre eigene kleine Wohnung im dritten Obergeschoss war nicht zu denken, und bedingt durch die anhaltenden Schmerzen bestand auch keine Rehabilitations-Potential. So suchten die Angehörigen von Frau Schneider einen Platz in der Kurzzeitpflege für sie, wo sie erst vier Tage vor ihrem Versterben ein Bett ergattern konnte. Die Unfallversicherung nahm wiederum im Auftrag der Hinterbliebenen Kontakt mit der Polizei bzw. der Staatsanwaltschaft auf um zu klären, ob die Schuldfrage des Unfalls eigentlich endgültig geklärt sei. Dahinter steht, ob man nicht den Autofahrer in Regress nehmen könnte. Der Staatsanwalt war daraufhin gar nicht erfreut, dass der Tod Frau Schneiders bis dahin nicht aktenkundig wurde. Dies besitzt nämlich dahin absolute strafrechtliche Relevanz, weil sich dadurch der Tatvorwurf von der fahrlässigen Körperverletzung auf fahrlässige Tötung erhöhen könnte. Daraufhin wurden die Ermittlungen deutlich ausgeweitet: Gutachter wurden beauftragt zu klären, ob es sich wahrscheinlich wirklich um eine Lungenembolie bei tiefer Beinvenenthrombose (TBVT) gehandelt hat. Wenn ja, liegt der Verdacht nahe, dass die TBVT in kausalen Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen steht, da bis zum Unfall Frau Schneider keineswegs immobil, sondern vielmehr sehr agil war und somit nur ein niedriges Risiko aufwies, eine spontane TBVT zu entwickeln. Über die Rechtsmedizin wird derzeit geklärt, ob es Sinn machen würde die zwischenzeitlich beigesetzte Frau Schneider zu exhumieren und gerichtlich zu obduzieren. Im Rahmen dieser Ermittlungen kamen dann auch der mit den Ermittlungen betrauten Kriminalpolizei die Leichenschaudokumente sowie das Notarztprotokoll von Sven in die Finger.

17.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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Für Herrn Friedrich und seine Kollegen macht es den Eindruck, dass Sven zwar die vermeintlich richtige Todesursache herausgefunden, aber nicht den Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen antizipiert hat. In den Augen des Staatsanwalts wäre diese ­Informationsbeschaffung durch Einsicht in die Pflegeakte und den darin abgehefteten Entlassbrief des Krankenhauses aber durchaus zumutbar gewesen. Daher wurde die Polizei beauftragt zu ermitteln, ob es sich dabei um eine Fahrlässigkeit (umgangssprachlich Schlampigkeit) und somit eine Ordnungswidrigkeit handelt. Oder sogar noch schlimmer: Für Sven nicht hilfreich ist die Aussage der Pflegekraft, sie hätte Sven gebeten die Polizei heraus zu lassen. Er habe sie daraufhin beruhigt und die Kreuzchen „an die richtige Stelle“ gemacht. Somit liegt die Beweislast nun bei Sven, dass er die falsche Kategorisierung der Todesart wirklich nur fahrlässig und nicht mutwillig vorgenommen hat, denn ansonsten droht ihm ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Verschleierung einer Straftat, Dokumentenfälschung, Irreführung der Behörden und ggf. Bestechlichkeit. Sven zieht es förmlich den Boden unter den Füßen weg, weil er nicht weiß, wie er es beweisen soll, dass er alles nur richtig, gut und fachlich korrekt machen wollte. Er hatte doch keine böse oder gar kriminelle Absicht. Warum hat er sich denn nur nicht an den gut gemeinten Rat des ärztlichen Leiters des Notarztstandortes gehalten und nur die Todesfeststellung ohne Ursachenfeststellung gemacht, wie es ihm das Gesetz in seinem Bundesland zugesteht? Weil er weiteren Aufwand und bürokratische Hürden vermeiden wollte, doch diese ehrenhafte Absicht nützt ihm nun nichts. Die Sachlage ist klar: Wer eine Leichenschau durchführt, muss sich gewissenhaft machen, sowohl bei der Untersuchung des Leichnams als auch in der Beschaffung aller notwendigen Informationen im Rahmen der Zumutbarkeit.

17.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Bei diesem Fallbericht sollte es eigentlich gar nicht nur um die möglichen Strafandrohungen bei einer inkorrekten Leichenschau gehen. Vielmehr geht es um das tägliche Spannungsfeld zwischen Medizin und den scheinbar unüberschaubaren rechtlichen Vorschriften. Diese betreffen nicht nur die Leichenschau, sondern man denke beispielsweise auch an das BTM-, Transfusions- oder Infektionsschutzgesetz. Man könnte die Liste der Gesetze, Verordnungen und Vorgaben noch beliebig erweitern. Nur die allerwenigsten Menschen brechen bewußt und vorsätzlich Gesetze, vielmehr geschieht es unbeabsichtigt oder lediglich fahrlässig. Aber das schützt ja bekanntlich vor Strafe nicht. Und davor hat fast jeder Angst: Gegen eine Vorgabe zu verstoßen und dann dafür bestraft zu werden. Und diese Angst lähmt! Sie sorgt zu Weilen zu einer extremen Vermeidungshaltung, die nicht immer nur protektiv und gut ist, sondern auch dafür sorgt, dass wir weit hinter unseren Möglichkeiten und unserer Performance zurück bleiben. Auf der einen Seite geben uns Gesetze Halt und Struktur, sie sagen was gut und falsch ist, was Menschen in der Regel schätzen. Die Sorge davor aber etwas falsch zu machen und dafür bestraft zu werden macht uns zurückhaltend und ablehnend. Es soll hier keinesfalls dazu aufgerufen werden

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17  Leichenschau – Umgang mit Rechtsvorschriften

Gesetze zu mißachten, im Gegenteil. Vielmehr soll eben die Angst vor Sanktionen thematisiert werden. Es ist übrigens die gleiche Angst, mit der auch die Versicherungen viel Geld verdienen. Aber was kann man nun gegen diese Angst tun? Wie immer hilft auch hier gute Vorbereitung: Bei wie vielen Formalitäten zögern wir, weil wir nicht genau darüber Bescheid wissen und daher uns sorgen Fehler mit entsprechenden Konsequenzen zu begehen. Natürlich kostet es unangenehm viel Aufwand und Mühe sich mit diesen, ggf. ganz persönlichen, Schwachstellen zu beschäftigen. Hat man sich aber erst einmal überwunden und besitzt dann die entsprechende Sachkenntnis, so kann man befreiter agieren (sprich die persönliche Performance voll ausspielen), da man weiß wie man die Regularien korrekt umsetzt und wie man Fehlhandlungen und konsekutiv Sanktionen vermeiden kann.

Weiterführende Literatur 1. Ahne T, Ahne S, Bohnert M (2010) Rechtsmedizinische Aspekte der Notfallmedizin, 1. Aufl. Thieme, Stuttgart 2. Bestattungsgesetz Baden-Württemberg. http://www.landesrecht-bw.de/jportal/?quelle=jlink&query=BestattG+BW&psml=bsbawueprod.psml&max=true&aiz=true 3. Bestattungsverordnung Baden-Württemberg. http://www.landesrecht-bw.de/jportal/?quelle=jlink&query=BestattV+BW&psml=bsbawueprod.psml&max=true

Motorradunfall – Auf einer Sache beharren

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Inhaltsverzeichnis 18.1  Falldarstellung  18.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Literatur 

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18.1 Falldarstellung Was geschah … Manfred war nun schon seit vielen Jahren als Notarzt im Rettungsdienst tätig. Er hatte bei unzähligen Einsätzen sich einen breiten und soliden Erfahrungsschatz erarbeitet. Er hatte also nicht nur die verschiedensten Krankheiten und Verletzungen gesehen und zu behandeln gelernt, sondern er fühlte sich auch sicher im Umgang mit zwischenmenschlichen Belangen was Teamarbeit anbelangt. Ein guter Teamplayer zu sein, war ihm schon immer wichtig gewesen; auf andere einzugehen schien ihm eine Frage des gegenseitigen Respekts. Kein Wunder also, dass ihm die Aussage eines Rettungsteams beim Debriefing so nachging. Vor einigen Tagen hatte er da zu hören bekommen, er reisse die Führung stark an sich und wolle alles alleine machen. Dabei wären unter den Teammitgliedern sehr hohe fachliche Kompetenzen und manuelle Fähigkeiten vorhanden gewesen. Manfred nahm sich diese Kritik sehr zu Herzen. Das wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Bei den nächsten Einsätzen würde er mehr Wert auf diesen Aspekt legen. Er hoffte also auf baldige Gelegenheiten, seinen guten Vorsatz umsetzen zu können. Und da kam dieser Einsatz: Mitten am sonnigen Nachmittag wurde ein schwerer Motorradunfall gemeldet. Das Team von Manfred wurde zur Unterstützung nachgefordert. Vor Ort waren bereits ein Rettungswagen und Polizei. Auf dem Weg zum Einsatz nahm sich Manfred fest vor, sich ins Team zu integrieren und entscheidende Aufgaben auch an Kollegen zu delegieren. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_18

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18  Motorradunfall – Auf einer Sache beharren

Beim Eintreffen an der Unfallstelle zeichnete sich schnell ab, dass der Patient offensichtlich ein sehr schweres Trauma erlitten hatte. Der Fahrer lag in einem Waldstück circa 30 Meter von seinem Motorrad entfernt auf der Strasse. Das Motorrad war schwer deformiert, überall lagen Trümmerteile des Fahrzeugs. Am teilweise entkleideten Patienten waren zwei Rettungssanitäter beschäftigt. Der Patient war tief bewusstlos und er atmete schnarchend mit normaler Frequenz. Die Rettungssanitäter hatten bereits eine Sauerstoffmaske mit Reservoir installiert und es lag ein venöser Zugang am rechten Unterarm. Insgesamt war die Situation unübersichtlich; viele Taschen und Einsatzrucksäcke lagen neben dem Patienten, die meisten geöffnet. Das Rettungsteam war stark gefordert, weil viele Aufgaben gleichzeitig erledigt werden sollten, aber die Zeit knapp war. Da Manfred die beiden Rettungssanitäter nicht kannte, stellte er sich vor und fragte kurz nach deren Kompetenz und wer die Führung über diesen Einsatz habe; das hatte er sich so vorgenommen. In Abspreche mit dem RS A, der den Einsatz führte, wurde eine Anästhesieeinleitung und Intubation vorbereitet. Manfred sah zwar schwierige anatomische Verhältnisse, aber er war ja Anästhesist und konnte gut intubieren. Trotzdem wies RS A darauf hin, dass bei diesem adipösen Patienten mit Blut im Atemweg und unter Inline-Stabilisierung die Intubation eventuell nicht einfach sein würde. Manfred sah sich in der Lage, dies bewältigen zu können. Nach Gabe von Hypnotikum und Muskelrelaxans wurde zunächst eine kurze Maskenbeatmung zur Präoxygenierung durchgeführt. Die anschliessende Intubation aber gelang Manfred nicht trotz Verbesserungsmassnahmen (BURP-Maneuver, Führungsstab). Glücklicherweise kam es nicht zu einem Abfall der Sauerstoffsättigung. Der Patient wurde zwischenbeatmet, was gut möglich war. Manfred lies sich noch nicht aus der Ruhe bringen. Er machte sich nun auf eine tatsächlich schwierige Intubation gefasst, zur Lagerungsverbesserung unterlegte er den Kopf des Patienten mit einem Kleidungsstück. Auch jetzt war die Intubation schwierig. Unter der Epiglottis waren die Aryknorpel kaum mehr zu erkennen. Er lies den Führungsstab leicht aus dem distalen Ende des Tubus herausschauen und intubierte ohne direkte Sicht auf den Larynxeingang „blind“. Eine grosse Erleichterung trat bei Manfred und seinen Kollegen ein, als auf dem Monitor eine typische CO2-Kurve erkennbar wurde. Der Tubus lag also am richtigen Ort.

Präklinische Intubation

Die Indikationsstellung zur präklinischen endotrachealen Intubation fällt manchmal auch erfahrenen Notfallmedizinern schwer. Jede Einsatzsituation unterscheidet sich gegenüber den anderen; regelmässig gilt es eine komplexe Situation einzuschätzen und verschiedene entscheidende Faktoren zu berücksichtigen. Die Narkoseeinleitung und Intubation gehört zu den komplexesten Massnahmen in der Präklinik [1]. Sie sollte deshalb nur von Personen durchgeführt werden, die darin ausreichende Erfahrung haben. Schon der erste Schritt, die Entscheidung, ob überhaupt intubiert

18.1 Falldarstellung

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werden soll, setzt Erfahrung in dieser Situation voraus. So wird die Indikationsstellung durch folgende Punkte beeinflusst: –– Erfahrung des Personals –– Zeitbedarf des Einleitungsvorgangs –– Atemwegssituation des Patienten (grundsätzlich konstitutionell, aktuell durch Notfallereignis) –– Umgebungsbedingungen (Licht, Lärm, räumliche Verhältnisse) –– Gefährdung der Kreislaufsituation durch Einwirkung der Anästhesiemedikamente –– Notwendigkeit der invasiven Atemwegssicherung (z. B. respirator. Insuffizienz) In der Literatur finden sich Angaben, wann eine endotracheale Intubation sinnvoll erscheint oder sogar als „state-of-the-art“ empfohlen wird. Dies sind z.B. die S3-Leitlinien zur Schwerverletztenversorgung [2]. Hier werden schlechte Oxygenierung, hämodynamische Instabilität als Indikationen zur Intubation aufgezählt. Klare Empfehlungen bei nicht traumatologischen Patienten finden sich weniger [3]. So wird z. B. der positive Effekt dieser Massnahme im Rahmen einer Reanimation infrage gestellt [4]. Die Literatur gibt also keine konkrete Empfehlung wieder für den Grossteil der Notfalleinsätze [1]. In der Praxis sind z. B. eine fragliche Aspirationsgefährdung oder die intensive Analgesie häufige Gründe, dass man sich zur Intubation entschliesst. Bei genauerer Betrachtung der Studien kann man erkennen, warum es so schwierig ist, generelle Empfehlungen auszusprechen. Die oben genannten Punkte stellen einen entscheidenden Bias dar. So wird sich ein Anästhesist, welcher seit Jahren täglich Intubationen durchführt, eher dazu entschliessen und diese Massnahme auch mit geringerer Gefährdung für das generelle Outcome des Patienten bewerkstelligen. Wenn man beim Schädelhirntrauma im Einleitungsvorgang konsequent auf eine stabile Kreislauflage achtet und somit einen ausreichenden Perfusionsdruck sicherstellt, wird man die neurologische Situation nicht verschlechtern. Vorausgesetzt man vermeidet ebenso eine unnötige Hypokapnie [5, 6]. Wenn man auf ein effizientes Zeitmanagement beim Intubationsvorgang achtet, wird man insgesamt keine Zeit verlieren, denn die Massnahme hätte dann im Schockraum auch gleich viel Zeit in Anspruch genommen. Es ist also nicht der manuelle Vorgang der Intubation allein für einen Nutzen des Patienten entscheidend, sondern es müssen die verschiedenen Aspekte berücksichtigt werden, die sich in den Literaturangaben finden. Gerade die Medikamentengabe zur Anästhesieeinleitung muss den Qualitätsansprüchen genügen und erfordert routinierten Umgang mit diesen Substanzen bei vital gefährdeten Patienten [5, 7]. Verschiedene nationale Fachgremien haben deshalb Vorgaben veröffentlicht, dass präklinisch der gleiche Qualitätsstandard gegeben sein soll, wie bei innerklinischen Notfallpatienten [8, 9]

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18  Motorradunfall – Auf einer Sache beharren

… so geht es weiter … Nun war sich Manfred wieder seiner Sache sicher. Er hatte sich kollegial gezeigt und konnte seine langjährige Erfahrung zur Anwendung bringen. Das tat gut. Bei der Auskultation des Patienten stellt RS B fest, dass er am linken Thorax nur ein abgeschwächtes Atemgeräusch hören kann. Manfred erklärt, dieses sei sicher durch das Thoraxtrauma bedingt, schliesslich habe der Patient ja linksseitig deutliche Prellmarken. Er war einfach froh, das bedrohliche Atemwegsproblem gelöst zu haben und sah für den Patienten nur eine gute Überlebenschance, wenn er jetzt so schnell wie möglich ins Spital transportiert würde. Also wurde alles für den Abtransport bereit gemacht. Als man nach wenigen Minuten mit dem Patienten zum RTW gehen wollte, fiel die Sauerstoffsättigung von 97 % auf immer tiefere Werte bis 87 %. RS B wies darauf hin, dass da etwas nicht stimmte. Bei Verdacht auf eine einseitige Intubation zog Manfred den Tubus auf 26 cm am Mundwinkel zurück; weiter zurück wollte er sich nicht wagen, denn schliesslich war er froh, dieses Problem gelöst zu haben. Ausserdem: der Patient gehörte so schnell wie möglich ins Spital. Im RTW installiert, machte das Team nochmals einen kurzen Überblick über die Situation. Die Sauerstoffsättigung war immer noch nicht über 88 % angestiegen und auch weiterhin konnte Manfred links kaum ein Atemgeräusch hören. Er hatte den Verdacht auf einen Pneumothorax bei diesem Trauma und untersuchte auf verdächtigen Klopfschall. Das Untersuchungsresultat war für ihn nicht eindeutig. Also punktierte er die linke Thoraxhälfte mit einer Kanüle, weil ihm ein beginnender Pneumothorax unter Beatmung riskant erschien.

Indikation zur Thoraxentlastung präklinisch

Der Spannungspneumothorax ist ein akut lebensbedrohlicher Zustand. Durch den zunehmenden Druckanstieg in der betroffenen Thoraxhälfte kommt es zu einer Beeinträchtigung des venösen Rückflusses (Schock) und einer Verschiebung von Trachea und Kompression der nicht betroffenen Thoraxhälfte (respiratorisches Versagen). Klinische Zeichen sind insbesondere im präklinischen Bereich oft schwierig zu erkennen. Jedes abgeschwächte Atemgeräusch bei der Auskultation ist bei einem Thoraxtrauma verdächtig auf einen beginnenden Spannungsthorax. Der hypersonore Klopfschall ist je nach akustischen Verhältnissen an der Einsatzstelle schwierig zu erkennen. Gestaute Halsvenen treten nicht auf, wenn der Patient begleitend eine hypovoläme Kreislauflage hat, was gerade beim Traumapatienten fast regelmässig vorhanden ist [10, 11]. Durch eine perkutane Punktion der betroffenen Seite soll eine Druckentlastung erreicht werden. Dadurch wird schnell erreicht, dass der venöse Rückstrom wieder hergestellt wird und die Kreislaufsituation sich sofort verbessert. Bei einer Überdruckbeatmung wird nach Entlastung des Pleuraraumes auch wieder eine Ventilation der Lunge möglich. Die Punktion erfolgt z. B. mit Hilfe einer grossen venösen Kanüle; der Erfolg der Massnahme ist am Entweichen von Luft zu erkennen. Punktionsort ist die Medioklavikularlinie oberhalb der Mamillen (ideal 2./3. Interkostalraum). Häufig reicht aber die Länge des Venenkatheters nicht aus oder er disloziert gar im weiteren Ein-

18.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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satzverlauf [12]. Deshalb wird in aktuellen Richtlinien die Einlage einer Thoraxdrainage via Minithorakotomie in der vorderen Axillarlinie empfohlen [13]. Vor Thoraxentlastung muss auf jeden Fall die korrekte Tubuslage verifiziert werden. Bei zu tief liegendem Tubus liegt dieser meist im rechten Hauptbronchus und ein abgeschwächtes oder fehlendes Atemgeräusch lässt fälschlicherweise einen Pneumothorax vermuten.

… so geht es weiter … Endlich, so meint Manfred, ist der Patient transportbereit. Das ganze hatte ihm viel zulange gedauert. Ein schweres SHT gehört sofort in die Klinik. 50 Minuten nach Eintreffen am Unfallort war er endlich mit dem Patienten im Schockraum des nahe gelegenen Zen­ trumspitals. Er übergab den Patienten mit den Worten: „Patient ca. 50 Jahre, schweres Polytrauma nach Motorradunfall, A intubiert und im HWS-Kragen immobilisert, B beatmet, bei schwerem Thoraxtrauma rechts abgeschwächtes Atemgeräusch und weiter Sauerstoffsättigung um 90 % auch nach Punktion wegen V. a. Pneumothorax, C unter mässiger Volumengabe stabiler Kreislauf, keine äusseren Blutungen von Bedeutung, D initialer GCS ca. 8, Pupillen bds. Mittelweit, E Motorradunfall, Helm sehr deformiert“ Das Schockraumteam beschliesst schnell ein FAST und ein Thoraxröntgen durchzuführen. Es zeigt sich keine freie Flüssigkeit im Bauchraum, die Lunge ist links minderbelüftet, kein Pneumothorax erkennbar, der endotracheale Tubus liegt 1 cm unterhalb der Carina im rechten Hauptbronchus. Darauf wird sofort der Tubus um 3  cm zurückgezogen, innerhalb weniger Minuten steigt die Sauerstoffsättigung auf 98 % an. Manfred, der das Geschehen mitverfolgt hat, erkennt schnell, dass er hier keine professionelle Arbeit geleistet hat. Und nicht genug: Der Schockraumleader wirft ihm deutlich vor, dass er völlig ohne Indikation eine Thoraxentlastung durchgeführt habe und nicht primär die Tubusfehllage in Erwägung gezogen habe. … das Ende des Falles Unzufrieden kehrt Manfred zur Wache zurück. Dieser Einsatz ist ja völlig daneben gegangen, findet er. Eigentlich ein Einsatz, wie er für einen erfahrenen Notarzt Routine sein sollte und wo er mit seiner Erfahrung hätte gute Leistung bieten können. Und dann passiert ihm ein solcher Anfängerfehler: einseitige Intubation! Lange grübelt er darüber nach, was zu dieser Fehlleistung geführt hat.

18.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Manfred war sich seiner Sache sicher, als er in diesen Einsatz ging. Er hatte ausgiebige Erfahrung als Notarzt und bemühte sich um gute Teamleistung. Einsätze wie diesen hatte er schon viele erlebt und im Atemwegsmanagement hielt er sich als Anästhesist auch für

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kompetent. So brachte ihn die schwierige Intubation zunächst nicht aus der Ruhe. Er kannte die Vorgehensweise bei solchen Fällen. Wahrscheinlich war ihm garnicht bewusst, wie fest er den anderen Teammitgliedern seine Kompetenz beweisen wollte. „Kompetenzschutz“ ist eine Verhaltensweise, die man bei allen Menschen und allen Situationen beobachten kann. Es ist uns ein Bedürfnis, gegenüber Anderen den Eindruck zu erwecken, dass wir Bescheid wissen und der Lage gewachsen sind. Der Eine hat dieses Bedürfnis mehr, der Andere weniger. Manfred war froh, dass der Tubus am richtigen Platz lag. Er hatte die schwierige Intubation bewältigt und wollte nicht, dass das jetzt hinterfragt würde. Denn das Hinterfragen lösste Unsicherheit aus und bedeutete somit zusätzlichen Stress. Im Einsatz bei der Patientenversorgung müssen Probleme gelöst werden und Entscheidungen sind gefragt. Dazu können zwei unterschiedliche Strategien eingesetzt werden, die man als System 1 und 2 definiert. System 2 ist der rationale überlegte Ansatz. Man hat genügend Zeit und Ressourcen, um logische und strukturierte Planungen und Entscheidungsvorgänge durchzuführen. So können z. B. zuerst ausreichend Informationen eingeholt werden, bevor daraus dann Konsequenzen erfolgen. Das kostet eben Zeit und Energie. Mentale Kapazitäten werden in Anspruch genommen. Dazu hat man unter Zeitdruck im Notfalleinsatz oft nicht die ausreichenden Ressourcen. Wir spüren, dass unsere verfügbaren mentalen Möglichkeiten eingeschränkt sind und greifen auf schnelle reflexartige Handlungsweisen zurück: System 1-Strategie. Diese System 1 Prozesse sind schon lange in unserer Entwicklungsgeschichte etabliert und haben sich in vielen Stresssituationen bewährt. Im Stress versuchen wir unsere Ressourcen zu schonen. Dies geschieht fast ausschliesslich unbewusst. Solche Verhaltensweisen geschehen blitzartig schnell, ohne dass wir es überlegen oder wollen. Diese ­reflexartigen Verhaltensweisen nennt man „Heurismen“. Heurismus heisst, eine Lösung für ein Pro­blem finden. Diese Strategien können sehr schnell zu einer Problemlösung führen. Da sie aber unüberlegt sind und in der Regel keine logische rationale Grundlage haben, stellen sie potentiell auch nicht die richtige Lösung dar. „Dieses Problem ist jetzt gelöst, ich möchte das nicht weiter hinterfragen!“ reduziert vielleicht den Stress beim Betroffenen, weil er ein Problem weniger hat. Wenn aber die Sachlage gegen den Lösungsansatz spricht, macht es durchaus Sinn, wenn die Entscheidung oder Massnahme hinterfragt wird. So soll z. B. ein einmal eingeschlagener Weg beibehalten werden. Es erscheint uns effizienter, dass wir eine Lösung gefunden haben, anstatt weiter darüber nachzudenken und andere Optionen in Betracht ziehen zu müssen. Manfred ist hier der Meinung, dass er den Intubationsvorgang korrekt durchgeführt hat und somit dieses Problem gelöst ist. Eine schlechte Sauerstoffsättigung kann also für ihn nicht an der Tubuslage liegen, sondern muss andere Gründe haben. Ein „Fixierungsfehler“ tritt hier auf. Wenn der Betroffene sehr autoritär auftritt und seine Führungsrolle über das Teamwork stellt, wird hier ein falscher Weg nicht nur eingeschlagen. Er wird weiterverfolgt und dieser Irrweg kann dann gravierende Folgen haben.

Literatur

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Andere Beispiele von Heurismen sind: „Das habe ich schon einmal gesehen, das kenne ich“. Bekannte Situationen vermitteln uns Sicherheit und reduzieren den Stress. Ich meine weniger nachdenken zu müssen, denn Informationen müssen nicht mehr eingeholt werden. Sie scheinen ja bereits vorhanden zu sein. Ich weis, was ich zu tun habe. Die aktuelle Situation wird also dem aus der Vergangenheit Bekannten angepasst und es erfolgt nicht die objektive Orientierung an der vorliegenden Realität. „Was häufig ist, tritt auch häufig auf“. Ähnlich wie die vorherige Heuristik nehme ich von vorneherein etwas an. Was mir als erstes zu der Situation als passend in den Sinn kommt, wird hier auch zutreffend sein. Ein übergewichtiger Raucher mit Brustschmerzen wird eine Angina pectoris haben. Das ist wahrscheinlich und ich gehe zunächst mal nicht von anderen Differentialdiagnosen aus. Dies führt noch weiter in den Irrweg, wenn aktuelle Daten dann passend dazu interpretiert werden (z. B. radiologische oder laborchemische Befunde). Letzteres wird dann als Bestätigungsfehler bezeichnet. „Ich bin der sehr Erfahrene. Ich weis, was zu tun ist“. Diese Einstellung ist selbstverständlich sehr individuell und hängt von der jeweiligen Persönlichkeit ab. Sie wird aber beeinflusst von der Arbeitskultur im Team. Wenn alle regelmässig trainieren und erleben, dass gemeinsame Überlegungen zu einer Leistungsverbesserung beitragen, dann kann auch der Erfahrene diesen Vorteil erkennen. Hier können gerade Mitarbeiter mit grosser Erfahrung in Simulationstrainings viel dazulernen. Wie kann man Heurismen minimieren oder gar verhindern? Eine Möglichkeit ist ein Time-out. Es erfolgt ein kurzer Stop und die aktuelle Sachlage wird durch objektive Datenerhebung evaluiert Delegiert der Teamführer möglichst viele Aufgaben an seine Mitarbeiter, so hat er mehr mentale Kapazität, um strukturiert denken zu können. Seine mentale Performance wird gesteigert Checklisten und Algorithmen dienen ebenfalls einer Informationserhebung. Man geht nicht primär von einer Hypothese aus, sondern sammelt systematisch Fakten. Hat eine Massnahme (z. B. Medikamentengabe) keinen Effekt, sollte die zugrundeliegende Überlegung hinterfragt werden. Diese einfachen Hilfsmittel können wirkungsvoll dazu beitragen, dass sich durch „Bauchentscheide“ im System 1 nicht Fehler einschleichen. Da die reflexartigen heuristischen Verhaltensweisen aber tief in uns verankert sind, ist eine gründliche Bewusstmachung und Übung z. B. in Simulationstrainings erforderlich. Sonst fallen wir immer wieder in unsere gut geübten alten Muster zurück.

Literatur 1. Lockey DJ, Crewdson K, Lossius HM (2014) Pre-hospital Anaesthesia: the same but different. BJA 113(2):211–219 2. Hilbert-Carius P et al (2017) Versorgung von Schwerverletzten (Mar). Anaesthesist 66: 195–206

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18  Motorradunfall – Auf einer Sache beharren

3. Bernhard M et al (2015) Handlungsempfehlung zur prähospitalen Notfallnarkose beim Erwachsenen. Notfallmedizin up2date 10:185–207 4. Andersen L et al (2017) Association between tracheal intubation during adult in-hospital cardiac arrest and survival. JAMA 317:494–506 5. Perkins ZB, Gunning M, Crilly J, Lockey D, O’Brien B (2013) The haemodynamic response to pre-hospital RSI in injured patients. Injury 44:618–623 6. Wijayatilake DS, Jigajinni SV, Sherren PB (2015) Traumatic brain injury: physiological targets for clinical practice in the prehospital setting and on the Neuro-ICU.  Curr Opin Anesthesiol 28:517–524 7. Vopelius-Feldt J, Benger JR (2013) Prehospital Anaesthesia by a physician and paramedic critical care team in Southwest England. Eur J Emerg Med 20:382–386 8. The Association of Anaesthesists of Great Britain and Ireland. Guidelines for Pre-hospital Anaesthesia. Available from http://www.aagbi.org/sites/default/files/prehospital_glossy09.pdf. Accessed 14 Feb 2014 9. Berlac P, Hyldmo PK, Kongstad P et al (2008) Pre-hospital airway management: guidelines from a task force from a task force from the Scandinavian Society for Anaesthesiology and Intensive Care Medicine. Acta Anaesthesiol Scand 52:897–907 10. Höch A, Hammer N, Brandmaier P, Josten C, Fakler J (2015) Nadeldekompression des Thorax. Notfallmedizin up2date 10:4–8 11. Roberts DJ, Leigh-Smith S, Faris PD et al (2015) Clinical presentation 0f patients with tension pneumothorax: a systematic review. Ann Surg 261:1068–1078 12. Britten S, Palmer SH, Snow TM (1996) Needle thoracocentesis in tension pneumothorax: insufficient cannula length and potential failure. Injury 27(5):321–322 13. Unfallchirurgie, D.G.f. S3-Richtlinie Polytrauma/Schwerverletztenbehandlung. 2016. Registernummer 012–019. Im Internet: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/II/012-019.html; Zugegriffen am 10.01.2017

Internistischer Notfall – Unterforderung

19

Inhaltsverzeichnis 19.1  Falldarstellung  19.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Literatur 

 137  142  143

19.1 Falldarstellung Was geschah …? Reto ist ein begeisterter schweizer Diplom -Rettungssanitäter. Vor knapp zwei Jahren hat er seine Ausbildung abgeschlossen und arbeitet seither in einem ländlichen Rettungsdienstbereich. Er hätte ja lieber einen Job in der Stadt angetreten, der ihn mehr fordern würde: Mehr Einsätze allgemein und somit auch eine höhere Anzahl an schwerwiegenden Einsätzen. Er suchte die Herausforderung in seiner Arbeit, fast noch mehr als privat. Er ist recht belesen und besucht fleißig auch nach dem Abschluss seiner Ausbildung viele Fortbildungen. Seine Kollegen scherzen manchmal, warum er denn nicht besser Medizin studiert hätte. Diese Anmerkungen schmeicheln ihn zwar und er versteht es zumeist als Lob. Es macht ihn jedoch zugleich verlegen, denn er hatte selbst schon diesen Plan gehegt, schlechte Abschlußnoten in der Schule verwehrten ihm aber vorerst diesen Berufswunsch. Heute fährt Reto wieder zusammen mit dem älteren Transporthelfer Kurt Tagdienst auf dem Rettungswagen auf einer ländlichen Aussenwache. Manchmal nervt Kurt zwar Reto, weil er lieber keinen Einsatz fährt und lieber auf der Wache bleibt, Fortbildungen liegen nicht gerade im Zentrum seines Interesses. Bewundernswert ist jedoch, daß Kurt scheinbar absolut und immer in sich selbst ruht. Die einsatzfreie Zeit verbringt er mit dem Bau seiner heißgeliebten Modellflugzeuge, für Reto wäre diese für ihn langweilige und filigrane Arbeit gar nichts.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_19

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19  Internistischer Notfall – Unterforderung

Schnell und routiniert ist nach Schichtbeginn der RTW gecheckt, dann beginnt das Warten auf den ersten Einsatz. Reto versucht sich mit Essen, einem Nickerchen und ein paar Fachzeitschriften den Tag zu vertreiben, aber er verspürt eine zunehmende Unruhe. Der Piepser bleibt über viele Stunden stumm, Reto bemerkt dass die Langeweile an ihm zehrt und auch zu zunehmender Unzufriedenheit mit seiner Arbeitsstelle führt. Kann ihn denn niemand verstehen? Er wünscht ja seinen Mitmenschen kein Unheil, aber er will unter Beweis stellen, was er weiß und kann. Als er nachmittags mal wieder eine Tasse Kaffee einschenkt und sich langsam damit schmerzlich abfindet, dass er mal wieder eine sogenannte Nullschicht machen wird, ertönt der Alarmpiepser. Im Nachbardorf wird ein unklarer internistischer Notfall auf der Strasse gemeldet. Nach knapp 10 min Anfahrt trifft das Rettungsteam ein. Von Passanten betreut liegt der 76-jährige Herr Schneider auf dem Gehsteig. Die Ersthelfer berichten, dass Herr Schneider als Fußgänger stehen blieb und dann prompt und annähernd tonuslos zusammensackte. Erst nach ca. 1 min kam er wieder langsam zu sich. Als Reto seinen Notfallrucksack öffnet um mit der Erhebung der Vitalparameter zu beginnen, steht Kurt schon mit der Fahrtrage hinter ihm und drängt darauf, die weitere Versorgung im RTW vorzunehmen. Reto fühlt sich als Fahrzeugführer zwar etwas überrumpelt, willigt dann jedoch ein. Herr Schneider gibt dann im RTW liegend an, er könne sich alles nicht erklären, ihm fehle weiter nichts, nur etwas schlapp fühlt er sich. Der Blutdruck ist mit 105/78 mmHg zufriedenstellend, die Pulsfrequenz liegt bei 63/min. An Vorerkrankungen weiß Herr Schneider nur von einem Bluthochdruck und einer nicht weiter differenzierten Herzschwäche, als Dauermedikation nimmt er regelmäßig und zuverlässig ein Schleifendiuretikum, ein Thiazid und einen ACE-Hemmer ein. Auf weitere Nachfrage gibt Herr Schneider an vor ca. 10 Wochen schon einmal ohnmächtig geworden zu sein, damals sei das Wetter ähnlich sonnig und heiß gewesen wie heute. Reto fragt Herrn Schneider, ob er denn heute schon genug getrunken hätte. Verschmitzt bekommt er die Antwort des älteren und gepflegt wirkenden Herrn Schneider er trinke keinen Alkohol vor 18 Uhr und vom Alkohol abgesehen sei es heute augenscheinlich zu wenig gewesen. Diese Informationen reichen für Kurt für die Spitalanmeldung im nächstgelegenen kleinen Regionalspital mit der Arbeitshypothese Synkope. Ohne weiter auf Anweisungen von Reto zu warten, setzt sich Kurt auf den Fahrersitz und gibt während der Fahrt über das Diensthandy dem Spital bescheid. Reto ist über das eigenmächtige Verhalten von Kurt etwas verärgert, aber er ist von ihm nichts Anderes gewohnt, für Kurt steht nicht die Behandlung, sondern der Transport stets im Vordergrund. Dennoch lässt Reto Kurt gewähren, denn er ist selbst etwas genervt, dass es sich schon wieder nur um eine Synkope als Einsatzanlass handelt. Aber eine kleine Hoffnung bleibt, vielleicht bekommen sie in der dichter besiedelten Kleinstadt des Regionalspitals ja noch einen interessanten Folgeeinsatz. Nach 22 Minuten Transportzeit wird das Zielspital erreicht. Kurt und Reto helfen im Notfall Herrn Schneider auf die Ambulanzliege, Herr Schneider ist auch nicht mehr so blass wie zuvor. Kurt bringt schnurstracks die Trage wieder ins Auto, während Reto auf die diensthabende Ärztin wartet. Mit großer Freude hatte Reto auf dem Dienstplan am Eingang gesehen, dass die junge und nicht unattraktive Ärztin Laura heute Dienst hat, auf die er schon bei anderen Gelegenheiten ein bewunderndes Auge geworfen hatte. Als sie

19.1 Falldarstellung

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mit wehendem Kittel und etwas genervt an die Liege von Herrn Schneider tritt, beginnt Reto mit seiner Übergabe. Er erzählt stolz von seinen anamnestischen Erkenntnissen und den erhobenen Vitalparametern. Laura notiert die Angaben fleißig auf den Aufnahmebogen. Reto beschleicht schon ein seltsames Gefühl, als er merkt wie schnell er mit seiner Übergabe fertig ist, da fragt Laura nicht unfreundlich aber messerscharf nach: –– Ist ein 12-Kanal-EKG abgeleitet worden? Ist Herr Schneider im Sinusrhythmus oder gibt es Rhythmusstörungen? Gibt es ischämieverdächtige Erregungsrückbildungsstörungen? –– Wie hat sich der Blutdruck während des Einsatzes weiterentwickelt? –– Wie ist die Körpertemperatur und v. a. der Blutzucker? –– Gab es körperliche Zeichen der Herzinsuffizienz wie Knöchelödeme oder feuchte Rasselgeräusche? –– Wurden in letzter Zeit Veränderungen in der Dauermedikation vorgenommen, wie etwa das Diuretikum erhöht, was eine Exsikkose erklären würde? –– Wurden beim Bodycheck Begleitverletzungen festgestellt? –– Gab es Auffälligkeiten in der neurologischen Untersuchung wie Zungenbiss, Einnässen oder fokalneurologische Defizite? –– Wie verbrachte Herr Schneider die letzten Minuten vor seinem Kollaps? War er angestrengt oder hatte er sich gerade gebückt? War er längere Zeit der Sonne ausgesetzt? –– Wurde ein venöser Zugang gelegt und bereits Laborblut abgenommen? –– … Synkope[1] Im Kap. „23“ wurde bereits detailliert auf die Synkope eingegangen. An dieser Stelle sei nur für die weiterführende Recherche zu dem Thema an die Leitlinie der europäischen Dachorganisation für Kardiologie (European Society of Cardiology – ESC) hingewiesen. Akutes Koronarsyndrom ACS [2, 3] Auch hier gibt es natürlich eine ausführliche Leitlinie des ESC. An dieser orientiert sich schließlich dann auch die Leitlinie des European Resuscitation Council zu diesem Thema. Manche Dinge sind dort recht in Stein gemeißelt, andere Aspekte sind noch in aktueller Diskussion und die Empfehlungen werden regelmäßig nachjustiert. Grundsätzlich ist die Aufteilung des Akuten Koronarsyndroms in seine verschiedenen Entitäten zu beachten: Zudem bietet es sich für jeden Notfallmediziner an sich über die lokal-regionalen Vereinbarungen zwischen den Kliniken und die Abläufe in diesen Häusern zu informieren: Welcher Patient wird innerhalb welcher Zeit, wo, wie einer PCI oder Lyse zugeführt. Praktisch macht es keinen Sinn gegen solche gültigen Abmachungen zu arbeiten, da von Sonderwegen der Patient nur selten profitiert, dafür aber viel Unmut

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19  Internistischer Notfall – Unterforderung

entsteht. Alle Entscheidungsträger in den angeschlossenen Kliniken sind zumeist sehr bemüht die aktuellen Leitlinien auf die lokalen Gegebenheiten zu übertragen. Was zuletzt sehr in der Diskussion war sind u. a. folgende Aspekte: –– Die Bedeutung auch des neu aufgetretenen Rechtsschenkelblocks als Ischämiezeichen. –– Die Bedeutung des Betablockers in der Initialtherapie wurde deutlich herab gesetzt. –– Die Bedeutung welches Biomarkers (Bsp. hsTroponin) in welcher Konzentration wie Rechnung zu tragen ist. –– Welches Antithrombin initial zu verabreichen ist, in Deutschland wird aktuell zumeist weiterhin das unfraktionierte Heparin in der Initialphase gegeben. –– Welcher ADP-Rezeptor-Inhibitor (Clopidogrel usw.) wann gegeben werden sollte und für welche Patientengruppe Vorteile gegenüber anderen Produkten dieser Substanzklasse hat. Auch die Verwendung von Morphin zur Analgesie, Anxiolyse und leichter Vorlastsenkung ist in Verruf geraten, da es mit den ADP-Rezeptor-Inhibitoren interagiert. Zum Zeitprunkt dieser Manuskripterstellung wird empfohlen Opioide nur noch bei starken Schmerzen zu verabreichen, und dann auch eher Fentanyl (wobei geklärt werden muss, ob es nicht die gleichen Interaktionen hat wie das Morphin). Zur Anxiolyse ist neben der menschlichen Zuwendung eher ein Benzodiazepin zu verabreichen. Es bleibt dem Anwender nichts anderes übrig als interessiert die aktuellen Entwicklungen in den ESC-Leitlinien zu verfolgen, bzw. sich mit den regionalen kardiologischen Abteilungen über deren bevorzugte Strategie aus zu tauschen. Hypoglykämie Eine Hypoglykämie kann prinzipiell verschiedene Ursachen haben: –– Verminderte Kohlenhydratzufuhr bzw. verminderte Bereitstellung aus der Glukoneogenese (Leber). –– Übermäßige Insulinzufuhr –– Übermäßiger Glukoseverbrauch Notfallmedizinisch relevant ist hauptsächlich die akzidentell zu hohe oder suizidale Verabreichung von Insulin ohne nachfolgende Nahrungsaufnahme. Ab welchem Glukosespiegel es zu klinischen Zeichen kommt ist interindividuell unterschiedlich. Bei Vigilanzminderung ist eine intravenöse Glukosegabe notwendig (Cave: Glukose ist venen- und gewebereizend, daher muss die paravasale Lage ausgeschlossen sein und währenddessen auch eine Hintergrundinfusion „im Schuss“ laufen. Früher wurde gefährdeten Patienten auch ein Glukagonset für die s.c.-Gabe verschrieben, was heute aber nicht mehr üblich ist. Bei vigilanzgeminderten Typ 1 -Diabetikern ist auch stets aktiv nach einer Insulinpumpe zu suchen.

19.1 Falldarstellung

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Herzinsuffizienz Beim Patienten im geschilderten Fall ist eine Herzschwäche bekannt, auch die Dauermedikation ist hierfür passend. Die Diuretikagabe (Schleifendiuretikum plus Thiazid) kann eine intravasale Hypovolämie (im Sinne einer Exsikkose s.u.) auslösen. Es muss auch an eine akute Verschlechterung der Herzinsuffizienz gedacht werden. Die aufnehmende Klinik sollte kurzfristig in der Lage sein sonographisch die Pumpfunktion und den Volumenstatus zu erheben. Ebenso kann mit dem laborchemischen proBNP-wert den Grad der Volumenbelastung im Herz ermittelt werden. Auch hierfür gibt es natürlich eine regelmäßig aktuelle ESC-Leitlinie. Klappenvitium Für die geschilderte Symptomatik könnte auch ein progredienter Herzklappenfehler sein, in diesem Alter wohl eher degenerativer Genese. Insbesondere für Aortenklappenstenosen sind Synkopen nicht unüblich. Auch für diese Abklärung ist in der Zielklinik ein Herzultraschall notwendig. Exsikkose Im geschilderten Fall kann es wie oben schon besprochen durch die Diuretika zu einer klinisch relevanten Hypovolämie (plus Elektrolytentgleisung) kommen. Zusätzlich wird bei schwerer Niereninsuffizienz häufig eine Trinkmengenbegrenzung ausgesprochen, was aber wohl hier nicht der Fall ist. Mit zunehmenden Patientenalter geht auch das Durstgefühl verloren, so dass die Trinkmenge geriatrischer Patienten oft schon von allein herabgesetzt ist. Kommt es dann zu erhöhten Volumenverlusten wie starkes Schwitzen durch febrile Körpertemperaturen oder hohe Außentemperaturen, kann sich eine klinisch relevante Exsikkose entwickeln. Als diagnostisches Zeichen werden hier stets die „stehenden Hautfalten“ genannt, welche aber nicht immer zu finden sind. Ein weiterer einfacher diagnostischer Test zur Bewertung der intravasalen Hypovolämie ist der sogenannte „passive leg raise test“. Hierbei wird in Flachlagerung der Blutdruck gemessen. Dann werden die Beine des Patienten angehoben oder das Bett/die Trage in Schocklagerung (Trendelenburg Lagerung) gebracht und nochmals der Blutdruck gemessen. Kommt es zu einem deutlichen Anstieg des Blutdrucks hat man einen Hinweis auf einen intravasalen Volumenmangel. Zur genaueren Bewertung hilft auch hier die Sonographie weiter, hierzu wird die Weite und das Verhalten der Vena cava inferior bestimmt. Neurologisches Ereignis Verursachend für die beschriebene Symptomatik könnte auch ein neurologisches Ereignis sein. Dabei ist nach Hinweisen für einen stattgehabten Krampfanfall (Zungenbiss, Einnässen, postiktale Vigilanzminderung, anamnestische Hinweise) zu suchen. Ebenso wäre eine kurzzeitige cerebrale Minderperfusion denkbar. Sollte es hierfür weitere klinische Hinweise geben, sollte in der aufnehmenden Klinik eine fachneurologische Vorstellung und ggf. eine cerebrale Bildgebung (ggf. CCT-Angio) und/oder ein Duplex der hirnversorgenden Gefäße zum Ausschluss einer relevanten Gefäßstenose erfolgen.

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19  Internistischer Notfall – Unterforderung

… das Ende des Falls Nun wurde es Reto fast schwarz vor Augen, er merkt, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht steigt und er sich wie ein begossener Pudel fühlt, denn er kann keine von Lauras absolut nachvollziehbaren Fragen beantworten. Ach würde doch jetzt nur sein Piepser zum nächsten Einsatz rufen, aber diese Hoffnung bleibt unerfüllt. Er stammelt und stottert, nur um nicht zugeben zu müssen, dass er diesen Routineeinsatz nicht sauber abgearbeitet hat. Reto hat das Gefühl auf voller Linie versagt zu haben, sein eigentlich hart erarbeitetes Kompetenzgefühl ist für heute dahin. Da klopft Kurt an die Scheibe der Notfallambulanz und ermahnt zum Aufbruch, nicht zum nächsten Einsatz, sondern zu Dienstübergabe an die Nachtschicht. Reto ist dennoch froh um sich der peinlichen Situation vor Laura zu entziehen und verlässt mit einem flüchtigen Abschiedsgruß schnell die Ambulanz.

19.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Wie kann es sein, dass Reto einerseits eigentlich hoch motiviert ist, andererseits dann aber im Einsatz nicht die nötige Leistung zeigt? Der Einsatz war eine rettungsdienstliche Standardsituation ohne nennenswerte Besonderheiten. Es bestand kein Zeitdruck und alle notwendigen Ressourcen (Mensch wie Technik) waren vorhanden. Sollte man hierfür Reto zur Rechenschaft ziehen? Sicher nicht, denn es war keine absichtliche Arbeitsverweigerung von Reto, sondern mehrere Begleitumstände sorgten in verhängnisvoller Verkettung zum Verlauf bei. Reto wird als gut ausgebildet und hoch motiviert und sehr engagiert beschrieben. So kann man ihm unterstellen, dass er das nötige Sachwissen und auch die entsprechenden Fertigkeiten besitzt. Er hat auch die passende persönliche Einstellung und Wertvorstellung, wie es für den Beruf des Rettungsdienstmitarbeiter wünschenswert ist. Trotz dieser günstigen Voraussetzungen kann Reto im Einsatz die erwartete Leistung nicht abrufen. Warum dies so ist, lässt sich nicht einfach und endgültig klären, aber es gibt Indizien, die zu dieser unzufriedenstellenden Leistung beigetragen haben könnten. Reto würde lieber in der Stadt und somit mit einer hohen Einsatzfrequenz arbeiten. Dies ist Ausdruck des Bestrebens nach einem gesunden Selbstbewußtsein verbunden mit einer empfundenen Selbstwirksamkeit. Er möchte auch bei komplexen Einsätzen souverän bleiben und die Kontrolle über sein Handeln und sie Situation behalten. Er verspürt Freude an seinem Beruf und möchte diese erfahren [4]. Stattdessen arbeitet er aktuell auf einer Außenwache mit einer niedrigen Einsatzfrequenz. Hinzu kommen die charakterlichen Unterschiede zu seinem Teampartner Kurt. Sie teilen nicht die gleiche Motivation für die Arbeit und schon gar nicht die außerdienstlichen Interessen. Kurt gelingt es ohne bzw. mit wenigen Worten seinen Arbeitsstil des schnellen Transports ohne oder mit einem Minimum an medizinischen Massnahmen durch zu setzten. Reto kann sich gegen ihn, obwohl besser qualifiziert und hierarchisch höher gestellt nicht durchsetzen, bzw. er versucht es erst gar nicht (Konfliktscheue). Stattdessen ist er etwas enttäuscht über den scheinbar banalen Einsatzanlass, der es ihm nicht ermöglicht sich unter Beweis zu stellen (sich selbst und anderen

Literatur

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­ egenüber). Vielmehr lässt er sich von Kurt überrumpeln und so verletzt Reto seine eigentg lich guten Vorsätze für eine qualitativ hochwertige Notfallversorgung. Neben etwaigen persönlichen Interessen sucht er bei der diensthabenden Ärztin im Spital eine Bestätigung für seine Arbeit, Respekt gegenüber seiner Person und vielleicht auch etwas Lob. Stattdessen erfährt er ohne böse Absicht der Ärztin eine herbe Enttäuschung. Durch wenige sachlich korrekte und absolut der Situation angemessene Fragen bringt sie innerhalb kürzester Zeit Retos Kompentenzgefühl völlig zum erliegen, was in Reto das Gefühl der Scham erzeugt. Ihm wird innerhalb kürzester Zeit klar, dass er trotz eigentlich guten Willens keine zufriedenstellende Arbeit geleistet hat. Der Begriff „Burnout“ ist in aller Munde, aber es scheint auch das Gegenteil zu geben, was als „Boreout“ bezeichnet wird. Dabei leiden die Betroffenen unter einer chronischen Unterforderung durch wenig Arbeitsbelastung. Ihnen fehlt dann die Fähigkeit, im rechten Moment innerhalb kurzer Zeit auf „Betriebstemperatur“ zu kommen. Diese Unterforderung scheint in der Tat ein relevanter negativer Performance-Faktor zu sein. Leider besteht aktuell für „Boreout“ kaum eine Akzeptanz und Verständnis, so dass man es auch kaum bzw. nur langsam weiter untersuchen kann. Es gibt Hinweise, dass die Häufigkeit in einem ähnlichen Bereich liegt wie das nicht seltene „Burnout“ und es scheint ebenso das Depressionsrisiko zu erhöhen. Über Hilfen oder gar Therapien ist wenig bekannt, außer eine Unterstützung bei der Suche nach neuen Herausforderungen. Der Betroffenene muss diese Belastung aber erst einmal erkennen und akzeptieren, was genau so schwer ist wie bei Burnout/Depression. Wichtig ist allgemein Überzeugungsarbeit zu leisten, dass es sich hier um einen unverschuldeten Vorgang handelt, unter dem die Betroffenen wirklich leiden. Grundsätzlich ist es v. a. eine Charakterfrage, ob und wie man mit Phasen unterfordernd-­ niedriger Arbeitsbelastung zurecht kommt. Dennoch gibt es auch hier durch Schulungen und Übungen die reelle Chance das Befinden und die Zufriedenheit positiv zu beeinflussen.

Literatur 1. https://www.escardio.org/Guidelines/Clinical-Practice-Guidelines/Syncope-Guidelines-on-Dia­ gnosis-and-Management-of 2. https://www.escardio.org/Guidelines/Clinical-Practice-Guidelines/Acute-Myocardial-Infarction-in-patients-presenting-with-ST-segment-elevation-Ma 3. Nikolaou NI, Arntz HR, Bellou A, Beygui F, Bossaert LL, Cariou A (2015) Das initiale Management des akuten Koronarsyndroms. Kapitel 8 der Leitlinien zur Reanimation 2015 des European Resuscitation Council 4. Notfall Rettungsmed (2015). emotional LEADING, Denis Mourlane, dtv premium 18(8):984–1002

Intensivverlegung – Ärger im Team

20

Inhaltsverzeichnis 20.1  Falldarstellung  20.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Weiterführende Literatur 

 145  151  153

20.1 Falldarstellung Was geschah …? Der freiberuflich tätige Notarzt Michael wundert sich nicht sonderlich, als er an einem späten Sonntagabend zu einer dringlichen Sekundärverlegung von der Intensivstation seines Standorts (Klinik Grund- und Regelversorgung) in das benachbarte Krankenhaus der Schwerpunktversorung alarmiert wird. Solche Einsätze gehören in diesem Rettungsdienstbereich zum Alltag. Dennoch soll dieser Einsatz kein Routinefall werden. Bereits auf dem Weg zur Intensivstation berichtet ihm der RA des NEF, dass es sich um einen Patienten mit V.a. OGI-Blutung handelt, der für ca. 20 min auf der Intensivstation reanimiert wurde. Bei Ankunft auf der ITS herrscht dort helle Aufregung um das Patientenbett des ca. 80-jährigen Patienten. Die Tätigkeiten der Dienstärztin Manuela (FÄ Anästhesie) und der beiden Intensivpflegekräfte erscheinen unkoordiniert und teilweise inadäquat, unterstützt werden sie durch die DÄ Chirurgie Sabine. Der Patient ist beatmet. Er hat drei periphervenöse Gefäßzugänge, eine arterielle Blutdruckmessung und auch ein Blasenkatheter wurde bereits gelegt. Der Patient ist trotz laufendem Noradrenalinperfusor und angehängter Erythrozytenkonzentrate hypoton am Rande einer erneuten Reanimationspflichtigkeit. Michael bietet die Hilfe seines mittlerweile vollständigen Teams an um eine Übergabe durch Manuela sowie einer Übernahme des Patienten zu ermöglichen. Daraufhin verlässt die Intensivpflege unkommentiert das Patientenzimmer und lässt die DÄ mit dem

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_20

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20  Intensivverlegung – Ärger im Team

­ffensichtlich hämodynamisch instabilen Patienten allein. Manuela ist offensichtlich o überwältigt vom Geschehnis und wirkt fahrig und unkoordiniert. Sie gibt weder Anweisungen zur Stabilisierung des Patienten noch ist sie zu einer strukturierten Übergabe fähig, da sie mental und emotional vollkommen erschöpft erscheint. Nur mit Mühe und Hilfe von Sabine gelingt es Manuela kursorisch und lückenhaft die getroffenen Massnahmen zu erläutern. Michael sieht sich genötigt auch mehrfach die Übergabe zu unterbrechen um durch Volumen- und Katecholamingaben den Blutdruck einigermaßen zu stabilisieren. Anforderungen durch Manuela kommt die Intensivpflege offenbar bewußt nicht oder nur widerwillig nach. Zeitweise kann man von einem Boykott der Zusammenarbeit gesprochen werden, auch von einer Sabotage indem beispielsweise ohne Vorwarnung und vor Stabilisierung der Situation die wartenden Angehörigen eingelassen werden, die nur mühsam überzeugt werden können, dass Patientenzimmer wieder zu verlassen. Auch auf Bitten des Rettungsdienstpersonals nach weiteren Infusionen sowie Medikamenten kommt die Intensivpflege nur verzögert und inadäquat nach. Michael bleibt nichts anderes übrig als die Teamleitung am Patientenbett vorzeitig zu übernehmen, damit sich Manuela gedanklich sammeln und sortieren kann. Michael erhebt einen Primärcheck nach dem ABCDE-Schema und benötigt insgesamt eine knappe Stunde, bis der Patient halbwegs stabilisiert und umgelagert ist, auch weitere können Manuela mittlerweile mündlich entlockt werden, schriftliche Aufzeichnungen existieren nicht. Es lässt sich weder eine genaue Reanimationsdauer, noch die Dosierungen an Adrenalin oder die vorliegenden EKG-Rhythmen in der Reanimationssituation ­eruieren.

Verantwortlichkeit dringlicher Sekundärverlegungen

Der Regelrettungsdienst ist primär nicht unmittelbar für Sekundärverlegungen zuständig, mangels Alternative müssen dafür dennoch oft Primärrettungsmittel genutzt werden. Bei disponiblen Sekundärverlegungen besteht vielerorts von Seiten des Rettungsdienstes die Möglichkeit weitere Fahrzeug- und Personalressourcen zu schaffen. Diese Möglichkeit entfällt bedauerlicherweise bei dringlichen oder gar notfallmäßigen Verlegungen mit vitaler Indikation. Es ist für die Leitstellen hierbei oft nicht einfach ab zu wägen, ob für eine Sekundärverlegung beispielsweise das letzte verfügbare Rettungsmittel in der Region „geopfert“ werden sollte. Eine Notfallverlegung ist prinzipiell ähnlich einem primären Notfalleinsatz zu behandeln. Oftmals wird hier auch die Indikation zum Einsatz der Luftrettung gestellt, was zwar oft aber nicht immer einen Zeitvorteil darstellt. Hierbei darf die Zeit für die Umlagerung, die Ausstattung eines RTH und das knappe Platzangebot im Hubschrauber nicht außer Acht gelassen werden. Zur besseren Disposition und bedarfsgerechten Nutzung der Ressourcen wurde in manchen Gebieten eigene Koordinierungsstellen eingerichtet (Bsp. Zentrale Koordinierungsstelle Intensivtransport Baden-Württemberg mit eigenen Intensivtransportwägen (ITW) und Zugriff auf die Luftrettungsmittel).

20.1 Falldarstellung

147

Patient Blood Management/Gerinnungsmanagement bei akuten Blutungen Dem Patient Blood Management wird derzeit wissenschaftlich wie berufspolitisch viel Beachtung geschenkt, was auch berechtigt erscheint. Die Empfehlungen beziehen sich aber oftmals auf elektive Behandlungen, so dass sie in diesem Fall keine Gültigkeit besitzen. Dennoch findet man in den entsprechenden Leitlinien auch Aussagen zum Verhalten bei unerwartet schweren Blutungen. Hier ist jedoch gedanklich der Volumen-/ Blutersatz (Transfusion)von der Gerinnungsstabilisierung und Antifibrinolyse zu trennen. Häufig werden gerade in stressigen Situationen auch die notwendigen Begleitumstände der Blutgerinnung vergessen: Eine Hypothermie geht genauso signifikant mit einer erhöhten Blutungsneigung einher wie bei einer Azidose oder Hypocalciämie (oder natürlich besonders schwerwiegend in Kombination). Daher ist bereits in der präklinischen Versorgungsphase ein strikter Wärmeerhalt zu fordern. Zur Stabilisierung der Gerinnungssituation macht nur der Ersatz verlorener Substrate Sinn. Eine Gabe eines Gerinnungsfaktors um den Mangel eines Anderen zu kompensieren ist beispielsweise zwecklos. Es ist jedoch nicht trivial zielgenau in das komplexe Gerinnungssystem ein zu greifen, selbst mit den globalen Gerinnungsparametern Quick (INR) und PTT sowie der weiteren Analyse über bsp. ROTEM ® erfasst man nur in einer Momentaufnahme einen Teil der tatsächlichen Gerinnungsaktivität. Aktuell gibt es auch zahlreiche Pilotprojekte zur präklinischen Gabe von Blutprodukten oder Gerinnungspräparate, eine eindeutige Empfehlung (und somit auch die Möglichkeit der Re-Finanzierung) steht aber noch aus. Hingegen hat die Gabe von Tranexamsäure zur Hemmung der Fibrinolyse in den letzten Jahren einen wahren Hype erlebt mit ständiger Ausweitung der Indikation. Beachtenswert ist jedoch, dass es sich hierbei nur bei bestimmten Indikationen um einen evidenzgesicherten und leitliniengerechten Einsatz handelt (wie bsp. das hämodynamisch instabile Polytrauma mit unkontrollierter Blutung), und hingegen in vielen anderen Fällen um einen individuellen Heilversuch (off-label) des Arztes. Gabe von Blutprodukten in der Notfallsituation und deren Verantwortlichkeit Die Gabe von Blutprodukten ist in Deutschland streng im Transfusionsgesetz geregelt und steht nur dem approbierten Arzt zu (Indikationsstellung, Produktprüfung und Gabe). Daher ist es gemäß der aktuellen Gesetzesgrundlage undenkbar, dass nichtärztliches Rettungsdienstpersonal eigenverantwortlich eine Gabe von Blutprodukten vornimmt, was in anderen Ländern zumindest schon probeweise der Fall ist. In der vital bedrohlichen Notfallsituation ist es dem Arzt gestattet von den normalen Regularien ab zu weichen und ungekreuztes Blut oder bei Unkenntnis der Blutgruppe Erythrozytenkonzentrate der Blutgruppe 0 Rhesus negativ zu verabreichen, die notwendige Labordiagnostik ist dann aber schnellstmöglich nach zu holen. SOPs Viele Krankenhäuser haben für die o.  g. Fälle einer akuten Blutung und/oder die Gabe von Blutprodukten SOPs (standard operation pocedures) erlassen. Diese ­sollen

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20  Intensivverlegung – Ärger im Team

die Mitarbeiter nicht einengen sondern (Rechts-)Sicherheit schaffen. Dazu ist es jedoch notwendig, dass die betroffenen Mitarbeiter diese SOPs kennen und permanenten und einfachen Zugriff auf diese haben. Für eine verlässliche Anwendung ist zumeist eine Schulung notwendig (Vermeidung eines „implementation gap“). Golden hour of shock Diese goldene Stunde des Schockpatienten ist viel beschworen und meint im eigentlichen Sinne die Forderung, dass Unfallopfer im kritischen Zustand möglichst innerhalb einer Stunde nach dem Ereignis in einer adäquaten Zielklinik sein sollten. In diese Phase fällt also die Anfahrt der Rettungsmittel, ggf. die technische Rettung, die präklinische Versorgungszeit mit Klinikanmeldung und der Transport. Außerhalb von Städten und größeren Ballungsgebieten ist dies zumeist eine große Herausforderung. Ebenso ist es nicht mit einem Verzicht von präklinischen Therapieoptionen gleich zu setzen. Vielmehr sollte abgewogen werden, ob die potentiell denkbaren und angezeigten Massnahmen auch wirklich die Überlebenschancen des Patienten erhöhen (Bsp. muss beim kritischen Patienten auf eine Schienung der Extremitäten verzichtet werden, auch wenn sie ggf. angezeigt wäre). Pathophysiologisch betrachtet handelt es sich bei einem hämorrhagischen Schock um einen ‚circulus vitiosus‘, der um so schwerer zu durchbrechen es, um so länger er anhält, daher sind rasch adäquate Massnahmen zu fordern (in der Regel chirurgische Versorgung). Daher ist auch folgende plakative Aussage auch nicht gänzlich falsch: „Die wichtigste präklinische Flüssigkeit ist das Benzin/Kerosin.“ Umgang mit den Angehörigen Im geschilderten Fall wurden die Angehörigen ohne Rücksprache mit der Leiterin des Behandlungsteams eingelassen. Dies war in diesem Fall für die Angehörigen des Patienten sicherlich nicht hilfreich, da der Patient sowie das Behandlungsteam nicht darauf eingestellt war. Grundsätzlich ist eine enge Miteinbeziehung der Angehörigen zu fordern. Es hilft den Patientenwillen zu eruieren und den Angehörigen die für sie extrem schwierige Situation in ihrer Bedeutung zu erfassen. Dies ist der erste wichtige Schritt für eine spätere Verarbeitung der Geschehnisse. Jedoch setzt dies voraus, dass die Angehörigen auch adäquat betreut werden, was in diesem Fall nicht möglich war. Sie sollten in angemessener Form (nach ihren Wünschen) informiert werden und die Möglichkeit bekommen Fragen zu stellen. Die überwiegende Mehrheit hat auch das Bedürfnis Körperkontakt zum Patienten auf zu bauen. Wenn es, wie in diesem Fall, eventuell das letzte mal ist, dass sie den Patienten lebend sehen, ist nach Möglichkeit auch die Gelegenheit ein zu räumen, sich zu verabschieden. Der Transport sollte dadurch aber nicht relevant verzögert werden. Im vorgestellten Fall war also eher der Zeitpunkt und die Situation mehr als unglücklich, nicht die Möglichkeit der Abschiednahme an sich. Patientenwille/Patientenverfügung Im dargestellten Fall handelt es sich zusammengefasst um einen ca. 80-jährigen Patienten, der ca. 20  min aufgrund eines hypovolämen Kreislaufstillstands reani-

20.1 Falldarstellung

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miert werden musste und nun aufgrund anhaltender Blutung weiterhin hämodynamisch instabil ist. Wichtige Vorinformationen über Vorerkrankungen, Gesundheitsund Pflegezustand, Lebensqualität in letzter Zeit sowie geäußerte Wünsche des Patienten sind nicht bekannt. Dennoch und gerade deswegen sollte man sich auch unter Zeitdruck vergegenwärtigen den mutmasslichen Patientenwillen zu respektieren. Alle Informationsquellen wie gemachte Äußerungen, eine Patientenverfügung sowie Informationen von Angehörigen und Freunden sind so gut es geht zu nutzen. Eine Herausforderung besteht zudem jedoch darin zu prüfen, ob diese Informationen sich auf die aktuelle Situation übertragen lassen und somit zweckdienlich sind. Auch hier ist wieder auf eine gute Teamkommunikation zur Entscheidungsfindung (decision making) zu achten.

… so geht es weiter … Der ca. 20 minütige bodengebundene Transport mit dem RTW verläuft ohne weitere Zwischenfälle. Der Patient ist zwar weiterhin deutlich hypoton, es lässt sich aber zumindest peripher ein deutlicher Puls tasten. In der Zielklinik wird das Rettungsdienstteam bereits sehnlichst vom dortigen Team der ITS erwartet, da der Patient bereits vor ca. 2 h angekündigt wurde, und man sich sehr über die Verzögerung des Transportes wundert. Die engagierte DÄ und somit Teamleiterin Doreen bittet um eine Übergabe, Michael kann dieser Übergabe zwar strukturiert, aber nur lückenhaft nachkommen. Er kann zwar den Ausgangsstatus, die ergriffenen Maßnahmen und der aktuelle Patientenzustand darlegen, die vorausgehenden Stunden aber nur kaum, weil er nur selbst mit dürftigen Informationen versorgt wurde. Im Verlauf gelingt es den Patienten zunächst hämodynamisch zu stabilisieren und einer endoskopischen Blutstillung zu zu führen, es kommt jedoch rasch zu einer respiratorischen Dekompensation auf dem Boden einer sich ausbildenden Aspirationspneumonie, die nicht beherrscht werden kann. Nach Rücksprache mit den Angehörigen des über achtzigjährigen Patienten verzichtet man auf eine Therapieeskalation im Sinne eines invasiven Lungenersatzes (ECMO). Nach kurzer Zeit verstirbt der Patient im Beisein seiner ­Angehörigen.

Strukturierte Patientenübergabe mittels ABCDE, SAMPLER und SBAR

Im präklinischen Rettungswesen und zunehmend auch in den Notaufnahmen haben sich strukturierte Übergabeprozeduren etabliert. Wenn alle Anwesenden darin geschult sind ermöglichen diese eine deutlich verbesserte und nachhaltige Weitergabe von Informationen. Für den Patientenstatus wird das ABCDE-Schema genutzt:

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20  Intensivverlegung – Ärger im Team

A – Airway B – Breathing C – Circulation D – Disability E – Environment Für die Notfallanamnese hat sich das SAMPLER-Schema bewährt: S – Symptoms A – Allergy M – Medication P – Past medical history L – Last meal E – Environment R – Risc factors Gerade im innerklinischen Bereich wird für Übergaben auch das SBAR-Schema (1) genutzt: S – Situation B – Background A – Assessment R – Recommendation Wie bei so vielen Hilfestellungen ist auch hier der Nutzen elementar davon abhängig, ob sie auch genutzt und „gelebt“ werden. Hierfür ist eine angemessene Schulung (Bsp. im Rahmen von Simulationen) sowie zumeist auch die Vorbildrolle eines hierarchisch höher gestellten Kollegen nötig. Möglichkeiten der Therapiebegrenzung Trotz aller ergriffenen Massnahmen lässt sich der Patientenzustand nicht stabilisieren. Unter Berücksichtigung des (mutmasslichen) Patientenwillens und infauster Prognose muss hier eine sog. Therapiezieländerung diskutiert werden. In diesem Fall erscheint es angemessen, den kurativen Therapieansatz zu verlassen und stattdessen dem Patienten eine palliative Behandlung zu ermöglichen. Ein weiterer an sich selbsterklärender Begriff ist „allow natural death (AND)“. Abzugrenzen hiervon ist die in Deutschland strafbare aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen). Straffrei ist jedoch die passive Sterbehilfe (Inkaufnahme des Todes durch Unterlassen an sich indizierter Massnahmen) sowie die indirekte Sterbehilfe (Bsp. die Gabe von Schmerzmitteln im Sinne des Patienten, auch wenn dadurch der Tod früher als ohne diese Medikamentengabe eintritt). Nach Rücksprache und im Konsens mit allen Teammitgliedern hat der Leiter des Behandlungsteams die Entscheidung zu treffen, sie um zu setzen und schließlich auch zu dokumentieren.

20.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

151

… das Ende des Falls Michael ist ebenso wie das restliche Rettungsdienstteam erschüttert von den Vorkommnissen auf der abgebenden Intensivstation. Es findet ein ausführliches und auch emotionales Debriefing statt. Kaum zurück am Standort kommt trotz nächtlicher Stunde Sabine auf Michael zu und berichtet ebenfalls von einer absoluten Erschütterung und Unsicherheit, wie weiter mit diesem Vorfall zu verfahren ist. Schlußendlich kommt es zu Meldungen von Manuela, Michael, Sabine und des Rettungsdienstteams an die jeweiligen Vorgesetzten. Daraufhin sieht sich der ärztliche Direktor des abgebenden Krankenhauses gezwungen ein klärendes Gespräch zwischen allen Beteiligten ein zu berufen. Dort stellt sich heraus, dass es bereits vorbestehend über Jahre hinweg Differenzen zwischen Manuela und der Intensivpflege gab, die nur schwerlich in der Alltagsarbeit nach Außen hin überdeckt werden konnte. Die Intensivpflege empfand den Patienten bei seiner notfallmäßigen Übernahme von der Bettenstation auf die ITS ca. 30 min vor der Reanimationssituation als moribund und wollte eigentlich von Reanimationsmassnahmen absehen. Manuela setzte sich jedoch in ihrer Teamleiterrolle darüber hinweg und ordnete Reanimationsmassnahmen an. Der Ton während der Reanimation wurde immer ruppiger, ehe man schließlich eigentlich überhaupt nicht mehr zusammen arbeitete und entkoppelt voneinander tätig wurde. Manuelas Anweisungen und Massnahmen erscheinen auch inadäquat, was auch darin begründet sein könnte, dass sie über Jahre hinweg nicht an internen Notfallschulungen teilnahm. Auf das trotz Moderation emotional bis hitzig geführte Gespräch folgte ein längerer Mediationsprozess, der aktuell noch nicht zufriedenstellend abgeschlossen ist. Insbesondere Manuela ist vom Geschehnis förmlich traumatisiert und seitdem Angst vor weiteren Nachtdiensten, da sie häufig von den als belastend empfundenen Erinnerungen heimgeholt wird. Michael ist anhaltend schwer beeindruckt von den gemachten Erfahrungen, freut sich jedoch sehr, dass es dem rettungsdienstlichen Team gelungen ist in dieser hektischen Situation ruhig zu bleiben und so eine adäquate Weiterversorgung des Patienten zu ermöglichen.

20.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Leadership Die Teamleitung ist eine herausfordernde und mitunter schwierige Tätigkeit, insbesondere wenn man die Rolle nicht gewohnt bzw. in ihr routiniert ist. Hierbei ist es wichtig neben der Kontrolle und Übersicht über die getroffenen Massnahmen auch bildlich und manchmal auch räumlich aus der Situation heraus zu treten (Metaebene). Unzählige Bücher wurden bereits zum Thema Leadership verfasst, doch zumeist beziehen sie sich nicht auf die Leitungsfunktion in akutmedizinischen Behandlungsteams. Hier ist die Datenlage deutich dünner. Manchen Charakteren scheint diese Rolle besonders zu liegen, Anderen überhaupt nicht. Dies bestimmt jedoch nur die Ausgangslage eines Lernprozesses, denn bei ­Leadership handelt es sich um einer Fertigkeit (Skill), die somit erlern- und trainierbar ist. Interessanterweise, aber auch oft Ursache heftiger Konflikte ist, dass nicht immer die

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20  Intensivverlegung – Ärger im Team

­ ierarchisch höher gestellten Vorgesetzten auch die besseren Leitungskompetenzen hat. h Dies sind zumeist eher erfahrene Kollegen aus der hierarisch „zweiten Reihe“. Im Rahmen der (Selbst)- Reflektion einer Akutsituation sollte man stets versuchen sich positive Aspekte des Leaderships in dieser Situation zu merken (besser noch sich selbst an zu eignen) und negative Aspekte möglichst künftig vermeiden. Kommunikation Dreh- und Angelpunkt einer Teamarbeit ist stets die Kommunikation, daher wird sie in diesem Buch auch wiederholt thematisiert. In diesem Fall sind jedoch insbesondere die Kommunikationsstörungen zu beachten. Die unterschiedlichen Einschätzungen für oder gegen die Indikation zur Reanimation werden nicht im Team thematisiert, was in einer plötzlichen Notfallsituation auch schwierig ist, wenn ad hoc eine Entscheidung gefällt werden muss. Dennoch wäre es dringend notwendig gewesen die aufkommenden Differenzen zu detektieren und offen an zu sprechen. Ein 10-für-10 oder ein kurzes Time-out wäre hier vermutlich zur Förderung eines gemeinsamen mentalen Modells (Situation awareness) eine gute sachliche und neutrale Möglichkeit gewesen, ohne dass es zu einem persönlichen Angriff einzelner Teammitglieder gekommen wäre. Im Verlauf versagten die Teammitglieder dann der Teamleiterin quasi die Kommunikation, was die Situation eigentlich nicht mehr rettbar macht. Konfliktmanagement Ein Konfliktmanagement in einer wie hier geschilderten Notfallsituation ist extrem schwierig bis unmöglich. Schon deutlich vor dieser Extremsituation haben Vertrauensverhältnis und Rollenverständnis im Team deutlich gelitten. Vermutlich ist der Konflikt hierbei auch nicht erstmalig zu Tage getreten. „Wehret den Anfängen“ gilt auch in einer solchen Krisenentwicklung. Auch wenn es Mut und menschlicher Größe bedarf sollten alle Beteiligten die aufkommenden Reibungspunkte offen ansprechen und die entsprechenden Inhalte diskutieren. Es muss thematisiert werden, dass es unterschiedliche Ebenen der (Zusammen-) Arbeit gibt: Angefangen von einer hierarchischen Rollenzuordnung in der Gruppe bis hin zu den Wertevorstellungen sowie ethischen Einstellungen des Einzelnen. In diesem Fall war „das Kind schon lange im Brunnen“ und die Akutsituation brachte „das Fass zum Überlaufen“, was dann kurzfristig nicht mehr intern auf zu halten war. In dieser Hinsicht ist es sogar eine glückliche Fügung gewesen, dass der Patient so oder so verlegt werden musste und somit die akute Krisensituation beendete. Mediation Ist intern keine Konfliktlösung zu erreichen, so ist in der Regel mit externer Hilfe ein Mediationsprozess an zu stoßen. Der Mediator kann mit Hilfe spezieller Techniken zwischen den Konfliktparteien kompetent aber neutral vermitteln. Ziel soll die Konfliktbeilegung und eine künftig konstruktive Zusammenarbeit sein, nicht die Bestrafung Einzelner durch Disziplinarmassnahmen. Dies sollte nur das letzte Mittel insbesondere bei Uneinsichtig-

Weiterführende Literatur

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keit sein und führt bis zur Trennung von Mitarbeitern durch die entsprechend befugten Vorgesetzten. Disruptives Verhalten Darunter versteht im engeren Sinne man dissoziale oder antisoziale Verhaltensweisen. Geprägt wurde der Begriff in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (v. a. extrem zorniges Verhalten etc.), allerdings wird der Begriff nun auch in anderen Bereichen bishin zum Management genutzt. Streng hierarchisch geführte medizinische Abteilungen mit regelmäßigen persönlichen Kränkungen sind hier ein Paradebeispiel. Insbesondere früher gab es die absurde Einstellung man könnte mit diesem harten Führungsstil den Lernerfolg der Mitarbeiter steigern und ihre Fehleranfälligkeit senken. Da ein solches Verhalten aber ein hohes Risikopotenzial darstellt, sollten solche Verhaltensweisen benannt, aufgearbeitet und ggf. geahndet werden. Beispielsweise sollten die Zeiten, in denen wütend-zornige Operateure willentlich und unentschuldbar blutiges Instrumentarium nach anderen Mitarbeitern wirft absolut der Vergangenheit angehören. Zwar kam es in beschriebenem Fall nicht zu solchen Auswüchsen, aber die Arbeitsverweigerung der Pflegekräfte kann in diesem Fall durchaus als antisoziales Verhalten mit hohem Gefährdungspotential für die Patientensicherheit gewertet werden. PTBS/Resilienz Manuela ist anhaltend von dem Ereignis gezeichnet und zeigt eindeutig Vermeidungsverhalten (Verzicht auf Nachtdienste). Dies mag auch abhängig von ihrer Persönlichkeit sein, die hier nicht näher beschrieben wird und daher aber auch nicht Anlass zur Spekulation werden sollte. Auffällig ist lediglich, dass sie längerfristig die Geschehnisse nicht angemessen verarbeiten und somit nicht resilient reagieren kann. Resilienz ist zwar aktuell ein vielleicht auch überstrapaziertes Modewort, bezeichnet aber auch für diesen Fall passend vereinfacht gesagt die Fähigkeit nach einem außergewöhnlichen Ereignis wieder zu innerer Stabilität zurück zu finden. Sollte Manuela durch die Geschehnisse wie oben beschrieben sogar tatsächlich traumatisiert sein, bedarf es einer professionellen Betreuung um die Gefahr einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu minimieren.

Weiterführende Literatur 1. https://www.bda.de/docman/alle-dokumente-fuer-suchindex/oeffentlich/empfehlungen/1250-strukturierte-patientenuebergabe-in-der-perioperativen-phase-das-sbar-konzept/file. html 2. St. Pierre, Hofinger: Human Factors und Patientensicherheit in der Aktumedizin, 3. Aufl. Springer 3. Marx: Faktor Mensch, 2. Aufl. MEDI-LEARN, 2017, Medilearn-Verlag Ottendorf

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Intensivtransport – Darf man reinreden?

Inhaltsverzeichnis 21.1  Falldarstellung  21.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Literatur 

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21.1 Falldarstellung Was geschah … So, in Kürze würde Rolf abgelöst werden. Er hatte seit 24 Std. Notarztdienst auf dem NEF und keinen Einsatz gehabt. Das war manchmal frustrierend und so freute er sich auch dieses Mal auf den Feierabend. Da ging der Alarm los. Wie so oft am frühen Abend gab es eine Verlegung aus dem örtlichen Krankenhaus der Grundversorgung ins Universitätsspital. Als Einsatzgrund war in der Einsatzmeldung nur „Thoraxtrauma“ angegeben. Er sollte den Patienten auf der Intensivstation übernehmen. Am Spital traf er mit dem Team des RTW zusammen. Rolf besprach mit den beiden Rettungssanitätern, was sie wohl erwarten würde und was sie an Equipement schon auf die Intensivstation mitnehmen würden. Sie beschlossen gemeinsam, nur Patiententrage, Rucksack mit Medikamenten und einen Perfusor mitzunehmen. „Planung Intensivtransport“

Der Interhospitaltransport von kritisch kranken Patienten ist zunehmend wichtiger Bestandteil der Gesundheitsversorgung. Einerseits müssen Patienten für eine spezielle Therapie in eine Zentrumsklinik gebracht werden, andererseits werden sie z. B. aus Kapazitätsgründen von dort in periphere Kliniken zurück verlegt. In beiden

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_21

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21  Intensivtransport – Darf man reinreden?

­ ällen sind die Patienten oft schwer krank und vital gefährdet. Im Rahmen des F Transportes kommt es in bis zu 30 % der Fälle zu Zwischenfällen, die das Outcome des Patienten verschlechtern können [1]. Hypoxie und arterielle Hypotension sind hier relevante Zwischenfälle [2]. Wird der Transport unter optimalen Bedingungen geplant und durchgeführt, findet man keinen Unterschied in der Mortalität von transportierten und nicht transportierten Patienten [3]. Folgende Faktoren entscheiden über den Verlauf des Transportes: –– –– –– –– –– ––

Art und Schwere der Erkrankung Spontanverlauf der Erkrankung (Blutung, Ischämie) Art und Anzahl der Installationen (Katheter, Beatmung) Erfahrung des Personals (vorallem in Intensivmedizin) Transportbedingungen (Boden- versus Helikoptertransport) Gute Vorbereitung und strukturierte Durchführung

Während Faktoren wie Art der Erkrankung nicht beeinflussbar sind, ist dies der sorgfältige Umgang z. B. mit Installationen sehr wohl. So kann eine Diskonnektion oder das Abknicken einer wichtigen Perfusorleitung schnell zu einer vitalen Gefährdung führen; Umlagerungen führen zu veränderten Druckverhältnissen bei Beatmung, Kreislauf und zerebraler Perfusion. Vor Beginn des Patiententransportes sollten verschiedene Informationen dem Team bekannt sein. Dabei geht es um –– Genauer aktueller Aufenthaltsort des Patienten; wo muss er abgeholt werden (z. B. welche Intensivstation in einem grossen Krankenhaus) –– Welches Material muss mitgeführt werden? Dies betrifft z. B. zusätzliche Perfusoren –– Welche Installationen sind am Patienten? Gibt es z. B. eine invasive Blutdruckmessung –– In welchem Zustand ist der Patient? Muss z. B. mit schweren medizinischen Problemen gerechnet werden? –– Ist der Transport dringend oder besteht eine Zeittoleranz? Können z. B. andere Einsätze vorgezogen werden. –– Wohin geht der Patient? Werden bei längeren Wegstrecken zusätzliche Resourcen (Treibstoff, Sauerstoff) benötigt. –– Und ganz entscheidend: Liegt eine relevante Infektion bzw. Besiedelung mit pathogenen Keimen vor? Müssen spezielle Schutzmassnahmen getroffen werden? Es gibt für die Planung einer intensivmedizinischen Verlegung unzählige vorgefertigte Dokumente. Entweder man benützt diese oder erstellt diese intern neu. Empfehlenswert ist in jedem Fall eine Checkliste im Betrieb. Mit diesen Vorlagen

21.1 Falldarstellung

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kann dann ein Arzt-Arzt-Gespräch vor Beginn des Einsatzes durchgeführt werden. So kann man sichergehen, dass im Gespräch alle Punkte abgefragt werden. Man wird in einem Gespräch nicht von wichtigen Punkten abgelenkt. In diesem Gespräch lässt man sich nochmals persönlich den Übergabeort des Patienten zusichern. Was man vermeiden sollte, sind unkommentierte Alarmierungen der Leitstelle, bei denen einfach ausgerückt wird. Bei unkomplizierten Verlegungen von der Betten- oder Notfallstation mag das funktionieren. Bei intensivmedizinischen Verlegungen wird man regelmässig auf Überraschungen stossen, die zu organisatorischen Problemen führen oder gar den Patienten gefährden. Nur durch einen Informationsaustausch vor Einsatzbeginn hat man die Möglichkeit, sich entsprechend vorzubereiten. Ist man für den Transport dieses Patienten fachkompetent? Müssen zusätzliche Geräte mitgenommen werden? Ist das vorgesehene Transportmittel auch das geeignete? Allein die Körpermasse des Patienten können schnell dazu führen, dass z. B. ein Lufttransport nicht möglich ist. Trifft sich das Transportteam beim Patienten (z. B. im Rendez Vous System), so stellt man sich gegenseitig vor, der informierte Mitarbeiter informiert über den Patiententransport und gemeinsam wird die Durchführung besprochen (z. B. Dringlichkeit). Die Indikation zur Verlegung treffen der abgebende und annehmende Arzt der beiden Kliniken gemeinsam; der Transportarzt ist in dieser Situation beratend, z. B. kann er seine Kenntnisse über die konkreten Transportverhältnisse einbringen. Auf dem Transport aber ist er der Verantwortliche. Fehlhandlungen treten auf an Drainagen, Kathetern, Schläuchen, Messleitungen etc. Typisch ist beispielsweise, dass eine Messleitung (invasive Blutdruckmessung) während einer relevanten Massnahme (Lagerung, Medikamentengabe) nicht überwacht wird, z. B. weil sie gerade gewechselt wird. Hier sind gegenseitige Absprachen im Team bzw. eine klare Teamführung essentiell. Transportbedingungen können meist zuvor beurteilt werden. Die technische Möglichkeit muss vorhanden sein, um Überwachung (Druckmessungen) und Therapie (komplexe Beatmung) weiterführen zu können. Schon der Verlust des PEEP führt zum Transporttrauma in Form einer respiratorischen Verschlechterung. Medikamentengaben müssen der Transportsituation angepasst werden. So brauchen sedierte Patienten eine erhöhte Dosis, evtl. sind zusätzliche Analgetika indiziert. Perfusoren sind in ihrer Förderrate anfällig für Veränderungen durch die Schwerkraft (grosse Höhenänderungen der Installation); das Display der Förderpumpen muss immer gut sichtbar sein, um Fehlfunktionen zu erkennen (keine akustische Kontrolle durch Fahr- oder Fluggeräusche).

… so geht es weiter … Auf der Intensivstation treffen Rolf und die Rettungssanitäter eine sehr unstrukturierte Situation an. Im Patientenbett lag ein sehr adipöser Patient, der deutliche Atemnot zeigte und kaum Kontakt zur Umwelt aufnahm. Das Patientenbett war umgeben von ca. 5 Ärzten und

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21  Intensivtransport – Darf man reinreden?

einigen Pflegepersonen. Es herrschte grosse Geschäftigkeit mit Anweisungen und Handlungen. Auf den ersten Blick erkannten die Mitarbeiter des Rettungsdienstes das übliche Monitoring einschliesslich invasiver Blutdruckmessung, 3 laufenden Perfusoren und einen Blasenkatheter. Rolf stellte sich als der Notarzt vor, welcher den Transport durchführen würde. Eine Ärztin des Klinikteams teilte ihm mit, dass sie im Moment sehr beschäftigt seien und er bitte einen Moment warten solle. Sie würden noch einige Massnahmen vor dem Transport durchführen und ihm dann eine ausführliche Patientenübergabe bieten. Da Rolf sich weiterhin in Warteposition befindet und keine Aufgaben hat, kann er das Geschehen gut aus der Distanz beobachten. Offensichtlich ist der Patient seit 2 Tagen in diesem Spital. Er hatte im Rahmen eines Verkehrsunfalles ein schweres Thoraxtrauma erlitten. Es wurde nun die Indikation zur Verlegung in die universitäre Thoraxchirurgie gestellt, weil sich radiologisch und sonografisch ein zunehmender Hämatothorax dargestellt hatte. Vor dem Transport soll jetzt noch eine Thoraxdrainage eingelegt werden (durch den Dienstarzt der Chirurgie). Für diese Intervention und wegen der bedrohlichen Dyspnoe soll der Patient unmittelbar zuvor intubiert werden. Dazu wählt der Anästhesist 160 mg Propofol, 0,2 mg Fentanyl und 100 mg Succinylcholin. Rolf sieht ein Problem kommen und bittet eine Pflegeperson der Intensivstation, eine verdünnte Adrenalinspritze bereit zu machen. Was sieht Rolf kommen?

Anästhesieeinleitung bei instabilem Kreislauf

Für die Anästhesieeinleitung können die verschiedensten Medikamente benützt werden. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie die Kreislauflage negativ beeinflussen, also zu einer Senkung des arteriellen Blutdrucks führen [4]. Dieser Effekt ist vorallem der Absenkung des Sympathikotonus geschuldet. Eine negative Wirkung auf das Myokard und eine Absenkung des Gefässwiderstandes sind die Folge. Opiate wie Fentanyl und Sufentanil wirken sich hier weniger aus, allerdings nur bei alleiniger Gabe ohne andere Sedativa. Ketamin wirkt leicht sympathikoton, was eine stabilere Kreislauflage gewährleistet [5]. Die Aktivität im sympathischen System wird erhöht, der periphere Gefässwiderstand und die Herzfrequenz steigen an. So ist Ketamin eine Alternative zum Etomidate, dem wenig hämodynamische Nebenwirkungen eigen sind [6]. Etomidate hingegen verursacht eine vorübergehende Blockade der Kortisonsynthese. [7] Bei allen Medikamenten ist die negative Kreislaufauswirkung dosisabhängig. So kann durchaus auch mit Ketamin und Etomidate eine Absenkung des arteriellen Blutdruckes verursacht werden. Diese Dosisabhängigkeit ist abhängig vom aktuellen Volumenstatus des Patienten. In einer klinischen Studie wurde gezeigt, dass ein schlechter Füllungszustand der Vena Cava ein Prädiktor für eine arterielle Hypotension nach Einleitung ist [8]. Und da Patienten im Volumenmangelschock (auch z. B. in der Frühphase des septischen Schocks) auf die endogene Kompensationsmechanismen (Tachykardie, Vasokonstriktion) angewiesen, kommt es gerade in dieser Pa-

21.1 Falldarstellung

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tientengruppe zu massiven akuten arteriellen Hypotensionen, wenn das Hypnotikum zu hoch dosiert wird. Zudem benötigen diese Patienten in ihrem reduzieren Allgemeinzustand eine geringere Dosis zur Anästhesieeinleitung. Die depressive Wirkung von Propofol kommt insbesondere durch schnelle Gaben von hohen Dosen zustande. Patienten, welche z. B. eine Hypovolämie durch sympathische Gegenregulation kompensieren, reagieren sehr empfindlich auf die Applikation von Propofol. [7]. Bei hoher Infusionsrate von Propofol kommt es zu einer Überdosierung mit konsekutivem Blutdruckabfall [9] Um die bedrohliche Hypotension bei Anästhesieeinleitung zu vermeiden, sollte dem Patienten zuvor ausreichend Volumen verabreicht werden und allenfalls wird man schon prophylaktisch zur Einleitung einen Vasokonstriktor dazu geben [10]. Werden Propofol und Ketamin gemeinsam appliziert und die jeweilige Dosis angepasst, so fällt die arterielle Hypotension nach Narkoseinduktion deutlich geringer aus [5].

… so geht es weiter … Unmittelbar nach Anästhesieeinleitung kommt es zum massiven Blutdruckabfall; kurzzeitig wird sogar eine Herzdruckmassage notwendig. Auf 1 mg Adrenalin kommt es wieder zu einem Blutdruck 75/50 mmHg. Die Intubation gelingt bei dem adipösen Patienten auch nicht im zweiten Anlauf. Nun bietet Rolf, der bisher nicht für die Patientenversorgung verantwortlich war, seine Mithilfe beim Atemwegsmanagement an. Bei Intubationsanatomie von Cormack/Lehane 3 mit verbesserter Lagerung gelingt eine Intubation mithilfe eines Führungsdrahtes.

Schwieriger Atemweg beim Intensivpatienten

Bei intensivmedizinischen Patienten ist die Durchführung der Laryngoskopie und endotrachealen Intubation deutlich häufiger schwierig als bei elektiven Vorgängen [11]. Im vorliegenden Fall gibt es verschiedene Hinweise, dass die konventionelle Intubation erschwert sein kann. Dies sind –– –– –– ––

Adipositas Schwellung der Atemwege durch Flüssigkeitseinlagerung Ungünstige Lagerung Geringere Toleranz für Apnoe

Ad 1: Patienten mit ausgeprägter Adipositas weisen häufig anatomische Verhältnisse auf, die eine direkte Einsicht bei der konventionellen Laryngoskopie erschweren. Dies kommt zustande durch Fetteinlagerung in den Halsweichteilen und eine vergrösserte Zunge. Bedingten Vorhersagewert hat die Bestimmung des Mallampati-­

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21  Intensivtransport – Darf man reinreden?

Scores. Die Testdurchführung dessen setzt aber z. B. die Kooperation des Patienten voraus; was beim Notfallpatienten oft nicht gegeben ist [12].. Typische Risikofaktoren für eine erschwerte Laryngoskopie bei diesen Patienten sind geringe Mundöffnung, geringer thyromentaler Abstand, vergrösserter Halsumfang und eine Einschränkung der HWS-Beweglichkeit [13]. Einführen des Laryngoskopspatels und direkte Sicht auf die Glottis sind durch alle diese Bedingungen erschwert. Bedeutende Atemwegskomplikationen bei adipösen Patienten werden in ca. 40 % der Fälle beobachtet [13], wenn eine Anästhesie eingeleitet wird; meist ja in Form einer Rapid-­sequence-induction. Ad 2: Viele Patienten mit intensivmedizinischen Krankheitsbildern (Schweres Trauma, Verbrennung, Sepsis) lagern in den ersten Tagen der Behandlung oft sehr viel Flüssigkeit ein in den sog. dritten Raum. Dies führt im Bereich der oberen Atemwege zu einem Ödem, welches die anatomischen Verhältnisse zusätzlich verschlechtert. Die anatomischen Verhältnisse sind dann entsprechend einer Adipositas [10]. Ad 3: Die Lagerung und Zugänglichkeit des Kopfes und die Lichtverhältnisse spielen für den Erfolg der Intubation eine wichtige Rolle. Wird der Vorgang der Anästhesieeinleitung und Intubation in ein Gesamtkonzept bzgl. Patientenzustand, Erfahrung des Personals, Medikamenten- und Materialauswahl, Lagerung und Arbeitsplatzorganisation zusammengefasst, so können Komplikationen nachweislich verringert werden [10, 14]. Ad 4: Bei vielen intensivmedizinischen Patienten, die nicht elektiv intubiert werden sollen, liegt eine geringere Hypoxietoleranz vor. Dies häufig bedingt durch Atelektasen. Deshalb ist eine sorgfältige Präoxygenierung von entscheidender Bedeutung. Günstig wirkt sich eine CPAP- oder NIV-Beatmung unmittelbar vor Anästhesieeinleitung aus. Dies kann z. B. an einem Anästhesiebeatmungsgerät mit manuell unterstützter Spontanatmung durchgeführt werden [10]. Das transportierende Team soll sich hier nicht unter Druck setzen lassen sondern es müssen optimale Bedingungen für alle Massnahmen geschaffen werden. Zumal das Team ja meist in einer unbekannten Umgebung mit unbekanntem Material arbeitet.

… so geht es weiter … Nach erfolgreicher Intubation und zufriedenstellenden Kreislaufverhältnissen (Blutdruck ca. 90/50 mmHg) unter Katecholaminen und Volumengabe stellt sich eine gewisse Beruhigung im Behandlungsteam ein. Rolf bespricht sich mit den Kollegen Anästhesie, Intensivstation und Unfallchirurgie über das weitere Vorgehen. Dabei schlägt Rolf vor, dass dieser Patient nicht transportiert wird, sondern die geplante Thorakotomie direkt im Spital durchgeführt wird, wenn dies möglich ist. Diese Möglichkeit ist gegeben und der Patient wird daraufhin direkt in den OP gebracht. Dort kann eine suffiziente Blutstillung durchgeführt werden.

21.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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… das Ende des Falles Rolf hat nun Feierabend und kann den Dienst an seinen Kollegen abgeben. Der Einsatz bleibt ihm mit gemischten Gefühlen in Erinnerung. Einerseits konnte er zum Gelingen des Einsatzes beitragen (Atemwegsmanagement, Entscheidung gegen Transport), andererseits aber machte ihm dieser Fall mal wieder deutlich, wie schnell man in eine kritische Situation kommen kann. Wäre er in das hektische Geschehen von vorneweg eingebunden gewesen, so hätte auch er vielleicht manches anders geschehen. Es ist eben immer leichter als Aussenstehender mit Distanz die Situation zu beurteilen.

21.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Im vorliegenden Fall kann man verschiedene Faktoren erkennen, die häufig zu Störungen im Handlungsablauf führen. Ein Patient soll einem Transportteam übergeben werden, somit treffen Helfer aufeinander, die sich nicht kennen insbesondere nicht die jeweiligen Funktionen. Die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten müssen geklärt werden. Unmittelbar in dieser Situation kommt es zu einer akuten Verschlechterung und spontane zeitkritische Entscheidungen sind erforderlich. Gerade in solchen Situationen ist es wichtig, die Zuständigkeiten klar zu kommentieren und festzulegen. In der Regel ist der transportierende Arzt nicht für die Patientenversorgung verantwortlich, bevor nicht eine Patientenübergabe stattgefunden hat. Selbstverständlich beteiligt er sich aber an Überlegungen zu Themen bzgl. Transportbedingungen (Dringlichkeit, Stabilität der Patienten, mitzuführende Medikamente und Material). Hier sind gute Absprachen zwischen abgebendem Team und Transportarzt von entscheidender Bedeutung. Letzterer darf sich nicht zu etwas überreden lassen, was er im weiteren Verlauf nicht verantworten möchte bzw. kann. Schwierig wird es, wenn er Massnahmen wie etwa eine Intubation für den Transport erforderlich findet, das abgebende Team dies aber ablehnt. Dann hilft es einen Zeitpunkt festzulegen, ab wann er für den Patienten selbst verantwortlich ist. Im vorliegenden Fall liegt in gewissem Sinn die umgekehrte Situation vor. Es erfolgen Massnahmen, die noch eindeutig in den Bereich der innerklinischen Versorgung im ­abgebenden Spital fallen. Rolf hat noch keinerlei Zuständigkeit. Er hat als Aussenstehender aber eine gute stressfreie Beobachtungsposition. Seine Wahrnehmung ist deshalb uneingeschränkt; optimale Bedingungen für eine grosse „situation awareness“. Und hier ist sein Fachwissen, sein Mitdenken von Bedeutung. Nicht nur aus ethischer Sicht bzgl. guter Patientenversorgung. Auch in juristischer Hinicht hat es Relevanz, wenn er kritische Sachverhalte zwar wahrnimmt aber nicht darauf hinweist, sondern schädigende Konsequenzen durch Unterlassen in Kauf nimmt. Es braucht ein sogenanntes „Speak up“. Viele Analysen zu Zwischenfällen haben gezeigt, dass Anwesende Risiken bemerkt haben, nicht darauf hingewiesen haben oder nicht gehört wurden.

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21  Intensivtransport – Darf man reinreden?

Es soll nicht als Kritik vermittelt werden, sondern mit der Intention, dass alle Beteiligten primär das Beste für den Patienten möchten –– Deshalb eigene Wahrnehmung und Fakten kommunizieren und nicht primär als Fehler werten –– Möglichst mit der Kommunikation des Problems auch schon einen Lösungsvorschlag bieten –– Darauf achten, dass die Botschaft auch gehört und verstanden wird Bei der angesprochenen Person löst ein solcher Hinweis natürlich auch Reaktionen aus. Dieser Mitarbeiter arbeitet meist unter mehr Stress und versteht den Hinweis schnell als Kritik oder gar Angriff auf seine Kompetenz. So sind für diese Position wichtig –– Hinweis als konstruktiv annehmen und sich bewusst vom „Kritikgefühl“ lösen –– Kurze Antwort geben, dass der Hinweis gehört bzw. verstanden wurde –– In der Antwort auch mitteilen, wie mit dem Hinweis umgegangen werden soll Vielleicht hat sich der angesprochene Mitarbeiter diese Gedanken auch schon gemacht und kann seine anderweitige Vorgehensweise begründen. Oder er möchte auf den Hinweis erst später eingehen, weil im Moment andere Dinge prioritär sind. Solche Rückmeldungen sind für denjenigen, der ein Speak up gemacht hat wichtig. Er weis nun, dass er gehört und verstanden wurde. Sieht er in der Reaktion auf seinen Hinweis weiter ein Risiko für den Patienten (objektiv falsche Überlegung) sollte er seine Bedenken erneut äussern. Damit ein „Speak up“ gut funktioniert ist also eine wertschätzende Grundhaltung bei beiden Seiten wichtig. In der Medizin ist es immer noch sehr verbreitet, dass Hinweise zuerst als Kritik vermittelt oder verstanden werden. Hierarchische Strukturen tragen dazu bei und auch der Stress durch Überforderung. Unter Stress reagieren wir sensibler, weil wir unsere Kompetenz unter Beweis stellen wollen (Kompetenzschutz). Wenn Schaden vom Patienten abgewendet werden konnte, sind aber alle Beteiligten anschliessend froh, dass ein Speak up eingesetzt worden ist.

Literatur 1. Poloczek S, Madler C (2000) Transport des Intensivpatienten. Anästhesist 49(5):480–491 2. Davies G, Chesters A (2015) Transport oft he trauma patient. BJA 115(1):33–37 3. Hurst JM, Davis K, Johnson DJ, Branson RD, Campbell RS, Branson PS (1992) Cost and Complications during in-hospital transport of critically ill patients: a prospective cohort study. J Trauma 1992 Oct; 33:582–585 4. Green RS, Turgeon AF, McIntyre LA (2015) Postintubation hypotension in intensive care unit patients: a multicenter cohort study. J Crit Care 30:1055–1060

Literatur

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5. Hui TW, Short TG, Hong W, Suen T, Gin T, Plummer J (1995) Additive interactions between propofol and ketamine when used for anesthesia induction in female patients. Anesthesiology 82(3):641–648 6. Patanwala AE, McKinney CB, Erstad BL, Sakles JC (2014) Retrospective analysis of etomidate versus ketamine for first-pass intubation success in an academic emergency department. Acad Emerg Med 21:87–91 7. Neukirchen M, Kleinbaum P (2008) Sympathetic nervous system. Anesthesiology 109(6):1113– 1130 8. Zhang J (2016) Inferior vena cava ultrasonography before general anesthesia can predict hypotension after induction. Anesthesiology 124(3):580–589 9. Kazama T, Ikeda K, Morita K, Kikura M, Ikeda T, Kurita T, Sato S (2000) Investigation of effective anesthesia induction doses using a wide range of infusion rates with undiluted and diluted propofol. Anesthesiology 92(4):1017–1028 10. Higgs A et al (2018) Guidelines for the management of tracheal intubation in critically ill adults. Br J Anaesth 120(2):323–352 11. Natt BS, Malo J, Hypes CD, Sakles CD, Mosier JM (2016) Strategies to improve first attempt success at intubation in critically ill patients. Br J Anaesth 117(S1):i60–i68 12. Yao W, Wang B (2017) Can tongue thickness measured by ultrasonography predict difficult tracheal intubation. Br J Anaesth 118(4):601–609 13. Jong D et al (2014) Difficult intubation in obese patients: incidence, risk factors, and complications in the operating theatre and in intensive care units. Br J Anaesth 114(2):297–306 14. Jaber S, Jung B, Corne P et al (2010) An intervention to decrease complications related to endotracheal intubation in the intensive care unit: a prospective, multi-center study. Intensive Care Med 36:248–255

22

Andere Länder, andere Sitten – Auslandseinsatz

Inhaltsverzeichnis 22.1  Falldarstellung  22.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Weiterführende Literatur 

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22.1 Falldarstellung Was geschah …? Sabine arbeitet seit drei Jahren nebenberuflich bei einem Ambulanzflugdienst. Sie schätzt es sich immer wieder aufs Neue auf die Patienten und ihre Bedürfnisse ein zu stellen ohne den hohen Zeitdruck der Primärrettung. Zumeist bleiben ja zumindest ein paar Stunden bis zwei Tage zwischen Beginn der medizinischen Abklärung und dem tatsächlichen Einsatzbeginn. Diesmal steht ein Rücktransport aus Marokko an, ein älterer Herr mit einer Cholezystitis sowie ausgeprägter Begleitmorbidität soll heimatnah zur weiteren intensivmedizinischen und operativen Behandlung verlegt werden. Cholezytitis

Die Cholezystitis ist der Paradevertreter der akuten Gallenwegserkrankungen. Der Begriff wird oftmals auch als eine Arbeitshypothese/-diagnose benutzt, obwohl die eigentliche Diagnose noch gar nicht richtig gestellt werden kann. Grundsätzlich kann die akute Gallenwegserkrankung (mit den Leitsymptomen rechtsseitiger Oberbauchschmerz, Ikterus und Cholestase) prä-, intra- und posthepatischen Ursprungs sein, die Prävalenz der extrahepatischen Abflussstörungen liegt jedoch bei 40  %, wobei dann zumeist eine Choledocholithiasis (sog. „Steinleiden“) vorliegt.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_22

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22  Andere Länder, andere Sitten – Auslandseinsatz

Im Gegensatz zur „milderen“ Gallenkolik ist bei der akuten Cholezystitis der Schmerz über 6h andauernd, es besteht meist Fieber und die Infektparameter sind erhöht, Im Ultraschall zeigt sich die Gallenblase verändert und es besteht ein lokaler Druckschmerz (Murphy-Zeichen). Die Leberwerte im Blut geben Aufschluss über das Ausmass der hepatozellulären Schädigung, der Cholestase, der Hämolyse und der Lebersynthesestörung. Als bildgebendes Verfahren wird zunächst die Abdomensonographie vorgenommen, ggf. erweitert durch weitere bildgebende Verfahren wir das MRCP, ERCP oder das zumeist verfügbare Abdomen-CT. Therapeutisch wird zumeist neben der antibiotischen Therapie eine chirurgische Sanierung im Sinne einer Cholezystektomie notwendig.

… so geht es weiter … An Sabines Seite ist diesmal Intensivpflegekraft Jenny – auch sie ist schon einige Jahre auf dem Ambulanzjet aktiv und somit sehr erfahren. Nach knapp vier Stunden Flug steuern die Piloten mit dem Ambulanzjet den Flughafen von Marrakesch an. Entgegen der vorherigen Planungen steht dort aber noch kein Ambulanzfahrzeug bereit. Die Besatzung muss erst einmal eine gute halbe Stunde auf der Vorfeldposition warten, ehe ein Lieferwagen der Flughafenverwaltung vorfährt. Die Ambulanz, so heißt es, sei am Flughafentor, man würde es aber für sicherer halten die Besatzung und die medizinische Ausrüstung mit dem Lieferwagen bis an das selbige Tor zu bringen. Da Sabine und Jenny somit nicht die medizinische Ausrüstung des Ambulanzfahrzeugs eruieren können, nehmen sie das komplette bewegliche Equipment des Ambulanzjets mit. Diese Massnahme bewahrheitet sich als sehr klug, denn das wartende Fahrzeug ist sehr spartanisch ausgerüstet, auch wenn eine „advanced ambulance“ gebucht wurde. Es folgt eine ca. einstündige Fahrt ins marrokanische Hinterland. Die schlechten Strassenverhältnisse versucht der Fahrer mit halsbrecherisch-schneller Fahrweise wett zu machen. Als Jenny versucht den beiden Transporteuren klar zu machen, man müsse nicht so schnell und schon gar nicht mit Sonderrechten fahren, lachen beide nur und winken ab … Das abgebende Krankenhaus ist ein regionales Provinzkrankenhaus, der Patient liegt zwar auf der Intensivstation, was aber nur bedeutet, dass der Patient Zugang zu einer 10 l-Sauerstoffflasche hat. Auffällig ist, dass der Patient in offensichtlich privater Bettwäsche gebettet ist und sich insbesondere die Familie (anwesende Ehefrau und Tochter) um den Patienten kümmern. Sie berichten, dass sie hauptsächlich die pflegerischen Massnahmen übernommen und auch für den Patienten gekocht hätten. Es ist nur eine Pflegerin auf der Station, die jedoch leider kein Englisch, sondern nur Arabisch und etwas Französisch spricht.

22.1 Falldarstellung

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Verantwortlichkeiten in der Krankenpflege

Es kommt nicht selten vor, dass es in deutschsprachigen Krankenhäusern zu Differenzen mit ausländischen Patienten bzw. mir ihren Angehörigen kommt, da sie sich scheinbar in die Pflege der Patienten einmischen. In diesem Fallbericht wird die Begründung hierfür geliefert. In anderen Ländern spielen die Angehörigen eine viel größere Rolle in der Krankenpflege, selbst wenn das Familienmitglied stationärer Patient in einem Krankenhaus ist. Neben der körperlichen Grundpflege kann auch dazu gehören, dass die Angehörigen auch für den Patienten kochen oder Alltagsgegenstände wie Bettwäsche, Besteck, Körperpflegeartikel etc. mit ins Krankenhaus bringen müssen. Für uns ist dies vermutlich unverständlich, für Menschen aus diesen Ländern ist es eine Selbstverständlichkeit. Kommen diese Menschen dann in den Kontakt mit unserem Gesundheitswesen mit den z. T. sehr rigiden Regeln sind Konflikte quasi schon vorprogrammiert. Wie so oft im Leben hilft hier für alle Beteiligten ein unvoreingenommener Zugang zur anderen Kultur verbunden mit viel Toleranz. Schlußendlich geht es in allen Ländern dieser Welt unter den lokalen Verhältnissen ein Optimum an Patientenversorgung trotz vielleicht widriger Umstände zu erreichen. Wenn wir das Wohlbefinden unserer Patienten in den Mittelpunkt stellen ohne die gute medizinische Behandlungsqualität zu schmälern sollten auch wir zu Kompromissen bereit sein.

… so geht es weiter … Sabine und Jenny bitten sie den zuständigen Arzt für eine Übergabe herbei zu rufen. Dies zögert sich nochmal um eine weitere halbe Stunde hinaus (somit ist der gesamte Zeitplan nicht mehr zu halten). Dann erscheint ein jung erscheinender Arzt, der Sabine und Jenny fragt, wo denn der Arzt des Ambulanzjets sei. Sabine versucht es mit Humor zu nehmen und als Kompliment wegen ihres jungen Alters zu verstehen und gibt sich als verantwortliche Ärztin zu erkennen. Der marrokanische Arzt ist daraufhin sehr verwirrt, denn er kann nicht verstehen, wie es sein kann, dass eine Ärztin geschickt wird um dann auch noch einen männlichen Patienten zu versorgen. Er versucht den englischen Arztbrief vor zu lesen, seine eigenen Englischkenntnisse reichen sicher nicht aus selbst einen solchen Brief zu schreiben. Er macht auch nicht den Eindruck als würde er den Patienten kennen, bei allen Nachfragen muss er passen. Jenny drängt zur Umlagerung des Patienten, denn offensichtlich kommt man in der Informationsbeschaffung nicht weiter und muss sich nun eh bemühen nicht noch mehr aus dem Zeitplan zu geraten.

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22  Andere Länder, andere Sitten – Auslandseinsatz

Rollenverständnis

Bedingt durch religiöse und sonstige kulturellen Vorgaben kommt es zu einem deutlich unterschiedlich ausgelegten Rollenverständnis der Geschlechter. So gibt es einige Länder, in denen Ärztinnen, und dann auch noch in verantwortlicher Position, mehr als unüblich sind. Sabine und Jenny scheinen nicht das erste Mal diese Erfahrung zu machen, und so hilft ihre selbstbewußte Gelassenheit über die Verunsicherung des Arztes vor Ort hinweg. Aufgrund des unterschiedlichen Rollenverständnisses kann es aber auch zu deutlich prekäreren Situationen kommen, da es zum Beispiel auch verboten sein kann, dass ein männlicher Arzt eine Patientin behandelt. So kann es schnell zu großen auch juristischen Schwierigkeiten bei einem solchen Auslandseinsatz kommen. Medizinische Abklärungen

Bevor eine Auslandsrückholung stattfinden kann, muss die Anfrage zunächst aufwendig geprüft werden. Natürlich spielt auch eine Rolle, wie der Einsatz bezahlt wird, bzw. ob eine Versicherung hierfür besteht oder die Rechnung privat beglichen werden muss. Auch weitere Kostenträger sind denkbar, beispielsweise internationale Unternehmen, welche ihre erkrankten/verletzten Mitarbeiter zurück transportieren lassen möchten. Als nächster Schritt findet die medizinische Abklärung statt: Dabei wird geprüft, ob und welche Art eines Rücktransports indiziert ist (von der privaten vorzeitigen Rückreise bis hin zum Ambulanzjet). Dabei sind auch die medizinischen Behandlungsoptionen im Einsatzland zu berücksichtigen. Zwar ist der Patientenwunsch nachvollziehbar sich möglichst im Heimatland behandeln zu lassen. Ist jedoch das Behandlungsniveau im Einsatzland mindestens gleichwertig ist, gibt es kaum ein Argument gegen eine zumindest Erstversorgung im Ausland. Oft wird dadurch auch der Rücktransport medizinisch und logistisch weniger aufwendig. Findet eine medizinisch begleitete Rückholung statt, muss möglichst viel über den Patientenzustand in Erfahrung gebracht werden (Laborwerte, Vitalparameter, notwendige Diagnostik und Therapie, …). Hieraus leitet sich ab, auf welche notwendigen Massnahmen man sich im Einsatz einstellen muss, wobei hier immer eine Sicherheitsreserve eingeplant werden muss. Es kann nämlich sein, dass das abgebende Krankenhaus den Patientenzustand beschönigt, um die Rückholung scheinbar nicht zu gefährden. Es kommt aber auch das Gegenteil vor, dass die abgebenden Ärzte dramatisieren in der Hoffnung so eher zu einer gesicherten Indikation für ein hochwertiges Rückholungsverfahren zu kommen. Die medizinische Abklärung ist jedoch eine verantwortungsvolle Aufgabe, die viel Erfahrung und Menschenkenntnis bedarf. Ist festgelegt wann, wie und mit welchem Aufwand transportiert werden muss, kann mit der Flugplanung insbesondere durch die Piloten begonnen werden.

22.1 Falldarstellung

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… so geht es weiter … Nach der Umlagerung wird der 74 jährige Herr Schmidt monitorisiert, was ihn sehr verwundert, denn das hat er die vergangenen vier Tage im Krankenhaus nicht erlebt. Die Schmerzen beschreibt er als tolerabel, so dass man zunächst auf eine Analgesie zum Transport verzichtet. Einen venösen Zugang hat Herr Schmidt eh nicht mehr, er meint er sei ihm aus „Sicherheitsgründen“ entfernt worden, immerhin hätte er darüber aber noch bis am selbigen Morgen ein Antibiotikum erhalten. Seine Ehefrau begleitet den Heimtransport und macht zusammengefasst folgende anamnestische Angaben: Man habe die mit einem Geschäftsmann verheiratete Tochter und die beiden Enkel besucht. Nach ungefähr einer Woche vor Ort kam es zu starken Bauchschmerzen, Übelkeit/Erbrechen sowie Fieber und Schüttelfrost. Daraufhin stellte sich Herr Schmidt im örtlichen Krankenhaus vor. Die Initialen Laborwerte ergeben eine systemische Entzündungsreaktion, eine Laborkontrolle erfolgt dann bis zur Verlegung nicht mehr, denn man stellt zusammen mit sonographischen Hinweisen die Verdachtsdiagnose einer Cholezystitis mit beginnender cholangenen Sepsis. Die OP-Indikation wird prinzipiell gestellt, die behandelnden Ärzte nehmen jedoch rasch Abstand davon, da Herr Schmidt aufgrund von Vorhofflimmern unter Xarelto steht und dies bis zum Aufnahmetag regelmäßig eingenommen hat. Das Blutungsrisiko wird als unberechenbar hoch eingeschätzt, weiter werden auch keine Blutprodukte in der Klinik vorgehalten. Cholangene Sepsis

Die cholangene Sepsis ist das Vollbild und die bedrohlichste Variante der akuten Gallenwegserkrankung. Der Patient ist vital bedrohlich erkrankt und benötigt neben der operativen Versorgung und antibiotischen Therapie (mit einem hoch wirksamen und breiten Antibiotikum) auch zumeist eine kreislaufunterstützende Therapie. Gerade bei älteren Patienten mit ausgeprägter Begleitmorbididät ist die Letalität trotz aggressiver Therapie vergleichsweise hoch, jedoch ist dies extrem Abhängig von der verfügbaren Behandlungsqualität. Xarelto Xarelto bzw. sein Wirkstoff Rivaroxaban gehört als Faktor-Xa-Hemmer zu den sogenannten direkten oralen Antikoagulantien (DOAK, früher NOAK genannt). Weitere Vertreter der DOAKs sind: Faktor-Xa-Hemmer –– Apixaban (Eliquis) –– Edoxaban (Lixiana) Faktor.IIa-Hemmer –– Dabigatran (Pradaxa) –– Argatroban (Argatra)

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22  Andere Länder, andere Sitten – Auslandseinsatz

Ursprünglich wurden diese Substanzen entwickelt um die aufwändige und kon­ trollbedürftige Therapie mit Cumarinderivaten („Marcumar“) zu ersetzen. Sie sind auch nachweislich genau so effektiv und weisen ein ähnliches Nebenwirkungs- und Risikopotential auf. Sie sind jedoch im Vergleich zur Marcumartherapie viel teurer und ihre Wirksamkeit kann oftmals nicht laborchemisch einfach bestimmt werden. Ebenso gibt es nur für Dabigatran bisher ein Antidot. Ein Antidot für Apixaban und Rivaroxaban steht erst noch vor der Zulassung. Kommt aktuell ein Patient mit einer DOAK-Dauertherapie in die Klinik und sollte operativ versorgt werden, besteht hierfür ein deutlich erhöhtes und schwer ein zu schätzendes Blutungsrisiko. Dies ist auch bei der Bereitstellung von Blutprodukten bzw. Gerinnungspräparaten für diesen operativen Eingriff zu berücksichtigen.

… so geht es weiter … Auf Drängen der Angehörigen stimmt die Klinik der Kontaktaufnahme zur Versicherung des Patienten zu. Die Ehefrau hat den Eindruck, dass die Ärzte erleichtert sind, als entschieden wird, dass der Patient repatriiert wird, allerdings scheint dadurch auch leider das Interesse der Behandler vor Ort am Patienten verloren gegangen zu sein, so dass es in den vergangenen zwei Tagen zu keinen nennenswerten diagnostischen Massnahmen oder Änderungen des Therapieregimes gekommen sei. Während der ebenso turbulenten Rückfahrt zum Flughafen bekommt Herr Schmidt nun doch zunehmend mehr Schmerzen, so dass ihm Sabine einen neuen periphervenösen Zugang legt und darüber eine Analgesie beginnt. Ebenso erhält Herr Schmidt bei septischem Krankheitsbild und dem klinischen Bild der Exsikkose während des Heimattransports in der Summe drei Liter kristalloide Lösung. Auffällig hierbei ist, dass es darunter zu keinem Harndrang kommt, was den Verdacht auf eine Hypovolämie weiter erhärtet.

Sepsistherapie/Hypovolämiezeichen

An anderer Stelle wird das rasche Erkennen eines Sepsis-Patienten mit Hilfe des qSOFA-Scores erläutert. Ist der Sepsis-Patient als solcher identifiziert, ist er als klinischer Notfall zu verstehen und daher auch priorisiert zu behandeln. Innerhalb einer Stunde sollte die mikrobiologische Diagnostik erfolgt und die erste Gabe eines kalkulierten Antibiotikums verabreicht sein. Parallel hierzu sollte man sich schnellstmöglich auf die Fokussuche der akuten Infektion begeben, da sich daraus ggf. weitere gezielte Therapieoptionen ergeben. Durch die grundsätzliche Pathophysiologie der Sepsis mit Vasodilatation und Schrankenstörung der Gefäße kommt es zu einem Volumendefizit mit Kreislaufdepression. Doch leider gibt es keine Formel oder einen Laborparameter, mit dessen Hilfe man den Volumenbedarf berechnen könnte. Grundsätzlich kann man mehrere

22.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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der folgenden Parameter/Tests verwenden um die Menge des auszugleichenden Volumens in etwa ab zu schätzen: –– –– –– –– ––

passive leg-raise test: Anstieg des Blutdrucks nach Schocklagerung wiederholte Lactatmessungen (mehr die Tendenz als der Absolutwert) Zeichen der Zentralisation (kalte Akren bzw Temperaturstufe an der Extremität) Messung der zentralvenösen Sauerstoffsättigung mit einem Ziel von mind. 60–70 % Sonographische Messung des Durchmessers und Atemmodulation der Vena cava inferior –– Urinproduktion –– Ggf. Blutdruckstabilisierung und Reduktion der Herzfrequenz –– Reduktion des Katecholaminbedarfs Wie gerade schon genannt ist zumeist besonders in der Initialphase zur Kreislaufstabiliserung mit einem MAD über 60 mmHg eine Katecholamingabe notwendig, wobei Noradrenalin die 1. Wahl ist. Bei sonographisch schlechter kardialer Pumpfunktion oder anhaltend schlechter zentralvenöser Sauerstoffsättigung ist eine Inotropiesteigerung mit Dobutamin zu erwägen. Nur noch im ansonsten nicht zu beherrschenden Septischen Schock ist die Korstisongabe mit 200  mg Hydrocortison/Tag zu empfehlen. Als Ultima Ratio bei mit Noradrenalin nicht zu stabilisierenden Blutdruck kann man auch die zusätzliche Gabe von Vasopressin diskutieren.

… das Ende des Falls Später erfährt Sabine bei einem Rückruf in der aufnehmenden Klinik, dass Herr Schmidt nach einer CT-Bildgebung noch am selbigen Abend operativ versorgt wurde und sich nun von seiner abdominellen Sepsis auf der Intensivstation erholt.

22.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Es scheint ein Einsatz mit Hindernissen zu sein, denn wiederholt kommt es zu unerwarteten Ereignissen. Diese könnten auch Grund für Ärgernisse und Konflikte sein, was es aber scheinbar nicht tut. Aber warum? Weil Sabine und Jenny erfahren sind im Ambulanzflugdienst und die besonderen Verhältnisse in fremden Ländern kennen. Die Sprachbarriere ist dabei zumeist das kleinste Problem. Im Rahmen der Einsatzplanung würde man am Liebsten bis ins Detail alles strukturiert planen, wie es unserer Kultur und Tugenden entspricht. ­Aufgrund Ihrer Erfahrung wissen Sabine und Jenny, dass es jedoch in vielen Regionen der Erde andere Prioritäten und Ansichten gibt. Sabine und Jenny scheinen die richtigen

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22  Andere Länder, andere Sitten – Auslandseinsatz

­ haraktereigenschaften für diese besondere Tätigkeit zu haben: Sie sind tolerant, agieren C offen und humorvoll, sie vertrauen auf Ihr medizinisches Wissen sowie Fertigkeiten und kennen ihr Ziel: Den ihnen anvertrauten Patienten bestmöglich betreut und schnell in sein Heimatland zu bringen. Um weniger oder mehr geht es nicht. Es macht keinen Sinn auf die vorherigen Planungen zu pochen und nicht kompromissbereit zu sein: Wenn es für die Flughafenverwaltung zu unsicher ist die Ambulanz auf das Rollfeld zu lassen, wird man es wohl akzeptieren müssen, da sich die Situation sonst nur zuspitzt. Dass die Ambulanzen in vielen Ländern nicht den westlichen Standards entsprechen kann man sich eigentlich auch denken. Auch die Verkehrssicherheit hat in vielen Ländern nicht die gleiche Priorität wie bei uns. Andere kulturelle Voraussetzungen haben auch ihre Auswirkungen auf die Krankenversorgung, was aber zumeist auch in sich stimmig und nachvollziehbar ist. In Kulturen, in denen die Familie einen höheren Stellenwert besitzt wie bei uns, ist es schlüssig, dass auch im Krankenhaus die Angehörigen für die Patienten Sorge tragen. Zudem spart dies dem oft maroden Gesundheitssystem auch Geld, was hilft die Gesundheitsversorgung überhaupt aufrecht zu erhalten. Wir sollten uns immer vor Augen halten, dass die sog. „internationalen“ Behandlungsleitlinien zumeist nicht für die gesamte Weltbevölkerung gemacht sind, sondern nur für eine sehr kleine privilegierte Gruppe aus den Industrienationen. Sabine und Jenny setzen sich mit ihrem professionellen Auftreten, ihrem Improvisationstalent sowie ihrer Kompromissbereitschaft dafür ein, dass ihr Patient schnellstmöglich nach unserem gewohnten Standard versorgt werden kann. Dies gelingt nur, weil die beiden die aufkommenden Widrigkeiten gelassen ertragen ohne ihr Ziel aus den Augen zu verlieren. Einige Dinge hiervon kann man trainieren, Andere kommen aus dem Bereich der Persönlichkeitseigenschaften, was man auch bei der Personalauswahl für solch eine Tätigkeit bedenken sollte.

Weiterführende Literatur 1. Michels G, Kochanek M (Hrsg) (2011) Repetitorium Internistische Intensivmedizin, 3. Aufl. Springer, Berlin

Ausländischer Patient – Umgang mit anderen Kulturen

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Inhaltsverzeichnis 23.1  Falldarstellung 23.2  Fallnachbetrachtung/Analyse Weiterführende Literatur

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23.1 Falldarstellung Was geschah …? Heute haben Tim und Sven zusammen Dienst auf dem RTW. Beide sind schon seit über 10 Jahren hauptamtlich im Rettungsdienst tätig und sind daher als durchaus erfahren zu bezeichnen. Aktuell ist die Stimmung auf der Rettungswache recht schlecht: Das vor einem halben Jahr neu eingeführte Schichtplanprogramm ist aus Sicht der hauptamtlichen Mitarbeiter eine Katastrophe, vermutlich steht auch damit in Zusammenhang, dass mehr Angestellte als sonst seither gekündigt haben. Seither ist die Personalsituation deutlich angespannt, es müssen viele Überstunden geleistet werden und es konnten zuletzt auch nicht mehr alle Schichten besetzt werden. Nun hat die Rettungsdienstleitung in ihrem Mail-Newsletter bekannt gegeben, dass man aufgrund der schwierigen finanziellen Situation günstigere Fahrzeuge (aus der Sicht der Belegschaft minderwertiger Bauart) beschaffen will und auch die Renovierungsarbeiten an der Rettungswache erst einmal warten muss. Heute Morgen war daraufhin die Stimmung auf der Rettungswache zum Schneiden und die Diskussionen über die aktuellen Entwicklungen gingen heiß her. Sven und Tim können sich gedanklich nur schwer losreißen, als der Piepser zum Einsatz ruft.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_23

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23  Ausländischer Patient – Umgang mit anderen Kulturen

Gemeldet ist eine Synkope in einem größeren Wohnblock, der RTW ist allein auf der Anfahrt. Vor dem Anwesen angekommen sieht man schon einen aufgeregten jungen Mann aus einem Fenster im vierten Stock winken. Sven und Tim verdrehen daraufhin die Augen: Sie schätzen es nicht gerade wenn aufgeregte Angehörige/Passanten anwesend sind, die Einsatzstelle in einem oberen Stockwerk liegt und die grundsätzliche Motivation ist heute eh am Boden.

Synkope

Bei einer Synkope handelt es sich um ein plötzliches und kurzzeitiges sowie bei Flachlagerung wieder spontan reversibles Ereignis. Diese Definition gilt es ernst zu nehmen! Viele Klinikanmeldungen mit dieser Arbeitsdiagnose sind formell inkorrekt, da sie nicht dieser Definition entsprechen. Erreicht der Patient beispielsweise noch vigilanzgemindert die Klinik, so kann es keine Synkope sein. Es ist scheinbar häufig eine Verlegenheitsdiagnose, da sich keine andere Notfallentität abgrenzen lässt. Bei gemeldeten Synkopen sollte man auch immer an häufige Differentialdiagnosen denken: –– –– –– –– –– –– –– –– ––

Anhaltende Hypotonie, bsp. aufgrund eines Volumen-/Blutverlusts Psychogenes Ereignis Krampfereignis Schwindel Hyperventilation Intoxikationen Cerebrovaskuläre Insulte Metabolische Ursachen (Hypoglykämie u. a.) Infektionen/Sepsis

Leider ist der Sprachgebrauch bei ähnlichen Ereignissen nicht ganz eindeutig geregelt: So gibt es Begrifflichkeiten wie Präsynkope, Präkollaps, Kollaps, …. Bei Verwendung solcher Begriffe ist es daher an zu streben dies genauer aus zu führen bzw. zu begründen. Es ist für die aufnehmenden Kliniken von großer Wichtigkeit adäquate Informationen zum Ereignis zu bekommen, weil sich daran die weitere Abklärung bemisst. Während bei sog. „low risc“-Synkopen oder keinen „echten“ Synkopen eine ambulante Vorstellung ausreichend sein kann, ist bei „high risc“-Synkopen eine stationäre Abklärung notwendig, ggf. zunächst auch auf einer Überwachungs-/Intensivstation. Hierzu sind zum Beispiel anamnestische Hinweise relevant: Ist der Patient gestanden, gab es Lagewechsel oder auslösende Ereignisse?

23.1 Falldarstellung

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Es lassen sich folgende Arten von Synkopen unterscheiden (nach 1): –– Reflexvermittelte Synkopen –– Neurokardiogene Synkopen = vasovagale Synkopen (ausgelöst durch Schreck, Schmerz, Angst …) –– Karotis-Sinus-Syndrom mit Synkopen –– Husten- und Miktionssynkopen als pressorische Synkopen –– Orthostatische Synkope (Plötzliches Aufstehen oder langes Stehen) –– Arrhythmogene Synkope (plötzliche Brady-/Tachykardien) –– Synkopen durch Herz-/Lungenerkrankungen (Aortenstenose, Lungenembolie, u. a.) –– Zerebrovaskuläre Synkopen (z. Bsp. Subclavian-Steel-Syndrom) Bereits bei der notfallmedizinischen Erstversorgung ist nach Hinweisen für die Art der Synkope gezielt zu suchen (Anamnese, Untersuchungsbefunde).

… so geht es weiter … Außer Atem erreichen die Beiden das vierte Obergeschoss. Gerade als sie die Wohnung betreten wollen bittet sie der junge Mann, der sie herbei gewunken hatte, sie mögen doch bitte vor Betreten der Privatwohnung die Schuhe ausziehen. Als Tim schon beginnen will die Stiefel aus zu ziehen, wehrt Sven die Bitte ab. Wenn Hilfe gebraucht würde, müsse man damit leben, dass mit Dienstschuhen die Wohnung betreten wird. Daraufhin lässt der junge Mann die RTW-Besatzung zögerlich und wenig begeistert ein. Sie finden eine knapp sechzig jährige Frau offensichtlich muslimischen Glaubens mit Kopftuch vor. Eine Eigenanamnese ist aufgrund einer erheblichen Sprachbarriere nicht möglich. Der jüngere Mann, der sie heran gewunken und eingelassen hat, gibt sich als Sohn zu erkennen und kann im gebrochenen deutsch Auskunft geben. Seiner Mutter sei plötzlich schwarz vor Augen und schwindlig geworden, daraufhin sei sie dann kurzzeitig zusammengesackt. Nun ist die Patientin wieder wach, sitzt aber scheinbar kraftlos, etwas verlangsamt und mit zitternden Augenliedern auf dem Sofa. Auf die Frage nach Vorerkrankungen und Allergien kann der Sohn keine Auskunft geben, er schafft jedoch eine Schachtel mit Medikamenten herbei. Darin befindet sich ein ACE-Hemmer, ein Betablocker sowie ein Statin. Zudem weist er darauf hin, dass derzeit der Fastenmonat Ramadan ist und sich die streng gläubige Mutter auch daran halte. Nun wollen Tim und Sven die Vitalparameter erheben und eine orientierende körperliche Untersuchung durchführen. Die Patienten ist aber eher ablehnend und merklich verunsichert bzw. peinlich berührt. Der Sohn meint daraufhin, ob es nicht möglich wäre, dass die Mutter von einer Frau untersucht werden oder zu einer Ärztin gebracht werden könnte. Sven entgegnet, dass dies nicht üblich sei und auch gefährlich werden könnte. Der nun auch verunsicherte Sohn will daraufhin erst einmal mit dem Vater telefonisch Rücksprache halten. Nach einigem hin

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23  Ausländischer Patient – Umgang mit anderen Kulturen

und her dürfen die beiden Rettungsassistenten den Blutdruck (90/60 mmHg) und die pulsoxymetrische Sauerstoffsättigung messen (95  % bei Raumluft, 67/min Pulsfrequenz). Ebenso gelingt es über die Extremitätenableitungen ein orientierendes EKG schreiben, welches einen Sinusrhythmus ohne relevante Erregungsrückbildungsstörungen zeigt. Der Blutzucker ist mit 57 mg/dl noch ausreichend. Tim bespricht nun mit dem Sohn, dass die Mutter nun ins Krankenhaus mitgenommen werden müßte, da dort die Synkope abgeklärt werden muss. Dieser entgegnet, dass er überrascht sei, warum man der Mutter nicht etwas „Kräftigendes“ geben und sie in ihrer Wohnung belassen könnte. Tim nutzt die zuvor geäußerte Bitte und argumentiert, dass es in der Klinik sicher eine Ärztin gäbe, die pietätvoll die Mutter untersuchen könne. Daraufhin bespricht sich der Sohn lebhaft mit seiner Mutter, woraufhin dann schließlich die Klinikanmeldung und der Transport stattfinden kann.

War es nun tatsächlich eine Synkope?

Diese Frage ist in diesem konkreten Fall leider nicht eindeutig zu beantworten. Dafür spricht: Es handelte sich um ein plötzliches und nach dem Zusammensacken wieder spontan reversibles Ereignis. Dagegen spricht: Die Patientin ist anhaltend verlangsamt und kraftlos. Die zitternden Augenlieder lassen auch an eine psychogene Ursache denken.

… das Ende des Falls Noch während Tim und Sven an der Klinik die Einsatzbereitschaft wieder herstellt, erreicht der Ehemann der Patientin in Begleitung von vier weiteren Personen die Klinik, eine Dame hat auch ein Aufbewahrungsgefäß mit Essen dabei. Tim stutzt, es ist doch Ramadan und warum bringen sie das Essen mit in die Klinik? Verwundert und kopfschüttelnd fahren die Beiden zurück auf die Wache in der Hoffnung auf einen wie sie meinen „richtigen und normalen Notfall“ oder besser keinen weiteren Einsatz mehr.

23.2 Fallnachbetrachtung/Analyse Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass Tim und Sven langjährig erfahrene hauptamtliche Mitarbeiter des Rettungsdienstes sind. Man darf Ihnen aufgrund ihrer großen Erfahrung ein fundiertes Wissen, gute praktische Kenntnisse sowie eine hilfreiche Arbeitsroutine unterstellen. Andererseits ist eine schlechte Stimmung auf der Rettungswache natürlich als ein ungünstiger Ausgangsfaktor zu verbuchen. Objektiv betrachtet haben die (nicht einmal exis-

23.2 Fallnachbetrachtung/Analyse

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tentiellen im Sinne eines bedrohten Arbeitsplatzes) Probleme im Betrieb rein gar nichts mit dem späteren Einsatz zu tun, dennoch haben sie einen relevanten Einfluss auf die Stimmungslagen der beiden Kollegen, die auch ihre Motivation merklich senkt und angreifbar für (empfundene) Widrigkeiten macht. So ruft der wild winkende Angehörige bereits ersten Widerwillen hervor, da in den Augen der erfahrenen Rettungsassistenten bei einer Synkope diese Aufregung nicht angebracht ist. Aus Sicht der Angehörigen, die in Sorge um einen geliebten Menschen erstmalig mit einer solchen Situation konfrontiert werden, ist es jedoch gar nicht so unverständlich. Den nächsten Dämpfer erfahren die beiden RA, als sie der Sohn der Patientin bittet die Schuhe aus zu ziehen, was aber in diesem Fall keine übertriebene Reinlichkeit, sondern einen religiösen Grund hat. Unvoreingenommen geht wohl keine Gefahr für die beiden Kollegen aus, wenn sie die Schuhe ausziehen und in Socken die Wohnung betreten, auch wenn es für sie ungewöhnliche Situation ist. Die vorliegende ausgeprägte Sprachbarriere ist für die Anamnese sicherlich nicht förderlich, lässt sich dann aber über den Sohn ja doch noch erheben bzw. lässt sich die Dauermedikation erheben. Die blutdrucksenkende Wirkung der Medikamente sowie die weiteren Effekte des Betablockers prädisponieren die Patientin gerade in den langen Nüchternphasen für synkopale Ereignisse. Für Nicht-­ Muslime ist der Ramadan mit seinen vielen Regeln und Traditionen oftmals unverständlich, dennoch sollte man versuchen diesem religiösen Bedürfnis Respekt entgegen zu bringen. Es gibt mehrere Ausnahmeregelungen für Kinder, Schwangere sowie alte und kranke Menschen, dennoch kann es eben mal trotzdem zu gesundheitlichen Problemen bedingt durch diese Fastenperiode kommen. Auch das Kopftuch ist Ausdruck des tiefen Glaubens, daher ist der Wunsch nach einer weiblichen Untersucher-/Behandlerin nachvollziehbar. Es besteht eine große Scham und Angst gegenüber dem männliche Behandlungsteam, da dies im Herkunftsland absolut unüblich und verpönt ist. Nun ist es wichtig sich in Erinnerung zu rufen, dass die durch das Rettungsteam empfundene Widrigkeiten keinen Protest gegen die medizinische Behandlung, sondern es sich viel mehr um eine bitte um Rücksichtnahme bezüglich der religiösen Bedürfnisse handelt. Die Patientin und ihre Angehörigen fühlen sich durch die medizinische Akutsituation bedroht und wollen das Beste für die Patientin. Dies führt dazu, dass im Sinne eines adäquaten Behandlungsergebnisses von den ansonsten etablierten Versorgungsstrategien abgewichen werden sollte. In dieser pa­ triarchalischen Kultur ist auch die Rücksprache mit dem Vater nicht ungewöhnlich und sollte nicht als Mißtrauen verstanden werden. Auch das rasche Eintreffen mehrerer Angehöriger in der Klinik ist nicht überraschend (und hat auch seinen Sinn) und sollte nicht als störend, sondern als Ressource empfunden werden. Allerdings bedarf dies einer guten Kommunikation mit den Angehörigen. Der Ehemann kommt vermutlich aus Sorge um seine Frau und ist gerade in diesem Kulturkreis wichtigster Ansprechpartner für die weitere heimische Versorgung der Patientin. Die anwesenden Frauen können der Patientin helfen würdevoll gemäß der religiösen Vorgaben gepflegt zu werden. Man muss bedenken, dass es in vielen arabischen Ländern üblich ist, dass der Patient von seinen Angehörigen ge- und auch verpflegt wird. In manchen Ländern ist es sogar üblich selbst Bettwäsche und

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23  Ausländischer Patient – Umgang mit anderen Kulturen

Geschirr mit zu bringen. Dies ist für unser westliches Verständnis kaum vorstellbar, aber wir sollten uns doch Mühe geben einen guten Kompromiss zu erreichen. Durch eine gute Absprache mit der Patientin und ihrer Familie lässt sich dies zu allermeist auch ohne weitere Probleme erreichen. Man kann und wird auch nicht erwarten können, dass jeder Mitarbeiter mit allen religiösen Bedürfnissen und Vorgaben ausreichend auskennt. Hier hilft aber zumeist ein offener und unvoreingenommener Umgang mit den Patienten sowie deren Angehörigen. Vernimmt man Unbehagen gegenüber der „normalen“ Versorgung sollte dies offen angesprochen und eine Rücksichtnahme in Aussicht gestellt werden. Nicht selten ist dies auch für den Helfer eine persönliche Bereicherung auf diese Besonderheiten ein zu gehen. Aber gerade unter Stress und/oder dem Einfluss anderer Störfaktoren wie in diesem Fallbeispiel fällt es natürlich nicht leicht sich auf eine solche außergewöhnliche Situation ein zu lassen, was aber unser professioneller Anspruch an uns selbst sein sollte.

Weiterführende Literatur 1. Herold G (2013) Innere Medizin. Eigenverlag

Fahrradunfall – CRM-Leitsätze

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Inhaltsverzeichnis 24.1  Falldarstellung  24.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Weiterführende Literatur 

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24.1 Falldarstellung Was geschah … An einem Frühlingsnachmittag hat es sich gerade Oli in seinem Notarzt-Bereitschaftszimmer zum Mittagschlaf gemütlich gemacht, da ertönt sein Meldeempfänger. Oli steht kurz vor dem Facharzt Anästhesie und fährt nebenberuflich mit Leib und Seele noch Notarzt-­Schichten. Daher muss er sich auch nicht lange motivieren, hüpft aus dem Bett und läuft schnellen Schrittes zum NEF. Dort erwartet ihn Tobias, ein erfahrener Rettungs­ assistent. Die Leitstelle meldet einen Fahrradunfall mit Amputationsverletzung des Beins in einem ca. 10 km entfernten Naherholungsgebiet. Ebenso auf der Anfahrt ist ein RTW aus einem anderen Landkreis und ein Rettungshubschrauber (RTH), da die Lokalisation der Unfallstelle nicht ganz klar ist und sich die Leitstelle erhofft, dass der RTH die Freiflächen zügig abfliegen kann während das NEF im Wald vermutlich schneller ist. Oli schmunzelt und sagt zu Tobias, dass es sich beim Fahrradfahren doch sicher nicht um eine Amputationsverletzung handelt, sondern wahrscheinlich doch eher um eine offene Fraktur. Nach ca. 15 min erreicht Oli nach dem RTW aber vor dem RTH die Einsatzstelle. Vor dem RTW steht auch noch ein großer Traktor mit einer hochgefahrenen großen Egge. Als Oli am Traktor vorbei läuft, fallen ihm gleich Blutspuren an der Egge auf. Das Fahrrad

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_24

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24  Fahrradunfall – CRM-Leitsätze

liegt komplett zerstört im Strassengraben. Die RTW-Besatzung kümmert sich bereits um den Patienten. Reflexartig murmelt Oli: Sch …, die Leitstelle hat recht! Neben der kleinen geteerten Strasse liegt auf einer kleinen geschotterten Fläche der ca 60jährige Herr Pech, neben ihm kniet aufgelöst seine Frau. Herr Pech hat beim Zusammenprall mit dem ihm entgegen kommenden Traktor eine Subamputation des linken Oberschenkels erlitten. Ebenfalls fällt Oli gleich eine geschlossene aber maximal dislozierte Fraktur des linken Ober- und Unterarms auf. Oli versucht seine aufkommende Aufregung im Zaum zu halten und spult sein Programm ab und beginnt mit der Abarbeitung mittels des ABCDE-Schemas. cc CRM-Leitsatz 11: Verwende Merkhilfen und schlage nach

Er erschrickt förmlich, als der Patient auf Ansprache hin die Augen öffnet und ihn um Hilfe bittet. Bei diesem Verletzungsmuster ist Oli spontan von einem bewußtlosen oder gar leblosen Patienten ausgegangen. Dabei hätte Oli nur einen Blick auf den von der RTW-­ Besatzung bereits angelegten Überwachungsmonitor werfen brauchen. Dort zeigt sich seine Sinustachykardie um 120/min und ein Blutdruck von 70/40 mmHg, die Pulsoxymetrie zeigt aufgrund der Zentralisation nichts an. Herr Pech weißt einen GCS von 14 Punkten auf (wobei er die Augen vermutlich nur wegen der grellen Sonne geschlossen hat) und zeigt somit keinen Hinweis auf ein Schädel-Hirn-Trauma auf. Dies hat vermutlich auch der Fahrradhelm verhindert, der jedoch einmal längs gespalten ist. Oli sagt dem Patienten und seiner Ehefrau, dass er sich nun zusammen mit seinen Kollegen alles in der Macht stehende unternehmen würde. Was besseres/empathischeres fällt ihm gerade nicht aus, denn die Ehefrau verabschiedet sich gerade von ihrem Mann, da beide davon ausgehen, dass er den Unfall wohl nicht überstehen wird. Die RTW-Crew hat nicht nur einen Monitor angeschlossen, sondern Herrn Pech auch bereits eine Sauerstoffmaske aufgesetzt, einen periphervenösen Zugang gelegt und eine Vollelektrolytinfusion gestartet. Weiterhin haben sie am linken Oberschenkel ein Tourniquet angelegt, welches eine weitere schwere Blutung verhindert. Dafür, dass der RTW keine fünf Minuten vor dem NEF eingetroffen ist eine hervorragende Leistung findet Oli und gibt der Besatzung eine entsprechende Rückmeldung, welche aber die Besatzung nicht quittiert. Die beiden Rettungsassistenten des RTW arbeiteten bisher fast maschinenartig und wirken nun plötzlich kaum ansprechbar. Mit dem Eintreffen von Oli fällt die Last der Führungsverantwortung von ihnen ab und scheinen nun aufgrund der bizarren Situation zu dekompensieren. Oli bittet um die Vorbereitung einer Narkoseeinleitung und Intubation, ehe er sich um die Versorgung des linken Beins und linken Arms kümmern will. Doch alle seine Anweisungen scheinen ungehört zu verhallen, die Kollegen des RTW wirken schlagartig wie entkoppelt. Alle Beteiligten können fast nicht anders als wiederholt auf das zerfetzte Bein zu schauen, obwohl dies natürlich nichts bringt, aber die erschreckend-schwere Verletzung zieht die Aufmerksamkeit scheinbar magisch an.

24.1 Falldarstellung

181

cc CRM – Leitsatz 14: Lenke Deine Aufmerksamkeit genau (Situation awareness)

Neben der Primärversorgung versucht Oli die Notfallanamnese des Patienten von ihm selbst und seiner Ehefrau mittels des SAMPLER-Schema zu erfassen: S – Signs & Symptoms Sz. linkes Bein und Arm, Kollapsgefühl A – Allergy Keine M – Medication Unbekanntes Antihypertensivum P – Past medical History Z.n. schwerer Perimyokarditis im Vorjahr L – Last Meal ca. 2h E – Event Unfallereignis erinnerlich, keine Amnesie (R – Risk factors) cc CRM-Leitsatz 8: Beachte und verwende alle Informationen

Oli ist erleichtert, als nun auch der RTH knapp hundert Meter entfernt zur Landung geht. Schnellen Schrittes eilen die Notärztin und der Rettungsassistent des RTH zur Unfallstelle. Oli und die Notärztin Jana vom RTH sprechen sich kurz ab: Oli soll als ersteintreffender NA die Teamleitung weiterhin behalten, Jana bietet ihm ihre Hilfe an. Oli meint, es mache Sinn, wenn hier im ländlichen Bereich der RTH den Transport des instabilen Patienten in ein weiter entferntes Traumazentrum übernimmt und Jana doch daher die Auswahl der Medikamente und ihrer Dosierung übernehmen soll, während Oli sich für die Atemwegssicherung vorbereitet. Jana bietet das Videolaryngoskop (VL) des RTH an, was Oli gerne annimmt, da er diese Technologie gerade zur Atemwegssicherung bei fraglich verletzter HWS sehr schätzt. Während Oli sich für die Atemwegssicherung parat macht, bekommt er nur bruchstückhaft mit, dass Jana Mühe hat sich die richtigen Medikamente durch die RTW-Besatzung richten zu lassen, da einige Unklarheiten bestehen. cc CRM-Leitsätze 4, 5, 6 & 7:

Übernimm die Führungsrolle oder sei ein gutes Teammitglied Verteile die Arbeitsbelastung Mobilisiere alle Ressourcen (Personen und Technik) Kommuniziere sicher und effektiv Oli beginnt mit der Präoxygenierung und kurz darauf beginnt Jana mit der Narkoseinduktion. Oli führt das zuvor überprüfte Videolaryngoskop ein und sieht … nichts! Die Sauerstoffsättigung fällt unmittelbar ab, aber auf dem Monitor des VL sieht man bei der grellen Sonne einfach nichts. Oli spricht sein Problem sofort aus (Speak up!) und versucht

182

24  Fahrradunfall – CRM-Leitsätze

eine direkte Laryngsokopie, die aber auch mißlingt. Er greift zum Beatmungsbeutel um eine vorsichtige Maskenbeatmung zu beginnen, welche glücklicherweise auch gelingt. Jana fragt was los ist und Oli berichtet von seinen Sichtschwierigkeiten. Jana sagt, ihr sei mal was Ähnliches passiert und bietet für den zweiten Versuch ihre Assistenz an und bittet zwei ebenfalls eingetroffene Polizisten eine Decke über die beiden Notärzte und den Kopf des Patienten zu legen. Was die Sicht auf den Monitor angeht ist dies auch sehr hilfreich, doch die Intubation macht es nicht wirklich einfacher. Nur mit Mühe und bei erneut abfallender Sauerstoffsättigung gelingt Oli die Intubation mit Assistenz mit Jana. Beide Notärzte sind froh und erleichtert, dass nun der Atemweg gesichert ist. Oli schließt sofort den Notfallrespirator an. Nach ca. einer Minute gibt dieser einen sogenannten Leckage-­Alarm, gleichzeitig sagt Jana der Blutdruck sei aktuell nicht mehr messbar, so dass aktuell ein A/B/C-Problem vorliegt. Oli will sich um den Atemweg bzw. die Beatmung kümmern, während Jana sich um den Kreislauf kümmert. Oli versucht die Einstellungen am Respirator zu verbessern, was jedoch nicht gelingt, stattdessen sieht er ein angezeigtes Minutenvolumen von gerade einmal 0,7 l/min. Oli schließt eine Diskonnektion der Beatmungsschläuche aus, in dem er alle Verbindungsstellen durchgeht, jedoch ohne Erfolg. Als nächstes vermutet er einen Spannungspneumothorax, was auch die Kreislaufdepression erklären würde. Bei der Auskultation hört er jedoch auf beiden Seiten kein Atemgeräusch und es baut sich am Respirator kein Beatmungsdruck auf. Dafür ist auch ohne Stethoskop mittlerweile ein Blubbergeräusch aus dem Mund des Patienten zu hören. Da bemerkt Oli endlich, dass der Cuff-Ballon gar keine Luft enthält. Nachdem der Cuff geblockt ist verstummt der Alarm sofort und die zwischenzeitlich erneut bis auf 78 % gesunkene Sauerstoffsättigung steigt endlich wieder an. So ein Mist, da haben die beiden Notärzte im Rahmen der schwierigen Intubation wohl vergessen den Cuff zu blocken. Als Oli über das Missgeschick informieren will, bemerkt er, wie Jana große Mühe hat den Blutdruck aufrecht zu erhalten. Während Jana versucht über Volumen- und Katecholamingaben eine hämodynamische Stabilisierung zu erreichen, kümmert sich Oli um die achsengerechte Lagerung des linken Beins sowie die Abdeckung der großflächigen Wunde. Ebenso muss der Linke Arm grob reponiert und geschient werden. cc CRM-Leitsätze 2, 9, 10 &15:

Antizipiere und plane voraus Erkenne und verhindere Fixierungsfehler Habe Zweifel und überprüfe genau (Double check) Setze Prioritäten dynamisch Bei der Reevaluation kommt man zu folgendem Ergebnis: A: gesichert durch Endotrachealtubus B: mittlerweile seitengleiches Atemgeräusch und eines pulsoxymetrische Sättigung über 90 % C: Herzfrequenz 130/min und weiterhin Hypotonie um 80/40 mmHg sowie verlängerter Rekapilarisierungszeit.

24.1 Falldarstellung

183

D: GCS initial 14, nun nach Narkoseeinleitung GCS 3 Punkte, Pupillen weiterhin isokor und lichtreagibel E: Versorgte Subamputation des linken Oberschenkels und der stark dislozierten Mehretagen-­Fraktur des linken Arms cc CRM-Leitsatz 12: Reevaluiere die Situation immer wieder

Jana und Oli sowie der Rest des Teams sehen keine weiteren stabilisierenden Optionen, daher erfolgt zügig die Klinikanmeldung (leider ist erst der Schockraum der 3. Wahl aufnahmebereit mit einer Flugzeit von über 20 min) und die Umlagerung auf die Trage des RTH. Bei anhaltender Hypotonie und somit hämodynamischer Instabilität erfolgt der luftgebundene Transport. Als der RTH abgehoben ist wendet sich Oli der zutiefst erschütterten Ehefrau zu und führt ein langes Angehörigengespräch. Er gibt ihr zu verstehen, dass Alles unternommen werde um ihrem Mann zu helfen, aber man nicht sicher davon ausgehen könne, dass er die nächsten Stunden überlebt. Die herbeigerufene Familie kümmert sich schließlich um die nachvollziehbar schwer beeindruckte und aufgelöste Frau. Oli lässt sich erschöpft auf den Beifahrersitz des NEF fallen und bespricht den doch recht anspruchsvollen Einsatz auf der Rückfahrt mit Tobias etwas nach. Die größten Schwierigkeiten hat ihm neben den medizinischen Herausforderungen die Führung des RTW-Teams gemacht. Tobias hat sich auch darüber gewundert, kennt aber die beiden langjährig erfahrenen Kollegen vor Ort. Tobias erklärt es sich so, dass das RTW-Team trotz der schrecklichen Situation zunächst aufgrund des Verantwortungsgefühls handlungsfähig blieb. Mit dem Eintreffen von Oli, und dies hat vermutlich nicht einmal mit ihm persönlich zu tun, gaben sie die Verantwortung an den NA ab und verloren somit aber auch die sich stabilisierende Kontrolle der Situation. Diese Erklärung hält Oli auch für schlüßig und er ärgert sich nun, dass er nicht auch mit der RTW-Crew kein Debriefing gemacht hat, sie hätten es mehr als verdient. Aber dummerweise kam der RTW ja aus dem Nachbarlandkreis und somit ist die Chance mehr oder weniger vertan. Bei dieser Gelegenheit hätte er sich vielleicht auch nochmal das Tourniquet zeigen lassen können, denn es war der erste Realeinsatz für ihn damit und er war sich etwas unsicher, ob es auch richtig angelegt war und auf was man bei der Anwendung nochmal alles achten muss. Auch ein nochmaliger Blick auf den für Oli fast unbekannten Notfallrespirator hätte nicht geschadet und hätte ihm künftig unter Umständen etwas Stress ersparen können. cc CRM-Leitsätze 1 & 13:

Kenne Deine Arbeitsumgebung (Material und Organisation) Achte auf gute Teamarbeit Ach so, und da war ja noch was! Die Perimyokarditis im Vorjahr hatte er vergessen Jana zu übergeben? Die Vorgeschichte und eine etwaige Leistungsminderung würde auch erklären, warum Herr Pech mit einem E-Bike unterwegs war, während seine Frau ein normales Fahrrad genutzt hat.

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24  Fahrradunfall – CRM-Leitsätze

Sofort ruft Oli Jana auf dem Diensthandy des RTH an und teilt ihr dieses Anamnesedetail mit. Jana dankt ihm zwar für seine Rückmeldung, hätte es aber natürlich schon begrüßt sie hätte es früher gewußt. So wurde erst in der Notfallsonographie im Schockraum eine schlechte kardiale Pumpfunktion entdeckt, die vermutlich auch Ursache der anhaltenden hämodynamischen Instabilität trotz Therapie war. Aber so konnte Jana immerhin noch das Schockraum-Team informieren, dass es sich vermutlich nicht um eine neu aufgetretene akute Pumpfunktionsstörung handelt, sondern eher eine nun akut dekompensierte vorbestehende Herzinsuffizienz nach der Perimyokarditis. Oli ärgert sich etwas: So viel zu CRM-Leitsatz 8 mit „beachte und verwende ALLE Informationen“ …. So etwas wird ihm nicht mehr durch die Lappen gehen, da ist er sich sicher … oder will sich zumindest bemühen.

24.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Der geschilderte Fall war sicher für das Behandlungsteam in medizinischer wie menschlicher Hinsicht eine Herausforderung. Er lief sicherlich nicht fehlerfrei ab, aber es hätte zweifelslos auch schlimmer kommen können. Dieser eine Fallbericht soll vielmehr klar machen, in wie vieler Hinsicht die sogenannten CRM-Leitsätze pragmatische Hilfestellungen in der Akutsituation darstellen können. Daher wurden sie hier einzeln passend zur jeweiligen eingefügt, auch wenn sich dadurch dieses von den anderen Kapiteln des Buches im Aufbau unterscheidet. Aber woher kommt der Begriff CRM eigentlich? Er ist zwar fast in aller Munde, aber wie war es nochmal? Zunächst erkannte die Luftfahrt den hohen Anteil (ca. 70 %) menschlicher Ursachen bei den zahlreichen Flugunfällen in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Daraufhin entwickelte man das sogenannte „Cockpit Resource Management“. Schnell erkannte man, dass die Hilfestellungen zwar hilfreich sind, aber nicht, wenn sie nur von den Piloten/Techniker/Funkern der damaligen Zeit im Cockpit benutzt wurden und so erweiterte man das Programm um die Kabinen-Crew zum sogenannten „Crew Resource Management“. In der Fliegerei feierte dieses Programm recht schnell großer Erfolge und auch heute muss jedes Crew-Mitglied in der kommerziellen Luftfahrt regelmäßig zu CRM-Schulungen. Die anderen Hochrisiko-Branchen wie die Chemo-, Nuklear- und Pe­ troindustrie, Feuerwehr, Polizei und Militär, und auch und v. a. die Medizin blickten zwar neidisch auf diese Entwicklungen in der Fliegerei, man brauchte aber noch einige Jahre, bis man auch in diesen Bereichen ähnliche Programme nach den branchenspezifischen Bedürfnissen auflegte. In der Medizin waren es als Erstes die Anästhesisten, als Mann der ersten Stunde wird immer der US-Anästhesist Prof. Gaba genannt, der dann auch den Begriff des „Crisis Resource Management“ prägte. Als einer seiner Schüler brachte Dr. Marcus Rall die „Ur-CRM-Leitsätze“ in den deutschsprachigen Raum und entwickelte sie weiter. Die Reihenfolge der Leitsätze spielt keine große Rolle, auch wenn es die Einschübe im Text so vermuten lassen, sie sind eher individuell zu betrachten. Allerdings kann man die Leitsätze nicht wie eine Checkliste oder Algorithmus in jedem Einsatz abarbeiten, vielmehr sollen sie

Weiterführende Literatur

185

durch wiederholte Beschäftigung damit „gelebt“ werden und somit Einzug in die alltägliche Arbeit finden. Somit sind sie das Paradebeispiel zur Verbesserung der „non-technical skills“.

Weiterführende Literatur 1. Miller’s Anesthesia, Chruchill Livingston Elsevier 2. www.inpass.de

Rutschen auf nasser Straße – Decision-­Making

25

Inhaltsverzeichnis 25.1  Falldarstellung 25.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Weiterführende Literatur

 187  191  194

25.1 Falldarstellung Was geschah … Kai ist gerade als Notarzt eines Rettungshubschraubers auf dem Rückweg von einem anderen Einsatz, als die Leitstelle den Hubschrauber für einen weiteren Einsatz aufbietet. Etwa 30 km entfernt soll ein Motorradfahrer von einem PKW überrollt worden sein, der RTW vor Ort fordert nun einen Helikopter nach. Pilot Pit ändert sofort den Kurs um auf kürzestem Weg die neue Einsatzstelle zu erreichen, Paramedic Jens nimmt mit der sich ebenfalls vor Ort befindlichen Polizei Kontakt bezüglich des Landeplatzes auf. Kai fühlt sich aufgrund seiner jahrelangen Routine durch die Alarmierung aktiviert, er schmunzelt über sich selbst, denn früher wäre er aufgrund einer solchen Einsatzmeldung deutlich angespannter gewesen. Ca. 8 Minuten nach der Alarmierung geht der Hubschrauber in etwa 50 m neben der Einsatzstelle am Ortseingang zur Landung. Ein Polizist erklärt Kai, dass der Motorradfahrer in einer Kurve wohl aufgrund nasser Strasse ins Rutschen kam und mit einem PKW kollidiert ist. Ob er tatsächlich überrollt wurde, ist aktuell nicht klar. Aktuell wird der Patient vom RTW-Team Michael und Daniel versorgt. Michael gibt Kai und Jens einen kurzen Überblick über die Situation: Der ca. 30 jährige Patient Patrick muss assistiert mit 100 % Sauerstoff maskenbeatmet werden, da ansonsten die Pulsoxymetrie Werte um 70 % anzeigt (nun liegt sie mit Beatmung bei 90 %). Patrick ist dazu

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_25

187

188

25  Rutschen auf nasser Straße – Decision-Making

passend orthopnoeisch und zyanotisch. Als Ursache vermutet das RTW-Team einen Pneumothorax links. Auch die Circulation ist deutlich eingeschränkt: Die Herzfrequenz liegt bei 120/min und aktuell ist der Blutdruck oszillometrisch nicht mehr messbar, initial lag er bei 70/40 mmHg. Es konnten bereits drei großvolumige periphervenöse Zugänge gelegt werden. Neurologisch gibt es keine relevanten Auffälligkeiten und auch größere äußere Verletzungen sind nicht sichtbar. Momentan halten Passanten Regenschirme und Jacken über den Patienten und seine Helfer, um vor dem Landregen zu schützen. Kai wird nun unmittelbar klar, dass nun einige wichtige Entscheidungen zu treffen sind. Aufgrund der kritischen Situation fühlt sich Kai nun doch etwas angespannt, jedoch auch motiviert diese Herausforderung an zu nehmen. Zunächst stellt sich für Kai folgende Frage: 1. Versorgung des Patienten auf der Strasse mit vergleichsweise viel Platz und ohne Zeitverzug, dafür im Regen und somit mit Hypothermiegefahr. Zudem sind über 30 Schaulustige anwesend. Nach der Versorgung im Freien Entscheidung ob ein boden- oder luftgebundener Transport erfolgt. 2. Entlastungspunktion des Pneumothorax links in Monaldi-Position, dann Verbringen des Patienten in den unmittelbar daneben stehenden RTW. Dort erfolgt dann die weitere Versorgung und anschließend ggf. die Umlagerung auf die Hubschraubertrage. 3. Crash-Rettung des Patienten in den RTW und dortige Versorgung. Kai entscheidet sich für Variante 3 und bittet Jens, Michael und Daniel mit Unterstützung von Polizei und Ersthelfern den Patienten Patrick schnellstmöglich in den RTW zu verbringen. Da das Team routiniert und erfahren wirkt, begibt sich Kai unmittelbar in den RTW und bereitet das Equipment für die Narkoseinduktion, Intubation, Thoraxdrainage, und Notfallsonographie vor. Knapp fünf Minuten später wird Patrick in den RTW geschoben, er gibt nun ein Schwindelgefühl und weiterhin stärkste Atemnot an. Er hat das Gefühl zu ersticken, was die an sich starken Schmerzen in Brust, Bauch und Becken zur Nebensache werden lassen. Für Kai steht nun die nächste Entscheidung an, in welcher Reihenfolge und Ausmass nun verfahren werden soll: 1. Load an go ohne weitere Versorgung in das nächste Traumazentrum (20–30 min) 2. Entlastung des Pneumothorax links durch Nadeldekompression und dann unmittelbarer Transportantritt. 3. Intubation und anschließende Thoraxdrainage in Bülauposition. 4. Erst Thoraxentlastung, dann Narkoseinduktion und Intubation. Es gäbe sicherlich noch weitere Kombinations- und Entscheidungsmöglichkeiten. Kai entscheidet sich aktuell für Variante 4. Kurz bestätigt er die Arbeitshypothese Pneumothorax links durch ein aufgehobenes Atemgeräusch in der Auskultation und ein fehlendes

25.1 Falldarstellung

189

Pleuragleiten in der Notfallsonographie. Daraufhin erfolgt mittels einer speziellen Kanüle die Entlastungspunktion links in Monaldi-Position, woraufhin Luft entweicht. Dennoch erholt sich weder die Atem- noch Kreislauffunktion unmittelbar zufriedenstellend, so dass eine glücklicherweise problemlose Notfallintubation erfolgt. Hierfür hatte sich Kai selbst Ketamin, Midazolam und Rocuronium vorbereitet. Nicht gänzlich unerwartet gestaltet sich die Beatmung nicht einfach, da scheinbar weiterhin ein Pneumothorax links besteht. Auch die Blutdruckwerte bleiben weiterhin sehr hypoton, das Becken ist mit einer Beckenschlinge versorgt, im Abdomen zeigt sich sonographisch freie Flüssigkeit v. a. perisplenisch. Ein Perikarderguss kann hingegen im Ultraschall ausgeschlossen werden. Aufgrund der erhobenen Befunde bespricht sich Kai kurz mit seinem Team um eine verbesserte Situation Awareness zu erreichen. Kai geht nicht davon aus, dass sich eine hämodynamische Stabilisierung erreichen lässt, da es sich u. a. um eine Blutung in den Bauchraum handelt, was eine hohe Transportpriorität nach sich zieht. Dennoch ist auch die Beatmung aktuell nicht zufriedenstellend gelöst. Folgende Optionen drängen sich nun auf: 1. Abbruch der Versorgung vor Ort und notfallmäßiger bodengebundener Transport. 2. Gleiches Vorgehen jedoch mit Lufttransport 3. Stabilisierungsversuch durch die Anlage einer Thoraxdrainage und dann Transport am Boden oder durch die Luft. Da keine ausreichende Oxygenierung erreichbar ist und die Schocksymptomatik auch durch einen persistierenden Spannungspneumothorax erklärbar wäre, bittet Kai um folgendes Vorgehen: Jens soll die Klinikanmeldung des anhaltend instabilen im nächsten Traumazentrum mit Thorax-, Abdominal- und Beckentrauma übernehmen. Kai legt währenddessen zusammen mit Michael und Daniel vom RTW die Thoraxdrainage. Hierbei entweicht initial zischend eine größere Menge Luft, so dass sich der Spannungspneumothorax bestätigt. Die Beatmungssituation verbessert sich deutlich, die Schocksymptomatik bleibt jedoch bestehen. Im Team entscheidet man sich nun zum bodengebundenen Transport. Die Naht und der Wundverband der Thoraxdrainage erfolgt während des Transportes ins vorinformierte Traumazentrum. Der Kreislauf bleibt währenddessen deutlich instabil. Eine Beckenschlinge wurde bereits vor Umlagerung auf die Trage angelegt und es wurde auch unmittelbar im RTW 1 g Tranexamsäure verabreicht. Kai fragt sich nun, ob und wie er den Kreislauf stabilisieren soll. 1. Akzeptanz der Hypotonie bei klinisch unwahrscheinlichem SHT im Sinne einer permissiven Hypotonie, denn es ist anhaltend ein gutes CO2 als sekundärer Kreislaufparameter ableitbar. 2. Optimierung der Blutgerinnung mit den mitgeführten 2 g Fibrinogen und ansonsten restriktiver Volumengabe aus Sorge sonst damit die Gerinnungsfunktion noch mehr zu schwächen.

190

25  Rutschen auf nasser Straße – Decision-Making

3. Gabe eines Vasokonstriktors. 4. Intravenöse Volumengabe (Kristalloide, Kolloidale) zum zumindest teilweisen Ausgleich des intravaskulären Volumenmangels. Die klinische Situation zwingt Kai im Prinzip alle Optionen aus schöpfen zu müssen. Es ist aufgrund der Zentralisation keine pulsoxymetrische Sättigung messbar, auch die oszillometrische Blutdruckmessung kann keine Werte mehr ermitteln. Als Kreislaufparameter bleiben nur ein schwacher zentraler Puls und die Kapnographie. Also Ziel seiner Bemühungen setzt sich Kai einen systolischen Blutdruck von 80 mmHg (permissive Hypotonie). Es werden zur Gerinnungsstabilisierung auch die 2  g Fibrinogen gegeben, es kann jedoch nicht auf eine großvolumige Flüssigkeitsgabe verzichtet werden, so dass schlußendlich 3l kristalloide und 1l kolloidale Infusionslösungen gegeben werden müssen. Zudem werden titriert 2 Ampullen Ephedrin gegeben, um einen messbaren nichtinvasiven Blutdruck zu erreichen. Die Bemühungen fruchten während der Fahrt zur Klinik und die Situation stabilisiert sich etwas. Aber dennoch überlegt sich Kai, was man wohl im Falle eines Kreislaufstillstands machen würde. 1. Mechanische Reanimation bei beobachtetem Kreislaufstillstand. Die Effektivität ist aber beim exsanguiert-hypovolämen Patienten ungewiss. 2. Verzicht auf die Reanimation und somit Versterben des Patienten. Der Patient ist jünger als Kai und war bisher vollkommen gesund, Kai will es sich gar nicht weiter vorstellen …. 3. Invasive Massnahmen wie REBOA (Resuscitative endovascular balloon occlusion of the aorta) oder eine Clamshell-Thorakotomie zur Okklusion der Aorta. Möglichkeit zwei schließt Kai für sich zügig aus. Die notwendigen Materialien für eine REBOA werden auch nicht vorgehalten, diese Technik schließt sich also auch automatisch aus. Kai hat mal einen eintägigen Workshop zu erweiterten invasiven Massnahmen gemacht, er kennt somit zumindest den theroretischen Ablauf einer Clamshell-Thorakotomie und hat es einmal am humanen Präparat geübt. Dennoch kann man hierdurch natürlich nicht behaupten, dass Kai somit diese Massnahme beherrscht und darin geübt ist. Etwas beklemmt freut sich Kai daher über jeden Kilometer in Richtung der Klinik, in der diese Situation nicht eintritt. Schließlich kann der Patient mit hypotonem, aber doch messbarem Blutdruck an das Schockraumteam übergeben werden. Durch eine sofort eingeleitete Massentransfusion lässt sich der Zustand soweit stabilisieren, so dass vor der operativen Versorgung noch eine Bildgebung im Sinne einer Traumaspirale (CT-Body) erfolgen kann. Erleichtert beginnt das gesamte Team mit der Reinigung und Aufarbeitung des Equipments und nutzt die Zeit für ein ordentliches Debriefing. Dabei versucht Kai auch auf die

25.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

191

Handlungsoptionen und seine getroffenen Entscheidungen ein zu gehen. Dabei merkt er jedoch, dass es unglaublich viele Variablen in solch einem Einsatz gibt, und es daher in solch komplexen Situationen keinen allgemein gültigen Ablauf geben kann. Es wird wohl eine Einzelfallentscheidung bleiben und Kai hofft, dass man sich dieser Privileg auch in Zukunft erhalten kann.

25.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Bei Notfalleinsätzen müssen stets im Einsatzverlauf eine Vielzahl von Entscheidungen getroffen werden. Man kann sogar durchaus behaupten, dass die Abarbeitung einer Notfallsituation eine Aneinanderreihung von Entscheidungen ist. Ein Großteil hiervon sind nachrangig, so dass sie auch eher im Hintergrund getroffen werden ohne recht ins Bewußtsein zu gelangen. Diese Priorisierung ist auch notwendig und sehr hilfreich, denn wenn man sich längere Zeit beispielsweise überlegt ob man auf der Vakuumatratze ein Tuch unterlegen soll oder doch besser nicht, dann hätte man keine kognitiven Ressourcen mehr für die wirklich wichtigen Entscheidungen. Algorithmen in der Patientenversorgung haben den großen Vorteil, dass man hierdurch deutlich weniger Entscheidungen treffen muss, sondern sich viel mehr auf die strukturierte Abarbeitung des Szenarios konzentrieren kann. Doch leider lassen sich nicht alle Notfallsituationen in ihrer Komplexität und Individualität vollständig in Algorithmen abbilden. In der Bewältigung solcher herausfordernder Einsatzlagen ist weiterhin der eigenverantwortliche, denkende und kritische Anwender gefragt. Er nutzt zwar die aktuellen und bestenfalls evidenzbasierten Handlungsempfehlungen, nimmt jedoch aber notwendigenfalls Modifikationen vor, so fern sie die Behandlungsqualität verbessern oder die Versorgungszeit deutlich und sinnvollerweise reduziert. In, wie beispielhaft hier geschildert, akuten Notfallsituationen werden zumeist mehrere relevante strategische Entscheidungen notwendig, die auch große Auswirkungen bzw. Risiken für den Patienten haben. Folgende Schwierigkeiten (Willkürliche Reihenfolge) treten hierbei auf: –– Komplexität der Entscheidung –– Zeitnot –– Mitunter Unumkehrbarkeit der Entscheidung/möglicherweise große Auswirkungen auf das Patientenoutcome –– Informationsdefizit/Umgang mit der Unsicherheit –– Mehrere Handlungsalternativen –– Emotionale bzw. mentale Einflüsse auf die Entscheidung –– Einflussnahme Dritter –– Vor- und Nachteile von Vorerfahrungen, Erfahrung sowie Routine allgemein –– Charaktereigenschaften/Umgang mit Zweifel

192

25  Rutschen auf nasser Straße – Decision-Making

Komplexität der Entscheidung Es gehen viele Unwägbarkeiten und Variablen in die Entscheidung ein, so dass man beispielsweise nicht uneingeschränkt Algorithmen für die Bewältigung der Notfallsituation anwenden kann. Exemplarisch seien hier die Parameter der Vitalfunktionen, äußere Einflüsse wie Temperatur und Wetter, die Zugänglichkeit zum Patienten oder die potentiellen Gefahren an der Einsatzstelle genannt. Zeitnot Die Notfallmedizin ist prinzipiell immer zeitkritisch. Die Versorgungszeit sollte auf ein Minimum reduziert werden, um eine schnelle Weiterversorgung durch eine differenzierte Diagnostik und Therapie zu ermöglichen. Die proklamierte „golden hour of shock“ gilt längst nicht mehr nur für Polytraumapatienten, sondern eigentlich für alle kritisch Kranken und Verletzten. Jeder Präkliniker weiß, wie schwer und herausfordernd (und manchmal auch unmöglich) es auch bei kurzen Transportzeiten sein kann, in diesem Zeitfenster zu bleiben und dennoch eine adäquate Erstversorgung zu leisten. Mitunter Unumkehrbarkeit der Entscheidung/möglicherweise große Auswirkungen auf das Patientenoutcome Die Konsequenzen vieler Entscheidungen sind nicht mehr rückgängig zu machen, sollten sie sich als nicht zielführend erweisen. Häufig haben die ergriffenen Massnahmen nicht zu unterschätzende Risiken. Als Beispiel seien hier die Risiken einer endotrachealen Intubation und Beatmung genannt. Gibt es für diese Massnahmen keine zwingende Indikation, kann man auch trotz guten Willens und Intention schnell bei Komplikationen in Erklärungsnot kommen. Andererseits kann auch das Unterlassen von Massnahmen schwerwiegende Folgen haben. Es gibt beispielsweise Erhebungen, die nachweisen, dass das Unterlassen von zumeist invasiven Massnahmen zu einer nicht unerheblichen Zahl von prinzipiell vermeidbaren Todesfällen führt. Somit ist der Begriff der „Lebensrettenden Sofortmassnahmen“ weiter zu fassen und ernster zu nehmen, als man es gemeinhin tut. Informationsdefizit/Umgang mit der Unsicherheit Viele zügig zu fällende Entscheidungen wären dann einfacher zu treffen, wenn mehr Informationen zur Bewertung der Situation, der Handlungsoptionen und der damit verbundenen Risiken und Auswirkungen verfügbar wären. Diese fehlen aber zumeist bzw. können nicht in der kurzen Zeit beschafft werden. Daraus entsteht eine große Unsicherheit in der Entscheidungsfindung, die es zu akzeptieren, minimieren und aus zu halten gilt. Mehrere Handlungsalternativen Gibt es nur eine Handlungsoption, so ist die Entscheidung denkbar einfach. Gibt es mehrere oder gar eine Vielzahl davon, so ist die Bewertung hiervon ungleich schwieriger. Es ist dann schwer bis unmöglich zu erfassen, welche Option nun wirklich und in jeder

25.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

193

­ insicht die Beste ist. Oftmals ist man auch zu Kompromissen gezwungen: Die IdeallöH sung in einer Hinsicht ist andererseits vielleicht auch ein mühsamer Kompromiss. Emotionale bzw. mentale Einflüsse auf die Entscheidung Entscheidungen sind dann am einfachsten zu treffen, wenn man die Gegebenheiten objektiv und ohne Emotionen betrachten und bewerten kann. Dies ist bei handelnden, denkenden und auch fühlenden Menschen jedoch eigentlich unmöglich. Es ist jedoch zu fordern, eine größtmögliche Selbstdisziplin auf zu bringen maximal objektiv zu bleiben. Dies bedeutet nicht, dass man nicht auch „mitfühlen“ und Verständnis für andere Menschen haben darf. Man darf jedoch nicht „mitleiden“, wenn es gilt wichtige Entscheidungen zu treffen. Der oft gehörte Ratschlag „machen Sie es so als wäre es Ihre Mutter“ ist in dieser Hinsicht kontraproduktiv, denn dann sollte man die Entscheidung vielleicht besser gar nicht treffen. Ist diese emotionale Abgrenzung nicht möglich, sollte die Entscheidungskompetenz vielleicht an einen Dritten abgegeben oder zumindest im Konsens mit Anderen wahrgenommen werden. Einflussnahme Dritter Jeder Beteiligte in einer Notfallsituation hat andere Bedürfnisse und Erwartungen, die er versucht gegenüber dem Entscheidungsträger durch zu setzen. Wie heißt es aber so schön: „Man kann es nicht jedem recht machen“. Diese Lebensweisheit hat einen wahren Kern. Der Entscheidungsträger sollte jedoch auch nicht versuchen „seinen Willen durch zu setzen“, denn darum geht es explizit auch nicht. Man sollte sich wie oben geschrieben auf seine Sachlichkeit und Objektivität beschränken. Es ist notwendig, die versuchte Einflussnahme Dritter zu erfassen und neutral zu bewerten, ehe man sie spiegelt bzw. reflektiert. Dies ist für eine saubere Argumentation für die dann getroffene Entscheidung wichtig. Vor- und Nachteile von Vorerfahrungen, Erfahrung sowie Routine allgemein War man schon einmal in einer sehr ähnlichen Situation, so wird man beim erneuten Ereignis die Vorerfahrungen als Handlungsschablone nutzen. Bei negativen Erfahrungen in der Vergangenheit setzt auch (oftmals zu schnell) ein Vermeidungsverhalten ein. Dies ermöglicht in vielen Situationen schnell und effektiv zu handeln, man bekommt jedoch auch schnell einen Tunnelblick, in dem man die aktuelle Situation mehr oder minder bewußt so bewertet, dass sie mit dem Vergleichsereignis kompatibel ist. Ein allgemein großer Erfahrungsschatz ist eine sehr große und kraftvolle Ressource, die man auch zumeist hilfreich und gewinnbringend einsetzen kann. Man darf jedoch dadurch nicht unzugänglich für neue Aspekte und Entwicklungen werden, die besser beachtet werden sollten. Fast Jeder kennt den Spruch: „Das haben wir schon immer so gemacht und so bleibt es auch“. Diese Einstellung hilft allgemein akzeptiert mittelfristig nicht weiter und verhindert eine Weiterentwicklung des Systems. Routinehandlungen werden zu allermeist sehr sicher und erfolgreich durchgeführt. Allerdings kann dadurch die Individualität der Situation oder Ereignisses aus dem Blick geraten. Man sollte also die erworbenen Routinen nutzen um mehr mentale Kapazität für den Blick über den Tellerrand zu gewinnen und notwendigenfalls sein Handeln entsprechend zu modifizieren.

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25  Rutschen auf nasser Straße – Decision-Making

Charaktereigenschaften/Umgang mit Zweifel Es gibt große interindividuelle Unterschiede in der Entscheidungsfreudigkeit und – kompetenz. Dabei entsteht auch schnell lähmender und nicht zielführender Zweifel, in dem jede Kleinigkeit mehrfach hinterfragt und angezweifelt wird. In einem aufkommender Zweifel sollte zwar gehört werden, man sollte sich aber nicht durch ihn beherrschen lassen. Grundsätzlich ist Zweifel ein gesunder Ausdruck einer ansonsten zu eingeschränkten und vielleicht unreflektierten Sichtweise. Daher sind diese „zweifelhaften Aspekte“ in den Entscheidungsprozess mit ein zu binden. Grundsätzlich ist es eine Charaktereigenschaft „ein Zweifler“ zu sein, die bekanntlich nur schwerlich zu verändern sind. Was man tun kann, und trotzdem seinem Charakter gezwungenermaßen treu bleibt, ist zu Lernen mit dem Zweifel konstruktiv um zu gehen. Verschiedene Ansätze fördern, wie man sinnvollen Zweifel zulassen kann und dennoch nichts an seiner Arbeits- und Entscheidungsgeschwindigkeit einbüßt. Da Betroffene oft auch ihre ständigen Zweifel selbst als unangenehm empfinden, ist eine Beschäftigung mit dieser Thematik auch für den einzelnen ein wertvoller und entlastender Schritt. Nutzen von Debriefing Alle Gruppenmitglieder erleben den Einsatzverlauf in ihrer eigenen Welt und Sichtweise (Situation Awareness). Daher sind nicht alle von der Teamleitung getroffenen Entscheidungen unmittelbar verständlich und nachvollziehbar. Auch in dieser Hinsicht sind Debriefings ein wertvolles Mittel diese aufkommenden Unklarheiten zu diskutieren und somit zu beseitigen. Dabei sollte der Teamleiter auch nicht zu einer Rechtfertigung genötigt werden, sondern es sind nur die Beweggründe der Entscheidungen und ggf. von Alternativen zu erörtern. Somit kann auch ein maximaler Erkenntnisgewinn und Lerneffekt für das ganze Team erreicht werden. Für den Teamleiter an sich ist es eine sehr effektive und zeitnahe Möglichkeit der Selbstreflektion, die einem hilft die ganze Situation aus einer anderen Sichtweise oder gar einer Metaebene zu erfassen, woraus man seine ganz persönlichen Lehren ziehen kann.

Weiterführende Literatur 1. Flin R, O’Connor P, Chrichton M (2008): Safety at the sharp end. Ashgate, Farnham

Unfall auf Parkplatz – Der fehlende Überblick

26

Inhaltsverzeichnis 26.1  Falldarstellung  26.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Literatur 

 195  199  200

26.1 Falldarstellung Was geschah … Kaum war der Alarm raus, gings auch schon zum Helikopter. „Fussgänger von PW angefahren“ hatte es auf der Meldung geheissen. Sie würden in 10 Minuten dort sein, und sehen, was passiert war. Ein RTW war vor Ort und dessen Besatzung hatte sie nachgefordert, da bodengebunden kein Notarzt in nützlicher Frist verfügbar. Im Landeanflug sah die Helikoptercrew einen RTW auf dem Parkplatz in einem Industriegelände stehen. Michael war heute der Notarzt auf dem Helikopter. Mit dem üblichen Gepäck begab er sich zum RTW. Der Fall konnte ja wohl nicht so schlimm sein, denn auf einem Parkplatz konnten ja Fahrzeuge keine grossen Geschwindigkeiten entwickeln, dachte Michael. Diesbezüglich sah er sich dann auch bestätigt, als er einen wachen Patienten antraf. Die beiden Rettungs­ assistenten hatten den Patienten komplett immobilisiert auf einer Vakuummatratze, eine Infusion lief recht schnell. „Der Patient ist dort draussen auf dem Parkplatz angefahren worden. Seine Frau war am Steuer gewesen, er hat irgendwie versucht, beim Einparken von aussen zu helfen. Da ist er angefahren worden“, so lautete die Geschichte, welche Michael geschildert wurde. Der Patient sei immer wach und voll orientiert gewesen, er hätte hauptsächlich Beschwerden in der Schulter rechts und in der rechten Hüfte. Das RTW – Team wollte nun von Michael das weitere Vorgehen wissen. Analgesie, Reposition

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_26

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26  Unfall auf Parkplatz – Der fehlende Überblick

der Oberarmfraktur, Beckengurt anlegen, nochmaliger Body-Check? Also ganz viele ­Fragen auf einmal für den Notarzt. Michael versuchte mal etwas Entspannung in die Situation zu bringen. Für ihn war der Patient nicht in kritischem Zustand. Er wollte sich in Ruhe einen Überblick verschaffen, unter Analgesie den Oberarm reponieren und ruhigstellen, und dann den Transport so durchführen, dass der Patient möglichst wenig Schmerzen hatte. Michael konnte sich gut mit dem Patienten verständigen. Hier lag auch seine Hauptaufmerksamkeit. Durch das hektische Handeln der RTW-Besatzung wollte er sich nicht ablenken lassen. Die Reposition des Oberarms führte Michael sorgfältig durch, ebenso die sterile Abdeckung der Durchspiessungswunde im Frakturbereich. Er fühlte sich sicher in seinem Vorgehen und verfolgte seinen Plan. Thorax und Bauch schienen kein Problem zu haben, Atmung und Kreislauf waren stabil mit normalen Werten und auch die Schmerzen in der rechten Hüfte waren nach der Fentanylgabe für den Patienten erträglich. Die Immobilisation wurde belassen in Form der Vakuummatratze und so konnte bald ein entspannter Transport stattfinden. Sie flogen das nächste überregionale Traumazen­ trum an; das war sowieso in der Nähe ihrer Basis. Das war einer dieser sogenannten ­Routineeinsätze, fand Michael. Noch während dem Flug zur Klinik schrieb er sein Einsatzprotokoll.

Beckenfrakturen

Das knöcherne Becken ist eine recht stabile Struktur. Im Allgemeinen kommt es nur bei Einwirkung starker Kräfte zu Schädigungen in diesem Bereich. Dazu zählen z. B. Stürze aus grosser Höhe oder Kollisionen mit hoher Geschwindigkeit. In der Literatur wird die Häufigkeit von Beckenfrakturen mit unter 10 % angegeben. Die Mortalität ist hingegen mit über 25 % recht hoch [1]. Dies ist Ausdruck der hohen Einwirkkräfte, die häufig zu begleitenden Verletzungen wie Schädelhirntrauma, Thoraxtrauma u. ä. führen [1, 2]. Beckenfrakturen werden in ihrem Schweregrad nach der Instabilität insbesondere der dorsalen Anteile des Beckens klassifiziert. Der Grund dieser Klassifizierung liegt darin, dass in unmittelbarer Umgebung des hinteren Beckenrings grosse Blutgefässe wie der pelvine Venenplexus verlaufen. Werden diese durch starke Scherkräfte geschädigt, kommt es zu teils ausgeprägten inneren Blutungen [3]. Diese werden eventuell in der Frühphase klinisch nicht erkannt, können oft nur schwer kontrolliert werden und sind Ursache für schwere hypovolämische Schockzustände [1]. Präklinisch ist eine Beckenverletzung nur schwer sicher zu diagnostizieren. Bei der Inspektion fallen vielleicht Hämatome, Fehlstellungen oder Beinverkürzungen als Hinweis auf innere Verletzungen auf. Palpatorisch kann man typischerweise Schmerzen auslösen bei der lateralen und anterior-posterioren Kompression. Aber auch diese Schmerzen sind kein klarer Beweis für eine relevante Beckenfraktur. Eine Instabilität wird präklinisch nicht regelhaft gefunden, auch wenn die spätere

26.1 Falldarstellung

197

Diagnostik eine solche darstellt; bis zu 2/3 der instabilen Frakturen werden durch manuelle Untersuchung nicht erkannt [3, 4]. Die körperliche Untersuchung ist also unzuverlässig. Wegen dieser geringen Aussagekraft wird von einigen Autoren sogar von einer Stabilitätsprüfung abgeraten. Denn diese Prüfung führt erneut zu Scherkräften an den geschädigten Stellen und kann eine erneute Blutung provozieren. An Beckenfrakturen soll immer dann gedacht werden, wenn eine entsprechende Kinematik stattgefunden hat. Ein passender Unfallmechanismus und Schmerzen im Beckenbereich sollen den Untersucher an eine solche Verletzung denken lassen. Dann wird bis zum Beweis des Gegenteils von einer Beckenverletzung ausgegangen; eine Ruhigstellung und Kreislaufkontrolle sind Bestandteil der präklinischen Behandlung [3]. Die Ruhigstellung dient einerseits einer Analgesie. Zudem sollen weitere Scherbewegungen verhindert werden, welche eine bereits stehende Blutung aufs Neue aktivieren können. Neben einer eigentlichen Ruhigstellung wird versucht, das Volumen des Beckens zu verkleinern, was eine Tamponade von Blutungen bewirken könnte. Dazu sind diverse Hilfsmittel verfügbar. Der Beckengurt führt vorallem zu einer lateralen Kompression und kann belassen werden, bis innerklinisch z. B. mit der Beckenzwinge eine Ruhigstellung erreicht wird. Der Beckengurt soll also immer dann angelegt werden, wenn der Unfallmechanismus eine Beckenverletzung vermuten lässt und der Patient in diesem Bereich Schmerzen angibt; eine manuelle Untersuchung ist für die Indikationsstellung nicht entscheidend [5]

… so geht es weiter … Dann folgte die Übergabe im Schockraum: Traumaleader war ein junger Kollege, der bestimmt und lautstark sein Team führte. Er hörte sich die knappe Übergabe des Kollegen vom Helikopter an. Dann stellte er seine Fragen: „War das Becken klinisch stabil?“ Michael antwortete: „Die Hüftschmerzen waren nach Fentanyl weg und da die Immobilisation schon gemacht war, habe ich das Becken nicht auf Stabilität geprüft.“ Die Menge der Infusion und ob Tranexamsäure gegeben worden war, wollte der Traumaleader auch noch wissen. Kein Tranexam, 1000 ml Ringer-­ Laktat in 30  Minuten gegeben, war Michaels Antwort. „Welche Medikamente nehmen Sie“, fragte der Anästhesist des Schockraumteams den Patienten. „Einen Betablocker, was zum Blutfette behandeln und so ein neues Medikament zur Blutverdünnung“, war vom Patienten zu vernehmen. Michael störte sich an dem lehrmeisterlichen Auftreten des Schockraumkollegen, fühlte aber auch den Ärger über sich selbst. Denn das mit der Medikamentenanamnese hatte er prompt vergessen. Die Situation wurde für ihn dann auch nicht besser, als sich in den ersten Röntgenbildern herausstellte, dass eine sogenannte „Open-book-fracture“ des Beckens vorlag. Denn nun wurde klar, dass offensichtlich ein schweres Trauma durch hohe kinetische Energie vorlag.

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26  Unfall auf Parkplatz – Der fehlende Überblick

Antikoagulantien

In der standardisierten Patientenbeurteilung gemäss A-B-C-D-Schema werden auch Basisdaten einer Patientenanamnese erhoben. Bei den Buchstaben SAMPLE steht M für Medikamente. Zunehmend an Bedeutung gewinnen dabei die blutverdünnenden Medikamente. Das Spektrum und Angebot an Arzneimitteln, welche die Blutgerinnung beeinflussen, wird immer breiter und damit unübersichtlicher [6]. Es bedarf regelmässiger Weiterbildung, um immer wieder neu auf dem Markt erhältliche Stoffe mit Namen und Wirkung zu kennen. Den grossen Anteil machen dabei Präparate aus, die sich direkt auf Gerinnungsfaktoren auswirken (Faktor Xa-Inhibition, Thrombin-Inhibition) oder die Thrombozytenaggregation hemmen. Insbesondere älteren Patienten werden diese Medikamente z. B. zur Sekundärprophylaxe gegeben; Stroke, koronare Herzkrankheit, intravasale Fremdkörper u. a. sind Indikationen dafür [6]. Häufig ist den Patienten gar nicht mehr bewusst, dass sie diese Mittel täglich einnehmen und man muss aktiv danach suchen und fragen. Ältere Patienten sind immer häufiger in Unfallereignisse verwickelt gemäss der demografischen Entwicklung. So führen also mehrere Faktoren dazu, dass bei Unfallopfern mit einer solchen Medikation gerechnet werden muss. Beim Polytrauma spielt der hämorrhagische Schock eine führende Rolle bei der Mortalität [7, 8]. Die klassische Trauma-Trias 2013 Hämodilution, Hypothermie, Azidose – wirkt sich schnell negativ auf die Blutgerinnung aus und muss so früh und aggressiv wie möglich bereits präklinisch bekämpft werden [9, 10]. Bei der präklinischen Versorgung wird die Gerinnungsstörung oft noch verstärkt durch eine übermässige Flüssigkeitsgabe, was zu einer Verdünnung der Gerinnungsfaktoren führt [11]. Deshalb stehen heute frühe Blutstillung und schnelle Unterstützung der Blutgerinnung an vorderster Stelle. Das präklinische Team sollte nie vergessen, dass eine definitive Blutstillung in der Regel nur in der Klinik möglich ist und somit ein schneller Transport des Patienten zur operativen Versorgung entscheidend für das Überleben ist. Man hat präklinisch nur wenige Möglichkeiten, die Blutstillung günstig zu beeinflussen. Begrenzte Flüssigkeitsgabe, Vermeidung von kolloidalen Infusionslösungen und die frühe Verabreichung von Antifibrinolytika wie Tranexamsäure und lokale blutstillende Gaze sind solche Massnahmen. Präklinisch wird man die Wirkung der blutverdünnenden Arzneimittel nicht aufheben können. Dazu bedarf es gezielter Laboruntersuchungen oder Antidote, die nur in der Klinik verfügbar sind. Hat man bereits Angaben über eine antikoagulatorische Medikation beim Patienten, können diese Massnahmen innerklinisch schneller und gezielter erfolgen [8, 12]. Somit ist eine Medikamentenanamnese wichtiger Bestandteil der Traumaversorgung. Das Erheben dieser Anamnese kann man gut delegieren im Team, wenn z.  B.  Angehörige anwesend sind. Gerade ältere Patienten führen häufig eine Medikamentenliste mit sich. So kann sich das Teammitglied, welches den Patienten versorgt, auf seine Aufgabe konzentrieren während ein anderes sicherstellt, dass dieser Medikamentenplan mit in die Klinik kommt.

26.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

199

… das Ende des Falles Nach Übergabe des Patienten und während die Helikoptercrew ihr Material wieder bereit machte, sprach Michael über seine Fehleinschätzung der Situation. Er verstand immer noch nicht, was genau passiert war. Da konnte ihm der Pilot weiterhelfen: Die Ehefrau des Patienten hatte auf dem Parkplatz Brems- und Gaspedal verwechselt und war mit hoher Geschwindigkeit über den Parkplatz gefahren, während ihr Ehemann versuchte, sie zu stoppen. Es waren sogar einige geparkte Fahrzeuge massiv beschädigt. Als Michael die Fotos sah, die der Pilot vom Einsatzort gemacht hatte, konnte er sich vorstellen, welche Kräfte da gewirkt hatten. Das hatte er schlichtweg nicht gesehen; er hatte sich voll auf die Situation im RTW fokusiert. Der Pilot wiederum war davon ausgegangen, dass Michael das bekannt war, und hatte ihn nicht aktiv darauf hingewiesen.

26.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Während wir eine einzelne konkrete Handlung durchführen, kontrollieren wir in der Regel unbewusst unsere Umgebung. Ist hohe Konzentration erforderlich, kann diese „Hintergrundkontrolle“ vom Individuum stark reduziert werden. Im Extremfall wird die Umgebung völlig ausgeblendet. Andererseits gewinnt die Kontrolle der Umgebung unverhältnismässig an Bedeutung, wenn die Person sich unsicher fühlt und durch ständige Kontrolle der Umgebungsbedingungen versucht das Sicherheitsgefühl zu erhöhen. Gerade in kritischen Akutsituationen ist oft hohe Konzentration auf eine Einzelhandlung erforderlich; so soll z. B. die Anlage des venösen Zugangs bei einem schwer verletzten Kind auf Anhieb gelingen. Da wir nur eine begrenzte Kapazität an Aufmerksamkeit haben, verlagert sich die kognitive Leistung auf die Einzelhandlung; wir versuchen unbewusst so effizient wie möglich zu sein (Ressourcenschonung). Stress ist in diesen Fällen ein wichtiger Faktor. Auch im Stress führen wir eine Ressourcenschonung durch, da wir uns überfordert fühlen. Die Situation soll so schnell wie möglich unter Kontrolle gebracht werden! Für das Gelingen der Einzelhandlung ist diese Konzentration wichtig. Für das erfolgreiche Bewältigen der gesamten Krise ist aber auch die gesamte Lage von Bedeutung. Der Patient benötigt ja nicht nur einen gut gelegten venösen Zugang, sondern er hat noch viele andere Probleme. Was beeinflusst unsere Beurteilung der Gesamtsituation: Kompetenzgefühl: Sehen wir uns der Krise gewachsen, so haben wir mehr Ressourcen zur Verfügung, um verschiedene Aufgaben abzuarbeiten. Wir fühlen uns sicher und dem Geschehen weniger hilflos ausgeliefert. Dieses Kompetenzgefühl kann durch gute Ausbildung und grössere Erfahrung gestärkt werden. Sicherheit: Fühlen wir uns in der Situation sicher, so wird das Bedürfnis nach Kontrolle der Umgebungsbedingungen geringer. Diese Sicherheit kann mit Kompetenz zusammenhängen. Aber auch die „soziale Sicherheit“ durch stabile zuverlässige Teamarbeit spielt hier eine Rolle. Kenne ich meine Rolle im Projekt, muss ich weniger die Handlungen der Mitarbeiter kontrollieren.

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26  Unfall auf Parkplatz – Der fehlende Überblick

Physiologie: Ermüdung, körperliche Bedürfnisse oder Schmerzen können die Aufmerksamkeit beeinträchtigen. Und hohe Aufmerksamkeitsgabe ist Voraussetzung zur Situationsbeurteilung. Umgebungsbedingungen: Die Anordnung von Geräten wie Überwachungsmonitore und die räumlichen Verhältnisse am Einsatzort können die Beurteilung der Gesamtsituation günstig oder negativ beeinflussen. So hatte im geschilderten Fall der Notarzt die eigentliche Unfallstelle gar nicht gesehen. Hier ist das bewusste und aktive Einholen von Information notwendig. Lärm oder schlechte Sichtverhältnisse beeinträchtigen die Beurteilung der Lage. Ein Bewusstsein für die gesamte Situation, die „situation awareness“ ist von entscheidender Bedeutung für eine gute Leistung. Unsere kognitiven Kapazitäten sind aber limitiert. Wird für eine Einzelhandlung die volle Aufmerksamkeit benötigt, so sollte man nach Abschluss dieser Handlung bewusst zur Gesamtbeurteilung zurückkehren. Das kann z. B. gut in Form eines „10 für 10“ stattfinden. Während des Einsatzes aus der Situation herauszutreten („Giraffenblick“), führt zur sogenannten Metakognition. Verfügt man über ausreichende Personalressourcen, besteht die Möglichkeit, eine Person mit dieser Metakognition zu beauftragen. Diese behält dann den Überblick. Idealerweise hat ein Teamleader diese Position. Notfallsituationen verändern sich schnell und häufig. Eine einmal getroffene Beurteilung und Entscheidung sind oft im Verlauf nicht mehr gültig. Deshalb sind zwei Dinge wichtig für die Situationsbeurteilung: ein ständiger Abgleich mit dem Geschehen und die Relevanzprüfung der einzelnen Informationen. Auch wenn eine Person nur mit der Gesamtbeurteilung und –führung beauftragt ist, ist dieser Teamleader darauf angewiesen, dass er bzgl. Details auf dem Laufenden gehalten wird. Er muss wissen, ob der venöse Zugang liegt und die Spitalanmeldung positiv ist, um das weitere Geschehen zu organisieren.

Literatur 1. Burkhardt M et al (2014) Pelvic fracture in multiple trauma: Are we still up-to-date with massive fluid resuscitation? Injury, Int J Care Injured 455:570–575 2. Siegmeth A, Müller T, Kukla C (2000) Begleitverletzungen beim schweren Beckentrauma. Unfallchirurg 103:572–581 3. Schweigkofler U et al (2018) Diagnostic and early treatment in prehospital and emergency-room phase in suspicious pelvic ring fractures. Eur J Trauma Emerg Surg 2018 Oct; 44(5):747-752 4. Pehle B, Nast-Kolb D, Oberbeck R et  al (2003) Significance of physical examination and radiography oft he pelvis during treatment in the shock emergency room. Unfallchirurg 106(8):642–648 5. Scott I, Porter K, Laird C, Greaves I, Bloch M (2013) The prehospital management of pelvic fractures: initial consensus statement. Emerg Med J 30:1070–1072 6. Koenig-Oberhuber V, Filipovic M (2016) New antiplatelet drugs and new oral anticoagulants. Br J Anaesth 117(S2):ii74–ii84 7. Nascimento B et al (2016) Fibrinogen in the initial resuscitation of severe Trauma (FiiRST): a randomized feasibility trial. Br J Anaesth 117(6):775–782

Literatur

201

8. Ghadimi K, Levy JH, Welsby IJ (2016) Perioperative management of the bleeding patient. BJA 117(S3):iii18–iii30 9. Simmons JW, Powell MF (2016) Acute traumatic coagulopathy: pathophysiology and resuscitation. BJA 117(S3):iii31–iii43 10. Maegele M, Schöchl H, Cohen MJ (2014) An update on the coagulopathy of trauma. Shock 41(suppl 1):21–25 11. Katrancha E, Gonzalez L (2014) Trauma-Induced Coagulopathy. Citical Care Nurs 34(4):54–63 12. Levy J et al (2013) Managing New Oral Anticoagulants in the perioperative and intensive Care Unit Setting. Anesthesiology 118:1466–1474

Verdacht auf Schlaganfall – Die Sache mit den Schnittstellen

27

Inhaltsverzeichnis 27.1  Falldarstellung  27.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Literatur 

 203  207  209

27.1 Falldarstellung Was geschah … Nun ja die beiden hatten heute nicht ihren besonders guten Tag. Der eine war Max, als Rettungsassistent auf dem NEF eingeteilt. Mit ihm hatte Andrea Dienst als Notärztin. Während Max schon seit vielen Jahren im Rettungsdienst tätig war, tat Andrea erst seit einigen Wochen Dienst ausserhalb des Krankenhauses. Schon zu Dienstbeginn beim gemeinsamen Frühstück war Andrea aufgefallen, dass das Arbeitsklima heute wohl nicht das beste war. Die Ursache sah sie nicht primär bei sich. Max hatte ihr berichtet, dass er nun schon 7 Tage im Dienst sei, weil ein Kollege ausgefallen sei. Er sah seinem Feierabend ungeduldig entgegen. Dann nämlich lagen einige freie Tage vor ihm. Andrea wollte die schlechte Laune nicht auf sich übergehen lassen. So machte sie die Routinekontrollen am Material lieber alleine. Sollte Max doch seine Probleme selbst lösen. Sie kannte ihn kaum, konnte seine Persönlichkeit schlecht einschätzen, kannte aber das Gerücht, dass er ein ausgeprägter Einzelgänger sei. Gegen Mittag kam dann der erste Alarm. Die beiden trafen sich am Fahrzeug und traten die Fahrt an. Auch unterwegs wurde kaum geredet. Am Einsatzort war der Patient bereits in den RTW verladen. Vom betreuenden Team erfuhr Andrea, dass bei dem 75 jährigen Patienten der Verdacht auf einen Schlaganfall bestand. Er war heute morgen ohne Beschwerden aufgewacht. Seit circa 1 Stunde hatte er stärkste Kopfschmerzen und konnte die Extremitäten an der rechten Körperhälfte nicht

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_27

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27  Verdacht auf Schlaganfall – Die Sache mit den Schnittstellen

mehr mit voller Kraft bewegen. Das Team des RTW hatte deutlich erhöhte Blutdruckwerte (220/125  mmHg) gemessen, der Blutzucker betrug 123  mg/dl. Andrea untersuchte nun selbst den Patienten. Die Hemiparese konnte sie so bestätigen, ausserdem stellte sie bei dem wachen Patienten eine verwaschene Sprache fest. Als Ursache schien ihr eine Blutung eher als ein ischämisches Ereignis infrage zu kommen, wegen der starken Kopfschmerzen und dem hohen Blutdruck. Die Situation im RTW war unruhig, weil ein Sohn des Patienten anwesend war, der sich durch verschiedene Äusserungen ins Geschehen einbrachte. Er berichtete immer wieder über Dinge in der Vorgeschichte, welche für Andrea nicht relevant schienen. Zudem sprach er während der Untersuchung mit dem Patienten, so dass es für Andrea schwierig war, letzteren gründlich aber zügig zu untersuchen. Sie war zeitweise fast mehr mit dem Sohn als mit dem Patienten beschäftigt. Neurologische Untersuchung Stroke

Die grobe neurologische Untersuchung beim Stroke sollte folgende Punkte beurteilen lassen [1, 2]: –– Bewusstseinslage: quantitativ (Ist der Patient wach, reagiert er auf Aussenreize), qualitativ (Ist der Patient z. B. zu Situation und Zeit orientiert) –– Visus/Augenbewegung: Gibt es Sehstörungen? Werden die Augen auffällig bewegt? Liegen Störungen bei den Pupillen vor? –– Sprache: Versteht der Patient einfache Aufforderungen? Kann er einfache Worte nachsprechen? –– Hirnnerven: Ergeben sich beim Grimassieren Asymmetrien (Zähnefletschen, Stirnrunzeln)? Liegen im Gesicht Sensibilitätsstörungen vor? –– Liegen Kopfschmerzen oder Meningismus vor? –– Motorik: Sinken Arm oder Bein ab, wenn sie mit geschlossenen Augen hoch gehalten werden? Liegen Assymetrien an den Extremitäten vor? –– Koordination: Kann bei geschlossenen Augen der Finger sicher zur Nase geführt werden? –– Hat der Patient Schwindel?

… so geht es weiter … Letztlich verliess Andrea den RTW um Max die Klinikanmeldung in Auftrag zu geben. Sie fand diesen am Strassenrand telefonierend vor. „Kannst Du bitte den Patienten in der Klinik anmelden“, unterbrach sie sein Telefonat. „Ich bin gerade dran. Habe ihn schon in Frankental angemeldet. Die haben dort eine Stroke Unit und sind die nächste Klinik“. „Meinst Du Frankental ist geeignet? Vielleicht ist das eine Blutung und die haben keine Neurochirurgie!“ „Das kannst Du ja hier nicht beurteilen. Die sollen dort erst mal ein CT

27.1 Falldarstellung

205

machen. Und ausserdem bringen wir in der Regel Stroke Patienten dorthin“, setzte Max dem Gespräch ein Ende. Ehrlich gesagt hatte Andrea keine Lust, mit diesem schlecht gelaunten Mitarbeiter eine längere Diskussion zu führen. Vielleicht hatte er am Schluss sogar noch recht, dass die Patienten primär in diese Klinik kamen. Also wurde der Patient für den Transport vorbereitet. Dieser verlief problemlos, Andrea versuchte mit Urapidil einen systolischen Blutdruck von 180–200 mmHg einzustellen und machte unterwegs noch eine genauere Anamnese. Der Patient berichtete, dass er wegen eines Stents in den Koronarien Acetylsalicylsäure einnehme und ausserdem für den Blutdruck einen ACE-Hemmer. Solch heftige Kopfschmerzen wie heute habe er in seinem ganzen Leben noch nicht gehabt und sie seien sehr schlagartig gekommen.

Zerebrales Ereignis

Zum Management des erhöhten Blutdrucks beim Stroke findet man in der Literatur keine klaren Angaben [3]. Als Reaktion auf den Gefässverschluss reagiert das körpereigene System mit einer deutlichen Steigerung des arteriellen Blutdrucks. Über Kollateralen wird so versucht, die Perfusion des betroffenen Areals zu gewährleisten. Während eine Kernzone des minder perfundierten Areals keine Durchblutung erhält, ist in den umliegenden Gebieten, der Penumbra, die Blutversorgung druck­ abhängig. Denn die Autoregulation ist in diesen Gefässarealen beeinträchtigt. Somit ist eine deutliche Absenkung des Blutdrucks in der Akutphase sicher ungünstig. Ein verminderter zerebraler Perfusionsdruck würde zu einer Vergrösserung des endgültig infarzierten Areals führen. Die zerebrale Durchblutung unterliegt einer Autoregulation, die über einen weiten Bereich des Perfusionsdrucks eine Blutversorgung sicherstellt. Diese Autoregulation ist bei chronischer arterieller Hypertension zu höheren Druckwerten verschoben. Bei einem Stroke durch Gefässverschluss wird diese Autoregulation gestört. Beide Sachverhalte machen umso mehr bedeutsam, dass ein ausreichender Blutdruck gewährleistet wird. Dieser sollte mindestens 140–150 mmHg systolisch erreichen; Systolische Blutdruckwerte über 220 mmHg gelten als interventionsbedürftig [4]. Strokepatienten haben meist auch ein erhöhtes kardiales Risikoprofil, so dass es unter einer hypertensiven Entgleisung zu Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz o.  ä. kommen kann. Beim hämorrhagischen Ereignis gilt theoretisch ein hoher Blutdruck als Risiko für eine Ausdehnung der Blutung. Eine klare Empfehlung für Blutdruckgrenzen findet sich zu diesen Patienten nicht in der Literatur [3]. Ohne klinische Bildgebung bleibt unklar, ob dem Stroke eine Blutung zugrunde liegt. Da präklinisch nicht zwischen ischämischem und hämorrhagischem Stroke unterschieden werden kann, erscheint eine Blutdruckeinstellung systolisch zwischen 150 und 200 mmHg sinnvoll.

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27  Verdacht auf Schlaganfall – Die Sache mit den Schnittstellen

… so geht es weiter … Nach 15 Minuten Fahrt kam der RTW an der Klinik an; das Team der Stroke Unit wartete bereits auf der Notfallstation. Nach kurzer Schilderung der Situation sollte der Patient zügig ein CCT erhalten. Dieses zeigte eine basisnahe Blutung links mit subarachnoidaler Ausbreitung. Andrea sah sich nun in ihrer Vermutung bestätigt und befürchtete, dass der Patient in eine Neurochirurgie verlegt werden muss. „Können Sie dem Patienten hier helfen oder muss er weiter verlegt werden?“ fragte sie den Oberarzt der Neurologie. „Nun ich nehme an, dass die Blutung von einem Aneurysma ausgeht. Wir machen jetzt eine Angiografie und vielleicht kann man mit einem Coiling dem Patienten hier helfen. Aber dazu muss ich jetzt zuerst das Team der Neuroradiologie kommen lassen. Die sind auf Rufbereitschaft und haben ca. 30 Minuten bis sie da sind. Schade dass sie den Patienten als TIA angemeldet haben. Wenn ich das alles schon bei Anmeldung gewusst hätte, wäre das Neuroradiologieteam sofort verständigt worden und wir könnten jetzt sofort beginnen.“ Management Stroke

Das schnelle Erkennen eines Schlaganfalles und die entsprechende Organisation der Akutbehandlung sind ein entscheidender Faktor für das Outcome. [5] zeigt auf, dass das Bewusstsein beim Patienten selbst, aber auch im Bereich der professionellen Hilfe dafür geschärft werden muss, dass es sich beim „Stroke“ um eine akut bedrohliche Situation handelt. Und auch die transitorische ischämische Attacke (TIA) ist als solche zu werten, denn sie kann Vorbote eines Strokes in den kommenden Stunden oder Tagen sein und die sofortige Behandlung kann hier schwerwiegendes rechtzeitig verhindern. Verschiedene Faktoren führen zu einer schnelleren Intervention: Gröbere neurologische Ausfälle, erst kurz bestehende Symptomatik, günstige Verhältnisse am Einsatzort (z. B. keine Treppen) [5]. Von ganz entscheidender Bedeutung ist eine aussagekräftige Anmeldung des Patienten in der Stroke Unit. So können bereits zum Eintreffen des Patienten in der Klinik wichtige Massnahmen getroffen werden. Wichtige Informationen für die aufnehmende Klinik sind: –– –– –– –– –– –– ––

Symptombeginn Symptombeschreibung (Sprache, Seitendifferenz, Schwindel) Bewusstseinslage, Ist der Patient intubiert Kopfschmerzen Medikamenteneinnahme (Antikoagulantien?) Begleiterkrankungen, frühere neurolog. Ereignisse Generelle Vitalparameter (Atmung, Kreislauf)

Werden diese Angaben bereits bei der Anmeldung des Patienten in der Klinik vom Rettungsdienst weitergegeben, kann das Intervall bis zur Bildgebung und Intervention deutlich verkürzt werden. Sinnvoll ist auch die frühzeitige Weitergabe von Kontaktdaten zu Angehörigen oder Hausarzt. So kann das Klinikpersonal bereits zum Eintreffen des Patienten wichtige Informationen einholen, ohne dass der Rettungsdienst dadurch Zeit verliert.

27.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

207

… das Ende des Falles Aha, jetzt war es also tatsächlich schief gelaufen. Die ungenügende Absprache zwischen ihr und Max hatte zu einer schlechten Organisation geführt. Andrea besprach sich nun nach dem Einsatz mit Max. Dieser hatte nur kurz das Übergabegespräch im RTW mitbekommen. Er hatte verstanden, dass der Patient schon mit Beschwerden aufgewacht sei. Er hatte die Situation als Stroke ohne Besonderheiten gewertet und den Patienten via Rettungsleitstelle anmelden lassen. Somit war es zu folgenden Schnittstellen gekommen: –– –– –– ––

Notarzt – Rettungsassistent Rettungsassistent – Rettungsleitstelle Rettungsleitstelle – Notfallstation Notfallstation – Oberarzt Stroke Unit

Irgendwo auf dieser Kommunikationsstrecke hatten sich verschiedene Missverständnisse eingeschlichen, weil der Disponent der Rettungsleitstelle wiederum die Schilderung als TIA interpretiert hatte. Denn Max hatte ihm gesagt, dass der Blutdruck sehr hoch sei, sie diesen gerade therapieren würden und es dem Patienten bereits besser gehe. So war es dann zur Fehlinformation in der Klinik gekommen Jetzt stand Andrea als die unerfahrene Notärztin da, die nicht wusste, wie man korrekt einen Stroke anmeldet. Dabei hatte sie die Situation primär korrekt eingeschätzt. Aber sie wäre auch dafür verantwortlich gewesen, die Spitalanmeldung klar und deutlich in Auftrag zu geben. Wie sagte doch Max am Ende der Nachbesprechung: „Du musst mir halt klar sagen, was los ist und was Du willst!“

27.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Andreas ist als Notärztin zwar unerfahren, sie ist aber letztlich für den Patienten verantwortlich. Ist die Situation nicht ganz eindeutig, sollte unbedingt kurz besprochen werden, wer die führende Rolle hat. Im geschilderten Fall ergibt sich aus den Funktionen (Rettungs­ assistenten, Notärztin) die führende Verantwortung für Andrea. Ihr grundsätzlicher Plan, eine klinische Untersuchung durchzuführen und den Blutdruck auf empfohlene Werte einzustellen, ist völlig korrekt. Da sie die Verantwortung hat, muss sie sich ein Bild machen, was tatsächlich vorliegt. Und sie braucht ein gutes Bild von der neurologischen Situation. Denn für die Klinikanmeldung ist dies von entscheidender Bedeutung. Es muss eine Klinik ausgewählt werden, welche die erforderlichen Versorgungsmöglichkeiten bietet. Zum Eintreffen des Patienten sollten evtl. bereits klinikintern Vorbereitungen getroffen werden (Aufbietung von entsprechendem Fachpersonal). Und schliesslich hat es Bedeutung, wenn die neurologischen Symptome eine Dynamik zeigen. Vielleicht ist der Patient bei Eintreffen in der Klinik bereits wieder ohne Symptome und dann sind die Kollegen der Neurologie froh, wenn die Ausfallserscheinungen gut geschildert werden können.

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27  Verdacht auf Schlaganfall – Die Sache mit den Schnittstellen

Andrea handelt richtig. Sie wird aber in ihrem Handeln gestört durch einen Angehörigen. Es gehört zu ihren Aufgaben als Teamführung, dass sie für optimale Arbeitsbedingungen sorgt. Wenn man wahrnimmt, dass ein Störfaktor die Leistung einschränkt, so muss man versuchen, diesen zu beseitigen. Es ist in diesem Fall am Teamleader, dafür zu sorgen, dass die Arbeit durch den Sohn nicht gestört wird. Der Teamleader kann dies selbst tun, was ihn aber zusätzlich von seiner Arbeit ablenkt. Andrea hätte zum Beispiel ein Mitglied der RTW-Besatzung darum bitten können, dass der Sohn aus dem Fahrzeug gebracht wird. Idealerweise geschieht diese Aufforderung an einen Angehörigen bestimmt aber ohne Provokation. Weil Andrea noch unerfahren in solchen Situationen ist, wäre es wahrscheinlich hilfreich gewesen, diese diplomatische Aufgabe an einen erfahrenen Rettungsdienstkollegen zu übertragen. Dass es aber überhaupt stattfindet, liegt in ihrer Verantwortung. Später ist die Ausrede nur bedingt überzeugend, dass sie bei der Untersuchung gestört worden war. Eine Teamführung sollte die gesamte Situation erfassen („situation awareness“) und versuchen, optimale Arbeitsbedingungen zu schaffen. Ist man durch Tätigkeiten am Patienten beschäftigt oder durch wenig Berufserfahrung mental und emotional gefordert, so wird der Überblick über das Geschehen eingeschränkt sein. Deshalb ist es vorteilhaft, wenn die führende Person sich auf ihre Aufgabe konzentrieren kann. Teamführung ist eine sehr wichtige Aufgabe. Andere Teammitglieder sind in der Regel froh, wenn Versorgungsstrategie, Prioritätensetzung, Aufgabenverteilung und Entscheidungsfindung klar sind. Und Entscheidungsfindung ist eine zentrale Aufgabe der Teamführung, das sog. „decision making“. Der geschilderte Fall ist ein Beispiel dafür, wie Entscheidungen am Einsatzort für die weitere Versorgung von entscheidender Bedeutung sind. Der Notarzt stellt hier Weichen, ob der Patient zeitgerecht die notwendige Versorgung erhält. Provoziert durch einen zwischenmenschlichen Konflikt wird Andrea von ihrer Einschätzung und Entscheidung abgebracht. Max kümmerte sich sehr selbstständig um eine Klinikanmeldung ohne den Patientenzustand genau zu kennen. Andrea hat das Problem eigentlich gespürt, hat aber daraus nicht die nötigen Schlüsse gezogen. Ihre Entscheidung (evtl. Blutung, deshalb Klinik mit Neurochirurgie) war durch Erhebung von Fakten (Untersuchung des Patienten) zustande gekommen. Ihr decision making war also begründet und hätte ohne objektive Gegenargumente nicht verworfen werden dürfen. Es hatte auch keine klare Besprechung über Patientenzustand und Klinikauswahl statt gefunden. Max hielt Andrea vor, dass sie eine Blutung präklinisch nicht diagnostizieren könne. Sie aber hatte gute Argumente dies zu vermuten und hätte dies darlegen sollen. Was genau in der Klinik angemeldet wird, sollte kurz z. B. mit einer Wiederholung („closed loop“) bestätigt werden. Andrea hatte hier gar nicht mitbekommen, was Max der Rettungsleitstelle geschildert hatte. Sonst hätte sie die Fehlinterpretation als TIA bemerken können. So aber wurde die fehlerhafte Informationsvermittlung noch weiter verstärkt. Schnittstellen stellen immer ein erhöhtes Risiko dar, dass die Information nicht korrekt aufgenommen und weitergegeben wird. Ein direktes Telefonat zwischen Notarzt und Neurologe

Literatur

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in der Klinik lässt einen solchen Fall sicher anders verlaufen. So aber waren am Informationsfluss 5 Personen beteiligt: Notärztin, Rettungsassistent, Rettungsleitstelle, Personal der Notfallstation und der Neurologe. Für die Weitergabe von sehr bedeutsamen Informationen sollte man deshalb die Schnittstellen soweit wie möglich reduzieren. Eine Bestätigung der Meldung am Telefon hilft Missverständnisse zu klären. Der Fall zeigt auch das Fehlermodell des „Schweizer Käse Modells“: Ein einzelner Fehler (Käseloch) führt nicht automatisch zu Störungen und Komplikationen. Er wird dadurch aufgefangen, indem an einer folgenden Stelle das Fallmanagement korrekt stattfindet. Treffen aber mehrere Fehler (Löcher) aufeinander, so können Gefahren sozusagen auf direktem Weg ihren Weg gehen. Erst die Aneinanderreihung der verschiedenen Fehler lässt die eigentliche Komplikation zustande kommen. Wäre es nur um die Unerfahrenheit der Notärztin gegangen, so hätte z. B. ein gutes Zusammenarbeiten mit dem erfahrenen Rettungsassistenten eine fehlerhafte Spitalauswahl bzw. –anmeldung verhindern können. Es kamen aber dazu ein störender Angehöriger, ein zwischenmenschlicher Konflikt zwischen Andrea und Max, eine unterlassene Bestätigung, was der Rettungsleitstelle geschildert wurde und die oben genannte Schnittstellenproblematik. Komplikationen entstehen meist nicht durch einzelne Fehler, sondern gemäss diesem „Schweizer Käse Modell“ durch ein Zusammentreffen verschiedener Fehler.

Literatur 1. Pelz J (2017) Auf den Schlaganfall fokussierte neurologische Untersuchung und Implikationen für den Rettungsdienst. Notfallmedizin up2date 12(2):126–137 2. Hobohm C, Michalski D (2015) Neurologische Basisdiagnostik im Rettungsdienst. Notfallmedizin up2date 10:257–269 3. Bösel J (2017) Blood pressure control for acute severe ischemic and hemorrhagic stroke. Curr Opin Crit Care 23:81–86 4. Jauch et al (2013) Guidelines for the early Management of patients with acute ischemic stroke. Stroke 44:870–947 5. Humpich M, Byhahn C, Fowler RL, Labiche L (2009) Stroke: acute stroke recieving facilities and management. Curr Opin Crit Care 15:295–300

Das Gefühl der Machtlosigkeit

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Inhaltsverzeichnis 28.1  Falldarstellung  28.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Weiterführende Literatur 

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28.1 Falldarstellung Was geschah … Oli ist ein erfahrener Notarzt und routinierter Intensivmediziner – schon immer empfindet er die Arbeit mit den akutmedizinischen Patienten als großes Privileg. Er empfindet seine Tätigkeit als große Herausforderung, der er sich aber gerne und mit Leidenschaft bzw. Passion stellt. Eines späten Abends bekommt er als Freelancer Notarzt den Auftrag bodengebunden eine Patientin von einem peripheren Krankenhaus ins Zentrum zu verlegen. Im abgebenden Krankenhaus bekomme Oli eine gut achtzigjährige Ordensschwester vorgestellt, die neben einer ganze Latte an schwer wiegenden Vorerkrankungen nun einen abdominellen Aortenverschluss erlitten hat. Beide Beine sind marmoriert und kalt, es lässt sich keine Durchblutung mehr nachweisen. In Oli’s Augen bzw. mit seinem klinischen Blick ist in Zusammenschau mit den Vorerkrankungen incl. einer Schlaganfallsymptomatik seit zwei Tagen die Prognose infaust und die Patientin bereits sterbend. Sie ist maximal schmerzgeplagt und ängstlich. Die Schwester-Oberin ist als Vorsorgebevollmächtigte zusammen mit einer weiteren Ordensschwester anwesend. Die unerfahrene Dienstärztin der Inneren Medizin Jenny hat mit dem Gefäßchirurgen im Zentrum die Übernahme zur notfallmäßigen offen-chirurgischen Versorgung besprochen. Obwohl die Kollegin drängt bittet Oli Alle bis auf die Patientin und die beiden sichtlich besorgten Ordensschwestern aus dem Patientenzimmer. Er erklärt ruhig und gefasst, dass er als Transportbegleitung

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_28

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28  Das Gefühl der Machtlosigkeit

­ inzugerufen wurde, sich aber größte Sorgen mache, ob das geplante Procedere mit dem h hohen perioperativen Risiko überhaupt im Sinne der Patientin sei. Die beiden betreuenden Ordensschwestern sind schockiert über den hohen Leidensdruck ihrer Mitschwester und möchten alle Massnahmen der Linderung in Anspruch nehmen. Ausführlich erläutert Oli gestützt auf seine klinische Erfahrung mit ähnlich gelagerten Fällen das vorgesehene Procedere mit dem damit verbundenen hohen Risiko des perioperativen Versterbens. Die Schwestern bringen im Namen ihrer Mitschwester, welche bereits somnolent und somit nicht mehr kontaktierbar ist, den Wunsch der Leidenslinderung zum Ausdruck. Oli erläutert daraufhin die Möglichkeit der Therapiezieländerung hin zu einer palliativen Zielsetzung und durchgehenden geistlichen Betreuung durch die Mitschwestern. Diese zeigen sich erleichtert und sind sich sicher, dass auch die Patientin diesen Wunsch hätte, wenn sie noch selbständig entscheiden könnte. Aktive Sterbehilfe

Die aktive Sterbehilfe, also die beabsichtigte Tötung des Patienten auf dessen Wunsch (Tötung auf Verlangen) stellt in Deutschland weiterhin einen Straftatbestand dar. Insbesondere bei Personen aus dem Gesundheitswesen geht der Gesetzgeber davon aus, dass die Rechtslage und die Konsequenzen des Handelns bekannt sind. Aber wie auch in anderen Rechtsfragen gilt auch hier die Grundaussage „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“. Gibt also ein Laie an, er/sie habe nicht von der (Selbst-)Tötungsabsicht gewußt, hat aber einschlägige Materialien (Medikamente, Chemikalien, Waffen) besorgt, so droht eine Verurteilung wegen Fremdtötung. Passive Sterbehilfe Hierunter versteht das deutsche Rechtssystem die Tötung durch Unterlassen. Diese ist straffrei. Hierunter versteht man beispielsweise der bewußte Verzicht auf eine endotracheale Intubation trotz progredienter respiratorischer Dekompensation oder beim eindeutig gefährdeten Atemweg (Indikation) bei aussichtsloser Prognose oder auf expliziten Wunsch des einwilligungsfähigen Patienten. Indirekte Sterbehilfe Diese Art der Sterbehilfe ist zwischen der aktiven und passiven Form angesiedelt. Hierbei werden aktiv schmerz- und/oder leidenslindernde Medikamente wie Opiate und Sedativa verabreicht unter Inkaufnahme, dass dadurch der Tod früher als ohne Behandlung eintritt. Dieses Vorgehen ist in Deutschland straffrei und stellt gerade in der Palliativversorgung eine gängige Praxis dar. Auch im Notarztdienst ist dieses Vorgehen in notärztlicher Verantwortung möglich. Diskussion Diese Unterteilung in aktive, passive und indirekte Sterbehilfe erscheint schlüssig und plausibel. Dennoch gibt es akutmedizinische Situationen, die scheinbar nicht in dieses Raster passen und daher häufig zu lebhaften und emotionalen Diskussionen

28.1 Falldarstellung

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führen, die wie immer bei ethischen bzw. philosophischen Fragestellungen (juristisch) nicht eindeutig zu beantworten sind. Daher muss man auch an dieser Stelle eine verlässliche Antwort schuldig bleiben. Eine Therapielimitierung könnte man noch am ehesten der passiven Sterbehilfe zuschreiben, aber wie ist es mit einer Therapieeinstellung (vornehmlich auf einer Intensivstation)? Hierbei werden invasive Behandlungen wie eine kontrollierte Beatmung oder die Katecholamintherapie aktiv beendet. Es ist somit schon eine aktive Herbeiführung des Todes im Sinne des vermuteten oder bekundeten Patientenwillens, daher ist hier Abgrenzung zur Tötung auf Verlangen nicht ganz trivial. Ebenso ist nicht leicht zu differenzieren ab wann eine Analgesie und/oder Sedierung noch der Schmerzlinderung bzw. Anxiolyse dient und ab wann hierdurch nur noch der Todeseintritt beschleunigt wird. Cave: Deutsche Rechtslage, weicht in anderen Ländern ab!

… so geht es weiter … Oli bittet daraufhin die Dienstärztin hinzu und berichtet ihr von der Bitte der Anwesenden um eine palliative Versorgung und Sterbebegleitung vor Ort, weiter bietet er seine Hilfe und Expertise an ein verbindliches aber humanes Procedere für die Pflegekräfte fest zu legen. Für Oli völlig überraschend lehnt die Dienstärztin eine palliative Versorgung und Sterbebegleitung ab und besteht auf eine nun endlich rasche Verlegung zur lebensrettenden OP. Die Schwester-Oberin und die begleitende Ordensschwester schießen daraufhin die Tränen in die Augen und sind völlig verunsichert, weil sie nicht wissen, wem und was sie glauben sollen. Oli gelingt es nicht sich argumentativ durch zu setzen und ordnet da­ raufhin die Transportvorbereitungen an, muss jedoch selbst kurz an die frische Luft, weil ihn die Emotionen überkommen. Er hat den quälenden Eindruck, dass er der Patientin mit dieser Entscheidung maximales Unrecht antut. Leider können die Ordensschwestern den Transport ihrer Mitschwester aus organisatorischen und eigenen gesundheitlichen Gründen nicht begleiten. Um sie zu beruhigen verspricht Oli ihnen sich nach all seinen Möglichkeiten um ihre Mitschwester medizinisch wie menschlich zu kümmern. Zum Transport erhöht er frustriert und etwas hilflos den laufenden Morphin-Perfusor auf ein maximales Mass ohne eine relevante Atemsupression, dennoch krallt sich die Patientin durchweg vor Schmerzen in seine Hand.

Verantwortlichkeit

Grundsätzlich ist die Verantwortlichkeit für den Patienten bei einer Verlegung klar geregelt: Der betreuende Arzt in der Quellklinik ist so lange für den Patienten verantwortlich und therapieentscheidend, bis nach der Patientenübergabe der Patient vom Notarzt übernommen wird. Dieser hat dann die Behandlungsverantwortung bis er den Patienten in der Zielklinik wieder übergeben hat. Somit ist jeweils die mündliche

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28  Das Gefühl der Machtlosigkeit

Patientenübergabe mit Weitergabe der schriftlichen Dokumentation entscheidend und nicht etwa die „Klinikschwelle“. Es ist nicht vorgesehen, dass der transportbegleitende Notarzt die Verlegung ablehnt, wobei er schon zum Ausdruck bringen kann und sollte, dass er den Transport für nicht indiziert, hilfreich oder für den Patienten gar für zu gefährlich hält. Aber auch unter diesen Voraussetzungen erfolgen zahlreiche Verlegungen aus Gefälligkeit oder weil die abgebende Klinik keine patientengerechte Versorgung gewährleisten kann. Neben dem ethischen Dilemma ist auch rechtlich der Transport Verstorbener durch den Rettungsdienst in Deutschland nicht erlaubt, die Übergabe an ein Bestattungsunternehmen muss formal am Ort des Todeseintritts erfolgen, was sehr zeitaufwendig und kaum ethisch vertretbar ist. Daher ist der Todeseintritt während eines Transportes absolut zu vermeiden, führt aber nicht selten zu eigentlich nicht gewünschten Wiederbelebungsmassnahmen bis zum Eintreffen in der Zielklinik, wo der Patient dann für tot erklärt wird.

Das Ende des Falls In der Zileklinik angekommen trifft die NAW-Besatzung glücklicherweise auf ein extrem liebenswürdiges und verständnisvolles Behandlungsteam incl. des diensthabenden Gefäßchirurgen. Er hält die Patientin ebenfalls für sterbend bzw. inoperabel. Er und das pflegerische Team bieten zu Oli’s Erleichterung eine menschliche Sterbebegleitung an. Schmerzlich für Alle ist jedoch, dass am Ende des Lebens der Patientin ihre nächsten Bezugspersonen nicht anwesend sein können und auf die Schnelle auch kein geistlicher Beistand zu organisieren ist. Noch an der Fahrzeughalle des Krankenhauses führt Oli mit dem Transportteam umgehend ein, Debriefing durch und macht dabei selber auch seinem Frust Luft. Erleichtert erfährt er, dass auch seine Teamkollegen die Situation identisch eingeschätzt haben. Es kamen nämlich in Oli erhebliche Selbstzweifel auf, ob er die Situation falsch schlecht eingeschätzt habe. In seinem Frust kommt ihm eine Beschwerde gegen die abgebende Dienstärztin in den Sinn. Aber macht es das besser? Ihr steht ebenfalls wie mir eine ärztliche Meinung zu und sie genießt Hausrecht. Sie kann natürlich Therapien ablehnen, die sie sich nicht zutraut. Zudem hat sie ja auch nur auf eine prinzipiell kurative Zielsetzung gepocht, wie will Oli da argumentieren? Ein erneutes Gespräch mit der Kollegin in der Quellklinik war bisher nicht möglich und Oli fürchtet es wäre auch nicht fruchtbar, denn sie akzeptiert seine Einschätzung schlichtweg nicht und pochte auf das von ihr festgelegte Vorgehen. Sie empfand das Vorgehen als Einmischung und unpassend.

28.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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28.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Oli macht sich offensichtlich diesen Einsatz nicht einfach und bringt sich deutlich über das normale Maß bei einer Notarztverlegung ein. Er schätzt die klinische Situation anders als die Dienstärztin ein: Während sie den eindeutigen kurativen Ansatz sieht, hält Oli die Prognose für infaust und die Patientin bereits für sterbend. Somit hält er die Verlegung für medizinisch fragwürdig und ethisch nicht vertretbar. Allerdings kann er sich gegenüber seiner Kollegin argumentativ nicht durchsetzen. Natürlich hätte er hartnäckiger bleiben können und vielleicht auch sollen, aber es ist fraglich, ob dies dann zu einer guten Patientenversorgung vor Ort geführt hätte. Oli plagt schnell ein schlechtes Gewissen und Selbstvorwürfe ob seiner etwaigen Kompetenzüberschreitung, aber sind die gerechtfertigt? Egal, beeinflußbar ist es eh nicht, daher muss er damit umgehen. Hierfür ist das durchgeführte kollegiale Debriefing im Transportteam absolut wichtig und stellt für ihn einen wertvollen Resilienzfaktor dar. Empfundenes Unrecht ist insbesondere für empathische Menschen wie Oli eigentlich nicht zu akzeptieren bzw. aus zu halten, daher leidet er sehr unter dieser Situation. Die Akutsituation war vermutlich nicht anders zu beherrschen, da eine gewisse Patt-Situation zwischen der Dienstärztin mit Hausrecht und dem Notarzt mit seiner klinischen Expertise bestanden hat. Bleibt die Frage, wie und ob man den Fall im Nachhinein noch aufarbeiten könnte. Dabei sollte es definitiv nicht ums Recht, sondern um die bestmögliche und angemessene Patientenversorgung gehen. Daher ist eine offizielle Beschwerde mit disziplinarrechtlicher Aufarbeitung nicht zielführend, denn die Dienstärztin hat für das Erkrankungsbild adäquat reagiert und therapiert. Ob und wann die Patientin sterbend ist, ist nicht eindeutig zu verifizieren. Zudem würde eine formale Aufarbeitung (quasi unter Zwang) aufgrund der als Kränkung empfundener Kritik sehr wahrscheinlich nicht zu einer künftigen besseren Versorgungsqualität führen. Besser wäre ein persönliches Gespräch zwischen den Beteiligten, ggf. professionell unterstützt durch eine Mediation/Supervision. Dies wäre absolut wünschenswert, da es aber sehr zeit- und ressourcenaufwändig ist, kann es aber nur selten durchgeführt werden. Zudem wäre ggf. eine Vorstellung des Falls in der Morbiditäts- & Mortalitätskonferenz des abgebenden Krankenhauses wünschenswert, jedoch auch mit Fokus auf einen Lerneffekt aus der Situation und nicht auf die Aufarbeitung eines persönlichen Konflikts. Für Oli ist es essentiell wichtig diesen Fall für sich auf zu arbeiten bzw. zu verarbeiten. Dabei sollte er sich seine Menschlichkeit und Empathie bewahren. Er möchte vorbildlicherweise Advokat im Sinne seiner Patienten sein, wenn er dies nicht erreichen kann fühlt er sich nachvollziehbarerweise macht- bzw. hilflos. Dies kann ein relevanter Auslöser für ein Burnout darstellen, daher ist die Aufarbeitung und somit Erkenntnis aus dem Fall bzw. die Verarbeitung so wichtig und sollte unbedingt unterstützt werden. Jedoch darf auch die Dienstärztin nicht zum „second victim“ werden, denn aller Wahrscheinlichkeit nach wollte

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28  Das Gefühl der Machtlosigkeit

sie der Patientin nicht schaden, ganz im Gegenteil wollte sie sie kurativ und so gut wie möglich behandeln. Ihr fehlte vermutlich die klinische Erfahrung den Fall in seiner Ausprägung korrekt zu erfassen. Diese wird mit wachsender Berufserfahrung sicher besser, doch könnte und müßte man auch darüber hinaus aktiv mit der Kollegin an ihrer Kritikfähigkeit und kommunikativen Fertigkeiten arbeiten.

Weiterführende Literatur 1. Gawande: Sterblich sein, 1. Aufl. S. Fischer 2. Flin R, O’Connor P, Chrichton M (2008): Safety at the sharp end. Ashgate, Farnham

Ist Fehler gleich Fehler? – CIRS-Programm

29

Inhaltsverzeichnis 29.1  Falldarstellung  29.2  Fallnachbetrachtung/Fallanalyse  Weiterführende Literatur 

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29.1 Falldarstellung Was geschah … Frank ist ein erfahrener Notfallsanitäter und arbeitet nun seit 12 Jahren bei einem großen Rettungsdienst. Leitungsfunktionen sind nicht so sein Ding, ihn interessiert mehr die Arbeit am Patienten. Sein Steckenpferd ist neben der Notfallmedizin an sich aber auch die Patientensicherheit und das Risikomanagement. Aufgrund seiner Kollegialität und Inte­ grität schlugen daher seine Kollegen ihn schnell vor, als vor zwei Jahren ein Verantwortlicher für das CIRS-Programm (Critical Incidence Reporting System – Fehlermeldesystem) des Rettungsdienstbereichs gesucht wurde. Die Rettungsdienstleitung und Geschäftsführung unterstützt das Programm formell, welches über das Qualitätsmanagement der Firma implementiert wurde. Als Frank seine Funktion übernommen hat, wurde ihm hinter vorgehaltener Hand durch die Führungskräfte aber schon gesagt, dass man das Programm nur so lange unterstützt, so lange dadurch keine wesentlichen Kosten oder Restriktionen für die Firma entstehen. Frank ließ sich durch diese Ansage aber nicht einschüchtern und entwickelte mit viel Herzblut ein onlinebasiertes anonymes Meldesystem. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten durch aufkommende Bedenken seiner Kollegen etablierte sich das System mittlerweile erfreulich und es wurden regelmäßig Vorkommnisse gemeldet.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2_29

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29  Ist Fehler gleich Fehler? – CIRS-Programm

CIRS

Beim Critical Incident Reporting System (CIRS) handelt es sich um ein meist onlinebasiertes Fehlermeldesystem. Die kann abteilungsintern, firmenintern, an eine Fachgesellschaft gekoppelt oder ein offenes System sein. Grundvoraussetzung ist, dass es einen non-punitiven (nicht strafenden) und anonymen Ansatz hat. Dies bedeutet, dass der Melder keine Sorge vor Konsequenzen oder Repressalien machen muss. Etwas vereinfachend kann man folgenden Ansatz definieren: „Fehler passieren, aber bitte nur ein einziges mal!“ Moderatoren des Systems sorgen für die Aufarbeitung der Meldungen: Ist die Anonymität gewahrt, handelt es sich wirklich um ein relevante Meldung oder ist es eher ein zwischenmenschliches Problem? Kann man aus der Meldung etwas lernen und lassen sich Verbesserungsoptionen aufzeigen? Die aufgearbeiteten Fälle werden dann im System veröffentlicht, so dass jeder Mitarbeiter aus dem Vorkommnis lernen kann. Man konnte zeigen, dass auch bei vergleichsweise flüchtiger Beschäftigung mit den veröffentlichten Meldungen auch langfristig und signifikant dieses Vorkommnis vermieden werden kann. Daher ist CIRS ein effektives und nachhaltiges Werkzeug des Fehlermanagements.

… so geht es weiter … Frank hat heute einen vergleichsweisen ruhigen Dienst auf dem NEF und so setzt er sich in seinem Büro, welches er sich mit anderen Funktionsträgern teilt, an den Computer und stellt erfreut fest, dass es während seines Urlaubes in den vergangenen zwei Wochen eine ganze Reihe von Meldungen eingegangen sind. Die erste Meldung betrifft einen Rangierunfall: Ohne Einweiser (wie es eigentlich eine Dienstanweisung vorsieht) wurde ein KTW rückwärts gegen einen Poller gesetzt. Der Melder gibt an, der Unfall sei durch die tiefstehende Sonne und durch die im Winter ständig verdreckten Rückspiegel entstanden. Als Lösungsvorschlag gibt der Melder an, dass alle Fahrzeuge mit einer Rückfahrkamera ausgestattet werden sollten. Aus dem Bericht geht nicht hervor, ob der Unfall der Rettungsdienstleitung gemeldet wurde. Frank vermutet, dass dies auch nicht geschehen ist, sonst hätte es auch sicher einen mahnenden Aushang auf der Rettungswache gegeben. Es wird sicher wieder deswegen Ärger mit der Fahrdienstleitung geben, denn es wurde mehrfach kommuniziert, dass Unfälle nicht im CIRS, sondern via Ereignismeldung an die Fahrdienstleitung gemeldet werden müssen. Das CIRS darf in solch einem Falle nicht als „Sündenablass“ dienen zum Schutz vor Strafe bei Verstoß gegen eine Dienstanweisung (dass im Krankentransport stets mit Einweiser rückwärts gefahren werden muss). Franks Aufgabe kann und darf nun aber auch nicht sein, den Blechschaden an die Fahrdienstleitung zu melden verbunden mit der Ermittlung des Fahrzeugs, des Unfalltags und verursachende Besatzung. Frank nimmt sich vor nochmal einen Aushang auf der Rettungswache zu machen mit Hinweisen, wann eine CIRS-Meldung indiziert ist und wann nicht.

29.1 Falldarstellung

219

Regelverstoß

Bei einem Regelverstoß handelt es sich prinzipiell um eine beabsichtigte nicht regelkonforme Handlung. Dies hat aber zu einem Großteil nichts mit einem bewußt schädigenden Handeln zu tun, jeder von uns überschreitet mehrfach am Tag bewußt regeln. Aktiv schädigendes Arbeiten (Sabotage) ist glücklicherweise eine Rarität. Tritt sie auf, sollte jedoch konsequent sanktioniert werden. Der Umgang mit solchen Mitarbeitern ist schwierig und nicht immer ungefährlich, eine Trennung ist im schweren Fall zumeist unausweichlich. Viel häufiger sind Regelverstöße, durch die überhaupt erst ein erwünschtes und beabsichtigtes Ziel erst erreicht wird (Beispielsweise das erkrankte Kind auf dem Schoß der Mutter zu transportieren, damit es sich nicht wieder aufregt und erneut Atemnot bekommt). Ebenso kommt es zu Regelverletzungen um den Aufwand bzw. die Zeit bis zum gewünschten Ziel zu verkürzen. Wer wartet schon nach der Hautdesinfektion eine Minute bis zur Punktion der peripheren Venenverweilkanüle?! Ähnlich ist es mit den situationsbedingten Regelverstößen, bei denen widrige Umstände zum Aushebeln der Regeln führen. Ein Beispiel wäre hier das Verbringen eines Traumapatienten ohne jegliche Immobilisation in den Rettungswagen aufgrund heftigen Schneefalls mit der Gefahr der Unterkühlung. Allerdings kann es auch passieren, dass Regelverstöße in die Routine übergehen. Dann muss geprüft werden, ob die Regel an sich noch haltbar oder die Argumentation für den Regelübertritt schlüssig ist.

… so geht es weiter … Die nächste Meldung stammt von einem nichtärztlichen Mitarbeiter, der berichtet, dass bei einer präklinischen Narkoseeinleitung mit endotrachealer Intubation zu einem Zahnschaden durch die Notärztin kam. Frank kann nur kurz schmunzeln, dass es keine Rolle spielt, ob das Ereignis durch einen Mann oder eine Frau verursacht wird. Die Meldung läßt vielmehr leider vermuten, dass der Zahnschaden im Zielkrankenhaus nicht übergeben und auch nicht an die Geschäftsführung des Rettungsdienstes gemeldet wurde. Bei der Meldung im CIRS fehlen jegliche Angaben warum es zu diesem Schaden gekommen ist und ob es Verbesserungspotential gibt. Interessante Punkte könnten sein: –– –– –– –– –– –– –– –– ––

Indikation zur Intubation (sofort oder „nur“ eilig) Patientenlagerung zur Intubation Patientenseitige Risikofaktoren für eine schwierige Intubation incl. Zahnstatus Hinweise zur Narkosetiefe bei der Intubation Warum wurde scheinbar nicht das auf dem NEF mitgeführte Videolaryngoskop benutzt? Gab es medizinteschnische Schwierigkeiten Ausbildungs- und Routinegrad des Anwenders Meldekette des Ereignisses eingehalten? Konsequenz und Relevanz des Schadens? …

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29  Ist Fehler gleich Fehler? – CIRS-Programm

Durch die Prämisse der Anonymität und Vertraulichkeit der Meldung, lässt sich leider auch hier keine CIRS-Aufarbeitung des Ereignisses erreichen, was Frank spürbar frustriert. Haftpflichtschaden, Zivilrecht, Strafrecht

Die Haftpflichtversicherung übernimmt Schadensfälle, die vom Versicherungsnehmer unbeabsichtigt (und i. d. R. ohne grobe Fahrlässigkeit) verursacht, hierbei wird nur der entstandene Sachschaden ersetzt. Im Zivilrecht geht es über den materiellen Schaden hinaus auch um Schadensersatz wie Schmerzensgeld etc.. Das Strafrecht regelt Gesetzesbrüche (ob fahrlässig oder mutwillig), bei denen es neben der Schadensregulierung auch um eine Strafe (von der Geldbuße bis zur Freiheitsstrafe) für die Handlung an sich geht. Daher kann es sein, dass eine Handlung zu Konsequenzen auf auf verschiedenen Ebenen führt.

… so geht es weiter … Die Laune von Frank wird bei der nächsten Meldung nicht besser: Der Melder berichtet in gelinde gesagt scharfem Ton eine verbale Auseinandersetzung zwischen ihm und der Rettungsdienstleitung wegen einer vorgeworfenen Mißachtung des Arbeitszeitgesetzes im Dienstplan. Die Ausdrucksweise legt nahe, wie emotional geprägt dieses Gespräch war, und dass ein zwischenmenschlicher Konflikt zwischen den Gesprächsparteien besteht. Auch hier ist die CIRS-Meldung inadäquat und es kommt recht viel Arbeit auf Frank zu: Er muss zunächst den Tonfall der Meldung abmildern und sachlich formulieren, der zwischenmenschliche Teil muss komplett entfernt werden. Für das CIRS spielt eine Verletzung des Arbeitszeitgesetzes eigentlich nur eine nachrangige Rolle (latenter Fehler), vielmehr kommt es darauf an, ob und wie dadurch die Arbeits- und Patientensicherheit gefährdet wird. Frank kann sich schon jetzt ausmalen, wie der Betriebsrat diese Meldung, wenn man sie denn veröffentlicht (es gibt keine Verpflichtung jede CIRS-Meldung auch zu veröffentlichen), ausschlachten wird und was für Auswirkungen sie auf das Standing von Frank’s CIRS-Programm bei der Geschäftsführung haben wird.

Konfliktmanagement

Dieser Begriff ist heut zu Tage sehr „en vogue“ geworden, wird aber bedauerlicherweise nur selten praktisch und konstruktiv umgesetzt. Es handelt sich nämlich tatsächlich nicht um Management im klassischen Sinne, sondern eher um eine Art „Streitkultur“. Zentrale Punkte sind die maximal sachliche und emotionsarme Aufarbeitung des Konflikts. Gerade bei emotionsreichen und somit hitzigen Konflikten ist häufig die Hilfe eines externen und professionellen Mediators notwendig. Zumeist lässt sich eine Konfliktlösung nur durch Eingeständnisse und Kompromisse

29.1 Falldarstellung

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beider Konfliktparteien erreichen, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ist aber zugegebenermaßen trotzdem künftig oft nicht möglich. Es sollte jedoch auch bereits auf eine unterschwellige Konfliktkultur achten, ehe es zu einem tatsächlichen Streit kommt. Jeder kennt es auch aus dem Privatleben, der Kern und Quell eines Konflikts liegt zumeist in einer tatsächlich eher kleinen Meinungsverschiedenheit bzw. an einem Mißverständnis, welches sich dann zu einem richtigen Streit hochschaukeln kann, bis der Konfliktauslöser gar nicht mehr erinnerlich ist. Daher gilt auch hier der Ausspruch „wehret den Anfängen“, ehe der Konfikt zu undurchsichtig wird. Arbeitszeitgesetz Das Arbeitszeitgesetz dient dem Schutz des Mitarbeiters, damit dieser nicht durch zeitliche Überbeanspruchung zu Schaden kommt. Dabei ist es zunächst unerheblich, wie hoch die Beanspruchung innerhalb der Arbeitszeit ist, weil davon ausgegangen wird, dass der Mitarbeiter sich so oder so in dieser Zeit nicht regenerieren kann. Gerade in Zeiten des aktuell hohen ökonomischen Drucks werden diese Gesetzes in der Regel maximal ausgereitzt und mitunter versuchen die Arbeitgeber ihre Mitarbeiter für Verstöße selber verantwortlich zu machen (Bsp. Nicht-­Inanspruchnahme von Pausen). Daher birgt diese Gesetzesgrundlage leider oft Konflikt- und Streitpotenzial, was dann zumeist zu Lasten der Motivation der Arbeitnehmer geht.

… so geht es weiter … Frank hat ja schon fast die Lust verloren sich mit der nächsten Meldung zu befassen, aber er ist ja pflichtbewußt … Gemeldet wird hier eine nur knapp verhinderte Fehlapplikation eines Notfallmedikaments im Einsatz. Einem Patienten mit einer akuten aber hämodynamisch stabilen Tachyarrhythmia absoluta sollte leitliniengerecht zur Frequenzkontrolle Metoprolol verbareicht werden. Stattdessen wurde in der schummrigen Patientenwohnung um 2 Uhr in der Nacht das sich im Ampullarium direkt daneben befindliche Xylocain aufgezogen wurde. Erst als die aufgezogene Spritze (beide Medikamente liegen in 5 ml Glasampullen vor) mit der Ampulle zur Kontrolle dem Notarzt vorgelegt wird, fällt die Verwechslung auf, noch ehe das Medikament verabreicht wurde. Frank freut sich schon fast über diese Meldung, denn es handelt sich um ein klassisches „look alike“, da beide Medikamente vom gleichen Hersteller und sich daher optisch sehr ähnlich sind. Bereits vor einem Jahr gab es die Meldung eines „sounds alike“ bei einer Narkoseeinleitung, als ein Auszubildender anstatt des Muskelrelaxans Esmeron den Betablocker Esmolol aufgezogen hat. Glücklicherweise viel auch damals die Verwechslung noch rechtzeitig auf. Diese Gefahr wurde daraufhin auch in der Aus- und Fortbildung thematisiert verbunden mit Kommunikationsübungen. Diesmal scheint die Kommunikation nicht die entscheidende Kontrolle gespielt zu haben. Frank kommen jedoch sofort zwei potentielle Strategien zur Risikominimierung

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29  Ist Fehler gleich Fehler? – CIRS-Programm

in den Sinn: Zum Einen sind alle Antiarrythmika im Ampullarium nebeneinander einsortiert und nicht mehr wie früher in alphabetischer Reihenfolge (Konsequenz des Ereignisses mit Esmolol und Esmeron). Man könnte aber die beiden sehr ähnlich aussehenden Ampullen voneinander trennen, was Frank den für die Ausstattung zuständigen Kollegen vorschlagen will. Zum Anderen könnte man prüfen, ob man nicht zwei verschiedene Hersteller der Medikamente mit dadurch optisch auch differenten Ampullen auswählen kann. Zusätzlich kommt Frank auch die alte Empfehlung in den Sinn, dass die Vorhaltung von Stirnlampen nicht nur auf nächtlichen Strassen, sondern auch bei schlechter Beleuchtung in Gebäuden effektiv und risikominimierend ist. Denkfehler

Der Begriff Denkfehler ist nicht eindeutig definiert, unterschiedliche Autoren beschreiben ihn auf differente Art und Weise. Im engeren Sinne handelt es sich um eine fehlerhafte Schlussfolgerung innerhalb eines Denkprozesses. Häufig subsummiert man jedoch fast alle unbeabsichtigten Fehlhandlungen darunter. Auch der Begriff Irrtum wird nicht selten mit Denkfehler gleich gesetzt. Auf eine ähnliche Richtung zielen auch Ausrutscher, Patzer und Schnitzer ab. Allen gemeinsam ist, dass zumeist Störungen der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses zugrunde liegen.

… so geht es weiter … Gerade als Frank sich in die Aufarbeitung der Medikamentenverwechslung machen will, klopft es an der Bürotür. Jessica, eine engagierte Auszubildende zum Notfallsanitäter, steht in der Tür. „Darf ich auch persönlich eine CIRS-Meldung abgeben?“ Frank antwortet verdutzt: „Kommt drauf an, wenn die Anonymität keine Rolle spielt … und wir müssen es dann noch schriftlich aufarbeiten.“ Jessica hält eine sogenannte „Gänsegurgel“ in der Hand, ein kurzer Verlängerungsschlauch zwischen Tubus und Beatmungsbeutel etc.. Jessica berichtet besorgt, dass ihr schon dreimal aufgefallen sei, dass das Ansatzstück gebrochen ist  – zweimal beim Equipment-­Check und heute auch im Einsatz, was zu einer kurzen Verzögerung der Beatmung ohne relevanten Folgen geführt hat. Frank ist etwas peinlich berührt, da er auch schon mal diesen Defekt beobachtet hatte, er aber keine Konsequenzen draus gezogen hat, obwohl es sicherheitsrelevant ist, gerade er … Jessica hat aber auch noch mehr zu berichten: Sie habe bereits „ermittelt“ und sei bei Patrick dem Lageristen gewesen. Gemeinsam haben sie den ganzen Karton mit Gänsegurgeln durch gesehen, ohne einen weiteren Defekt aufgrund einer mangelhaften Produktionscharge zu entdecken. Da Jessica zweimal der Defekt direkt beim Check aufgefallen ist, scheidet auch ein Anwenderfehler recht sicher aus. Schließlich war sie dann auch bereits bei Gerd dem MPG-Beauftragten (Medizinproduktegesetz) und sie kamen gemeinsam dem Auslöser auf die Schliche: Die Gänsegurgeln kamen erst vor ca. einem halben Jahr auf Drängen des ärztlichen Leiters auf die Bestückungsliste und wurden zusätzlich zu den eh

29.1 Falldarstellung

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schon dicht gedrängten Materialien in den Notfallkoffer gequetscht, was in der Vergangenheit auch zu vermehrten Schäden an der Verpackung der Endotrachealtuben geführt hat. Patrick und Gerd ist nämlich der vermehrte Verbrauch von Endotrachealtuben aufgefallen, was etwa nicht in häufigeren Intubationen begründet liegt, sondern an einer Zunahme der Verpackungsschäden. Vermutlich springt das dünne Plastik der Gänsegurgel nun aus ähnlichen Gründen beim gewaltvollen Verschließen des überfüllten Notfallkoffers. Da die Produkthaftung des Herstellers nur greift, wenn das Produkt fach- und sachgerecht gelagert wird, muss man nun gar nicht an den Hersteller herantreten oder gar eine Meldung ans deutsche BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) machen. Viel sinnvoller erscheint auch Frank, dass man schnellstmöglich eine CIRS-Meldung daraus formuliert und dabei zu erhöhter Achtsamkeit auffordert, bis über die Verantwortlichen geklärt ist, ob man die Bestückungsliste des Notfallkoffers nicht in anderer Hinsicht etwas ausdünnen kann, damit wieder alle Teilstücke problemlos und ohne Druck in den Koffer hinein passen. So sollte der Defekt künftig vermieden werden und es entsteht sogar vermutlich ein kleiner finanzieller Vorteil.

Medizinproduktegesetz (MPG)

Das MPG regelt die Beschaffenheit und die sachgerechte Nutzung von Medizinprodukten und ist die nationale Umsetzung von europäischen Gesetzen. Schlußendlich möchte der Gesetzgeber hierdurch eine Qualitätssicherung und – steigerung von Medizinprodukten erreichen und ist eher als Hilfestellung für den Produzenten und Anwender zu verstehen. Da die Patientensicherheit ein sehr hohes Gut ist, sind die Regularien vergleichsweise strikt und werden daher häufig als Beschneidung der eigenen Tätigkeit empfunden. Dabei soll sie dem Anwender zu mehr Rechtssicherheit verhelfen. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Das BfArM ist eine Bundesoberbehörde, welche die Herstellung, den Vertrieb und die Anwendung von Arzneimitteln sowie von Medizinprodukten überwacht. Hierzu ist die Behörde auch auf Meldungen von Nutzern/Anwender angewiesen. Jeder kann dort eine entsprechende Meldung abgeben, in einigen Bereichen herrscht auch eine Meldepflicht. Die Meldungen werden dann in Bezug auf ihre Wertigkeit und Häufigkeit bewertet und führen ggf. zu Warnhinweisen/Veröffentlichungen bzw. zu Aufforderungen an die Hersteller. Auch hier sollte man den bürokratischen Aufwand nicht scheuen und die Arbeit dieser Institution als Hilfestellung für eine Verbesserung der Patientensicherheit verstehen. Das Ende des Falls Frank fühlt sich innerhalb kurzer Zeit wie bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV). Nur geht es hier nicht um eine Vielzahl von Patienten, sondern um die Bewertung und Triagierung mehrerer CIRS-Meldungen. Die unterschiedlichen Meldungen addressieren

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29  Ist Fehler gleich Fehler? – CIRS-Programm

unterschiedliche Bereiche und Regularien. Es ist nicht trivial alle Meldungen zügig und angemessen auf zu arbeiten, aber gerade diese Herausforderung schätzt eigentlich Frank sehr und daher hat er sich auch auf diese Funktion eingelassen. Damit er ein Optimum aus diesem Werkzeug des Fehlermanagements erreichen kann, hofft er auf eine weitere aktive und vorbehaltlose Unterstützung durch seine Vorgesetzten sowie auf eine hohe Akzeptanz bei seinen Kollegen. Hoffen wir das Beste denkt sich Frank ….

29.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse Bei einem Fehler handelt es sich grundsätzlich um ein unerwünschtes Ergebnis einer Handlung. Dabei kann diese Handlung an sich falsch sein oder die richtige Handlung fehlt an sich. Entscheidend ist jedoch das Resultat sprich die Konsequenz der Handlung. Das Fehlermanagement hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen, weil es im Gesundheitswesen auch mitunter gewinnbringend ist (zumindest in deutschen Krankenhäusern durch eine bessere Vergütung durch die Kostenträger). Aber auch hier wäre „Fehlerkultur“ der passendere Ausdruck, weil es nicht nur „gemanaged“ sondern gelebt werden muss. Das CIRS ist hier ein wertvolles Instrument um die zentrale Frage zu klären, was warum und unter welchen Umständen passiert ist. Wem der Fehler passiert ist, spielt keine Rolle. Vielmehr sind die wichtigsten Fehlerquellen Prozesse der Informationswahrnehmung (Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksam) sowie Handlungsziele und Pläne, Teamarbeit und Kommunikation. Kernfragen in der Analyse sind hierbei: –– Was wurde falsch gemacht? –– Warum wurde es falsch gemacht? –– Welche Kontextfaktoren und Rahmenbedingungen haben beigetragen? Diese objektive Betrachtungsweise hat aber leider keine Tradition in der Medizin, hier stand immer die Person im Mittelpunkt, die den Fehler verursacht hat. Die Fehleranalyse diente er zur Festlegung des Strafmasses (Disziplinarmassnahmen) des Verursachers. Diese nicht hilfreiche personenbezogene Fehlersicht ist auch als „naming, blaming, shaming“ bekannt. Als Erklärung müssen zumeist vermeintliche persönliche Defizite herhalten: mangelndes Wissen, mangelnde Motivation, Nachlässigkeit, Unaufmerksamkeit oder mangelnde Eignung für die Tätigkeit. Grundsätzlich muss man erst einmal eingestehen, dass überhaupt gar kein fehlerfreies Arbeiten möglich ist. Selbst sehr erfahrenen Mitarbeitern passieren Fehler manchmal sind diese sogar durch die Routine begünstigt, prinzipiell ist eine hohe Expertise als protektiv an zu sehen.

29.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

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Die Organisation an sich stellt ein vulnerables System dar, weshalb in der Fehlerkultur die systemische Perspektive eine zentrale Rolle einnimmt: Dabei kommt es zu einem Zusammenspiel von einer Vielzahl von Faktoren der Person, der Rahmenbedingungen sowie der Organisation selbst. Die auslösenden Einflüsse bestehen oft auch schon lange vor dem eigentlichen Fehler bzw. Zwischenfall. In der systemischen Perspektive ist nicht wichtig, wer etwas falsch gemacht hat, sondern warum etwas falsch gemacht wurde. Es ist selten EINE, sondern zumeist eine Kette von inkorrekten Handlungen, die zu einem unterwünschten Ereignis führt. Daher hat sich auch der Begriff Fehlerkette etabliert. Dabei stellen die einzelnen Fehler häufig nur eine kleine sicherheitsrelevante Beeinträchtigung dar, erst in Verkettung kann es dann zu einem Unfall kommen. Dies erkannte man auch schon lange vor der Medizin in der Luftfahrt, wo man es auch schon früh in einer Art Pyramide darstellte: Eine hohe Zahl harmloser aber unerwünschter Handlungen führen zu nachweislichen und relevanten Fehlern. Verketten sich diese, kann es zu sicherheitsrelevanten Zwischenfällen kommen, schlimmstenfalls kommt es dann zu einem Unfall mit mitunter deletären Folgen. Um diese Verkettung nachvollziehen zu können bedarf es mehrerer Vorbedingungen: –– Es muss eine Absicht zum Handeln bestanden haben(Intentionale Handlung) –– Damit wollte man ein Ziel verfolgen –– Es muss in der Kette der Ereignisse mindestens an einer Stelle eine alternative Handlungsweise gegeben haben Für die Klassifikation von Fehlern hat sich folgende Unterscheidung durchgesetzt: –– Ausführungs- oder Planungsfehler? –– Fehlhandlung absichtlich? (Regelverstoß) –– Aktive oder latente Fehler? Schon 1981 unterschied Norman, ob etwas falsch gemacht wurde (Durchführungsfehler), oder ob etwas Falsches gemacht wurde (Planungsfehler). Bei den Planungsfehlern kann man wiederum unterscheiden, ob gute Regeln falsch, falsche Regeln an sich oder gute Regeln nicht angewendet wurden. Dies erscheint auf den ersten Blick zwar komplex, ist aber in sich logisch. Aktive Fehler bezeichnet man auch als Individualfehler, da sie einer Person (-engruppe) zugeordnet werden kann. Der latente Fehler geht auf die Organisation zurück und wird auch als Systemfehler bezeichnet. Eine gute Verbildlichung dieser Zusammenhänge und Verkettungen ist das sogenannte Schweizer-Käse-Modell nach Reason, (s. Abb. 29.1)

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29  Ist Fehler gleich Fehler? – CIRS-Programm Lokale Auslöser Innere Defekte Atypische Bedingungen

Latente Fehler auf der Ebene des Managements

Psychologische Vorläufer

Unsichere Handlungen Bahn einer Unfallgelegenheit

Innere Abwehrmechanismen

Abb. 29.1  Dynamik der Unfallentstehung (mos. Nach Reason 1990)

Weiterführende Literatur 1. St. Pierre, Hofinger: Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin, 3. Aufl. Springer 2. Marx D: Faktor Mensch  – Sicheres Handeln in kritischen Situationen, 2., Überarbeitete. Aufl. MEDI-LEARN

Stichwortverzeichnis

 A AAAACEEEE 99 ABCDE-Schema 19, 101, 144, 147, 178 ABCD-Schema 196 A/B/C-Schema 54, 70, 91, 93 Patientenbeurteilung 91 Abklärung, medizinische 166 Absturz aus großer Höhe 95 Aggression 107 Akutes Coronarsyndrom (ACS) 23 Diffenrentialdiagnosen 36 Akutes Koronarsyndrom (ACS) 137 Alarm-und Ausrückeordnungen (AAO) 35 Algorithmus 53, 89, 93, 103, 134 Alkohol 36 Alkoholintoxikation 37 Alkoholkrankheit 37 allow natural death (AND) 148 Alpenföhn 22 Alpträum 46 Ambulanzflugdienst 163 Ammoklage 107 Amputationsverletzung 177, 183 Amtshilfe 42 Analgesie 101 Anästhesie bei arterieller Hypotension 157 totalintravenöse 20 Anästhesieeinleitung 129 Anästhesiepflegepersonal im Rettungsdienst 3 Antidepressivum 12 Alkalisierung 13 Intoxikation 13 Proteinbindung 12, 13 trizyklisches 12

Antifibrinolyse 145 Antikoagulantien 204 Antikoagulantien bei Trauma 196 Anxiolyse 24 Aortendissektion 36 Aortenklappenstenose 138 Aortenverschluss, abdomineller 209 Arbeitsbelastung 141 Arbeitsverdichtung durch mehrere Arbeitsstellen 28 Arbeitszeitgesetz 218 Arzt-Arzt-Gespräch 155 Aspiration 129 Atemgeräusch 130, 131 Atemnotsyndrom 76 Neugeborenes 76 Atemwegsproblem 130 Aufgabenverteilung 66, 67 Aufmerksamkeit 197 Ausbildung, notärztliche 1 Ausführungs-oder Planungsfehler 223 Auskultation 130 Ausrutscher 220 Autoregulation 203 Azidoseausgleich 21 B Basisreanimationsmassnahme (BLS) 43 Beatmung, nichtinvasive 22 Indikation 25 Beatmungsweaning 25 Beckenfraktur 194 Beckengurt 50, 52, 53, 64 Beckenschlinge 187 Behandlung, palliative 148

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Ahne, W. Mayer Scarnato, Komplikationen in der Notfallmedizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56475-2

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228 Beinvenenthrombose, tiefe 124 Bergung 96 Bergungstod 99 Berufsanfänger 18 Beschwerde, funktionelle 36 Bestätigungsfehler 133 Betreuer, bestellter 26 Betroffenheit, eigene 117 Bindungsstörung 46 Blutdruckmessung, oszillometrische 188 Blutdruck, optimaler bei Stroke 202 Blutung, aktive 145 Body check 65, 92, 139 Boreout 141 Briefings 46 Bülauposition 186 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 221 Bundespolizei 42 Burnout 38

C Calciumhaushalt 21 Care-under-fire 99 Cervikalstütze 101 Checkliste 92, 93, 134 Choledocholithiasis 163 Cholestase 163 Cholezystitis 163 CIRS-Programm 215 Clamshell-Thorakotomie 188 Closed loop 66, 67, 72, 206 CO2-Kurve 128 Communication 5 COPD 84–86 infektexazerbierte 26 CO-Vergiftung 114 Crash-Bergung 100 Crash-Rettung 186 Crisis Resource Management (CRM) 8, 182 Critical Incidence Reporting System 215 CRM (Crisis Resource Management) 182 CRM-Leitsatz 178

D Debriefing 29, 46, 81, 127, 212 decision fatigue 28

Stichwortverzeichnis Decision-Making 5, 6, 67, 147, 206 Deeskalation 108 Demenz 22 Denkfehler 220 Depression 38, 45 Dienstanweisung 216 Distanzrasseln 22 Disziplinarmassnahme 222 Druckverband 96 Durchblutung, zentrale 203 Durst 27, 28

E Einflussnahme Dritter 189 Einsatz im Gleisbereich 42 Einsatzleiter 61 Einsatzleitung 42 Entscheidungsfindung 206 Ereignismeldung 216 Ereignis, neurologisches 139 Erfahrung 78 Erregungsrückbildungsstörung 139 Erschöpfung des Helfers 14 Erwachsenen-Reanimation 43 Erweiterte Reanimationsmassnahmen (ALS) 43 ESC 35 European Resuscitation Council (ERC) 43 Exsikkose 138

F Faktor, extrinsischer Dark Side 8 Eigen-/Fremdwahrnehmung 8 Erfahrung 9 Fachwissen 8 Feiern können/dürfen 9 Fitness 8 Freundlichkeit 8 Führung 9 Konzentration 8 Müdigkeit 8 Sachkenntnis 8 Skills 8 Strukturierung 9 Teamarbeit 8 Trainingsoption 8

Stichwortverzeichnis Üerforderung 8 Umgang mit dem Ungewissen 9 Unterforderung 8 Vertrauen 8 Faktor, intrinsischer Achtsamkeit 8 Charakter 8 Empathie 8 Gesundheit 8 Motivation 8 Resilienz 8 Wertvorstellung 8 Fatigue 28 Feedback 30 Fehlapplikation eines Notfallmedikament 219 Fehler 223 aktiver 223 latenter 223 Fehlerkultur 222 Fehlermanagement 222 Fehlermeldesystem 215 Feuerwehr 42 Fibrinogen 21, 187 Fixierungsfehler 30, 60, 61, 93, 133 Flashback 46, 117 Flugretter 96 Flüssigkeit, freie 187 Fokussierung 29 Funktionskleidung 18 10 für 10 55, 60, 71, 72, 198

G GCS (Glasgow Coma Scale) 20 Gefahren an der Einsatzstelle 99 Gefahrenbereich 108 Gefahrenmatrix 99 Gefässwiderstand 156 Geiselnahme 107 General Impression 18 Gerätekenntnis 86 Gerinnungsmanagement 145 Gerinnungsparameter 145 Gewaltpotential 108 Glasgow Coma Scale (GCS) 21 Glucoselösung 102 Golden Hour 20 Golden hour of shock 146 good clinical practice 20

229 H Haftpflicht 218 Haltung zu und Kommunikation mit Eltern 116 Handlung, intentionale 223 Handlungsalternative 190 Handlung, unerwünschte 223 Harnstau 24 Harnverhalt 24 Hausarzt 34 Herzinsuffizienz 22, 138, 139 Herzkreislaufstillstand 64, 66 Herz-Kreislauf-Stillstand 11, 13, 78 Herz-Lungen-Maschine 99 Herzrhythmusstörung 23 Heurismen 55, 133 Hintergrundkontrolle 197 Hitze 28 Human-Factors 5 Hunger 27, 28 Hypervolämie 24, 138 Hypotension, arterielle 156 Hypothermie 97 Graduierung 98 Hypovolämiezeichen 168 I Ikterus 163 Immobilisation 90 implementation gap 146 Improvisation 170 Informationsdefizit 190 Informationswahrnehmung 222 Infusionslösung 102 Inhalationstrauma 69 Intubation 70 Insuffizienz, respiratorische (hyperkapnisch/ hypoxisch) 26 Intensivtransport 153 Interverband für Rettungswesen (IVR) 4 Intubation 65, 67, 71, 77, 79, 83, 84, 128–130, 132, 157, 158 Inhalationstrauma 70 i.o.-Zugang 20 Irrtum 220 K Kälte 28 Kaltschweißigkeit 22

230 Kammerflimmern 12 12-Kanal-EKG 24, 139 Kapnographie 188 Katastrophenschutz 1 Katecholamin 20 Kategorisierungs-und Handlungsschablone 18 Kinderreanimation 112 Algorithmus 112 Kindstod, plötzlicher 114 Klappenvitium 23, 138 Klinikanmeldung 90, 205, 206 Klinikinfrastruktur 2 Kochsalzlösung, isotonische 102 Kommunikation 6, 150 Kompetenzgefühl 197 Kompetenzschutz 132, 160 Kompromissbereitschaft 170 Konduktion 98 Konflikt 104 Konfliktmanagement 117, 150, 218 Konfliktscheue 141 Konfliktsituation 34 Konvektion 98 Konzentration 29 Körperkerntemperatur 98 Krise, hypertensive 35 Kriseninterventionsteam 114 L Landespolizei 42 Landesrettungsdienstgesetz 2 Larngospasmus 78 beim Kind 78 Lawinengefahr 96 Lawinen-Piep 96 Leadership 5, 7, 43, 44, 93, 149 Leichenschau 122 Leistungsfähigkeit 27 Leistungssport 27 Leitstelle 2 look alike 219 low-output-Symptomatik 23 Luftrettung, alpine 95 Lungenembolie 36 Lungenödem 84 hypertensives 23, 35 kardiogenes 23 Lyse 137

Stichwortverzeichnis M Massenblutung 21 Massenproteste, gewaltsamer 107 Maximalversorgung 2 Mediation 150, 213 Medizinproduktegesetz (MPG) 221 Medizinprodukteverordnung 86 Medizin, taktische 108 Merkhilfe 28 Metakognition 198 Minithorakotomie 101 Modell, mentales 54, 59, 67, 73, 93 Monaldi-Position 186 Morbiditäts-& Mortalitätskonferenz 213 Motivation 33, 140 Myokarditis 36 N naming, blaming, shaming 222 Narkoseeinleitung 128 Neugeborene 75 Atemnotsyndrom 76 Neurologie 205 Nierenversagen, postrenales 24 NIV 84 NIV-Beatmung 83, 84, 86, 158 Handhabung 85 Indikation 84 no-flow time 122 Non-technical Skills 7 Normothermie 21 Notarzt in der Schweiz 3 SGNOR 3 Notarzthubschrauber (NAH) 95 Notdienst, kassenärztlicher 123 Notfall, internistischer 135 Notfallmanager der Bahn 42 Notfallsanitäter (NFS) 1 Notfallsonographie 120, 186 O off-label use 21 OGI-Blutung 143 OPQRST 37 Ösophagitis 36 Ösophagussonde 98 Oxygenierungsstörung 26

Stichwortverzeichnis P Pankreatitis 36 Patient Blood Management 145 Patientenbeurteilung 90, 92, 93 A/B/C-Schema 91 Patientenübergabe, strukturierte 147 Patientenverfügung 26, 122, 146 Patientenwille 26, 146 Patzer 220 PCI 137 PEA 12 Performance 27, 141 Perfusionsdruck 129 Perikarderguss 187 Perikarditis 36 Perimyokarditis 182 Personalauswahl 9 Personalentwicklung 9 Pleuraraumes 130 Pleuritis 36 Pleuropneumonie 36 Pneumothorax 36, 130, 131, 186 Polytrauma 100 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) 43, 45, 108, 151 Potentiell reversible Ursachen des Kreislaufstillstandes 122 Priorität 54 Punktion, intraossäre 112 Q qSOFA-Scores 168 R Radiation 98 Ramadan 175 Raum, alpiner 17 Reanimation 11, 13, 50, 52, 64, 67 Abbruch 122 bei Traumapatienten 64 Unterlassen einer 120 Reanimationsleitlinien des ERC 112 REBOA (Resuscitative endovascular balloon occlusion of the aorta) 188 Rechtsschenkelblock 137 Regelverstoß 217, 223 Regenerierung 27 Rekapillarisierungszeit 96

231 Rekompensation 27 Resilienz 104, 151 Resilienzfaktor 45 Ressourcenschonung 197 Resuscitative endovascular balloon occlusion of the aorta (REBOA) 188 Rettungsassistenten (RA) 1 Rettungsdecke 98 Rettungsdienstträger 2 Rettungssanitäter Hf 3 Rettungssanitäter (RS) 1 Rippenfraktur 36 Rollenverständnis 166 Rollenverteilung 53, 54 ROTEM® 145 Routine 191 Rückzug, sozialer 46 S SAMPLER-Schema 147, 179 SAMPLE-Schema 19, 101, 196 Sanitätsdienst 1 SBAR-Schema 147 Schädelhirntrauma 129 Schädel-Hirn-Trauma 17, 64 Schadensersatz 218 Schlafdefizit 27 Schlafstörung 46 Schlaganfall 204 Schmalkomplextachykardie, arrhythmische 22 Schmerzensgeld 218 Schnittstelle 205–207 Schnitzer 220 Schock kardiogener 23 Schockraum 19 Schubladendenken 18 Schweizer-Käse-Modell 207 Schweizer Klassifizierungsmodell 98 Schwerpunktversorgung 2 Schwieriger Atemweg beim Intensivpatienten 157 second victim 213 Second-victim-Phänomen 117 Sekundärverlegung 144 Selbstbetroffenheit 14 Selbstbewußtsein 140 Selbsteinschätzung 75, 80, 81 Selbstverteidigung 108 Selbstwirksamkeit 140

232 Selbstzweifel 212 Sepsis, cholangene 167 Sepsiskriterien 25 Sepsis, pneumogene 23, 25 Sepsistherapie 168 SHT 131 Situation awareness 5, 6, 150, 159, 187, 198, 206 Skalpierungsverletzung 96 SOPs (standrad operation procedures) 145 Sounds alike 219 Spannungspneumothorax 64, 130, 187 Speak up 53, 67, 159 S3 Polytrauma-Leitlinie 101 standard operation pocedures (SOPs) 145 Stärkelösungen (HAES) 102 Steilgelände 17 Sterbebegleitung 212 Sterbehilfe aktive 148, 210 indirekte 148, 210 passive 148, 210 Strafrecht 218 Stressreaktion 66 Stroke 202, 205 Stroke Unit 202, 204 Struktur 28 Succinylcholin 71, 77, 78 Suchterkrankung 39 Suizid 38 Suizidrisiko 45 Supervision 213 Sympathetic Crashing Acute Pulmonary Edema (SCAPE) 35 Synkope 136, 137, 172, 176 System 1 132, 134 2 132 T Taubergung 18, 95 Teamführer 54, 134 Teamführung 52, 53, 93, 206 Teamleader 67, 73, 198, 206 Teammanagement 5, 6 Temperaturmessung 96 Temperaturstufe 97 Terrorattentat 107 Therapiebegrenzung 148 Therapielimitierung 211

Stichwortverzeichnis Therapiezieländerung 148, 210 Thoraxdrainage 186 Thoraxentlastung 130, 131 Thoraxtrauma 101, 130, 131, 156 TIA 204–206 Time-out 55, 73, 134 Todesart natürliche 123 nicht unnatürliche 123 ungeklärte 123 Todesfeststellung 120 Todeszeichen sichere 113 unsichere 113 Totenstarre 112 Tötung auf Verlangen 210 Tourniquet 178 Tranexamsäure 21, 101, 145, 187 Transfusion 145 Transfusionsgesetz 145 Transportarzt 51, 54, 155 Transporttrauma 155 Traumaleader 19 Traumaleitlinie 101 Traumanetzwerk 4 Traumazentrum 100, 179, 187 Troponin 137 Tube-Exchanger 50 U Übergaberapport 51 Übergabe, strukturierte 19, 101 Ulcus duodeni 36 ventriculi 36 Ultraschallgerät 24 Umgang mit den Angehörigen 146 mit fremden Religionen 176 mit fremdländischen Gewohnheiten 176 mit Rechtsvorschriften 124 mit Zweifel 189 Universitätsklinik 19 Unsicherheit 80 Unterforderung 135, 141 Unterlassensfehler 80 Unterschied, kultureller 166 Untersuchung, neurologische 202 Unzufriedenheit mit der Arbeitsstelle 176

Stichwortverzeichnis V Vakuumatratze 101 Vena cava inferior 24 Verantwortlichkeit 211 Verantwortlichkeiten in der Krankenpflege 165 Verbrennung 69 Verbrennungspatient 71 Verhalten, disruptives 151 Vermeidungsverhalten 46 Videolaryngoskopie 183 Videolaryngoskop (VL) 179 Volumenersatzlösung, kolloidale 102 Volumengabe 20 Volumenstatus 156 Vorsorgebevollmächtigte 26 Vorurteil 90, 91, 93 W WHO-Kausalkette 123 WHO-Stufenschema der Schmerzmedikation 101

233 X Xarelto 167 Z Zahnschaden 217 Zielsetzung, palliative 210 Zivilrecht 218 Zugang intraossärer 112 periphervenöser 20 Zwischenfälle 223 Zwischenlandeplatz 96