Kleine Schriften: Band 2 Literaturgeschichte. Heldensage und Heldendichtung. Religions- und Sittengeschichte. Recht und Gesellschaft [Reprint 2012 ed.] 9783110843736, 9783110064070

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German Pages 548 [552] Year 1970

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Kleine Schriften: Band 2 Literaturgeschichte. Heldensage und Heldendichtung. Religions- und Sittengeschichte. Recht und Gesellschaft [Reprint 2012 ed.]
 9783110843736, 9783110064070

Table of contents :
III. Literaturgeschichte
Besprechung von Borgfirđinga Sǫgur, Hœnsa-Þóris saga, Gunnlaugs saga ormstungu, Bjarnar saga Hítdœlakappa, Heiđarvíga saga, Gísls þáttr Illugasonar – Grettis saga Ásmundarsonar. Bandamanna saga, Odds þáttr Ófeigssonar (1941)
Besprechung von Jan de Vries, Altnordische Literaturgeschichte, Band I (1943)
Besprechung von Hermann Schneider, Eine Uredda (1950)
Die alte nordische Dichtung (1957)
Besprechung von Ivar Lindqvist, Die Urgestalt der Hávamál (1960)
Besprechung von Walter Baetke, Über die Entstehung der Isländersagas (1964)
Die Volksdichtung Islands (1965)
IV. Heldensage und Heldendichtung
Kriemhilds Hort und Rache (1948)
Brünhilds und Kriemhilds Tod (1948/50)
Das Eddastück von Sigurds Jugend (1950)
Heldensage vor und außerhalb der Dichtung (1952)
Heldensage und Christentum (1960)
Zur Geschichte der Walthersage (1963)
Dietrichs dreißig Jahre (1963)
Besprechung von Gottfried Weber, Das Nibelungenlied (1965)
Der Teufel im Niblungenlied. Zu Gunthers und Kriemhilds Tod (1965)
Finn Folcwalding (1969)
V. Religions- und Sittengeschichte
Besprechung von Eugen Mogk, Zur Bewertung der Snorra-Edda als religionsgeschichtliche und mythologische Quelle des nordgermanischen Heidentums (1933)
Besprechung von Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte (1937)
Besprechung von Fritz Wüllenweber, Altgermanische Erziehung (1937)
Sitte und Sittlichkeit (1938)
Besprechung von Eidur S. Kvaran, Sippengefühl und Sippenpflege im alten Island im Lichte erbbiologischer Betrachtungsweise (1938)
Besprechung von Jan de Vries, The Problem of Loki (1938)
Besprechung von Jan de Vries, De skaldenkenningen met mythologischen inhoud (1938)
Besprechung von Walter Gehl, Ruhm und Ehre bei den Nordgermanen (1938)
Die Rangordnung der Daseinswerte im alten Sittengedicht der Edda (1939)
König und Volk in der germanischen Bekehrungsgeschichte (1940)
Die Ethik des alten Atliliedes (1941)
Das nordgermanische Heidentum in den ersten christlichen Jahrhunderten (1942)
Besprechung von Walter Baetke, Das Heilige im Germanischen (1943)
Es gibt kein balder „Herr“ (1951)
Besprechung von Walter Baetke, Die Götterlehre der Snorra-Edda (1952)
Besprechung von Walter Baetke, Christliches Lehngut in der Sagareligion. Das Svoldr-Problem. Zwei Beiträge zur Sagakritik (1953)
Besprechung von Otto Höfler, Germanisches Sakralkönigtum. I. Band, Der Runenstein von Rök und die germanische Individualweihe (1954)
Gaut (1954)
Das Fortleben des germanischen Heidentums nach der Christianisierung (1967)
VI. Recht und Gesellschaft
Besprechung von Gudmund Schütte, Gotthiod, Die Welt der Germanen (1941)
Altnordisch rekkr und Verwandte (1944)
Besprechung von Karl Olivecrona, Döma till konung. En rättshistorisk undersökning (1944)
Philologisches zur Adoption bei den Germanen (1947)
Die Grenzen der germanischen Gefolgschaft (1956)
Besprechung von Ernst Schwarz, Germanische Stammeskunde (1958)
Besprechung von Joachim Bumke, Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert (1965)
Einleitung zu Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Zweiter Teil, Die Germanen (1966)
Landbesitz in der Besiedlungszeit Islands (1968)
Kämpen und Berserker (1968)
Hátúninga-melr und Gnúpveria-hreppr. Zur Geschichte der alten isländischen Wirtschaft und Gesellschaft (Neubearbeitung von: Hátúningamelur og Gnúpverjahreppur, 1949)

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Hans Kuhn

Hans Kuhn

Kleine Schriften Aufsätze und Rezensionen aus den Gebieten der germanischen und nordischen Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte

Zweiter Band

Literaturgeschichte Heldensage und Heldendichtung Religions- und Sittengeschichte Recht und Gesellschaft

Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp.

Berlin 1971

Kleinere Schriften zur Literatur- und Geistesgeschichte

Herausgegeben von Dietrich Hofmann in Zusammenarbeit mit Wolfgang Lange und Klaus von See

© Archiv-Nr. 43 38 70/1 Copyright 1971 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. Printed in Germany •— Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: H. Heenemann KG, Berlin

INHALT III. Literaturgeschichte Besprechung von Borgfirdinga Sogur, Hcensa-Póris saga, Gunnlaugs saga ormstungu, Bjarnar saga Hítdoelakappa, Heidarvíga saga, Gísls J)áttr Illugasonar -— Grettis saga Ásmundarsonar. Bandamanna saga, Odds Jjáttr Ófeigssonar (1941) Besprechung von Jan de Vries, Altnordische Literaturgeschichte, Band I (1943) Besprechung von Hermann Schneider, Eine Uredda (1950) Die alte nordische Dichtung (1957) Besprechung von Ivar Lindqvist, Die Urgestalt der Hávamál (1960) Besprechung von Walter Baetke, Über die Entstehung der Isländersagas (1964) Die Volksdichtung Islands (1965)

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IV. Heldensage und Heldendichtung Kriemhilds Hort und Rache (1948) Brünhilds und Kriemhilds Tod (1948/50) Das Eddastück von Sigurds Jugend (1950) Heldensage vor und außerhalb der Dichtung (1952) Heldensage und Christentum (1960) Zur Geschichte der Walthersage (1963) Dietrichs dreißig Jahre (1963) Besprechung von Gottfried Weber, Das Nibelungenlied (1965) Der Teufel im Niblungenlied. Zu Gunthers und Kriemhilds Tod (1965) Finn Folcwalding (1969)

65 80 88 102 119 127 135 138 158 183

1 7 18 30 37

V. Religions- und Sittengeschichte Besprechung von Eugen Mogk, Zur Bewertung der Snorra-Edda als religionsgeschichtliche und mythologische Quelle des nordgermanischen Heidentums (1933) Besprechung von Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte (1937) Besprechung von Fritz Wüllenweber, Altgermanische Erziehung (1937) Sitte und Sittlichkeit (1938) Besprechung von Eidur S. Kvaran, Sippengefühl und Sippenpflege im alten Island im Lichte erbbiologischer Betrachtungsweise (1938)

191 195 204 205 256

VI

INHALT

Besprechung von Jan de Vries, The Problem oí Loki (1938)

258

Besprechung von Jan de Vries, De skaldenkenningen met mythologischen inhoud (1938)

260

Besprechung von Walter Gehl, Ruhm und Ehre bei den Nordgermanen (1938) Die Rangordnung der Daseinswerte im alten Sittengedicht der Edda (1939)

263 266

König und Volk in der germanischen Bekehrungsgeschichte (1940) . . . .

277

Die Ethik des alten Atliliedes (1941) Das nordgermanische Heidentum in den ersten christlichen Jahrhunderten (1942)

287 296

Besprechung von Walter Baetke, Das Heilige im Germanischen (1943)

327

Es gibt kein balder „Herr" (1951) Besprechung von Walter Baetke, Die Götterlehre der Snorra-Edda (1952)

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Besprechung von Walter Baetke, Christliches Lehngut in der Sagareligion. Das Svoldr-Problem. Zwei Beiträge zur Sagakritik (1953) Besprechung von Otto Höfler, Germanisches Sakralkönigtum. I. Band, Der Runenstein von Rök und die germanische Individualweihe (1954) Gaut (1954) Das Fortleben des germanischen Heidentums nach der Christianisierung (1967)

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VI. Recht und Gesellschaft Besprechung von Gudmund Schütte, Gotthiod, Die Welt der Germanen (1941) Altnordisch rekkr und Verwandte (1944) Besprechung von Karl Olivecrona, Döma tili konung. En rättshistorisk undersökning (1944) Philologisches zur Adoption bei den Germanen (1947) Die Grenzen der germanischen Gefolgschaft (1956) Besprechung von Ernst Schwarz, Germanische Stammeskunde (1958) Besprechung von Joachim Bumke, Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert (1965) Einleitung zu Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Zweiter Teil, Die Germanen (1966) Landbesitz in der Besiedlungszeit Islands (1968) Kämpen und Berserker (1968) Hátúninga-melr und Gnúpveria-hreppr. Zur Geschichte der alten isländischen Wirtschaft und Gesellschaft (Neubearbeitung von: Hátúningamelur og Gnúpverjahreppur, 1949)

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III. Literaturgeschichte

BESPRECHUNG von

BORGFIRBINGA SQGUR: Hœnsa-Pôris saga, Gunnlaugs saga ormstungu, Bjarnar saga Hitdœlakappa, Heidarvíga saga, Gísls páttr Illugasonar. Sigurdur Nordal og Gudni Jónsson gáfu út. (íslenzk fornrit III; Reykjavik 1938.)

GRETTIS SAGA ÁSMUNDARSONAR Bandamanna saga, Odds f)áttr Ófeigssonar. Gudni Jónsson gaf út. (Islenzk fornrit VII; Reykjavik 1936.) [Deutsche Literaturzeitung 62, 1941, Sp. 835—842]

Wir müssen die Isländer beneiden, daß sie diese sauberen Ausgaben ihrer alten Sagas mit einem großen wissenschaftlichen Beiwerk als Volksausgaben im Lande verbreiten können. Für uns sind sie bedeutend wegen ihrer umfangreichen und sorgfältigen Einleitungen und ihrer vielen wertvollen Anmerkungen zum Text, dazu der beigefügten Stammbäume, | Register und Karten. In den Einleitungen sammelt sich der Nachdruck um die Fragen Hvar og hvenxr er sagan ritud? Wo und wann ist die Saga geschrieben? Geschrieben heißt hier „schriftlich verfaßt". Die beiden Fragen vereinigen sich in der Suche nach dem Verfasser. Es steht für die Herausgeber dieser Sammlung fest, daß die isländischen Familiensagas samt und sonders erst auf dem Pergament entstanden sind. Es geht hier um ein wichtiges und altes Problem. Die in den Isländergeschichten erzählten Ereignisse gehören zum größten Teil dem 10. Jh. an, die Aufzeichnung dem 13. Jh. In welcher Form sind die Uberlieferungen durch die Jahrhunderte gegangen? Andreas Heusler, der hierüber das Beste geschrieben hat (Die Anfänge der isländischen Saga, Abh. d. Berliner Ak. 1914), nahm an, daß ein großer Teil dieser Überlieferungen schon in der Pflege kunstgeübter Erzähler während des 11. oder 12. Jhs. in Stoffbegrenzung, Aufbau und Sprache ziemlich feste Formen bekommen hatte, so daß es echte Isländersagas gab, ehe eine von ihnen aufs Pergament kam. Für diese Lehre haben sich vor und nach Heusler viele Forscher eingesetzt. Sie ist wohldurchdacht und wohlbegründet. Sie gibt vielen Möglichkeiten Raum und erklärt, was eine Erklärung verlangt. Die verstreuten Argumente, die die Reykjaviker Forscher gegen sie vorbringen, sind schwach. Ihr Führer Sigurdur Nordal weist darauf hin, daß der Isländer Jón Ólafsson den Teil der Heidarviga saga, der 1728 durch den Brand von Kuhn, Kleine Schriften I I

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BESPRECHUNG VON BORGFIRDINGA SÇGUR

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Kopenhagen verloren gegangen war, aus dem Gedächtnis nach Inhalt und Geist richtig ergänzt habe, aber in seiner eigenen Sprache (Fornrit I I I S. C X I V f . ) . Daß ein Isländer des 18. Jhs., auch wenn er noch so begabt und belesen war, eine Saga des 13. Jhs., die er nur gelesen und abgeschrieben, aber nie gelernt hatte, nicht wortgetreu in ihrer alten Sprache wiedergeben konnte, ist selbstverständlich, und es hat auch wohl niemand bestritten, daß entsprechende Umformungen in der Zeit der mündlichen Überlieferung möglich waren. Es ist außerdem nicht beweisbar, daß Jón Ólafsson den Inhalt wesentlich richtiger im Gedächtnis behalten hat als die Sprachform. Die Wahrung des Geistes der Sagazeit ist kein Beweis. Der war dem Schreiber aus vielen Sagas wohlvertraut, den Inhalt der einzelnen Saga aber lernte er nur aus ihr selbst. Nordal scheint zu glauben, Inhalt und Sprache seien so unabhängig voneinander, daß man sich den Inhalt einer Erzählung fest einprägen könnte, | ohne daß etwas von ihrer sprachlichen Prägung haften bliebe. Das ist dodi wohl ein Irrtum. Ähnlich ist es mit Nordais Hinweis auf den geschiditskundigen Isländer, von dem die Morkinskinna erzählt. Der hatte die Voraussetzungen, eine Geschichte, die er einmal am norwegischen Königshof vortrug, besonders wahrheitsgetreu zu erzählen, und er soll das auch getan haben. Als diese Geschichte 150 Jahre später aufs Pergament kam, war sie arg mit ungeschiditlidien Zügen durchsetzt. Also, schließt Nordal, sind die Überlieferungen nicht so fest gewesen, wie viele glauben (Fornrit I I S. L X I ) . Auch hier stößt er in offene Türen. Wer hat denn behauptet, die Festigkeit sei so groß gewesen, daß nichts Neues eindringen konnte? Außerdem braucht die erhaltene Darstellung durchaus nicht von diesem Gewährsmann hergekommen zu sein. Diese Stellung Nordals hängt offenbar mit dem Gedanken zusammen, die isländische Uberlieferung sei vor ihrer Niederschrift in die Hände einer anderen Bildungsschicht, der Geistlichen und Klosterleute, gekommen, denen es nicht einfiel, nur nachzuschreiben, was Männer einer geringer geachteten Bildung erzählt hatten. Es waren allerdings fast nur Priester und Mönche, die damals schreiben konnten. Aber bei vielen von ihnen stand es mit der kirchlichen Bildung schlecht, und sie taten den Laien oft bloßen Schreiberdienst. Die Männer, denen Snorri und Sturla ihre Werke in die Feder diktierten, haben sich gewiß keine selbständigen Eingriffe erlauben dürfen, auch wenn sie geistlichen Standes waren. Ebenso können Isländergeschichten nach dem Diktat gebildeter Erzähler aufgezeichnet sein, ohne daß der Schreiber etwas hinzutat. Die Droplaugarsona saga nennt am Schluß einen Thorvald Ingjaldsson, „der diese Geschichte erzählt hat" (er sagdi sçgu pessa). Das kann nur heißen, daß der Schreiber die Saga einmal von Thorvald gelernt hatte oder daß er sie nach seinem Diktat geschrieben hat. Im ersten Fall muß selbstverständlich mit Abweichungen gerechnet werden. Aber darauf kommt es nicht an. Die Hauptsache ist, daß der Schreiber nicht nur das Material für seine Saga — das müßte anders lauten —, sondern diese Saga einem Laien zuspricht. Er rechnet sich also nicht als ihren Verfasser, und er hat sie im

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BESPRECHUNG VON BORGFIRBINGA SQGUR

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Kern offenbar gelassen, wie sie war. Denn sie enthält, ebenso wie die meisten anderen Isländergeschichten, keine Merkmale eines Verfassers oder Bearbeiters von kirchlicher Bildung und Denkart und keine Spuren von Schreibstubenarbeit. I Nordal glaubt, in der etwas unbeholfenen Kunst der Heidarviga saga sei der Anfang der Isländersaga zu fassen (Fornrit III S. C X X X V I I ) . Zunächst ist die geringere Beherrschung der Kunst kein ausreichender Beweis f ü r höheres Alter. Außerdem steht der Stil auch in dieser Saga hoch über dem Anfängerhaften. Wie ein Anfang aussieht, das zeigt die schwedische Guta saga, die Nordal selbst einmal der kultivierten Sprache Aris gegenübergestellt hat (Snorri Sturluson, Reykjavik 1920, S. 146). Er glaubt offenbar, daß die Erzählkunst und ihre geschliffene Sprache von anderen Gebieten, auf denen sie ausgebildet waren, auf die neugeschaffenen Isländergeschichten übertragen worden sind. Diese Annahme ist schon deshalb bedenklich, weil eine so hohe Kunst, wie sie in diesen Sagas von f r ü h an herrscht, in der Zeit, die in Frage kommt, anderswo nodi nicht nachweisbar ist. Sie ist außerdem unbegründet, und vor allem war die Kunst der Auswahl und Ordnung des Stoffes und des Aufbaus nur schwer zu übertragen. Das zeigen Sverris saga, Sturlunga saga und verwandte Werke. Aber auch auf diesem Gebiet ist unter den erhaltenen Isländergeschichten kein Anfänger mehr. Der Typ dieser Saga muß seine entscheidende Ausbildung deshalb wohl vor ihrem Zeitraum bekommen haben und nicht erst in seinem Anfang oder während seines Verlaufs. Das heißt nicht Stillstand seit dem Beginn der Niederschrift, und die neuen Möglichkeiten, die der Gebrauch der Schreibkunst brachte, brauchen darum nicht abgestritten oder herabgesetzt zu werden. Gudni Jónsson glaubt in der Einleitung zur Bandamanna saga, Heusler mit dem folgenden Argument zu erledigen: Diese Saga ist ein erdichteter Schwank. Also ist sie das Werk eines Schriftstellers und kann keine ungeschriebene Vorstufe gehabt haben (Fornrit VII S. X C V — V I I ) . Mit anderen Worten: Was nicht geschehen ist, das hat sich in der schriftlosen Zeit keiner ausdenken können, dazu braucht es die Tinte. Jónsson scheint hier — vielleicht im Anschluß an Jón Helgason, N o r r e n literaturhistorische, Kph. 1934, S. 172 — ein Opfer des im Norden verbreiteten Brauches zu sein, geschichtliche Überlieferungen (ohne Rücksicht auf ihre Form) und ungeschriebene Erzählungen (ohne Rücksicht auf die Geschichtlichkeit) unter der Bezeichnung Tradition zusamenzuwerfen. Auch Nordal hält es nach einer Äußerung in Fornrit II S. L I X f ü r sicher, daß die Sagas, die viel Dichtwerk enthalten, nur am Schreibtisch ent- | standen sein können. Aber wohl nur die Isländersagas. Denn er erkennt an, daß viele von den Vorzeitsagas, die wenig Geschichtliches enthalten, lange vor ihrer Aufzeichnung dagewesen sind (Snorri Sturluson S. 134 und 138f. und Fornrit II S. L X I I I ) . Er gibt sogar zu, daß die Geschichten, in denen es auf die Wahrheit weniger ankommt, es den Erzählern leichter machen, ja er scheint hierin einen Grund dafür zu sehen, daß 1*

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BESPRECHUNG VON BORGFIRBINGA SÇGUR

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die Vorzeitgeschichten, wie er annimmt, es viel eher zu festen Formen gebracht haben als die Isländergeschichten (Snorri Sturluson S. 139). So wie hier wirken die Vorstellungen der Reykjaviker Forscher auch an anderen Stellen nicht so durchdacht, wie es nötig ist. Vieles bleibt unklar, und ich habe den Eindruck, daß das nicht nur an dem Fehlen einer zusammenhängenden Darstellung und Begründung liegt. An vielen Stellen wird von Isländersagas vor ihrer Niederschrift gesprochen (zum Beisp. von Nordal an der zuletzt genannten Stelle). Viele andere Stellen zeigen aber, daß Nordal und seine Anhänger überzeugt sind, daß es vor dieser Niederschrift nichts gegeben hat, was saga hieß oder heißen konnte. Es steht für sie fest, daß überall, wo im altisländischen Schrifttum eine Isländersaga erwähnt wird, nur geschriebene Werke gemeint sein können. Sie ziehen aus diesen Zitaten weitgehende Schlüsse und werden hieran auch da nicht irre, wo es sie in unnötige Schwierigkeiten bringt (zum Beispiel Fornrit I V S. X L V I I f . ) . Ihre Erörterungen über Heimat und Verfasser der einzelnen Sagas setzen voraus, daß das, was vor diesen großartigen Kunstwerken da war, bis zuletzt rohe Stoffmassen geblieben sind, die sich nur bei den Nachkommen und engsten Landsleuten der Helden halten konnten, da sie sonst niemanden interessierten, so daß sogar die großen Künstler, die daraus schließlich die erhaltenen Sagas schufen, aus diesem kleinen Kreise stammen müssen. Es scheint mir, als habe sich an die Stelle der Gradfrage, die Heusler erwog: Wieviel von der Kunst der Sagas — aller zusammen und jeder einzelnen — gehört den Erzählern der schriftlosen Zeit, wieviel den Aufzeichnern und Abschreibern? ein sinnloses Entweder-oder geschlichen: Entweder gehört die künstlerische und damit auch sprachliche Durchformung der Sagas allein den Erzählern oder aber denen, die sie aufs Pergament brachten. Das erste Extrem ist falsch, also ist das zweite richtig, so scheint der Schluß zu sein. Auf jeden Fall wird der Kampf in Reykjavik immer mehr für das | eine Extrem gegen das andere geführt. Es sieht so aus, als sei Heuslers Arbeit über die Anfänge der isländischen Saga drüben kaum noch bekannt. Starke Zeugnisse (besonders Sturlunga saga I S. 19f.) zwingen dazu, das Dasein fertiger Vorzeitsagas in der schriftlosen Zeit anzuerkennen. Lange gepflegte Erzählungen aus der norwegischen Königsgeschichte sind schon für die Mitte des 11. Jhs. bezeugt (Morkinskinna S. 199f.). Nordal gibt zu, daß die Schreiber der Isländergeschichten von der älteren Erzählkunst gelernt haben (zum Beisp. Fornrit I I S. L X I I ) . Er ist überzeugt, daß der große Skalde Egil seine Lebensgeschichte selbst erzählt hat und daß seine Erzählung in seinem an dichterischen Begabungen reichen Geschlecht fortlebte und schließlich zum Grundstock seiner Saga wurde (Fornrit I I S. X I und X X V f . ) . Dazu dann das wichtige Zeugnis am Ende der Droplaugarsona saga. Trotzdem bestreitet man in Reykjavik, daß es Isländersagas gegeben hat, ehe sie geschrieben wurden. Zeugnisse oder Argumente, die diese Haltung rechtfertigen, gibt es nicht. Das, wovon Nordal ausging, daß alle Sagas ganz anders aufs Pergament gekommen seien, als sie vorher erzählt waren, ist

[840-841]

BESPRECHUNG VON BORGFIRBINGA SÇGUR

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selbst nur eine schlecht begründete Annahme, und es würde, wenn es richtig wäre, doch durchaus nicht voraussetzen, daß es vorher keine Geschichten von verwandtem Charakter gegeben hat, daß die seit langem ausgebildete Erzählkunst die Stoffe, die dem Volk am nächsten lagen und an denen sie ihr Größtes geleistet hat, so lange unberührt ließ, bis Männer kamen, die mit der Schreibfeder umgehen konnten. Da sich die Herausgeber der Izlensk fornrit um die meisten Argumente, die Heusler und seine Anhänger auf ihrer Seite haben, wenig kümmern, sollen die wichtigsten von ihnen noch einmal genannt werden (sieh besonders, außer der genannten Arbeit Heuslers, Rudolf Meißner, Die Strengleikar, Halle 1902, S. 1—104 und Knut Liest0l, Upphavet til den islandske asttesaga, Oslo 1929). 1. Am Schluß der Droplaugarsona saga wird ein Mann genannt, der die Saga erzählt hat. Schreibende Verfasser oder Bearbeiter von Isländergeschichten werden dagegen nie genannt. Diese Sagas sind als Schriftwerke grundsätzlich namenlos. Das wäre merkwürdig, wenn sie, wie es die isländische Schule lehrt, von Männern mit kirchlicher Bildung aus einem rohen Stoff gestaltet wären. Es spricht vielmehr für eine Entwicklung von Stufe zu Stufe, deren Anfänge der Volkstum- | liehen Kunst angehörten. In diesen Fällen pflegten im Mittelalter auch hervorragende persönliche Leistungen, wie es manche Isländersagas sind, namenlos zu bleiben (vgl. das Nibelungenlied). 2. Stoffwahl und Gesinnung, Stil und Sprache der Isländergeschichten enthalten nichts, was einen Anteil von Geistlichen und Mönchen an der Schaffung der Literaturgruppe verrät, wie ihn die Lehre der Reykjaviker voraussetzt. 3. Die Isländergeschichten sind durchweg kunstvoll durchgeformte erzählerische Einheiten. Wären sie erst in der Schreibezeit aus einem planlos und kunstlos überlieferten Stoffe geschaffen, wie man in Reykjavik an-* nimmt, dann müßten wir erwarten, daß ihr Inhalt ein ebenso „wüster Haufe von Zufälligkeiten" (so Heusler AfdA. 29, S. 212) wäre wie der Inhalt der anderen damals geschriebenen Sagas, die mit einem solchen ungeordneten Rohmaterial arbeiten mußten (Sverris saga usw.). 4. Viele Isländergeschichten enthalten Berufungen auf andere Sagas oder Geschichtswerke, meist in der Form sem segir í Laxdoela sçgu „wie es in der L.-Saga heißt", oder ähnlich. Sie selbst werden auch in anderen Werken selten anders zitiert. Dagegen ist in der Verbindung mit ihnen fast nie von rita „schreiben" (schriftlich verfassen) die Rede, wie ziemlich oft in Angaben über Teile der Literatur, die sicher echte Schriftwerke sind. Dieser Unterschied wäre schwer zu erklären, wenn auch die Isländergeschichten solche Schriftwerke wären, wie in Reykjavik gelehrt wird. Er spricht vielmehr dafür, daß die Isländergeschichten die Art, in der sie zitieren (und zitiert werden), aus der Zeit schriftloser Pflege mitgebracht haben. Wieweit die erhaltenen Erwähnungen auf mündliche oder geschriebene Werke gehen, ist eine andere Frage.

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BESPRECHUNG VON BORGFIRBINGA SÇGUR

[841-842]

5. Einige Isländersagas sind ganz oder teilweise in mehreren Fassungen überliefert, deren Abweichungen so sind, daß sie am leichtesten aus mehrmaliger Aufzeichnung schriftlos ausgeformter Erzählungen erklärt werden können. Dies ist das einzige Argument, das die Reykjaviker Forscher ernstlich angegriffen haben. Sie halten ihm hauptsächlich entgegen, die Übereinstimmungen in Inhalt und Wortlaut seien dazu viel zu groß. Gewiß, wenn sie recht hätten, daß diese Werke vor ihrer Niederschrift keine feste Form gehabt haben. Aber das ist es ja gerade, was sie beweisen sollen. 6. In den genannten Punkten stimmen die | Isländergeschichten, wo ein Vergleich möglich ist, meist mit den Vorzeitgeschichten überein, die zum Teil lange vor der Schreibezeit bestanden haben. Auch da ist niemand bezeugt, der eine Saga geschrieben hat, wohl aber ein Mann, der lange vor der Schreibezeit eine Saga „zusammengesetzt" hat, und mehrere Männer, die solche Sagas erzählt haben. Auch die Vorzeitgeschichten sind durchweg frei von geistlichen Einflüssen und Herren über ihren Stoff, auch in ihnen gibt es keine Erwähnung geschriebener Werke. In den überlieferten Königssagas, von denen die meisten sicher am Schreibtisch entstanden sind, ist alles anders, besonders in der älteren Schicht. Hier sind viele Verfasser mit Namen bekannt, hier sind Werke ausgeprägt kirchlichen Geistes (die legendarischen Sagas), Werke, die mit ihren Stoffmassen nicht fertig werden, und Erwähnungen der Schreibetätigkeit. Aber es sind, abgesehen von der Jómsvíkinga saga, keine Spuren von Spaltung in geformter mündlicher Weitergabe da. Die Jómsvíkinga saga steht jedoch, ebenso wie die in mündlichem Vortrag bezeugte Ütferdar saga König Haralds des Strengen, mit ihrem geschlossenen Handlungsausschnitt den meisten Isländersagas viel näher als den übrigen Werken der außerisländischen Geschichte. Dies ist die Form, in der die norwegische Geschidite in der schriftlosen Erzählkunst gelebt haben wird. Der Mönch Odd Snorrason, der Abt Karl Jonsson und ihresgleichen waren zwar Nutznießer dieser Kunst, aber was sie geschrieben haben, setzt die kirchliche Kultur mit ihrem Schreibwesen voraus, es ist ihr eigenes Werk und trägt ihre Namen mit Redit. Die Isländergeschichten sind aus ganz anderem Holze. Daß die Interessen und die Arbeit dieser Klosterleute dahin geführt haben, daß Isländergeschichten, die da waren, aufgezeichnet wurden, so daß auch für diese Gruppe eine neue Entwicklungsstufe anfing, ist verständlich. Aber daß diese Meisterwerke Männern dieses Schlages ihre Erschaffung aus dem toten Stoffe verdanken, wie es jetzt in Reykjavik gelehrt wird, das ist denn doch zu unwahrscheinlich.

BESPRECHUNG von

JAN DE VRIES ALTNORDISCHE LITERATURGESCHICHTE, BAND I (Berlin 1941) [Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 61, 1943, S. 53—63]

Dies neue Werk des rührigen niederländischen Germanisten ersetzt Eugen Mogks Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur in Pauls Grundriß, deren zweite und letzte Auflage 1904 erschienen war. Diese Ersetzung ist notwendig, aber wir können de Vries dafür nicht so dankbar sein wie für seine Altgermanische Religionsgeschichte, die im Grundriß Mogks Germanische Mythologie ersetzt hat (2 Bände, 1935 und 1937, besprochen von mir AfdA. 56, 149—157 [hier 195—203]). Die Mängel des neuen Werkes, wenigstens seines I. Bandes, werden nicht so durch Vorzüge aufgewogen, und es ist auch nicht so wie dort, daß niemand da wäre, von dem in absehbarer Zeit eine bessere Leistung erwartet werden könnte. Der erschienene Band umfaßt die Dichtung bis 1100. Ein zweiter soll die Dichtung und Prosa des 12. und 13. Jahrhunderts bringen. Auch im ersten Zeitraum ist der Stoff nicht, wie es üblich ist, nach eddisch und skaldisch gegliedert, sondern nach fünf kürzeren Zeiträumen, de Vries nimmt nicht einmal die Uberblicke über die bleibenden Eigenarten der einzelnen Dichtungszweige aus dem Periodenschema heraus, sondern steckt sie ins 2. Kapitel, das die vorgeschichtliche Zeit behandelt. Er legt auf seine Neuerung großen Wert und begründet sie, so gut er kann (S. 2—6). Ihm liegt daran, die Eigenheiten der einzelnen Perioden scharf hervortreten zu lassen. Aber er hat seinen Plan nicht sauber durchgeführt, und der Plan selbst ist nicht überall klar. Nach ihm reicht die vorgeschichtliche Periode bis zum Ende des 9. Jahrhunderts und die nächste, der erste Teil der heidnischen Zeit, bis zur Besiedlung Islands (S. 6f.). Diese hat nach der Überlieferung 60 Jahre gedauert. Meint de Vries ihren Anfang, Mitte oder Ende? Da der Anfang vorm Ende des 9. Jahrhunderts liegt, die Mitte um die Jahrhundertwende, muß wohl das Ende gemeint sein (um 930). de Vries geht in diesem Absdinitt (Kap. 3) aber, ohne weitere Begründung, bis nahe ans Ende des 10. Jahrhunderts, und er fängt ihn auch nicht, wie sein Plan sagt, am Ende, sondern I schon am Anfang des 9. Jahrhunderts an (mit Bragi dem Alten, den er S. 91—94 und 100 dieser Zeit zuweist). Der Absdinitt umfaßt so statt höchstens 40—50 fast 200 Jahre, de Vries hat es wieder, wie in der Altgermanischen Religionsgeschichte (vgl. AfdA. 56, 150 [196]), nicht fertig ge-

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BESPRECHUNG VON JAN DE VRIES, LITERATURGESCHICHTE

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bracht, klar und sauber zu gliedern, nicht allein hier. Das 4. Kapitel, überschrieben Von der Landnahme Islands bis zur Einführung des Christentums (S. 125—204), ist geteilt in A Die heidnische Zeit und Β Die Skaldik. Sowohl die Teilung selbst als auch die Namen der Teile sind unsinnig. Denn zur heidnischen Periode gehört schon alles, was vorausgeht (im 2. und 3. Kapitel), und auch das meiste, was unter Β als „Skaldik" folgt, und es sind auch nicht einmal alle Skalden des Zeitraums unter Β vereinigt (vgl. unten). Kapitel 5, Das erste Jahrhundert nach der Bekehrung (S. 205—295), ist in A Das Geschlecht der Bekehrung und Β Der Sieg des Christentums geteilt. Die letzte Überschrift gehört nicht in die Geschichte der Dichtung, sondern der Religion, und der unter ihr behandelte Zeitraum von 1035—1100 hat kein Recht darauf, unter dieser Bezeichnung abgesondert zu werden. Die Dichtung, die vorher unter A behandelt ist, ist durchweg ebenso christlich. de Vries hat den Zweck der gewählten Gliederung auch nicht erreicht. Seine meisten Perioden verlangen dazu Untergliederung in kürzere und einheitlichere Zeiträume. Daran fehlt es aber ganz, von der schlechten Teilung des 4. Kapitels abgesehen. Der Leser muß sich in ungegliederten Stücken von Längen bis zu 55 Seiten zurechtsuchen (der II. Band soll Register bringen, die es erleichtern). Ich greife das genannte 4. Kapitel heraus, mit dem es am schlechtesten steht. Es fängt gegen 930 an, mit den Skalden Egil und Glum (S. 128—141). Dann kommen Erörterungen über Heldendiditung, die angeblich in diese Zeit gehört (142—148), darauf, nach einem Hinweis auf das Näherkommen des Christentums, Teile der eddischen Götter- und Spruchdichtung (151—165) und die skaldischen Thorlieder der letzten heidnischen Jahrzehnte (165—167), dann die skaldischen Strophen der Bekehrungsjahre (167—169) und drei eddische Götterlieder, die de Vries der allerletzten Zeit des Heidentums zuspricht (HárbarSslióS, Lokasenna und Vçluspà, 169—178). Nun kommt der 2. Teil des Kapitels, Die Skaldik genannt. Er fängt wieder um 975 an (Einar Skálaglamm) und behandelt zuerst die Skalden, die am Hofe der Drontheimer Jarle waren, durchgehend bis gegen 1025 (PórS Kolbeinsson), also über die Jahrtausendwende hinaus, die dem Kapitel als Grenze gesetzt war (179—187). Darauf geht es wieder zurück zu den Skalden, die von etwa 955 an in Island gedichtet haben (Hástein und Kormák), geht zum zweiten Male über die gesetzte Grenze bis gegen 1025 (Biçrn Hxtdoelakappi, 187—200) und dann zum Schluß noch einmal zu Skalden vor der Jahrtausendwende zurück (Gisli und Pórarin Svarti, 200—204). Also ein Zeitraum von fast 100 Jahren (930—1025), tief im Heidentum anfangend und 25 Jahre nach der Bekehrung Islands endend, gewiß keine geistige Einheit. In ihm wird dann die zeitliche Schichtung der landschaftlichen untergeordnet. Daher das Hin und Her zwischen der heidnischen und christlichen Zeit. Es kommt noch hinzu, daß die Kapitel 3 und 5 so weit in den Zeitraum des 4. hineingreifen, daß sie sich fast berühren. Die | Skalden Eyvind Skaldaspillir, mit dem das 3. Kapitel schließt, und HallfreS, mit dem das 5. anfängt, haben beide am Hofe Jarl Hakons von Dront-

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heim gedichtet, der 995 ums Leben kam. Glum Geirason, Eyvind Skaldaspillir und Kormák, die in denselben Jahrzehnten gedichtet haben, stehen bei de Vries in drei verschiedenen Abschnitten (Kap. 3, 4 A und 4 B). Wo ist da die „synchronic che Methode"? de Vries nennt die Gliederung nach Zeiträumen selbst nur einen Versuch und gibt einige Schwierigkeiten und Bedenken zu (S. 2—5). Sie sind aber wesentlich größer, als er sah. Viele Eddalieder haben mehrere Altersschichten, weil die ältesten Lieder nicht unverändert weitergegeben sind und viele jüngere mancherlei Altes übernommen haben. Diese Schichtung kann oft erkannt, aber selten aufgelöst werden, weil die Schichten meist zu sehr ineinander verfilzt sind. Die Einordnung dieser Lieder in den mutmaßlich am meisten beteiligten Zeitraum tut den andern beteiligten Unrecht, de Vries spricht über die Heldenlieder der ältesten Schicht (Hunnenschlachtlied, HamSismál, AtlakviSa und VçlundarkviSa) im Kapitel über die vorgeschichtliche Periode (S. 36—50 und 52—60). Die Folge ist, daß er mehr von dem spricht, was sie einmal gewesen sein werden, als dem was sie sind. Während er sich hier über die starken Kriterien, die für eine Neudichtung mindestens der AtlakviSa am Ende des 9. Jahrhunderts sprechen (Genzmer, Arkiv 42, 97—134, Kuhn, PBBeitr. 63, 222—224 [s. Bd. I, 517 f.]), hinwegsetzt, behandelt er das zweifelhafte erschlossene Epos von der Schlacht auf Brávellir im Abschnitt über den Sieg des Christentums — mit dem diese Sage von Odins Eingreifen in die Menschengeschicke nicht das Geringste zu tun hat —, nur weil eine „norwegische Etappe" der Sage aus dieser Zeit nachgewiesen ist, die vielleicht nur den Helden ein paar Norweger zugefügt hat (S. 285—288). Die Lieder von Sigurds Jugend (Reginsmál, Fáfnismál und Sigrdrífumál) sind ins 10. Jahrhundert geschoben, dem de Vries ihre ältesten Stücke zuspricht (S. 144—148), aber das ältere Lied von Sigurds Tode, von dem nur Teile einer jüngeren Umdichtung erhalten sind (Brot af SigurSarkviSu), muß trotz des hohen Alters seiner Grundlage auf den II. Band warten. Das eine ist so falsch wie das andere. In einer nach kürzeren Zeiträumen geordneten Literaturgeschichte ist kein Platz für diese mehrschichtigen Eddalieder. Es ist aber auch kein Platz da für alle anderen Lieder, die nicht eindeutig einem der gewählten Zeitfächer zugesprochen werden können. Dies ist nach dem Stande unserer Kenntnis der weitaus größte Teil der Eddalieder, de Vries muß sie trotz der Bedenken, die er hat (S. 3 f.), auf seine Fächer verteilen, wie es ihm am richtigsten scheint. Sie sollen da aber nicht nur stehen, sondern auch geistig eingeordnet werden. Das ist ja der Zweck der Periodengliederung. Da ist die Gefahr falscher Zirkelschlüsse groß: vom Geist der Lieder auf ihr Alter zu schließen und die Lieder dann zu gebrauchen, um den Geist der Zeit zu erkennen (vgl. unten über die Helgilieder). de Vries nimmt die Altersbestimmung viel zu leicht. Ich finde unter seinen Argumenten nichts Neues, was überzeugt und uns auch nur weiterhilft. Er arbeitet wieder mit seiner Lehre, im 11. Jahrhundert könnten keine

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Götterlieder gedichtet sein. Was er von ihnen der Zeit vor 1100 zuweist, ist alles in die | Spanne von 930—1000 gestopft (vgl. oben). Die Grundlage dieser Behauptung ist, außer allgemeinen Erwägungen, daß die Skalden, die damals am norwegischen Königshofe dichteten oder seinem Vorbild folgten, Kenningen mit heidnisch-mythischen Bestandteilen, die vorher sehr beliebt waren, fast ganz vermieden haben. Trotz der großen Bedeutung dieser Lehre f ü r die kritisierte Literaturgeschichte setze ich mich mit ihr in einem selbständigen Aufsatz über das nordgermanische Heidentum in den ersten christlichen Jahrhunderten auseinander, d a sie weiter reichende bedenkliche Folgerungen nach sich zieht, ihre Widerlegung aber ziemlich viel Raum kostet (s. ZfdA. 79, 133—166 [hier 296—326]). de Vries versucht hier, die sichere Zeitordnung der Skaldendichtung f ü r die Edda auszunutzen. Das liegt nahe und ist auch eine der wichtigsten Hilfen, de Vries versucht es damit auch sonst. Er sammelt Berührungen im Wortschatz und Ausdruck und leitet daraus Abhängigkeiten her. So zum Beispiel beim ersten Helgilied (S. 277—283). Es hat ein paar Wörter und Ausdrücke mit Skalden aus der Mitte des 11. Jahrhunderts gemeinsam, de Vries behauptet, das Eddalied habe sie von den Skalden entlehnt. Aber die Berührungen sind geringfügig, und das Lied hat ähnliche auch mit Skalden anderer Zeiten (einige nennt de Vries selbst). Und selbst wenn Zusammenhang besteht, warum dann nicht umgekehrt — dem liegt nichts im Wege — oder über verlorene Zwischenglieder? de Vries führt immer wieder solche meist unbedeutende Ähnlichkeiten als Beweise f ü r Abhängigkeiten auf, meist innerhalb der Skaldendichtung, aber er denkt dabei nie an die naheliegende Möglichkeit, daß einer der Dichter oder beide das Wort oder den Ausdruck aus verlorenen Quellen haben. Von dem, was damals gedichtet ist, ist doch nur ein kleiner Teil erhalten, und wie vorm 12. Jahrhundert außerhalb der Dichtung gesprochen wurde, davon wissen wir noch weniger. Aus dieser Sprache stammt im ersten Helgilied mindestens die gremì ÓSins und wohl auch die Verwünschung deili grçm viö pik (Str. 12 und 44), die de Vries von ÓSins reiSi und flçgS baök viö pau deila in einem Gedichte Sigvats herleitet (S. 282 Anm. 6). Das Eddalied gebraucht hier im Gegensatz zum Skalden die echten technischen Wörter gremi und grçm (vgl. S. 46 Anm. 3. Deili grçm νίδ pik steht außerdem in den Scheltstrophen, die auch de Vries f ü r jüngere Zutat hält. Es ist eine seiner vielen Flüchtigkeiten). Diese fragwürdigen Zusammenhänge werden von de Vries dann ziemlich willkürlich verwertet. Wo auf beiden Seiten skaldische Stücke bekannten Alters stehen, ist ja nicht zweifelhaft, wer von wem entlehnt hat, wenn die unmittelbare Entlehnung einmal sicher ist. Trotzdem ist es de Vries passiert, daß er das Verhältnis auf den Kopf stellte: Eyvind Skaldaspillir soll in einer Strophe, die er zu Lebzeiten König H a r a l d Grafelds gedichtet hat, eine Kenning aus einer Strophe geholt haben, die Egil nach dem Tode des Königs dichtete (S. 121 Anm. 5). de Vries gebraucht solche Berührungen aber auch, um die Unechtheit von Strophen zu beweisen, und dann, wie beim ersten

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Helgilied, um das relative oder absolute Alter eddischer Lieder zu bestimmen. Diese Verknüpfungen scheinen seine Lieblingsbeschäftigung zu sein, sie füllen einen großen Raum seiner Dichtungsgeschichte. Aber nur wenig davon hält Stich. I Ob entlehnt ist und wer es getan hat, kann nicht so leicht entschieden werden, wie er es zu tun pflegt. Er behandelt die herausgezogenen Wärter und Ausdrücke auch viel zu isoliert. Bei den Skalden, denen viel daran lag, originell zu sein, und die sich ungern Anleihen bei anderen Skalden vorwerfen ließen, wird man den Schluß wohl manchmal umkehren dürfen: Β gebraucht eine Kenning, die schon A gebraucht hat. Β wird also diese Strophe As nicht gekannt oder nicht gegenwärtig gehabt haben. Dieser Gedanke klingt auch bei de Vries einmal an (S. 218: Zeitmangel als Grund für den Gebrauch von Ausdrücken, die schon andere Skalden gebraucht haben. S. 188f. aber das Gegenteil). Über diesen luftigen Entscheidungen baut de Vries so unbekümmert fort, als stände er auf dem festesten Boden. Das erste Helgilied ist nicht tragisch wie die Heldenlieder der ältesten Schicht. Da es in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts gedichtet ist, wahrscheinlich um 1070, und zwar an einem Königshof — zu einer so genauen Festlegung kommt de Vries (S. 278 und 282) —, so hat man da zu dieser Zeit von der alten Tragik nidits mehr hören wollen, natürlich unter christlichem Einfluß (S. 281). Und da das Lied stark unter skaldischem Einfluß steht, so gehören diese Einflüsse auf die Eddadichtung diesem Zeitraum an. Da nun auch das Mittelstück der zweiten HelgakviSa Hundingsbana, so geht es weiter, solche Einflüsse erfahren hat, so muß auch dies im 11. Jahrhundert gedichtet sein (S. 284). So kommt de Vries schnell von Schluß zu Schluß weiter. Ich glaube allerdings nicht recht, daß de Vries, wie es nach seiner Darstellung scheint, von den paar Berührungen des ersten Helgiliedes mit Skalden des 11. Jahrhunderts aus zu allen diesen Schlüssen gekommen ist. Es scheint mir eher, daß er in diesen Berührungen die Bestätigung für eine Grundauffassunig zu finden gemeint hat, die er nun aus ihnen ableitet. Denn wie er glaubt, das Christentum hätte schon bald nach seinem äußeren Siege den alten religiösen und mythischen Überlieferungen den Garaus gemacht, so glaubt er auch, seit diesem Siege sei es mit der alten tragischen Heldendichtung vorbei und die lebensfrohen Helgilieder hätten sie abgelöst (S. 211 und 293). Da lag es nahe, für die vermutlich ältesten Teile der Helgilieder einen Platz im 11. Jahrhundert zu suchen. Diese Lehre ist so offenkundig falsch, daß sie nicht so gefährlich ist wie die vom schnellen Untergang der heidnischen Überlieferungen. Denn wenn das Christentum der Todfeind der alten Heldendichtung gewesen wäre, dann wären christliche Könige, wie Gunther, Theoderich und Alboin, wohl nicht unter ihre großen Helden aufgenommen worden, und der fanatische Olaf der Heilige hätte den Vortrag des Alten Bjarkilieds wohl nicht vor seinem Heere geduldet. Es hätte wohl auch kein Christ im Hochmittelalter das Nibelungenlied gedichtet, und die besten isländischen Sagas wären den tragischen Heldensagen nicht so ver-

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wandt geworden. Auch wäre von den alten Sagen und Liedern wohl kaum etwas aufs Pergament gekommen. Diese Sagen haben mit Heidentum oder Christentum wenig zu tun (vgl. Kuhn, Ztschr. f. Deutschkunde 55, 408 [hier 294]). Die tragische und die untragische Heldensage haben offenbar lange Jahrhunderte nebeneinander gelebt, sowohl in der heidnischen wie in der christ- I liehen Zeit. Damit rechnet sonst ja auch de Vries. Er erkennt an, daß die Sagen von Sigfrids Jugend, die keine Tragik haben, vor der Wikingerzeit da waren (S. 60f.), und spricht den Kern der erhaltenen Jungsigurdlieder dem heidnischen 10. Jahrhundert zu (S. 144—148). Auf der andern Seite erzählt er von einem „echt tragischen" Heldenepos, das in Norwegen nach der Mitte des christlichen 11. Jahrhunderts neubearbeitet sein soll (S. 286f.). Im Rückblick am Schluß des Bandes (S. 293) stehen die richtige Einsicht und die falsche Lehre wunderbar friedlich nebeneinander. So etwas kommt bei de Vries öfter vor (so S. 66 und 209 über das Weiterleben der heidnischen Überlieferungen). Aber angenommen, die genannten Schwierigkeiten wären nicht da, alle Eddalieder wären aus einem Guß und wir kennten ihr Alter gut, und de Vries hätte die beiden Zweige der Dichtung richtig nach Altersschichten zusammengefaßt, so stände doch keineswegs immer zusammen, was innerlich zusammengehört. Denn was gleichzeitig ist, gehört nicht notwendig zur selben Entwicklungsschicht. Vielleicht wäre es so, wenn die ganze altnordische Dichtung im selben Lande gedichtet wäre oder ihre Heimatländer sich gleich und ohne Vorsprung in dem einen oder andern entwickelt hätten. So ist es aber nicht. Viel, was in Norwegen oder Island erst im 11. Jahrhundert möglich war, war es in Dänemark oder in den Kolonien auf den britischen Inseln schon um die Mitte des 10. Jahrhunderts oder noch früher. Umgekehrt war aber auch auf den nördlichsten dieser Inseln nach 1000 noch manches möglich, was in der Nähe des norwegischen Königshofs da nicht mehr möglich war. Das verkennt de Vries, und so stellt er das grundheidnische Walkürenlied (DarraSarlióS) in den Abschnitt über das Geschlecht der Bekehrung, hinter die Dichtung am Hofe der norwegischen Bekehrungseiferer, neben der es sich wunderlich fremd ausnimmt (S. 235—238). Aber zeitlich ist das richtig, denn das Lied gehört zu Ereignissen im Jahre 1014. Der Fall zeigt auch, daß de Vries den Abschnitt über die Zeit von 1000—1035 nicht kurzweg für den ganzen Raum der damaligen nordischen Dichtung Das Geschlecht der Bekehrung überschreiben durfte. Einige der oben S. 53—55 erwähnten Verletzungen der Periodengrenzen sind vielleicht unbewußte oder stille Anerkennungen solcher Unterschiede von Land zu Land. Diese Unterschiede verlangen Kenntnis der Heimat eines Liedes, um sein Alter bestimmen zu können. Ist die Vçluspà etwa nicht in Island oder Norwegen, sondern in den nordbritischen Kolonien gedichtet, wie ich es für wahrscheinlich halte, dann fallen die Argumente für ihre übliche Datierung hin. Denn die geistige Lage, die das Lied vorauszusetzen scheint, kann auf diesen Inseln schon viel früher und auch noch später bestanden haben.

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de Vries sagt nichts über seine Heimat. So macht er es bei vielen Liedern. Auch wo er die Heimat eines Eddalieds zu bestimmen versucht, wie beim ersten Helgilied (S. 282), hat er es sich sehr leicht gemacht. Er unterschätzt die Unterschiede zwischen den Ländern offenbar weit und scheint diese Frage darum für bedeutungslos zu halten. Der enge Zusammenhang der beiden Fragen, nach dem Alter und der Heimat, erschwert ihre Lösung natürlich sehr. Eis ist eine Gleichung mit zwei Unbekannten. Es gibt aber | doch Hilfsmittel, auch philologische, um der Lösung näher zu kommen. Doch stört auch hier die Mehrschichtigkeit vieler Lieder. Die Fragen müssen zunächst einmal geändert werden. Nicht nach dem Alter und der Heimat jedes Liedes, sondern nach Heimat und Alter der Gruppen, denen die Lieder angehören. Hier macht die Mehrschichtigkeit wenig Schwierigkeiten. Denn die Lieder bleiben ihren Gruppen fast immer treu und übernehmen nicht viel aus anderen. Die Gruppen werden gebildet durch die Zusammengehörigkeit der Stoffe und viele Gemeinsamkeiten im Versbau und in der Sprache, von den Vokabeln bis hin zum Satzbau, und überhaupt in allem, was zum Stil gehört. Die größte und bedeutendste Gruppe sind die Lieder der südgermanischen Sagen, die ich einmal, als mir ihre Einheit auf mehreren Gebieten auffiel, aus Bequemlichkeit die Fremdstofflieder der Edda genannt habe (PB Beitr. 57, 37 [s. Bd. I, 46]). Die Eigentümlichkeiten, die sie gemeinsam haben, hängen vielleicht alle mit der Herkunft der Gruppe aus dem Süden Germaniens zusammen. J e näher die Lieder dieser Wurzel sind, desto größere und deutlichere Reste der südgermanischen, vor allem wohl deutschen Vorgänger pflegen sie zu enthalten. Aber auch alle nordischen Dichter, die später über diese fremden Sagen dichteten, scheinen versucht zu haben, bei dem überlieferten Stil zu bleiben, und alle Lieder haben an ihm teil. Es ist später aber auch neuer Zustrom aus dem Süden gekommen, der zur Bildung einer jungen Untergruppe geführt hat. Die nächstwichtigste Gruppe sind die Helgilieder. Der Boden, auf dem diese Gruppen gewachsen sind, scheint mir ziemlich sicher nachweisbar zu sein, aber nur in strenger Kleinarbeit, und ähnlich läßt sich wohl auch das Jahrhundert ihrer Entstehung ermitteln. Hierbei wird dann auch der Vergleich mit der Skaldendichtung helfen. Die Heimat der einzelnen Lieder ist damit aber nicht gefunden, und für ihr Alter nur ein Terminus post quem. Gerade ihre Abhängigkeit von der Gruppe erschwert da alles. Denn sie macht die metrischen, sprachlichen und stilistischen Kriterien, die Tür die Bestimmung des Alters und der Heimat gebraucht zu werden pflegen, unsicher oder wertlos. Den meisten inneren Kriterien aber ist nicht viel zu trauen. Was von den Liedern gilt, die zu Gruppen gehören, gilt auch von den vielen, die für uns allein stehen. Sie können ebenso von verwandten älteren Liedern abhängen. D a bei ihnen aber die Mittel fehlen, das mögliche Gruppeneigentum zu erkennen, ist ihre Einordnung noch schwerer. Ich glaube, soweit solche Gruppen reichen, sind sie auch die angemessensten Fächer zur Einordnung der Eddalieder in die Literaturgeschichte. Dann können wir Alter und Heimat der einzelnen Lieder so unsicher lassen,

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wie sie sind, und können auch den schichtenreichsten Liedern gerecht werden, ohne sie zu zerreißen oder einer einzelnen Schicht einen übermäßigen Vorrang zu geben. de Vries hat sich der Lehre angeschlossen, die Heldenlieder ostgermanischer Herkunft seien zum Teil oder alle über Rußland in den Norden (und Westen) gekommen. Er glaubt sogar den Weg und die Zeit — etwa 475—500 — festlegen zu können (S. 48—52). Zu den gotischen Schöpfungen schlägt er nun auch die Wielandsage (S. 55—60). Er weiß, daß dies und jenes ans Licht gebracht ist, was zur Annahme deutscher oder dodi westgermanischer 1 Vorstufen oder Zwischenstufen für wohl alle diese Lieder zwingt. Aber er erkennt es nur bei der VçlundarkviSa an. So soll hier der Weg von Südrußland über Schweden nach Norddeutschland und dann zurück nach Norwegen und Island gegangen sein (S. 57). Meinetwegen, ich kann es nicht widerlegen. Die sprachlichen Kriterien, die Heusler (Eddica minora S. XIV) und Neckel (Beiträge zur Eddaforschung S. 263) für eine d e u t s c h e Vorstufe des Hunnenschlachtliedes angeführt haben, verwendet de Vries kurzerhand für die g o t i s c h e Vorstufe (S. 37f.). Ähnlich macht er es später mit den Kriterien für die deutsche Herkunft aller dieser Lieder, die ich PBBeitr. 57 erörtert habe (S. 60). Meinen eingehendsten Beitrag zu dieser Frage, den Aufsatz über Westgermanisches in der altnordischen Verskunst (PBBeitr. 63, 178—236 [I, 485—527]), den de Vries aus geringeren Anlässen öfter zitiert (S. 54, 105, 213 und 232), erwähnt er hier nicht. Er will nun einmal anders. de Vries braucht die Kriterien für außernordische Vorstufen der ältesten eddischen Heldenlieder nicht als Beweise, daß die Sagen im Liede gewandert sind, sondern nur als eine Bestätigung dafür, die gar nicht nötig war (S. 60 Anm. 7). Daß Sage Lied ist, ist ihm so selbstverständlich, daß er ohne Begründung und Literaturhinweise kurzhin festsetzt: Sagen können sich nur in Liedform verbreiten und erhalten (S.34). Auch der ganze Sagenstoff des Beowulfliedes, von dem Heusler es nicht behauptet hat (AfdA. 54, 105), dazu alle besseren Mythen und die Stammbäume der Ynglinger sollen in Versen gewesen sein (S. 50f., 55, 64—66 und 98f.). Die Lehre, daß auch die größeren Göttersagen im Lied entstanden sein müßten, stammt von Hermann Schneider (Über die ältesten Götterlieder der Nordgermanen, Sitzungsberichte der Bayer. Akademie 1936, Philos.-hist. Abt. 7). Sie ist dann von Wolf gang Mohr sehr bald gut widerlegt (Thor im Fluß. Zur Form der altnordischen mythologischen Uberlieferung, PBBeitr. 64, 209—229). de Vries aber bleibt bei ihr und sagt auch den Grund, warum Mythen und Stammbäume gereimt gewesen sein müssen: weil sie sonst vergessen wären (S. 64, 66 und 98). So hatte es Heusler nicht gemeint, als er den Satz aufstellte, daß Heldensage Heldenlied ist (Hoops Reallex. II 494). Er hat dabei auch nur die Heldensagen der klassischen Form im Auge gehabt. In der Zeitrechnung und den Zeitangaben sind de Vries allerlei Fehler untergelaufen, große und kleine. Die schriftlichen Quellen sollen im Norden

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am Ende des 9. Jahrhunderts angefangen haben (S. 6). Das ist neu. Den Stein von Rök setzt de Vries ins 10. Jahrhundert statt ins 9. (123). Vor dem Ausgang des 9. Jahrhunderts sollen Berührungen mit der keltischen Märchenwelt nicht möglich gewesen sein (164). Sie waren schon im Anfang des Jahrhunderts möglich. Ein aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts stammendes Gedicht des Skalden Markus Skeggiason wird ins 11. Jahrhundert geschrieben (280). Auch falsche Jahreszahlen sind mir öfter aufgefallen. Die Schlacht von Stiklestad ist von 1030 auf 1037 verschoben (S. 34), die auf Stord von 960 oder 961 auf rund 990 (120), der Tod König Harald Grafelds von wahrscheinlich 971 auf etwa 961 (141). Diese kleinen Ungenauigkeiten werden aber aufgewogen. Denn de Vries | sagt uns genau, daß König Hrodgar von Dänemark, für den Beowulf die Meerungeheuer erlegte, von 468 bis 520 gelebt hat und daß die Schlacht zwischen Schweden und Gauten am Rabenwald im Jahre 505 geschlagen ist (S. 50). Auch was de Vries hier und da über die Metrik sagt (besonders S. 14f., 24—26, 42—44 und 69—72), ist voll von Ungenauigkeiten. S. 24f. wird die LióSahátt h a l b strophe als LióSaháttstrophe ausgegeben. S. 43 steht die Unrichtigkeit, die eddische Langzeile umfasse einen Satz. Kurz darauf wird HamSismál Str. 16 ohne Grund als Langzeile + Vollzeile behandelt, also als LióSahátthalbstrophe, und behauptet, dazu gäbe es ausgerechnet auf westgermanischem Boden reichlich Gegenstücke. Im nächsten Satz wird das Versmaß der Strophe aber FornyrSislag genannt (S. 43f.). Obwohl de Vries S. 43 sagt, daß die strophische Gliederung eine nordische Neuerung ist, erklärt er S. 69 die syntaktische Einheit der Halbstrophe im Dróttkvaett für ein Erbstück des altgermanischen Verses. Auf S. 69 sagt er auch, nach der einen Seite übertreibend, das Dróttkvsett unterschiede sich in fast jeder Hinsicht von den freieren eddischen Versmaßen, und dann nach der andern Seite hin, die Verteilung der Drucksilben sei im Dróttkvsett so frei wie im altgermanischen Vers. Dies zweite hebt er bald danach wieder auf durch den Hinweis, daß es im ersten Versmaß, im Gegensatz zum zweiten, keinen freien Versschluß gab (S. 70). Von dieser Art enthält das Buch noch manches, de Vries fährt fort, einen Teil des eddischen Langzeilenmaßes Málahátt zu nennen (S. 40, 42—44 und öfter), obwohl ich glaube, in dem ihm bekannten Aufsatz PBBeitr. 63, 178ff. [I, 485ff.] ausreichend klargelegt zu haben, daß diese Versformen mit dem skaldischen Versmaß, das allein unter dem Namen Málahátt bezeugt ist (Snorri, Háttatal 95), wenig zu tun haben (a. a. O. 220ff. [I, 515ff.]), und obwohl er selber zugibt, daß sie kein selbständiges Versmaß sind (S. 42). Er sagt nicht einmal, daß dieser falsche Málahátt, den andere wenigstens zur Unterscheidung den eddischen nennen, etwas ganz anderes ist als der skaldische, und nennt schließlich sogar auch diesen eddisch (S. 232). Mit der Kenntnis des Altnordischen sieht es bei de Vries trübe aus. Die Namen, Wörter und Textstellen, die er anführt, sind voller Fehler. Viel davon kann Druckfehler sein, vor allem in der Akzentsetzung — da allein

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habe ich ein Schock Fehler gezählt —, aber doch längst nicht alles. Offenkundige Druckfehler sind sogar selten. Hier und da versucht de Vries, Kenningen oder Namen, die in obliquen Kasus überliefert sind, in den Nominativ umzusetzen. Dabei sind ihm peinliche Fehler passiert: S. 121 sporSfiç5rn8r nòta spáperna (statt sporÔfiçSruS, die Form -fiçSruSr gibt es überhaupt nicht), 140 Hávars pegna regna (statt regri), 182 Yggs rniçS und Yggiar miçS (statt miçôr), 215 algilda iöia (statt algild, überliefert ist der Akk. sing, algilda iöiu), 283 Vçlsungakviêa inni joma (statt in forna, überliefert ist der Dativ VçlsungakviSu inni fornu). Ich kann mir dies, und auch anderes, nur erklären aus Unkenntnis und Oberflächlichkeit dazu. Auch wo de Vries übersetzt, macht er manche Fehler. Wo solche Lücken sind, kann vor allem keine Bewältigung der schwierigen Fragen der Skaldendichtung erwartet werden, de Vries ist mit ihnen | durchaus nicht fertig geworden. Schon äußerlich durch eine viel zu unkritische Abhängigkeit von Finnur Jonssons Ausgabe (Den norsk-islandske Skjaldedigtning, 1912—15). Er nimmt die Gedichte in der Zusammensetzung und Strophenfolge, wie es diesem gefallen hat sie zusammenzustellen, manchmal ohne Zeugnis in der Überlieferung, manchmal auch gegen sie. Dies zweite S. 140: die angebliche 2. Strophe in Glums Gedicht auf Eirik Blutaxt gehört nach der Überlieferung zur Gráfeldardrápa, 216 Anm. 2 : die angebliche 1. Strophe in HallfreSs Óláfsdrápa ist nach der Handschrift von HallarStein, und 259: die Schlußstrophe der Glymdrápa ist als erste Hälfte einer anderen Strophe überliefert. Das erste liegt vor S. 91 : Bragis Strophen von Gefiun und Thors Fischzug sind nicht als Teile seiner Ragnarsdrápa bezeugt, 181 und 224/225 Anm. 4 (gemeint ist Anm. 9): daß Einar Skálaglamms Halbstrophe Hugstóran biëk heyra . . . zu seiner Vellekla gehört, ist nicht überliefert, und 183: die Strophen HallfreSs, die zu seiner Hákonardrápa gehören sollen, sind nur unter seinem Namen bezeugt. In fast allen diesen Fällen fehlen ausreichende Gründe für die Zuordnung, die de Vries unbesehen hingenommen hat. Daß er die Überlieferungsverhältnisse zu wenig kennt, dafür spricht auch, daß er einmal von einem Fürstenpreislied hervorhebt, es sei trümmerhaft erhalten, weil die Strophen als Einlagen der Königssaga bewahrt sind (S. 187). Als wenn das bei diesen Gedichten nicht fast immer so wäre, de Vries zitiert die Skalden, ohne es zu sagen, nach Jonssons berüchtigtem berichtigten Text und operiert oft mit nicht überlieferten Wortlauten darin. So S. 132 munknarrar skut (Egill Hfl. 1), 189 Anm. 3 hanga vals (Tindr I 7), 193 Anm. 6 herkumbla briótr (Egill lv. 2), 179 Anm. 2 skiö skorSu (Biçrn Hítd. lv. 2), 262 Anm. 4 hrosta fen (Egill Snt. 19). Dies sind nur Fälle, die mir ungeprüft auffielen, de Vries nimmt auch den modernen Namen Hrafnsmál für Pôrbiçrn Hornklofis Gedicht als alt und echt hin (S. 232, im Widerspruch zu S. 101 und 103 Anm. 1), ebenso den Namen Darra8arli65 (236). Dazu kommen dann Übersetzungsfehler, weiter die primitive Art, Abhängigkeiten nachzuweisen, die Meinung, nur Hofdichter hätten skaldisch gedichtet (S. 282), und anderes mehr. Auch sein

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BESPRECHUNG VON JAN DE VRIES, LITERATURGESCHICHTE

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Verständnis für die skaldische Kunst reicht trotz mancher guter Bemerkungen nicht aus. Er ist nicht so weit gekommen, daß er das Menschliche hinter den starren Formen richtig heraushört und sich an dem großen klanglichen und bildlichen Eigenwert freut, den die Kenningteile haben können. Er sieht in der Kenning fast nur die Umschreibung und in ihren Teilen hauptsächlich die Zeugnisse für Mythus und Sage. Für die einzigartige Kunst HofgarSaRefs hat er keine Worte. Wenn er wüßte, wie es unter den Isländern heute zugeht, würde er ihren Vorfahren wohl auch nicht so schroff die Fähigkeit absprechen, in schweren Stunden und im Augenblick schwierige Strophen zu dichten und zu lernen (S. 188, 194 und 220). Das Lesen des besprochenen Bandes hat mir wenig Freude gemacht. Er ist ungenügend durchgearbeitet im großen und im kleinen, von der Gliederung und den Uberschriften und den grundlegenden Theorien bis zu den Jahreszahlen und Zitaten. Der Gedankenführung und der Formulierung fehlt es immer wieder an Eindeutigkeit und Sauberkeit. Einige Fälle sind I erwähnt. Sie können verzehnfacht werden. Auch von den Flüchtigkeiten, Widersprüchen und offenen Fehlern ist nur ein kleiner Teil genannt. Selbstverständlich fehlt es bei einem so tüchtigen Germanisten nicht an guten Gedanken und Erkenntnissen, aber viel davon ist schnell wieder vergessen. Die Benutzung der Literatur zum Fach erscheint mir an vielen Stellen oberflächlich, ihre Behandlung in Text und Anmerkungen oft willkürlich und irreführend (vgl. oben S. 60) und die Auswahl des in den Anmerkungen Genannten ziemlich planlos. Es fehlt auch viel im Buche, was zum Grundriß gehört, vor allem die Überblicke über die Überlieferungsverhältnisse und über die wichtigsten Ausgaben und Hilfsmittel. Was von alledem verstreut gebracht wird, ist ganz unzureichend und planlos. Wir erfahren nicht, was die Edda ist (vielleicht sagt es der II. Band). Wo die behandelten Lieder gedruckt stehen, wird längst nicht überall angegeben. Keine Ausgabe der Eddalieder scheint je genannt zu sein, de Vries will in höheren Sphären leben. So genügt der Band durchaus nicht den Ansprüchen, die an ein Werk in Pauls Grundriß gestellt werden müssen. Wer etwas nachzuschlagen hat, tut wohl besser, sich weiter an den Vorgänger Mogk zu halten — den de Vries nicht nennt —. Das Deutsch des Buches enthält wieder viele Fehler, besonders gegen das Ende hin. Unter ihnen sind einige, auf die ich schon in der Besprechung der Religionsgeschichte hingewiesen habe (AfdA. 56, 156f. [hier 203]): allenfalls statt jedenfalls, übrigens statt im übrigen, entlehnen an statt entlehnen von. Nicht einmal in diesen Fällen ist für den richtigen Ausdruck gesorgt.

Kuhn, Kleine Sdiriften II

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BESPRECHUNG von

HERMANN SCHNEIDER EINE UREDDA UNTERSUCHUNGEN UND TEXTE ZUR FRÜHGESCHICHTE DER EDDISCHEN GOTTERDICHTUNG (Halle 1948) [Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 64, 1950, S. 71—82 (geschrieben in Kífsá bei Akureyri, Island).] „Eine Uredda". Wer da weiß, wie H . Schneider über die Entstehung der Mythen denkt, darf über diesen Titel wohl erschrecken. Aber es ist nicht so schlimm, wie es klingt, und ich habe die Schrift mit Freude gelesen. Es ist ein echter H . Schneider, fein beobachtet und durchdacht, sehr gut geschrieben und tüchtig übers Ziel geschossen. Uredda soll nur heißen: die nächste ältere Stufe der eddischen Dichtung, und auch nur der Spruch- und Götterdichtung. Es ist ein neuer und wenig glücklicher Name für ein altes Thema, an dem schon viele ihre Kunst versucht und doch wenig erreicht haben. Schneider beschränkt sich auf einige wenige Lieder, Vpluspá, HyndlulióS, Hávamál, Grímnismál und VafJ)rúSnismál. Er schlägt viel davon gründlich in Stücke, beschert uns aber zum Ersatz ein neues Lied, an das noch niemand gedacht zu haben scheint. Zuerst muß die Vçluspà daran glauben. Schneider läßt nur ihren zweiten Teil, von Str. 28 angefangen, als echte und alte Weissagung und zugleich als rechtmäßigen Eigentümer des Ruhmes dieses Liedes gelten und weiß das eindrucksvoll zu begründen. Hier ist manches wertvolle Neue über das Wunderwerk der Vçluspa gesagt, das jedem, der es liest, zum Gewinn sein kann. Dem abgetrennten ersten Teil, der nicht Weissagung, sondern Rückblick ist, ist Schneider wenig gewogen, und er setzt alles daran, ihn als Fremdkörper von viel geringerer Kunst zu erweisen. Ihn soll ein Späterer, der nicht | das Zeug dazu hatte, hinzugefügt haben. Sein Kern sollen alte Merkstrophen sein. Dies Letzte: alte Merkstrophen sind der Kern ganzer Lieder oder großer Liederteile, ist der leitende Gedanke auch in der Erörterung der Hávamál, Grímnismál und Vaff>rúSnismál. Daß Schneider damit recht hat, liegt da weithin so gut wie offen. Es ist merkwürdig, wie wenig darauf geachtet war. Ich war dem schon lange nachgegangen, aber noch nicht so weit gekommen, wie es mir zur Veröffentlichung nötig schien, und freue mich nun, daß Schneider die Sache kräftig angefaßt und so gut begründet hat, daß es wohl

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überzeugen muß. Es kann aber von der Stil- und Versgeschichte her nodi vieles zur Ergänzung beigesteuert und auch manches zurechtgerückt -werden. Idi will davon das Wichtigste andeuten, so weit es mir gegenwärtig ist — meine Aufzeichnungen darüber fehlen mir hier —. Die Germanen haben in ihrer Dichtung zwei Hauptstilarten entwickelt, die sich wohl oft berührten und manchmal mischten, die im wesentlichen aber selbständig geblieben sind. Es ist der strophische und der stichische Stil. Der strophische ist der ältere von ihnen. Seine Einheiten waren klein und von sehr freiem Bau, jedoch mit einer starken Neigung zu markiertem Schluß. Wir finden seine Zeugnisse vor allem in Zauberformeln, Spruchweisheit und Merkversen. Diese Form war audi für manches andre geeignet, nur nicht für die Erzählung. Für die erzählende Dichtung, vor allem das Heldenlied, wurde der epische Stil geschaffen. Er erhielt die sich immer wiederholenden Langzeilen, die zwar in Strophen gegliedert werden konnten, aber doch nirgends einen Abschluß oder Einschnitt markierten. Zu dieser neuen Grundform kamen in dieser entwickelteren Kunst dann viel höhere Forderungen an den Bau der einzelnen Verse sowie ein ganz anderer Sprachstil, der besonders die Stellung der Satzteile und die Wortbetonung traf. Über dies Letzte glaube ich in PBBeitr. 57 [s. Bd. I, 18fï.] das Wichtigste gesagt zu haben. Im Norden hat die epische Dichtung zwar die Strophenform des älteren Stils übernommen, im übrigen ist ihre Stilform aber rein geblieben. In der skaldischen Dichtung wurden die Stile dagegen stärker vermischt. Die alte heimische Dichtung trug die Selbständigkeit und Geschlossenheit der Strophe bei. Sie ist in den rein skaldischen Maßen so groß, daß diese sich zu allen Zeiten der erzählenden Kunst widersetzt haben. Aber in der Strenge des Versbaus, dem Fehlen des metrisch markierten Halbstrophen- und Strophenschlusses und der Betonung und Wortstellung steht diese Kunst auf der Seite der stichischen Dichtung. Im Norden erhielt aber auch die alte strophische Kleindichtung strengere Formen, vor allem im eigentlichen Strophenbau und der Regelung der Kadenzen. Dies ist das, was w;ir den strengen LióSaháttr nennen. Er war und blieb für epische Dichtung ungeeignet. Wir kennen keinen Versuch, in ihm echte erzählende Lieder zu dichten. LióSaháttr heißt Versmaß der Iii53. Das aber sind kurze Einzelstrophen. | Im LióSaháttr sind aber trotzdem Lieder gedichtet, die dem epischen Liede nahe kommen. Das ist von der Wechselrede ausgegangen, in der jede Strophe noch ihre Selbständigkeit wahren konnte. Man ging jedoch weiter und ließ einzelne Sprecher mehrere Strophen in der Reihe sprechen, so daß die Einzelstrophe ihre Isoliertheit verlor. So sind die Skírnismál gebaut. Der weitere Schritt von hier zum größeren erzählenden Monolog scheint jedoch nicht getan zu sein. Alle erhaltenen erzählenden Monologlieder haben das epische Versmaß. Die größeren Monologe im LióSaháttr dagegen erzählen nicht, sondern reihen zusammen. 2*

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Diese Monologe sind anderer Herkunft. Sie sind im -wesentlichen aus selbständigen einzelnen Strophen zusammengesetzt, den alten Einheiten dieser Stilart, dazu auch kleinen lockeren Gruppen von solchen Strophen. Es ist der Entwicklungsgang, mit dem Schneider vor allem beim größten Teil der Hávamál und Grímnismál rechnet. Er hat da mit Sicherheit recht. Es gibt kein monologisches Lied im LióSaháttr, das, abgesehen von kurzen Verbindungsstücken und Rahmenteilen, dieser Herleitung irgendwelche Schwierigkeiten macht. Es gibt auch keine andern nicht dialogischen Lieder in diesem Versmaß, bei denen wir Grund haben, mit einer andern Entstehungsart zu rechnen. Es ist also nicht nur die Äußerlichkeit und Schwäche der Einheit, mit denen Schneider operiert, sondern ebensosehr Stilart und Versmaß, die da verlangen, die größten Teile der Hávamál und Grímnismál in einzelne Strophen oder kleine Strophengruppen aufzulösen. Es genügt nicht, die Hávamál, wie es üblich ist, in 8 oder 10 Teile zu spalten. Schneider hat auch die richtige Folgerung gezogen, daß wir nicht versuchen sollen, in diesen Liedern durch Umstellen und Streichen eine verlorene bessere Ordnung wiederzugewinnen. Wir können aber an vielen Stellen noch weiter kommen als bis zur einzelnen Strophe oder Strophengruppe. Im alten Sittengedicht der Hávamál sind viele Strophen auf Sprichwörtern aufgebaut, die zumeist wieder älter sein werden als die ganzen Strophen. Einige verraten sich dadurch, daß sie mehr Stabreim haben als dem Verse zukommt. So ist es Háv. 36, 37 42, 43 46

Hair er he ima hverr Vin sínum skal maör vint vera. Glík skulu giçld giçfum.

Verletzungen der Stabreimregeln sind im LióSaháttr audi sonst nicht selten. Die meisten legen die Erklärung nahe, daß da andere Prägungen und zwar meist primitivere Vers- oder Strophenformen zugrunde liegen. Dies führt auf etwas weiteres, auf das Schneider nicht geachtet hat: es ist nicht sicher und nicht einmal wahrscheinlich, daß die LióSaháttr-Strophen den im allgemeinen ziemlich regelmäßigen Bau, den sie in den Sammelliedern haben, schon vorher hatten. Die alte Kleindichtung ist darin wahrscheinlich freier gewesen. Die Priameln, die schlecht in den geregelten Wechsel von Lang- und Vollzeilen zu pressen sind, und die Stücke, die zum Zauber gehören und an denen man wohl weniger ändern | mochte, haben viel von solchem freieren Bau bewahrt. Auch in andern Gruppen wird es einmal ähnlich ausgesehen haben. Ich habe diesen Abstecher zur Verskunst nicht nur gemacht, um dem zunädist erörterten Ergebnis Schneiders eine festere Grundlage zu geben und zu zeigen, daß wir versuchen müssen, noch etwas weiter zurückzukommen, sondern audi deshalb, weil es nun leichter ist, zwei andre seiner Ergebnisse nachzuprüfen. Eins ist die Auflösung eines Teils der Voluspá, eines Lieds im epischen Versmaß, in Merkstrophen oder Merkstrophengruppen, das andre die Zusammenstellung eines erzählenden monologischen Lieds im LióSháttr

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aus Teilen der Hávamál. Hier sind die Rollen der beiden Stilarten vertauscht. Ähnlich wie der LióSaháttr nie in die editen Erzähllieder, so scheint das epische Langzeilenmaß nur selten in die echte Kleindichtung eingedrungen zu sein, und auch nur in die aufreihende Merkdichtung. In ihr hat es wohl immer Langzeilengruppen gegeben, die nie oder selten von Vollzeilen unterbrochen waren, so daß sie den Strophen des epischen Maßes ähnlich sahen. Diese Ähnlichkeit ist jedoch meist äußerlich geblieben, da der Versbau freier blieb und der sprachliche Stil diese Gebilde auf der Seite der alten strophischen Dichtung festzuhalten pflegt (so ist es zum Beispiel Háv. 81—87). Von Spuren dieses Sprachstils ist im ersten Teil der Vçluspà nur wenig da. Im wichtigsten Punkte, der Stellung zum Satzpartikel- und Satzspitzengesetz (PBBeitr. 57, 4f., 25—28, 40—47 [I, 20, 37—39, 49—54]), steht dieser Teil des Gedichts ebenso ausnahmslos auf der Seite der epischen Dichtung wie der zweite Teil. Jedoch enthalten Str. 5 und 18 die Negation né, die aus der andern Stilart kommt, zusammen mit deren durchgeführtem Gleichlauf (PBBeitr. 60, 431ff. [s. Bd. I, 124ff.]) und auch mit dem Verb des selbständigen Satzes an der dritten oder einer noch späteren Stelle: Vsp. 5 18

sòl pat né vissi stiçrnur pat né vissu máni pat né vissi Qnd pau né áttu όδ J)au né hçfSu.

Dies alles fehlt im zweiten Teil des Liedes ganz, während die genannte Verbstellung im ersten Teile 13mal vorkommt, außer den 5 Stellen in Str. 5 und 18 noch. ¿ n ¿ t t 0k n¡gjum n ç f n u m g¿f u 10 20 21 22 26

peir manlíkun mçrg um g0rSu . . . pier lçg lçgSu pier líf kuru . . . pó hun enn lifir HeiSi hana hétu, Pórr einn par vá . . . hann sialdan sitr.

Dies ist ein auffallender Unterschied zwischen den beiden Teilen der Vcjluspá, die Schneider zu trennen sucht, den er jedoch übersehen | hat, und auf den ich erst aufmerksam wurde, als ich mich nach weiteren Argumenten für oder gegen seine These umsah. Die Teile sind also auch im rein sprachlichen Stile deutlich unterschieden. Diese Spätstellung des Verbs in selbständigen Sätzen hat jedoch nichts mit der zu tun, die im alten strophischen Stile üblich war. Dort sind meist starkbetonte Satzteile vorweggenommen und Satzpartikel- und Satzspitzengesetz dabei nicht geachtet oder gewollt verletzt (PBBeitr. 57, 40—42 und 47 [I, 49f. und 54]), in der Vçluspà dagegen liegt echte alte Spät- oder Endstellung vor, die Verben sind vollbetont, stehn alle im Versschluß und die weitaus meisten audi im Satzschluß, Satzpartikel- und Satzspitzengesetz sind nirgends angetastet. Zusammen-

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hang dieses Teils der Vçluspà mit alter Merkdichtung wird jedoch durch né und den Gleichlauf in Str. 5 und 18 und auch wohl durch die bekannte Formel içrS né uppbiminn in Str. 3 gesichert. Hier müssen Merkstrophen verwertet sein, das ist richtig, aber doch nur verwertet und gründlich umgeformt und nicht, wie Schneider annimmt, unverändert oder nur wenig angepaßt übernommen. Schneider stellt am Schluß (S. 113—119) Merkstrophen zusammen, die er aus den aufgelösten Liedern und Liedteilen herausgenommen hat. Unter ihnen sind 10 Strophen aus dem ersten Teil der Vçluspa (3—8 und 17—20). Vsp. 4 steht da als Strophe von der Schöpfung neben den bekannten Strophen Vm. 21 und Grm. 40—41. D a läßt sich der Gegensatz im metrischen und sprachlichen Stil gut studieren. Zum Beispiel gibt es einen Strophen- und Satzanfang wie in Vm. 21 und Grm. 40: Ór Y mis holdi „Aus Ymirs Fleisch", mit einer Präposition vorm Nomen an der Spitze, in der Spruch- und Merkdichtung oft, in der epischen Dichtung dagegen nur ganz vereinzelt und in der Vçluspà nirgends. Aber auch der Inhalt der Strophen ist grundverschieden. Die Strophen aus VafJjrúSnismál und Grímnismál handeln nur von der Erschaffung von Teilen der Welt aus der zerstückelten Leiche des Urriesen Ymir, und die Schöpfer, die Götter, werden nur in Grm. 41 genannt. In der VoLuspá war Ymir zwar vorher genannt (Str. 3), aber die Schöpfungsstrophe nennt ihn mit keiner Andeutung. Sie stellt die Götter (Burs synir) an die Spitze. Sie haben die Länder emporgehoben und Midgard geschaffen, und dies überzieht sich dann unter den Strahlen der Sonne mit grünem Kraut. Die primitiven Vorstellungen der andern Quellen sind hier beiseite getan. Die Nennung Ymirs in Str. 3 genügt gerade, um zu zeigen, daß der Dichter sie gekannt haben wird. Ein freundliches, mit wenig Strichen eindrucksvoll ausgemaltes Bild ist an die Stelle gesetzt. Hier scheint mir doch derselbe Geist am Werk gewesen, der den Hauptanteil der Voluspá geschaffen hat. Schneider hat recht, daß die beiden Teile der Vpluspá, die er trennt, in vielem verschieden sind, und er hat einiges davon sehr gut herausgeholt. Daß es aber verschiedene Herkunft beweist, glaube ich nicht. Daß im ersten Teil manches an Merkdichtung angelehnt ist, im zweiten aber anscheinend nichts, kann zum Teil an den Quellen liegen. | Der Unterschied in der Verbstellung, auf den ich hinwies, scheint mir da wichtiger. Das ist ein Stilunterschied. Der erste Teil ist hier archaischer. Das Wichtigste ist aber doch das, was Schneider als Hauptgrund ins Feld führt: Der zweite Teil ist eine Vision von erschütternder Echtheit, und seine Seherin ist in Str. 28—29 so eingeführt, wie es sich für ein solches Gesicht gehört. Der erste Teil dagegen ist keine Weissagung und hat eine andere Seherin, so wie sie wohl durchschnittlich waren. Sie führt sich entsprechend ein und tut das selber. Das sind gewichtige Argumente. Das meiste davon scheint mir jedoch in der Ordnung zu sein. Die Atemlosigkeit der Zukunftsschau, die Erschütterung durch alles, das sich da enthüllt, die unerhörte Echtheit, mit der der Dichter den Trancezustand

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seiner Seherin miterlebt, das alles ist doch, wenn es echt ist, kaum möglich in dem Teil, der von Vergangenem handelt. In ihm genügte eine Alltagsvölva, denn .die Kunde von dem, was geschehen war, konnte sich wohl jeder erwerben, der Zugang zu anderen Wissensquellen hatte. Was gewesen war, konnte den Dichter auch nicht so sehr erregen. Da konnte er alten Prägungen näher bleiben und seine Sätze in einem Stile ordnen, der nicht mehr der Stil seiner Zeit war. Das mochte ihm in der Schilderung der Vergangenheit wohl auch richtig scheinen. Aber im zweiten Teil war es anders. Um in die ferne Zukunft zu sehn, dazu gehörte mehr, da war es schon gut, daß sich die Seherin die Hilfe Odins holte, und da kamen dann die Gesichte, die den Dichter überwältigten. Da mußte alles jenes, das nicht .ganz ihm selbst gehörte, zurücktreten. Vielleicht hat auch nur diese Seite seiner besonderen Begabung gelegen. Im übrigen übertreibt Schneider den Gegensatz. Wäre er so groß, wie er glaubt — „der Ausblick ist Schöpfung, der Rückblick ist Kompilation" (S. 25) —, dann würde er wohl längst erkannt sein. Grundtvig, Bugge, Olrik und Heusler, sie alle waren gewiß nicht so stumpf, daß sie ihn hätten übersehen können. „Aber wie sollte das schließlich anders sein?" fragt Schneider in einem ähnlichen Fall, in dem nidit recht zusammenstimmt, was eins sein soll (S. 76). Das sind die Teile eines Liedes, das er aus den Hávamál zusammengestellt hat und das er die alten Hávamál oder ÓSrerismál nennt (S. 60ff.). Es ist hauptsächlich das, was von den Hávamál übrigbleibt, wenn die Spruch- und Merkstrophen herausgenommen sind, die Stücke, die gemeinhin unter den Namen Odinsbeispiele und Rúnatal gehn, vermehrt um ein paar Einzelstrophen (Str. 12—14, 91, 95—111, 138—141, 80 und 164). Odin erzählt hier fast überall von sich selbst, und zwar von Weiberabenteuern und Odrerir, dem Dichtertrank, und meist von beidem. Das ist das Gemeinsame. Aber die Strophen vom genasführten Verführer (95—102) mit denen vom Selbstopfer (138—141) zusammenzustecken, will mir nicht in den Sinn. Da ist nichts gemeinsam als das Subjekt. Alles andre ist grundverschieden. Es kommt hinzu, daß Odin in Str. 107 Odrerir gewinnt, nachher in Str. 140 dann aber als letzte Steigerung nach dem Selbstopfer einen | Trunk daraus erhält, ihn jedoch nicht selber nimmt. Er hatte ihn damals noch nicht angerührt, sagt Schneider. Wer glaubt das wohl? Obendrein hatte ihm schon vorher Gunnlöd einen Trunk davon gegeben (Str. 105). Es ist offenkundig, daß Str. 140 eine andre Geschichte dieses Kessels Met voraussetzt als 104—108. Schneider sieht audi im Gebrauch des Decknamens Hávi für Odin ein Bindeglied der Teile (S. 75). Hávi steht jedoch nur in Strophen, die Odin in der 3. Person nennen (109, 111 und 164). Die sollen nun seinen Monolog zusammenhalten helfen. Die neuen alten Hávamál beginnen mit Str. 12—14. Diese Strophen werden von keiner Handlung zusammengehalten. Str. 12 ist reine Spruchstrophe. In 13 spricht Odin und erwähnt sein Abenteuer bei Gunnlöd. Auch in 14 spricht jemand von einem Abenteuer, aber wer, bleibt dunkel. Die

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zweite Hälfte der Strophe .ist echte Trinkerweisheit: „Darum ist Trinken das Beste, daß jeder seinen Verstand wiederholt". Trink dich vom Verstand, dann kriegst du ihn wieder. Dann folgt, nach einer als Uberleitung mitgenommenen Spruchstrophe, das Stück Háv. 96—111, Odins Abenteuer mit Billings Mädchen und die Gewinnung des Dichtermets. Das erste dieser Stücke, Str. 96—102 oder 103, ist derart mit den vorausgehenden Spruchstrophen verflochten und mit lehrhaften Sätzen gemischt, daß es gut für diesen Platz gedichtet sein kann, als ein Odinsbeispiel, wie man es seit langem nennt. Es ist schwankhaft und hat kein Gewicht, ein reines Liebesabenteuer, bloß mißglückt. Es hat wenig mit den folgenden Strophen gemeinsam. Die Geschichte mit Gunnlöd, die Odin da erwähnt, ist kein Liebesabenteuer. Da geht es um anderes, Ernstes. Da wagt Odin um des Wundertranks willen sein Leben, und die Verführung des Mädchens dient nur diesem Zwecke. Dies Stück ist schwerlich für den Zusammenhang gedichtet, in dem es nun steht, als Beispiel dafür, wie man mit Frauen umspringt. Diese Strophen beginnen mit den Worten: „Den alten Riesen hab ich besucht, nun bin ich wieder da" (104). Dies schließt es aus, daß sie für einen größeren Zusammenhang gedichtet sind, und vor allem, daß ihnen nodi etwas gefolgt ist. Schneider läßt ihnen trotzdem noch Str. 138—141 folgen, die Geschichte von Odins Selbstopfer. Es ist ein fest geschlossenes Stück von einem Gewicht, über das ich kein Wort zu verlieren brauche, ohne Zusammenhang mit dem vorausgehenden Stück außerdem nicht nur wegen des eben genannten „nun bin ich wieder da", sondern auch der vorher erwähnten anderen Stellung, die Odrerir da hat. Es sind also zwei selbständige erzählende Monologe Odins da, von der Gewinnung Odrerirs und vom Selbstopfer und der Gewinnung der Weisheit, beide im LióSaháttr, dem Versmaß, das sonst solcher erzählenden Dichtung verschlossen war. Beide sind jedoch sehr kurze Stücke, das zweite 4 Strophen, das erste 5 (104—108). Denn die Strophen 109—110, die dann noch folgen, sprechen von Odin in der 3. Person, erzählen nur ein überflüssiges Nachspiel nach seiner Heimkehr und werden ein späterer | Zusatz sein, zumal auch das „nun bin ich wieder da" am Anfang des Stücks es unwahrscheinlich macht, daß noch etwas erzählt war, das nach Odins Rückkehr geschah. Odin war der Gott der Dichtung, der nur in Versen sprach, dem man aber, weil er auch der Gott der Weisheit und des Zaubers war, vielleicht nur den LióSaháttr, das Versmaß der Wissens- und Zauberdichtung, in den Mund legen mochte. So ist es wohl zu verstehen, daß die allgemeine Regel über den Gebrauch dieses Maßes in diesen kleinen Strophengruppen verletzt ist, in denen der Gott erzählt, wie er Dichtertrunk und Weisheit gewann. Man ließ ihn auch, als man ihm die großen Sammlungen von Spruch- und Merkstrophen in den Mund legte und dabei Übergangs- und Rahmenstrophen hinzutat, einzelnes ganz andres zum Besten geben. Daß dies aber auf lange Ereignisreihen ausgedehnt ist, wie Schneider glaubt, dafür ist kein Zeugnis da und auch keine Wahrscheinlichkeit.

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Schneider erörtert noch drei weitere Lieder, die leicht zu zerlegen sind, HyndlulióS, Grímnismál und Vaf^ráSnismál. Aus den HyndlulióS schält er die Kurze Vçluspà heraus. Das ist nicht neu. Aber unter dem, was er da über das Verhältnis dieses Fragments zur großen Vpluspá sagt, ist manches gut beobachtetes Neue, obwohl alles am Ende nur geschrieben scheint, um eine Bestätigung dafür zu erhalten, daß seine Teilung der großen Voluspá richtig ist. Was Schneider sucht, ist zunächst der Nachweis, daß das kurze Lied dem Hauptteil des zerteilten langen Liedes nachgebildet ist, nicht dem ganzen, so wie es überliefert ist. Er bringt gute Argumente dafür, daß da mit einer starken Anlehnung in Stoff und Stil eine betonte Ablehnung dessen verbunden ist, was die große Vçluspà von der erneuerten Welt erzählt. „Wenige sehen jetzt über das hinaus, wie Odin dem Wolf begegnen wird", heißt es in Hdl. 44. Darüber aber hatte das andre Lied manches ausgesagt. Schneider betont auch sehr, daß die Bilder, die die beiden Lieder vom Ende geben, grundverschieden sind. Im großen der Untergang im Feuer, der aus dem Süden gekommen ist, im kurzen der echt nordische in Eis und Meer. Viel Wert legt Schneider weiter darauf, daß es in der Kurzen Vçluspà Heimdall und nicht Balder sei, der nach dem Untergang wiederkommt. Nun heißt es da aber doch, daß wir nicht wissen, was nach Odins Tode kommt. Hier stimmt etwas nicht. Der Gott, der da kommen wird, heißt nicht Heimdali und ist es auch nicht. In den früheren Strophen (Hdl. 35—38) ist ein Gott in den Vordergrund gerückt, der neun Mütter hatte wie nach anderen Quellen Heimdall. Aber er wird nicht mit Namen genannt und ebenso nicht die beiden Götter, die nach dem Untergang kommen sollen (Str. 43f.). Die Schilderung des ersten dieser beiden hat zwar ein paar Ausdrücke mit der des Sohnes der neun Mütter gemeinsam, enthält aber nichts, das ihn als Heimdall verrät. Es kommt hinzu, daß diese drei Gestalten nicht nur alle ohne Namen sind, sondern auch nicht einmal Götter genannt werden. Der erste heißt naddggfugr ma8r „speeredler Mann" (Str. 35), der zweite stillir „Fürst", der dritte nichts. | Der Dichter begnügt sich hier mit bloßen Attributen (ein zweiter, noch mächtiger), wie es ganz ähnlich in Str. 65 der großen Vçluspà geschieht (der Mächtige, stark, der über alles herrscht). Dies alles kann kein Zufall sein. Ich sehe nur die eine Erklärung, daß die Dichter diese Gottheiten nicht nennen konnten oder wollten und sie auch weder als heidnisch noch christlich kennzeichnen wollten. Denn dann war es nicht möglich, sie Götter zu nennen. Es fehlte ein neutrales Wort dafür. Ass war der Heidengott, tyr „Gott" war tot, gu5 goS als Maskulin der christliche Gott, als Neutrum dagegen im Singular eine Göttin (çndurgoS „Sdmeesdiuhgöttin" = Skadi, skinanda go5 „schimmernde Göttin" die Sonne). Wir sind hier auf dem Boden des heidnisch-christlichen Synkretismus. Das hat Schneider wohl erkannt, aber er ist sich seiner Eigenart und Bedeutung doch nicht recht bewußt geworden. Dieser Synkretismus ist ein merkwürdiges Gebilde. Obwohl ich ihm schon seit langem näher zu kommen versuche (vgl. ZfdA 79, 159—165 [hier 319—324]), ist er mir im Grunde

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immer noch ein Rätsel. Er hat Jahrhunderte lang bestanden, mindestens von der Bekehrungszeit bis ins 13. Jahrhundert. Seine wichtigsten Zeugnisse sind die Schlußteile der beiden Vçluspà und zwei Stellen in Snorri Sturlusons Gylfaginning, seine Hauptform .die Entwicklung von Göttergestalten, die nicht nur Heidnisches und Christliches mischen, und zwar so, daß einzelne fast rein heidnisch, andre aber fast rein christlich wirken, sondern die auch weder der einen noch der andern Seite zuerkannt werden und in der älteren Zeit auch mit keinem Namen verknüpft erscheinen. Die große Voluspá nennt einen solchen Gott nur in der Halbstrophe 65, die in der älteren Handschrift fehlt, aber doch sehr alt ist. Es ist der namenlose Mächtige, der zum Gericht herabkommt. Was da gesagt wird, ist vielleicht wenig mehr als der Gedankenflug eines ungewöhnlichen Dichters und editen Propheten. Mit der Kurzen Vçluspà steht es anders. Ihr Dichter war kein großer Geist, und was er bringt, hat er schwerlich erfunden. Den letzten seiner drei Ungenannten hat er wahrscheinlich aus der andern Voluspá übernommen. Es bleiben dann noch die beiden, die Schneider mit Heimdali gleichsetzt und über die oben schon das Nötigste erwähnt ist. Snorri Sturluson beteuert da, wo er Odin einführt (SnE. I 46), daß er der Herrscher Himmels und der Erden ist, und nennt ihn trotzdem nicht Gott, sondern Mann, ebenso wie der Dichter der Kurzen Vçluspà den Sohn der neun Mütter. Snorri war, wenn er diesen Odin weder ganz dem alten Odin gleichsetzen noch auch als Gott des neuen Glaubens kennzeichnen wollte, in derselben Klemme wie die Dichter in der Bekehrungszeit. Er ging zwar etwas weiter und nannte einzelne heidnische Götter gu5 go5, aber doch nur da, wo er sich zu keinem Genus des Worts zu bekennen brauchte. Doch macht er eine Ausnahme. Er braucht guS eindeutig -als Maskulinum da, wo er seinen Allvater einführt (I 36/38), aber dodi nur im Munde des unwissenden Gylfi und da vielleicht mit besonderer Absicht. Dieser Allvater ist ein wunderliches Geschöpf des Synkretismus. Er wird zunächst von Odin ferngehalten, ist aber mit I zwölf Namen dieses Gottes ausgestattet, von denen jedoch nur drei in sicher heidnischer Dichtung bezeugt sind (Fiçlnir, Iálkr und ViSurr). Sein Hauptname, AlfçSr, ist der christlichste aller Namen Odins, und er wird auch mit allen höchsten Attributen des christlichen Gotts beschrieben. So hat auch Snorri mehrere Götter gekannt, deren Bild aus heidnischen und christlichen Teilen gemischt war, ebenso wie lange vor ihm der Dichter der Kurzen Vçluspâ. Aber sie hatten in der Zwischenzeit Namen heidnischer Götter angenommen und waren weithin mit ihnen verschmolzen, so daß es schwierig geworden war, sie getrennt zu halten. Viele Menschen werden keinen Unterschied mehr gewußt haben. Snorri versuchte der Verquickung zu entgehen, aber es ist ihm nur im Anfang gelungen. Er brauchte dazu ein Mittel, das schon der Dichter jenes Liedes hatte brauchen müssen: er vermied die heidnischen Götterbezeichnungen und brauchte lieber das hier befremdende „Mann". Diese Übereinstimmung zwischen Kurzer Vçluspâ und Gylfaginning scheint mir zu sichern, daß wir die Namenlosen des Liedes

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SCHNEIDER

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nicht mit Heimdall gleichsetzen dürfen. Nach Odins Tod, über den niemand hinaussah, konnte wohl das Kommen neuer Götter erwartet werden, aber nicht die Rückkehr eines der altbekannten. Es wäre viel wert zu wissen, wo und wann die K u r z e Vçluspa mit ihrem doppelten oder dreifachen Synkretismus gedichtet ist. Aber beides ist schwer zu fassen. Ist das Lied der großen Vçluspa nachgebildet und ihr entgegengesetzt, dann ist es wahrscheinlich, daß wenig Zeit und auch wenig R a u m dazwischen liegt. Aber auch über Alter und Heimat des größeren Liedes wissen wir nicht viel. Sein Zusammenhang mit dem Glaubens Wechsel ist klar, aber das läßt einen weiten Spielraum. O b der Dichter getauft war oder nicht, ist nicht zu entscheiden. In den Ländern, die als Heimat in Frage kommen, hat es Christen seit dem 9. und Heiden bis mindestens tief ins 11. Jahrhundert gegeben. Schneider macht es sich mit allen Altersfragen merkwürdig leicht. Er nimmt als sicher hin, daß alles, was er erörtert, in Island gedichtet ist, und glaubt noch felsenfest an die wundertuende K r a f t der T a u f e im Sommer 1000. So operiert er wieder mit dieser bequemen Jahreszahl (S. 3 und 96). Trotz dieser Einfachheit wirkt sein Zeitbild in manchem Einzelnen unklar. Sein Ziel ist nach dem Vorwort die letzte greifbare Vorstufe der überlieferten Götterlieder, zugleich aber ihr Aussehn im Jahre 1000. Er setzt dies beides also wohl gleich und glaubt, nach 1000 sei an diese Lieder höchstens noch einmal die H a n d gelegt. Einzelne Stellen stimmen allerdings nicht recht dazu — zum Beisp. erschließt Schneider für die Grímnismál zwei ältere Stufen — und das J a h r 1000 wird in diesem Zusammenhang nicht wieder genannt. A m Schluß (S. 102ff.) hat Schneider die Lieder abgedruckt, die er hergestellt hat, und hat da einige andere, die er für unverfälscht hält, mit bloßer Namensnennung und Verweisung auf Neckeis Ausgabe eingefügt und mitgezählt (Lokasenna und Skirnisfor), die übrigen Lieder aber ganz über- | gangen. D a dies nun Lieder sind, die vielfach der christlichen Zeit zugeschrieben werden — es sind HárbarSslióS, HymiskviSa, PrymskviSa, Alvissmál und Baldrsdraumar —, so hat Schneider wohl nur die Lieder ausgewählt, die er der Zeit vor 1000, dem im Vorwort genannten Termine, zuerkennt. Dem widerspricht jedoch, daß Schneider die nicht genannten Baldrsdraumar nach S. 19 und 40 für älter hält als seine älteste und mitgedrucktc Vçluspâ. Schneider hat auch die Weisheitssprüche nicht abgedruckt, jedoch nicht, weil sie zu jung wären (S. 102). Er hält aber doch wenigstens einen Teil davon f ü r Geschöpfe der christlichen Zeit. Er sagt, die isländische Gnomik sei Jahrhunderte hindurch eine einhellige wesensgetreue Gattung geblieben (S. 78). D a s führt notwendig über das J a h r 1000 hinüber und ist auch so gemeint. Schneider will hier erklären, warum das alte Spruchgedicht der H á v a m á l sehr geschlossen wirkt, obwohl es erst im 13. Jahrhundert ziemlich planlos aus umlaufenden Einzelstrophen und kleinen Strophengruppen zusammengestellt sei. Denn erst die Männer, die damals die alte Dichtung

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sammelten, sollen das Kleingut, das sie aufnehmen wollten, in Lieder zusammengefaßt haben, weil sie Einzelstrophen nicht für literaturfähig hielten. Dies letzte kann richtig sein, beweist aber natürlich nicht, daß früher niemand aus andern Gründen Ähnliches getan hat. Nun ist es so, daß der Anfangsteil der Hávamál, den wir das alte Sittengedicht zu nennen pflegen, nichts enthält, das christlichen Einfluß vermuten läßt, während die_ anderen Spruchsammlungen, Háv. 112—137 und Sd. 22—37, ihn in steigendem Maße erkennen lassen. Sie bezeugen damit, wie es natürlich ist, daß die Spruchdichtung sich keineswegs bis ins 13. Jahrhundert gleich geblieben ist. Die erste große Sammlung in den Hávamál muß deshalb doch wohl älter und ziemlich intakt geblieben sein. Die wunderbare Einheit ihrer in der Handschrift auseinander gerissenen Schlußstrophen (68—72 und 76f.), die Schneider allerdings nicht zu verstehen scheint (S. 59f.), als Zufallsprodukt der Sammeltätigkeit im 13. Jahrhundert zu erklären, geht denn doch wohl zu weit. Hinter Schneiders großem Sprung vom Jahre 1000 bis ins 13. Jahrhundert steht offenbar die beliebte Lehre, daß während des 11. Jahrhunderts und weit ins 12. hinein alle heidnischen Uberlieferungen in tiefem Schlaf gelegen hätten und da keine Götterlieder gedichtet sein könnten. Später hätte man dann viel nicht mehr verstanden, und Snorri hätte alles zum Gotterbarmen vermengt, verdreht, verdeutet und verfälscht. N u n hören wir, daß um dieselbe Zeit andere die Vpluspá verschandelt, den alten Monolog Odins in Stücke gerissen und um all das Einzelzeug an Strophen, das es gab, notdürftige Rahmen gezimmert haben. Den ungerechten Vorwürfen gegen Snorri, die auf diesem Boden gewachsen sind, bin ich DLZ. 1933, 879—884 [hier 191—194], in der Kritik an einer Abhandlung Eugen Mogks entgegengetreten. Mogk hat darauf geschwiegen, andere aber fahren damit fort. Den Kern dieser Lehren glaube ich dann | ZfdA. 79, 133—166 [hier 296—362] ad absurdum geführt zu haben, aber Schneider baut trotzdem unbefangen auf diesem morschen Boden weiter. Schneider belastet seine Arbeit noch mit einer andern bedenklidien These, die von der Heldensage kommt. Sie lautet mit seinen Worten, „daß die dichterische Strophe die Heimstätte der religiösen Vorstellung, die Keimstätte des religiösen Glaubens war." Dies ist erst ganz am Ende ausgesprochen (S. 99), erklärt dann aber viel, angefangen bei Kleinigkeiten wie dem Befremden darüber, daß Göttersitze genannt sind, deren Namen nicht mit denen ihrer Besitzer staben (S. 80), und bis hin zur ganzen Untersuchung. Denn Schneider kam mit seiner These schlecht durch, wenn er zum Götterlied nicht die selbständigen Einzelstrophen hinzugewann, die all das aufnehmen können, das er im Zusammenhang eines Liedes nicht glaubte unterbringen zu können. Seine These hat hier zwar ein Gutes gebracht, die Erkenntnis, daß es einst große Mengen selbständiger Merk- und Spruchstrophen gegeben hat und daß sie den Kern einiger der wichtigsten Eddalieder bilden, aber sie selbst wird dadurch nicht richtiger.

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BESPRECHUNG VON HERMANN SCHNEIDER

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Wir sind nun so herrlich weit, daß in Arbeiten und Urteilen über die germanische Religion etwa die folgenden Schlüsse gegeneinander stehn: diese Göttersitze, die mit ihrem Gotte staben — wie PrúSheimr : Pórr —, haben mit der Religion nichts zu tun, denn sie sind von Dichtern gemacht, und auf der andern Seite: diese Göttersitze, die n i c h t mit ihren Göttern staben — wie Âlfheimr : Freyr —, haben mit der Religion nichts zu tun, denn sie sind n i c h t von Dichtern gemacht. In beiden Schlüssen steckt etwas Wahrheit, aber so allgemein, wie solche Sätze verfochten zu werden pflegen, sind sie beide ungereimt. Schneider macht alles erstaunlich einfach und arm. Dichter haben die Religion gegründet und weitergebildet, beides in kurzen Strophen, bis sie dann, von einem ausgerechneten Termine an (S. 98) und angeregt vom Heldenlied, daran gingen, in Liedern längere Mythen auszuformen. Damals gab es nodi kein germanisches Island. Bald aber ist alles mit einem Male auf dieser Insel. Im Sommer 1000 wurde Island christlich, und die heidnische Dichtung wurde weggeschlossen. Nach 200 Jahren wurde sie wieder frei gegeben, und da fielen die Menschen darüber her, trennten, was eins war, und vereinten, was nicht zusammen gehörte. Aber sie machten es so schlecht, daß wir alles wieder in die alte Ordnung bringen können, in der es 1000 ins Schließfach gekommen war. Die eigentliche Spruchdichtung war zwar immer in Freiheit geblieben, aber sie war lange kugelfest und blieb bis um 1200 vor Schaden bewahrt.

DIE ALTE NORDISCHE DICHTUNG [Europa, Vermächtnis und Verpflichtung, Frankfurt/M., 1957, S. 236—240]

Die alte nordische Dichtung braucht, wie alle uns bekannte germanische Dichtung in der ältesten Zeit, als Reimschmuck nicht den Endreim — den hat die Kirche gebracht —, sondern den Stabreim, den gleichen Anlaut der stärkstbetonten Wörter im Vers oder Verspaar. Dieser setzt, um hörbar und wirksam zu sein, voraus, daß die meisten und wichtigsten Wörter den stärksten Ton auf der ersten Silbe haben, so wie es bei uns gemeinhin noch heute ist. Diese Betonung war beim Eintritt der Germanen in die Geschichte noch jung, und so muß die Stabreimkunst es da auch gewesen sein, wohl ein neuer Anfang nach dem Untergang älterer Formen. Tatsächlich lassen die ersten Nachrichten über sie sowie andre Indizien auf eine noch sehr unentwickelte Dichtkunst schließen. Erst die Völkerwanderungszeit, diese Jahrhunderte des größten Aufstiegs der ¡germanischen Nation, mit hundertfachen Impulsen aus fremden und meist überlegenen Kulturen, haben eine höhere Dichtung hervorgebracht, ja eine wirklich hohe, das klassische germanische Heldenlied. Geschaffen wird es von den Goten sein, um 400, fern im Südosten unseres Erdteils. Es muß dann in den nächsten Jahrhunderten die meisten Länder Europas durchzogen haben. Wie weit auch schon den Norden, ist unklar. Und doch scheint diese Heldendichtung eine der ersten Grundlagen gewesen zu sein, auf denen sich später die Dichtkunst im äußersten Nordwesten Germaniens hoch über die seines Südens erhoben hat. Schon sehr früh, in Runeninschriften der Völkerwanderungszeit, sind nordische Verse aufgezeichnet, wohl 300 Jahre früher als die ersten erhaltenen deutschen und englischen. Sie zeigen, daß man da dichtete und den Stabreim brauchte und daß die Dichtung in Ansehen stand, mehr jedoch noch nicht. Davon, daß der Norden, eh er christlich wurde, eine bedeutende und vielseitige Dichtung geschaffen hat, erfahren wir erst aus isländischen Werken, die zumeist im 13. Jahrhundert geschrieben sind. Der Aufstieg hat kaum vor dem 9. Jahrhundert eingesetzt und dauerte bis ins 11. fort. Es hatte sich für ihn ein selten günstiger Boden .gebildet. Der Norden, in den Jahrhunderten nach der Völkerwanderung fast ganz auf sich gestellt und zu einem starken eigenen Kreise innerhalb Germaniens ausgeformt, stieß in Karls d. Gr. Tagen die Tore nach allen Seiten wieder auf und machte sich in der da beginnenden Periode der Wikingfahrten von der gründlich veränderten Kultur des Südens und Westens alles zu eigen, was ihm nützte und gefiel,

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hat sich aber von ihm nicht überrennen lassen. Es glückte dem Christentum zwar, sich durchzusetzen — dies begann im 10. Jahrhundert —, doch war es zu weit von seinen Wurzeln und den Zentren seiner Macht entfernt, und der Norden war auch geistig schon zu reif, als daß es das Eigene da schnell hätte zu knicken oder ersticken vermocht. So trug die wenig duldsame neue Religion im Norden eine Weile dazu bei, die heidnische Kultur zu fördern, und gerade in diesen Zeitraum, um die erste Jahrtausendwende, fällt die höchste Blüte auch der alten nordischen Dichtung. Mit dieser glücklichen allgemeinen Lage traf eine zweite, kaum weniger wichtige Gunst zusammen. Die Sprache der nordischen Völker hatte sich, nach einer stürmischen, tiefgreifenden Umbildung etwa vom 6. bis 8. Jahrhundert, neu gefestigt. Ihre Weiterbildung geschah ruhig und auch noch lange fast einheitlich. So konnte eine Literatursprache entstehn, die keinen Teil des Nordens ausschloß und auch lange keine ernsten Störungen erlitt, welche die Kontinuität zerreißen oder doch gefährden mußten. Die Isländer bauen auch heute noch auf dieser tausendjährigen Grundlage fort. In mancher Hinsicht ähnlich gute Bedingungen hat während .der Völkerwanderung die Heldendichtung gehabt. Auch der gesellschaftliche Boden war in der Wikingzeit im ganzen Norden gut und blieb es vor allem in Island noch lange danach: relativ geringe Stufung von den Fürstenhöfen über Adel und Häuptlingsgeschlechter zur breiten Grundschicht der freien Bauern, mit Wohlstand und Teilnahme am öffentlichen Leben und an den Fahrten in die damals offenstehende Welt auch bei den letzten und mit gleichartiger, noch wenig differenzierter Bildung. Die Isländer, in -deren Hände die Dichtung allmählich überging, waren und blieben im Kern ein Bauernvolk. Ohne dies begabte, geistig rege Bauerntum | wäre die Dichtkunst dort oben schnell verdorrt. Das dürfen wir nicht übersehn. Es kam jedoch wohl noch ein vierter glücklicher Umstand hinzu. Die vorzüglich durchgebildete Verskunst, deren Verbreiter vor allem das Heldenlied gewesen sein wird, hat einen Teil des Nordens wahrscheinlich erst erreicht, als die große Umwandlung der Sprache, die wenigstens die feineren Versbauregeln schwerlich überstanden hätten, so weit fortgeschritten war, daß die Verskunst keinen Rückschlag litt, der sie zu mühsamem neuen Aufbau zwang. Wir unterscheiden im alten Norden eddische und skaldische Dichtung. Die erste, die vor allem in der Sammlung überliefert ist, die man Edda nennt, ist volkstümlich einfach, der alten deutschen und englischen nah verwandt, ziemlich leicht zu übersetzen, mit Stoffen aus Mythus und alten Sagen und aus bäuerlicher Lebensklugheit, immer anonym. Die zweite, die Dichtung der Skalden, ist kunstvoll bis zum Gekünstelten, mit einer hochgetriebenen, verwickelten und formenreichen Verskunst und ähnlichem Stil, von der gemeinsamen Grundlage weit entfernt und kaum in anderen Sprachen nachbildbar, mit Stoffen zumeist aus der Gegenwart oder doch in deren Dienst (besonders Gelegenheits- und höfische Preisdichtung), mit Anerkennung der Eigenleistung des Dichters und deshalb grundsätzlich nicht

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anonym. Die Grenze zwischen diesen Gruppen ist meistens scharf, doch fehlen Überschreitungen nicht ganz, besonders in der späteren Zeit. Aufgezeichnet ist die gesamte Dichtung, von einzelnen Runenversen und unbedeutenden Vorläufern abgesehn, erst seit dem Ende des 12. Jahrhunderts, das weitaus meiste zwischen etwa 1200 und 1270. Daß vieles weit älter ist, war den Schreibern bekannt und ist auch offenkundig. Für die anonyme, nicht zeitgebundene eddische Hälfte ist es jedoch schwer, zu einer Altersstufung und damit zu einer Geschichte zu kommen. Unter dem wenigen, das da sicher und allgemein anerkannt ist, ist das erste, daß kaum ein Stück, so wie es vorliegt, vor etwa 800, dem Anfang der Wikingzeit, entstanden sein kann. Das zweite ist, daß zum ältesten Bestände vier (oder fünf) Heldenlieder gehören müssen, deren Stoffe aus dem Süden Germaniens, von Goten, Burgundern und deutschen Stämmen, herübergekommen sind. Es sind Lieder von Ermanrich, von einem Krieg zwischen Goten und Hunnen, vom Untergang der Burgunden, von Wieland dem Schmied und vielleicht auch von Sigfrids Tod. Gute Argumente weisen sie dem 9. Jahrhundert zu. Doch sind sie nicht dort oben nach eingewanderten Sagen gedichtet, sondern aus deutschen Liedern, die zum Teil wieder von gotischen oder burgundischen stammen, übersetzt, mit großer Schonung ihres fremden Versbaus, Stils und Kolorits. Sie waren deshalb, als ihr ungeschriebenes Dasein ein Ende nahm, nicht 300 oder 400 Jahre alt, sondern wesentlich älter, das Lied vom Hunnenkrieg, das erst im 14. Jahrhundert aufs Pergament geriet, vielleicht sogar an 1000 Jahre. Die Lieder tragen deutliche Spuren ihrer langen und weiten Wanderung, keines ist ganz und aus einem Guß geblieben. Trotzdem sind sie kostbare Zeugnisse einer sonst fast ganz verschollenen bedeutenden Kunst und mit ihrem Ethos, das das Heldentum nicht im Dreinhaun und Stärkersein, sondern in Selbstüberwindung und Opfer sieht, zugleich die Zeugen einer längst vergangenen großen Zeit. Wir haben in Deutschland nur ein einziges altes Denkmal dieser Kunst, das Lied von Hildebrand, das Bruchstück ist. So haben diese Lieder der Edda für uns einen zweifachen Wert. Diese Heldenlieder sind mit keiner Schablone geformt. Jedes hat sein eigenes Gesicht, auch in Sprache und Stil. In den vielen jüngeren Stücken der eddischen Heldendichtung ist es nicht anders, ebenso in den übrigen Teilen der Edda. Was in ihr noch zur Heldensage zählt, hat mehr und mehr vom alten Ethos verloren. Doch sind nodi manche guten Lieder darunter. Hier und da, vor allem in einer Gruppe stark elegischer Lieder, sind jüngere südliche Einflüsse greifbar, an denen wieder verlorene deutsche Dichtung beteiligt ist. Erst in diesen späteren Schichten gesellen sich zu den fremden Sagenstoffen auch heimisch-nordische. Ihre Lieder sind sehr in der Minderzahl, und keins von ihnen zeugt für eine so lange Vorgeschichte, wie es die besten Stücke der anderen Gruppe tun, ja nötigt uns auch nur, vor etwa 1000 n. Chr. zurückzugehn. Es sind auch unter ihnen wertvolle Lieder, so besonders das zweite von Helgi Hundingsbani, in dem das Motiv von dem

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Toten, der noch einmal seine Braut besucht, aufs innigste und farbenprächtigste gestaltet ist. Die Stoffgrundlage ist auch in dieser Gruppe sehr alt, aber Umwelt, Formen und Gaist gehören ganz der Wikingzeit. | Den größten Teil des 10. und 11. Jahrhunderts war Mittel- und Nordengland, das Danelag, eine blühende halbnordische Kulturprovinz, in der Heidnisches und Christliches, Englisches und Nordisches und dazu manches, das aus keltischer Wurzel kam, zu einer Einheit zusammenwuchs und viele neue Schöpfungen hervorrief, die mächtig in die nordischen Länder hinüberstrahlten. Nicht so intensiv, aber dauerhafter haben auch die lange norwegischen Inseln im Norden und Westen Schottlands in dieser Richtung gewirkt. Dort drüben war der Keimboden auch für den besten Teil der zuletzt berührten Heldenlieder, wenn nicht für sie alle. Aber auch in dem anderen Hauptzweig der Eddadichtung, den Götterliedern, ist ein starker Einfluß von dieser Seite deutlich. Sie sind heidnisch, und doch ist nicht sicher, ob eins von ihnen nodi in rein heidnischer Zeit und Umwelt entstanden und älter ist als die eben erwähnten Heldenlieder. Die meisten von ihnen schildern Episoden von Göttern und Riesen oder sammeln mythologischen Wissensstoff. Viele sind gut gedichtet. Christlichen Anteil verrät vor allem das wertvollste unter ihnen, die Voluspá, der Seherin Gesicht. Sie ist eine echte Vision von der Schöpfung bis zum Ende der Welt, eine Kette großartiger, wuchtiger, halbdunkler Bilder, die den alten dumpfen Mythen Zusammenhang und neuen Inhalt geben. Sie ist wohl die größte germanische religiöse Dichtung im Mittelalter überhaupt. Heidnisches und Christliches verschmilzt in ihr so, daß man über den Glauben des unbekannten Dichters gestritten hat. Es ist in der nordischen Dichtung vorzüglich hier, wo sich das Christentum in der seltenen Rolle des Befruchters heidnischen Geistes und Glaubens zeigt. Es scheint hier sogar tiefer erfaßt als in allem, was wir sonst noch lange hin von Christentum und Kirche im Norden erfahren. Heimat und Zeit des Liedes sind leider ungewiß. Mit den Götterliedern sind Stücke von Spruch- und Runenweisheit verknüpft. Die Grundform dieser Gattung ist eine kleine geschlossene Einheit, die vom Sprichwort bis zur kurzen Strophengruppe reicht. Ähnlich ist es in der Wissensdichtung. Da nun die Eddasammlung nur ganze Gedichte enthält, so ist in sie von all dieser Kleindichtung nur aufgenommen, was zu größeren Gebilden gesammelt war. Bei diesem Aneinanderfügen ist es meist nicht ohne Schaden für die alten echten Formen abgegangen. Dodi ist gerade die größte und wertvollste jüngere Einheit, das Alte Sittengedicht, wie man es nennt, ohne solche Störungen gebildet. Es ist eine lockere und trotzdem erstaunlich geschlossene Sammlung rein bäuerlicher Lebensklugheit, dem Scheine nach aus einem Land, wo sowohl die Götter wie der Staat und selbst die See in weiter Ferne lagen, so nüchtern diesseitig, wie keine Theorie es zugeben mag, mit meisterhaft geschliffenen und einprägsamen Sprüchen und Lehren. Und doch erhebt die Sammlung sich am Ende zu einem Preis der Mannesehre als Kuhn, Kleine Schriften II

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des Höchsten, der von keinem Heldenlied übertroffen wird. Keins der vielen anderen mittelalterlichen Spruch- und Lehrgedichte reicht an dies heran. Heldenlied und Spruchdichtung hat der Norden mit Deutschland und England gemeinsam gehabt, die Götterlieder jedoch kaum. Mit dem andern Hauptziweig seiner Dichtung, der skaldischen, stand er sicher allein. Dennoch weist viel darauf, daß eine fremde Kunst, irische Hofkunst, an ihrer Wiege gestanden hat. Skalde bedeutet „Dichter" allgemein. Da jedoch nur hier der Dichter etwas galt, ja sogar viel gegolten hat, schon von den Anfängen an, so ist der Name, der der Gattung gegeben ist, nicht unrecht. In den skaldischen Formen haben die nordischen Dichter das Eigenste geleistet. Fast alle einzelnen Stil- und Ausdrucksmittel mögen übernommen sein, aus alter heimischer, irischer oder noch anderer Kunst, aber das Ganze ist doch eine nordische Schöpfung und einzig in der Art. Die Skaldenkunst hat eine erstaunliche Lebenskraft gezeigt. Wenigstens sieben Jahrhunderte lang ist in ihren Formen gedichtet worden. Der Anfang, scheint es, lag um die Mitte des 9. Jahrhunderts, als die Wikingfahrten auf dem ersten Gipfel standen und der Kontakt mit den höheren Kulturen auf den Britischen Inseln wirksam zu werden begann. Was aus dieser Zeit erhalten ist, zeigt den etwas barocken Stil der Skalden, an dem uns manches zunächst eher abstößt als anzieht, nahezu fertig, den kunstvollen Versbau, der zum alten Stabreim in den führenden Metren noch Innenreime oder andere Reimkünste fügt, jedoch noch nicht. Man spürt auch, daß es den Dichtern noch Mühe macht, mit den schweren Metren fertig zu werden. Es scheint, daß die Skaldenkunst im Anfang gesamtnordisch war, doch war sie bald auf Norwegen und seine Kolonien beschränkt. Seit dem Ende des 9. Jahrhunderts trat zu diesen | letzten Island, und die neue Kunst fand dort schnell eine Heimstatt. Um die Mitte des 10. Jahrhunderts beginnt die Insel, Skalden für den norwegischen Hof zu stellen, und bald ist das ihr Monopol, für volle 300 Jahre. Seit dem Ende dieses Jahrhunderts scheinen in größerem Maße außer Island nur noch die Orkneys aktiv an der Skaldenkunst beteiligt. In diesem Zeitraum festigte sich auch das verwickelte System des skaldischen Versbaus, und ,cße guten Dichter lernten es so beherrschen, daß es bald fast mühelos scheint. Die Dichtung stieg nun schnell zu ihrer Blüte auf. Der größte Skalde, der Isländer Egil Skallagrimsson, lebte in dieser Zeit. Viel ist von ihm nicht erhalten. Was da ist, zeigt eine sichere Herrschaft auch über schwierige neue Formen. Einige seiner Gedichte sind seinem Zeitraum weit voraus und wirken fast modern, Bekenntnisse, in denen sich das Persönlichste Bahn bricht und das Sachliche fast erstickt. Neben Egil stehn in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts noch einige weitere ausgezeichnete Skalden. Diese Blütezeit reicht weit bis ins 11. Jahrhundert hinein. Da kommt auch noch der größte Glanz hinzu. Um die Jahrtausendwende erreichte die Macht der nordischen Völker, vor allem der Dänen, ihren Höhepunkt. Ganz England fiel in ihre Hand. Die Skalden, Bauernsöhne Islands, traten vor die Könige und Großen in allen Ländern nordischer Zunge und Herrschaft,

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überall gern gesehen und gut gelohnt. Sie waren eine Macht. Sie durften ihren Königen offen mit dem Übertritt zum Feinde dröhn. Der Hof des Dänen Knuts des Großen (1015—1036) in London trat als Pflegestätte ihrer Kunst konkurrierend neben den alten Mittelpunkt am norwegischen Königshof. Neue, noch schwerere Formen wurden versucht. Es war auch wohl in dieser Zeit, daß die skaldische Dichtung befruchtend auf die eddische zu wirken begann. Im weiteren 11. Jahrhundert ging es dann langsam zurück. Die Handhabung der früher streng gehüteten Formen fing an, lässiger zu werden. Das Jahr 1066, in dem England als ein Teil des Nordens und als der große Vermittler westlicher Güter ausschied, brachte auch der Skaldenkunst einen schweren Stoß. Der Gipfel ist nun eindeutig überschritten. Aber auch das 12. Jahrhundert brachte noch gute Skalden hervor, und das Feld ihrer Kunst erfuhr in ihm eine wichtige Erweiterung: Die in Island entstehende christlich-geistliche Dichtung übernahm ihre Formen und ihren Stil. Noch immer waren auch die Skalden an den großen nordischen Höfen geehrt. Das nächste Jahrhundert brachte sogar eine Nachblüte der alten Kunst, eine Wiederbelebung ihrer klassischen Formen. Sie war jedoch künstlich und ohne Bestand. Um 1300 verschwinden die Skalden für immer von den nordischen Königshöfen, aber die geistliche Dichtung der Isländer hielt bis über die Reformation hinaus an den leergewordenen Formen fest. Wir haben dem kleinen Volke Islands im Mittelalter noch für eine andere große literarische Leistung zu danken, die Saga, die geschichtliche Erzählung, die vom kritischen Bericht bis nah an den historischen Roman heranreicht. Ihr bedeutendster Gegenstand ist die Geschichte der isländischen Geschlechter bis gegen 1030 und die norwegische von der Wikingzeit an, ihre Blütezeit die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts. D a kamen die meisten Werke ¡aufs Pergament. Aber ihre Sprache und ihr Stil sind keine Schreibtischware. Sie müssen vorher entwickelt sein, in einer langen Erzähltradition, die auch die Stoffe von Geschlecht zu Geschlecht übermittelt hat. Die Sprache der Saga ist aufs feinste durchgeformt, ganz und gar unpoetisch und doch durchaus nicht alltäglich, der Aufbau der guten Werke sicher und klar, ihre Handlung sorgfältig motiviert und zielbewußt vorangeführt, die Darstellung so sachlich, nüchtern und unparteiisch, daß man die reine Wahrheit zu lesen glaubt. Besonders groß ist die Kunst der indirekten Charakterzeichnung und des Dialogs. Er ist scharf geschliffen und fast ganz auf das beschränkt, was dem Verständnis und dem Fortgang der Handlung dient. D a s Ethos der meisten ist hochgespannt und den alten Heldenliedern nah. Die geschichtliche Zuverlässigkeit der Werke schwankt in weiter Spanne und ist sehr umstritten, der hohe künstlerische Rang der besten unbestreitbar. Im Mittelalter hat diese Erzählkunst nirgends ihresgleichen. Die Blütezeit der Saga fällt fast mit der der mittelhochdeutschen Dichtung zusammen. Aber davon abgesehn, daß unser Nibelungenlied vielleicht auf eine der besten Sagas Einfluß gehabt hat, ist ein Zusammenhang nicht erkennbar, und die Kunstmittel und Stoffe sind grundverschieden. In den Jahrhun3·

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derten, als die Skaldenkunst in der Blüte stand, gab es nirgendwo in Europa eine Dichtung von | annähernd gleichem Rang. Aber kein Zeugnis verrät, daß man außerhalb des Nordens Notiz von ihr genommen hat. Der Norden verstand es, mit den reichen Anregungen, die der Süden und Westen Europas zu geben hatten, aufs fruchtbarste zu wuchern und damit die Geber weit zu überflügeln, aber den umgekehrten Weg scheint im ganzen Mittelalter kaum ein Impuls gegangen zu sein. Dies ist erst seit knapp hundert Jahren anders. Jetzt steht der Norden nicht nur willig nehmend, sondern auch reichlich gebend und hochgeachtet im literarischen Leben Europas, und auch seine alten Schätze haben endlich den Weg über die viel zu lange verschlossenen Grenzen zu uns gefunden und sind, von der kaum übersetzbaren Skaldendichtung abgesehn, in den gesamteuropäischen Kulturbesitz eingegangen.

BESPRECHUNG von

IVAR LINDQVIST DIE URGESTALT DER HÁVAMÁL Ein Versuch zur Bestimmung auf synthetischem Wege (Lund 1956) [Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 72, 1960, S. 15—23] Fast chaotisch, eine Ruine, ein Wirrwarr und dgl. mehr, so ist Lindqvists Urteil über die Hávamál, so wie sie im Kodex der Eddalieder stehn. Alle die vielen anderen, die sich mit der Uberlieferung nicht zufrieden gaben, gehn ihm längst nicht weit genug, und vor allem, was sie daraus machen, führt nicht zu dem vollendeten Werk, das am Anfang gestanden haben muß. N u r das Schöne ist wahr. „Bei dem Tasten nach der geschichtlichen Wahrheit gilt es mir als Zeichen eines gründlichen Irrtums, logisch und ästhetisch unbefriedigende Schlußlösungen herauszubekommen. Die historische Wissenschaft sollte sich nicht beruhigen, ehe ein Vollblut geboren worden ist" (S. 92). Deshalb: „Das Losungswort kann nur sein: vom Chaos zum Kosmos!" (S. 129). Und das Ergebnis beweist, daß es richtig ist: „Da reihen sich die praktischen Lebensregeln, strophisch geprägt, in einer kunstvollen Ideenverkettung. Das Ziel, den alten Gedankengang darzustellen, ist erreicht" (S. 191). Es geht also darum, -die Urgestalt der H á v a m á l zu rekonstruieren, und zwar, wie schon der Titel sagt, auf synthetischem Wege. Denn die andern, die sich hieran versuchten (angefangen mit Müllenhoff), verfuhren analytisch, heißt es S. 93ff. und öfter. L. meint damit, daß sie das Lied zerlegten, er aber es als alte Einheit nachweist und restituiert. D a ß die H á v a m á l dies gewesen sind, dafür bürgt ihm der Name, der vor dem Ganzen steht und in der letzten Strophe wiederkehrt. Davon geht er aus (S. 5), das betont er oft. Das erste Stück Wegs, die zerstörte Einheit wiederzufinden und die gänzlich zerrüttete Ordnung herzustellen, weist ihm „eine Erfindung grundlegender Bedeutung" (S. 98 u. ö.): ein Teil der Strophen ist persönlich stilisiert (mit ich oder du), die anderen unpersönlich (man u. a.). Diese Strophen, in der Überlieferung bunt gemischt, müssen gesondert und f ü r sich geordnet werden. Das ergibt die beiden Hauptteile, „Block A " und „Block B". Zu ihnen kommen je 2 Eingangs- und Schlußstrophen, und dann noch ein „Restgedicht" (auch „Hávamál I I " und „Spathávamál" genannt). Auf S. 40—87 steht alles in seiner wiedergeborenen Reinheit und Schönheit gedruckt, mit deutscher Übersetzung idaneben. Auch die herkömmlichen Strophennummern

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BESPRECHUNG VON IVAR LINDQVIST

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sind beigefügt. Da zeigt sich, daß nicht nur die Strophen gründlich umgeschüttelt sind, sondern viele zerrissen und zu neuen zusammengesetzt, dazu aus anderen Quellen Strophen und Verse hinzugenommen und die Fugen, die dann noch offen blieben, mit eigener Dichtung gedichtet sind. Im zweiten Teil des Buches wird dies alles ausführlich erläutert und begründet. Einzelnes ist auch fortgelassen (sieh S. 202—05). Trotzdem hat L. die Hávamál von 164 auf 178 Strophen gebracht, davon 27 im „Rest- | gedieht". Uber dies alles hinaus ist in vielen Strophen geändert, manchmal viel. Von den ersten 20 Strophen des neuen Lieds (S. 40—44) sind nur 4 ganz unangetastet geblieben (A 1, 6, 7 und 17). Das Recht zu diesen Eingriffen holt L. aus der Gewißheit, daß hier mit jeder Art Verderbnis zu rechnen ist, und aus der Forderung einerseits nach Vernunft und Logik, anderseits nach strenger Einhaltung der Regeln für die Normalform der Strophen und Verse, für den Rhythmus der Sätze und die reinste Form des Gleichlaufs. Die Hávamál, die so auferstanden sind, sind eine Verkündung Odins, wie es der Name sagt, eine Einweihung in seine Religion und ihre Moral, gerichtet an einen jungen Neuling, der ihn aufgesucht hat, so wie es nach Snorris Edda Gylfi tat, und dem der Gott dann später einen Gegenbesuch erstattete, bei dem die Lehre weiterging — dies ist Blodk Β —. Das Lied ist hochreligiös, zeigt Odin nur in seiner erhabenen Größe und nicht, wie die Vçluspà und andere Lieder, auch seinen Untergang. Es hat deshalb bei frommen Christen ,ganz besonderes Ärgernis erregt. Hier liegt denn auch der Grund für sein ungewöhnlich hartes Geschick. Ein christlicher Eiferer hat es zerschlagen und zur Unkenntlichkeit entstellt (v. a. S. 198—200). Das geschah in den Jahrzehnten zwischen Snorris Tätigkeit und der Entstehung unserer Handschrift. Das Lied war da uralt, es stammt tief aus der heidnischen Zeit. Es ist manches in L.s Urhávamál, -das imponiert, und wohl alles ist klug. Die hohe Begabung des Verfassers verhehlt sich nicht. Vieles liest sich spannend — so ganz weit vom Roman ist es hier ja nicht ·—. Überzeugt aber hat mich außer einzelnen geglückten Konjekturen nichts. So beginne ich nun mit der Kritik. Als erstes die gewaltsame Zerstörung, die alles erklären und zugleich L.s eigene Gewaltsamkeiten rechtfertigen soll. Hier und da denkt er an ein Unvermögen des Mannes, den er da am Werke glaubt, nennt ihn den ungeschickten Redaktor (S. 123f.) und tauft ihn auf den Namen „Der große Pfuscher" (S. 125, vgl. 140 und 260), zeiht ihn jedoch an allen Stellen zugleich eines planmäßigen Verstümmeins, eines Attentats, und dieses Urteil steht vornan. Verständlich ist nun ein solches Unterfangen höchstens nach der Aufzeichnung, wenn der Täter des Glaubens war, es bestünde von dem Liede nur die eine Handschrift, die er in Händen hatte, und niemand im Volke kennte es mehr. So denkt es sich offenbar auch L., jedoch mit einer eigenartigen Begründung: da Snorri Sturluson, wie er meint, die Hávamál noch unverfälscht gekannt hat, war ,das Unglück in seinen Tagen noch nicht passiert (S. 111, vgl. 125, 200f. und 267). Als sei es sicher, daß Snorri, wenn

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es damals schon geschehen wäre, auf dies Zerrbild angewiesen war oder sich von ihm nasführen ließ. Hatte der „Große Pfuscher" aber wirklich alles in der Hand, warum hat er die Blätter, auf denen das Lied stand, das ihn empörte, dann nicht verbrannt oder es beim Abschreiben übersprungen und so aus der Welt geschafft, warum dann die .große Mühe des Durcheinanderrührens? L. gibt auch hierauf Antwort: den Mann interessierte das Altertum, er wollte diesem großartigsten Denkmal nur die Giftzähne ausbrechen, es zum heidnischen Propagandamittel untauglich machen, um es so erhalten zu können (S. 199 und 201). Man sollte vor allem nicht mehr sehen, daß es Odin ist, der hier Großes und Tiefes verkündet. Nun, dann hätte der fromme Betrüger als erstes wohl den verräterischen Namen | Hávamál am Anfang und Ende verschwinden lassen. War er dodi nur ein Pfuscher? Oder sollte es den Kundigen doch möglich sein, zurückzufinden? Mir scheint der Gedanke, im 13. Jahrhundert habe ein Isländer aus christlichem Eifer ein Lied vom Rang der Hávamál, um es zu retten, auf die angenommene Art verschnitten und verfälscht und sei damit durchgedrungen, grotesk. Der Name Hávamál, den der große Pfuscher so unklug war sowohl vorn wie hinten stehnzulassen, gibt L. die felsenfeste Sicherheit, daß da ein von Hause einheitliches Dichtwerk vorliegt. Auf diesen Sand hat er alles gebaut. Wie, wenn ein Schreiber, dem es für das Spruchdichtungskonglomerat, das er da aufnahm oder abschrieb, an einer Überschrift gebrach, sich diese aus der letzten Strophe holte, ähnlich wie es beim Oddrúnargrátr geschehn sein wird? Was in den Hávamál sicher als Odins Rede gedacht ist, ist wenig, und ihm hält andres die Waage, das schlecht in seinen Mund paßt. Das ist altbekannt, und L. gibt einiges zu (S. 141, 168f. und 202f.). Das weitaus meiste läßt keine Beziehung zu einem Gott erkennen und bedarf ihrer nicht. Trotzdem ist der Versuch, das Gedicht als Einheit zu retten, statt es, wie es üblich ist, zu zerstückeln und dennoch viele Strophen vor die Tür zu werfen, von Wert. Das erkenne ich an. L. ist diesem Ziele zwar viel näher gekommen, hat es aber trotz seiner abenteuerlichen Mittel doch nicht erreicht. Seine Urhávamál sind zweigeteilt, und dennoch fehlen in ihnen etwa 30 Strophen, die er im „Restgedicht" vereinigt oder kassiert (vgl. oben). Sein Ergebnis ist von denen der angegriffenen „Analytiker" deshalb nur im Grade, jedoch nicht im Wesen verschieden, und er ist „Synthetiker" höchstens darin, daß er die ursprüngliche Einheit postuliert. Es ist aber besser, diese viel mißhandelten Begriffe nicht noch mehr zu mißbrauchen. L. spricht von Andreas Heuslers Versuch von 1917, Teile der Hávamál sinnvoll zu ordnen (Die zwei altnordischen Sittengedichte der Hávamál nach ihrer Strophenfolge), mit großer Anerkennung. Beiden, wie auch vielen anderen, ist die wichtige Voraussetzung gemein, eine schlechte Ordnung könne nicht ursprünglich sein. Der Meinung L.s, nur das Vollkommene könnten wir als Urform gelten lassen (vgl. oben), würde Heusler wenig widersprochen haben, und auch heute werden es bei uns nur einzelne tun. Dieser Kinderglaube regiert im Verborgenen seit dem Anfang unserer Wissenschaft,

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ein reines Geschöpf der Romantik. Als Student war L. empört, wie Heusler mit der Strophenfolge unsres Liedes umsprang (S. 6f.). Jetzt gibt er ihm recht und übertrumpft ihn weit. Er ist hier der Entwicklung seines Lehrers Ernst Albin Kock gefolgt, der zuerst gegen Finnur Jónssons weitgehende Eingriffe in die skaldisdien Texte Sturm lief und nach einigen Jahren in dieselbe Bahn autoritären „Berichtigens" schlitterte. L. ist sich bewußt, daß er mit seinem Verfahren gegen den Strom schwimmt und anstößt, ja sein Gewissen scheint nicht ganz rein, er bittet oft um Nachsicht und Verständnis. Versuchen müsse man diese Rettung doch (z. B. S. 113f.). Aber er ist dessen gewiß, daß sein Versuch überraschend geglückt und damit auch gerechtfertigt ist. Er spricht selten von Konjekturen und um so mehr von Korrekturen. Er stellt her, was gewesen ist. Über seinem Urgedicht steht „Hávamál restituía atque reconstructa" (S. 40). Der Erfolg hat alle Zweifel ausgelöscht. | Der Erfolg, das ist der erreichte volle Einklang mit den Gesetzen der Logik, der Metrik und des Stils. Die Forderung nach Logik kommt wieder von Kock. L. preist ihn, weil er „die Vernunft zur obersten Richtschnur unserer Forschung nahm und verlangte, daß wir den altnorwegischen und altisländischen Dichtern dasselbe zutrauen sollen" (S. 97f.). Meist aber spricht er von Logik. Idi halte es längst für Irrtum, daß der Mensch sich homo sapiens nennt, und erwarte die Tugend der Logik gewiß nicht vom Dichter. Reinen Unsinn dürfen wir, wenn es mühelos geht, wohl beseitigen, L. jedoch geht weit darüber hinaus. Er verwirft das überlieferte sumt (sel. çl) var ólagat „einiges (Bier) war ungebraut", weil, solange nicht gebraut ist, noch kein Bier da ist — und ersetzt sumt durch ein vom Althochdeutschen ausgeliehenes sums „mancherorts" (S. 252) — . Noch schlimmer ist, daß Vernunft und Logik in den Dienst der L.schen Konstruktionen .gestellt sind. Da, wohin er die Strophen und Verse pflanzt, oder in den Gedankengang, den er verlangt, müssen sie sich bequemen zu passen. Dafür als Beispiel gleich die Strophe 1 (bei L. Β 23). Es ist eine der vielen Mahnungen zur Vorsicht, und zwar, passend im Eingang des Gedichts, beim Eintritt in ein Haus. Das zeigen die Türöffnungen (gáttir) und das Flett (flet), die da genannt sind, und Snorri, der die Strophe in seiner Edda zitiert, verstand sie ebenso. L. stellt sie hinter 38, einen ähnlichen Rat, jedoch draußen auf dem Felde. Also erhält gátt die unbezeugte Bedeutung „Weg", und flet, das auch bei Snorri steht, muß vor sát „Hinterhalt" weichen (S. 176—78). Das letzte gilt für L. nur als leichte Retuschierung. So geht es zu im Namen der Vernunft. Nun die Eingriffe der Metrik wegen. Auch in ihrem Namen sind schon viele Greuel geschehn. Ich rechne die Metrik von den groben äußeren Regeln des Vers- und Strophenbaus bis zum Rhythmus und Klang. L. mißt allem große Bedeutung für die Gestaltung des Textes zu. In der Metrik hält er sich an Eduard Sievers und an seinen Landsmann Frits Läffler, der die Unterarten des Liódahátts, des Spruchtons, untersucht hat. In die Schemata dieser Metriker muß nahezu alles hinein, es gibt da wenig Pardon. Die Dichtung, aus der die Metrik die

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Norm der Liódahátt-Strophen und -Verse abstrahiert hat, reicht höchstens in die allerletzte Phase des Heidentums zurück, die Hávamál aber sind nach der Meinung L.s viel älter, uralt. Dies wird für große Teile des Gedichtes riditig sein. Trotzdem spannt er es über denselben Leisten. Er erkennt audi im Vers- und Strophenbau nur die Stufe der Vollendung an — und nach ihr Verfall —, jedoch nichts, das ihr vorausliegt, keine älteren Stufen, aus denen sich jene entwickelt hat. Er sagt zwar, er habe seinen Maßstab aus den Hávamál selbst geholt (S. 102 und 106), hat aber höchstens festgestellt, was überwiegt — und danach dann planiert —. Er bringt es fertig, von etwas, das vereinzelt bleibt, zu sagen, es kommt nicht vor (S. 106). Die Lehre, daß die Vollzeile 3 Hebungen hat (S. 234), kommt von Sievers, aber schwerlich aus unserem Lied. L. weckt den Schein, als sei mit der anschließenden Aufbesserung 5 nur zweihebiger Vollzeilen in dieser Sache Ordnung geschafft. Die Hávamál enthalten solche jedoch dutzendweis, während eindeutig dreihebige — mit drei Wärtern, die eine selbständige starke Hebung fordern — Ausnahmen sind. Was er gar als vierhebige Vollzeilen aufführt (S. 236), sind zumeist Verspaare mit 2mal 2 Hebungen | und klarer Zäsur, die jedoch an Stellen stehn, wo das Gesetz sie verbannt. Bedenkt man die Grundregel der gesamten germanischen Stabreimkunst, daß unmittelbar vor dem ersten Stab des Verses keine Silbe in Hebung stehen kann — L.s heill nióti sá er nam, mit als 3. Hebung zugesetztem heill (S. 234), und auch sein auk solar syn (B 46) zeigen, daß er sie nicht kennt —, wie will man dann alle die Vollzeilen wie Hav. 1 6 28

um skoöaz skyli, um skygnaz skyli, heldr gatinn at geSi, en manvit mikit, ok segia it sama

dreihebig lesen? Mindestens auch die noch viel häufigeren Verse der Form 3 5 10, 11 14

ok ok en at

á knê kalinn, meö snotrom sitr, sé manvit mikit, ins fróSa Fialars,

die in den sicher zweihebigen Abversen der Langzeilen massenweise ihresgleichen haben, sind der These von den drei Hebungen nicht günstig. L. erkennt at ins fróSa Fialars als nur zweihebig an (S. 258), konstruiert aber selbst, um dieser Hebungszahl zu entgehn, ein ganz gleich gebautes ept of genginn guma (S. 235). Mir ist es, ähnlich wie Heusler — dessen Metrik L. verdammt (S. 231) —, nicht möglich, die Vollzeilen so zu lesen, wie L. verlangt. Man wird da auch verstehn, daß ich auf sein Gehör für gute Modulierung (so S. 263) nicht sehr viel geben kann. Gewiß hört der Schwede mehr Satzmelodie als wir (vgl. S. 232f.). Ob es aber audi die des Altwestnordischen ist, kommt mir zweifelhaft vor. Weiteres über die Metrik unten. Ähnlich doktrinär wie in ihr ist L. in der Behandlung des Gleichlaufstils. Auch da wird nach Kräften genormt (v. a. S. 246—58).

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Der Liódahátt, der in den Hávamál herrsdit, ist das Versmaß der nicht erzählenden Dichtung, vor allem der Merk-, Spruch- und Zauberstrophen. LioÖ ist die kurze Strophe als Einheit, und der Liódahátt, mit dem Wechsel der Versarten und der scharfen Markierung der Schlüsse, die Form, die zu ihr gehört, im Gegensatz zum Fornyrdislag, dem Langzeilenmaß, als der Form der erzählenden Dichtung. Die beiden stehen nebeneinander, ähnlich wie Distichon und reine Hexameter im alten Griechenland. Die LiódaháttStrophe ist eine so strenge Einheit, daß selbst da, wo mehrere zur Gruppe zusammentreten, Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit der einzelnen durchweg erhalten bleibt. Ausnahmen davon, wie etwa Háv. 44—46, sind in den älteren Stücken selten. Wo in diesem Versmaß trotzdem ganze Gedichte gebildet sind, da ist die Grundlage entweder Dialog, mit Wechsel der Sprecher von Strophe zu Strophe, im Anfang wohl in Frage und Antwort, oder aber Aufreihung autarker Merk- oder Spruchstrophen mit der Fiktion des Monologs als lockerem Rahmen. Nur in Ansätzen kommt dazu eine Weiterentwicklung zu erzählendem Monolog. In den Rahmengedichten ist die Einkleidung ohne Gewicht, die Füllung aber ohne Einheit, sowohl nach Inhalt wie Stil, und ohne eine Ordnung, die höheren Ansprüchen genügt. Zu diesen Liedern gehören die Hávamál. Ich habe aus | dem angedeuteten Zustand längst geschlossen, daß in ihnen altes Merk- und Spruchstrophengut, das in einzelnen Strophen oder kleinen Gruppen umlief, gesammelt und zu einer losen Einheit verbunden ist. In der Veröffentlichung ist mir dann Hermann Schneider zuvorgekommen (Eine Uredda, 1948, S. 46ff.). Ich habe dem zugestimmt und versucht, sein Ergebnis weiter zu stützen (AfdA. 64, 72f. [hier 19f.]), und verweise darauf. L. nimmt von diesem größten Feinde seines Unternehmens keine Notiz. In die Liederedda sind einzelne Strophen und Strophengruppen nur dann aufgenommen, wenn sie sich in eine größere Erzähleinheit fügten. Merk- und Spruchstrophen, die allein geblieben waren, fanden deshalb keinen Platz. Der Geschmack der literarischen Kreise hat wahrscheinlich lange vor der Entstehung der großen Sammlung dahin gedrängt, das Gute unter den Einzelgängern in Gedichten zusammenzufassen. Ihm werden aber auch die freien metrischen Formen nicht gefallen haben, die in der schlichten Kleindichtung einst geherrscht haben müssen. Die angelsächsischen Denksprüche des Exeterbuches bergen in ihrem letzten Teile viele kleine Stücke in älteren Formen, wenig beachtet. Da wird sichtbar, wie es in der germanischen Spruchdichtung einmal bestellt gewesen sein wird. Es geht vereinzelt bis zu Gebilden, die der fertigen Liódahátt-Halbstrophe gleichen. So 173f. Ä scyle pâ rincas geradem lädan and him atsomne swefan Ähnlich 168f. Vgl. auch 162—64 Wärleas mon and wonhydig, ätrenmöd and ungetreow, Pees ne gymeñ god.

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Nicht viel anders wird es im Norden gewesen sein, bis man sich auf die eine besonders ausdrucksfähige Form zurückzog, die nach dem englischen Zeugnis lange vorgebildet war und in der Liódahátt-Strophe ihre feste Ordnung bekam. Das Fortleben freierer Vers- und Strophenformen wird die stärkste Wurzel der mannigfachen Regelwidrigkeiten sein, an denen L. sich im überlieferten Text der Hávamál stößt, die es jedoch, obschon seltener, auch in anderen Liedern gibt. Ich kann hier nicht auf sie alle eingehn und greife nur einen Teil der Fälle heraus, in denen der Gebrauch des Stabreims nicht der Norm entspricht. Es sind in den Hávamál insgesamt wohl 50. Ein Zuviel an Stäben, das gemeinhin vermieden wird, erscheint so oft, daß es Zufall ausschließt. Allein Vollzeilen mit 3 Stäben sind da 9 oder 10. Man hat sie, schwerlich zu Recht, als Zeugnis für die Dreihebigkeit dieser Verse herangezogen. In 4 dieser Fälle steht da ein Sprichwort, das in den Vers gezwängt ist: 36, 37 42 46

halr er beima hverr, ok gialda giçf viS giçf, glík skolo giçld giçfom.

Sie haben ihre Stäbe sicher mitgebracht, und man hat sie ihnen gelassen. D a ß der Einbau vorgeprägter Sprichwörter in das Schema der Vollzeilen oder Verspaare manche Schwierigkeiten bringen mußte, zeigt auch das mit gern seal \ man geba infâhan unseres Hildebrandlieds, eine der schlechtesten Langzeilen des Gedichts, das mit dem angehängten, für sich selber stehenden ort widar orte eher wie eine Liódahátt-Halbstrophe aussieht. Auch an anderen Strophenstellen gibt es falsche Stäbe, die offenkundig aus Sprichwörtern kommen. So 42 und 43

vin sínom

skal mañr vinr vera,

mit 2 Stäben im Abvers. Hiermit wird zugleich eine weitere der dreistäbigen Vollzeilen: 43

vinar vinr

vera,

aus einem Sprichwort erklärt. Doppelstab im Abvers, sonst verpönt, gibt es in den Hávamál an 15 Stellen, teils mit zwei Stäben im Anvers, teils mit einem, teils aus einem Sprichwort herleitbar, teils nicht. Zu den letzten gehören etwa: 14 17 33 71

ç Ir ek varò, varò ofr-çlvi, kópir afglapi, er til kynnis kamr, sitr ok Snópir, lœtr sem sólginn sé, haltr riör hrossi, hiçrÔ rekr handarvanr.

Eine andere Art der Steigerung ist doppeltes Stabsystem im Verspaar, in unserem Lied fast 20mal, sowohl in der Form a + b : a + b : 1 pviat ό-víst er at vita, hvar 6-vinir, 43 lítilla sanda, litilla sxva, 76, 77 deyr fé, deyia frandr, 138 g etri undaör ok gefinn Ó5ni,

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wie auch gekreuzt (a + b : b + a) : 18 38 41

bverio geöi styrir gumna hverr, pvtat 6-vist er at vita, nar verñr á vegom úti, viörgefendr ok endrgefendr erost lengst vinir (von L. S. 229 verschlimmbessert).

In den Beispielen aus Str. 1 und 38 sind die Anverse gleich, müßten aber bei normalem Stabsystem verschieden betont sein (der erste Hauptton in 1 auf vi, vinarlega bjartar, aS hringsnáast mér innan í ótal vísupartar. „Die Frühlingsnächte sind schuld daran, die freundlich hellen, daß sich in mir eine Unzahl Strophenteile im Kreise drehen." An den Schnitter in der Morgenfrühe: Sólin ekki sinna verka sakna laîtur, jörSin undan grimu gras tur: grasa bani, komdu á fcetur! „Die Sonne läßt es nicht an ihren Werken fehlen, die Erde weint unter der Wirkung der Nacht (gemeint ist Taufall), Töter der Gräser, steh auf!" In dieser Strophenform sind die beiden ersten Verse zu einem sechstaktigen Vers mit drei Stabreimen zusammengezogen; die zwei übrigen Verse sind viertaktig. Beim Durchreiten eines Flusses (Hringhenda) :

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Hlasr viS bára, hylur grjenn hótir fári, skaSa, meSan klárinn veSur vienn vaSiS KárastaSa. „Die Welle lacht mir zu, die grüne Tiefe droht Verderben und Schaden, während das gute Pferd die Furt von Karastadir -watet." | Winterfahrt auf Schneeschuhen (Hringhenda) : Grenjar hriö um HeSinsskörS, harkan striS ei brestur, f r a m meS hliSum, freSin börS fljúga skíSin vestur. „Der Schneesturm heult durch H . (einen Paß), der harte Frost läßt nicht nach; die Hänge entlang, gefrorene Höhen, fliegen die Schneeschuhe •westwärts." Eine aus vielen Strophen von harter Seefahrt (Hringhenda) : Á f r a m halda hiklaust má hafs í kalda rôti, J)ó aS aldan ygld á brá yfi faldinn mòti. „Weiter fahren ohne Zögern gilt es im kalten Gewühl der See, wenn audi die Welle mit finsterer Braue den Kamm entgegensträubt" (die Wellen sind seit alters her oft als Weibliche Wesen gedacht). — Reich an Vierzeilern ist auch das herbstliche Einsammeln und Abtreiben der Schafe von den großen Weideräumen im Landesinnern (die G ö η g u r), das bis über eine Wodie dauert und zu dem viele Bauern zusammenkommen. Hier sind zum Beispiel entstanden: Á gamlan hátt í gangnaf>röng geng eg, f á t t ]bó kynni; nú er smátt um fögur föng og frost í náttúrinni. „Auf alte Weise geh ich in das Göngur-Gedränge, wenn ich auch wenig kann; nun ist Mangel an schönen Sachen und Frost in der N a t u r . " U p p nú standi ytar hér, eyddir grandi og fári; f r a m á sandinn saekjum vèr, sunnan andar Kári. „Auf müssen hier jetzt die Männer stehen, entblößt von Schaden und Verderben; hinein auf die Sandwüste dringen wir, von Süden atmet die Windsbraut." I Nachruf auf ein Reitpferd (ebenfalls Hringhenda): Ellin hallar öllum leik, settum valla státa;

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hún mun alla eins og Bleik eitt sinn falla lata. „Das Alter macht jedem Spiel ein Ende, wir sollten kaum prahlen; es wird alle so wie Bl. einmal fallen lassen." Preis einer Landschaft: Barma hliSar foldin friS fragSar víSa njóti; arma J>ySa breiSir bliS brjóstum lySa mòti. „Das schöne Land der Barmahlid genieße weithin Ruhm; freundliche Arme breitet es milde der Brust .der Menschen entgegen." Dies ist eine der Sléttubönd-Strophen, die ebensogut rückwärts wie vorwärts gelesen werden können: Moti lySa brjóstum blíS breiSir J>ySa arma (usw.). Sie haben neben Stab- und Endreim regelmäßig Innenreim in allen Versen. Es sind insgesamt 16 Reime. Hier sind .außerdem Innen- und erster Endreim gleich, so daß derselbe Reim sechsmal vorkommt. Dies zweite hat auch die folgende Strophe über .den Wasserfall Glymur: Á hinn himinháa Glym hver sem skimar lengi, f;er í limi sundl og svim, sem á rimum gengi. „Auf den himmelhohen Gl. wer da lange blickt, bekommt in die Glieder Taumel und Schwindel, wie wenn er auf Latten ginge." Der Dichter kommt zur Kirche, als schon gepredigt w.ir,d: Ber mjög IxtiS brúSarskraut bserinn Krists á J>essum staS; andlegt drynur inni naut: setli drottinn heyri |>aS? | „Sehr wenig Brautschmuck trägt Christi Haus an diesem Ort; ein geistlicher Bulle brüllt drinnen: ob der Herr das wohl hört?" Ein enttäuschter Trinker: PaS er fúlt í flöskunni, fordjerfaSur andskoti; hentu henni ofan í helvíti, hana, taktu viS henni! „Es ist Dreck in der Flasche, verderbter Teufel; wirf sie hinunter in die Hölle, da, nimm sie!" Der durchgehende Endreim dieser Strophe wird von Endungssilben getragen, die gewöhnlich tonlos, in diesen Fällen aber doch des starken Tones fähig sind, den der Dichter ihnen gab. Ähnlich ist die folgende Hringhenda-Strophe eines alten Dichters, der sich schlafen legt:

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Legg eg hcErur hrörnaSar hasgt á gaîrur svefnvíerSar; mér til xru messa fiar melir, fla:r og dordinglar. „Ich lege die altersschwachen grauen Haare sanft auf die Schaffelle der Schlafruhe; mir zur Ehre halten da die Messe Motten, Flöhe und Spinnen." Ein Lebensmüder: Nóttin graeSir mart, sem masSir mann á daginn; lifs eg f>rxSi veikur veginn, ver5 J)vi njeSi og svefni feginn. „Die Nacht heilt vieles, was einen am Tage beschwert; ich schleppe mich krank den Lebensweg, werde daher der Ruhe und des Schlafes froh." Ein Dreizeiler, wie oben, aber mit viermaligem Innenreim. Das Fazit des Lebens:

Fyrrum átti eg áform glaest, úr í>6 hafi lítiS raszt; nú er J>aS min hugsun hasst, hvenaer verSur étiS niest. „Früher hatte ich glänzende Ziele, obwohl davon wenig eingetroffen ist; jetzt ist das mein höchster Gedanke, wann das nächste Mal gegessen wird." — Es folgen nun zwei Strophen über den Menschen, die erste etwa 150 Jahre alt, die andere aus der Gegenwart: | Hrekkja spara má ei mergS; manneskjan skal vera hver annarar hris og sverS, hún er bara til Jjess gerS. „Mit Ränken in Menge soll man nicht sparen; der Mensch soll sein jeder des anderen Rute und Schwert, er ist nur dazu gemacht." Eine nicht ganz seltene Variation der Strophengrundform. AS hálfu leyti api enn, eSlin hefur tvenn og Jjrenn; litil von, aS lagist senn: lengi er GuS a S skapa menn. „Zur Hälfte nodi ein Affe, Naturen hat er zwei oder drei; wenig Hoffnung, daß es sich bald bessert: lange braucht Gott dazu, Menschen zu schaffen." Die Schwätzerin: Pa5 er feil á Jjinni mey, Pundur ála bala, aS hún heila hefur ei hurS fyrir mala skála. „Das ist ein Fehler an deinem Mädchen, Odin der Feuer der See, daß sie keine heile Tür vor dem Redeschuppen hat." Hier sind zwei Kenningen sehr

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alten Typs: das Feuer der See ist das Gold, dessen Gott der Mann (der hier angeredet ist); der Schuppen der Reden ist der Mund. Die Strophe kann mit ihrer Reimanordnung eine kleine Vorstellung davon geben, welche Variationsmöglichkeiten hier bestehen. — Nun einige aus der großen Zahl der Liebesstrophen: Po aS kali heitur hver, hylji dalinn jökull ber, steinar tali og alt, hvaS er, aldrei skal eg gleyma J»er. „Wenn auch die heiße Springquelle erkaltet, das Tal ein nackter Gletscher hüllt, Steine reden und alles, was ist, nie werde ich dich vergessen." Engan leit eg eins og hann, alma hreyti bjarta; einn GuS veit, eg elskaSi hann af öllum reit mins hjarta. | „Keinen sah ich so wie ihn, den lichten Bogenwerfer (eine Kenning alten Schlags für einen Krieger, hier = Mann); allein Gott weiß, ich liebte ihn von ganzem Grunde meines Herzens." Bekenntnis einer Dichterin: S v o n a er a S vera úr stáli og Steinum, stríSin, köld og ljót; aldrei hef eg y l a S sveinum inn a S hjartarót.

„So ist es, aus Stahl und Steinen zu sein, spottlustig, kalt und häßlich; nie habe ich Burschen bis zur Herzwurzel hinein erwärmt." Selbstironie (dieselbe Dichterin) : I húminu opt eg hugsa um |)ig, hljótt er í mó og runni; J)ó er ennj)á átján stig ást í forsaîlunni. „Im Dunkel denke ich oft an dich, still ist es in Heide und Busch; dennoch ist die Liebe im Schatten noch 18 Grad." Auch die nach Kanada ausgewanderten Isländer pflegen ihre Vierzeilerdichtung weiter. Hier eine Strophe eines Mannes, der dort lange als Einsiedler hauste: Löngum var eg lasknir minn, lôgfraîSingur, prestur, smiSur, kóngur, kennarinn, kerra, plógur, hestur. „Ständig bin ich mein Arzt gewesen, Rechtsanwalt, Pfarrer, Schmied, König, Lehrer, Karren, Pflug, Pferd."

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Die allermeisten Strophen, die heute umgehn, sind aus den letzten drei oder vier Menschenaltern. Ihr Bestand ist dadurch, daß immerfort neue gedichtet werden und manches davon ins Allgemeingut eingeht, in stetiger Veränderung. Aber die Liebe des Volkes zu dieser Kunst und ihre Rolle in der Gesellschaft wird sich in den Jahrhunderten nur wenig gewandelt haben. Jetzt aber ist das anders, so wie alles. Meine Kenntnisse stammen zumeist aus den 20er Jahren, als die Wirkung der Umwälzungen noch gering war. Wie es heute steht, übersehe ich nicht. Sicher ist, daß die Dichtung (mitsamt der Erzählung) ihre tausendjährige Monopolstellung eingebüßt hat. Im Ernst bedroht aber ist sie vorläufig kaum. Der Rundfunk, der ihr, nächst I der immer wachsenden Verstädterung, wohl vor allem andern gefährlich werden kann, tut selbst viel für sie. Aber eine Änderung ihrer Lebensformen und -bedingungen muß auch dieses bringen. Ich wage hier nichts vorauszusagen, hoffe aber, daß die alte Vierzeilerdichtung auch mit diesen mächtigen Feinden fertig wird.

IV. Heldensage und Heldendichtung

KRIEMHILDS HORT UND RACHE [Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider gewidmet zu ihrem 60. Geburtstag, Tübingen 1948, S. 84—100]

Ich gebe zuerst einen kurzen Überblick über den Inhalt des Nibelungenlieds, soweit es den H o r t und die Rache Kriemhilds berührt. Der H o r t wird schon früh erwähnt. Hagen erzählt, wie ihn Sigfrid gewann (Str. 87—99). Die Geschichte von Kriemhilds Rache beginnt mit der Vorgeschichte des Mordes an Sigfrid, für den sie Rache will. Sigfrid half Gunther, Brünhild mit Betrug zu gewinnen, und bändigte sie dann im Ehebett. Als dann später die beiden Frauen, Brünhild und Kriemhild, in Streit gerieten, warf Kriemhild der andern vor, sie sei Sigfrids Kebse gewesen. Sigfrid konnte sich von dem Vorwurf, den man ihm darauf machte, reinigen (857—60), aber Hagen trieb trotzdem zum Mord an ihm. Gunther lehnte zuerst ab, ließ sich dann aber gewinnen (864—76). Gernot und Giselher, Gunthers und Kriemhilds jüngere Brüder, waren unterrichtet (865f.), hielten sich aber fern. Hagen listete Kriemhild das Geheimnis ab, wo Sigfrid verwundbar war, und ermordete ihn mit Gunthers Hilfe. Kriemhild söhnte sich später mit ihren Brüdern aus, aber nicht mit Hagen (Str. 1115). Dieser hatte selbst zur Versöhnung geraten, damit Sigfrids Hort zu den Burgunden käme (1107). Der H o r t wurde nun geholt. Als Kriemhild anfing, mit ihm Recken zu werben, brachte ihn Hagen in seine Gewalt. Gunther widersprach, duldete es aber doch (1127—32). Hagen versenkte den Hort dann eigenmächtig in den Rhein, während die Könige fern waren (1136f.). Aber, heißt es dann, sie hatten vorher Eide geschworen, daß der Platz geheim bleiben sollte, bis ihrer nur noch einer lebte (1140). Diese Tat Hagens trieb Kriemhilds H a ß auf den Gipfel (1139). Später warb Etzel um Kriemhild. Sie willigte nach langem Weigern ein, als ihr einfiel, das könnte ihr Ersatz geben für den Hort, den ihr Hagen nahm, und vor allem die Macht, an ihm Sigfrids Tod zu rächen (Str. 1259 bis 1263). In der Hoffnung auf diese Rache gewann sie dann Etzel, ihre Brüder zu sich zu laden (1391—1406). Als sie kamen, und Hagen mit ihnen, | verlangte sie von ihm den H o r t zurück, bekam aber als Antwort nur Hohn (1739—44) und versuchte dann, im Rücken Etzels und ihrer Brüder, an ihm Rache zu nehmen, aber umsonst (1763—99). Nun trieb sie zum allgemeinen Kampf gegen die Burgunden, war jedoch noch zum Frieden mit ihren Brüdern bereit, wenn sie nur Hagen herausgaben (2104). Das wurde Kuhn, Kleine Schriften I I

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ihr verweigert (2105—07). Da ließ sie über den Burgunden den Saal anzünden, und der Kampf ging weiter, Stufe um Stufe, bis neben Zehntausenden anderer auch ihre Brüder Gernot und Giselher gefallen lagen und Dietrich von Bern ihr Gunther und Hagen, die letzten Lebenden des burgundischen Heeres, gefangen übergab. Da bot Kriemhild Hagen, ihrem Todfeind, das Leben, wenn er ihr ihren Hort herausgäbe. Er wies auf den Eid, den er geschworen hatte. Da ließ sie Gunther das Haupt abschlagen und trug es selbst vor Hagen. Er aber verweigerte den Hort nun ganz und Kriemhild schlug ihm mit Sigfrids Schwert das Haupt ab (2367—73). Kriemhilds Feind ist im zweiten Teil des Nibelungenliedes Hagen, er allein. Mit den andern war sie versöhnt. Hagen hatte zum Mord an Sigfrid getrieben und ihn ausgeführt und bekannte sich dazu (Str. 993, 1001, 1459 und vor allem 1790f.). Er nahm Kriemhild ihren Hort und versenkte ihn. Auf ihn war ihr Haß gerichtet. Das wird oft gesagt, manchmal voll Leidenschaft (1079, 1765 und 2025). Die ganze Handlung zeigt, daß es um Hagen ging. Er wußte es auch selbst von früh an (1113, 1737f. und 1776). Er wußte, was dadurch seinen Herren drohte. Er warnte, Kriemhild an Etzel zu geben und ihrer Einladung zu folgen (1203—14, 1458—61). Er war immer auf der Hut. Aber er tat auch alles, die Rache neu herauszufordern. Er nahm Kriemhild den Hort, er kränkte und verhöhnte sie bis zur letzten Stunde (1740—46, 1863f. und 2370f.), er blieb gegen den Anstand vor ihr sitzen, mit Sigfrids blankem Schwert auf den Knien (1781—84). Er forderte audi den friedlichen Etzel heraus, verspottete ihn (1811, 1918—20 und 2020—23) und erschlug seinen und Kriemhilds kleinen Sohn vor den Augen der Eltern (1960f.). Hagen ist der Gegenspieler des Epos. Seine Könige stehn tief in seinem Schatten. Der zweite Gegenspieler ist Volker, Hagens Freund, nicht König Gunther. Selbst Hildebrands Gericht an Kriemhild soll Rache nur für Hagen sein (2375). Hagen wird im Nibelungenlied zwar vereinzelt Kriemhilds, Giselhers und Gunthers mâc genannt (Str. 898, 1133 und 1925. Darüber unten S. 91f.), aber er wird immer nur als Gunthers Vasall und Untertan behandelt und auch nur so eingeführt (8f.). Er hat andre Verwandtschaft, zu dem Vater Aldrian den Bruder Dankwart und den Neffen Ortwin. Der Feind, den Kriemhild im deutschen Epos hat, ist keiner ihrer näheren Verwandten. | Es heißt allgemein, im Gegensatz zur ältesten Sage, in der Kriemhild den Tod ihrer Brüder am Gatten rächte, habe sie in der jüngeren deutschen Sage den Tod ihres ersten Gatten an ihren Brüdern gerächt. Das größte Denkmal dieses Sagenzweigs ist das Nibelungenlied. Das Urteil wird zwar von einzelnen Aussagen in ihm gestützt (darüber S. 91), ist aber falsch. Kriemhilds Rache gilt hier Hagen. Wer ihr im Wege stand, starb jedoch auch. Das waren alle die Ritter und Knechte, die mit Gunther gekommen waren, und auch Kriemhilds jüngere Brüder, Gernot und Giselher. Sie wollten lieber sterben als Hagen preisgeben (2105f.). Da konnte die Schwester sie nicht

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retten. So wurden sie Mitopfer ihrer Rache (2103 ir müezets alle engelden, sprach daz Etzelen wîp), aber Kriemhild nahm nicht Rache an ihnen. Ob schuldig oder nicht an Sigfrids Tod, war bei ihnen allen gleichgültig. Der Tod Gunthers, des ältesten Bruders, hat sogar nichts mit dieser Rache zu tun. Gunther starb, weil er der Auslieferung des Horts im Weg zu stehen schien. Der Dichter des Nibelungenlieds und vielleicht auch schon der eine oder andre vor ihm wollte keine Rache an den Brüdern. Ihre Mitschuld an Sigfrids Tod gehörte zum festesten Kern der Sage und konnte wohl nicht geleugnet werden. Aber der Dichter hielt sie im Hintergrund. Daß Gernot und Giselher mitschuldig waren, da sie den Mordplan wußten und ihn doch vor Kriemhild und Sigfrid verschwiegen, wird dem Leser kaum bewußt. Der Dichter schildert es so, als hätten sie immer zur Schwester gehalten, am treusten Giselher, der Jüngste (1047—49, 1078—83, 1132—35 und 1138), und als hätte sie diesen zärtlich geliebt (1393). Ihr Verhältnis zu Gunther, dem Ältesten, ist kühler. Seine Schuld an Sigfrids Tod war .groß. Aber sie söhnte sich doch mit ihm aus. Es heißt, sie habe allen verziehen außer Hagen (1115), aber sonst ist nur von Aussöhnung mit Gunther die Rede (lllOff., vgl. auch 1394). N u r mit ihm schien sie dem Dichter nötig, aber, im Gegensatz zu Hagen, auch möglich. Kriemhild nennt Gunther nie ihren Feind. Es fällt zwischen ihnen auch kein hartes Wort mehr, ja überhaupt kein Wort bis kurz vorm Schluß. Der Dichter hält Gunther weit im Hintergrund und zeigt die Geschwister kaum mehr Angesicht gegen Angesicht. Dies erklärt einen auffallenden Zug in der Schilderung des letzten Versöhnungsversuchs (2087—2107). Da ist zunächst, wie es sich gehört, Gunther der erste Sprecher der Burgunden. Seit aber Kriemhild eingriff, spricht er nicht mehr und überläßt es Gernot, Giselher und Dankwart, ihre Bedingung abzulehnen. Auch an der Weigerung, ihr die Waffen abzugeben, hat Gunther keinen Anteil mehr (unten S. 93). Einmal, als Gefangener, steht Gunther dann doch noch vor Kriemhild und spricht zu ihr, | höflich und kühl (2363). Dies stark abgestufte Verhältnis Kriemhilds zu den vier Genannten, geschwisterliche Liebe zu Giselher und Achtung des Bruders Gernot, Entfremdung gegenüber Gunther und H a ß auf Hagen, durchzieht den zweiten Teil unsres Epos und tritt an manchen Stellen offen hervor (so Str. 1106—08 und 1287—91). Daß dem letzten Dichter, und vielleicht schon einzelnen vor ihm, daran lag, die Feindschaft Kriemhilds zu Hagen zu verschärfen und eindringlich hervorzuheben, die zu ihren Brüdern aber zu verkleinern und zurückzudrängen, soweit es ging, zeigt auf der einen Seite der junge Auftritt Wie er niht gen ir âfstuont, der die beiden großen Feinde so hart gegeneinanderstellt wie sonst keiner (29. Aventüre), auf der andern Seite die Wendung, die Raub und Versenkung des Horts bekommen haben (Str. 1130—40). Da soll Hagen alles allein getan haben, zum Teil gegen den Willen der Könige, zum Teil ohne ihr Wissen, und der Dichter müht sich ab, verständlich zu machen, daß der Vasall das konnte und damit durchkam. Bis er dann den überlieferten und von der Schlußszene des Epos verlangten Zug, daß sich 5*

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die Könige vor der Versenkung des Hortes schwuren, ihn geheim zu halten, solange einer von ihnen lebte, nachholen und ihnen damit volle Mitschuld geben mußte. So wie Gunther, Gernot und Giselher stirbt auch Hagen im Nibelungenlied nicht, weil er Sigfrid erschlug. Er stirbt, weil er Kriemhild die Herausgabe des Hortes verweigert. Kriemhild sagt zu ihm wenige Minuten vorher: Gibst du mir wieder, was du mir genommen hast, dann kommst du noch lebend heim (Str. 2367). Die Handlung des Epos erfährt hier, kurz vorm Schluß, einen scharfen Bruch. Sie steuert bis dahin im wesentlichen auf die Rache an Hagen für den Mord an Sigfrid zu. Um ihretwillen hatte Kriemhild die zweite Ehe angenommen und ihre Brüder einladen lassen. Hagen war deren Vasall, er mußte mit ihnen kommen. Sie aber hielten ihm die Treue. So führte der Weg zu Kriemhilds Feinde über die Leichen ihrer Brüder. Sie ging diesen Weg, durch Ströme Bluts. Das ist die Tragik des Nibelungenlieds. Bis in die letzte Aventüre hinein, bis nur noch Gunther und Hagen stehn und Dietrich eingreift, geht alles den geraden Weg. Das Ende, das er verlangt, ist etwa, daß Kriemhild ihrem Bruder Gunther gegen die Preisgabe Hagens noch einmal Frieden bieten läßt, daß er ablehnt und vor Dietrich fällt, und daß Kriemhild dann endlich an ihrem Todfeind Rache nimmt. Statt dessen der Schluß, der allen bekannt ist. Kriemhild, die Jahrzehnte fast auf nichts sann als auf Hagens Tod, Rache für den Tod Sigfrids, die leidenschaftlich danach begehrte und dafür alles tat, bis zur Opferung ihrer Brüder, versucht jetzt, als dieser Feind gebunden | vor ihr steht, mit ihm zu paktieren, bietet ihm das Leben an und erschlägt ihn erst, als er verweigert, was sie dafür fordert. Diese Schlußszene ist ein Fremdstück im Nibelungenlied. Sie kommt aus der ältesten Sage, als Etzel die burgundischen Könige zu sich lud, um ihren H o r t in die Gewalt zu bekommen, und Kriemhild noch keine Rache suchte für Sigfrids Tod. Da ging es in diesem Teil der Sage allein um den Hort, und diese Szene war ihr Gipfel. So ist es im ältesten Denkmal der Sage, der Atlakvida in der Edda. Ihre Hortforderungsszene (Str. 20—27) stimmt in Einzelheiten mit der Schlußszene unsres Epos überein. Diese hat keinen alten Zug verloren, und es ist audi wenig hinzugekommen, nur Hagens Hinweis auf den Eid (Str. 2368) und sein Tod durch Sigfrids Schwert (2372f.), und selbst der Umfang der Szene ist nicht gewachsen. N u r die Personen haben gewechselt. Kriemhild hat Etzels Stelle bekommen, Gunther und Hagen haben getauscht. Alle Neuerungen in der Hortszene des Epos dienen dazu, sie jüngeren Sagenformen anzupassen. Aber die Anpassung blieb Stückwerk. Es war nicht anders möglich. Seit die Sage im wesentlichen zur Sage von der Rache für Sigfrids Tod geworden war, durfte sie nicht mehr mit der Gipfelszene der alten Hortsage enden. Es ist zwar menschlich, ungleiche Triebkräfte, wie das Verlangen nach Rache für den Gatten und die Rückforderung geraubten

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Eigentums, so zu vermengen, daß wir keine Rechenschaft darüber geben können und uns deshalb auch der Dichter sie nicht schuldig ist. Beides, das in Kriemhilds H a ß zusammenfloß, lag in der Frühzeit auch näher beieinander als jetzt. Was ihr getan war, war beides Unrecht, das Gutmachung heischte und Rache erlaubte. Der Hort machte es ihr dazu leicht, Helfer für die Rache zu gewinnen (Str. 1127—30 und 1271—73). Aber die Sage mußte sich am Schluß für eins der beiden Motive entscheiden. Von der Blutrache gab es keinen Freikauf. Sie verlangte Hagens Vernichtung. Sollte er aber den H o r t herausgeben, dann mußte Kriemhild ihn leben lassen. Die Erhaltung der alten Hortforderungsszene war die Entscheidung für das zweite, den Hort, gegen die Rache für Sigfrids Tod, die im Epos bis dahin herrscht. Der Übergang vom einen zum andern ist schroff, ist aber doch zweifach gemildert. Auch vom Hort wird von früh an erzählt, wenn auch nicht viel, und immer ist Hagen dabei. Er erzählt seine Herkunft (Str. 87—99), er regt an, ihn nach Worms zu holen (1107), vorbereitet durch ein paar Worte lange vorher (774), er raubt und versenkt ihn (1132, 1137) und versucht auch, Kriemhild einen gebliebenen Rest zu nehmen (1271—74). Kriemhild verlangt von ihm den H o r t zurück, sowie die Bur- | gunden bei Etzel ankamen (1739—44). Auf der andern Seite hat das Epos mit dem Schwerte Sigfrids, das Kriemhild an seinen Tod und Hagens Tat erinnert und mit dem sie ihren Feind erschlägt, den im Hauptteil herrschenden Gedanken auch in den fremden Schlußteil gebracht. Aber er ordnet sich ganz dem Hortmotiv unter, so wie vorher dieses der Rache für Sigfrid. Es ist nur eine flüchtige Erinnerung an das, was bis dahin in Kriemhilds Herzen alles überwog, das aber, als sie kurz vorher Hagen das Leben anbot, vergessen schien. Die junge Aventüre Wie er niht gen ir Afstuont, die es sinnfällig betont, daß Kriemhilds Feind nur Hägen ist, bezeugt uns auch, daß ihr Dichter als wesentliche Triebkraft für die Heldin nur das Verlangen nach Radie für den Mord an Sigfrid gelten ließ (Str. 1787—92). Es ist eine Verschiebung der Motive zugunsten der Radie (vgl. Andreas Heusler, Nibelungensage und Nibelungenlied, 3. Ausg. Dortmund 1929, S. 67 und 200). Aber die alte Hortforderungsszene am Schlüsse setzte ihr Halt. Sie tat es durch ihr bloßes Dasein. Diese Hortszene hatte schon die Entlastung der Könige von der Schuld an der Versenkung des Horts verhindert (S. 87). Das aber tat sie noch nicht durch ihr Dasein allein, sondern nur dadurch, daß sie Hagen an den Eid erinnern ließ. Dies ist kein notwendiges Glied der Szene, die Atlakvida hat es nicht. Es kann jedoch, da es die Umwandlung der Sage an einer früheren Stelle böse stört, auch nicht erst auf der jüngsten Stufe hinzugetan sein. Das deutsche Epos hat die Hortforderungsszene nicht nur überhaupt als Schlußauftritt beibehalten, obwohl sie dazu nicht mehr paßte, sondern es scheint ihr sogar alle Einzelzüge gelassen zu haben ohne Rücksicht darauf, ob sie

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sich in den neuen Lauf der Sage einfügten. Die Szene ist wie ein mächtiger Block, der der Weiterentwicklung der Sage den Weg versperrte, den aber niemand zu zerschlagen oder zu verrücken wagte. Nach der alten Atlakvida forderte Gunther, eh er den Hort herausgäbe, Hagens Herz, weil er im Zweifel war, ob dieser der Versuchung nicht nachgab (Str. 26f.). Die Eide werden hier eingesetzt sein, um die Bedingung, daß erst der andere starb, nicht mehr mit Mißtrauen begründen zu müssen. Damit verlor die Handlung ihre Notwendigkeit. Das Mißtrauen zwang, so zu handeln, der Eid aber nicht. Er konnte Hagen, der nun mit Gunther den Platz ¡gewechselt hat, nicht im geringsten hindern, sofort Nein zu sagen, als Kriemhild ihm die Chance gab, sich mit dem Horte freizukaufen. Dann hätte Gunther wohl das Leben behalten. Mit ihm war Kriemhild | versöhnt. Sie hatte ihm früher Schonung geboten, wenn er nur Hagen herausgab. Jetzt stand er der Rache an Hagen nicht mehr im Wege. Dieses Nein Hagens wäre Treue gegen den Herrn gewesen. Mit dem Hinweis auf den Eid riß er auch Gunther ins Verderben. Das wußte er (Str. 2370). Er kann so wohl nur aus demselben Mißtrauen gehandelt haben, aus dem Gunther in der Atlakvida Hagens Tod verlangte. Dies Mißtrauen ist trotz des Eids die einzige volle Erklärung für Hagens Haltung am Schluß des Nibelungenlieds. Wir dürfen aber nicht nach solchen Gründen suchen. Hagen handelt so, weil es so überliefert war. Auch Gunthers Tod hing an diesem Verlauf. Darum mußte der Dichter die Eidesleistung, die seinem Sagenbild arg widerstritt, auch da erwähnen, wo er die Versenkung des Horts erzählt (1140). In der Hortszene der Atlakvida stellt Gunther die Bedingung, daß erst Hagen stirbt (Str. 21). Das ist im deutschen Epos gemildert, Hagen stellt die Bedingung nicht offen, aber es ist nicht beseitigt. Es war nun einmal so. So stirbt der König Gunther im Kerker von einem namenlosen hunnischen Schergen nach dem Willen seines treusten Vasallen einen elenden Tod, während die andern Könige und Helden, Freund und Feind, bis auf Hagen alle in ritterlichem Kampf vor sorgsam ausgesuchten Gegnern fallen. Und Kriemhild läßt, in ähnlich schwerem Mißklang zum Verhältnis zwischen den beiden Geschwistern, wie es im Epos angelegt und bis dahin ohne Bruch gezeichnet ist, ihren Bruder umbringen und trägt selbst sein abgeschlagenes Haupt vor Hagen, damit er weiß, sein Herr ist tot und er des Eides ledig, so daß er nun den Hort herausgeben kann. Nur darum. So läßt Kriemhild ihren Bruder, mit dem sie längst versöhnt ist, sterben, damit ihr Todfeind Hagen, dem die Rache gilt, deretwegen schon zwei ihrer Brüder und andere zu Zehntausenden gefallen sind, den Hort hergeben und so sein Leben retten kann. Bis zu dieser Verkehrung hat das Festhalten der Hortszene am Schluß unsres Epos geführt. D a hatte es besseren Sinn, Gunther und Hagen hätten die Rollen behalten, die sie einstmals hatten. Dann hätte Kriemhild die Chance, sich mit dem Horte loszukaufen, ihrem Bruder gegeben und hätte Hagens Kopf dafür gebracht. Aber der Rollen-

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tausch der beiden lag wahrscheinlich weit zurück. Er gehört, wie die Ersetzung Etzels durch Kriemhild in dieser Szene und vielleicht auch die Belastung Hagens mit dem Mord an Sigfrid, zu den Änderungen, die die beiden Teile der Nibelungensage in Einklang bringen sollten. Aber der Einklang, der erreicht ist, ist äußerlich. Sigfrids Mörder stirbt nun zwar als letzter und durch die H a n d der Rächerin selbst, und er fällt auch durch das Schwert des Gemordeten, aber er fällt nicht wegen dieses Mordes, | sondern noch ebenso wie ehemals Gunther, an dessen Stelle er hier steht, weil er den H o r t nicht hergab. Da die Formel, daß Kriemhild in der oberdeutschen Sage nicht, wie einst, den Tod ihrer Brüder am zweiten Gatten rächt, sondern den Tod des ersten Gatten an ihren Brüdern, fürs Nibelungenlied, das einzige reine Zeugnis dieser Sagenform, nicht stimmt, so ist die Frage, ob es in deren Entwicklung eine Stufe gab, auf der Kriemhild Rache an den Brüdern nahm. Anhalt dafür dürfen wir erwarten im Nibelungenliede selbst, in der nordischen Pidreks saga und im erschließbaren Entwicklungsgang, der von der Sagenform der Atlakvida zu denen der jüngern Denkmäler führt. Am Anfang des Nibelungenlieds steht Kriemhilds Traum, der das Thema sagt. D a wird ihr ein Falke von den Adlern zerrissen (Str. 13). Die Schlußstrophe des Auftritts sagt, daß die Falken ihre nächsten Verwandten waren, die ihr den Mann erschlugen, und daß sie es bitter an ihnen roch (19). Aber diese Strophe ist wahrscheinlich späterer Zusatz (Wilhelm Braune, Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes, Halle 1900, 177, Heusler a. a. O. 256). D a ß Kriemhild Rache nahm an ir nœhsten mâgen, ist vielleicht aus Str. 2086 übernommen. Da wird jedoch hinzugefügt und (anderm) manigem mart, so daß keine eigentliche Rache gemeint ist. Die gab es nur an Schuldigen und ihren Verwandten. Diese Ausdehnung von rechen auf mittelbare Opfer der Rache gibt es auch sonst (so bald darauf in Str. 2112). Der Bearbeiter kann jedoch Str. 19 nach einem Sagenbild gedichtet haben, das er mitbrachte. Aber auch die eigenartigen Strophen 1397 und 1716f., Dietrichs Worte Str. 1901f. und die Blödeis 1905 weisen darauf, daß Kriemhilds Rache gegen Verwandte ging, und nach den Worten des sterbenden Sigfrids waren seine Mörder Verwandte seines Sohnes (995). Ein paar andere Strophen, 916, 1046 und 1925, nennen Gunther so neben Hagen, als ständen die beiden als Mörder Sigfrids und Feinde Kriemhilds gleich. Auch der Bruder, der Str. 1747 neben Hagen genannt wird, muß Gunther sein. D a ß die beiden auch am Schluß des Epos nebeneinander stehn, liegt wohl allein an der Erhaltung .der alten Hortszene, die nicht zur Rachehandlung gehört. Aber sie ist doch mit ihr verknüpft, und daher kommt es dann wohl, daß es hier heißt, Kriemhild habe an den beiden, Gunther und Hagen, Rache genommen (2365f.). Es kommt auch vor, daß Hagen ein Verwandter Kriemhilds oder eines ihrer Brüder genannt wird. Str. 898 sagt sie zu ihm: du bist min mâc, sô bin

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ich der din. Str. 1133 sagt von ihm Giselher: un de war er niht mîn mâc, ez gienge im an den Itp, und 1925 sagt Blödel zu Hagens Bruder Dankwart: | ez täten dîne mage, Gunther und Hagene. Auch nach Str. 1843 scheint Hagen zu den mâgen der Könige gerechnet zu sein. Das Wahrscheinlichste ist, daß das Epos diese Zeugnisse einer andern Sagenform oder auch mehrerer aus ihren Quellen übernommen hat, wie es Ähnliches auch sonst getan hat. Es gibt gute Stützen dafür. Von den hergehörenden Aussagen steht, soweit sie eindeutig sind, nur eine in der unmittelbaren Erzählung des Hergangs (Str. 916). Sonst sind es Stellen, die auf Kommendes vorausweisen (13, 19 und 2086), oder es sind Worte, die diesem oder jenem in den Mund gelegt sind und zum guten Teil auf Geschehenes zurückweisen (898, 995, 1046, 1133, 1747 und 1925). Da konnte leicht eine Notiz von einer früheren Stufe stehen bleiben. Von den Stellen, die solche Angaben bringen, enthalten viele audi andere Kriterien für Herkunft aus einem älteren Werke: 916 Gunther unde Hagene, di recken vile b a i t . . . Es ist der Anfang der Aventüre von Sigfrids Tod, im knappen Liedstil, von Heusler einer älteren Stufe zugesprochen (a. a. O. 260). 1716f. Kriemhilt diu frouwe in ein venster s t u o n t . . . Der Inhalt stimmt so zur Pidreks saga (II 297), daß Heusler das meiste der gemeinsamen Quelle zuspricht, einzelnes sogar der ältesten Sage (S. 277—81). Es klingt erst so, als fühlte Kriemhild zu ihren Verwandten herzliche Liebe, bis es dann durchbricht, daß sie an ihnen Rache will. Ganz ähnlich ist es in Str. 1397, so daß auch diese Stelle eine Grundlage in der Vorstufe haben wird. 1747 Owe miner leide, sprach dô K r i e m h i l t . . . Kriemhilds Klage, daß ihr Bruder und Hagen die Schilde nicht abgeben wollen, stimmt nicht zum Vorausgehenden. Da verweigert es Hagen allein. Außerdem weist das altertümliche Reimwort gewarnôt wenigstens den Schluß der Strophe in eine ältere Schicht (Heusler 292f.). 1925 Jane weiz ich dir der mxre niht mêr ze sagene . . . Hier bezeichnet Blödel Gunther und Hagen als Sigfrids Mörder und auch als Verwandte. Kurz vorher nennt er Hagen allein als den Mörder (1923). Auf die Herkunft der Stelle aus einer älteren Schicht weisen sowohl der klingende Reim (Heusler 133f.) als auch der Gedanke, daß die Rache auch einen Verwandten des Schuldigen treffen darf. Der dicht vorausgehende Einwand Dankwarts, daß er an Sigfrids Tode unschuldig sei, und noch mehr das Gewicht, daß das Epos der Schuldlosigkeit Gemots und Giselhers gibt, beweisen, daß diese alte Sippenhaftung dem letzten Dichter fremd geworden war (vgl. hierzu S. 94). 2086 Zeinen sunenwenden der grôze mort geschach . . . |

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Die Strophe steht am falschen Platz und ist wahrscheinlich ein alter Szeneneingang (Heusler 178). und (andern) manigem man, das die Bedeutung von reeben verschiebt (oben S. 91), ist aber vielleicht eine jüngere Erweiterung. Wie Kriemhild, als Hagen ihr die Abgabe der Waffen verweigert, darüber klagt, daß außer Hagen auch ihr Bruder — das ist Gunther — sie nicht abgeliefert habe (1747), so sagt sie ähnlich nach der Bahrprobe, die nur Hagen als Sigfrids Mörder erwies: Gunther unde Hagene, jâ habet ir ez getan (1046). In beiden Fällen wird Gunther aus Szenen, die ihn als Feind Kriemhilds Hagen gleichstellten, gestrichen sein. In Str. 1392—97 denkt Kriemhild zuerst daran, daß Hagen Sigfrid erschlug. Dann bekommen Hagen und Gunther die Schuld, daß sie einen Heiden heiraten mußte. Das geht doch wohl auch auf diesen Mord. Darauf spricht Kriemhild von Feinden (in der Mehrzahl) und sofort wieder von Hagen allein und zuletzt noch einmal von denen, die ihr Leid taten, im Plural. Daß als Kriemhilds Feind, ähnlich wie hier, Hagen genannt wird und nah dabei eine unbestimmte Mehrzahl von Feinden, geschieht im Nibelungenlied oft. Es fiel mir noch auf in Str. 993f., 1078f., 1459, 1904—09 und 2023—25. Alle angeführten Stellen in unserm Epos widersprechen dem, was es selbst erzählt, oder bezeugen Unklarheit über den Lauf seiner Handlung. Sie gehören wahrscheinlich zu den Überbleibseln und Nachwirkungen älterer Stufen in der Entwicklung der Sage. Sie scheinen als deren Inhalt zu ergeben, daß Hagen mit Gunther und Kriemhild nah verwandt war, daß Gunther als voll mitschuldig an Sigfrids Tode galt und Kriemhild dafür audi an ihm und vielleicht audi ihren andern Brüdern Rache nahm. Die P i d r e k s s a g a , die eine ihrer wichtigsten Quellen mit dem deutschen Epos gemeinsam hat, bestätigt, was die behandelten Stellen in diesem wahrscheinlich machten. Hagen ist auch dort Sigfrids Mörder und Kriemhilds größter Feind, aber er ist ihr und Gunthers Halbbruder, und Gunther hat größere Schuld an Sigfrids Tod, und die Radie dafür ist audi gegen ihn und die andern Brüder gerichtet. Daß Hagen ihr Halbbruder war, wird nur in der Einführung erzählt (Pidreks saga, herausgegeben von Henrik Bertelsen, Kbn. 1905—11, I 319ff.), und gegen das Ende wird noch einmal an den albischen Vater erinnert (II 324). Sonst wird Hagen ganz als Kriemhilds und Gunthers Bruder behandelt und oft so genannt. Dem Erzähler ist da nicht einmal klar, ob er einen andern Vater hatte oder eine andre Mutter (II 282f.). Worum es hier im zweiten Teil der Sage geht, sagt Kriem- | hild deutlich, als sie Dietrich um Hilfe angeht: at ek hemna mins ens mesta harms, par er drepinn var Sigurdr sveinn. Ek vil nú pess hemna á Hçgna ok Gunnari ok adrum peira brœdrum (II 303). Rache für Sigfrids Tod an Hagen, Gunther und ihren andern Brüdern.

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In wenigstens zwei Fällen gehn Überbleibsel älterer Sagenformen im Nibelungenlied vor die Quelle zurück, die es mit der Saga gemeinsam hat. Die Abgabe der Waffen, die nach Nibl. Str. 1747 einmal auch von Gunther abgelehnt gewesen sein muß (oben S. 93), wird in beiden Werken nur von Hagen verweigert (Nibl. 1745f., Pidr. saga II 304f.). Die Stellen müssen aus derselben Quelle kommen (Heusler a. a. O. 290f.). Gunther wurde also schon da hinter Hagen zurückgedrängt. Das ist auch an anderm erkennbar. So zeigen die nah verwandten Stellen Nibl. 2025 und Pidr. saga II 320, daß Kriemhild schon in der Quelle vor allem Hagens Leben wollte. Das alte Recht, daß die Rache außer dem Täter oder an seiner Statt auch seine näheren Verwandten treffen durfte, ist audi dem Nibelungenteil der Saga fremd. Hagen versucht da, Giselher mit dem Hinweis zu retten, daß er an Sigfrids Morde unschuldig sei, und Giselher fügt selbst hinzu, er sei damals ein kleines Kind gewesen (II 323). Mit demselben Grunde versucht es im Epos Dankwart (Str. 1924). Die Antwort, die ihm Blödel gibt: ez täten dîne mage, Gunther und Hagene (1925), setzt die Sippenhaftung voraus und ist darum wohl älter als die gemeinsame Quelle. Dankwart war aber in dieser offenbar nodi nicht da. Er gehört zu neuen Verwandten, die die deutsche Sage Hagen gab, und fehlt in der Saga. Blödel wird seine Worte darum einmal einem andern gesagt haben, und der kann wohl nur Giselher gewesen sein, wie in der Saga (und auch im färöischen Högna táttur). Wir gewinnen so ein Stück eines alten Auftritts zurück, in dem sich Giselher auf seine Unschuld an Sigfrids Tod berief und man ihm seine Mithaftung entgegenhielt. Das ez täten dîne mage, Gunther und Hagene, das ihm entgegnet wird, ist die einzige Stelle unsres Epos, die Gunther und Hagen als Sigfrids Mörder und zugleich als Verwandte bezeichnet, und ist darum besonders wertvoll. Epos und Saga weichen in vielem weit voneinander ab. Die Hortsage und ihr Verhältnis zu Kriemhilds Rache ist im nordischen Denkmal ganz anders als im deutschen. Beiden Werken gemeinsam ist da im zweiten Sagenteil nur Kriemhilds erste Rückforderung des Horts und Hagens Weigerung (Nibl. 1739—44, Pidr. saga II 298f.). Diese Szene stammt aus der gemeinsamen Quelle (Heusler a. a. O. 290f.). In der Saga ist es Kriemhild sonst allein um die Rache für den Mord an Sigfrid zu tun. Sie versucht jedoch, Etzel mit dem Hinweis auf die lockende Beute zur Hilfe zu ge- | winnen (vgl. unten). Sigfrids Hort war nach der Saga nicht versenkt. Er ist zwar in Hagens Gewalt, liegt aber noch im Sigfridkeller (Sigisfroâ kiallari, II 326). Der Saga fehlt auch die letzte große Hortszene. Durch deren Aufgabe hat sich dieser Sagenzweig den Weg freigemacht, die Rachesage ungestört zu Ende zu führen, hat es jedoch audi nicht getan. Hagen lebt länger als Kriemhild. Er zeugt, eh er stirbt, einen Sohn Aldrian und überliefert ihm das Geheimnis des Horts (II 326). Der lodu später Etzel in die Schatzhöhle und läßt ihn da seiner Hortgier wegen umkommen, zur Rache für den Tod der Nibelungen (II 369—74).

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Dies Ende setzt voraus, daß Etzel seine Gäste ihres Hortes wegen umgebracht hat, so wie er es im alten Atlilied tat. In der Pidreks saga tut er das aber nicht. Da greift er gegen seine Schwäger erst ein, als ihm Hagen seinen Sohn erschlägt (II 309). Der Hort wird da nicht erwähnt und auch im folgenden nicht, bis der zum Tod verwundete Hagen den Schlüssel zu ihm der Mutter seines Sohnes gibt (II 326). Die Nibelungen fallen in der Saga, weil sie Sigfrid und nun Etzels Sohn erschlagen haben, aber keiner des Hortes wegen. So stören sich auch in der Saga Hort- und Rachehandlung, aber nicht, wie anscheinend im deutschen Epos, weil Neuerungen nicht folgerecht durchgeführt sind, sondern vielmehr, weil ganz verschiedene Sagenformen gemischt sind. Die eine läßt Etzel den Verrat an den Schwägern des Hortes wegen, die andere ist die hochdeutsche Sage, in der Kriemhild ohne Etzels Willen ihren H o r t zurückverlangt. Diese Sagenform hat in der Saga die Hortforderung Kriemhilds beigesteuert, die nicht zu jener paßt (oben S. 87f.), hat aber wohl auch die Schuld daran, daß der eine Strang, Etzels Hortgier, eine lange Strecke unterbrochen und Etzels Anteil am Verrat, der daraus folgt, fast ausgetilgt ist. Der Bruch ist deutlich. Etzel scheint auf Kriemhilds Lockung, gegen gleiche Teilung der Beute ihre Brüder herzuladen, zuerst einzugehen. Dann aber sagt er Nein, er will seinen Schwägern die Freundschaft halten, stellt Kriemhild jedoch frei, sie einzuladen, und will für gute Bewirtung sorgen (II 279f.). So schiebt er den Verrat auf Kriemhild ab. Er scheint dann zunächst so unbeteiligt wie im Nibelungenlied, lehnt audi ein zweites Hilfsgesuch Kriemhilds, nun gegen den gesamten Hort, entschieden ab und verbietet ihr, ihren Brüdern ein Leid zu tun (II 304). Erst als dann Hagen, von Kriemhild herausgefordert, der beiden Sohn erschlägt, stellt sich Etzel auf die Seite seiner Frau und übernimmt den Kampf gegen ihre Brüder (II 308f.). Da Aldrians Rache voraussetzt, daß Etzel diesen Kampf aus Goldgier führte, so hat Kriemhild, um seine Hilfe zu gewinnen, in dieser Form der Sage kein Kind zu opfern brauchen. Audi | dies Opfer stammt aus der gemeinsamen Quelle des Epos und der Saga. In ihr hatte es eine wichtige Funktion. Jede der drei alten Darstellungen vom Untergang der Burgunden, Atlakvida, Pidreks saga und Nibelungenlied, hat ein andres Verhältnis von Hort- und Rachesage. In der Atlakvida ist es einfach und wohl ursprünglich: Die Könige sterben ihres Hortes wegen und ihre Schwester nimmt dafür Rache. In der Saga gehen Hort- und Rachehandlung nebeneinander her, da Kriemhild jetzt an den Hortbesitzern Rache für den Mord an Sigfrid nimmt. Etzels Hortgier und Kriemhilds Rachewillen führen nun zusammen zur Vernichtung der Burgunden. Im Nibelungenlied ist die Rache dieselbe wie in der Saga, aber auch die Forderung nach dem Hort ist auf Kriemhild, als seine Eigentümerin, übertragen. Die zwei Motivreihen konnten noch auf andere Art verbunden werden, und viele Mischungen und Übergänge waren möglich. Es ist keineswegs

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sicher, daß die Sagenform unsres Epos durch die einfache Umkehrung entstand, mit der gemeinhin gerechnet wird, und nodi viel weniger, daß alles mit einem Schlag geschah. Dies zweite lehrt Heusler. Er Schloß es daraus, daß viele, wichtige Neuerungen im oberdeutschen Sagenzweig von einer Stelle her, dem besseren Bilde Etzels in den Dietrichsagen, erklärt werden können (Nibelungensage und Nibelungenlied 3 66f.). Dieser Schluß hängt mit Heuslers Drang zusammen, mit möglichst wenig Stufen in der Entwicklung der Sagen auszukommen. Wir können aber auch im günstigsten Falle nur die Mindestzahl der Stufen bestimmen und nicht ihre Zahl. Jedes der spärlichen Denkmäler unserer Sagen, abgesehen vielleicht von kurzen Notizen, bezeugt eine andere Stufe oder einen anderen Strang der Entwicklung, oft sogar mehrere. Wenn wir wüßten, was wir nicht wissen können: daß kein Denkmal verlorenging, ohne eine sichere Spur zu hinterlassen, nur dann dürften wir schließen, daß es nicht mehr Stufen gab, als wir nachweisen können. Viele verlorene Denkmäler können Wichtiges zur Umformung der Sage getan haben, ohne daß wir es von den Beiträgen anderer scheiden können. Zusammenhängende Neuerungen müssen durchaus nicht das Werk desselben Mannes sein. Man pflegte damals Folgerungen nur Schritt um Schritt zu ziehen. Ich zweifle auch, daß da jemand wagte, eine Sage, die er für wahr nahm und die vielen vertraut war, von Grund auf umzuformen, und daß sich solches durchsetzen konnte. Wo wir in die Fortbildung von Sagen Einblick haben, geht es langsam. Eine der wichtigsten Folgen aus der Umwandlung der Nibelungensage, die Verschmelzung der beiden Sagenteile, hat nach Heusler etwa 350 Jahre warten lassen (a. a. O. 68, vgl. 108). | Anderes, das zu diesem großen Bündel gehört, ist selbst im Nibelungenlied noch Stückwerk, und manche Reste älterer Stufen sind in ihm stehen geblieben. Di« Hortgier ist hier in Kriemhilds Motiven noch im Rückzug vor der Gattenrache, an die die Herrschaft hatte fallen müssen, herrscht aber am Schlüsse wieder allein und wirft die Handlung schroff in die älteste Bahn zurück (oben S. 87f.). Audi der Mann, der die Fassung C* des Nibelungenlieds schrieb, hat noch Widersprüche beseitigt (Heusler a. a. O. 105 und 213f.). Auch da ist die Umwandlung der Sage, die von der anderen Vorstellung von Etzel ausgegangen scheint, nicht folgerecht vollendet. Wie weit sie im ersten Kopf, der darangegangen ist, gekommen war, ist dunkel. Dafür, daß unsere Sage nur allmählich umgewandelt ist, spricht noch besonders die Erhaltung der Hortszene am Schluß. Hätte ein Dichter oder Erzähler die Sage gleich so tiefgreifend und folgerecht umgestaltet, wie Heusler glaubt, dann hätte er diese Szene, die der Rache für Sigfrids Tod, dem Kern der neuen Sage, den Weg versperrt, wohl ebenso gestrichen wie den ganzen noch folgenden Sagenteil. Geschah aber die Umformung Schritt um Schritt, dann ist es verständlicher, daß diese Szene, nur etwas angepaßt, erhalten blieb. Bei der Hortsage ist eine langsame Wandlung leicht vorstellbar. Etzel handelt zuerst aus Goldgier, dann weil der H o r t seiner Frau gehöirt, sodann

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auf ihr Anstiften. Dann handelt sie selbst mit seiner Hilfe und schließlich stiftet sie es ohne diese und gegen seinen Willen an. So konnte der Verrat Stufe um Stufe vom Schwager auf die Schwester übergehen. Bei der Rachehandlung ist es schwerer. Von der Bruderrache am Gatten zur Gattenrache an den Brüdern gibt es keinen einfachen Weg. Hier hat vielleicht eine Neuerung vermittelt, die schwer zu erklären ist, Hagens nachgeborener Sohn Aldrian und seine Radie an Etzel. Er nahm Kriemhild ihre alte Rache ab. Sie konnte diese noch behalten, auch wenn Etzel ihretwegen von seinen Schwägern den Hort verlangte und diese, als sie ihn verweigerten, erschlug. In der Gisla saga verrät Pórdís eine Bluttat ihres Bruders Gisli an ihren Gatten und versucht dann des Bruders Tod, zu dem es führt, zu rächen. Als jedoch in Kriemhild der Wille wuchs, an ihren Brüdern Sigfrids Tod zu rächen, da konnte sie für diese Brüder nicht mehr an Etzel Rache üben. Da kann sie diese Rache an Aldrian übergeben haben, Stück um Stück, bis sie selbst ganz frei davon war, so daß ihre Rache an den Brüdern voll entwickelt und zum neuen Kern der Saga ausgebildet werden konnte. Die Geschichte von Hagens Sohn steht in der Pidreks saga. Als Kriemhilds Miträcher an Etzel erwähnt ihn das junge Atlilied der Edda (Atlamál I 88f. und 91). Das Nibelungenlied hat keine Spur von ihm. Aber seine Vorstufen können diese Rache an Etzel doch einmal enthalten haben. Es ist jedenfalls leicht zu erklären, daß sie verloren ging. Hagens Sohn hatte Recht und Pflidit zur Rache an Etzel auch dann, wenn der Verrat an Gunther und Hagen gegen dessen Willen ging, ja selbst wenn dieser nie mehr eingriff. Nach germanischem Recht und Brauch war Etzel für das, was seine Frau tat, verantwortlich. Dies kann den Obertritt zum Christentum lange überlebt haben. Aber im Hochmittelalter war es anders geworden. Pidreks saga und Nibelungenlied lassen Kriemhild für das, was sie tat, in Stücke hauen. Da hat sie die Verantwortung selbst übernehmen müssen. Etzel ist frei von ihr. Er hat in der Saga noch seine eigne Schuld, die Rache fordert, im deutschen Epos aber nicht mehr. Hier war an ihm nichts mehr zu rächen. Zu diesem inhaltlichen Grund, die Rache an Etzel fallen zu lassen, kommen noch wichtige künstlerische und ethische hinzu. Diese Rache, die, als Kriemhild sie vollzag, ein zweiter, dem ersten ebenbürtiger Teil der Sage vom Untergang der Burgunden war, ist in der Pidreks saga, wo sie Hagens nachgeborener Sohn vollzieht, nur noch ein schwaches Nachspiel, das die großartige Szene am Schluß des Nibelungenlieds um ihre Wirkung bringen würde. Das Epos ist dazu das Lied von Kriemhild. Es mußte mit ihrem Tode schließen, oder aber, wenn es die gab, mit einer Rache für sie, durfte aber nicht in eine Rache auslaufen, die sie wenig anging. Hagens Sohn wird erst in die Sage gekommen sein, als sie in die Pflege der unteren Stände geraten war und sich dem angepaßt hatte. Wie der tödlich verwundete Hagen sich eine Frau ausbittet und zeugt mit ihr den Sohn

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und wie dieser den alten Etzel beim Hort verhungern läßt, das ist deren Geist. Auch der oberdeutsche Sagenzweig ist durch diese Niederung gegangen. Das Nibelungenlied enthält manche Spur davon. Brünhild verweigert sich Gunther in der Brautnacht und hängt ihn an den Nagel (Str. 635—37). Sigfrid verbläut seine Frau, weil sie geschwatzt hat (894). Kriemhild wird in Stücke gehauen (2377). Dies ist das Gröbste, das geblieben ist. Im allgemeinen hat das Epos diese Zwischenstufe überwunden und das hohe Ethos der alten Heldendichtung zurückgewonnen. Die Geschichte vom wunderlich zustande gekommenen Aldrian und seiner Kleineleuterache an Etzel, wie sie die Saga erzählt, mußte dem Dichter des Nibelungenlieds oder schon seinen Vorgängern läppisch erscheinen. Wichtiger als der Wechsel vom Heiden- zum Christentum war es, scheint mir, für die Entwicklung der Heldensagen, daß sie Jahrhunderte unter Menschen lebten, die sich in Kunst und Ethik mit Geringerem zufrieden I gaben als vorher und nachher und es lieber hatten, wenn die Handlung bunt war und oft und grob drauflos geschlagen wurde und wenn auch Spaß dabei war. Der unchristliche harte Geist der alten Heldensagen war, das beweist das Nibelungenlied, dem hohen Mittelalter noch nicht fremd geworden. Die christliche Ethik verdrängte, was ihr feind war, nur langsam und nur zum kleinen Teil. Wäre es anders gewesen, dann hätte es wohl keine Rache Kriemhilds gegeben, weder am Gatten noch an den Brüdern. Denn König Gunther und seine Geschwister sind wahrscheinlich selbst schon Christen gewesen, und ebenso die Gesellschaft, in der ihre Sage heranwuchs. Das hatte auf deren Ethos so wenig Einfluß, daß es meist vergessen wird. In Pidreks saga und Nibelungenlied ist aber doch manches verändert. Da muß nun jeder selbst und allein einstehen für seine Taten. Der Mann haftet nicht mehr für seine Frau und audi nicht für seine Verwandten. Neu, unserm Altertum vollkommen fremd, ist auch die Strafe im Dienst eines höheren Redits, wie sie Hildebrand im Epos an Kriemhild vollzieht (Str. 2375f.). Auch die Wandlungen der Rache Kriemhilds hängen mehr mit dem Sinken und Neuaufstieg der Heldensage zusammen als mit dem Glaubenswechsel. Die Sippe ist im Mittelalter zwar weithin zersetzt, aber hauptsächlich durch die Entwicklung von Staat und Stadt und nur mittelbar unterm Einfluß der Kirche. Es ist auch nicht richtig, dem Zerfall der Sippe Mitschuld daran zu geben, daß aus der Rache am Gatten die Rache an den Brüdern wurde, wie es viel geschah und Hermann Schneider es festhält (Germanische Heldensage I, 1928, S. 199). Was zerfiel, war nur der Zusammenhalt des äußeren Sippenkreises. Der enge Kreis, die Familie und mit ihr das Verhältnis der Geschwister, litt nicht darunter. Es ist auch zweifelhaft, ob die Kirche die Heiligkeit der Ehe im früheren Mittelalter so weit durchsetzte, daß Blutrache am Gatten ein Frevel schien. Die Spielleute hätten sich daran wohl doch nicht gestoßen. Die günstigere Vorstellung von Etzel, die in den Sagen von Dietrich bestand, kann jedoch allein auch nicht zur ersten Umwandlung

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der Rache Kriemhilds, von der Bruder- zur Gattenrache, geführt haben. Dazu war nötig, daß die Sagenpflege in die untere Volksschicht sank. In den Denkmälern, die noch nicht hiervon getroffen sind, kommt es wohl vor, daß Frauen in der ersten Leidenschaft gleich nach der Tat ihre Brüder verfluchen, die ihnen den Mann ermordeten, so in der Edda Gudrun im alten Sigurdlied (Brot Str. 15) und Sigrun in der zweiten Helgakvida Hundingsbana (Str. 31ff.), aber es gibt keine überlegte Radie dafür nach vielen Jahren. Auch in der isländischen Saga, die fast dieselbe Ethik hat wie die alten Heldenlieder, gibt es keine | Rache an Brüdern. Aber die Bauern und Bürger, denen dann die Spielleute die Heldensagen brachten, duldeten es, daß es in der Burgundensage, als Etzel entlastet wurde, in die eiskalte Rache Kriemhilds an ihren Brüdern auslief, die vor nichts zurückschrak. Sie ließen ja noch viel Ärgeres durch. Der christlichen Lehre kam die Sage damit um keinen Fuß näher (vgl. Heusler a. a. O. 59f.). Als dann aber der Dichter des Nibelungenlieds oder einer, der ihm Vorarbeit tat, die Sage wieder auf ihre einstige Höhe hob und ausstieß oder eindämmte, was das feinere oder neu verfeinerte Gewissen des Adels verletzte, .da wurde audi die Radie an den Brüdern wieder beseitigt. In der ältesten Sage rührt Sigfrid Brünhild, als er sie für Gunther gewonnen hat, nicht an (Brot 18f.). Die spätere Sage ließ ihn das tun, sogar auf Gunthers Wunsch, wenn es nur nicht ruchbar wurde (Pidr. saga I I 41f.). Das Epos hob dies wieder auf (Str. 665ff.). So wie sein Dichter hiermit zur Ethik des germanischen Adels zurückkehrte (vgl. Heusler a. a. O. 185f.), so tat er es auch mit der Beseitigung der Rache an den Brüdern, wie auch mit manchem andern. Ob er dabei genau so empfand wie die Sänger 600 Jahre vor ihm, ist zweifelhaft. Er hätte wohl wenigstens andere Gründe genannt. Das Christentum hat seinen Einfluß gehabt, den meisten allerdings wohl nur mittelbar, durch seinen Anteil an der Entwicklung des gesellschaftlichen Bodens. Den hatte es aber nicht nur bei diesem neuen Aufstieg der Heldensage, sondern ebenso vorher bei ihrem Niedergang, als sie von den Adelshöfen in die Dörfer wich. Den unmittelbaren Einfluß der christlichen Ethik auf die Entwicklung der Sagen schätze idi nicht groß. Sittliche Lehren sind leicht übernommen, werden aber, wenn sie zum Charakter des Volkes oder seiner Reife nicht stimmen, wohl von allem, das übernommen wird, am schwersten wirksam. Die Ethik des deutschen Adels war in der Blütezeit des Mittelalters, das zeigt das Nibelungenlied mit der Wahl des Stoffes und der Herstellung des alten Geistes, der ihm verloren war, der Ethik seiner heidnischen Ahnen noch nah verwandt. Was große Dichter gestalten, mag dem widerstreiten, was gelehrt wird, aber es pflegt ein so wahres Zeugnis der wirkenden Kräfte zu sein wie das, was geschieht. Was aber neu ist in der Ethik des Nibelungenlieds, war wohl in uns angelegt und wurde vielleicht vom Christentum nur geweckt und entwickelt.

BRÜNHILDS UND KRIEMHILDS TOD [Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 82, 1948/50, S. 191—199]

Dieser Artikel versucht zu klären, welche Sagenzweige den unnatürlichen Tod Brünhilds und Kriemhilds enthalten haben und in welcher Form, insbesondere, wie alt diese Motive sind und warum die Frauen so sterben mußten. Andreas Heusler glaubte, daß beide Frauen sich schon nach der ältesten Sage selbst das Leben nahmen (Nibelungensage und Nibelungenlied, 3. Aufl. Dortmund 1929, S. 13, 16, 47 und 51). Diese Meinung scheint jetzt vorzuherrschen. Daß sie richtig ist, ist jedoch durchaus nicht sicher und in Brünhilds Falle sogar ganz unwahrscheinlich. Den Selbstmord Brünhilds meldet kein deutsches Denkmal und auch das älteste nordische, das Brot af SigurSarkviSu, nicht. N u r die jüngeren nordischen Quellen, SigurSarkviSa in skamma (Str. 47ff.), Snorra Edda (I 364) und Vçlsunga saga (Kap. 31) berichten ihn. Sie stimmen in den Einzelheiten so überein, daß ihr enger Zusammenhang sicher ist. Es ist ein einzelner junger Sagenzweig. Brünhild stößt sich da das Schwert in den Leib und wird mit Sigurd zusammen verbrannt. Diese gemeinsame Verbrennung, nach dem Lied und der Sage auf Brünhilds eigenen Wunsch, ist symbolisch: die beiden, denen im Leben die Vereinigung versagt war, sollten wenigstens im Tod vereint sein. Brünhild hat Sigurd erschlagen lassen und folgt ihm nach. Hiermit ist der Selbstmord schon genug begründet. Nach der Sagenform des Liedes, das diesen Tod zuerst bezeugt, hat Brünhild außerdem auch etwas zu sühnen gehabt. Sie hatte den Mord an Sigurd angestiftet nicht um an ihm Rache zu nehmen — das Lied erzählt nichts, das an ihm zu rächen war —, sondern allein aus Eifersucht. Das war eine Tat gegen Recht und Sitte. Für sie konnte wohl Sühne erwartet werden. Es ist aber noch ein drittes da, das wohl wichtiger war: Brünhild hatte sich durch die Ermordung des Geliebten ihr eigenes Leben zerstört. So wird ihr Selbstmord aus der jungen Sagenform der SigurSarkviSa in skamma dreifach erklärt. Im Bruchstück des älteren Sigurdliedes (Brot), das der Urform der Sage viel näher stehen muß, ist die Lage von Grund auf anders. Hier erfährt Brünhild, daß Gunnar und Sigurd sie betrogen haben, und nimmt dafür an ihnen beiden Rache. Sie behauptet, Sigurd sei an Gunnar eidbrüchig geworden, und fordert deshalb seinen Tod. Gunnar glaubt ihr und meint, er sei nun der Sigurd geleisteten Eide ledig, und so läßt er ihn morden. Dann

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aber eröffnet Brünhild, daß sie gelogen hat: Sigurd hat seinen Eid gehalten. Also ist auch Gunnar noch an ihn gebunden gewesen. Nun ist er es, der eidbrüchig geworden ist. Der Eidbruch aber zog den sicheren Tod des Täters nach sich. Das war Wesen und Sinn des Eides. Strophe 5 und 16 des Liedes sprechen es eindeutig aus. Wir wissen nicht, wieviel von diesem älteren Lied verloren ist und was im fehlenden ersten Teil gestanden hat. Alle Behauptung, es zu wissen, steht auf unsichrem Grunde. Aber im erhaltenen Teil wird das genannte Thema so klar und folgerichtig bezeugt, daß an ihm kein Zweifel sein kann. Trotzdem hat man es immer wieder verkannt. Einerseits weil man, zum Teil im Anschluß an die Kompilation der Vçlsunga saga, zum Teil im Glauben, vermeintliche Lücken einzelner Denkmäler aus andern füllen zu müssen, die weitverschiedenen Sagenformen mischte, anderseits weil man dem Eid, obwohl seine alte Bedeutung gut bekannt war, dennoch die ganz andre Bedeutung gab, die er beim modernen Vernunftmenschen hat, das heißt eine fast rein sittliche oder auch gar keine. Man verband mit dem Eidbruchmotiv des Brots die Notiz des jüngeren Lieds, Guthorm sei deshalb als Mörder Sigurds gewählt, weil er außerhalb der Eidgenossenschaft geblieben war (Str. 20). Aber eins schließt das andere aus. Im Brot glaubt Gunnar, durch Sigurds Eidbruch von allen Eidespflichten frei geworden zu sein. Da hat er es nicht nötig, die Eide zu umgehen. Ja er darf es auch nicht tun, denn es kommt ja gerade darauf an, daß er sie bricht (vgl. W. Mohr, Dichtung und Volkstum 1942, 105f.). Umgekehrt sagt die SigurSarkviSa in skamma, die die Umgehung bezeugt, folgerichtig Gunnar keinen Eidbruch nach. Der Eid hat zur Religion gehört, zum Zauber, aber nicht zur Ethik. Wer einen Eid brach, wurde von der angerufenen Macht vernichtet. Ob er sittlich entlastet werden konnte, war den Mächten gleichgültig. Daß Gunnar seine Eide unwissentlich bradi, da er sie für erledigt hielt durch den erlogenen Eidbruch Sigurds, hat ihm nichts genützt. Selbst nach der Sitte würde ihn die Unwissenheit wenig entlastet haben, so wie sie Atli nicht von der furchtbaren Schuld befreit hat, daß er die Herzen seiner Söhne aß. Auf der andern Seite ist die Umgehung des Eides, mochte sie noch so unsauber sein, kein Eidbruch gewesen und hat den Täter nicht der Vernichtung ausgeliefert. Sonst hätte es keinen Sinn gehabt, diesen Weg zu versuchen. Das Eidesproblem gehört ganz und gar zu den realen Gesichtspunkten des Mordrats und nicht, wie Schneider glaubt (Germanische Heldensage I, 1928, S. 179), zu den ideellen. Dies ist ein großes Mißverständnis. Die Frauen mußten, um ihren Willen durchzusetzen, meist andere Waffen brauchen als die Männer. Die Waffe, mit der Brünhild Gunnar vernichtet, ist die Verleitung zum Eidbruch. Sie war so wirksam wie jedes andere Mittel. Ob die Wirkung gleich oder | später kam, war Nebensache. Rache hatte Zeit. Eine Rache aber war es. Brünhild war betrogen, nicht nur von Sigurd, sondern auch von Gunnar. Die Sitte gab ihr das Recht zur Radie Kuhn, Kleine Schriften I I

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in jeder Form. Ob die Rache sie mit dem Gesetz oder auch sittlichen Forderungen geringem Ranges — hier der Ehrlichkeit — in Widerstreit brachte, ist dem Heldenlied gleichgültig gewesen und darf darum auch uns gleichgültig sein. Die Rache war das oberste aller Gebote. Brünhild hatte auch gegen ihren Gatten Gunnar keine Pflichten, die ihr die Rache verboten. Sie tat, was ihr Recht war. Sie hat damit ihr Leben nicht verwirkt, hat es auch, da Liebe kaum im Spiele war, nicht zerstört, und sie hatte nichts zu sühnen, ebensowenig wie in der Saga Hallgerd, als sie ihren ersten Mann einer Ohrfeige wegen erschlagen ließ (Niais saga Kap. 11). Da nun das Brot nichts sagt vom Selbstmord Brünhilds und auch die deutschen Denkmäler keine Spur davon enthalten, so besteht kein Recht, dies Ende aus dem jüngeren Lied ins ältere zu übertragen. Von den drei Gründen für den Selbstmord, die im jüngeren Liede vorhanden oder wenigstens möglich sind, Vereinigung mit Sigurd im Tode, Zerstörung des eigenen Lebens durch die Ermordung des Geliebten und Sühne, ist im älteren Liede keiner da, und auch kein anderer Grund. Das Ende des Brots, Brünhilds Hinweis auf das vergiftete Schwert zwischen Sigurd und ihr, ist unanfechtbar. Es schließt den Teil der Rache, der noch unvollendet ist, in sich: Sigurd war treu, aber du, Gunnar, warst untreu und eidbrüchig, und das wird dein Tod. Das leitende Motiv der SigurSarkviSa in skamma, mit dem der Selbstmord Brünhilds eng zusammenhängt, die Eifersucht, taucht audi im Brot (Str. 3) und im Nibelungenlied auf (Str. 618. Vgl. Heusler a. a. O. S. 188— 191) und scheint darum sehr alt zu sein. Aber es ist nur ein unentfalteter Keim oder aber ein blindes Motiv, das aus einem Seitensproß der Sage in den Hauptzweig eingedrungen ist. Von einem solchen Seitentrieb kann die SigurSarkviSa in skamma gekommen sein. Daß das Eifersuchtsmotiv sowohl im Brot als im Nibelungenlied anklingt, beweist kein hohes Alter, denn das Brot gehört nicht zur ältesten Schicht der eddischen Heldenlieder und kann Motive übernommen haben, die vielleicht erst im 10. Jahrhundert in Deutschland entwickelt sind. Es scheint mir bedenklich, Brünhilds Selbstmord deshalb einer frühen Schicht oder gar der Urschicht zuzusprechen. Bei Kriemhild — im Norden Gudrun — steht die Sache anders. Ein Zweiig der Sage, Pidreks saga und Nibelungenlied, erzählt, daß sie erschlagen wurde, ein anderer, Atlamál, GuSriinarhvpt, Snorra Edda und Vçlsunga saga, daß sie versuchte, sich das Leben zu nehmen, aber gerettet wurde. Auch dem Dichter der SigurS- I arkviSa in skamma ist dies Ende bekannt gewesen (Str. 62). Es sind auf beiden Saiten nur junge Denkmäler. Der mißglückte Selbstmordversuch ist merkwürdig, aber leicht erklärt: Gudrun war die Heldin auch der Hamdirsage geworden (HamSismál und GuSrúnarhvQt), und diese war in die Zeit nach dem Untergang der Burgunden eingeordnet. Gudrun durfte also nicht sterben. Eh diese Sagenverknüpfung kam, muß ihr der Selbstmord aber wohl geglückt sein. Dies ist eine überzeugende Erklärung und scheint allgemein angenommen zu sein (so auch Schneider a. a. O.

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S. 385). Ich bin jedoch darüber hinaus zur Überzeugung gekommen, daß das älteste Denkmal, die AtlakviSa, mit diesem Selbstmord endet. Gudrun ersticht Atli, zündet den Saal an und läßt alle verbrennen, die drinnen sind, Männer und Frauen. Dann schließt das Lied mit dem Preise dessen, was Gudrun getan hat, „ehe sie starb". Das heißt doch wohl, daß auch sie in den Flammen umgekommen ist. Es ist ein Ende, wie es nach der Vçlsunga saga auch die Wölsungin Signy gefunden hat, und die Lage ist ähnlich. Beide Frauen haben an ihrem Gatten Rache genommen und dafür die eigenen Kinder geopfert. In der AtlakviSa mag die offene Nennung des Feuertods unterdrückt worden sein, als man ihn der Hamdirsage wegen zum mißglückten Selbstmordversuch verminderte. Es scheint hiernach sicher zu sein, daß der unnatürliche Tod KriemhildGudruns der Sage von früh an angehört hat und der Selbstmord im Norden und die Erschlagung im Süden aus derselben Wurzel gewachsen sind. Dennoch ist ein schweres Bedenken da. Wenn die Sage vom Untergang der Burgunden von früh an mit dem Tode Kriemhilds Schloß, wie hat die Heldin dann in eine weitere Sage einrücken können? Mir scheint das nur möglich, entweder wenn diese Sage zunächst vor jener eingereiht wurde, die Kriemhilds Tod erzählte, oder aber wenn die zuletzt genannte Sage dort nicht bekannt war, wo die Übernahme der Frau in die Hamdirsage geschah. In diesem zweiten Falle müßte Kriemhild (Gudrun) allein aus dem Sagenteil von Sigfrids (Sigurds) Tod herübergeholt worden sein. Beides ist unwahrscheinlich. Vor allem aber widerspricht beidem der Inhalt der zwei Lieder der Hamdirsage. Beide behandeln den Tod der Burgunden als vorausgegangen (Ghv. 5, 12 und 17, Hm. 8 und 10). Da die Forschung den Hang hat, alle Sagenverknüpfung für so jung zu halten, wie es nur angeht, so würde die Verbindung von Nibelungenund Hamdirsage wohl für eine späte nordische Neuerung erklärt werden, wenn sie nicht Bragi Boddason — in der Bezeichnung Giúka niSiar „Gjukis Nachkommen" für Hamdir und Sörli — für die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts bezeugte. Sie gehört damit zum Ältesten, was uns im Norden aus der Heldensage überhaupt bekannt ist. Aus demselben Zeitraum muß aber | auch die Grundlage der erhaltenen HamSismál stammen. Die Verknüpfung mit der Nibelungensage ist darin kein leichter Anflug. Sie gehört zum Kern ihrer Aufreizungsszene. Diese Szene, in der jüngeren GuSrunarhvçt viel weniger zerrüttet als in den HamSismál, enthält ebenso sichere Spuren einer westgermanischen Vorstufe wie die übrigen Teile der HamSismál und die andern eddischen Heldenlieder der ältesten Schicht. Ich habe dies in einem Aufsatz über Heldensage vor und außerhalb der Dichtung, der in einer Festschrift für Felix Genzmer erscheinen soll, kurz erörtert und wiederhole hier nur das wichtigste Argument. Es ist dáS Hçgna „Hagens Tat" (Ghv. 4 und Hm. 6). Altn. dáS bezeichnet allgemein nur ehrenvolle Taten. Hagens Tat aber ist der Mord an Sigurd und wird hier als Freveltat erwähnt. Dies ist der neutrale westgermanische Gebrauch des Wortes. Daß dieser Mord 6*

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Hagens Tat war, ist zudem die deutsche, dem Norden sonst unbekannte Sagenform. Die Anknüpfung der Sage von Hamdir an die Nibelungensagen ist deshalb sidier nicht erst spät und auf nordischem Boden geschehen. Wir müssen also damit rechnen, daß es in Deutschland spätestens wohl zu Karls des Großen Zeit eine Form der Burgundensage gegeben hat, die Kriemhild am Leben ließ. Es ist die älteste Form des Ausgangs dieser Sage, die wir mit größerer Wahrscheinlichkeit erschließen können. Daneben kann es aber auch die andre Fassung gegeben haben, die den Tod der Heldin durch eigne oder fremde Hand enthielt, und dies kann auch die älteste Form gewesen sein. Drang sie in ein Gebiet ein, in dem man Kriemhild auch als Heldin der Hamdirsage kannte, oder aber umgekehrt, dann muß es leicht zum Kompromiß des mißglückten Selbstmordversuchs gekommen sein. Da die Anfügung der Sage von Hamdir an die von den Nibelungen in Deutschland geschehen sein muß, liegt es nahe, den freiwilligen Tod Kriemhilds-Gudruns am Schluß der zweiten Sage, der diese Verknüpfung ausschließt, für die Neuerung eines nordischen Dichters zu halten. Der freiwillige Tod im Feuer ist der nordischen Sage wohlvertraut, ja er scheint da in der Frühzeit als die einzige heldische Form dieses Todes gegolten zu haben. Außer Gudrun und der wölsungischen Signy hat auch die Signy der dänischen Hagbardsage diesen Tod gewählt, und ebenso die Könige Haki und Ingjald illradi in Schweden (Heimskr. Yxigl. saga Kap. 23 und 40). Audi Brünhild, die sich erstach, wollte nachher mit Sigurd zusammen verbrannt werden. Außerhalb des Nordens scheint es dagegen keine Spur vom Selbstmord eines Sagenhelden zu geben. Ermanrich hat nach der ältesten Quelle seinem Leben selbst ein Ende gemacht, aber die Sage hat das unterdrückt. Dabei kann christlicher Einfluß im Spiel gewesen sein. Gegen die nordische Herkunft des | Todes Kriemhilds im brennenden Saale spricht jedoch, daß auch das Nibelungenlied den Saalbrand hat. Die Erklärung des Widerspruchs zwischen AtlakviSa und HamSismál, was den Tod der Heldin angeht, wird auch dadurch erschwert, daß die zwei Lieder sonst in manchem verwandt sind und nicht in sehr verschiedenen Zeiten in den Norden gelangt sein können. Ich sehe darum wenig Möglichkeit, in dieser Frage weiterzukommen. Die Sagenvergleichung läßt es, soweit ich sehe, auch unentscheidbar, ob Kriemhild, wenn sie schon starb, durch eigne oder fremde Hand gestorben ist. Hier aber bringt uns die Sittengeschichte weiter, die von der Sagenforschung noch zu wenig herangezogen ist. Sie scheidet die eine Möglichkeit, den Tod der Frau durch fremde Hand, für die ältesten Stufen mit der größten Sicherheit aus. Der alten Heldensage war die Tötung von Frauen fremd, wie ebenso noch der klassischen Saga Islands. Das Recht hat sie in einzelnen Fällen ehrlosen Handelns erlaubt, aber diese Fälle lagen tief unter der Sphäre des Heldenlieds. Es pflegte sich außerdem um das Recht nicht zu kümmern. Welche Blutschuld auch Frauen auf sich luden, Heldenlied und gute Saga duldeten nicht, daß sie angetastet wurden. Das entsprach gewiß

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der Sitte der adligen Gesellschaft. Die Rache hat, wie im allgemeinen ja selbst die Strafe des Gerichts, auch für das, was Frauen taten, nur die Männer treffen können. Sich selbst das Leben zu nehmen, hat aber auch den Frauen freigestanden. Dies hat sich später unter christlichem Einfluß umgekehrt. Die Kirche verdammte den Selbstmord wie jeden gemeinen Mord, duldete oder forderte aber Strafvollzug an Frauen in viel größerem Umfang, als es ihn vorher gab. Wir kommen hier an die Stellen, an denen das Christentum, soweit ich sehe, den größten Einfluß auf die alten Sagen gehabt hat. Von Einflüssen daher ist in ihnen im allgemeinen wenig zu spüren, aber hier reichen sie tief. Es sind dabei jedoch, wie wohl überall, wo es ähnlich steht, auch starke andre Faktoren im Spiel. Im Mittelalter hat jedermann die Verantwortung für das, was er tat, vor Gott und Menschen selber tragen müssen, und er allein. Die Mithaftung der Gesippen für die Taten des Mannes verschwand, so weit die Blutrache reichte — die aber hat noch lange bestanden —, und ebenso verschwand die strafrechtliche Haftung des Mannes für Vergehen seiner Frau. Für alles, was Sühne verlangte, und das war nun viel mehr als früher, mußten die Frauen jetzt ebenso einstehn wie die Männer (vgl. hierzu Festschrift für Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, Tübingen 1948, S. 98ff. [hier 77ff.]). Es ist aber zweifelhaft, ob der Selbstmord im germanischen Altertum eine Sühne im späteren Sinne sein konnte. Auch Kriemhild-Gudrun und die wölsungische Signy, deren freiwilligen | Tod es am nächsten liegt als Sühnetod zu verstehen, haben trotz der Ermordung ihrer eigenen Kinder wenig zu sühnen gehabt. Alles, was sie taten, geschah um Rache willen und war dadurch gerechtfertigt. Aber sie hatten ihr Dasein zerstört und hatten nun nichts mehr, wofür sie leben konnten. Es kann auch sein, daß man in der Frühzeit der Frau, wenn es so kam, wohl die Rache am Gatten erlaubte, dann aber erwartete, daß sie mit ihm starb. Bei Brünhild in der SigurSarkviSa in skamma kann es anders sein, da sie allein aus Eifersucht gehandelt hat, aber das ist schon in einer späteren Zeit, in der im Norden Altes und Junges manchmal wunderlich gemischt ist, und außerdem hat sie da ausreichend andere Gründe für den Selbstmord (vgl. oben). Dort jedoch, wo die Umwertung wenig gestört wurde, ist Selbstmord als Sühne vollkommen unmöglich geworden. Er hätte nur eine neue schwere Schuld zu der alten gefügt. Da man nun im Mittelalter wachsend eine Sühne für Kriemhilds Blutschuld forderte, konnte es deshalb, wenn es ihr Tod sein sollte, nur der Tod durch die Hand eines andern sein. Diesen Tod stirbt Kriemhild in PiÖreks saga und Nibelungenlied. In der Saga erschlägt sie Dietrich von Bern, im Liede tut es Hildebrand. Als Hagen sich weigert, den H o r t zu verraten, da schlägt Kriemhild ihm mit Sigfrids Schwert das Haupt ab, Hildebrand aber erschlägt die Königin zur Sühne für diese letzte Tat (Str. 2367—76).

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Hildebrand sagt hier: iedoch so wil ich rechen des küenen Troniares tôt (2375). Aber mhd. rechen hat eine weite Bedeutung haben können. Den Tod eines Feindes rächen, an der eigenen Königin, das war nicht möglich. Es war keine Rache, sondern ein Strafgericht, und dies nicht im Auftrag des Königs, wie in der PiSreks saga, aber dennoch mit seiner Duldung. Es geschah im Dienste eines höheren Rechts oder vielleicht Gottes. Nur darum war es gleichgültig, ob der Vollstrecker Freund oder Feind war, Herr oder Dienstmann, ob er einen menschlichen Auftrag hatte oder nicht. Dies Gericht ist eine reine Schöpfung des christlichen Hochmittelalters, dem germanischen Altertum vom Grunde fremd. D a hat kein König es zulassen und hinnehmen dürfen, daß einer seiner Mannen oder Gäste ihm vor den Augen seine Frau erschlug, zur Rache obendrein für den Tod eines Feindes. Das ist in jeder Hinsicht unvorstellbar. Kriemhilds Erschlagung ist also im Nibelungenlied mit tiefgehenden Umwertungen verknüpft. Ähnlich steht es aber auch in der PiSreks saga. Sie ist zwar jünger als unser Lied, hält aber im allgemeinen eine ältere Sagenstufe fest, so daß wir sie dennoch als erstes Zeugnis für die Erschlagung Kriemhilds rechnen dürfen. | Der Hergang ist hier wesentlich anders. Es ist nicht nur eine etwas ältere, sondern auch eine viel niedrigere Stufe. Kriemhild stößt ihrem gefallenen Bruder Gernot ein brennendes Scheit in den Mund, um zu sehen, ob er tot ist, und sie bringt Giselher, in dem noch Leben war, mit diesem Scheite um. Darauf erschlägt Dietrich sie auf Etzels Geheiß, um dieser Grausamkeit willen und weil so viele andre durch ihre Schuld ums Leben gekommen sind (Kap. 392). Es ist ein roher Auftritt und ein sehr menschliches Strafgericht. Es ist die Stufe, auf die die alten Sagen herabgesunken waren, als ihre Pflege bei Spielleuten niederen Standes lag und sie zur Unterhaltung von Bürgern und Bauern dienten, für die sie nicht geschaffen waren. Diese Leute haben sich an wenig gestoßen, und ihnen ist nie zuviel Blut geflossen. Sie wußten nur nodi wenig von der alten Heiligkeit der Frau, und es wird ihnen recht gewesen sein, daß auch Kriemhild daran glauben mußte. Sie hatte es ja vielfach verdient. Auf derselben Stufe steht die Erschlagung Hergards und Gerlinds durch den tobenden Wate im Kudrunlied. Den alten Heldensagen war derartiges ebenso fremd wie dem neu geläuterten Ethos des Nibelungenlieds. Es ist darum sehr wohl möglich, daß der Totschlag an Kriemhild wie ebenso an Hergard und Gerlind auf dieser tiefsten uns bekannten Stufe in der Geschichte der Heldensagen erfunden ist, ohne ihren Selbstmord als Vorbild zu haben und ohne anderen Sinn als den, daß möglichst alles umkam und Kriemhild die abschreckende Strafe erhielt, die das Rechtsgefühl des kleinen Bürgers verlangte. Der Dichter des Nibelungenlieds, oder schon ein Vorgänger, hat dies dann, wie die meisten Vergröberungen dieser Schicht, zum Teil wieder beseitigt, zum Teil gemildert oder in eine andere Richtung gelenkt. Beseitigt ist die Rache an den Brüdern, die dem Adel des Mittelalters ebenso anstößig

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war wie dem der Frühzeit (sieh Festschrift Schneider-Kluckhohn S. 99f. [78f.]). Geblieben ist, daß Kriemhild ihren Hauptfeind selbst erschlägt — das stammt jedoch wahrscheinlich schon von der Urstufe her. Aber es geschieht nicht mehr so roh wie in der Saga. Kriemhild ist dennoch die Teufelin geblieben. Auch ihre Erschlagung blieb erhalten, bekam jedoch einen neuen, der Höhe des Werkes angemessenen Sinn. Das ist durch die leichte Änderung geschehn, daß Hildebrand, der jetzt die Waffe führt, nicht mehr in Etzels oder eines andern Menschen Auftrag handelt. Es ist jedoch noch etwas weiteres geändert. In der Saga war Kriemhilds Erschlagung die Sühne für den Tod aller, die da umgekommen waren. Hildebrand aber nennt sein Strafgericht nur Rache für Hagen. Er nennt nicht einmal König Gunther mit, den Bruder, den Kriemhild, kurz eh sie Hagen erschlug, hatte enthaupten lassen, einzig weil sie glaubte, Hagen würde ihr dann den | Hort verraten. Es kann kaum sein, daß Hagen hier nur darum allein genannt ist, weil er Kriemhilds einziger wirklicher Feind geworden oder weil er gerade im letzten Augenblick gefallen war. Wir dürfen den Dichter des Nibelungenlieds an solchen Stellen wörtlicher nehmen. Es bleibt dann wohl nur übrig, daß nach seiner Meinung Kriemhild ihr Leben nur mit der Tat der eigenen Hände verwirkt hat. Das war der Totschlag an Hagen. Der Dichter ist dann auch hier zu germanischem Rechtsempfinden zurüdegekehrt. Stellen wir von hier aus noch einmal die Frage, seit wann der Tod Brünhilds und Kriemhilds als Sühne für ihre Taten verlangt sein kann, dann ist die Antwort für Brünhild: nie, für Kriemhild dagegen: von Anfang an. Da ihre Tat aber eine vollberechtigte Rache war und sie als Frau in der germanischen Zeit auch ohne das von der Verantwortung für Bluttaten frei gewesen ist, so ist dies bedeutungslos. Es bleibt für die Frühzeit nur, daß ein Sagenzweig wahrscheinlich Kriemhild in den Tod gehn ließ, weil alles vernichtet war, was ihrem Leben Inhalt und Sinn gegeben hatte, und vielleicht auch, weil es in der heroischen Schicht die Forderung gab, daß die Rächerin dem erschlagenen Gatten nachfolgte. Zum Gericht an ihr in den Quellen des Hochmittelalters ist von da ein weiter Weg, und der Zusammenhang ist zweifelhaft.

DAS EDDASTÜCK VON SIGURDS JUGEND [Miscellanea Académica Berolinensia II 1, Berlin 1950, S. 30—46]

Die germanischen Heldensagen sind von sehr verschiedener Art. Einige sind primitiv, erzählen Heldentaten im landläufigsten Sinne, Draufgehn und Dreinhaun, so wie es jeder Junge begreifen kann, auch wenn es hier und da nicht mit rechten Dingen zugeht. Ein andrer Teil der Sagen verlangt ganz andere Hörer, reife Menschen, denen Körperkraft und Waffentat der Helden Nebensache und ihre Tapferkeit selbstverständlich ist, die das Heldentum vielmehr im Überwinden und Opfern erkennen. Jene Sagen sollen unterhalten, diese erschüttern. Viele, wohl die meisten Sagen und Sagenformen stehen zwischen diesen Extremen. Die ältesten erhaltenen Heldenlieder gehören zumeist zur zweiten, wertvolleren Gruppe — Hildebrandslied, altes Atlilied und Hamdirlied, dazu das im Beowulf nacherzählte Hengestlied und das nur halb und in verjüngter Form erhaltene alte Sigurdlied —. Die übrigen Lieder dieser Schicht — Wölund- und Hunnenschlachtlied — stehn auf Zwischenstufen, jedoch mit starker Hinneigung zur genannten zweiten Gruppe. Sie versuchen, es deren Liedern gleichzutun und ihren Fabeln einen Schwerpunkt im Sittlichen und Tragischen zu geben. Sagen von bloßen Kriegstaten und Abenteuern dürfen mancherlei erzählen, das wenig zusammengehört und dessen Reihenfolge gleichgültig ist. J e mehr und bunter die Taten und Erlebnisse sind, um so besser ist es da. Die Sagen vom andern Flügel dagegen, die mit Recht klassisch genannten, sind hierin empfindlich. Sie fordern überlegten Aufbau und widersetzen sich Szenen, die sich dem gewählten sittlichen Thema nicht einordnen lassen. Darum pflegen sich die Sagen dieser Gruppe von den Abenteuersagen zugleich auch durch einen strengeren Aufbau abzuheben. So sind diese Sagen den primitiveren durchweg nicht nur sittlich, sondern auch künstlerisch sehr überlegen und drücken sie tief in den Schatten. Die andern werden deshalb leicht vergessen und kommen in den neueren Darstellungen und Erörterungen immer wieder zu kurz. So sagt Andreas Heusler in seiner Altgermanischen Dichtung zwar, daß es zwei Hauptarten von Fabeln gibt, heroische Abenteuer und menschliche Verwicklungen (§ 129), aber er beschreibt | die Sagen sowohl dicht vorher als auch im nächsten Paragraphen so, als gebe es allein die zweite Art. Die Erinnerung an die heroischen Abenteuer taucht nur eben auf und ist schnell verflogen. Ähnlich ist es in der jüngsten Zeit unseren meisten Forschern ergangen.

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Da nun obendrein die Fabeln gerade der ältesten bekannten Heldenlieder menschliche Verwicklungen behandeln und meist mit großer Kunst gebaut sind, so ist es dahin gekommen, daß die Lehre aufkam und sich durchsetzte, die germanischen Heldensagen selbst seien nur Liedfabeln, sie seien in Liedern geschaffen und hätten lange Zeit nur in ihnen gelebt. Diese These ging von A. Heusler aus. Ihr starrster Verfechter ist Hermann Schneider geworden. Es ist offenkundig, daß Heusler, als er diese These schuf, allein von den klassischen Heldenliedern — oder von den Sagen oder Sagenformen, die in solchen Liedern durchgebildet waren, — ausgegangen ist, ebenso wie er es in der erwähnten Beschreibung der Sagen tat, und daß er dabei ebenso wenig wie dort an die andern, geringeren, primitiveren Sagen gedacht hat. Denn diese sind durchweg keine Kunstwerke, weder nach Inhalt noch Bau, und es ist schwer verständlich, warum man Lieder fordert, um ihr Dasein zu erklären. Nachdem Wolfgang Mohr schon darauf hingewiesen hatte, daß Heuslers Lehre eingeschränkt werden muß (PBBeitr. 64, 217—19), habe ich in einem Aufsatz, den ich, im Anschluß an ein Wort Heuslers, Heldensage vor und außerhalb der Dichtung nenne und der für eine Festschrift zur Ehrung Felix Genzmers bestimmt ist, versucht, die Unhaltbarkeit dieser Lehre darzulegen [hier 102ίϊ.]. Inzwischen ist auch Felix Genzmer von den nordischen Überlieferungsformen aus gegen sie angegangen (Festschrift für Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, Tüb. 1948, 1—31). Eines meiner Argumente ist, daß keine Abenteuersage in einem alten Liede überliefert ist, so daß es sogar fraglich scheint, ob es in der Frühzeit Sitte war, diese Sagen in Lieder zu bringen. Hier nun ist es mein Ziel, darzutun, daß die sogenannten Lieder von Sigurds, das ist Sigfrids Jugend in der Edda, Reginsmál, Fáfnismál und Sigrdrífumál, keine alten Lieder sind und daß solche ihnen auch schwerlich zugrunde gelegen haben. Einige wertvolle, aber leicht übersehene Bemerkungen zu diesen Fragen hat W. Mohr in der Kritik der Sigfridtrilogie Dietrichs von Kralik gebracht (Dichtung und Volkstum 42, 108—10). Die Sagen von Jung Sigfrid sind die bekanntesten echten Abenteuersagen, und die Eddastücke von ihnen werden gern als alte Lieder solcher Sagen angeführt. Reginsmál, Fáfnismál und Sigrdrífumál sind ein Gemisch von Prosastücken I und Strophengruppen. In diesen sind wiederum die beiden Hauptversmaße der eddischen Dichtung gemischt, der LióSaháttr, das gnomische Versmaß oder der Spruchton, und das FornyrSislag, das epische Langzeilenmaß. Sämtliche 108 Strophen des Komplexes sind Redestrophen, die nicht erzählen, sondern Menschen und andere Wesen sprechen lassen. Annähernd die Hälfte von ihnen hat darüber hinaus nichts mit der Sage zu tun, sondern gehört zu Spruch- und Runenweisheit, Mythen, Mantik und ähnlichem. Auch in den übrigen Strophen wird die Handlung nur wenig vorangeführt.

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Dies geschieht vielmehr fast allein in den 20 kurzen oder längeren Prosastücken, die die Strophengruppen einleiten und verbinden. Der ganze behandelte Komplex hat in der Handschrift keine andere Untergliederung als diese. Die Einteilung in Reginsmál, Fáfnismál und Sigr.drífumál, mitsamt diesen Namen, ist jünger. Da es aber große Strophenhaufen sind und man es für selbstverständlich hielt, daß zu Sage Lieder gehören, so wurden diese Stücke ohne Bedenken als Lieder oder aber Teile von Liedern hingenommen. Die Mischung der Versmaße schien zu beweisen, daß mindestens zwei Lieder beteiligt sind. Die schwierige Frage, ob und wie etwa weiter gesondert werden muß, hat am gründlichsten Heusler erörtert (Altnordische Dichtung und Prosa von Jung Sigurd, Sitzungsberichte der Preuß. Akademie 1919, neugedruckt in Heuslers Kleinen Schriften S. 26—64). Sein Ergebnis war, daß in Reginsmál und Fáfnismál zwei Lieder vermischt sind, ein Lied vom Drachenhort im LióSaháttr und eins von Sigurds Vaterrache im FornyrSislag. In den Sigrdrífumál sah er ein drittes Lied, das „Erweckungslied". Diese Aufteilung scheint im wesentlichen anerkannt zu sein, dodi sind auch ¡andere Lösungen versucht. Um die viele Prosa in dem behandelten Stück zu erklären, hilft man sich damit, daß man eine SigurSar saga als Zwischenstufe annimmt, eine kurze Fornaldarsaga von Sigurd, die Teile der Lieder übernommen und die andern in Prosa aufgelöst hätte, so wie es besonders in einem Teil der Hervarar saga geschehen ist. Statt mich weiter mit den Gedankengängen Heuslers und anderer auseinanderzusetzen, scheint es mir richtiger, von den überlieferten Texten auszugehn. Das „Hortlied", das Heusler aus den LióSaháttr-Teilen von Reginsmál und Fáfnismál zusammenstellte, umfaßt 51 Strophen, und auch .nach dem Abzug der Strophengruppen fremden Inhalts bleiben es noch 39. Das kommt schon einem mittelgroßen Eddalied nahe. Aber zwischen mehreren dieser Strophen- | gruppen klaffen breite Lücken, die, wenn sie mit Redestrophen ausgefüllt werden sollten, wie es der LióSaháttr verlangt, bei ähnlichem Tempo den Umfang des Lieds auf ein Mehrfaches oder Vielfaches steigern würden, und zwar auch dann, wenn Teile der Handlung vielleicht nur in vorausweisender oder rückblickender Rede genannt wären. Ein dialogisches Lied solchen Umfangs und auch solche Zeiträume überspannend, wie es hier nötig ist, wäre ohnegleichen. Setzen wir aber mehrere Lieder an, so bekommen wir die nicht bezeugte und auch mit gutem Recht bestrittene Aufteilung eines einheitlichen Stoffes auf mehrere Lieder, die jedes für sich nur Stückwerk wären. Daß Erzählungen aus der Heldensage durch die Auflösung von Liedern oder Liedteilen entstanden sind, so wie man es von der „SigurSar saga" annimmt, ist nur in wenigen Fällen sicher. Es ist vor allem die Vçlsunga saga, umgeschrieben aus dem großen Kodex der Eddalieder mit der Übernahme

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einzelner Strophen und Strophengruppen, und dazu ein Teil der Hervarar saga, in dem das alte Lied von der Hunnenschlacht wiedergegeben ist, Strophen und Prosa gemischt. In beiden Werken ist die Liedgrundlage der Prosa ziemlich leicht zu erkennen. Unter der Prosa der „SigurSar saga" verrät sie sich dagegen nirgends. Auf der andern Seite verraten sich die Strophen der Hervarar saga, soweit sie zum Lied von der Hunnenschlacht gehören, deutlich als Fragmente eines zerschlagenen Liedes, während das sogenannte Hortlied das durchaus nicht tut. Es steht mit ihm, wie schon erwähnt, im Gegenteil so, daß es schwierig ist, die lange Szenenreihe der Hortgeschichte in einem Lied von der Art der erhaltenen Strophen unterzubringen. Es ist deshalb viel wahrscheinlicher, daß die Strophengruppen des „Hortlieds" als Einlagen in eine Erzählung gedichtet und nicht Trümmer eines Liedes sind, das die ganze Hortgeschichte enthielt. Auch in den echten Fornaldarsagas ist es gemeinhin so, daß ihre Strophen und Gedichte jünger sind als die Erzählung, obwohl gewiß viele von ihnen älter sind als die Form der Saga, die uns erhalten ist. Dies Letzte gilt selbstverständlich auch vom Verhältnis zwischen „SigurSar saga" und „Hortlied". Wie weit die Sagas wiederum einmal verschollene Heldenlieder ersetzt haben, ist eine andere Frage. Nun können Strophen und Liedern, auch wenn sie als Einlagen in eine Prosaerzählung gedichtet sind, trotzdem ältere Lieder zugrunde gelegen haben. So steht es mit „Hildibrands Sterbelied" in der Ásmundar saga kappabana. Es ist ein junger und kurzer Klagemonolog, in dem dennoch eine Verwandtschaft mit dem alten deutschen Hildebrandslied erkennbar ist (Str. 4 inn svasi som „der liebe Sohn" = Hild. 53 suäsat chind). Im „Hortlied" aber ist es anders. Während alle | übrigen nordischen Heldenlieder, deren Sagen aus dem Süden gekommen sind, alte wie junge, bis hin zu Gripisspá, Atlamál und Hildibrands Sterbelied, deutliche Spuren westgermanischer Vorgänger enthalten, die ältesten in dichter Folge, die jüngeren abnehmend (vgl. Kuhn, PBBeitr. 57, 1—109; 60, 431—44; 63, 1/8—236 [s. Bd. I, 18—103; 124—134; 485—527]), finde ich im „Hortlied" nichts davon. Es steht vollkommen abseits. Nun ist es allerdings so, daß bei der Überführung in den LióSaháttr und seinen Stil sehr viel von den fremden Merkmalen verschwinden mußte, besonders alle metrischen, aber auch viel von dem, was zu Wortstellung und Betonung gehörte. Es ist aber noch genug andres übrig, das bleiben konnte, vor allem die fremden Formeln und Vokabeln — wie etwa svelta „sterben", ein oft mit Sigurd verknüpftes Wort südgermanischer Herkunft (vgl. PBBeitr. 63, 208 [Bd. I, 506f.]) —, und außerdem ist es gerade die Wahl des andern Versmaßes, die am stärksten dagegen spricht, daß das „Hortlied" alte Heldendichtung ist oder sie fortsetzt. Der LióSaháttr ist vor allem das Versmaß der Zauber-, Spruch- und Merkdichtung und weiterhin der dialogischen Götter- und Streitdichtung. Er ist fast nie erzählend gebraucht, ist deshalb für die epische Dichtung ungeeignet und in der Heldendichtung selten und sekundär. Außer den hier behandelten Stücken kommt er im Gebiet der Heldensage nur noch in den

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Scheltszenen der Helgilieder und der Fornaldarsagas und ein paar vereinzelten, wohl verirrten Strophen vor, hinter denen wohl niemand alte Heldenlieder suchen wird. Sonst hat alles, was zur Heldendichtung gehört, alte und junge Lieder der Edda und Stropheneinlagen der Fomaldarsagas, das epische Versmaß. Die großen LióSaháttr-Stücke der Jungsigurddichtung sind deshalb Kuriosa, um so mehr, als ihre Sagen aus Deutschland gekommen sind und es dort außerhalb der formlosen Kleindichtung überhaupt nur das epische Langzeilenmaß gegeben hat. Daß Dichter alte epische Lieder vom jungen Sigurd in Redelieder im gnomischen Versmaß umgewandelt hätten, obwohl ihr Szenenreichtum auf solche Weise kaum bewältigt werden konnte, und daß sie dabei die Spuren der alten Fassung völlig verwischt hätten — während die nordischen Dichter sonst offenbar Wert darauf legten, den fremden Schimmer der Lieder zu erhalten und auch auf ihre neuen Lieder zu übertragen —, und daß dann dieser unzulängliche Ersatz die alten Lieder, die da waren, gänzlich verdrängt hätte, das zu glauben scheint mir eine zu große Zumutung. Der LióSaháttr verweist die Strophengruppen vom Drachenhort vielmehr auf die Seite der übrigen Dichtung im selben Versmaß. Sie hängen denn auch I mit deren beiden Hauptgruppen nicht nur durchs Metrum zusammen, und zwar mit Spruch-, Wissens- und Zauberdichtung dadurch, daß sie allerlei Stücke von ihr aufgenommen haben, mit den dialogischen Götterliedern aber dadurch, daß auch sie dialogisch sind und unter den Göttern beginnen. Darüber hinaus haben diese Drachenhortstrophen einige Ausdrücke aus der Götterdichtung übernommen. Es sind Rm. 2 í árdaga „in Urtagen", sonst nur, 12mal, in Götterliedern, Fm. 7,17 und 30 vreiSr „zornig", formelhaft, und mit Erhaltung des früh geschwundenen v- vor r, verbunden mit vega „kämpfen", sonst nur Ls. 15, 18 und 27 und in der Spruchstrophe Sd. 27, Fm. 24 sigtiva synir „Söhne der Sieggötter", ebenso Grm. 45, Ls. 1 und 2, Fm. 29 inn aldni içtunn „der alte Riese", ebenso Háv. 104, Grm. 50 und Skm. 25, Fm. 38 inn hrîmkaldi içtunn „der reifkalte Riese", ebs. Vm. 21 (vgl. Ls. 49 und 50 inn hrîmkaldi mçgr). Dies ist wenig, aber seine Herkunft wird noch eindeutiger dadurch, daß diese Ausdrücke in den Götterliedern durchweg sachlich begründet stehn, während sie das im „Hortlied" nicht tun, sondern das Erzählte viel weiter in den Bezirk der Götter und Riesen hineinschieben und damit von der übrigen Heldendichtung trennen, als gerechtfertigt scheint. Der „reifkalte Riese" ist in den Vaff>rú5nismál der Urriese Ymir, auf ihn paßt beides, aber in Fm. 38 ist es Regin, der nach der einleitenden Prosa an Wuchs ein Zwerg war und auf den das Beiwort höchstens in der übertragenen Bedeutung „feindselig, unheilbringend" paßt, die kaldr manchmal hat. Der, der da in

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Fm. 29 der alte Riese (inn aldni içtunn) genannt wird, ist Fáfnir, der Drache. Aldinn ist gewöhnlich etwas, das seit grauer Vorzeit besteht — Götter und Riesen, das Meer und der Weltbaum —. Auf diese Art werden beide Brüder, die Sigurd erschlägt, Regin und Fáfnir, unter die Riesen der Urzeit versetzt. Ähnliches geschieht aber auch mit dem Zwerg Andvari, da er sagt, in den Urtagen (í árdaga) sei ihm verhängt, im Wasser zu waten. Selbst die Menschen werden aus ihrer Sphäre herausgehoben. In den Götterliedern sind es die Götter, die sigtiva synir heißen, in Fm. 24 aber die Menschen. Auch die Menschenkinder, die nach Rm. 4 VaSgelmir waten, sind ins Jenseits gerückt, denn VaÖgelmir kann, nach der Bildung des Namens, nur ein mythisches Wasser sein (vgl. das mythische Quellwasser Hvergelmir). Der VaSgelmirSatz erscheint außerdem unmotiviert, erinnert aber an einige Stellen in der Götterdichtung (Vsp. 39 und Grm. 21). | Das Vorbild des sogenannten Hortlieds sind also offenkundig Götterlieder gewesen und nicht Heldenlieder. Mit der Götterdichtung war nun aber verquickt die Zauber-, Spruch- und andere Kleindichtung. Es ist deshalb verständlich, daß die Jungsigurddichtung allerlei von dieser aufgenommen hat. Es sind dies das Strophenpaar Rm. 3—4 von der Strafe für Zank — in dem VaSgelmir genannt ist —, die Vorzeichenstrophen Rm. 19—25, die mythologischen Merkstrophen Fm. 12—15, die gnomischen Strophengruppen Fm. 30—31 und Sd. 22—37, die hymnischen Strophen Sd. 3—4 und der Runenstrophenhaufen Sd. 6—19. Viel davon kann leicht herausgelöst werden, aber einiges ist doch so eingebaut, inhaltlich, sprachlich oder metrisch (Anfang oder Ende inmitten einer Strophe), daß man es nicht leichthin als späteren Anwuchs abtun darf. D a sind Rm. 3—4 und Fm. 12—15 mit der Anrede an Andvari und Fáfnir, in Fm. 6 eine halbe Strophe Spruchweisheit verbunden mit einer zum Dialog gehörenden Halbstrophe und der Hymnus Sd. 3—4 mit dem Dual, den der Zusammenhang der Sage fordert. Anderes mag dann später von solchen Teilen nachgezogen sein (vgl. hierzu unten S. 44). D a nun in einen Text nicht leicht etwas Fremdes eindringt, das nicht als verwandt empfunden wird, so bezeugen diese Teile in der Dichtung von Sigurds Jugend, ganz gleich wie alt sie sind, Beziehungen auch des Kernes dieser Dichtung zur Sprudidichtuiig, so wie die entlehnten Wörter Einfluß der Götterdichtung beweisen. Zu der übrigen Heldendichtung aber führt kein sichtbarer Faden. Von dem Stück, das jetzt Sigrdrífumál genannt wird, bleiben, wenn die handlungsfremden Stücke Runen- und Spruchdichtung abgezogen werden, so wenig Strophen übrig, und diese sind so ungleichartig, daß sie auf keine Weise ein altes Erweckungslied bezeugen können (vgl. H . Schneider, Germ. Heldensage I 147). Die Erweckungs s a g e kann es trotzdem gegeben haben. Außer den Strophengruppen im gnomischen Versmaß enthält das Stück von Sigurds Jugendtaten in der Edda noch gut 20 Strophen im epischen

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Langzeilenmaß. Aber auch sie sind allesamt Redestrophen. Die meisten gehören zu zwei Gruppen, die eine hat es mit Sigurds Vaterrache zu tun (Rm. 13—18 und 26), in der andern erteilen Meisen Rat an ihn (Fm. 32—33, 35—36 und 40—44). Der Rest sind vereinzelte Strophen sehr verschiedenen Inhalts unid wohl auch Ursprungs (Rm. 5 , 1 1 und 23, Sd. 1 und 5 und eine Halbstrophe in der Prosa nach Sd. 4). Das Metrum läßt es hier zwar eher erwarten, daß alte Lieder zugrunde liegen, aber der Inhalt spricht auch hier in den meisten Fällen .dagegen. Sigurds Rache | an den Söhnen Hundings für den Tod seines Vaters, die die Sigurdsagen mit der Sage von Helgi H u n dingsbani verknüpft, gilt mit Redit als ziemlich jung. Noch viel weniger sehen die Meisenstrophen nach alter Heldendichtung aus. Die einzige Strophe, die vielleicht ein Grund besteht einem alten Liedzusammenhang zuzuschreiben, ist Rm. 5. Da wird als Vorbesitzer des Horts ein Gustr genannt, der sonst nicht erwähnt wird. Die Strophe scheint aus einer andern Sagenform zu stammen, wenn nicht sogar aus einer anderen Sage, kann aber immer Einzelstrophe in einer Erzählung gewesen sein. In der Geschichte von der Vaterrache ist Sigurd Halbbruder Helgi Hundingsbanis geworden. Die Strophen von dieser Rache (Rm. 13—18 und 26) hängen mit den Helgiliedern audi in Wortschatz und Motiven zusammen. Da nun Sigurd der -berühmtere Held war, seine Sage die ältere ist und nicht er in Helgis, sondern Helgi in Sigurds Sippe überführt zu sein schien (zu diesem Argument vgl. unten S. 40f.), so nimmt man an, die Strophen von ihm seien die älteren. Dieser Schluß ist durchaus nicht sicher. Das Verhältnis kann auch umgekehrt sein. D a f ü r spricht, .daß auch die Rachestrophen nur unsicher mit der übrigen Sigurddichtung zusammenhängen, während auf der andern Seite die ganze Helgidichtuiig als eine ziemlich geschlossene Gruppe steht. Es ist jedoch möglich, daß wenigstens ein Teil der Übereinstimmungen nur darauf beruht, daß beide Teile auf demselben Boden gewachsen sind. Dieser Boden ist die Kultur und Sprache /der nordischen Kolonien auf den britischen Inseln in der letzten großen Phase der Wikingerzeit. Daß die Helgilieder auf den britischen Inseln entstanden seien, hat schon Sophus Bugge mit großer Bestimmtheit verfochten (Helge-Digtene i den «Idre Edda, deres Hjem og Forbindelser, Kbh. 1896), aber er ging zu weit, brauchte viele unzureichende Argumente und fand wenig Glauben. Es ist jedoch möglich, die guten unter seinen Argumenten stark zu vermehren. Ich kann darauf hier jedodi nicht weiter eingehn, als es von der Sigurddichtung aus notwendig ist. In den wenigen Strophen, die uns von Sigurds Vaterrache überliefert sind, darf natürlich nicht viel erwartet werden, das eine Verwandtschaft mit den Helgiliedern bezeugt. Ich kann folgende fünf Punkte nennen: Rm. 16—17 die Schilderung einer Seefahrt im Sturm (mit der Rettung daraus), in der Edda sonst nur H H . I 26—30; Rm. 14 die Schicksalsfäden (orlçgsimu), sonst nach meiner Kenntnis nirgends erwähnt als H H . I 3—4 (erlçgpœttir, gullin símu). \

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In beiden Fällen ist im Helgilied das Motiv besser eingebaut und das Bild breiter ausgemalt als in den Reginsmál. Die drei übrigen Übereinstimmungen sind Vokabeln, die in der Edda nur in den Vaterrachestrophen und den Helgiliedern vorkommen, und zwar meist ebenfalls in der ersten HelgakviSa Hundingsbana, und die auch von den Skalden selten oder begrenzt gebraucht sind. Es sind Rm. 13 und 14 konr „Nachkomme" oder „Verwandter", HH. I 23 und HHj. 14 jedoch in der allgemeineren Bedeutung „Mann"; Rm. 15 und HH. I 48 tiggi „Fürst"; Rm. 14 und HH. I 55 Yngvi als Stammvater des Helden. Die Vorstellung von Schicksalsfäden scheint außer in Rm. 14 und H H . I 3—4 nicht bezeugt zu sein, hat aber einen Verwandten in der Vorstellung vom Schicksal als Gewebe. Diese nun ist in England von früh auf bezeugt. Beow. 696f. heißt es Ac him dryhten forgeaf wtgspëda gewiofu „aber der Herr (Gott) verlieh ihm das Gewebe des Kampfglücks". Dies gewif ist, wenn auch vereinzelt, bis wenigstens ins 11. Jahrhundert bezeugt, dazu auch das Verb wefan „weben" vom Schicksal gebraucht. Dies Bild ist auch zu den nordischen Siedlern da drüben gelangt, das zeigt das Walkürenlied in der Niáls saga (DarraSarlióS), das im Norden der britischen Inseln entstanden ist und Walküren eine Schlacht weben läßt. Der dort mehrmals gebrauchte Ausdruck vefr darradar „Gewebe des Speers" steht auch in Egils HçfuSlausn, die in Nordengland gedichtet ist. Dagegen ist in den nordischen Hauptländern und Island, soviel idi weiß, auch diese Vorstellung unbezeugt. Das Bild vom Drehen der Schicksalsfäden kann leicht aus ihr geflossen sein, wenn es nicht von der näher liegenden antiken Parzenvorstellung mit der Spindel angeregt ist. In England (Schottland, Irland) war auch dies möglich, aber schwerlich anderswo in der Zeit, die in Frage kommt. Auch der Gebrauch von konr weist am ehesten auf die Inseln im Westen. In den Eddaliedern kommt als weiteres Zeugnis der Name Konr in der RigsJjula hinzu, die Beziehungen zu Irland hat und vielleicht da gedichtet ist. Bei den Skalden ist konr zwar von früh an da, aber selten, und lange nur im Mythus oder in der Verbindung mit mythischen oder sagenhaften Ahnen. Um das Jahr 1000 tritt dann zum erstenmal ein weiterer Gebrauch hervor, und zwar im Fragment eines Gedichts auf König Sigtrygg von Dublin (Gunnlaugr II 1 konungmanna konr), und auch noch die zwei nächsten Zeugnisse dieser Art sind mit den britischen Inseln verknüpft. Óttarr svarti nennt Olaf den Heiligen von Norwegen in der Schilderung früherer Kämpfe in England bragna konr (II 10) und Knut | den Großen in England stillis konr (III 3). In den Helgiliedern ist der Gebrauch von konr noch einmal um eine große Stufe erweitert, aber auch Óttarr II 10 ist er eigentümlich verschoben. Yngvi ist der mythische Stammvater der Ynglingar, des alten schwedischen und norwegischen Königshauses. Auch einer der ersten Ynglinge soll so geheißen haben. Außerdem wurde Yngvi audi als Bezeichnung des ein-

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zelnen Ynglings gebraucht. D a diese in Norwegen als starkes Königshaus fortlebten, blieb der Name im allgemeinen streng auf sie beschränkt. N u r auf den britischen Inseln, fern von ihrem Reich, scheint man bis um 1100 einen weiteren Gebrauch gewagt zu haben. Dort nennt ein Skalde den Dänen Knut den Großen Yngvi (HallvarSr). Da nun schwerlich jemand Sigurd und Helgi f ü r Ynglinge gehalten hat, ist auch der Gebrauch des Namens in den Reginsmál und der ersten HelgakviSa Hundingsbana dort drüben am leichtesten zu erklären. Von den fünf Motiven und Vokabeln, die die Strophen von Sigurds Vaterrache an die Helgilieder rücken, scheinen also drei sie zugleich mit den britischen Inseln zu verknüpfen. Die Rachestrophen enthalten aber auch manche weitere Berührungen mit Sprache und Kultur dieser Inseln, an denen die überlieferten Helgilieder keinen Anteil haben. Odins Name Hnikarr (Rm. 18) ist, abgesehn von Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts sowie den Grímnismál, in denen die Namen des Gottes von allen Seiten gesammelt sind, nur noch im LiSsmannaflokkr bezeugt, der um 1015 in England gedichtet ist. Das zweite ist die Schiffskenning sœtré „Seebaum" (Rm. 17). Sie hat gute Entsprechungen nur in der angelsächsischen Dichtung (Beow. 226 sxwudu und ähnliches), während sie in der älteren nordischen Dichtung ziemlich allein steht. Als einen Typ neben anderen hat es diese Kenningar mit „Baum" als Grundwort da nicht gegeben. Außer einigen zweifelhaften Stellen sind nur ganz vereinzelte Beispiele da, deren Grundwort ferner liegt. Für einen Einfluß der altenglischen Dichtersprache auf die nordische, wie ich ihn bei sœtré glaube annehmen zu müssen, gibt es ziemlich viele Beispiele. Ein paar weitere werden unten genannt (S. 42 hers iaSarr und 43 fólkUSendr). Die letzte Strophe von Sigurds Vaterrache sagt, dem Töter Sigmunds sei der Blutaar in den Rücken geschnitten. Es sind, soweit ich weiß, nodi drei weitere Fälle dieser rohen Rache überliefert. Einer steht in junger isländischer Fabelei. Da soll in Norwegen kurz vor 1000 ein Riese, dessen Mutter eine Katze war, so das Leben gelassen haben (Flatb. I 531). Die zwei andern Fälle verdienen weit | mehr Vertrauen. Nach Snorri (Heimskr. I 141f.) und Orkneyinga saga (Kap. 8) hat der Jarl Torf-Einar auf den Orkneys auf diese Art einen Sohn H a r a l d Schönhaars von Norwegen umgebracht. Das muß bald nach 900 gewesen sein. Nach andern Quellen sollen die Söhne Ragnar Lodbroks dem nordhumbrischen König Ella den Blutaar in den Rücken geschnitten haben. Englische Quellen bestätigen, daß Ella 86/ von Wikingern erschlagen ist. Eine Strophe Sigvats, aus einem Gedicht auf Knut den Großen, bezeugt, daß man dies Ende König Ellas in der ersten H ä l f t e des 11. Jahrhunderts als geschichtlich angesehen hat. D a nun das altnordische Schrifttum über Norwegen und Island vielfach mehr überliefert als über die britischen Inseln, die einzigen gut bezeugten Fälle der Blutaarritzung aber

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von diesen Inseln sind, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß dieser Brauch nur dort im Westen bestanden hat. Das ist auch verständlich, da die Kämpfe mit den keltischen Völkern besonders wild gewesen sind, im Norden heimische Bräuche von solcher Rohheit aber nicht bekannt sind. In Rm. 13 steht môôr in der westgermanischen Bedeutung „Mut" — es heißt gewöhnlich „Zorn" wie got. mops —. Hier berühren sich die Vaterrachestrophen mit andern Liedern der Sagen südlicher Herkunft, denn móSr steht in dieser Bedeutung auch Akv. 9 und Ghv. 3, dazu móSigr „mutig" Br. 18 und Ghv. 19. In die Reginsmál kann die Bedeutung aber auch unter angelsächsischem Einfluß gekommen sein, zumal ihr mó5 hefr meira da im Lied von Byrhtnods Tod (313 mod sceal pe märe) einen besonders nahen Verwandten hat. Eine zweite Übereinstimmung der Vaterrachestrophen mit andern Liedern des Nibelungenkreises ist Rm. 18 Vçlsungr ungi ok vegit hafSi neben Sg. 1 Vçlsungr ungi, er vegit haföi (und Sg. 3 Vçlsungr ungi ok vega kunnï). D a Sigurd nur an diesen Stellen, samt einer dritten im Kurzen Sigurdlied (Str. 13) Wölsung genannt wird, so ist der Zusammenhang sicher. Die Vaterrachestrophen können jedoch, da sie älter sein müssen als das Sigurdlied, nicht von diesem abhängen. Es muß, wenn sie nicht beide aus einem dritten Lied entlehnt haben, umgekehrt sein. Es kommt hinzu, daß der Name Wölsungen vor allem der Helgisage angehört zu haben scheint. D a gab es, neben anderm, eine VçlsungakviSa und eine VçlsungakviSa in forna. Ich vermute sogar, daß Sigurd ursprünglich kein Wölsung gewesen und es erst geworden ist, als man ihn mit Helgi verband, den man früher dazu gemacht hatte. Es kann geschehen sein, weil Sigurds Vater auch Sigmund hieß und der Wölsung Sigmund in England als landloser Recke und Drachentöter bekannt war, so wie im Norden Sigurd. D a n n wäre Sigurd in die Sippe Helgis ein- | geführt und nicht umgekehrt. Alle Zeugnisse dafür, daß Sigurd Wölsung war, sind bequem aus dieser Wurzel herzuleiten. Dies mag nun sein, wie es will, die behandelten Verse vom jungen Wölsung bezeugen auf keinen Fall eine Abhängigkeit der Strophen von Sigurds Vaterrache von andern Sigurdliedern, wahrscheinlich aber einen umgekehrten Einfluß. Mit den Helgiliedern steht es ähnlich wie mit der Diditung von Jung Sigurd, daß Liedgrundlagen nicht durchblicken. Das tun sie in den erhaltenen Liedern der im Norden heimischen Sagen auch sonst nicht. Dabei muß jedoch bedacht werden, daß wir hier Spuren älterer Liedstufen viel schwerer erkennen können als in den Liedern der südgermanischen Sagen, da sich deren außernordische Überreste viel leichter verraten und wir da auch mehr Vergleichsstoff haben. Dazu kommt dann, daß die Helgisagen in die Kulturformen der Wikingerzeit gekleidet sind und dabei tiefgreifende Neuerungen erfahren haben können. Es gibt jedoch audi andre Argumente, die es wahrscheinlicher machen, daß es nicht von alters her Heldenlieder von Helgi gegeben hat. Es sind die auffallende Dreispaltung der Sage — drei verschiedene Kuhn, Kleine Schriften II

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Helgis, jeder mit einer andern Walküre — und das Fehlen eines tragischen Kerns im alten Stil. Auch die gründliche Umwandlung der Kulturformen ist verständlicher, wenn vorher keine Lieder dagewesen sind. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, daß die Nordleute, die auf den britischen Inseln siedelten, in der Zeit der Jahrtausendwende angefangen haben, die weit zerspaltenen Helgisagen, bereichert aus allerlei fremden Quellen und gründlich erneuert, zum Gegenstand von Liedern zu machen, und daß die Sagen von Sigurds Jugend mit ihnen verbunden und von dieser Bewegung mit ergriffen wurden. An den nötigen Impulsen dazu kann es damals da drüben kaum gefehlt haben. Als Form hierfür haben die Dichter nicht nur die reine Liedform gewählt, sondern auch die Mischform, Prosa mit eingelegten dialogischen Strophengruppen. Von dieser Art ist nicht nur das sogenannte Hortlied, sondern audi fast die ganze HelgakviSa HiçrvarSssonar und große Teile der zweiten HelgakviSa Hundingsbana. Auch die Strophen von Sigurds Vaterrache können diese Form von Anfang an gehabt haben. Für die Annahme Heuslers, sie seien Überreste eines geschlossenen Liedes, gibt es kaum mehr als eben das eine strittige Argument, alles müßte zunächst allein in Liedern dagewesen sein. Zwisdien den Helgiliedern und den Sigurdliedern steht in der Edda ein Auszug aus der eigentlichen Wölsungensage. Audi da ist es fragwürdig, ob je ein Lied bestanden hat. Daß die | breitere Erzählung in der Vçlsunga saga zwei Verspaare einflicht, beweist nichts. Über Erzählungen mit solchen Einlagen vergleiche man W. Mohr, PBBeitr. 64, 219ff. und F. Genzmer, Festschrift für Kluckhohn und Schneider S. 10—31. Die zweite Gruppe von FornyrSislag-Strophen im Stück von Sigurds Jugend, die mit den Ratschlägen der Meisen (Fm. 32—33, 35—36, 40—44), hängt mit den erörterten Strophen von der Vaterradie stark zusammen, obwohl viel dazwischen steht. Die drei ersten der Vaterradiestrophen könnten, wenig geändert, anstatt Regin ebenfalls den Vögeln in den Mund gelegt sein. Den Strophengruppen sind zudem zwei Ausdrücke gemeinsam, die sonst nicht vorkommen oder dodi nur ganz vereinzelt. Es sind Rm. 15 und Fm. 36 synia aldrs „das Leben verweigern" = töten und der Vers Rm. 18 und 26 ok hugin gladdi, Fm. 35 ok hugin gleddi. Außerdem wird Fm. 35 par er mér ulfs vóti, er ek eyru sêk „da erwart ich den Wolf, wo idi die Ohren seh", ein Sprichwort, mit dem gleichfalls sprichwörtlichen ok er mér fangs von at frekum úlfi „und ich erwarte Kampf vom gierigen Wolf" in Rm. 13 zusammenhängen. Es gibt aber auch einige Bildungen, die die Meisenstrophen mit den Helgiliedern und zugleich audi mit England verknüpfen, ohne daß die erhaltenen Strophen von der Vaterradie daran teilhaben. Es sind Fm. 36 hers iaSarr, 41 folkliöandi und 43 fólkvitr. Fm. 36 hers iaSarr hat in der älteren Dichtung seinen nächsten Verwandten in dem gleichbedeutenden folks iaSarr H H . I I 42. Beide Ausdrücke

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sind sonst nur je einmal in Gedichten des 13. Jahrhunderts bezeugt (Merl. I I 5 und Snorri Ht. 55). Es sind dann noch zwei etwas fernere Verwandte da, Ls. 35 asa iaöarr und Egill Snt. 23 goSiaSarr (Hs. goSs iaSarr). Asa iaöarr muß der Höchste oder Beste unter den Asen (Göttern) sein, und goöiaöarr ist wohl derselbe. Dies paßt zur allgemeinen Bedeutung von altn. iaöarr, die „Außenkante" ist. Da man aber Helden nicht als die Besten des Heeres zu bezeichnen pflegte, werden folks iaSarr und hers iaSarr zu angelsächsischen Bildungen wie eodor aSelinga und eodor Scyldinga (Beowulf) gehören, die etwa „Schirm der Edelinge", „Schirm der Schildunge" bedeuten. Ags. eodor, dasselbe Wort wie altn. iaöarr, bedeutet „Zaun". Als „Schirmer des Heeres" finden folks und hers iaSarr eine gute Erklärung. Sie werden der altenglisdien Diditerspradie nachgebildet sein. Der hers iaSarr in der Merlínússpá ist ein Führer der angelsächsischen Eroberer Englands. | Wie fólklíSendr (Fm. 41) gemeint ist, ist unklar. Altn. Ιίδα ist gewöhnlich „gleiten, schweben" oder eine ähnliche Bewegung oder aber „vorbeikommen" oder (zeitlich) „vorübergehn". Dagegen ist westgerm. lïSan lïdan meist „gehen, wandern" oder aber „zur See fahren". Daher in der Dichtung Bildungen wie lïSende sâlïSende (Beowulf), sêolïSandi (Heliand) und sëolïdanti (Hildebrandslied), alle in der Bedeutung „Seefahrer". Dieser Gebrauch des Verbs ist auch zu den Wikingern in England gelangt. In drei Gedichten auf Knut den Großen, wahrscheinlich alle aus den Jahren 1026 und 1028, ist USa von der Seefahrt gebraucht, zweimal von den Seefahrenden (HallvarSr 3 und Pór. loft. I I 5) und viermal von ihren Schiffen (Sigvatr X 8, HallvarSr 1, Por. loft. I I 4 und 6), dies wohl unterm Einfluß der heimischen Bedeutung des Wortes. Dies lí8a kommt sonst nur noch in einer Strophe ganz unsicheren Alters vor (Anonym 10. Jh. I I I C 3). Es scheint im Norden selbst kaum Fuß gefaßt zu haben. Im ersten Helgilied (HH. I 24) aber steht USandi „Seefahrer" genau so wie lïSende im Beowulf. Ihm, oder einem verlorenen Kompositum derselben Bedeutung, wird fólkltSandi in Fm. 41 nachgebildet sein, jedoch von einem Dichter, der seine Bedeutung nicht verstand. Denn dies lí8a konnte nicht gut mit folk „Kriegsvolk, Kampf" verbunden werden. Die altgermanischen substantivierten Partizipia praes. sind größtenteils dichterisch, so daß auch ItSandi eine Entlehnung aus der englischen Dichtersprache sein wird. Fólkvitr (Fm. 43) hat wenige Verwandte. Es sind hiálmvitr und sárvitr, beide in HH. I 54, und alvitr in Vkv. 1 und 3 und HH. I I 26. Die VçlundarkviSa enthält, im Gegensatz zu den übrigen alten Heldenliedern der südgermanischen Sagen, manches aus dem Angelsächsischen und muß über England in den Norden gekommen sein. Da die meisten -vitr in den Helgiliedern stehn, weist die Gruppe auf die britischen Inseln. Da ist auch, in Beow. 1500,