Band 2: Schriften zu Städtebau und Architektur 9783205791034, 9783205785668

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Band 2: Schriften zu Städtebau und Architektur
 9783205791034, 9783205785668

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Camillo Sitte Gesamtausgabe, Band 2

Herausgegeben von

Klaus Semsroth Michael Mönninger Christiane Crasemann Collins

Camillo Sitte Schriften zu Städtebau und Architektur

Einleitung von Wilfried Posch Michael Mönninger Mario Schwarz

Kommentierung von Michael Mönninger Mario Schwarz Andreas Zeese

Böhlau Verlag Wien . Köln . Weimar

Herausgeber: Klaus Semsroth, Michael Mönninger, Christiane C. Collins Wissenschaftliche Bearbeitung: Sonja Hnilica, Bernhard Langer, Michael Mönninger (Schriften zu Semper, Zeitschrift Der Städtebau), Mario Schwarz (Schriften zur Architektur), Andreas Zeese (Schriften zum Städtebau, städtebauliche Gutachten) Redaktion: Ann Katrin Bäumler, Sonja Hnilica, Bernhard Langer, Andreas Zeese Lektorat: Ann Katrin Bäumler, Sonja Hnilica, Bernhard Langer, Jürgen Lenk, Andreas Zeese Transliterationen: Birgit Kupka, Jürgen Lenk, Petra Widauer, Andreas Zeese

Die Arbeit an der Camillo Sitte Gesamtausgabe wurde unterstützt von: FWF – Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78566-8 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau-verlag.com Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Gesamtherstellung: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Wilfried Posch: Camillo Sittes städtebauliche Schriften .. . . . . . . . . .   11 Michael Mönninger: Die Zeitschrift „Der Städtebau“ .. . . . . . . . . . .   81 Michael Mönninger: Sitte und Semper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   91 Mario Schwarz: Camillo Sittes Schriften zur Architektur . . . . . . . . . . 107 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur Die Kahlenberg-Pläne (1872) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Gottfried Semper (1873) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Die komische Oper (1874) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Die Konkurrenz-Projekte für den Justizpalast (1874) . . . . . . . . . . . . 172 Führich und Schmidt. Ein Blatt Kunstgeschichte (1875) .. . . . . . . . . . 176 Gottfried Semper (1879) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Offenes Schreiben an Dr. Ilg (1879) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Der neue Wiener Styl (1881) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Über Akustik in Theatern und Concertsälen (1883) . . . . . . . . . . . . . 200 Eine Handschrift Gottfried Semper’s. Ein Beitrag zur Baugeschichte Wiens (1885) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Gottfried Semper und der moderne Theaterbau (1885) . . . . . . . . . . 216 Gottfried Semper’s Ideen über Städteanlagen (1885) .. . . . . . . . . . . 220 Auszug aus dem Vortrage über die Baugeschichte und Restauration der gothischen St. Wolfgang-Kirche bei Kirchberg a.W. (1886) . . . . 225 Inhaltsverzeichnis

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Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887) .. . . 229 Über alte und neue Städteanlagen mit Bezug auf die Plätze und ­Monument-Aufstellung in Wien (1889) .. . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Über die Wahl eines Platzes für das Wiener Goethe-Denkmal (1889) .. . 276 Vortrag über moderne Städtebauten (1889) . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Das Wien der Zukunft (1891) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 So geht’s nicht! (1891) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Die Kunst des Städtebauens (1891) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Die neue Stadterweiterung (1891) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Das Radetzky-Denkmal (1891) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Stadterweiterung und Fremdenverkehr (1891) . . . . . . . . . . . . . . . 331 Station Wien (1891) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Allerlei Papier (1891) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Die Ausweidung Wiens (1891) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Neu-Wien – Ein Willkomm (1891) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Gutachten über den neuen Baulinienplan für Teschen (1892) . . . . . . . 359 Ferstel, Hansen, Schmidt (1892) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Auf gleicher Höhe (1892) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Die Bauwerke der Ausstellung (1892) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Über die Erhaltung des Gurker Domes und dessen Malereien (1892) .. . 380 Die Regulirung des Stubenviertels (1893) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Der Wille des Stadtbauamtes (1893) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Wiener Villenzone (1893) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Das Waldviertel einst und jetzt (1893) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894) . 422 Erklärung einiger bautechnischer Ausdrücke (1895) . . . . . . . . . . . . 448

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Zur Bebauung des Wasserthurmplatzes (1895) .. . . . . . . . . . . . . . . 452 Stellungnahme vor dem Donauclub über die Frage der Avenue (1895) . 454 Thurm-Freiheit (1896) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Discussion über den General-Regulirungsplan von Wien (1896) .. . . . . 466 Albert Ilg (1896) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 Aus der Burg Kreuzenstein (1898) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 Gutachten über die Platzwahl für den Theaterbau von Bielefeld (1900) . 511 Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1901) . . . . . . 513 Eine Kunstfrage (1901) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 Kundmachung des Ersten Wiener Beamten-Bauvereines. Vorwort zur ­bautechnischen Ausführung (1902) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Am Carlsplatz. Das Kaiser Franz Joseph-Museum der Stadt Wien (1902) . 531 Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz JosephMuseums der Stadt Wien (1902) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Sezession und Monumentalkunst (1903) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 An unsere Leser (1904) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Die Sammlung von deutschen Stadtplänen auf der Dresdner ­Städteausstellung (1904) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 Enteignungsgesetz und Lageplan (1904) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591

Anhang Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Kurzbiographien der Herausgeber und Autoren . . . . . . . . . . . . . . 631

Inhaltsverzeichnis

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Wilfried Posch

Camillo Sittes städtebauliche Schriften

Der Weg in die Presse In mehr als drei Jahrzehnten hat Camillo Sitte rund 150 Beiträge über Malerei, Plastik, Architektur, Musik, Kunstgewerbe, Handwerk (Keramik, Metallverarbeitung, Möbelbau), Werkpädagogik und das gewerbliche Schulwesen in Fachzeitschriften und Tageszeitungen publiziert.1 In den letzten vierzehn Jahren seines Lebens hat er, ausgehend vom Erscheinen seines berühmten Buches Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen2 im Mai 1889, zusätzlich zu den genannten Themen rund 30 Schriften über Städtebau veröffentlicht, den größten Teil davon im Neuen Wiener Tagblatt, dem er schon seit 1871 verbunden war.3 Nach Heinrich Sitte wurde Camillo durch den Schriftsteller und Journalisten Viktor Karl Schembera in das Zeitungswesen eingeführt, insbesondere in das Neue Wiener Tagblatt.4 Schembera war dort von 1870 bis zu seinem Tode 1891 hauptsächlich für die Berichterstattung über Kunst und Literatur verantwortlich. Davor hatte er für die Zeitung Wanderer gearbeitet, in der im April 1869 Camillo Sittes erster Aufsatz erschien.5 1

Lacina, Roswitha: Katalog des Nachlasswerkes der Architekten Franz Sitte, Camillo Sitte, Siegfried Sitte. Hg. von Rudolf Wurzer, 2 Bde., Wien: Institut für Städtebau, Raumplanung und Raumordnung der Technischen Universität Wien 1979. Ich danke Roswitha Lacina, der ehemaligen Leiterin der Bibliothek des Instituts für Städtebau der TU Wien und des SitteNachlass-Archivs, für ihren mannigfachen Rat und viele inhaltsreiche Gespräche.

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Sitte, Camillo: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung modernster Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien. Wien: Graeser 1889 (Reprint der 1. Aufl. von 1889 in: Camillo Sitte Gesamtausgabe (= CSG), Bd. 3. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2003).

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Siehe hierzu Lacina 1979 (s. Anm. 1).

4

Sitte, Heinrich: „Camillo Sitte. 1843–1903“, in: Neue Österreichische Biographie 1815–1918, Abt. 1, Bd. 6. Zürich, Leipzig u.a: Amalthea 1929, S. 136–138. Heinrich Sitte (1879–1951), Sohn Camillos, war ordentlicher Professor für Klassische Archäologie an der Universität Innsbruck.

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Sitte, Camillo: „Zur Genelli-Ausstellung“, in: Wanderer, 17./27. April 1869. Siehe CSG, Bd. 1 (= Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2008), S. 141–147. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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Schembera, der sich auch als Schriftsteller im gesamten deutschen Sprachraum einen Namen gemacht hatte, war eine herausragende Persönlichkeit des Wiener Journalismus der Zeit zwischen 1870 und 1890.6 In Olmütz als Sohn eines tschechischen Sprachforschers geboren, ursprünglich Jurist, hatte er ausgedehnte Reisen durch Europa gemacht, um seine kunstästhetische Bildung zu vervollkommnen. Mit vielen Literaten wie Ludwig Anzengruber und Ferdinand Kürnberger, aber auch mit bildenden Künstlern befreundet, war er wie Camillo Sitte ein Bewunderer Richard Wagners. In einem anonymen Nachruf wird er als einer „der ersten und leidenschaftlichsten Vorkämpfer für die Richard Wagner’sche Musik“ bezeichnet.7 Er sei im Hause des großen Komponisten ein allzeit gern gesehener Gast gewesen. Schembera förderte mit seiner Feder viele Talente in Kunst und Wissenschaft, so auch Camillo Sitte, der ihm stets verbunden blieb und schließlich auch sein Grabmal entwarf.8

Sitte, das Neue Wiener Tagblatt und sein geistiges und politisches Umfeld Das Neue Wiener Tagblatt war aus mehreren Gründen in die Pressegeschichte des 19. Jahrhunderts eingegangen.9 Am 10. März 1867 gegründet, übernahm der Verleger Moriz Szeps (1835–1902) es rund vier Wochen darauf als Eigentümer. Später fungierte er als Herausgeber, ehe er 1886 das Blatt nach wirtschaftlichen Meinungsverschiedenheiten mit dem Verwaltungsrat verlassen musste.10

  6 Wurzbach, Constant: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, Bd. 34. Wien: Staatsdruckerei 1877, S. 80f.   7 N.N.: „V. K. Schembera“, in: Neues Wiener Tagblatt, 5. Dezember 1891, S. 4 (Nachruf).   8 Sitte „Camillo Sitte (1929)“ (s. Anm. 4), S. 138.   9 Paupié, Kurt: Handbuch der Österreichischen Pressegeschichte 1848–1959, Bd. 1. Wien, Stuttgart: Braumüller 1960, S. 5, 150ff. 10 Moriz Szeps (1835–1902), aus dem jüdischen Großbürgertum Galiziens stammend, hatte zunächst in Lemberg Naturwissenschaften, später in Wien Medizin studiert, ehe er sich dem Journalismus zuwandte. Wie Schembera und Sitte war auch Szeps ein Bewunderer und persönlicher Freund Richard Wagners. Er trat im Tagblatt schon für Wagner und dessen Musik ein, als in Wien noch nahezu alle Kritiker gegen ihn waren. Von geschichtlicher Tragweite war vor allem seine schicksalhafte Freundschaft mit Kronprinz Rudolf. In den Jahren 1881 bis zu Rudolfs Tod 1889 standen die beiden in engem Gedankenaustausch und Rudolf veröffentlichte anonym etliche Beiträge im Neuen Wiener Tagblatt. Siehe hierzu: Paupié, Kurt: Moriz Szeps. Werk, Persönlichkeit und Beziehung zum Kaiserhaus. Wien: Univ. Diss. 1949; Hamann, Brigitte (Hg.): Kronprinz Rudolf. Geheime und private Schriften. Wien, München: Amalthea 1979.

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Wilfried Posch

Das Neue Wiener Tagblatt nannte sich im Untertitel Demokratisches Organ. Dies war ein Bekenntnis zur politischen Strömung des Liberalismus, dessen Anhänger nach dem Scheitern der Revolution von 1848 weiter um die demokratischen und sozialen Grundrechte kämpften und den österreichischen Obrigkeitsstaat reformieren wollten. Der Liberalismus hatte vielfältige geistige Wurzeln, im Philosophischen beeinflusst von der Romantik und dem deutschen Idealismus ebenso wie vom aufkommenden Rationalismus. Das Staatsgrundgesetz von 1867 (alle Staatsbürger sind vor dem Gesetze gleich, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei) und das Reichsvolksschulgesetz von 1869 (Ende des kirchlichen, Beginn des staatlichen Schulwesens, allgemeine Schulpflicht) waren große, wegweisende Erfolge in dieser Richtung.11 Da der Liberalismus in der zisleithanischen Reichshälfte nur zwölf Jahre von 1867 bis 1879 die Machtverhältnisse politisch bestimmte, danach aber weiterwirkte, spricht man heute auch oft von „Kulturliberalismus“.12 In einem deutschen Geiste, gleichbedeutend mit Kultur und Freiheit, sah man die staatstragende Kraft des Vielvölkerstaates der Habsburgermonarchie. Dies führte zum verwandten Begriff des „Deutschliberalismus“.13 In der Stadt Wien währte die-

11 Siehe hierzu Franz, Georg: Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der habsburgischen Monarchie. München: Callwey 1955, S. 61–90, 392–405. Brauneder, Wilhelm: Österreichische Verfassungsgeschichte. Wien: Manz 2005, S. 89ff., 155ff., 171f. Die deutschliberale Gesinnung war, von Moriz Szeps ausgehend, lange Zeit die Linie des Neuen Wiener Tagblatts, das den linken, sozialen Flügel der Liberalen unterstützte. Dabei betonte man immer wieder die Unabhängigkeit von Regierungen, Kirchen und Parteien. Diese begannen sich erst ab dem Jahre 1867 als politische Vereine nach dem Gesetz über das Vereinsrecht im programmatischen Sinne zu bilden. Die Gegner kamen von der katholischklerikalen, später christlich-sozialen Seite um Prinz Alois von und zu Liechtenstein und Karl Lueger sowie von den alldeutschen radikalen Anhängern Georg Ritter von Schönerers. Beide Gruppierungen bekämpften die judenfreundliche Haltung der Liberalen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst durch verschiedene Spielarten des Antisemitismus. Siehe hierzu: Charmatz, Richard: Deutsch-Österreichische Politik. Studien über den Liberalismus und über die Auswärtige Politik Österreichs. Leipzig: Duncker & Humblot 1907; Wandruszka, Adam: „Österreichs politische Struktur“, in: Benedikt, Heinrich (Hg.): Geschichte der Republik Österreich. München: Oldenbourg 1954, S. 293f.; Eder, Karl: Der Liberalismus in Altösterreich. Geisteshaltung, Politik und Kultur. Wien, München: Herold 1955, S. 299; Fuchs, Albert: Geistige Strömungen in Österreich 1867–1918. Wien: Löcker 1978 (Neuauflage des Nachdrucks der Ausgabe Wien: Globus-Verlag 1949), S. 11f. 12 Johnston, William M.: „Liberalismus und Kultur“, in: Brix, Emil/Mantl, Wolfgang (Hg.): Liberalismus, Interpretationen und Perspektiven. Wien, Köln u.a.: Böhlau 1996, S. 104. 13 Kammerhofer, Leopold (Hg.): Studien zum Deutschliberalismus in Zisleithanien 1873–1879. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 1992, S. 16. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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ser Zeitabschnitt machtpolitisch immerhin 34 Jahre von 1861 bis 1895. In dieser Welt wirkte Camillo Sitte.14 Das Neue Wiener Tagblatt befand sich im Wettstreit mit der Neuen Freien Presse um den Rang als „Weltblatt“. Es gelang zwar 1874, diese mit einer Auflage von 35.000 Stück zu übertreffen, die Verbreitung des Tagblattes blieb aber auf Österreich-Ungarn und hier vor allem auf den Wiener Raum beschränkt. Bis 1902 konnte man die Auflage auf wochentags 65.000, sonntags 92.000 Exemplare steigern. Camillo Sitte konnte also einen beachtlich großen Leserkreis erreichen.15

Sittes Schriften und der Feuilletonismus Die Wiener Tageszeitungen erlebten nach dem Pressegesetz vom Dezember 1862 einen großen Aufschwung und entwickelten eine besondere geistige Note, wobei dem „Feuilleton“ ein besonderer Rang zukam. Es hatte sich in wenigen Jahren in allen großen Tagesblättern einen Platz erobert, oft – wenn auch grafisch abgesetzt – sogar auf den Titelseiten. Hier wurde über Kunst und Wissenschaft, Architektur, Theater, Literatur, Musik und Zeitgeschehen in einem geistreichen, kritischen und unterhaltenden „Plauderton“ berichtet (Abb. 1).16 Vielfach waren die Aufsätze Camillo Sittes Niederschriften von Vorträgen, also des gesprochenen Wortes. Dies trifft auch auf einen Bericht im Mährischen Tagblatt vom November 1889 zu. Die Einleitung des Tagblattes ist eine hervorragende Würdigung des Feuilletonisten Camillo Sitte: „Gute Vorträge sind ebenso selten wie vollkommene Bauwerke zu finden. Wir haben hier schon große Poeten gehört, deren Dichtungen uns beim Lesen begeistern, und wir haben geistvolle Schriftsteller gehört, deren Feuilletons uns entzücken, ihre Vorträge aber ließen kalt, und unbefriedigt verließen die Hörer den Vortragssaal. Will der Vortragende sein Auditorium erwärmen, darf es ihm selbst an innerer Wärme, seinem Vortrage nicht am Fluss 14 Banik-Schweitzer, Renate u.a.: Wien in der liberalen Ära (= Czeike, Felix (Hg.): Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, Bd. 1). Wien: Verein für Geschichte der Stadt Wien 1978; Beller, Steven: Wien und die Juden 1867–1938. Wien, Köln u.a.: Böhlau 1993, S. 163–167. 15 Paupié 1960 (s. Anm. 9), S. 151. 16 Mauthe, Jörg (Hg.): Wiener Meisterfeuilletons. Von Kürnberger bis Hoffmannsthal. Wien: Wiener-Verlag 1946, S. 7–12.

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1 Beispielhafte Berichterstattung der Tagespresse, aus: Illustriertes Wiener Extrablatt, 23. Juni 1875

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der Rede und jenem eigenartig hinreißenden Zuge fehlen, der sich sofort auf den Hörer überträgt. Einen solchen Vortrag brachte uns am Sonnabend Herr Regierungsrat Camillo Sitte, der im deutschen Casino über modernen Städtebau sprach, und speciell die hiesigen Verhältnisse einer eingehenden Erörterung unterzog. Man fühlte, daß der Vortragende ganz erfüllt sei von Liebe für die Sache, die er zum Thema seiner Besprechung gemacht hatte, man hörte, daß er nicht bloß graue Theorien zum Besten gab, man lauschte seiner ernsten Mahnung mit Spannung, und lachte herzlich über die heitere Laune, die wirksam in dem Vortrage sich geltend machte und über die glücklichen humoristischen Lichter, die das ernste Thema beleuchteten. Camillo Sitte beherrscht nicht nur sein Thema mit vollkommener Meisterschaft, er spricht klar, hell und verständlich und weiß den Hörer sofort für sein Thema zu interessiren.“17 Diese Würdigung der feuilletonistischen Fähigkeiten durch das Olmützer Blatt war keine Einzelerscheinung. Rund zehn Monate zuvor hatte Camillo Sitte im Januar 1889 im Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Verein einen Vortrag gehalten. Drei Monate vor Drucklegung seines Buches sprach er über „Das Wien der Gegenwart und Zukunft“. Seine Ausführungen wurden dann überarbeitet und erweitert auch als Sonderdruck der Wochenschrift des Vereines veröffentlicht. Das Neue Wiener Abendblatt berichtete, Sitte habe einen „berührenden, höchst interessanten Vortrag“ gehalten, „der eine Fülle anregenden Stoffes in sich barg“, der Anlass zu lebhaften Diskussionen geben werde, er habe seine Worte „durch Vorführung zahlreicher großer Bildwerke und Zeichnungen von eigener Hand in seinem Effekte verstärkt“. Von „wiederholtem, allseitigem Beifalle“ und von „seiner humorvoll liebenswürdigen Art“ war die Rede.18 Zehn Jahre später, im Dezember 1899, sprach Sitte im Bayerischen Architekten- und Ingenieur-Verein in München über Städtebau. Die Münchner Neuesten Nachrichten sahen in ihm „eine erste Autorität“ auf diesem Gebiete. In der Einleitung zum eigentlichen Bericht ging das Blatt auch auf seine Inszenierungskunst ein: „In einer von liebenswürdigem Humor durchwebten, überaus lebendigen und fesselnden Darstellungsweise führte Regierungsrat 17 Redaktionelle Einleitung zu Sitte, Camillo: „Vortrag über moderne Städtebauten (1889)“, S. 282 in diesem Bd. 18 Bericht über den Vortrag von Sitte, Camillo: „Das Wien der Gegenwart und Zukunft“, in: Neues Wiener Tagblatt, 28. Januar 1889, Abendausgabe; Ders.: „Über alte und neue Städteanlagen mit Bezug auf die Plätze und Monument–Aufstellung in Wien (1889)“, S. 251–275 in diesem Bd.

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Sitte seine Hörer – im Geiste – in sein Atelier, um da an verschiedenen Projekten[,] die er ausgeführt, die Prinzipien zu erläutern, deren Beachtung für den Städtebauer von Wichtigkeit ist.“ Über reichen Beifall wird berichtet, das Auditorium habe aus den namhaftesten Münchner Fachgenossen des Redners, Künstlern und Vertretern der Stadt bestanden. Sitte habe in unverfälschtem Wienerisch gesprochen und „manch witziges Bonmot eingestreut.“19 Leopold Bauer, der kurzzeitige, glücklose Nachfolger Otto Wagners an der Akademie der bildenden Künste in Wien, erinnerte sich 1923: „Es hat in unserer Zeit wohl kaum einen zweiten Menschen gegeben, der so vielseitig gebildet und auf so verschiedenen Gebieten tätig war, wie Camillo Sitte. Wer ihn einmal sprechen hörte, war bezaubert von der Kraft seiner rednerischen Darstellung. In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hielt er zur Propagierung seiner Ideen in vielen Städten Deutschlands und Österreichs Vorträge, die ihn bald überall zu einer gefeierten Persönlichkeit machten. Ich habe vielen dieser Vorträge beigewohnt und muss gestehen, dass ich nie hinreißender und glänzender über technische und künstlerische Probleme sprechen hörte.“20 Sitte wurde bei dieser Tätigkeit natürlich von seinen Kollegen beeinflusst, aber auch sicherlich an ihnen gemessen. Das Neue Wiener Tagblatt hatte mit einer Reihe von hervorragenden Mitarbeitern die Kunst des Feuilletons über Jahrzehnte gepflegt und entwickelt. Neben Viktor Karl Schembera seien hier nur jene genannt, die Sittes Fachgebiet berührten: Joseph Schöffel, Friedrich Schlögl, Eduard Pötzl und Adam Müller-Guttenbrunn. Wie sehr Sitte in das Geschehen des Neuen Wiener Tagblatts eingebunden worden ist, zeigt die Ausgabe vom 20. Dezember 1891. Beginnend auf der ersten Seite füllen Friedrich Schlögl und Camillo Sitte die gesamte zweite Seite. Schlögl schrieb über „Alt Wien – Ein Abschied!“, Camillo Sitte über „Neu Wien – Ein Willkomm“. Schlögl spannte einen weiten Bogen von der Demolierung der Basteien über die beklagenswerten Verluste an unverwechselbaren Raumgefügen, Bauwerken und Stadtlandschaften bis hin zu der damals anstehenden Niederlegung des Linienwalles und den baulichen und sozialen Folgen. Während Schlögl nicht immer von allen Schöpfungen der Neuzeit begeistert war, begrüßte Sitte die gleiche Zeitspanne wegen ihres Fortschrittsgeistes. In sprachlich knapper, sehr geraffter Form hieß er die „Ausbildung Wiens

19 H. R.: „Camillo Sitte über Städtebau“, in: Münchner Neueste Nachrichten, 17. Dezember 1899. 20 Bauer, Leopold: „Zum 80. Geburtstag Kamillo Sittes am 17. April 1923“, in: Neue Freie Presse, Wien, 15. April 1923. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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zur modernen Weltstadt“ willkommen. Streckenweise wurde er dabei auch bildlich: „Frau Vindobona aber hat sich endlich den Schlaf aus den Augen gerieben […]“; oder er zitierte in direkter Rede die Bemerkungen eines typischen Wieners. Auf diese Weise ist sein Beitrag kurzweilig zu lesen, der im Übrigen Wien mit städtebaulich weit vorausschauendem Blick in die großen europäischen Zusammenhänge einordnet.21 Friedrich Schlögl war einer der bekanntesten und am meisten geachteten liberalen Schriftsteller, eine unverzichtbare Größe des Neuen Wiener Tagblatts.22 Vierzehn Tage vor dem oben beschriebenen Auftritt mit Sitte vollendete Schlögl am 7. Dezember 1891 sein siebzigstes Lebensjahr. Die Stadt Wien ehrte ihn durch die Ernennung zum „Bürger von Wien“. Das Neue Wiener Tagblatt brachte auf der ersten Seite eine Huldigung, geschrieben von seinem Nachfolger Eduard Pötzl (1851–1914), der zu den „Meistern des Feuilletons“ (Jörg Mauthe) zu zählen ist und mit Sitte befreundet war.23 Gleichsam als „Widmungsarbeit“, ähnlich wie in Festschriften zu Geburtstagen üblich, wurde auf der gleichen und den beiden folgenden Seiten ein langer Aufsatz Camillo Sittes veröffentlicht. Er gehört zu seinen besten städtebaulichen Schriften. Unter der Überschrift „Die Ausweidung Wiens“ durchleuchtete Sitte die städtebaulichen Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte im Zuge der alle Altstädte Europas heimsuchenden „Ausweidungsepidemie“. Er ver-

21 Schlögl, Friedrich: „Alt Wien – Ein Abschied!“, in: Neues Wiener Tagblatt, 20. Dezember 1891; Sitte, Camillo: „Neu Wien – Ein Willkomm (1891)“, S. 356–358 in diesem Bd. 22 Schlögl, seit 1867 beim Neuen Wiener Tagblatt, hatte sich besonders ab 1873, dem Jahr der Wiener Weltausstellung, einen Namen gemacht, als er einen Teil seiner Schriften unter dem Titel Wiener Blut veröffentlichte. Die Publikation wurde ein großer Erfolg. Kurz nach dem Erscheinen komponierte Johann Strauss (Sohn) den berühmten Walzer gleichen Namens, der zu einem viel verwendeten Schlagwort einer Epoche wurde. Ferdinand Kürnberger und Ludwig Anzengruber besprachen Schlögls Werk und stimmten in das einmütige Lob vieler anderer ein. Schlögl habe beste belletristische Ethnographie über die Wiener geschrieben, sie sei ein „sozialer Wegweiser“, der Autor „das Gewissen Wiens“. Schlögl veröffentlichte in späteren Jahren zwei Folgebände. Er war der Auffassung, dass durch den Stadtumbau Wiens nach 1857 Gemütswerte der Wiener ausgelöscht würden, er kämpfte gegen den blinden gründerzeitlichen Fortschrittsglauben, der das Heil nur im technisch-wirtschaftlichen und materiellen Erfolg sah. Siehe hierzu: Schlögl, Friedrich: Wiener Blut. Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt an der Donau. Wien: Rosner 1873; Mauthe 1946 (s. Anm. 16), S. 16f.; Rossbacher, Karlheinz/Tanzer, Ulrike (Hg.): Friedrich Schlögl. Wiener Blut und Wiener Luft. Skizzen aus dem alten Wien. Salzburg, Wien: Residenz 1997, S. 228–253. 23 Pötzl, Eduard: „Von einem Wiener Bürger“, in: Neues Wiener Tagblatt, 6. Dezember 1891.

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wies dabei auf Beispiele in Wien und anderen europäischen Städten wie Genua, Venedig, Prag oder Köln und kritisierte das Freistellen alter Kirchen, das Zurücksetzen der Häuserfluchten und die damit verbundenen Abbrüche, Zu-, Um- und Neubauten, die schlechten Verkehrslösungen und vieles andere. Dabei betonte er ausdrücklich, dass mit dem Ziel, Luft und Licht zu gewinnen, „alle Welt höchst einverstanden“ sei, nicht jedoch mit der Art und Weise, wie man dies zu erreichen suchte. Hierbei – so Sitte – gingen die Meinungen in gegensätzliche Richtungen. Die „bautechnische Metzgerei“ sei kalt und herzlos, ein „wohlgegliedertes Geschäft“. Auf der anderen Seite stünden die Naturfreunde, Künstler, Archäologen, Historiker und Patrioten, die Ästhetiker und Kunstfreunde „voll Empfindsamkeit“ und „Sinn für Schönheit“.24 Camillo Sitte war ein angesehener Feuilletonist des Neuen Wiener Tagblatts, weshalb die Schriftleitung ihn offensichtlich sehr bewusst auch für besondere Aufgaben zur Feder bat. Um so niederträchtiger erscheint der Versuch Otto Wagners, den Ruf Sittes durch Verleumdung zu schädigen. So schrieb Wagner Anfang April 1894 in einem Brief an Hermann Joseph Stübben nach Düsseldorf: „C. Sitte gilt in Wien (auch beim Neuen Wiener Tagblatt selbst) als hohler Schwätzer.“25 Dem gegenüber ist im nicht namentlich gezeichneten, aber von wissender Hand geschriebenen Nachruf am Todestag Sittes zu lesen: „Dieses Blatt beklagt in Sitte einen getreuen und ausgezeichneten Mitarbeiter. Seine Artikel über Baufragen der Stadt, die im Neuen Wiener Tagblatt erschienen, haben immer das Gewicht einer Äußerung von kompetentester Stellung gehabt und wenn sie nicht immer die zu erwartende praktische Konsequenz hatten, so ist die traurige Tatsache dafür verantwortlich zu machen, dass auch in Kunstfragen der Parteistreit entscheidet.“26

Die kulturliberalen Nachfahren des Tagblatts Durch Einzelpersönlichkeiten ist der Kulturliberalismus bis fast ans Ende des 20. Jahrhunderts zu verfolgen.27 Camillo Sitte hat mit seinen Städtebau- und 24 Sitte, Camillo: „Die Ausweidung Wiens (1891)“, S. 348–355 in diesem Bd. 25 Wagner, Otto: Brief an Joseph Stübben, 5. April 1894, Historisches Archiv der Stadt Köln, Nachlass H. J. Stübben, Bestand 1114, Nr. 1. 26 N.N.: „Kamillo Sitte gestorben“, in: Neues Wiener Tagblatt, 16. November 1903. 27 Posch, Wilfried: „Josef Frank“, in: Stadler, Friedrich (Hg.): Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Bd. 2: Internationales Symposium, 19. bis 23. Oktober 1987 in Wien. Wien, München: Jugend und Volk 1988, S. 646. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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Architekturfeuilletons im Neuen Wiener Tagblatt eine Tradition begründet. Auffallend ist, dass gerade diese Zeitung auch in späteren Jahren Autoren immer wieder die Möglichkeit geboten hat, sich für städtebauliche Anliegen einzusetzen. So trat der einflussreiche Schriftsteller, Feuilletonist, Theaterdirektor und deutschfreiheitliche Kulturpolitiker Adam Müller-Gutenbrunn am 28. Februar 1909 für die Erhaltung von Schloss Neugebäude in Wien-Simmering ein und gab die Anregung, Bauwerk und Areal für den Zentralfriedhof zu nutzen. Müller-Gutenbrunns Abhandlung wurde im Jahre 1910 in einer Flugschrift des Vereines zum Schutze und zur Erhaltung der Kunstdenkmäler Wiens und Niederösterreichs mit einem Vorwort von Max Dvorák abermals veröffentlicht und erreichte so eine weite Verbreitung.28 In dieser Broschüre ist auch ein Aufsatz von Camillos Sohn Heinrich über den Platz „Am Hof“ enthalten. Im genannten, 1903 gegründeten Verein wirkten zahlreiche Persönlichkeiten aus Sittes Freundes- und Bekanntenkreis. Die Anregung MüllerGutenbrunns wurde 1921 von Clemens Holzmeister im Wettbewerb zur Erlangung von Plänen für eine Feuerbestattungsanlage aufgegriffen und führte schließlich zur politischen Entscheidung der Sozialdemokraten für den Standort des Krematoriums vor dem Neugebäude. Die erwähnte Flugschrift von 98 Seiten enthielt 17 Beiträge verschiedener Autoren, wovon acht Nachdrucke von Feuilletons aus dem Neuen Wiener Tagblatt der Jahre 1908 und 1909 waren. Sie alle kamen in ihrer Geisteshaltung aus der „Schule“ Camillo Sittes. Hier ist vor allem Milan Dubrovic (1903–1994), der langjährige Doyen des österreichischen Journalismus und ehemalige Kultur- und Presseattaché in Bonn, der Freund Friedrich Torbergs, zu nennen. Er war von 1930 bis 1945 Kulturredakteur des Neuen Wiener Tagblatts. Dubrovic hatte 1927 Berta Zuckerkandl-Szeps kennen gelernt. Er erinnerte sich an die kollegialen Sympathien, die sie gegenüber den „Nachzüglern“ des einst mächtigen Meinungsimperiums der Familie Szeps empfand. Der junge Milan wurde oft zu den Empfängen und Soireen ihres Salons eingeladen und erhielt damit Zutritt zu den ersten Rängen des gesellschaftlichen Lebens.29 Das Neue Wiener Tagblatt ging 1945 unter. Milan Dubrovic wirkte als „Kulturliberaler, Weltmann und Österreicher“ an der Spitze der Tageszeitung Die Presse, später in der 28 Ignotus (= Müller-Gutenbrunn, Adam (1852–1923)): „Im Neugebäu“, in: Neues Wiener Tagblatt, 28. Februar 1909; Verein zum Schutze und zur Erhaltung der Kunstdenkmäler Wiens und Niederösterreichs (Hg.): Zur Rettung Alt Wiens (= Flugschriften des Vereines zum Schutze und zur Erhaltung der Kunstdenkmäler Wiens und Niederösterreichs, Nr. 2). Wien: Fromme 1910. 29 Dubrovic, Milan: Veruntreute Geschichte. Wien, Hamburg: Zsolnay 1985, S. 172f., 276ff.

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Wochenpresse und, wie oben erwähnt, an der Österreichischen Botschaft in Bonn.30 In seinen Lebenserinnerungen berichtete er, wie das Neue Wiener Tagblatt trotz nationalsozialistischer Gleichschaltung nach 1940 „zum Zentrum jener Kreise wurde, die Wiens kulturelle Bedeutung bei jeder Gelegenheit unterstrichen“.31 Am 29. September 1940 wagte der Schriftsteller und Journalist Aurel Wolfram, in einem Feuilleton gegen die gigantomanischen Ausbaupläne für Berlin zu polemisieren und diesen die kulturellen, gemüthaften und seelischen Werte der historisch gewachsenen Kaiserstadt Wien entgegen zu stellen, die man nicht – wie ebenfalls geplant – durch ein Achsenkreuz von Prachtstraßen zerschneiden dürfe. Einer von Wolframs Kernsätzen: „Darum Hände weg für alle ehrgeizigen Städtebauer, für alle Wirtschaftsinteressenten und sonstigen Großspekulanten. Es kann und darf Wien nie einem bloßen Zweckdenken unterworfen und Radikallösungen zugeführt werden.“32 Dies löste einen politischen Skandal aus, der zu einem Streit zwischen Reichsminister Joseph Goebbels und dem Gauleiter von Wien, Baldur von Schirach, führte. Schließlich endete die Sache mit einer milden Maßregelung Wolframs.33 Wie sehr man im Neuen Wiener Tagblatt Camillo Sitte noch während des Zweiten Weltkrieges verbunden gewesen ist, zeigt ein Aufsatz des Kunsthistorikers Gustav Künstler vom April 1943.34 Künstler verstand es, völlig frei von parteipolitischen „Pflichtübungen“ dem 100. Geburtstag Camillo Sittes und dem 25. Todestag Otto Wagners in einem Feuilleton zu gedenken: „Die zufällige Nähe der Gedenktage lässt Camillo Sitte und Otto Wagner auf einmal in der Rückschau gemeinsam auftauchen. Wie es einerseits unrichtig wäre, diesem Zufall die Bedeutung von Schicksalstiefe beizumessen, so anregend 30 Schulmeister, Otto: „Kulturliberaler, Weltmann, Österreicher“, in: Die Presse, Wien, 26. November 1993. 31 Dubrovic 1985 (s. Anm. 29), S. 277. 32 Wolfram, Aurel: „Wien – Refugium der deutschen Seele. Vom wachen und vom weisen Blut“, in: Neues Wiener Tagblatt, 29. September 1940, Sonntagsbeilage. Siehe auch: Ders.: Glaube an Wien. Wien: Wiener-Verlag 1943 (2. Aufl. ebd. 1947). 33 Dubrovic 1985 (s. Anm. 29), S. 276. 34 Gustav Künstler ist dem von Dubrovic beschriebenen Wiener Kreis zuzurechnen. Er wurde 1942 durch das Buch Kleiner Führer zur alten Kunst und Kultur der Stadt Wien. Eine zusammenfassende Darstellung auf Grund der neueren Kenntnisse. Wien: Hölzel 1942 (2. Aufl. 1947) bekannt. 1960 bekam er von Oskar Kokoschka den Auftrag und die Finanzierung für die erste Monographie über Adolf Loos. Siehe hierzu: Münz, Ludwig/Künstler, Gustav: Der Architekt Adolf Loos. Darstellung seines Schaffens nach Werkgruppen. Chronologisches Werkverzeichnis. Wien, München: Schroll 1964, S. 7. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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ist es andererseits, sich seiner im bescheidenen Maße zu bedienen, um die durchaus andersartigen Leistungen der beinahe gleichaltrigen Wiener Architekten – Wagner war um zwei Jahre älter als Sitte – nicht einander zu messen, sondern wechselweise einander zu erhellen. Im späten Nachhinein noch Partei zu ergreifen ist sinnlos; ja, es braucht nicht einmal auf die Tatsache, dass zwischen den zwei sehr temperamentvollen, von ihren Ideen besessenen Männern sogar einmal eine Pressefehde gewesen ist, näher eingegangen zu werden. Der zeitliche Abstand lässt das Wesentliche mit wachsender Deutlichkeit hervortreten, und da zeigt es sich, dass in historischer Wertung die beiden Erscheinungen gar nicht schlecht zueinander passen.“ Künstler beginnt dann seine Würdigung Sittes mit der Feststellung: „Obgleich Camillo Sitte schon seit vierzig Jahren tot ist und dadurch die Zahl derer, die ihn persönlich kannten, merklich abnimmt, hat sein Name noch guten Klang.“35

Sittes Stellung in der Städtebaubewegung Um Sittes städtebauliche Schriften gerecht beurteilen zu können, ist es notwendig, sich über Sittes Stellung in seiner Zeit Klarheit zu verschaffen. Durch den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts, die sprunghaft steigende Bevölkerungszahl und den technischen Ausbau erlebten die Städte den größten Umbruch der Neuzeit. Die Städte versteinerten, obwohl nach und nach die Mauern der alten Befestigungen fielen. Die mangelhafte oder nicht vorhandene Gesetzgebung des Kapital-Liberalismus und die Vorschriften der Bauordnung ermöglichten, ja erzwangen die Bodenspekulation. Das in Jahrhunderten gewachsene Netz alter Fahrstraßen und Fußwege wurde vom Raster der Gründerzeit überlagert. Die alten Hofhäuser der Vorstädte mit ihren Gärten wurden durch unzählige, mindestens viergeschossige Massenmiethäuser (Zinskasernen) ersetzt. Man bebaute 85 Prozent der Grundstücksflächen und erzielte Wohndichten, die höher als die der von den Wehranlagen eingeschnürten Stadt des 17. und 18. Jahrhunderts waren.36 35 Künstler, Gustav: „Zwei Wiener Architekten. Zu Camillo Sittes 100. Geburtstag und Otto Wagners 25. Todestag“, in: Neues Wiener Tagblatt, 15. April 1943. 36 Siehe hierzu: Hegemann, Werner: Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt. Berlin, Frankfurt/M. u.a.: Ullstein 1963 (Erstausgabe Berlin: Kiepenheuer 1930); Bobeck, Hans/Lichtenberger, Elisabeth: Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Graz, Köln: Böhlau 1966; Benevolo, Leonardo:

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Großen Einfluss auf die Entwicklung der städtebaulichen Reformbewegung nahm der zunächst in Fulda und dann in München als Baumeister, Bauinspektor und Baurat, später als Direktor der 1823 gegründeten Baugewerkschule wirkende Gustav Vorherr (1778–1847). Am Beginn des 19. Jahrhunderts fasste er eine Reihe von Einzelbestrebungen, die zum Teil schon in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus betrieben und dann unter dem Einfluss der neuen Wege im englischen Land- und Gartenbau verstärkt worden waren, zu einer Lehre zusammen. Unter dem Begriff „Landesverschönerung“ erreichte sie nach und nach alle Länder des Deutschen Bundes. Vorherr gab 1826 folgende Definition: „Die wahre Landesverschönerung oder Verschönerung der Erde entsteht nur dann, wenn Agrikultur, Gartenkunst und Architektur in größter Reinheit, ungetrennt nicht bloß für das Einzelne, sondern hauptsächlich für das Gemeinsame wirken.“ Er strebte ein Gesamtkunstwerk nach einem „höchst überlegten Plan“ an.37 Vor diesem Hintergrund ist auch das am 20. Dezember 1857 von Kaiser Franz Joseph unterfertigte Handschreiben an den Minister des Inneren, Alexander Freiherr von Bach, zu lesen, in dem es heißt: „Es ist mein Wille, dass die Erweiterung der inneren Stadt mit Rücksicht auf eine entsprechende Verbindung derselben mit den Vorstädten ehemöglichst in Angriff genommen und hiebei auf die Regulierung und Verschönerung [sic!] Meiner Residenz- und Reichshauptstadt Bedacht genommen werde.“38 Das Durchführen eines offenen Wettbewerbes für das Erlangen eines „Grundplanes“ für die Wiener Stadterweiterung – das Ringstraßengebiet – war eine Großtat, die für das Werden des neuen Städtebaues von großer Bedeutung gewesen ist. Anders als in Paris ging man in Wien nicht kaiserlich autoritativ vor. Rudolph Eitelberger von Edelberg, Camillo Sittes Lehrer und Förderer, veröffentlichte 1859 in einer für die spätere Zeit beispielhaften Schrift die Wettbewerbsergebnisse und erläuterte sie anhand der Pläne. Seine Hoffnung – „Das neue Wien, wie es durch die Stadterweiterung als endliches Resultat hervorgehen soll, wird auf dieser Bahn, der des Fortschrittes in der Kunst, sich bewegen

Die Geschichte der Stadt. Frankfurt/M., New York: Campus 1983 (deutsche Ausgabe der italienischen Originalausgabe Storia della città. Rom: Editori Laterza 1975); Reinborn, Dietmar: Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart, Berlin u.a.: Kohlhammer 1996. 37 Vorherr, Gustav: „Erklärung der Landesverschönerung“, in: Monatsblatt für Bauwesen und Landesverschönerung, Jg. 6 (1826), Titelblatt. 38 Eitelberger von Edelberg, Rudolph: Die preisgekrönten Entwürfe zur Erweiterung der Inneren Stadt Wien. Wien: Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei 1859, S. 5. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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müssen“39 – erfüllte sich vielfach nicht. Er selbst, aber auch sein Schüler Sitte wurden später zu Kritikern der alltäglichen Baupraxis, die rein quantitativ beeindruckend war. Im Zuge der damals einsetzenden Stadterweiterung wurden in drei Jahrzehnten beiderseits der Ringstraße rund 500 öffentliche und private Bauten errichtet und 90 Straßen und Plätze angelegt. Der Stadtumbau wurde erfolgreich durch steuerliche Anreize gefördert: im Stadterweiterungsgebiet durch eine dreißigjährige Abgabenbefreiung, im alten Baugebiet durch eine außerordentliche Steuerermäßigung. Bis 1869 wurden 1525 Häuser neu errichtet und 2836 Häuser umgebaut (Abb. 2).40 Angeregt durch die Stadterweiterung und durch das Fehlen von Massenverkehrsmitteln kam es in jenen Jahren zu einem starken Ansteigen des privaten und öffentlichen Wagenverkehrs. Anlässlich der Weltausstellung 1873 bewältigte man mit Pferdebahnen, Pferdeomnibussen, Einspännern und Fiakern ein Transportvolumen von 80.000 Personen am Tag, im Höchstfall sogar 140.000. In diesem Zusammenhang wurde der Ruf nach einem Umbau der Inneren Stadt im Sinne der neuen Verkehrsanforderungen laut, und die Baupraxis war bald damit beschäftigt, dies auszuführen und das Raumgefüge entscheidend zu verändern. Nahezu alle Plätze und die meisten Straßenzüge wurden verbreitert, die Kärntner Straße etwa von neun auf 19 Meter. Nach 1893 wurden noch 1263 Häuser als Verkehrshindernisse eingestuft und in den nachfolgenden Jahren 60 Prozent davon niedergerissen.41 In diesen Jahrzehnten wurzeln auch die Anfänge der Denkmalpflege. Sie ist in manchen Bereichen mit der Landesverschönerung in Beziehung zu sehen. Mit dem Gedanken, Zeugnisse der Geschichte, Kultur und Kunst, des Geistes- und Gemütslebens, zum Teil aber auch der Natur zu erforschen und zu schützen, befassten sich bald auch staatliche Einrichtungen. In Österreich wurde 1850 die K.k. Central-Commission für die Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale gegründet, die aber erst 1854 tätig werden konnte. Sie verfügte jedoch nicht über die Rechtsstellung einer Behörde. Camillo Sitte 39 Ebd., S. 8. 40 Schachel, Roland: „Was ist Altstadt in Wien?“, in: Gesichter einer Stadt. Altstadterhaltung und Stadtbildpflege in Wien. In Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt Wien. Beiträge von Karlheinz Roschitz u.a. Wien, München: Verlag für Jugend und Volk 1986, S. 15, 18. 41 Posch, Wilfried: „Die Weltausstellung 1873 und die Stadtentwicklung Wiens“, in: Stadtbauforum ´89. Wien: Österreichischer Wirtschaftsverlag 1989 (= Spezialausgabe des Bauforum, Jg. 22 (1989), S. 113.

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2 Abbruch der Häusergruppe zwischen Graben und Stock-im-Eisen-Platz in Wien, 1866

wurde 1885 zum korrespondierenden Mitglied der Commission für Salzburg und 1892 für Niederösterreich ernannt.42 Schritt für Schritt entstanden, zunächst durch Einzelpersönlichkeiten verschiedener Fachrichtungen wie Architekten, Bauingenieure, Ärzte, Volks42 Siehe hierzu Brückler, Theodor: „Vom Konzilium zum Imperium. Die Vorgeschichte der österreichischen Denkmalschutzgesetzgebung“, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege, Jg. 45 (1991), S. 160–172; Ders./Nimeth, Ulrike: Personenlexikon zur österreichischen Denkmalpflege. Horn: Berger 2001, S. 256. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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wirte, Juristen, Natur- und Kulturwissenschaftler oder Kunsthistoriker, neuartige Gedanken und Erkenntnisse über die Erforschung, Gestaltung, Pflege und den Schutz von Stadt-, Landschafts- und Naturräumen. Dies führte über vier Generationen schließlich zu den neuen Disziplinen des Städtebaus, der Landesplanung und der Landespflege.43 Bei der Beurteilung des Lebenswerkes Camillo Sittes und seiner städtebaulichen Schriften und Arbeiten ist stets sein Todesjahr zu berücksichtigen. Er starb fast genau zu jenem Zeitpunkt, als sich aus zahlreichen einzelstehenden Bestrebungen eine gemeinsame Disziplin entwickelte. Es bildeten sich Bünde, Gesellschaften, Zeitschriften, institutionelle Veranstaltungen, die alle wichtigen Persönlichkeiten zusammenführten und die „Städtebaubewegung“ zu einer beachteten geistigen Zeitströmung werden ließen. Es formte sich ein neues Berufsbild. Sitte hatte dazu noch kurz vor seinem Tode zusammen mit Theodor Goecke44 einen wesentlichen Beitrag geleistet. Gemeinsam gründeten sie das Fachblatt Der Städtebau mit dem Untertitel Monatsschrift für die künstlerische Ausgestaltung der Städte nach ihren wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Grundsätzen, welches das erste seiner Art im deutschen Sprachraum war.45 Im ersten Jahrgang, das erste Heft erschien im Januar 1904, wurden drei noch von Sitte vorbereitete Aufsätze postum veröffentlicht.46 So konnte er 43 Hierzu: Buchwald, Konrad: „Landespflege“, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hg.): Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Bd. 2. Hannover: Jänecke 1970, S. 1670–1678; Ley, Norbert: „Landesplanung“, in: Ebd., Bd. 2, S. 1714–1728; Wortmann, Wilhelm: „Städtebau. Geschichtliche Entwicklung“, in: Ebd., Bd. 3, S. 3118–3137. 44 Theodor Goecke (1850–1919) hatte in Berlin-Charlottenburg und Aachen Architektur studiert und war danach einige Jahre in Duisburg freischaffend tätig. Von 1896 bis zu seinem Tod war er dann in Berlin im Baudienst der Provinz Brandenburg hauptsächlich mit dem Errichten von Kommunalbauten beschäftigt. Von 1902 an lehrte er an der Technischen Hochschule in Charlottenburg Städtebau im Sinne Sittes als Einheit von Wissenschaft und Kunst und prägte eine Studentengeneration. Einer seiner später besonders erfolgreichen Schüler war Walter Gropius. Ab 1908 wirkte er auch als Provinzialkonservator Brandenburgs. Als Mitglied der Deutschen Gartenstadtgesellschaft gehörte er ab 1911 auch ihrem künstlerischen Beirat an. Für Sitte war die Freundschaft mit Goecke sehr wichtig, da sich ihm auf diese Weise die sehr lebhafte Berliner und reichsdeutsche Fachwelt erschloss. Siehe hierzu: Flick, Caroline: Werner Hegemann (1881–1936). Stadtplanung, Architektur, Politik. Ein Arbeitsleben in Europa und den USA, Bd. 2. München: Saur 2005, S. 1125. 45 Der Städtebau. Monatsschrift für die künstlerische Ausgestaltung der Städte nach ihren wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Grundsätzen. Begründet von Theodor Goecke, Berlin, und Camillo Sitte, Wien, verlegt bei Ernst Wasmuth in Berlin. Siehe hierzu auch den Beitrag von Michael Mönninger „Die Zeitschrift ‚Der Städtebau‘“, S. 81–89 in diesem Bd. 46 Sitte, Camillo/Goecke, Theodor: „An unsere Leser (1904)“, S. 577–583 in diesem Bd.; Sitte,

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noch den Schritt vom Feuilleton der Tagespresse zu einer Fachzeitschrift tun, die in den nächsten drei Jahrzehnten die namhaftesten Vertreter des Städtebaues vereinte. Sie wurde, gemäß den Absichten ihrer Gründer, zur wegweisenden und bahnbrechenden Institution. So hat Sitte über seinen Tod hinaus bis in die Weimarer Republik ein Forum geschaffen, das bis heute für die Forschung unverzichtbar ist. Die Gründung der Wiener Secession im Jahre 1897 und ihre in den Jahren 1898 bis 1903 erschienene, Epoche machende Zeitschrift Ver Sacrum verfolgte Sitte teils bewundernd, teils kritisch.47 Wie er über den seit Oktober 1897 in der Neuen Freien Presse schreibenden Adolf Loos gedacht hat, ist bisher quellenmäßig nicht direkt zu belegen, doch sind in Teilbereichen, wie noch zu zeigen sein wird, einige Übereinstimmungen festzustellen. Von den wichtigen Gründungen erlebte Sitte gerade noch den 1898 in Berlin ins Leben gerufenen Bund Deutscher Bodenreformer und die Anfänge der 1902 ebendort geschaffenen Deutschen Gartenstadtgesellschaft. Die Gründung der Wiener Werkstätte und des schon erwähnten Vereines zum Schutze und zur Erhaltung der Kunstdenkmäler Wiens und Niederösterreichs fallen in das Jahr seines Ablebens. Alles andere kam nach seinem Tode: 1903 der Bund Deutscher Architekten, 1904 der Deutsche Bund Heimatschutz in Dresden, 1905 die ähnliche Deutsche Heimat in Wien, 1907 der Deutsche Werkbund in München. Von den jährlichen Tagungen für Denkmalpflege, die 1900 mit 90 Teilnehmern begannen und 1911 in Salzburg und 1913 in Dresden als gemeinsame Tagungen mit dem Heimatschutz über 800 Fachleute versammelten, erlebte er nur die bescheidenen ersten Schritte. Alois Riegls Buch Der moderne Denkmalkultus, sein Wesen und seine Ent­stehung erschien 1903,48 Georg Dehios erstes Handbuch Deutscher Kunstdenk­mäler 1905,49 Hans Tietzes erster Band der Österreichischen Kunsttopographie mit einem Beitrag von Heinrich Sitte 190750 und im gleichen

Camillo: „Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)“, S. 591–617 in diesem Bd.; Ders.: „Die Sammlung von deutschen Stadtplänen auf der Dresdner Städteausstellung (1904)“, S. 584–590 in diesem Bd. 47 Siehe hierzu den Beitrag von Schwarz, Mario: „Camillo Sittes Schriften zur Architektur“, S. 107–143 in diesem Bd. 48 Riegl, Alois: Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung. Wien: Braumüller 1903. 49 Dehio, Georg: Mitteldeutschland (= Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Bd. 1). Berlin: Wasmuth 1905. 50 Tietze, Hans (Bearb.): Die Denkmale des politischen Bezirkes Krems. Mit einem Beiheft: Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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Jahr die deutsche Ausgabe von Ebenezer Howards Buch unter dem Titel Gartenstädte in Sicht.51 All dies bedenkend kann man beim Lesen von Sittes Schriften immer wieder feststellen, dass er vieles vorweg genommen hat, was wenige Jahre später zu anerkannter Fachmeinung geworden ist. Sein Todesjahr muss natürlich auch in den Fällen berücksichtigt werden, wo uns Sittes Meinung heute verwundert, erstaunt oder entsetzt. So zum Beispiel bei den Vorschlägen für zwei neue „gewaltige Straßen“ durch die Wiener Innenstadt 1894, bei seiner Stellungnahme zur Frage der „Avenue“ 1895 oder die Erörterung über die „Freilegung von St. Stephan“ und die „Thurm-Freiheit“ 1896.52 Er ist ein Wegbereiter gewesen, der sich – verglichen mit seinen länger lebenden Kollegen zunächst nur auf einen kleinen Kreis stützend – vorgetastet hat. Wie anregend wäre für Sitte die Allgemeine Städtebauausstellung in Berlin 1910 mit Werner Hegemanns herausragendem zweibändigem Bericht in Wort, Bild und Plan über den damaligen Stand von Theorie und Praxis des Städtebaus gewesen!53 Was hätte ihm die Gründung der heute noch bestehenden Freien Deutschen Akademie für Städtebau im Jahre 1922 in Berlin bedeutet?54 Sitte ist durch seinen frühen Tod ein Mann des 19. Jahrhunderts geblieben. Und trotzdem hat kaum ein anderer, so Julius Posener, „einen so großen Einfluss auf mehr als eine Generation von Städtebauern ausgeübt“. Sittes Lehre von der Stadt als Kunstwerk, unter Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse des neueren Bauwesens, sei selbst heute noch spürbar, „da ja der Ausgangspunkt der Kritik der gleiche geblieben ist: die Verzweiflung angesichts des übermächtigen Planschematismuses.“55 „Die Sammlungen des Schlosses Grafenegg“ (= Kunsthistorisches Institut der k.k. ZentralKommission für Denkmalpflege (Hg.): Österreichische Kunsttopographie, Bd. 1). Wien: Schroll 1907. 51 Howard, Ebenezer: Gartenstädte in Sicht. Jena: Diederichs 1907 (deutsche Ausgabe der englischen Originalausgabe Garden Cities of To–morrow. London: Sonnenschein 1902). 52 Sitte, Camillo: „Über die Frage der Avenue (1895)“, S. 454–459 in diesem Bd.; Ders.: „Thurm-Freiheit (1896)“, S. 460–465 in diesem Bd. 53 Hegemann, Werner (Hg.): Der Städtebau. Nach den Ereignissen der allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin nebst einem Anhang, 2 Bde. Berlin: Wasmuth 1911 (Bd. 1), 1913 (Bd. 2). 54 Prager, Stephan: Die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung. Rückblick und Ausblick 1922-1955. Tübingen: Wasmuth 1955. 55 Posener, Julius: Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. Das Zeitalter Wilhelms II. München, New York: Prestel 1995 (2. Aufl.; Erstveröffentlichung München: Prestel 1979), S. 241, 244.

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Rudolph von Eitelberger, Sitte und das Pariser Vorbild Wie auf vielen anderen Gebieten ist Sitte auch in seinen städtebaulichen Ansichten von seinem Lehrer Rudolph Eitelberger von Edelberg stark beeinflusst worden.56 Als Sitte nach 1863 bei Eitelberger Vorlesungen und Seminare zu besuchen begann, hatte dieser wenige Jahre zuvor drei wichtige Schriften veröffentlicht, die ihn zum Vorläufer der Städtebaubewegung werden ließen. Es waren dies 1858 die Abhandlung Über Städteanlagen und Stadtbauten57, 1859 die schon erwähnte Dokumentation über Die preisgekrönten Entwürfe zur Erweiterung der innern Stadt Wien58 und 1860 zusammen mit dem Architekten Heinrich Ferstel das Buch Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus59. Viele seiner Gedankengänge und Auffassungen finden sich bei Camillo Sitte wieder. Daher ist es zunächst notwendig, sich näher mit Rudolph Eitelberger von Edelberg auseinander zu setzen, um Camillo Sittes städtebauliche Schriften verstehen und bewerten zu können. Eitelberger, in der mährischen Hauptstadt Olmütz geboren, war einer der großen Universalisten im Wien des 19. Jahrhunderts.60 Nach Studien der Rechtswissenschaften, der Philosophie und der klassischen Philologie fand er schließlich die Aufgabe seines Lebens auf dem Gebiet der Theorie und der Technik der bildenden Kunst. 1852 wurde er mit der Leitung der – nach Berlin 1844 ­– zweiten im Deutschen Bund gegründeten Lehrkanzel für Kunstgeschichte an der Universität Wien betraut und somit zum Ahnherrn der „Wiener Schule“.61 Er begründete auf diese Weise, ähnlich wie Sitte später mit dem Städtebau, ein neues Fach, das damals noch als Nebendisziplin oder gar 56 Zu Eitelberger und dessen Einfluss auf Sitte siehe den einleitenden Beitrag von Stalla, Robert (unter Mitarbeit von Andreas Zeese): „‚Künstler und Gelehrter‘ – Der Universalist Camillo Sitte. Ein Eitelberger-Schüler im Umfeld der ,Wiener Schule für Kunstgeschichte‘“, in: CSG, Bd. 5 (= Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte. Wien: Böhlau 2010). 57 Eitelberger von Edelberg, Rudolph: „Über Städteanlagen und Stadtbauten. Ein Vortrag“, in: Sammlung wissenschaftlicher Vorträge gehalten während der Monate Februar und März 1858 im großen ständischen Saale zu Wien. Wien: Gerold 1858, S. 1–37. 58 Eitelberger 1859 (s. Anm. 38). 59 Eitelberger von Edelberg, Rudolph/Ferstel, Heinrich: Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus. Ein Vorschlag aus Anlass der Erweiterung der inneren Stadt Wien’s. Wien: Gerold 1860. 60 Siehe hierzu Anm. 58. 61 Schlosser, Julius von: „Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Österreich“, in: Mitteilungen des Österreichischen Institutes für Geschichtsforschung, Ergänzungsbd. 13 (1934), Nr. 2, S. 155–159. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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als Liebhaberei angesehen wurde.62 Eitelberger hatte durch seine zahlreichen Aufgaben an der Wiener Universität, an der Akademie der bildenden Künste, als Gründer und Direktor des Österreichischen Museums für Kunst und Indus­ trie, als Mitarbeiter der Wiener Zeitung und als Mitglied der schon genannten Central-Commission, des Herrenhauses und zeitweise auch des Wiener Gemeinderats großen Einfluss auf allen Gebieten des kulturellen Geschehens. Eitelberger hatte sich durch Reisen nach Italien, Frankreich und England auch einen Überblick über die Entwicklung in anderen Ländern geschaffen und der österreichischen Öffentlichkeit über die Weltausstellungen von Paris 1855 und London 1862 berichtet.63 Durch Eitelbergers Befürwortung wurde Camillo Sitte für die Pariser Weltausstellung 1878 zum Juror bestellt. Auch er veröffentlichte, wie sein Lehrmeister, seine Eindrücke in Form eines Berichtes.64 Für die mitteleuropäischen Städte gab es in dieser Zeit zwei große Vorbilder: Paris und London, ja man kann von einer Pariser und einer Londoner Schule der Stadtentwicklung sprechen, die sich untereinander im Wettbewerb um den richtigen Weg befanden. Paris übte auf die deutsche Geisteswelt eine besondere Anziehung aus, die Johann Wolfgang von Goethe im Mai 1827 von der weltweiten Einzigartigkeit dieser Stadt schwärmen ließ.65 Von Wien sprach er im Herbst 1781 anerkennend als „der Hauptstadt unseres Vaterlandes“, obwohl er die Stadt nie besucht hatte.66 Die Stadt ­Paris, die schon im 13. Jahrhundert, als die mitteleuropäischen Städte kaum mehr als 20.000 bis 30.000 Einwohner hatten, nahezu 200.000 Einwohner zählte, wurde bereits

62 Ladstetter, Else und Günther: „Kunsthistoriker“, in: Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg (Hg.): Blätter zur Berufskunde, Bd. 3: Berufe für Abiturienten. Bielefeld: Bertelsmann 1960, S. 1. 63 Springer, Elisabeth: Geschichte und Kulturleben der Wiener Ringstraße. Wiesbaden: Steiner 1979, S. 263–267. 64 Sitte, Camillo: „Die Pariser Weltausstellung (1878/1879)“, in: CSG, Bd. 1 (= Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2008), S. 350–424. Siehe hierzu den Beitrag von Ruth Hanisch und Wolfgang Sonne „Die Welt der kleinen Dinge. Camillo Sittes Schriften zum Kunstgewerbe“, in CSG, Bd. 1 (= Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2008), S. 103–131, hier bes. 109–114. 65 Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Leipzig: Brockhaus 1909, S. 499. 66 Bodi, Leslie: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781–1795. Frankfurt/M.: Fischer 1977, S. 119. Siehe auch: Sauer, August: Goethe und Österreich. Briefe und Erläuterungen, 2 Bde. Weimar: Verlag der Goethe-Gesellschaft 1902 (Bd. 1), 1904 (Bd. 2).

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3 Blick vom Triumphbogen auf der Place de l’Etoile gegen Osten

unter Ludwig XIV. im Jahre 1676 zur „offenen Stadt“ erklärt, nachdem Paris zwei Jahrhunderte nicht verteidigt werden musste. Daraufhin wurden die Stadtbefestigungen abgebrochen und mit der ­Anlage von 36 Meter breiten, baumbestandenen Prachtstraßen begonnen, die nach den früheren Bollwerken, den Namen Boulevards erhielten. Der monumentale Städte­bau fand unter Napoleon III. und dem Präfekten von Paris, ­Georges Eugène Haussmann, zwischen 1853 und 1869 seinen Höhepunkt. Die Zentralgewalt regierte mit großer Machtfülle und verfügte schon seit 1841 über ein Enteignungsgesetz. Unter Napoleon III. wurden 370.000 Bewohner, ein Drittel der Bevölkerung, in neuen Massenmiethäusern mit sechs bis acht Geschossen untergebracht, 95 Kilometer neue Straßen und 13 Brücken über die Seine gebaut, zahlreiche neue öffentliche Gebäude errichtet, dabei aber auch das alte Paris vernichtet, fast die Hälfte des alten Baubestandes, 28.000 Häuser, abgebrochen und damit 50 Kilometer alte Straßenzüge mit ihren Raumgefügen beseitigt (Abb. 3, 4).67 Aus vielerlei Gründen blickte man von Wien mehr nach Paris als nach London. Dies traf auch auf Eitelberger und besonders auf Sitte zu. Eitelberger hatte, wie noch zu zeigen sein wird, aber auch große Zuneigung zum britischen Modell. Wenn Eitelberger 1858 schrieb: „Wohl entwickelt die Kunst, wo sie losgeschält ist von den Bedürfnissen, den materiellen Interessen des Alltagslebens, ihre schönsten Blüten, ihre reifsten Früchte; denn dort ist die Kunst der Kunst wegen da und genügt sich selbst“,68 so entsprach dies einer Auffassung, die der französische Philosoph und Kulturpolitiker Victor Cousin (1792–­1867) im Jahre 1818 an der Sorbonne in Paris vertreten hatte und die in der Folge zum geflügelten Wort wurde: „l’art pour l’art“, dass die Kunst für die Kunst da sei, dass ihre Eigengesetzlichkeit anzuerkennen sei, dass

67 Speckter, Hans: Paris. Städtebau von der Renaissance bis zur Neuzeit. München: Callwey 1964, S. 78; Benevolo 1983 (s. Anm. 36), S. 835–871. 68 Eitelberger 1858 (s. Anm. 57), S. 4f. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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4 Plan des Durchbruchs der Avenue de l’Opéra in Paris

moralische, politische, soziale oder sonstige außerkünstlerische Maßstäbe abzulehnen seien.69 Eitelberger kannte sicherlich Cousins Werke. Cousin galt als Vermittler zwischen der deutschen und der französischen Geisteswelt. Er stand mit dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) in persönlicher Verbindung. Eitelberger hatte in jungen Jahren über Hegel Vorlesungen gehalten.70 Ähnlich wie Cousin und Eitelberger schrieb Sitte im Jahre 1892 in Bezug auf Wien: „Eine ganze Kategorie des Städtebaues fehlt uns gänzlich, nämlich diejenige des Städtebaues an sich, in welchem die Motive desselben bis zu rein empfindungsmäßiger Höhe emporgehoben, endlich Selbstzweck werden. Es fehlt uns der S t ä d t e b a u a l s K u n s t w e r k .“71 Ähnlich diesen für das 19. Jahrhundert sehr bezeichnenden Gedankengängen waren sich Eitelberger und Sitte aber auch der anderen Seite der Stadtbaukunst bewusst. Eitelberger 1858: „Aber in den Fällen, wo sie sich an Städtebauten und Städteanlagen anknüpft, da ist sie ein Kind der Not, eine Frucht der Bedürftigkeit des menschlichen Geschlechts, und vermag sich nicht all den Folgen zu entziehen, die daraus entspringen – und darf sich ihnen auch nicht entziehen. Da soll sie zeigen, dass sie den Zwecken der Ge-

69 Büchmann, Georg (Hg.): Geflügelte Worte. München, Zürich: Knaur 1959, S. 237f. 70 Schlosser 1934 (s. Anm. 61), S. 155. 71 Sitte, Camillo: „Ferstel, Hansen, Schmidt (1892)“, S. 367 in diesem Bd.

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sellschaft dient […]“.72 Dieser Gedanke klingt auch an, wenn Sitte am Ende seines Lebens 1903 zusammen mit Theodor Goecke in aller Knappheit feststellte, der Städtebau sei die künstlerische Ausgestaltung der Städte „nach ihren wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Grundsätzen.“73 Von bisher unterschätzter Bedeutung ist Rudolph Eitelbergers Vortrag vom 10. März 1858, der zunächst als Einzelheft und dann zusammen mit sieben Beiträgen anderer Autoren in einem Sammelband veröffentlicht wurde und so weite Verbreitung erfuhr.74 Die Vorlesung fand im Zuge einer populärwissenschaftlichen Vortragsreihe, die hauptsächlich von Mitgliedern der philosophischen Fakultät der Universität Wien bestritten wurde, im Niederösterreichischen Landhaus in Wien statt. Die Themen betrafen Geschichte, Astronomie und Literatur. Eitelbergers ungewöhnlicher Vortrag Über Städteanlagen und Stadtbauten hatte seine Wurzeln im damals gerade in Arbeit befindlichen Wettbewerb für die Erweiterung der Inneren Stadt, für dessen Ausschreibungsvorbereitung und Beurteilungskommission Eitelberger tätig war. Zweifellos waren seine Ausführungen dazu angetan, Teilnehmer wie Juroren, ja die Öffentlichkeit, zu beeinflussen. Unter den Zuhörern befanden sich der Minister des Inneren, Alexander Freiherr von Bach, und Ministerialrat Leo Graf Thun-Hohenstein vom Unterrichtsministerium. Dies zeigt die Bedeutung, die diesem Auftritt Eitelbergers beigemessen wurde. Bach hatte als Beauftragter des Kaisers den Vorsitz in den Beratungen zur Ausarbeitung der Wettbewerbsunterlagen für die „Erlangung des Generalplanes“ geführt. Thun-Hohenstein war Mitglied der Jury, die Anfang 1858 ihre Tätigkeit aufgenommen hatte. Die Wiener Zeitung berichtete über „eine ebenso vornehme als zahlreiche Hörerschaft, welche mit gespannter Aufmerksamkeit dem Vortragenden folgte.“75 Nach Hermann Jansen wohnte dieser Veranstaltung auch der Architekt Franz Sitte, „der an allen künstlerischen Ereignissen lebhaften Anteil nahm“, in Begleitung seines damals fünfzehnjährigen Sohnes Camillo bei.76 Letzterer hatte bei dieser Gelegenheit vielleicht lebens-

72 Eitelberger 1858 (s. Anm. 57), S. 5. 73 So der Untertitel der 1904 erschienen Zeitschrift Der Städtebau. Das Vorwort „An unserer Leser (1904)“ siehe S. 577–583 in diesem Bd. 74 Eitelberger 1858 (s. Anm. 57). 75 Wiener Zeitung, 12. März 1858. Siehe auch Mollik, Kurt/Reinig, Hermann/Wurzer, Rudolf: Planung und Verwirklichung der Wiener Ringstraßenzone (= Wagner-Rieger, Renate (Hg.): Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche, Bd. 3). Wiesbaden: Franz Steiner 1980, S. 115f. 76 Jansen, Hermann: „Camillo Sitte zu seinem 100. Geburtstage am 17. April 1943“, in: Zen­ tralblatt der Bauverwaltung, Jg. 63 (1943), Nr. 11/13, S. 130. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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bestimmende Eindrücke empfangen, sicherlich aber das Wort „Städtebau“ erstmals gehört. Wenn heute Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer als „geistige Stiftungsurkunde der österreichischen Denkmalpflege“77 bezeichnet wird, so ist in Rudolph von Eitelbergers Abhandlung über Stadtanlagen die „Stiftungsurkunde des Städtebaues“ zu sehen. Ohne sich auf diese Schrift zu beziehen, hat Werner Hegemann in Kenntnis der anderen Werke Eitelbergers 1913 festgestellt, dass dieser es „verdient, als hervorragender geistiger Anreger auf dem Gebiete des Städtebaues und als Lehrer Camillo Sittes gerühmt zu werden.“ Aufgrund „der Rolle, die damals Wien im deutschen Kunstleben gespielt hat“, sei dies alles von hoher Bedeutung für die Geschichte des künstlerischen Städtebaues.78 Eitelberger begann seinen Vortrag mit der Feststellung, dass die geschichtlichen Ursprünge des rechtlichen Städtewesens heute offen lägen. Dies sei tüchtigen Männern wie Friedrich Karl von Savigny, Theodor Mommsen, Moritz August von Bethmann Hollweg, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und anderen zu danken. Die Rechtsgrundlagen der Stadt- und Landesverfassungen seien auf dem größten Teil des Kontinents bereits Gemeingut der gebildeten Welt geworden. Dann leitete er über: „Anders ist es, wenn wir uns nach den Bauformen, nach den architektonischen Grundformen einer Stadt in unseren Geschichtsbüchern umsehen; da finden wir vieles lückenhaft, und gerade das nur gelegentlich oder gar nicht erwähnt, was Wien gegenwärtig in so hohem Grade interessiert.“79 Eitelberger forderte, den Blick nicht nur einzelnen Kunstwerken, den Meisterstücken der Malerei, Skulptur und Architektur zuzuwenden, sondern dorthin zu richten, „wo die gesamte Nation als ein werktätiges Ganzes auftritt und der Künstler, selbst der Größte, nur als Glied des großen Kunstorganismus, als die Spitze der tektonischen Tätigkeit einer Gesamtheit erscheint.“80 Er stellte die Frage nach den Bedürfnissen, den Lebens-

77 Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Pest: Heckenast 1857. Siehe ebenso: Wibiral, Norbert: „Das Wohn- und Sterbehaus Adalbert Stifters in Linz“, in: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, Jg. 23 (1974), Folge 1/2, S. 7; Greipl, Egon Johannes: „Adalbert Stifter. Denkmalpflegerische Ideen im Roman ,Der Nachsommer‘“, in: Denkmalpflege-Informationen, Ausg. B, Nr. 132 (November 2005), S. 40–43. 78 Hegemann, Werner (Hg.): Der Städtebau. Nach den Ergebnissen der allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin nebst einem Anhang, Bd. 2: Verkehrsbauten, Freiflächen. Berlin: Wasmuth 1913, S. 252. 79 Eitelberger 1858 (s. Anm. 57), S. 4. 80 Ebd., S. 4.

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zwecken und danach, ob diese veränderlicher oder konstanter, sittlicher oder materieller Natur seien. Er forderte also eine völlig neue Zusammenschau der Elemente, aus denen eine Stadt entsteht, und versuchte, die Antworten zu geben. Beginnend mit den unveränderlichen Elementen Berg und Tal, Fluss und Meer, Nord und Süd, den materiellen Gegebenheiten der Baustoffe Stein und Holz, die wieder Einfluss auf die Form und die Erscheinung der Stadt haben, gelangte er zu den veränderlichen Elementen sittlicher und ethischer Natur. Er ging aus von den Griechen und Römern und untersuchte ihre Auffassungen über das Zusammenleben im Stadt- und Staatsleben. Und dann fällt erstmals ein Wort, das bis dahin kaum verwendet worden ist: „Dieser sittliche Zweck, diese innere lebendige Organisation macht sich natürlich im Städtebau, in Stadtanlagen geltend und scheidet den orientalischen Stadtbau von dem occidentalen, den barbarischen von dem hellenischen in festen Zügen“.81 Eitelberger verwendete das Wort „Städtebau“ dann auch noch an zwei anderen Stellen, insgesamt also dreimal. Das geistige Neuland, das er mit diesem Vortrag betrat, versuchte er ganz allgemein in neue oder damals noch selten gebrauchte Worte zu kleiden: „Stadtanlagen“, „Stadtbauten“, „Stadtbau“, „Städtebau“, „Städteentwicklung“, „Städtewesen“ werden zusammen mehr als zwanzigmal verwendet.82

Zur Geschichte des Begriffes „Städtebau“ Den Begriff „Städtebau“ hat Eitelberger mit Sicherheit im Werk des Philosophen und Ästhetikers Friedrich Theodor Vischer (1807–1889) kennen gelernt. Vischer führte Hegels Auffassungen über Ästhetik weiter und machte diese fast zu seiner Lebensaufgabe.83 Im Jahre 1846 beginnend veröffentlichte er bis 1858 in neun Bänden und einem Registerband eine Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen.84 Im 1852 erschienenen Band behandelte Vischer Die Baukunst. Dabei beschrieb er nicht nur einzelne ästhetische Teilgebiete wie Material, Komposition, Proportion, Rhythmus und Symmetrie im Zusammenhang mit den verschiedensten Bauaufgaben, sondern beschäftigte sich auch mit die Stadt 81 Ebd., S. 6. 82 Ebd., S. 7, S. 18. Siehe auch: S. 1, 5, 7–9, 12–15, 17, 19–23, 25, 27. 83 Schumacher, Fritz: Der Geist der Baukunst. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1938 (unveränderter Nachdruck Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1983), S. 111. 84 Vischer, Theodor Friedrich: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauch für Vorlesungen, 10 Bde. Stuttgart: Mäcken 1846–1858 (Zahl der Bde. nach der Bindung in der Bibliothek am k.k. Polytechnischen Institut Wien, heute UB der TU Wien). Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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allgemein betreffenden ästhetischen Fragen. In der Einleitung, einer kurzen Zusammenfassung, die er jedem Abschnitt voranstellte, ist zu lesen: „Das Gesamtleben erfordert aber Räume, welche ausdrücklich der öffentlichen Darstellung des Ganzen als solchen dienen, zunächst noch in praktischem Sinne: dies sind die Plätze und Gebäude für die Volksversammlung, die Volksvertretung; sodann im Sinne des freien, rein darstellenden Selbstgenusses der Gesamtpersönlichkeit: dies sind die Anlagen für das Volksfest. An die ersteren vorzüglich schließen sich naturgemäß die Ehrendenkmale für verdiente Einzelpersonen. Dieses Gebiet steht der Aufgabe, worin alle Baukunst ihre höchste ideale Einheit hat, dem Tempelbau, am nächsten, tritt mit ihm und den ihm unmittelbar angehörigen Nebengebäuden in Gruppen zusammen, zieht zu diesen auch die bedeutendsten Bauwerke der vorangehenden Gattung [Vischer nannte im vorherigen Kapitel: Wohnhäuser, öffentliche Bauten, die Zwecken der Ernährung, des räumlichen Verkehres, für Ackerbau, Gewerbe, Handel, Pflege der Leidenden, der Verteidigung, der Regierung und Rechtspflege, der Erziehung, Wissenschaft und Kunst dienen, Anm. d. Verf.] und so erwachsen die Mittelpunkte, die den Kern der höchsten zyklischen Aufgabe, des Städtebaus, bilden.“85 Theodor Vischer beschrieb dann die räumliche Ordnung, das Leben in den Stadtkernen der deutschen Stadt des Mittelalters und ihre Herleitung aus der Stadtbaukunst der Griechen und Römer, die Gliederung des Forums in Athen, des Kapitols in Rom und die Stellung, die den einzelnen Bauten dabei zukam. Er zog dann Vergleiche zur Gegenwart und ihren umfassenden Aufgaben: „Wie im Dorfe der Kirchturm idyllisch als Hirte der Herde erscheint, so ist nun der Tempel auch räumlich zu einem Mittelpunkte geworden, der, mit den wichtigsten öffentlichen Gebäuden vereinigt, die Masse der Privathäuser sich unterordnet, ihnen ihre höchste Idealität, mit dem Markt usw. ihren absoluten Festraum und Festsaal gibt. Dies muss das Hauptaugenmerk für die höchste, zyklische Aufgabe, den Städtebau, sein. Von der anderen Seite macht sich aber, hier in ihrem ganzen Gewichte die Rücksicht auf die umgebende Natur in der Beziehung der Gesundheit (Licht, Luft, Wasser), Sicherheit und Schönheit (Höhe und Tal, Fluss, Meer, Vegetation) geltend.“86 Vischer hat also tiefe Einsichten in die Stadtbaugeschichte gewonnen und leitet daraus die Aufgaben für den Städtebau der Zukunft ab. Auffallend ist, dass er den „Städtebau“ zweimal als „zyklische Aufgabe“ bezeichnet. Seit dem 18. Jahrhundert hatte sich im Deutschen „Zyklus“ als 85 Ebd., Bd. 5 (nach der Bindung in der Bibliothek der TU Wien), S. 262. 86 Ebd., S. 264.

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Fremdwort griechischer und lateinischer Herkunft für Themenkreis, Kreislauf, wiederkehrende Folge eingebürgert. Im 19. Jahrhundert wurde es dann auch als Eigenschaftswort verwendet. In der Kunst bezeichnet es ein in sich abgeschlossenes Ganzes, das aus innerlich zusammenhängenden Einzelteilen besteht.87 Auch nahm Vischer Gedanken vorweg, wie Sitte sie später in seiner Kritik an den Planstädten entwickelte: „Die Alten bildeten zwar ein Ideal der regelmäßigen Stadt aus, orientalische Städte wie Babylon waren ganz systematisch angelegt, aber selten ist dem Baumeister die Aufgabe eines Stadtbaus rein gegeben: Zufall und Instinkt bilden die Anfänge, die Kunst findet in dem Gegebenen oft ein absolutes Hindernis, oft höchst fördernde Motive. Wo Zufall und Instinkt glücklich gegriffen, die Kunst edel nachwirkt, entstehen die wahrhaft lebendigen Städtebilder mit historischem Charakter. Ist aber die Aufgabe rein gestellt, so muss künstlerische Verbindung von Regelmäßigkeit mit Rücksicht auf große und schöne Natur zu gewinnende Mannigfaltigkeit das Ziel sein; die geradlinigen, öden Residenzstädte, die namentlich das vorige Jahrhundert abstrakt auf den Sand hinstellte, sind traurige Denkmale unfruchtbarer Willkür.“88 Von Camillo Sitte wissen wir durch einen Lebenslauf aus eigener Hand, dass er zwischen 1868 und 1870 „die Lektüre der modernen deutschen Ästhetik von Kant an“ durchgearbeitet hat.89 In einem Brief an Eitelberger im Jahre 1882 aus Salzburg erwähnte Sitte ausdrücklich „die dicken Bände von Vischer“, die „hinabgewürgt“ werden mussten.90 Diese Äußerung bezieht sich sicher mehr auf die acht Bände – außer dem die Baukunst betreffenden. Sitte stand also dieser Zeitströmung durchaus kritisch gegenüber, obwohl er natürlich viele Anregungen aufnahm: „Alle Zeichen aber, die in dieser ästhetischen Sintflut auf Errettung hinzudeuten schienen, wiesen nach der Ent87 Drosdowski, Günther u.a. (Hg.): Duden. Etymologie – Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 7. Mannheim, Wien u.a.: Dudenverlag 1963, S. 789. 88 Vischer 1852 (s. Anm. 84), Bd. 5 (nach der Bindung in der Bibliothek der TU Wien), S. 264. 89 Sitte, Camillo: Curriculum vitae (o. O., o. J.). Österreichisches Staatsarchiv Wien, Sub. Sign. Ad 12510 ex 74 (1874). Dieser Lebenslauf, zehn Seiten in Kurrentschrift, wurde im Jahr 1979 von Roswitha Lacina aufgefunden und transkribiert. Sie stellte ihn Karin Wilhelm zur Verfügung. Erstmals verwendet in: Wilhelm, Karin: „Städtebautheorie als Kulturtheorie. Camillo Sittes ‚Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen‘“, in: Musner, Lutz/ Wunberg, Gotthard/Luttner, Christian (Hg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaft. Wien: Turia und Kant 2001, S. 97, 108. 90 Sitte, Camillo: Brief an Rudolph Eitelberger von Edelberg, 1. Februar 1882 (Briefkopf k.k. Staatsgewerbeschule Salzburg), Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus (vormals Wiener Stadt- und Landesbibliothek), Inv.-Nr. 21.773. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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wicklung der Kunst, nach der Historie.“ Sitte schrieb weiter an Eitelberger, er sei „mit einem Kopf voll unausgegorener Ideen, ausgefüllt mit einem Wust widerstrebender Anschauungen“, zu ihm gekommen. Eitelberger habe ihm „das richtige klare Bild der Geschichte vor Augen gestellt“, durch ihn hätte er „die rechte Fährte gefunden, und in Kunst und Wissenschaft stets was Rechtes zu leisten“ gelernt. Sitte dankte schließlich seinem Meister: „[…] fasse ich nun aber dieses ganze feste Selbstvertrauen, diesen meinen ganzen Stolz in eine einzige Formel zusammen, so lautet sie, dass ich Ihr Schüler geworden und dass sie selbst dieses nun öffentlich ausgesprochen, ist mir genau das, was einem Anderen sein Doktordiplom.“91 Nun stellt sich die Frage, ob Friedrich Theodor Vischer der Schöpfer des Wortes Städtebau gewesen ist. Bemerkenswert ist, dass das Wort von den Geisteswissenschaften, von der Ästhetik, ausgegangen ist und keine Entsprechung außerhalb der deutschen Sprache hat. Als der Ingenieurwissenschaftler Reinhard Baumeister 1876 ein grundlegendes Buch über Stadt-Erweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung veröffentlichte, fand sich der Begriff Städtebau nicht.92 Erst Camillo Sitte hat ihm 37 Jahre nach Vischer und 31 Jahre nach Eitelberger mit seinem Buch Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen 1889 zum Durchbruch verholfen.93 Warum Sitte im Titel seines Buches Städte-Bau, aber schon in der Vorrede und auch sonst Städtebau schreibt, bleibt unergründlich. Ab der vierten Auflage 1909 wurde dann auch im Titel Städtebau verwendet.94 Als Joseph Stübben 1890, also ein Jahr nach Sitte, als Teilband des Werkes Handbuch der Architektur gleichfalls ein Werk veröffentlichte, das er schlicht Der Städtebau ohne einschränkende Beiworte nannte, begann sich der Begriff in der Fachwelt durchzusetzen.95 Stübben gab in seinem Buch gleich zu Beginn acht Literaturangaben über „Städtebau im Allgemeinen“ an, darunter zwei in französischer Sprache. Als ersten Hinweis zum Thema nannte er ein eher kurio-

91 Ebd. 92 Baumeister, Reinhard: Stadt-Erweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung. Berlin: Ernst & Korn 1876. 93 Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 2), S. IIIf. 94 Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung modernster Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien. Wien: Graeser 1909 (4. Aufl. der Erstausgabe 1889). 95 Stübben, Joseph: Der Städtebau (= Durm, Josef/Ende, Hermann/Schmitt, Eduard/Wagner, Heinrich (Hg.): Handbuch der Architektur, Teil 4: Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude, Halb-Bd. 9). Darmstadt: Bergstrasser 1890.

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ses Werk von Johann Peter Willebrand aus den Jahren 1775 und 1776.96 Die Arbeit ist von einer derartigen Kenntnis und Vielfalt sowie einer humanistischen Bildung getragen, dass sie tatsächlich als Vorläufer der späteren Städtebauliteratur bezeichnet werden kann, obwohl darin das Wort „Städtebau“ nicht verwendet wird. Willebrand zieht immer wieder Vergleiche mit den Griechen und Römern heran, wie später auch Vischer, Eitelberger und Sitte, und beruft sich ebenso gerne auf Aristoteles. Stübben nannte in seiner Liste auch Eitelbergers Abhandlung über Städteanlagen und Stadtbauten und natürlich Sittes Buch, er kannte also die frühe Verwendung des Wortes „Städtebau“.97 Umgekehrt hat dadurch sicherlich auch Sitte das Buch Willebrands gelesen, das sich auch im Bestand der Öster­reichischen ­Nationalbibliothek befindet.98 Ewald Genzmer, Professor an der Technischen Hochschule Dresden, behauptete 1925, dass der Ausdruck „Städtebau“ von Reinhard Baumeister „in Karlsruhe geprägt worden“ sei.99 Dies stimmt nicht. Im Gegenteil, Baumeister hatte fast eine Berührungsangst, dieses Wort zu verwenden. Jahrelang nannte er sein Lehrfach an der Technischen Hochschule zu Karlsruhe „Straßenbau, einschließlich Straßenwesen und Stadterweiterungen“. Erst im Studienjahr 1900/01 rang er sich erstmals zu „Straßen- und Städtebau“ durch.100   96 Ebd., S. 4. Der Autor Johann Peter Willebrand (1719–1786), geboren in Rostock, promovierter Jurist, wirkte von 1759 bis 1766 als kgl. dänischer Polizeidirektor in Altona. Er versuchte, sein Wirkungsfeld zu erweitern und geriet mit dem Magistrat, dem Holsteinischen Oberpräsidenten und den Bürgern in Konflikt. Schließlich nahm er Abschied von seinem Amt. Von 1771 bis zu seinem Tode lebte er als Privatgelehrter in Hamburg und verfasste mehrere Bücher. Er bereiste fast alle europäischen Städte und schrieb schließlich ein zweibändiges Werk mit der langen Überschrift Grundriss einer schönen Stadt, in Absicht ihrer Anlage und Einrichtung zur Bequemlichkeit, zum Vergnügen, zum Anwachs und zur Erhaltung ihrer Einwohner, nach bekannten Mustern entworfen. Nebst einer Vorrede von der Wirkung des Clima auf die Gesinnung und Gesetzgebung der Völker. Hamburg, Leipzig: Bohnsche und Hilschersche Buchhandlung 1775 (1. Teil), 1776 (2. und 3. Teil). Zu Willebrand siehe Nirrnheim, Hans: „Willebrand, Johann Peter“ in: Königl. Bayerische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 43. Leipzig: Dunker & Humblot 1898, S. 261f.   97 Stübben 1890 (s. Anm. 95), S. 4. Die genannten Werke sind: Eitelberger 1858 (s. Anm. 57); Sitte „Der Städte–Bau (1889)“ (s. Anm. 2).   98 Willebrand 1775 (s. Anm. 96). In der Österreichischen Nationalbibliothek findet sich ein Exemplar dieses Werkes mit der Signatur 74.Y.159.   99 Genzmer, Ewald: „Zum achtzigsten Geburtstage von Hermann Joseph Stübben“, in: Zen­ tralblatt der Bauverwaltung, Jg. 45 (1925), Nr. 6, S. 57. 100 Programm der Großherzoglich Badischen Technischen Hochschule zu Karlsruhe (bis 1885: Großherzoglich Badische Polytechnische Schule), Studienjahr 1900–1901, S. 5. In der BiblioCamillo Sittes städtebauliche Schriften

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Eitelberger, die Reichshauptstadt Wien und ihre Aufgaben Im Vorwort seines Buches über die Erweiterung der Inneren Stadt gab Eitelberger einen von großem Wissen zeugenden, klaren Überblick über die kommenden Aufgaben. Dabei wertete er auch sehr trefflich das Geschehen in Paris, durch welches die Stadtplanung gegenwärtig teilweise „irregeleitet“ werde, und schrieb: „In Paris ist heute, wie seit jeher die Kunst ein dienendes Werkzeug in den Händen der Staatsgewalt, die Trägerin der Ideen, die das Staatsleben bewegen. Wie im gesellschaftlichen Leben, so mischen sich auch im Kunstleben dort reine und unreine Elemente; und wie sich dort oft alles zu überstürzen scheint, und im Taumel der Gegenwart die ethischen Grundlagen des Staats- und Völkerlebens verschwinden, so drängen sich ruhelos und maßlos Projekt auf Projekt in der Frage der Erweiterung der Stadt und droht, so glänzend einzelne Teile der Stadt hervortreten, in dem Streben nach Luxus und Befriedigung der nur durch reine Kunst zu befriedigenden Sinne gleicherweise die künstlerischen wie ethischen Interessen der Bevölkerung zu verzehren.“101 Nach dieser kritischen Beurteilung folgte die Forderung nach „Besonnenheit und klarem Erkennen der Grundprinzipien“ für eine Architektur im Sinne der Interessen der städtischen Bevölkerung Wiens. Wien könne „seinen eigenen Impulsen folgen, ohne die Überstürzungen welche in Paris die Folge unheimlicher Zustände im Inneren sind, ohne jenem Mäzenatentume zu huldigen, dessen Schwerpunkt nur im Individuum ruht.“ Es würden Bedürfnisse des Staates, der Stadt, der Kultur, des Handels, des Verkehrs, des öffentlichen Vergnügens, der Gesundheit, des gesellschaftlichen Lebens und jene des Charakters einer Residenz zu erfüllen sein. „Denn Wien ist nur Wien, als Residenz des ältesten Thrones Europas, als Mittelpunkt des neuen Österreich.“102 Diese letzte Bemerkung zeigt, von welchem nationalen und geschichtsbewussten Ehrgeiz man 1859 noch getragen war. Die napoleonischen Kriege und die nachfolgenden Friedensschlüsse von 1797, 1801, 1805 und 1809 hatten nicht nur schwere Verluste an Land, Volk und Wirtschaft gebracht, sondern 1806 auch zur Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation geführt. Kaiser Franz II. hatte schon 1804 als Franz I. den Titel Kaiser von Öster-

thek der TU Wien befindet sich außer Katalog ein Bestand von Vorlesungsverzeichnissen aus Karlsruhe. Sie wurden von Ausgabe 1856 – Reinhard Baumeister war Assistent – bis 1912 – Reinhard Baumeister war emeritierter Professor – vom Autor durchgesehen. 101 Eitelberger 1859 (s. Anm. 38), S. 5. 102 Ebd., S. 5.

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reich angenommen, Wien wurde Hauptstadt des Kaisertums Österreich. Mit der Ernennung Wiens zur römisch- und kaiserlich-österreichischen Hauptund Residenzstadt versuchte man einen Rest der Tradition der alten übernationalen Reichsidee dem neuen Staatswesen dienstbar zu machen. Aus diesem Patriotismus entsprangen schließlich auch Eitelbergers Feststellungen: „Alle diese Bedürfnisse verlangen ihre Lösung in Bauten, die nicht Not- und Spekulationsbauten sind, sondern ihrer wesentlichen Aufgabe nach einen höheren architektonischen, um mich eines vieldeutigen und viel missbrauchten Wortes zu bedienen – einen monumentalen Charakter haben. Aber sie verlangen diesen nicht als Tendenz, um unbefriedigten Ästhetikern ein Substrat für Anschauungen, unbeschäftigten Künstlern Raum für Beschäftigung künstlich zu schaffen, sondern als ein Gebot innerer Notwendigkeit.“103 Wenn Eitelberger dann abschließend von der Stadterweiterung Wiens spricht, wo nicht einzelne Bauten, sondern ein größerer Raum zu gestalten sei, zeigt sich wieder seine Bewunderung für Paris und seine preußischen Nachahmer: „Der Kai, der Boulevard, die Plätze gehören in diese Reihe von Anlagen der Art. Selten ward Architekten das Glück zuteil, solche Aufgaben auszufüllen und zu entwerfen, wo die Fantasie raumgestaltend und raumschaffend wirken, eine Totalität von Gebäuden unter höheren Gesichtspunkten gruppieren und dem öffentlichen Wohle dienstbar machen kann. An solchen Anlagen, wie sie Paris in dem Platze de la Concorde, dem vor dem Hôtel de Ville, Berlin im Schlossplatz und den Linden besitzt, hat Wien einen großen Mangel. Dem wird oder soll wenigstens gründlich abgeholfen werden.“104 Rudolph von Eitelbergers Haltung zu Paris war von einer Doppelwertigkeit, dem Nebeneinander entgegen gesetzter Beurteilungen, getragen, die sich auch bei Camillo Sitte zeigte.

Sitte, Paris, Wien und der „nationale Stolz“ Bei seiner Kritik am „modernen Stadtbau-Systeme“, dem sogenannten „Schachbrettsysteme“, berief sich Sitte auch auf seinen Kollegen Reinhard Baumeister, der in seinem „trefflichen Werk“ an diesem „nichts zu loben“, sondern nur „zu tadeln weiss“.105 Sitte hatte sich zu diesem Thema eine Samm-

103 Ebd., S. 5f. 104 Ebd., S. 6. 105 Sitte „Städteanlagen (1889)“ (s. Anm. 18), S. 251–275 in diesem Bd. Siehe auch Baumeister 1876 (s. Anm. 92), S. 97f., 101; Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 2), S. 89ff. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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5 Plan der Place de l’Etoile in Paris

lung von Verwerfungsurteilen aus Zeitschriften und der Fachliteratur angelegt, anhand derer er feststellte, es sei ihm „noch nie etwas Lobendes darüber untergekommen“. In Paris sei das System des neuen Stadtbaus erstmals im großen Stile zur Durchführung gelangt: „Nach diesem Pariser Typus werden Stadtplätze dadurch geschaffen, dass ganze Stadttheile ausgeräumt werden. Gleichfalls in dem gewaltigen antiken Cäsaren-Style, nur nicht gar so grimmig, wie Nero es gethan, der gleich mit einem Feuerschwamm über ganz Rom hingefahren war.“ Und voller Ironie stellte er fest, Paris habe das Verdienst, zuerst die Erfindung des „Centralplatzes“ gemacht zu haben. Er meinte damit Plätze, bei denen bis zu sieben Straßen zusammenkommen, in der Mitte gebe es dann „ein erhöhtes Stück Trottoir […] und dieses bildet die Rettungsinsel zur Aufnahme der sich flüchtenden Passanten. Das ist doch gewiss ein neues Motiv im Städtebau und da sagt man noch, dass wir keine Phantasie haben.“106 An 106 Sitte „Städteanlagen (1889)“ (s. Anm. 18), S. 251–275 in diesem Bd.

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6 Luftaufnahme der Place de l’Etoile in Paris

anderer Stelle stellte er kurz und klar fest, dass „Sternplätze“ „grundsätzlich verwerflich“ seien (Abb. 5, 6).107 Auf der anderen Seite war Sitte, ähnlich wie Eitelberger, letztlich doch auch von der „Größe“ des neuen Paris und dem Wettbewerb der Städte deutlich beeinflusst. Wie bei seinem Lehrer löste das starke Nationalbewusstsein der Franzosen auch bei ihm für Wien den Wunsch nach einem „wahren edlen Patriotismus, der aus Liebe zur Heimat stets das Höchste anstrebt“, aus.108 Ähnlich wie Eitelberger scheute auch Sitte nicht den gefährlichen Begriff der Monumentalität und seines Eigenschaftswortes: „Die stetige Pflege der monumentalen Kunst im Dienste des Städtebaues ist aber auch nöthig aus patriotischen Rücksichten: zur Hebung des Selbstgefühles, des nationa-

107 Sitte, Camillo: „Die Regulirung des Stubenviertels (1893)“, S. 401 in diesem Bd. 108 Sitte, Camillo: „Stadterweiterung und Fremdenverkehr (1891)“, S. 336–337 in diesem Bd. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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len Stolzes, der Städterepräsentanz.“109 Diese Gedanken kehrten in verschiedensten Zusammenhängen immer wieder, etwa beim Thema Bahnhof und Vorplatz, wenn er feststellt: „Es kann als ausgemachte Sache gelten, daß eine Großstadt auch nach Außen repräsentationsfähig sein muß.“110 Derartige Aufgaben sah er in Verbindung mit dem damals schon beachtlichen Städtetourismus: „Auf solche Dinge also kommt es an, wenn eine Stadt Zugkraft für den Fremdenverkehr erhalten soll. Das glänzendste Muster dieser Art bietet Paris und es ist ja bekannt, daß dort dieser Erfolg zielbewußt schon seit Jahrhunderten angestrebt wurde; nicht bloß durch vielfachen, architektonischen und plastischen Schmuck, sondern auch wesentlich durch passende Anordnung, damit all diese Schätze auch wirkungsvoll zur Geltung kommen. Diese geschickte Anordnung ist aber das Werk des Stadtplanes. Auch vom Standpunkte der Hebung des Fremdenverkehres sind also große umfangreiche Stadtregulirungen zweifellos zu betrachten. Paris ist dabei sehr gut auf seine Kosten gekommen.“111 Dabei versuchte auch Sitte, die „irregeleiteten“ Wiener im Sinne Eitelbergers vor einseitiger Bewunderung des Vorbildes zu warnen: „Äußerlichkeiten allein nachzuahmen würde hier nicht Gleichwertiges entstehen lassen. Einige Boulevards und Avenuen anzubringen, wohl aber könnte noch Vollkommeneres entstehen, wenn auch hier Eigenartiges von innen heraus entwickelt würde, geradeso, wie dies bei unseren großen Monumentalbauten geschehen ist. Von innen heraus aber mit dem schon oft als Muster zitierten Paris in Wettkampf zu treten, heißt zunächst einen Kampf der Prinzipien ausfechten; vor Allem die historischen und nationalen schaffenden Kräfte erfassen, welche diese äußere Erscheinung hervorbrachten. Von zwei Trieben zeigt sich die gesammte französische Produktion beherrscht, von dem Triebe nach R e p r ä s e n t a t i o n und dem Verlangen nach L e b e n s f r e u d e .“ Diese beiden Eigenschaften würden zwar in der Weltanschauung der Antike und ihrer Kunst wurzeln, seien aber verbunden mit der „Mythe“ einer Schar herrlicher Götter und Heldengestalten. Die höchsten Fragen der Kunst seien mit ihnen verbunden gelöst worden. All dies sei heute erstorben. Geblieben sei „die niedere Sphäre der künstlerischen Mache“, des gewöhnlichen Lebens: „Da­ raus erklärt es sich, daß Mode und Etikette, Pose und Eleganz fast allein noch Gebiete zur Bethätigung dieses Triebes geben, höher strebend gelangt man

109 Sitte „Ferstel, Hansen, Schmidt (1892)“ (s. Anm. 71), S. 366 in diesem Bd. 110 Sitte, Camillo: „Station Wien (1891)“, S. 338 in diesem Bd. 111 Sitte „Stadterweiterung (1891)“ (s. Anm. 108), S. 332 in diesem Bd.

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nicht mehr in den alten Olymp, sondern nur mehr zur Verherrlichung des Individuellen, zur Repräsentanz, zur Gloire. Vielleicht ist in diesem Fehlen der letzten und höchsten Ziele auch noch der Umstand begründet, daß der französischen Kunst bei so viel Können, so viel Genie dennoch Künstler aller ersten Ranges fehlen.“ Diese Äußerung kann sich wohl nur auf die Pariser Architektur beziehen. Zu guter Letzt traf Sitte eine Feststellung und knüpfte eine Frage daran: „Frohsinn und klare Faßlichkeit, das sind die Triebfedern der äußeren Erscheinung des Pariser Städtebaumusters. Und warum sollten wir diese nicht nachahmen?“ Seine Antwort war, dass sie wie „Südfrüchte importirt werden“ sollten. Und er wiederholte dann, dass in Wien nicht bloß kopiert werden dürfe, sondern den „gegebenen Bedingungen entsprechend kann und soll hier Eigenartiges erstehen.“ Noch besser aber sei es, die älteren Quellen der Antike und des Orients gleich unmittelbar zu studieren.112 Sitte hatte, wie Eitelberger, immer wieder eine bemerkenswert kritische Haltung gegenüber Paris. Beide unterschieden sich dadurch von manchen ihrer Zeitgenossen, die sich wesentlich einseitiger aussprachen. So schrieb zum Beispiel der „Civil-Ingenieur“ und heute wenig beachtete Wegbereiter des Städtebaus, Elim Henry d’Avigdor, 1874 in seinem Buch über Das Wohlsein der Menschen in Großstädten – Mit besonderer Rücksicht auf Wien, dass der Pariser Leistung „Anerkennung zu verschaffen[,] ein Hauptzweck“ seiner Schrift sei.113

112 Sitte, Camillo: „Allerlei Papier (1891)“, S. 344–347 in diesem Bd. 113 Avigdor, Elim Henry d´: Das Wohlsein der Menschen in Grosstädten. Mit besonderer Rücksicht auf Wien. Wien: Gerold 1874, S. 10. Elim Henry d’Avigdor (1841–1895), in Nizza geboren, in London gestorben, stammte aus einem italienisch–französisch–britischen Adelsgeschlecht. Einige Jahre hatte er Wien zu seiner Wahlheimat gemacht. D’Avigdor forderte für Wien nach Pariser Vorbild „die einheitliche Durchführung eines vollkommen ausgearbeiteten Planes für Stadtverbesserungen, Lokalbahnen, Kanalisierung usw.“ (S. 11). Er lobte die französischen Herrscher seit Ludwig XIV. und bewunderte das Talent Haussmanns. Seiner Ansicht nach hätten Macht, Geld, Eitelkeit und Stolz das neue Paris geschaffen, welches Wien in ästhetischer Hinsicht überlegen sei (S. 10f.). D’Avigdor setzte sich aber auch ganz ausführlich mit dem britischen Beispiel auseinander, stellte kritische Vergleiche zwischen London, Paris und Wien an und kam dabei zu treffenden Aussagen über die Zusammenhänge zwischen Hausform, Verkehrswesen, dem „Wohlsein“ der Bewohner und ihren Lebensgewohnheiten (S. 59–87). Reinhard Baumeister zitierte d’Avigdor mehrfach in seinem Buch, also kannte es auch Camillo Sitte. Siehe hierzu: Baumeister 1876 (s. Anm. 92), S. 18, 23, 60. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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Eitelberger, Sitte und das englische Vorbild Neben Paris hatte auch London eine Vorbildwirkung. Aus der ehemaligen römischen Festungssiedlung Londinium entstand das mauerumschlossene mittelalterliche London, das 1000 Jahre nach seiner Gründung mit dem drei Kilometer entfernten Westminster und vielen kleinen Dörfern zu einem großen Gebilde zusammenwuchs. Seit dem 17. Jahrhundert war London, wie Paris, ebenfalls eine offene Stadt. Nach dem großen Brand des Jahres 1666 kam es zu keinem Wiederaufbau im Sinne eines einheitlichen, „von oben“ durchgesetzten Planes. Lediglich die großen Straßenzüge wurden durch die Regierung festgelegt, ebenso die Hausform. Der Wohnbau hatte am herkömmlichen dörflichen und städtischen Einfamilienreihenhaus mit Hof oder Garten festzuhalten. Die Stadttore und die Mauern wurden um 1760 nach und nach abgebrochen. London übertraf an Einwohnern bald Paris, Ende des 18. Jahrhunderts war es die erste europäische Stadt, deren Bevölkerungszahl die Millionengrenze überschritt.114 Anders als in Paris kam es dabei aber zu keinem radikalen Stadtumbau. In London wurden im 19. Jahrhundert nur zwei Straßenzüge in gründerzeitlicher Art durch den alten Baubestand geschlagen: von 1820 an in mehreren Jahrzehnten die rund einen Kilometer lange Regent Street, um 1900 der rund 600 Meter lange Kingsway zwischen Holborn und Aldwych. So war Londons Städtebau Sinnbild des englischen Wesens der Selbstverwaltung.115 Wie schon angedeutet, hatte Eitelberger eine große Zuneigung zum englischen Stadtentwicklungsmodell. Dies kommt im schon genannten, zusammen mit dem Architekten Heinrich Ferstel 1860 herausgebrachten Buch Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus besonders zum Ausdruck.116 Ferstel hatte bereits 1851 über Holland und Belgien eine Reise zur ersten Weltausstellung in London unternommen und dabei das westliche Wohnungswesen kennen gelernt.117 Eitelberger verfolgte die englische Entwicklung von Kunst und Industrie im Zusammenhang mit den Weltausstellungen genauestens. Er studierte dabei auch Geschichte und Herausbil114 Benevolo 1983 (s. Anm. 36), S. 764, 968ff.; Hegemann 1913 (s. Anm. 78), S. 273, 276f., 280f., 289. 115 Brandt, Jürgen: „Londoner Sanierungsarbeiten“, in: Der Städtebau, Jg. 22 (1926), S. 187. 116 Eitelberger/Ferstel 1860 (s. Anm. 59). 117 Wibiral, Norbert/Mikula, Renata: Heinrich von Ferstel (= Wagner-Rieger, Renate (Hg.): Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche, Bd. 8: Die Bauten und ihre Architekten, Teil 3). Wiesbaden: Steiner 1974, S. 150f.

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dung der Wohnweise. Auf seinen mehrfachen Reisen lernte Eitelberger das neuartige Zusammenwirken von Wissenschaft, Kunst und Industrie kennen, das die britische Regierung Mitte des 19. Jahrhunderts im Sinne des gewerblichen Fortschritts angebahnt hatte. Dazu wurde einerseits eine Reform des Schulwesens durchgeführt und andererseits das South-Kensington-Museum als eine Lehrsammlung geschaffen, die 1852 mit Beständen der Weltausstellung des Vorjahres begründet wurde und 1857 – was namensgebend war – nach South Kensington übersiedelte. 1897 wurde es in Victoria and Albert Museum umbenannt.118 Vom Herbst 1862 an arbeitete Eitelberger an der Gründung eines Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, das dann im Mai 1864 eröffnete. Das Museum sollte „den Industriellen die Benützung der Hilfsmittel erleichtern, welche die Kunst und Wissenschaft für die Förderung der gewerblichen Tätigkeit und insbesondere für die Hebung des Geschmackes in so reichem Maße bieten“, schrieb Kaiser Franz Joseph im „Handbillet“ an seinen kunstbegeisterten, liberalen und dem Fortschritt zugetanen Vetter Erzherzog Rainer, der Protektor des Museums wurde.119 Rainer war von Eitelberger schon 1862 in einer Unterredung in London für die Idee, ein ähnliches Museum in Wien zu schaffen, gewonnen worden. Rudolph von Eitelberger war von 1864 bis zu seinem Tod im Jahre 1885 der erste Direktor des Museums, das von Kustos Jakob von Falke ähnlich dem Londoner Vorbild gegliedert wurde.120 Falke hatte enge Beziehungen zu England. Er veröffentlichte 1878 eine Abhandlung über Das englische Haus und wurde 1885 Eitelbergers Nachfolger als Museumsdirektor.121 Das Museum verfügte über eine öffentlich zugängliche Bibliothek; alles was an Literatur über Kunst und Kunstgewerbe zusammengetragen werden konnte, wurde hier vereinigt. Man beschränkte sich dabei keineswegs auf das deutsche Schrifttum, sondern sammelte auch die einschlägigen Zeitschriften des In- und Auslandes sowie Handzeichnungen und Entwürfe. Camillo Sitte nahm an all dem regen Anteil, sowohl durch sein nahes Verhältnis zu Eitelberger, aber auch, weil das gewerbliche Schulwesen in Österreich, dem Sitte sich verschrieben hatte, aus ganz ähnlichen

118 Muthesius, Stefan: Das englische Vorbild. München: Prestel 1974, S. 48, S. 52f. 119 Fliedl, Gottfried: Kunst und Lehre am Beginn der Moderne. Die Wiener Kunstgewerbeschule 1867–1918. Salzburg, Wien: Residenz 1986, S. 67, 71. 120 Muthesius 1974 (s. Anm. 118), S. 52f.; Springer 1979 (s. Anm. 63), S. 267. 121 Falke, Jacob von: „Das englische Haus“, in: Ders.: Zur Cultur und Kunst. Studien. Wien: Gerold 1878, S. 3–70. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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Wurzeln wie in England entstanden war.122 Und doch war Sittes Beziehung zu England eine andere als zu Frankreich. In der Vorrede zu seinem Städtebau-Buch schrieb Sitte: „Die Beispiele sind auf Österreich, Deutschland, Italien und Frankreich beschränkt, weil der Autor dem Grundsatze folgte, nur Selbstgesehenes zu besprechen, von dem die ästhetische Wirkung nach eigener Anschauung beobachtet wurde.“123 Vergleicht man diese Aussage mit dem „Städte-Register“, so zeigt sich, dass in Sittes Buch keine einzige englische Stadt genannt ist, wohl aber Beispiele aus Amsterdam, Antwerpen, Bolsward, Brügge, Brüssel, Haag, Hoogstraeten, Kopenhagen, Leiden und Ypern.124 Demnach muss Sitte auch die Niederlande, Belgien und Dänemark bereist haben, die er in der Vorrede bei seiner Länderaufzählung offensichtlich vergessen hatte. Ob Sitte in den vierzehn Jahren nach Herausgabe seines Buches England besuchte, kann beim derzeitigen Stand der Forschung weder bewiesen noch widerlegt werden. Doch spricht vieles dafür, dass er die britischen Inseln nie betreten hat. Dabei mag auch die fehlende Sprachkenntnis eine Rolle gespielt haben. In einer „Personal-Standestabelle“ gab Sitte 1897 als Fremdsprachen Italienisch und Französisch an. Als Länder, die er bereist hatte, nannte er „ganz Deutschland, ganz Italien (inkl. Sizilien), Schweiz und Frankreich, Griechenland, Konstantinopel, Klein-Asien, Ägypten“.125 Eigenartigerweise nannte er also auch hier weder die Niederlande, noch Belgien oder Dänemark.

Sitte, Loos und Unwin Zwei Aufsätze aus den Jahren 1891 und 1897 zeigen, dass Sitte trotzdem über eine sehr genaue Kenntnis der englischen Entwicklung verfügte. Diese hatte er einerseits durch die Literatur, aber auch durch genaues Studium der

122 Bietak, Wilhelm: „Die Bundesgewerbeschule im Werden einer neuen Zeit“ (Festrede zur 75-Jahr-Feier der Gründung der Staatsgewerbeschule Wien 1. im Jahre 1880), in: Bundesgewerbeschule in Wien 1. Bericht über das Schuljahr 1955/56. Wien 1956, S. 14ff.; Griessmaier, Viktor: „100 Jahre Österreichisches Museum für Angewandte Kunst“, in: Ders. (Bearb.): 100 Jahre Österreichisches Museum für Angewandte Kunst. Ausstellungskatalog. Wien: Museum für Angewandte Kunst 1964, S. XI. 123 Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 2), S. IV. 124 Ebd., S. IV sowie „Städte-Register“ im Anhang. 125 Sitte, Camillo: Jährliche Personal-Standestabelle 1897, Spalte 4, Archiv des Bundesdenkmalamt Wien, Archivalien 1879–1897.

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englischen Weltausstellungsbeiträge in Wien und Paris sowie durch Museums- und Ausstellungsbesuche erworben. Seinem oben wiedergegebenen Grundsatz entsprechend schrieb er dabei mehr über Gewerbeerzeugnisse und Möbel, also über Dinge, die er selbst gesehen hatte. Architektur und Städtebau erwähnte er nur vorsichtig am Rande. Im November 1891 veröffentlichte er im Neuen Wiener Tagblatt einen feuilletonistischen Beitrag voller Ironie über „Allerlei Papier“.126 Ausgehend von einer statistischen Meldung über den Papierverbrauch von Franzosen, Deutschen und Engländern – wobei Frankreich führend im Verbrauch von Luxuspapier, Deutschland im Verbrauch von Kanzleipapier und England im Verbrauch von Packpapier sei – versuchte Sitte, dem Leser einen polemischen Einblick in die Kulturgeschichte und die Völkerpsychologie zu eröffnen. So sagte er über die Franzosen unter anderem: „Was in den Kleinkünsten der Chick, das ist hier der Esprit, mit dem Alles gemacht sein soll, und eine gewisse feinfühlige Gereiztheit gegen alles Rohe, Plumpe, Abgeschmackte, Täppische gehört mit zu den ersten Anforderungen, die man an den Künstler stellt. Dies ist die herrschende Empfindung im Lande des höchsten Bedarfes an Luxuspapier.“ Dann ging er auf die Engländer ein: „In P a c k p a p i e r l ä n d e r n dagegen ist alles kommerziell, selbst die Kunst und es wird dort ebenso in Musik gemacht wie in Weizen und Architektur oder in Tragödien und Kohle. Während es in Paris eine förmliche marchande de modes-Architektur gibt mit kokardenartig angenähten Ornamentgruppen, von denen allerlei unsymmetrisch wegflatterndes Zeug spitzen- und bänderartig ausläuft, gibt es hier eine zweifellose PackpapierArchitektur. Die Wohnhäuser ähneln häufig in auffallender Weise großen Lagerhäusern, Tabakspeichern und dergleichen; unübertroffen sind die Hoteleinrichtungen, die Docks- und Kaianlagen, kurz Alles, was auf den Verkehr sich bezieht, und hierin, wie auch im Tramwaybau etc., ist die englische Welt stets bahnbrechend vorangeschritten.“127 Sittes Vergleich der Wohnhäuser muss als nicht sehr gelungen angesehen werden, da zwischen Reihenhauszeilen, Lagerhäusern und Tabakspeichern doch ein erheblicher Maßstabsunterschied besteht, wenngleich sich vielleicht in manchen Fällen die Schlichtheit der Bauten vergleichen ließe. Oder meinte Sitte hier die schon von Wilhelm Heinrich Riehl als „Kasernen“ kritisierten „Gesellenhäuser“, mit denen England der Wohnungsnot der in die Städte zugezogenen Industriearbeiter

126 Sitte „Allerlei Papier (1891)“ (s. Anm. 112), S. 344–347 in diesem Bd. 127 Ebd, S. 344–347 in diesem Bd. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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­abhelfen wollte?128 Dennoch kam Sitte zu dem Schluss: „Unsere Architektur, wie unsere Kleinkunst, zeigen nur wenig Fühlung mit der englischen Produktion, obwohl diese vermöge ihrer Verwandtschaft nach Klima, Lebensweise und Race uns näher steht, als die Kunstweise der Südländer. Dagegen befinden wir uns mehr [oder] weniger teils in Konkurrenz mit der älteren italienischen oder neueren französischen Kunst.“129 Mit diesen Sätzen erweist sich Sitte wie viele seiner Zeitgenossen, darunter auch Eitelberger und Ferstel, als Verehrer des englischen Vorbildes auf allen Lebensgebieten.130 Sitte schrieb diese Zeilen sechs Jahre bevor Adolf Loos ab 1897 durch seine Aufsätze in der Neuen Freien Presse als Bewunderer Englands bekannt wurde. Hier zeigen sich Übereinstimmungen zwischen Sitte und Loos, der in seiner überschwänglichen Begeisterung 1908 in einer von Ludwig Thoma und Hermann Hesse herausgegebenen Zeitschrift meinte, die Deutschen sollten ihre eigene Kultur aufgeben und die englische annehmen: „Der Deutsche mag sich überdies trösten. Es ist seine eigene Kultur, der die Engländer im 19. Jahrhundert die Bahn brechen. Es ist die germanische Kultur, die im Inselreiche wie ein Mammut in den Tundren unversehrt in Eis gehalten wurde und nun frisch und lebendig alle übrigen Kulturen niederstampft. Im zwanzigsten Jahrhundert wird nur eine Kultur den Erdball beherrschen.“131 Wie gründlich sich Sitte mit der englischen Reformbewegung und ihrem Wesen auseinander gesetzt hat, geht aus einer Ausstellungsbesprechung vom November 1897 hervor. Das Österreichische Museum für Kunst und Industrie hatte mit Arthur von Scala in diesen Wochen einen neuen Direktor erhalten, der im Sinne der Gründungsidee sehr stark nach England orientiert war. Die Weihnachtsausstellung des Museums, die der Inneneinrichtung, dem Möbelbau und dem Hausrat gewidmet war, erregte großes Aufsehen. Sitte würdigte die Ausstellung in einer ausführlichen Besprechung im Neuen Wiener Tagblatt, die er zu einer kritischen Auseinandersetzung und zu Vergleichen zwischen englischen und deutschen Werken nützte: „Ganz besonders auffällig ist der Unterschied zwischen der Art des Arbeitens und künstlerischen Schaffens bei Deutschen und Engländern. Der Deutsche sucht sich zuerst geschichtlich klar zu werden, wie und warum jede Form so ent128 Riehl, Wilhelm Heinrich: Land und Leute. Stuttgart: Cotta 1894, S. 107f. 129 Sitte „Allerlei Papier (1891)“ (s. Anm. 112), S. 345f. in diesem Bd. 130 Muthesius 1974 (s. Anm. 118), S. 96–118. 131 Loos, Adolf: „Kultur“, in: März. Halbmonatsschrift für deutsche Kultur, Jg. 2 (1908), Nr. 20, S. 134. Siehe auch: Glück, Franz (Hg.): Adolf Loos. Sämtliche Schriften, Bd. 1. Wien, München: Herold 1962, S. 263, 456.

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standen, bildet sich daraus ein Glaubensbekenntniß für sein eigenes Thun und gestaltet danach erst seine Werke; seine Arbeitsmethode hat einen wissenschaftlichen Einschlag, einen geschichtlichen Untergrund. Der Engländer dagegen geht sofort an die Arbeit und wenn er in irgend etwas, sei es auch Kunst oder Wissenschaft, Meister werden will, so beginnt er sich zu trainiren. Das Training ist eben seine Methode in Allem und Jedem. Man braucht sich auf archäologischem Boden nur auf Männer zu besinnen, wie Dennis, Elgyn, Layard, Rawlinson und man wird sofort zugeben, daß sie Alle weder in ihrer Erziehung und Veranlagung, noch in ihrer Lebensführung und Arbeitsmethode irgend etwas gemein haben mit einem deutschen Buchgelehrten, einem deutschen Universitätsprofessor. Wenn selbst Darwin, auf dessen Weltanschauung übrigens schon seine Vorfahren durch mehrere Generationen hintrainirt haben, ganz ungenirt in seiner Physiognomik an der Stelle, wo er die Gesichtsmuskeln beschreibt, gesteht, daß er das nie selbst an der Leiche studirt habe, so würde ein deutscher Naturforscher eher Jahre daran setzen, ehe er sich zu einer derartigen Ungründlichkeit entschlöße.“132 Die letzteren Sätze sind auch deshalb interessant, weil Sitte sicherlich auch aus der selbstkritischen Beobachtung seiner eigenen deutschen, das heißt gründlichen Arbeitsmethode schrieb. Ebenso ist für ihn das Beispiel Darwin bezeichnend, galt doch der Physiologie seine besondere Zuwendung. Kein Zufall ist auch die mehrfache Verwendung der Vokabel Training. Ein Schwerpunkt in South Kensington war 1852 die Ausbildung von Lehrern in einer National Art Training School. Der „Schulmann“ Sitte wird sich auch damit beschäftigt haben. Er lobte, sparte aber auch nicht mit Kritik: „Die englischen Leistungen sind hoch bedeutsam und kerngesund in ihrer durch Training erreichten, wenn auch einseitigen Durchbildung; sie sind unzulänglich in wissenschaftlicher, und allgemein ästhetischer Beziehung.“133 Drei Wochen nach Sitte besprach Adolf Loos die Ausstellung in der Wochenschrift Die Zeit. Bei einem Vergleich zeigen sich manche Ähnlichkeiten.134 Wenn Sitte schreibt: „Nun ist wieder Leben eingezogen in die Räume, welche in den ersten Jahrzehnten ihres Bestandes die Führerschaft im Kunstgewerbe 132 Sitte, Camillo: „Der neue Curs am Österreichischen Museum. Von einem Fachmanne (1897)“, in: CSG, Bd. 1 (= Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2008), S. 619f. 133 Ebd.; Siehe zudem: Muthesius 1974 (s. Anm. 118), S. 48. 134 Siehe hierzu auch: Hanisch/Sonne 2008 (s. Anm. 64), S. 103–131. Loos kannte Sittes Buch und 1898 seine Haltung. Siehe Loos, Adolf: „Die Ausstellungsstadt. Ner neue Styl“, in: Neue Freie Presse, 8. Mai 1898. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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in sich schlossen, nicht nur für Wien, sondern weit über die Grenzen Österreichs hinaus“,135 so äußert Loos: „Man dünkt sich in die besten zeiten des österreichischen kunstgewerbes zurückversetzt; damals als Wien in der gewerblichen kunst im ersten treffen stand, damals als noch der unvergessene Eitelberger das regiment am Stubenring führte, kann die teilnahme des publikums kaum größer gewesen sein.“136 Sitte hielt die Ausstellung für einen „bedeutsamen Wendepunkt, vielleicht für eine ganze Generation.“137 Loos hob hervor, dass England das erste Land gewesen sei, das gegen die Imitation zu Felde zog, heute setze sich in Österreich die Abneigung gegen das Falsche langsam durch. Man müsse der Schau danken, dass sie uns anregt, „die neue lehre auch auf die wohnungseinrichtungen anzuwenden“.138 Beide beschäftigten sich mit Thomas Chippendale, den Sitte kritischer als Loos beurteilte: Sein Werk sei „von äußerster Einförmigkeit und heilloser Styhlverwirrung, genau nach denselben Mischungsverhältnissen und Mischungsformen wie unser Nordbahnhof.“139 Sitte schrieb in dieser Abhandlung aber – abgesehen von den oben wiedergegebenen Abschnitten – sehr distanziert, akademisch und ausführlich, zitierte englische Namen und Kataloge, während Loos sehr feuilletonistisch, knapp und sicher aus der Landeskenntnis heraus das englische Vorbild verherrlichte. Loos hielt sich 1896, also ein Jahr davor, längere Zeit in London auf. In der Wertschätzung des 18. Jahrhunderts waren sich Sitte und Loos einig. Während Sitte feststellte: „Alt Wien, das wäre das Losungswort, das Alt England zur Seite gestellt werden müßte“, ohne die „mindeste Verdunkelung“ fürchten zu müssen,140 wies Loos darauf hin, dass hierzulande vergessene deutsche Bürgermöbel dieser Zeit über England jetzt wieder zurück kämen.141 Über eine von Wiener Künstlern entworfene Zimmereinrichtung, ausgeführt von einem Hoftischler, sagte Loos: „Es bringt uns moderne formen im alten geiste. Wir haben daher kein recht, von einem modernen zimmer zu sprechen.“ Das Rechte wäre gewesen, wenn man alte

135 Sitte „Der neue Curs (1897)“ (s. Anm. 132), S. 615. 136 Loos, Adolf: „Weihnachtsausstellung im Österreichischen Museum. Bürgerlicher Hausrat – Das Leflerzimmer“, in: Die Zeit, Wien, 18. Dezember 1897 (wiederabgedruckt in: Ders.: Ins Leere gesprochen. Hg. von Adolf Opel. Wien: Prachner 1981, S. 27–34, hier S. 27). Siehe auch: Glück 1962 (s. Anm. 131), S. 144, 452. 137 Sitte „Der neue Curs (1897)“ (s. Anm. 132), S. 615. 138 Loos 1981 (s. Anm. 136), S. 31. 139 Sitte „Der neue Curs (1897)“ (s. Anm. 132), S. 620. 140 Ebd., S. 621. 141 Loos 1981 (s. Anm. 136), S. 30.

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Formen im Neuen Geiste angewendet hätte.142 Während Sitte den hohen Anteil an englischen Möbeln kritisierte, verteidigte Loos die Engländer ohne Wenn und Aber: „Ein land, das ein so selbstbewußtes freies bürgertum aufweist, musste den bürgerlichen stil in der wohnung bald zur höchsten blüte bringen.“143 Und vielleicht sogar auf Sitte bezogen schrieb er dann: „Man wird also wohl begreifen, dass in einer sammlung bürgerlicher möbel den engländern der löwenanteil zufallen muss.“144 Sitte zog letztlich den Schluss: „Vor Allem sollen wir Selbständigkeit von den Engländern lernen; Vertrauen in die eigene Kraft, Liebe zur eigenen Heimat, Stolz auf die eigenen großen Meister, das sind die Kräfte, mit welchen der wahre Künstler allein einen großen Erfolg erreichen kann.“145 Sitte war also sehr wohl ein Kenner der englischen Entwicklung, und Großbritannien wäre sicherlich der fruchtbarste Boden für sein Werk gewesen. Doch die große Welle der deutschen Hinwendung zu England vollzog sich erst um 1900. William Morris, der 1896 starb, erlebte die Überwindung der Sprachbarriere seiner Werke nicht mehr. Erst in den Jahren 1901/02 wurden fast alle seine kunstästhetischen Aufsätze in sieben Bänden in deutscher Sprache herausgebracht.146 Von John Ruskin, der 1900 starb, gab es schon 1861 zwei Schriften in deutscher Übersetzung, aber erst zwischen 1895 und 1910 folgten diesen weitere Werke.147 Sitte hatte also erst in seinen letzten Lebensjahren Gelegenheit, sich mit diesen beiden Führenden der ästhetischen und sozialen Reformbewegung Englands zu beschäftigen. Die mehrbändige Ausgabe der Werke Ruskins schaffte Sitte für die Biblio­ thek der Staatsgewerbeschule an. Sie ist bis heute erhalten geblieben und befindet sich in jenem Bestand, der im Jahr 2000 dort wieder aufgefunden wurde. Bei der bibliographischen Aufnahme für die Technische Universität Wien entdeckte Roswitha Lacina 2006 im zweiten Band einen aufschlussreichen Vermerk Sittes, der uns zeigt, wie er über Ruskin dachte. Im Vorwort erläuterte John Ruskin die einzelnen Abschnitte des Buches und erklärte dabei: „Der erste Vortrag sagt oder versucht zu sagen, dass das Leben sehr kurz 142 Ebd., S. 32. 143 Ebd., S. 30. 144 Ebd. 145 Sitte „Der neue Curs (1897)“ (s. Anm. 132), S. 620. 146 Bunsen, Marie von: John Ruskin. Sein Leben und sein Wirken. Eine kritische Studie. Leipzig: Seemann 1903, S. 1. Siehe auch: Muthesius 1974 (s. Anm. 118), S. 227; Kirsch, Hans-Christian: William Morris. Ein Mann gegen die Zeit. Leben und Werk. Köln: Diederichs 1983. 147 Muthesius 1974 (s. Anm. 118), S. 227. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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und die ruhigen Stunden darin sehr selten sind und dass wir daher keine damit verlieren sollten, wertlose Bücher zu lesen.“148 Die hier wiedergegebene Hervorhebung stammt von Sitte, der die Angewohnheit hatte, in Büchern bemerkenswerte Stellen zu markieren. An den Rand der Seite schrieb Camillo Sitte – mit einer Klammer über alle Zeilen – die witzige Bemerkung: „wenn man das im Vorhinein wissen könnte, würde ich vor allem Ruskin nicht gelesen haben.“149 Sitte hatte in Großbritannien einflussreiche Verehrer, die seine Lehren aufnahmen, obwohl es keine englische Übersetzung seines Buches gab. Hier ist an erster Stelle Raymond Unwin (1863–1940) zu nennen, der 1909 in seinem Buch Town planning in Practice Camillo Sitte als „Repräsentant der Deutschen Schule“ sah und sich offen zu ihr bekannte.150 An anderer Stelle bezeichnete er sie als „die moderne Schule der deutschen Städtebauer“.151 Seit dem Erscheinen von Sittes Buch sei „ein bemerkenswerter Umschwung im Charakter der deutschen Städte zu verzeichnen.“152 Man wende sich vom „geometrischen System“ Haussmanns ab.153 Nach Unwins Aussage hatte er selbst erst nach der Fertigstellung des ersten Bebauungsplanes für Letchworth „das Glück[,] Camillo Sittes Buch zu entdecken“.154 Dies muss also nach 1903 gewesen sein.155 Da er die deutsche Sprache nicht beherrschte, bediente er sich der französischen Ausgabe, was durch die schlechte Übersetzung bei ihm, wie bei vielen anderen auch, zu Missverständnissen führte. Darüber wird noch zu berichten sein.156

148 Ruskin, John: Sesam und Lilien (= Ders.: Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung, Bd. II). Aus dem Englischen von Hedwig Jahn. Leipzig: Diederichs 1900, S. 5. 149 Handschriftliche Anmerkung Camillos Sittes auf Seite 5 des sich im Besitz des Instituts für Städtebau, Landschaftsarchitektur und Entwerfen, Fachbereich Städtebau, an der TU Wien befindlichen Exemplars von Ruskin 1900 (s. Anm. 148). 150 Unwin, Raymond: Grundlagen des Städtebaues. Eine Anleitung zum Entwerfen städtebaulicher Anlagen. Aus dem Englischen von L. MacLean. Berlin: Baumgärtel 1922 (2., erw. Auflage der deutschen Erstausgabe Berlin: Baumgärtel 1910), S. 141. Englische Originalausgabe: Town planning in practice. An introduction to the art of designing cities and suburbs. London: Fisher Unwin 1909. 151 Ebd., S. 112. 152 Ebd., S. 53. 153 Ebd., S. 53. 154 Ebd., S. 127. 155 Hull, Brian G.: Letchworth Conservation Area. Letchworth: North Hertfordshire District Council 1977, Plan S. 1. 156 Wurzer, Ralph: „A study of the Reception of Sittes Ideas in American Planning Literature“,

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Neben Unwin hatte Sitte im Schotten Sir Patrick Geddes (1854–1932) einen Bewunderer, der sich in seinem Buch Cities in Evolution aus dem Jahre 1915 als verständnisvoller Kenner des Werkes und ähnlich denkender Universalist erwies. Geddes hatte ursprünglich Biologie studiert und schätzte daher Sittes Hinweise auf die Physiologie, das Sehen und die Raumwahrnehmung. Trotz aller geschilderten Hindernisse war damit der Einfluss Sittes auf die britische Gartenstadtbewegung groß, wie Ralph Wurzer nachgewiesen hat.157

Von Camillo Sitte zu Camille Martin und Le Corbusier Camillo Sitte hatte zunächst offensichtlich nicht daran gedacht, durch die Übersetzung seines Hauptwerkes in andere Sprachen die nationalen Grenzen zu überschreiten. Die Initiative dazu ging von zwei jungen Schweizer Architekten aus, die beide später Karriere machen sollten: Camille Martin (1877– 1928) und Hans Bernoulli (1876–1959). Der aus einer alteingesessenen Genfer Familie stammende Camille Martin hatte in Zürich, München und Karlsruhe Architektur studiert. Er beobachtete den Erfolg von Sittes Buch in Deutschland, erlebte die Auseinandersetzungen um die Bebauungsfragen in seiner Vaterstadt Genf und begann, angeregt durch Sitte, sich für Städtebau zu interessieren. Martin wollte in Genf die Entwicklung beeinflussen und suchte nach einer Schrift in französischer Sprache, um sie in Verwaltungskreisen zu verbreiten und den neuen Anschauungen damit den Weg bereiten zu können. Da er außer der Broschüre Esthétique des villes von Charles Buls, dem Bürgermeister von Brüssel, aus den Jahren 1893 und 1894 nichts fand, reifte in ihm der Gedanke einer Übersetzung von Sittes Städtebau.158 Ehe Martin – er war damals 24 Jahre alt – an Sitte herantrat, reiste er nach Darmstadt zu Friedrich Pützer (1871–1922), der an der dortigen Technischen

in: Berichte zur Raumforschung und Raumplanung, Jg. 33 (1989), Heft 3–5 (= Sonderheft Camillo Sitte), S. 48­–52; Wurzer, Ralph: Camillo Sitte and America. A study of the Reception of Sittes Ideas in American Planning Literature. Wien: Institut zur Erforschung von Methoden und Auswirkungen der Raumplanung der Ludwig Boltzmann Gesellschaft der TU Wien 1996. 157 Wurzer 1989 (s. Anm. 156), S. 49. 158 Buls, Charles: L’esthétique des villes. Brüssel: Bruyland-Christophe 1893. Zu Camille Martin siehe: Bernoulli, Hans: „Camille Martin“, in: Das Werk, Jg. 15 (1928), Heft 11, S. 367 (Nachruf); Brulhart, Armand: „Camille Martin“, in: Rucki, Isabelle/Huber, Dorothee (Hg.): Architektenlexikon der Schweiz. 19./20. Jahrhundert. Basel, Boston u.a.: Birkhäuser 1998, S. 363f. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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Hochschule unter anderem seit 1900 das Pflichtfach „künstlerische Fragen des Städtebaus“ lehrte. Der Architekt Pützer war ein Anhänger Sittes und wirkte auch als Kirchenbaumeister und Denkmalpfleger.159 Martin konnte ihn bei einer Unterredung für seinen Plan gewinnen und bekam von Pützer ein Empfehlungsschreiben. Am 8. Dezember 1901 schrieb Martin an Camillo Sitte und trug ihm sein Anliegen vor. Pützers Befürwortung legte er bei.160 Leider fehlt im Sitte-Nachlass der Schriftverkehr mit seinen Fachkollegen bis auf wenige Briefe. Martin bat Sitte, ihm „mitzuteilen, unter welchen Bedingungen“ eine Übersetzung möglich wäre.161 Die Antwort Sittes ist nicht erhalten. Am 28. April 1902 schrieb Martin wieder an Sitte und berichtete dabei über Schwierigkeiten mit den Verlegern in Paris und Genf. Diese seien zwar sehr interessiert, ohne finanzielle Beteiligung aber nicht bereit zu verlegen. Martin nannte eine Summe von 1500 bis 2000 Franken und schrieb dann weiter: „Einen detaillirten Kostenanschlag muss ich in den nächsten Tagen erhalten. Wenn es sein muss, bin ich bereit, auf die Entschädigung für die Übersetzung und Herstellung der neuen Illustrationen zu verzichten, frage mich aber, wie die obige Summe beigebracht werden könnte. Es wäre angenehm zu erfahren, wie Sie sich zu der Sache stellen. Was die Übersetzung anbetrifft, liegt sie nunmehr beinahe vollständig vor. Bei der Bearbeitung haben sich einige Erweiterungen als wünschbar herausgestellt: Einführung von Beispielen aus Frankreich, sowie im Cap. XI stärkere Betonung von Barockanlagen; Berücksichtigung der seit dem Erscheinen des Buches publizierten Entwürfe (Henrici, Pützer, etc.). Die Bezugnahme auf Wien sollte dagegen mit Rücksicht auf das Publikum auf die illustrierten Beispiele beschränkt werden. Ich bitte Sie, sich auch hierüber äußern zu wollen.“162 Sitte antwortete wenige Tage später. Aus einigen von ihm auf Martins Brief notierten Stichworten können wir schließen, welchen Inhalts seine Antwort gewesen ist:

159 Guther, Max: „Zur Geschichte der Städtebaulehre an deutschen Hochschulen“, in: Städtebauliches Institut der Universität Stuttgart (Hg.): Heinz Wetzel und die Geschichte der Städtebaulehre an deutschen Hochschulen. Stuttgart: Städtebauliches Institut der Universität 1982, S. 45, 64–67. 160 Martin, Camille: Brief an Camillo Sitte aus Straßburg, 8. Dezember 1901, Sign. SN: 416636/2; Pützer, Friedrich: Brief an Camille Martin aus Darmstadt, 6. Dezember 1901, Sign. SN: 416-636/1. 161 Martin 1901 (s. Anm. 160). 162 Martin, Camille: Brief an Camillo Sitte aus Straßburg, 28. April 1902, Sign. SN: 416-636/3; darin Stichworte von Camillo Sitte über seine Antwort an Camille Martin vom 9. Mai 1902.

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„geschrieben 9.5.1902, daß mit kleinen Umarbeitungen einverstanden und der Buchtitel darauf vereinbart werden müßte; aber an die Verleger von mir aus keine Concession gemacht werden kann.“163 Camillo Sitte scheint also in dieses – wie sich später zeigen sollte – unglückliche Abenteuer arglos „hineingestolpert“ zu sein: sehr großzügig, ohne seinerseits Forderungen zu stellen und offensichtlich ohne sich vertragliche Rechte zu sichern. Das Buch Camillo Sitte, L’art de bâtir les villes. Notes et réflexions d’un architecte traduites et complétées par Camille Martin kam einige Monate nach diesem Schriftverkehr heraus. Martins Vorwort vermerkt „Geneva, October 1902“ (Abb. 7).164 Camille Martin wurde bei seiner Arbeit von seinem Studienkollegen und Lebensfreund Hans Bernoulli unterstützt. Er kam aus einer berühmten Basler Gelehrtenfamilie. Beide gelten heute als Bahnbrecher des Städtebaus und der Stadtplanung in der Schweiz. 165 Zu „kleinen Umarbeitungen“ hatte also Sitte seine Zustimmung gegeben, Martin hatte dazu aber eine sehr weite Auslegung. Bereits sein erster Brief an Sitte zeigte schon reichlich Selbstbewusstsein. Zunächst löste sich Martin von Sittes Stadtansichten. Diese vier Heliogravüren und dreizehn Federzeichnungen von verschiedensten Künstlern waren auf die von Sitte gezeichneten Stadtgrundrisse abgestimmt und gaben dem Buch eine ganz bestimmte Note. Martin ersetzte diese Ansichten durch acht Zeichnungen von Hans Hindermann, sieben von Hans Bernoulli und drei von Friedrich Pützer.166 Das Einbeziehen von Pützer zeigt, wie eng die Zusammenarbeit für dieses Vorhaben

163 Ebd. 164 Sitte, Camillo: L’art de bâtir les villes. Notes et réflexions d’un architecte traduites et complétées par Camille Martin. Avec 17 dessins à plume de F. Puetzer, H. Bernoulli et H. Hindermann. Genève: Ch. Eggimann, Paris: Libraire Renourd 1902 (2. Aufl.: Paris: Libraire Renourd, Genève: Edition Atar 1918). 165 Brulhart 1998 (s. Anm. 158), S. 363. Bernoulli hatte in München, Karlsruhe und Darmstadt Architektur studiert und ein Jahr bei Friedrich Pützer gearbeitet. Bernoulli wirkte von 1919 bis 1938 als Professor für Städtebau an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Er war einer der vielseitigsten Architekten des 20. Jahrhunderts, der ebenfalls Sitte verehrte, ein Städtebauer, Bodenreformer, Schriftsteller und Politiker von Rang. Er vertrat im Schweizer Nationalrat nach 1948 einen sozialen Liberalismus, der weder den bürgerlichen noch den linksgerichteten Parteien zuzuordnen war und seine Wurzeln in der „Freiwirtschaftslehre“ Silvio Gesells (1862–1930) hatte. Siehe hierzu: Nägelin-Gschwind, Karl und Maya: Hans Bernoulli. Architekt und Städtebauer. Basel, Boston u.a.: Birkhäuser 1993; Jauslin, Manfred: „Hans Bernoulli“, in: Rucki/Huber 1998 (s. Anm. 158), S. 51–53. 166 Sitte „L’art de bâtir les villes (1918)“ (s. Anm. 164), S. 190. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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7 Frontispiz der französischen Übersetzung von Sittes „Städte-Bau“ durch Camille Martin 1902 (Sitte, Camillo: L‘art de bâtir les villes. Notes et réflexions d‘un architecte. Hier zweite Auflage 1918); Zeichnung von Hans Hindermann

war. Alle Zeichnungen wurden schließlich durch Hindermann überarbeitet und einheitlich beschriftet. Sie vermitteln einen eigenartig starren, aus ungelenker Hand kommenden Eindruck. Hans Bernoulli hingegen hatte eine sehr lockere, talentierte, zarte Strichführung, die hier nicht zu bemerken ist. Ähnliches gilt für Friedrich Pützer, dessen „künstlerische Hand“ 1893 die Anerkennung seines Lehrers Karl Henrici gefunden hat.167 Bei Sitte kommt durch die Art der Bilder die räumliche Vielfalt städtischer Lebensräume zum Ausdruck, während bei Martin durch die beschriebene Einheit der Zeichnungen fast der Eindruck einer dogmatischen „Baufibel“ entsteht.168 Wie angekündigt, brachte Martin sowohl im Grundriss wie in den Ansichten auch andere Beispiele als Sitte, einiges schied er aus, eine Abbildung 167 Vgl. Guther 1982 (s. Anm. 159), S. 44f., 64 (Zeichnungen von Pützer); Nägelin-Gschwind 1993 (wie Anm. 164), S. 272–290 (Zeichnungen von Bernoulli). 168 Vgl. Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 2) und Sitte „L’art de bâtir les villes (1902)“ (s. Anm. 164).

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8 Titelblatt der für Sittes Wahrnehmung im französischen und englischen Sprachraum verhängnis­ vollen französischen Übersetzung seines „Städte-Bau“ durch Camille Martin 1902 (Sitte, Camillo:  L‘ art de bâtir les villes. Notes et réflexions d‘un architecte. Hier zweite Auflage 1918) Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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des Schlosses Schönbrunn ersetzte er durch eine von Versailles, wobei dies noch zu den harmlosesten Änderungen zu zählen ist.169 Martin überarbeitete Sittes Buch vor allem inhaltlich, er fügte ein Kapitel Des Rues hinzu,170 ergänzte ganze Seiten aus eigener Feder und ließ Sittes Schlussabschnitt weg.171 George R. Collins und Christiane Crasemann Collins haben 1965 in ihrem Buch Camillo Sitte and the Birth of Modern City Planning Martins Übersetzung verdienstvoller Weise einer vergleichenden Prüfung unterzogen. Sie fassen das Ergebnis ihrer Untersuchung in dem Satz zusammen: „Traurig zu sagen, dass die französische Ausgabe ein ganz anderes Buch ist, nicht bloß schlecht übersetzt, wenngleich es eigentlich nicht Anschauungen ausspricht, die tatsächlich den Grundsätzen Sittes entgegengesetzt sind.“172 An anderer Stelle: „Die Unterschiede zwischen Martins Buch und dem, was Sitte wirklich sagt, sind so groß, dass es schwierig ist, sie unter Martins Überschrift ‚übersetzt und vervollständigt‘, welche auf seiner Titelseite aufscheint, in Betracht zu ziehen.“173 Neben Martins fachlichem Eifer dürfte noch etwas zu diesem Ergebnis beigetragen haben. Im Februar 1909 schrieb er in einem Brief an Siegfried Sitte, dass er sich schwer tue, in deutscher Sprache zu korrespondieren, er schreibe daher in seiner Muttersprache.174 Anders als sein Freund Bernoulli stand er also dem französischen Kulturkreis näher als dem deutschen. 1912/13 wollte er nach Paris übersiedeln, um dort gemeinsam mit seinem Verleger Eggimann tätig zu werden. Bernoulli zog 1902 nach Berlin, wo er bis 1912 erfolgreich als Architekt arbeitete.175 Die Aussagen der beiden Collins wurden durch Armand Brulhart bestätigt, der 1998 im Architektenlexikon der Schweiz schrieb: „Martins Übersetzung war eigenwillig und daher umstritten; man warf ihm zu große Abweichungen vom Original vor, doch er verstand sie als modernes und wirksames Mittel, um die europäische Heimatschutzbewegung zu verteidigen, und in diesem Sinne erfüllte sie trotz Mängeln ihren Zweck. Auf lokaler Ebene war 169 Vgl. Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 2), S. 85 und Sitte „L’art de bâtir les villes (1918)“ (s. Anm. 164), S. 105. 170 Sitte „L’art de bâtir les villes (1918)“ (s. Anm. 164), S. 75–85. 171 Ebd., S. 175–180. 172 Collins, George R./Collins, Christiane C.: Camillo Sitte and the Birth of Modern City Planning. New York: Rizzoli 1986, S. 64f. Übersetzung des Autors. 173 Ebd., S. 69f. Übersetzung des Autors. 174 Martin, Camille: Brief an Siegfried Sitte aus Genf, 3. Februar 1909, Sign. SN: 416-636/4. 175 Nägelin-Gschwind 1993 (s. Anm. 165), S. 20–28; Brulhart 1998 (s. Anm. 158), S. 364.

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die französischsprachige Ausgabe (1902) für die 1901 gegründete Commission d’Art Public ein um so nützlicheres Instrument, als sich darin außer dem Werk Camillo Sittes auch Genfer und Schweizer Beispiele fanden; sie kennzeichnete außerdem den Beginn von Le Corbusiers radikaler Kritik am Werk des Wiener Architekten.“176 Für Camille Martin war „sein Sitte-Buch“ der Beginn einer sehr erfolgreichen Berufslaufbahn. Er setzte von 1904 bis 1906 sein Studium an der Universität Freiburg in Kunstgeschichte und Archäologie fort und veröffentlichte 1906 seine Dissertation über das Genfer Rathaus. Zur gleichen Zeit arbeitete er an einem Erweiterungsplan für La Chaux-de-Fonds im Schweizer Jura, dem Geburtsort von Charles-Edouard Jeanneret, der sich ab 1923 „Le Corbusier“ nannte.177 Die erste Auflage von Camille Martins Sitte-Buch war zwar rasch vergriffen, aber finanziell kein Erfolg. Ab 1909 bemühte er sich, eine zweite Auflage zustande zu bringen. Er schrieb an Siegfried Sitte. Dieser antwortete sehr höflich. Man wolle dem Vorhaben nicht hinderlich sein: „So bin ich im Namen der gesetzlichen Erben nach Camillo Sitte gerne bereit, Ihnen für eine zweite Auflage der französischen Ausgabe die Rechte des Autors in gleicher Weise einzuräumen, wie dies mein Vater für die erste Auflage getan hat.“ Siegfried Sitte ersuchte lediglich, falls es Martin keine „Unannehmlichkeiten bereitet“, um drei Exemplare für seine Mutter, seinen Bruder und sich.178 Der 176 Brulhart 1998 (s. Anm. 158), S. 363. 177 Ebd., S. 364. Danach hatte Martin den Auftrag, einen ebensolchen Plan für Nyon, eine Bezirksstadt am Westufer des Genfer Sees, zu erstellen. Er betätigte sich in der Société d’Art Public und in der Société de l’amélioration du logement. Zu diesen Themen schrieb er zahlreiche Aufsätze und wurde 1907 Sekretär des Bureau d’assainissement et d’hygiène de l’habitation. In dieser Eigenschaft führte er nach Pariser Vorbild eine Untersuchung über die gesundheitlichen Verhältnisse in den Genfer Altstadthäusern durch. Martin entwickelte ein soziales Bewusstsein, nach eigener Aussage neigte er in späteren Jahren einem „rosaroten“ Sozialismus zu. Von 1907 bis 1913 war er Vorstand des neu geschaffenen Service municipal du Vieux Geneve, 1907 bis 1909 lehrte er als Professor für Archäologie des Mittelalters an der Universität Genf. In dieser Zeit wirkte er mehrfach bei Ausgrabungen als Berater und veröffentlichte mehrere Schriften über die Architektur des Mittelalters und der Renaissance. Ab 1908 gehörte er dem Bund Schweizer Architekten an, von 1909 bis 1913 war er Schriftleiter der Zeitschrift L’Architecture suisse. Dort veröffentlichte er in zahlreichen Artikeln beispielhafte Bauten der deutschen Schweiz, stellte aber auch seine eigenen Auffassungen zur Diskussion. Jacques Gubler konnte 1975 zeigen, dass sich ein gewisser Einfluss Martins auf Le Corbusier nachweisen lässt. 178 Martin 1909 (s. Anm. 174); Sitte, Siegfried: Brief an Camille Martin, 17. Februar 1909, Sign. SN: 416-636/4–5. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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Brief vom 17. Februar 1909 zeigt, dass es von Seiten der Familie Sitte keine Bedenken gegenüber Martin und der Art seiner Übersetzung gegeben hat, obwohl 1909 die Auswirkungen in Anfängen schon erkennbar waren. Von diesem Zeitpunkt an dauerte es noch neun Jahre, bis Camille Martin im Januar 1918 eine zweite Auflage veröffentlichen konnte. Den Pariser Verleger der Erstausgabe behielt er bei, für Genf fand er einen anderen.179 Beruflich gelang Martin 1920 der große Sprung, als er zum Leiter des Bureau du Plan d’extension berufen wurde. Es war dies die oberste Dienststelle für Stadt- und Landesplanung im Kanton Genf. Mit einem Manifest für eine rationale und ausgewogene Stadtentwicklung Genfs erregte er in der Fachwelt einiges Aufsehen.180 Gleiches gelang ihm wieder in Zusammenarbeit mit seinem Freund Hans Bernoulli im Jahre 1928 mit der ersten Schweizer Städtebau-Ausstellung im Zürcher Kunsthaus. Durch Pläne und Modelle wurden die topographischen Gegebenheiten, die historische Entwicklung, die Verkehrsverhältnisse, die neuen Stadterweiterungsgebiete und die Besonderheiten der Schweizer Städte leicht vergleichbar dargestellt. Ein spezieller Teil war dem Zürcher Verkehrsnetz gewidmet. Die Ausstellung wurde durch wöchentliche Vorträge ergänzt, „von denen einer von Camille Martin, dem Bearbeiter des Genfer Bebauungsplanes und Übersetzer Camillo Sittes ins Französische, gehalten wird“, so berichtete Der Städtebau. Dies zeigt, wie sehr die Verbindung Martins zu Sitte auch noch in späteren Jahren wahrgenommen wurde. Ein anderer Vortragender war übrigens Werner Hegemann aus Berlin.181 Im Jahre 1928 starb Martin im Alter von nur 51 Jahren – Camillo Sitte war bei seinem Tode 60 Jahre alt. Postum erschien 1929 Martins zusammen mit Hans Bernoulli verfasstes Buch L’urbanisme en Suisse, ein Ergebnis der genannten Ausstellung.182 Martins und Bernoullis Verdienste, der Disziplin Städtebau in der Schweiz zum Durchbruch verholfen zu haben, sind nach Armand Brulhart heute unbestritten.183 Rückblickend scheint es geradezu

179 Vgl. die Ausgaben Sitte „L’art de bâtir les villes (1902, 1918)“ (s. Anm. 164). 180 Brulhart 1998 (s. Anm. 158), S. 363. 181 Ebd., S. 363. Zu Ausstellung und Vorträgen siehe: Martin, Camille: „Exposition Suisse d’Urbanisme. Zurich Aout 1928“, in: Das Werk, Jg. 15 (1928), S. 97–99; 193f.; Bernoulli, Hans: „Die rationelle Stadterweiterung nach dem am 9. August in der Schweizerischen Städtebauausstellung gehaltenen Vortrag“, in: Das Werk, Jg. 15 (1928), Heft 10, S. 323– 329; Der Städtebau, Jg. 24 (1928), S. 165. 182 Martin, Camille/Bernoulli, Hans: Der Städtebau der Schweiz. Grundlagen. Hg. vom Bund Schweizer Architekten. Zürich: Fretz & Wasmuth 1929. 183 Brulhart 1998 (s. Anm. 158), S. 363.

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symbolhaft gewesen zu sein, dass 1903/04 Goecke und Sitte im ersten Heft der Monatsschrift Der Städtebau Martin und Pützer in die Liste der ständigen Mitarbeiter aufgenommen haben. Damit widerfuhr besonders Martin schon in jungen Jahren die Ehre, in den Kreis der damals führenden und anerkannten Persönlichkeiten wie Fischer, Gurlitt, Henrici, Schumacher oder Stübben aufgenommen zu werden.184 Nachdem in den Vereinigten Staaten von Amerika drei Versuche – 1903, 1913 und nach 1920 – gescheitert waren, Sittes Werk ins Englische zu übersetzen, gelang es erst 1944/45, also über 40 Jahre nach Sittes Tod und 56 Jahre nach dem Erscheinen der Originalausgabe, den englischen Sprachraum zu erreichen.185 Übersetzer war Charles T. Stewart, vormals Direktor des Urban Land Institute in Washington. In einem Vorwort schrieb der Architekt Eliel Saarinen, dass er sein Raumgefühl in großem Maße Sitte zu verdanken habe.186 Leider folgte der amerikanische Übersetzer weitgehend der französischen Ausgabe, zum geringeren Teil der deutschen. Allerdings wurden Martins eigener Abschnitt über Die Straßen, aber auch Sittes Schlusswort weggelassen. Die Abbildungen stellten eine Mischung aus beiden Ausgaben dar.187 Von Camille Martin führt, wie oben angedeutet, ein direkter Weg zu Le Corbusier, dem wohl prominentesten Kritiker Camillo Sittes. Charles-Edouard Jeanneret sollte, wie sein Vater, den Beruf des Graveurs erlernen, um in der berühmten örtlichen Uhrenindustrie tätig zu werden. Dazu besuchte er die École d’Art seiner Heimatstadt, eine Fachschule auf diesem Gebiet. Sein Lehrer Charles L’Epplattenier versammelte die begabtesten Schüler in einem Sonderlehrgang, der den Übergang vom Kunstgewerbe zur Architektur zum Inhalt hatte und die Hörer mit den Reformströmungen der Zeit vertraut machte. L’Epplattenier sah im Vorbild der Natur die Grundlage allen Gestaltens. Er vermittelte auf Wanderungen den Blick für die Schönheit des Jura. Die neue Architektur sollte auf einem eigenständigen Ornament beruhen und den Besonderheiten der örtlichen Landschaft gerecht werden. Über Ver-

184 Wurzer, Rudolf: „Franz, Camillo und Siegfried Sitte, ein langer Weg von der Architektur zur Stadtplanung“, in: Berichte zur Raumforschung und Raumplanung, Jg. 33 (1989), Heft 3–5 (= Sonderheft Camillo Sitte), S. 23. 185 Ebd., S. 22; Collins/Collins 1986 (s. Anm. 172), S. 72ff., 134. Die englischsprachige Ausgabe von Sittes „Städte-Bau“ erschienen als: Sitte, Camillo: The art of building cities. City building according to its artistic fundaments. Übersetzt von Charles T. Stewart. New York: Reinhold 1945. 186 Saarinen, Eliel: „A Note on Camillo Sitte“, in: Sitte 1945 (s. Anm. 185), S. IIIf. 187 Siehe Collins/Collins 1986 (s. Anm. 172), S. 72ff. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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mittlung seines Lehrers bekam Jeanneret als Siebzehnjähriger seinen ersten Bauauftrag: die 1906/07 ausgeführte Villa Fallet in La Chaux-de-Fonds. Dieses Haus, beeinflusst von Jugendstil-Ornamenten und vermeintlich heimatlichen Anklängen, fand Le Corbusier später „scheußlich“188 und ließ es der Vergessenheit anheim fallen. Mit dem Honorar finanzierte er 1907 seine erste große Reise, die ihn von Nord- und Mittelitalien (Florenz) über Ungarn (Budapest) nach Wien führte. Im Jahre 1908 hielt er sich abermals in Wien auf, besuchte Josef Hoffmann und überlegte, eine von diesem angebotene Arbeit anzunehmen.189 Le Corbusier löste sich aus der geistigen Enge seiner Heimat und lernte rasch durch Begegnungen und die Mitarbeit bei führenden Architekten der Zeit (Peter Behrens, Heinrich Tessenow, Theodor Fischer, Franz Jourdain, Henri Sauvage, August und Claude Perret) das neue Denken in funktionalen, konstruktiven und werkgerechten Zusammenhängen. Nach weiteren Reisen, die ihn nach Paris, Berlin, Dresden und Konstantinopel führten, kehrte er zunächst immer wieder in seine Heimatstadt zurück. Gegen den Willen seines Lehrers und seiner Eltern hielt er sich 1908/09 vierzehn Monate in Paris auf, arbeitete bei den Brüdern Perret halbtags als Zeichner, besuchte Kurse an der École des Beaux-Arts und studierte breit gefächert in Bibliotheken. Auf Vermittlung seines Lehrers übernahm Le Corbusier 1913 eine Lehrtätigkeit an der neu geschaffenen Architekturabteilung der schon genannten Schule in La Chaux-de-Fonds. In diesen Jahren führte er auch mehrere Bauten aus, die noch dem „Regionalstil“, aber auch Vorbildern wie Josef Hoffmann und Peter Behrens verpflichtet waren. Zuletzt setzte er sich sehr kritisch mit Freunden und Lehrern auseinander, ehe er sich 1917 endgültig von seiner Heimat löste und nach Paris übersiedelte. Mit dem Maler Amédée Ozenfant verdichtete er seine Erfahrungen und Visionen zu einer Kunsttheorie. Ab Herbst 1920 gaben sie gemeinsam die Zeitschrift L’Esprit Nouveau heraus. Le Corbusier schrieb darin viele grundlegende Abhandlungen, die allesamt den Geist des Maschinenzeitalters und eine neue Ästhetik der Architektur beschworen.190

188 Huse, Norbert: Le Corbusier. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1976, S. 9. 189 Ebd., S. 9–16; Sekler, Eduard F.: Josef Hoffmann. Das architektonische Werk. Monographie und Werkverzeichnis. Salzburg, Wien: Residenz 1982, S. 78, 113. 190 Huse 1976 (s. Anm. 188), S. 11–16.

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Le Corbusiers Abkehr von Sitte In diesen Jahren betätigte sich Le Corbusier auch als Maler, umso überraschter war die Öffentlichkeit, als er im Salon d’automne à Paris 1922 eine Studie über eine zeitgenössische Dreimillionenstadt präsentierte und seine Grundsätze zur neuen Stadtentwicklung verkündete.191 Le Corbusier, der sich von Anfang an als Meister der Propaganda nicht nur für sich selbst auswies, erregte mit einem Ausstellungsstand von 27 Metern Länge und einem Diorama von 100 Quadratmetern Fläche, einen weiten perspektivischen Blick auf die Stadtmitte zeigend, großes Aufsehen. Die Stadt sollte sich um zwei im rechten Winkel schneidende Hauptstraßen „für rasche Fahrzeuge“ entwickeln. Dieses Achsenkreuz ergänzten Nebenstraßen im Winkel von 45 Grad, die wiederum in regelmäßigen Abständen von ebensolchen senkrecht gekreuzt wurden. Das Stadtzentrum bildeten 24 Büro-Hochhäuser für je 10.000 bis 50.000 Angestellte mit 60 Stockwerken und einer Gesamthöhe von 220 Metern. Le Corbusier forderte den Bruch mit der Vergangenheit, Geometrie und Funktionalität würden die Stadt zu einem „Arbeitswerkzeug“ machen. Mit diesem Konzept wurde er zum Vorkämpfer für die autogerechte Stadt.192 1925 stellte Le Corbusier mit dem Plan Voisin eine Umsetzung dieser Gedanken auf den Stadtkern von Paris vor. Dieser Entwurf, benannt nach dem berühmten Flugzeug- und Auto-Industriellen Gabriel Voisin, der ihn finanziell unterstützte, sah den Bau einer neuen Geschäftsstadt im Herzen von Paris vor. Dafür sollte der ganze Stadtteil nördlich der Ile de la Cité abgebrochen werden. Le Corbusier über seinen Plan: „Wo sich heute 7, 9, oder 11 Meter breite Straßen alle 20, 30 oder 50 Meter schneiden, sieht er ein quadratisches Netz 50, 80 oder 120 Meter breiter Straßen vor, die sich alle 350 oder 400 Meter kreuzen.“193 In diesem Raster erhoben sich zwanzig Büro-Hochhäuser von 200 Metern Höhe, die alle Maßstäbe im Kern von Paris gesprengt hätten. Da Le Corbusier diese Gedanken im Pavillon d’Esprit Nouveau der Exposition Internationale des Arts décoratifs der Öffentlichkeit vorstellte, waren die Aufmerksamkeit groß und die Auseinandersetzungen heftig. Im gleichen Jahr 191 Ebd., S. 56. 192 Ebd., S. 56, 59–61. Siehe auch: Boesiger, Willy (Hg.): Le Corbusier und Pierre Jeanneret. Ihr gesamtes Werk von 1910–1929. Zürich: Girsberger 1930, S. 30; Kruft, Hanno-Walter: Geschichte der Architekturtheorie. München: Beck 2004 (5. Aufl. der Erstausgabe München: Beck 1985), S. 461ff. 193 Boesiger, Willy/Girsberger, Hans (Hg.): Le Corbusier 1910–65. Zürich: Artemis 1967, S. 320f.; Huse 1976 (s. Anm. 188), S. 63. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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fasste Le Corbusier seine Auffassungen in einem Buch unter dem schlichten Titel Urbanisme zusammen.194 Dieses Werk, wie seine drei Bücher davor, ist auch von autobiographischer Bedeutung. Zu dieser Zeit ließ er seine Schweizer Heimat auch geistig hinter sich und löste sich von fast allen Einflüssen und Auffassungen seiner Jugend, größtenteils verurteilte er sie sogar. Le Corbusier begeisterte sich für das hier schon beschriebene Modell der Pariser Stadtentwicklung und sah sich mit seinen radikalen Vorschlägen in dieser Tradition, die er im 20. Jahrhundert weiter entwickelte: Durch sein urbanistisches Konzept, und nur so, könnte Paris den Rang als erste Weltstadt im technischen Zeitalter behaupten.195 Er befürwortete eine Planung von starker Hand und berief sich wiederholt auf Richelieu, Colbert, Ludwig XIV., Napoleon I., Napoleon III. und auf Haussmann.196 In diesem Geiste ist auch Le Corbusiers Wortwahl. Der Kunsthistoriker Norbert Huse schrieb 1976 treffend: „Anrufe und rhetorische Fragen dominieren, und selbst Sätze, die scheinbar nur Tatsachen feststellen, haben oft imperativischen Unterton. Es ist die Sprache des Dekrets, ja des Tagesbefehls, nicht die der Analyse, des Arguments und der Begründung.“197 Die gerade Linie und der rechte Winkel werden als alleinige Planungsgrundlage zugelassen.198 So konnten Angriffe auf Camillo Sitte nicht fehlen, sie ziehen sich fast durch alle Teile des Buches. Schon in der Einleitung schrieb Le Corbusier: „Es gab eine Zeit, zu der mich die Lektüre Camillo Sittes, des Wieners, hinterlistig für das malerische Stadtbild gewann. Die Beweisführungen Sittes waren geschickt, seine Theorien schienen richtig; sie waren auf die Vergangenheit gegründet. In Wahrheit waren sie die Vergangenheit selbst – die Vergangenheit auf kleinem Fuß, die gefühlsselige Vergangenheit, das ein bisschen unbedeutende Blümlein am Wegrain. Diese Vergangenheit war nicht jene der Blütezeiten; sie war die der Anpassungen. Die Beredsamkeit Sittes passte zu der rührenden Renaissance des ‚Daches‘, die, ein Paradoxon würdig eines 194 Le Corbusier: Urbanisme. Paris: Crès & Cie 1925. Deutsche Ausgabe: Ders.: Städtebau. Hg. und übersetzt von Hans Hildebrandt. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1929 (2. Aufl. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1979); siehe auch: Boesiger 1930 (s. Anm. 192), S. 100, 109. 195 Verzeichnis der Bücher Le Corbusiers bei: Boesiger 1930 (s. Anm. 192), S. 2; Kruft 2004 (s. Anm. 192), S. 456, 461ff. 196 Huse 1976 (s. Anm. 188), S. 65. 197 Ebd., S. 56. 198 Ebd., S. 57.

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Höhlenbewohners, die Architektur vom geraden Wege in grotesker Weise abbringen sollte (‚Heimatstil‘).“199 Bezeichnend ist, dass Le Corbusier eine Verbindung zwischen Sittes Auffassungen und dem „Heimatstil“ herstellte, was nicht zuletzt auf Camille Martins schon beschriebene Nähe zum Schweizer Heimatschutz zurückzuführen ist. So machte Le Corbusier Sitte für Martins Wirken verantwortlich, ohne diesen zu nennen, dafür war er ihm international wahrscheinlich zu wenig bekannt. Le Corbusier verfolgte weiterhin die Entwicklung in der Schweiz. Dort hatte sich 1920 unter Beteiligung namhafter Architekten und sonstiger Künstler eine gemeinnützige Vereinigung gegründet, die besonders das ländliche Bauwesen im Sinne der Heimatpflege durch kantonale Bauberatungsstellen beeinflussen wollte. „Die Erfolge der Pro Campagna sind nach den eigenen und nach fremden Veröffentlichungen in den Anfangsjahren ihres Bestehens als höchst befriedigend zu bezeichnen“, schrieb Joseph Stübben 1923.200 Le Corbusiers Buch gliedert sich in drei Kapitel. Das erste, „Allgemeine Auseinandersetzung“ überschrieben, beginnt mit dem Abschnitt „Der Weg der Esel, der Weg der Menschen.“201 Er entwickelte darin eine triviale Philosophie und behauptete: „Der Esel hat alle Städte des Kontinents gezeichnet. Auch Paris, leider.“202 Seine Lehre in der Zusammenfassung lautet: „Die gekrümmte Straße ist der Weg der Esel, die gerade Straße ist der Weg der Menschen. Die gekrümmte Straße ist das Ergebnis der Laune, der Lässigkeit, der Ermüdung, des Erschlaffens, der Tiernatur. Die Gerade ist ein Widererstehen, ein Tun, ein bewusstes Handeln, das Ergebnis der Herrschaft über sich selbst. Sie ist gesund und edel.“203 Auch hier durfte Sitte nicht fehlen: „Man hat die Religion des Eselsweges ins Leben gerufen. Die Bewegung ging von Deutschland aus, war Folge einer Arbeit Camillo Sittes über den Städtebau, eines Werkes voll von Willkürlichkeit: Verherrlichung der geschwungenen Linie und der Scheinbeweis ihrer nicht zu überbietenden Schönheiten. Der Beweis wurde erbracht in allen Kunststädten des Mittelalters. Der Verfasser warf das bildlich Malerische und die Gesetze für die Lebensfähigkeit einer Stadt durcheinander. Deutschland hat in der Folge große Stadtviertel auf 199 Le Corbusier 1929 (s. Anm. 194), S. X. 200 Stübben, Joseph: „Schweizerische Bauberatung und Heimatpflege“, in: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereins, Bd. 75 (1923), Heft 23/24, S. 145. 201 Le Corbusier 1929 (s. Anm. 194), S. 5. 202 Ebd., S. 6. 203 Ebd., S. 5f., 10. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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­dieser Ästhetik errichtet (denn es war nur eine ästhetische Frage). Ein erschreckendes und widersinniges Verkennen im Zeitalter der Automobile.“204 Im zweiten Teil des Buches stellte Le Corbusier seine Pläne von 1922 als „Laboratoriumsarbeit, als theoretische Studie“ vor.205 Wie besessen von seiner Doktrin gibt es hier abermals einen Abschnitt „Krumme Straßen, Gerade Straßen“, sogar mit Hinweis auf seine früheren Erklärungen. Diesmal wurde er noch gröber in seiner Polemik, er zeigt sich einmal mehr als „grand simplificateur“: „Camillo Sitte hat vor zwanzig oder dreißig Jahren bewiesen, dass die gerade Straße idiotisch ist und die krumme Straße ideal. Die gerade Straße ist der längste Weg von einem Punkte zum anderen, die krumme der unmittelbarste; der Beweis, gegründet auf die gewundenen Städte des Mittelalters, war spitzfindig und blendend. Man vergaß, dass es sich um Städte mit einem Durchmesser von nicht einmal voller Kilometerlänge handelte und dass ihr verführerisches Aussehen von Gründen herrührte, die mit Städtebau gar nichts zu tun hatten.“206 In den nachfolgenden Sätzen schlug Le Corbusier fast Töne eines Kulturkampfes an, wobei er für Frankreich die Gefahr sah, mit „zwanzig Jahren Verspätung“ nun auch bei den krummen Straßen angelangt zu sein: „Kaum war das Paradoxon lanciert und mit viel Gelehrsamkeit und schlau gestützt, so ward auch die Mode lanciert. München, Berlin und ein Haufen andere Städte bauten gewundene Viertel mitten in ihrer Stadt. Dieser Widersinn hielt der Erfahrung nicht stand. Aber die Engländer und Deutschen vervielfältigten unentwegt die Gartenstädte mit den krummen Straßen, und dort war das Ergebnis schmeichelhafter, weil es unter den zweideutigsten Bedingungen vor sich ging.“207 Auch im dritten und letzten Teil, er behandelt den Plan Voisin als „Spezialfall“ für das Zentrum von Paris, kam er nochmals auf das Thema „krumme oder gerade Straßen“ zurück, diesmal ohne weitere Angriffe auf Sitte.208 Le Corbusier wiederholte sich überhaupt mehrmals, er hämmerte der Leserschaft gleichsam seine urbanistischen Glaubenssätze ein. Unter der Überschrift „Chirurgie oder Medizin“ verkündete er: „Nach Ludwig XIV., Ludwig XV., Ludwig XVI., Napoleon I. kam Haussmann und schnitt erbarmungslos im Zentrum von Paris, in einem Paris übrigens, das unerträglich war für jeden

204 Ebd., S. 9. 205 Ebd., S. 129. 206 Ebd., S. 172. 207 Ebd., S. 172. 208 Ebd., S. 209–254.

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Menschen mit gesundem Menschenverstand209 […] Haussmann hat die Boulevards gerade gezogen, weil er ein praktischer Mann war und ohne eine Spur Poesie. Ludwig XVI. und Ludwig XV. haben die Boulevards gerade gezogen, weil sie Ästheten waren und ihr Königtum im Adel ihrer Unternehmungen offenbaren wollten […]. Organisieren heißt Geometrie schaffen; Geometrie hineintragen in die Natur oder in das Chaos, das sich ‚auf natürlichem Wege‘ durch die Anhäufung der Menschen in Stadtzusammenballungen bildet, heißt Chirurgie treiben.“ 210 Unausgesprochen wird so Le Corbusier dem Leser als Bewahrer und Verkünder der reinen Lehre französischer Stadtbaukunst vorgestellt. Wie sehr Le Corbusier von der Martin’schen Sitte-Ausgabe beeinflusst gewesen ist, hat Wolfgang Pehnt schon 1993 dargelegt und auf das unveröffentlichte Jugendwerk Le Corbusiers La Construction des Villes aus den Jahren 1910/11 hingewiesen. Damals sei er für gebogene Straßen eingetreten und dafür, geometrische Anordnungen zu vermeiden: „Was die Esel betraf, attestierte er ihnen damals noch die Klugheit, sich die unbeschwerlichsten, weil dem Gelände am besten angepassten Wege zu suchen.“211 Dieses Traktat Le Corbusiers ist durch Christoph Schnoor 2003 umfassend erforscht worden.212 Le Corbusier hat mit seinen sprachgewaltigen Aussagen und ihrer propagandistischen Verbreitung einen wesentlichen Beitrag zur Verwirrung geleistet. Hanno-Walter Kruft hat dies 1985 sehr klar ausgedrückt: „,Urbanisme‘ ist eines der verhängnisvollsten Bücher in der Geschichte der Architekturtheorie. Sein Einfluss wirkte über Jahrzehnte im Städtebau fort.“213 Selbst eine so herausragende und verdienstvolle Kunsthistorikerin wie Renate Wagner-Rieger kam 1970 in Bezug auf Sitte nicht über die üblichen Gemeinplätze hinaus: „[…] sein romantischer Mystizismus […,] der Heimatkunst verpflichtet […,] wollte dieses schematische Ordnen des Verbauungsplanes durch malerische Gruppierung ersetzen […,] die Schwerpunkte […] liegen im Optisch-Malerischen.“214

209 Ebd., S. 226. 210 Ebd., S. 229. 211 Pehnt, Wolfgang: „Immer geradeaus. Der gerade Weg in der modernen Architektur“, in: Daidalos, Nr. 47 (1993), S. 21. 212 Schnoor, Christoph: La Construction des Villes. Charles-Edouard Jeannerets erstes städtebauliches Traktat von 1910/11. Berlin: TU, Diss. 2003. 213 Kruft 2004 (s. Anm. 192), S. 462f. 214 Wagner-Rieger, Renate: Wiens Architektur im 19. Jahrhundert. Wien: Österr. Bundesverlag 1970, S. 223. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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Beginn einer Neubewertung Die nun hier vorgelegten städtebaulichen Schriften Camillo Sittes widerlegen nahezu alle regelmäßig vorgebrachten Fehlurteile. Sie zeigen Sitte als tiefschürfenden und undogmatischen Geist, der in seiner Zeit sehr genau wusste, welchen Platz er in der „Neuen Bewegung“215 hatte. Sitte „versuchte die Grundsätze der Alten mit den modernen Forderungen in Einklang zu bringen“216, was oft falsch verstanden wurde. Dabei stellte er ausdrücklich fest: „Es ist sicher, dass es eine Menge Rücksichten gibt, dass Vieles, was wir an den alten Städten bewundern und wovon wir schwärmen, wenn wir von einer Reise heimkommen, heute nicht mehr möglich ist. Es ist nicht möglich, bei unseren neuen Stadtplänen so krummverzogene Gassen und Platzwinkel, wie etwa im alten Nürnberg, zur Anlage zu bringen. Es ist nicht möglich, uns selbst eine erlogene Geschichte und erlogene Naivität zu geben, blos den alten Städtebildern zuliebe. Es ist auch nicht möglich, unseren Verkehr wieder auf die Plätze zu lenken, denn die Zeiten lassen sich nicht ändern, wir stehen vor einem eisernen Muss. […] Wir können es nicht ändern, dass unsere Kunstwerke in die Museen wandern, und Zinshauskasernen bis in das fünfte Stockwerk emporragen.“217 Sitte war also alles andere als ein weltfremder Träumer. Es ging ihm um das richtige Maß und ein tieferes Kulturverständnis: „Wenn wir aber auch empfinden, dass Vieles von der alten Schönheit und Kunst über Bord gehen muss, so ist es andererseits auch sicher, dass Vieles bewahrt werden könnte, was nicht bewahrt wird.“218 Er war sich auch über den soziologischen Wandel und die Möglichkeiten des Architekten, auf ihn einzuwirken, im Klaren: „Dass sich das moderne Leben immer mehr von den öffentlichen Plätzen in geschlossene Lokale zurückzieht, können wir durch Stadtpläne nicht ändern.“219 Camillo Sitte erklärte in seinem Buch mehr als deutlich: „Es ist nicht vorgefasste Tendenz dieser Untersuchung, jede sogenannte malerische Schönheit

215 Dieser Begriff bezeichnete in den Jahren um 1900 alle jene Kräfte, die auf dem Gebiete des Gewerbes, des Handwerks, der Industrie, der Werkkunst, der Architektur, des Städtebaus und der Erziehung die Grundlagen für eine neue ästhetische Kultur schaffen wollten. Siehe hierzu: Hubrich, Hans-Joachim: Hermann Muthesius. Die Schriften zu Architektur, Kunstgewerbe, Industrie in der „Neuen Bewegung“. Berlin: Gebr. Mann 1981, S. 9ff. 216 Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 2), S. 120. Sitte liebte den Begriff „die Alten“ und verwendete ihn oft. Siehe ebd., S. 20, 41, 95, 104, 107, 119, 136, 152. 217 Sitte „Städteanlagen (1889)“ (s. Anm. 18), S. 267f. in diesem Bd. 218 Ebd., S. 268 in diesem Bd. 219 Sitte „Wien der Gegenwart und Zukunft (1889)“ (s. Anm. 18).

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alter Städteanlagen für moderne Zwecke neuerdings zu empfehlen, denn besonders auf diesem Gebiete gilt das Sprichwort: Noth bricht Eisen. Was sich aus hygienischen oder anderen zwingenden Rücksichten als nothwendig herausgestellt hat, das muss geschehen und sollen darüber noch so viele malerische Motive über Bord geworfen werden müssen.“220 Er wollte an den alten Städten die zeitlosen künstlerischen Grundsätze ergründen. Darüber hinaus erkannte er aber auch, dass der Städtebau auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauen muss. Erhebungen und Zählungen über den Verkehr, Angaben über Windrichtungen, Wasserstände und ähnliches seien Grundvoraussetzungen für alle weiteren Festlegungen in Hinblick auf Kirchen, Schulen, Amtsgebäude, Markthallen, öffentliche Gärten, Theater und Wohnbauten.221 Städtebau ohne bestimmtes Programm sei ein Unfug.222 Karin Wilhelm hat 2006 mit ihrem Buch Formationen der Stadt, Camillo Sitte weitergelesen einen fundierten Schritt für eine Neubewertung getan.223 Sie weist mit Recht besonders auf die Arbeiten von Gerhard Fehl, die „von eindeutig negativer Nachhaltigkeit“ seien.224 Angesichts von Sittes Umfeld im kulturliberalen Wien erscheint Fehls Versuch, Sitte zum Vorläufer einer Trivial-Bauideologie im Sinne der Schlagwörter „Kleinstadt, Steildach, Volksgemeinschaft“ zu machen, als völlig unhaltbar.225 Im Sitte-Nachlass befindet sich ein Sonderdruck einer Rede Camillo Sittes, in der er zum Wiener Projekt einer Avenue vom Stephansdom zum Praterstern Stellung nahm.226 Dieser Sonderdruck trägt keinen Ort, kein Datum, keine Seitenzahlen und kein Impressum. Aus der Bemerkung Sittes: „In der heutigen Nummer des Tagblatt ist mir kurz bevor ich zum Vortrag aufgerufen wurde, der Artikel Umbau des Lobmeyrhauses gezeigt worden“, konnte der Verfasser den Tag ermitteln und auch einen Bericht über die Veranstaltung 220 Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 2), S. 16. 221 Ebd., S. 139 sowie H. R. 1899 (s. Anm. 19). 222 Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 2), S. 136. 223 Wilhelm, Karin/Jessen-Klingenberg, Detlef (Hg.): Formationen der Stadt. Camillo Sitte weitergelesen (= Bauwelt Fundamente, Bd. 132). Basel, Boston u.a.: Birkhäuser 2006. 224 Ebd., S. 8. 225 Fehl, Gerhard: „Stadtbaukunst contra Stadtplanung. Zur Auseinandersetzung Camillo Sittes mit Reinhard Baumeister“, in: Stadtbauwelt, Nr. 65 (1980), S. 451–461; Ders.: Kleinstadt, Steildach, Volksgemeinschaft. Zum reaktionären Modernismus in Bau- und Stadtbaukunst (= Bauwelt Fundamente, Bd. 102). Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1995. 226 Sitte, Camillo: „Stellungnahme vor dem Donauclub über die Frage der Avenue (1895)“, S. 454–459 in diesem Bd. Siehe hierzu zudem: Riehl, Alfred: Eine Avenue Tegetthoff–St. Stephan in Wien. Wien: Selbstverlag 1895. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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finden.227 Sitte hat die Rede am 7. März 1895 im Leopoldstädter Donauclub gehalten. Es war dies ein politischer Verein der Liberalen im Sinne des schon genannten Gesetzes. Sitte, dem man später die Liebe zur krummen Straße nachsagte, befürwortete dieses größte Projekt Wiens nach Pariser Vorbild. Er schloss seine Rede mit den Worten: „Wollen Sie Alle dasselbe, wollen Sie Alle, daß Bresche gelegt werde in den Mauerring veralteter Traditionen, daß frische Lebenskraft einzieht in unseren Stadtbau, dann bitte ich Sie Alle, voll und mit ganzer Kraft für diese Sache einzutreten“ (worauf stürmischer Beifall und Händeklatschen ertönte).228 Eine derartige Prachtstraße, der mehrere mittelalterliche Bauten der Inneren Stadt zum Opfer gefallen wären, wurde in Wien heftig debattiert. Es war dies der letzte Versuch der liberalen Partei, kurz vor der Wende zur christlichsozialen Herrschaft Karl Luegers, die Macht zu erhalten. Auch im liberalen Lager gab es Gegenstimmen, im Wesentlichen stand man aber dem Projekt wohlwollend gegenüber. Die Christlichsozialen aber sprachen sich aus verschiedenen Gründen eindeutig dagegen aus und sahen in diesem Plan eine jüdische Verschwörung (Abb. 9, 10).229 Sitte stellte bei seinen empirischen Untersuchungen an den Raumgefügen immer wieder die Frage, auf welche Weise diese entstanden seien. War es Zufall oder Absicht? Er sprach einerseits von einem „Rätsel“, brach aber andererseits 1889 als Erster mit der weit verbreiteten Ansicht, die mittelalterliche Stadt sei ohne bewusste Entscheidungen gewachsen: „Es war eben nicht Zufall oder Laune der Einzelnen, wenn einstens schöne Stadtplätze und ganze Anlagen […] ohne äusserlich sichtbarer Mühewaltung zu Stande kamen […].“230 Er beschäftigte sich auch mit den für ihn klar ablesbaren Regeln der Städte, die mit Lineal und Zirkel entstanden sind, wie Alexandrien oder die großen Städte Mesopotamiens und der alten Reiche am Nil. Hier sah er aber einen Unterschied zu den Rasterstädten der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts, „weil in früheren Zeiten auch bei planmäßigen Stadtanlagen immer noch Naturgefühl, Kunstsinn und alte Tradition ein Wörthlein mitredeten.“231 227 Neues Wiener Tagblatt, 8. März 1895, S. 4. 228 Ebd.; siehe Sitte „Stellungnahme über die Frage der Avenue (1895)“ (s. Anm. 226), S. 454– 459 in diesem Bd. 229 Beller 1993 (s. Anm. 14), S. 189. 230 Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 2), S. 133, 24. Siehe auch: Sitte, Camillo: „Das Wien der Zukunft (1891)“, S. 295–308 in diesem Bd. Vgl. hierzu: Unwin 1922 (s. Anm. 150), S. 30, 112. 231 Sitte, Camillo: „Die Kunst des Städtebauens (1891)“, S. 315 in diesem Bd.

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9 Avenue nach Pariser Vorbild vom Stephansdom zum Praterstern, 1895

Über diese Fragen wurden im Jahre 2001 von Klaus Humpert und Martin Schenk wichtige Forschungsergebnisse veröffentlicht.232 Die Autoren, an der Universität Stuttgart beheimatet, untersuchten 82 Beispielstädte. Durch die neuen Möglichkeiten digitalisierter Stadtpläne, die das genaue Erfassen von Maßen und geometrischen Grundfiguren ermöglichen, gelang ihnen die Entdeckung der mittelalterlichen Vermessungstechnik. Die Ergebnisse zeigen, dass die mittelalterlichen Stadtgrundrisse aus bewussten Entscheidungen und Leistungen von Planern hervorgegangen sind. Wie nahe Camillo Sitte mit seinen Untersuchungen an heute noch gehegte Überlegungen gekommen ist, zeigt Gottfried Kiesow in seinem Vorwort: „So stellt sich spontan als Erstes jedem Leser die Frage, warum bei einer so exakten Messtechnik die Grundrisse der in einem Planungsakt bewusst angelegten Städte des 11. 232 Humpert, Klaus/Schenk, Martin: Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung. Das Ende vom Mythos der gewachsenen Stadt. Stuttgart: Theiss 2001. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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10 Übergang der Avenue über den Donaukanal; Aquarell von Ladislaus Eugen Petrovits nach Alfred Riehl, 1894, aus: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architektenvereines, Jg. 47 (1895)

bis 13. Jahrhunderts eine so große Unregelmäßigkeit aufweisen? Dahinter ist demnach ein gestalterischer Wille zu suchen, der sowohl ästhetische als auch praktische Gesichtspunkte in den Planungsprozess einbrachte. Da ging es zum Beispiel um die Schaffung geschlossener Straßen- und Platzräume, wozu das Krümmen der Hauptstraßen, das einseitige Einmünden von Seitengassen und das gegeneinander Versetzen von sich kreuzenden Straßen gehörte. Dadurch konnte Zugluft verhindert werden, was für die sehr vielseitig genutzten öffentlichen Räume von zentraler Bedeutung war, weshalb bereits Vitruv Anweisungen gab, dass es in den Straßen nicht zöge […]. Die nach 1300 gegründeten Städte oder Stadtteile weisen übrigens zunehmend eine geometrische Regelmäßigkeit auf, wie sie bereits in der Antike vorhanden war.“233

Wohnungs- und Siedlungswesen Kurz vor seinem Tod verfasste Sitte im Jahre 1902 als Obmann des Baukomitees des Ersten Wiener Beamten-Bauvereins, einer registrierten Genossen­ 233 Kiesow, Gottfried: „Vorwort“, in: Humpert/Schenk 2001 (s. Anm. 232), S. 9f.

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schaft, ein kurzes Vorwort für eine Broschüre über „bautechnische“ Grundgedanken.234 Es zeigt, dass Sitte auch auf dem Gebiet des städtischen Wohnungs- und Siedlungswesens im Geist des oben mehrfach genannten Buches von Eitelberger und Ferstel dachte. Dieses muss hier kurz vorgestellt werden, um Sittes Haltung bewerten zu können.235 Die Arbeit der beiden Autoren gehört zum Besten, was in den vier Jahrzehnten vor 1900 über das Wiener Wohnungswesen geschrieben worden ist. Sie ist ein Dokument bürgerlich sozialreformerischen Denkens, wie es für den Deutschliberalismus bezeichnend war. Eitelberger und Ferstel sprachen sich gegen das große Zinshaus und für das bürgerliche Wohnhaus (das gereihte Einfamilienhaus) aus, wie es in England, in Holland und in einem großen Teil Deutschlands noch volle Bedeutung habe und auch in Wien heimisch gewesen sei. „Das unselige Zwitterding, das zwischen Palast und dem bürgerlichen Wohnhaus steht, das Zinshaus, wie wir es in seiner ganzen Unnatur in Wien sehen, ist nicht imstande, ein Ersatzmittel für jene zu bieten.“236 Sie verglichen die Erscheinungen rund um die „Spekulationsbauten, die wie ein Alb auf unsere Gesellschaft drücken“, mit den Zuständen im untergehenden Rom.237 Eitelberger und Ferstel schlugen vor, die durch die Auflassung des Glacis gewonnenen Baugebiete durch aneinander gereihte Einfamilienhäuser auf kleinen Parzellen zu bebauen, um so die Zinshaus- und Bodenspekulation auszuschalten. Dazu wäre eine Änderung der Baugesetze und „eine gemeinnützige patriotische Gesellschaft, die arbeiten will, ohne Verlust aber auch ohne Gewinn“, anzustreben.238 Eitelberger und Ferstel wandten sich gegen die in Wien eingerissene Sitte, bei Verkauf von Baugründen nur Parzellen von großem Flächeninhalt anzubieten, weil man nur an reiche Leute und Spekulanten als Bauherren dachte. Sie traten für von Sachkundigen festgesetzte, fixe Bodenpreise ein. „Der Verkauf der Baugründe sollte von Seite der Kommune also nicht als eine bloße Spekulationssache betrachtet werden, sondern es muss der selbe mit Rücksicht auf das öffentliche Wohl und nicht mit Rücksicht auf momentane Vorteile vorgenommen werden.“239 Sie urteilten über die Folgen: „Unter diesen Verhältnissen leidet bei uns auch 234 Sitte, Camillo: „Kundmachung des Ersten Wiener Beamten-Bauvereins. Vorwort zur bautechnischen Ausführung (1902)“, S. 529f. in diesem Bd. 235 Eitelberger/Ferstel 1860 (s. Anm. 59). 236 Ebd., S. 6. 237 Ebd., S. 7, 9. 238 Ebd., S. 23. 239 Ebd., S. 44. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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der Staat, denn das Wohl des Staates beruht auf dem Vorhandensein eines großen, besitzenden Mittelstandes; er geht unheilvollen Entwicklungen entgegen, wenn dieser immer geringer, die wenigen großen Reichen immer reicher, und die zahlreichen Proletarier und Armen immer zahlreicher und ärmer werden.“240 Bei aller Kritik waren sich Eitelberger und Ferstel bewusst, dass es in einer so großen Stadt wie Wien auch Schichten gab, sie nannten Angestellte, Arbeiter, Rentner, aber auch Ärzte und Notare, die teils aus wirtschaftlichen Gründen, teils aus Berufsgründen und Neigung in Mietshäusern wohnen würden. Gegen diese Bedürfnisse wollten sie auch nicht ankämpfen: „Wir sprechen nur gegen die Ausartung, gegen die Überwucherung dieser Zinshaus-Architektur, die uns in Wien bis zu einer Höhe gediehen scheint, welche das ernsthafteste Nachdenken von Seiten der Baubehörden sowohl als auch der Familienväter beansprucht.“241 Ferstel fügte dem Buch Entwürfe für ein bürgerliches Wohnhaus (Einfamilien-Reihenhaus) und für ein MehrfamilienMietshaus bei, die seine Forderungen nach zweckmäßigen, bequemen und billigen Wohnungen verdeutlichen sollten. Das Reihenhaus sollte im Erdgeschoss ein Geschäftslokal, im ersten Geschoss die Wohnräume, im zweiten und dritten die Werkräume enthalten. Im Mehrfamilienhaus waren im Erdgeschoss zwei Geschäftslokale und die Hausmeisterwohnung, in den drei Obergeschossen je eine Wohnung vorgesehen. Ferstel sprach dabei von dem Versuch, ein mehrgeschossiges Wohnhaus zu entwerfen, das alle Vorteile des Einfamilienhauses bieten sollte.242 Eitelberger und Ferstel konnten mit ihren Vorschlägen keinen Einfluss auf die Entwicklung, auf die Erweiterung der Inneren Stadt gewinnen. Mit einigen Gleichgesinnten konnte Ferstel aber 1872 den Wiener-Cottage-Verein gründen und auf dem Gebiet nördlich von Währing, zwischen der so genannten Türkenschanze und Döbling, eine Siedlung nach englischem Vorbild schaffen. Das Ziel des Unternehmens war zunächst der Bau von kleinen einfachen Familienhäusern mit zweckmäßigen Grundrissen auf kleinen Parzellen mit dazugehörigen Gärten. Ferstel baute nicht selbst, er wirkte nur beratend. Leider entfernte man sich später von den ursprünglichen westeuropäischen Siedlungsidealen und baute großbürgerliche Villen. Dennoch war die Sied-

240 Ebd., S. 10f. 241 Ebd., S. 10, 41. 242 Ebd., Tafel 1–4. Siehe hierzu: Posch, Wilfried: Die Wiener Gartenstadtbewegung. Reformversuch zwischen erster und zweiter Gründerzeit. Wien: Edition Tusch 1981, S. 41ff.

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lung ein Signal und machte Wien mit einer kaum mehr vorhandenen Wohnform vertraut. Eitelbergers und Ferstels Buch und der Cottage-Gedanke beeinflussten sehr stark Adolf Loos, der dann nach 1918 großen Einfluss auf die Wiener Gartenstadt-Bewegung und die Sozialdemokraten ausübte.243 Sittes Prägung durch dieses Buch ist unübersehbar. So knapp sein Text ist, so sehr sind alle wegweisenden Gedanken aufgenommen: „An Bautypen sind ebenfalls alle Hauptformen je nach Bedarf in Aussicht genommen, also das frei im Garten stehende Ein- und Zweifamilienhaus, das Vierfamilienhaus; das Reihen-Cottagehaus, und endlich, wenn sich ein Bedarf danach herausstellt, auch das Zinshaus, jedoch mit denjenigen Verbesserungen und Besonderheiten, wie sie den vorliegenden Bedürfnissen entsprechen“.244 Weiter sprach Sitte von den Vermögensverhältnissen und Einkünften und der daraus folgenden Notwendigkeit einer Typenvielfalt für bescheidenes, mittleres und größeres Wohnen. Jede Wohnung, auch die kleinste, sollte über Wasserleitung, WC, Bad, Küche mit Speisekammer und „Putzterrasse“, Garten oder Gartenanteil verfügen, die Mehrfamilienhäuser gemeinsame Waschküche und Trockenboden erhalten. Auch an verschiedene Lebensformen wurde gedacht, wobei sich Sitte einer Sprache bediente, die erst rund hundert Jahre später zur Pflichtübung wurde: „Um auch den ledigen Beamten und Lehrern, sowie den Beamtinnen und Lehrerinnen diese Wohlfahrts­ einrichtung zugänglich zu machen, sollen bei genügend zahlreicher Beteiligung auch einzelne möblierte oder unmöblierte Zimmer, mit oder ohne Vorraum und etwa dazukommendem Kabinet eingerichtet werden, sei es nach dem System der Hotel garni oder unter entsprechend standesgemässer Angliederung an grössere Wohnungen bei vollständig getrenntem Eingang vom Stiegenhaus her.“245 Zu guter Letzt sprach er auch darüber, wie eine städtebauliche Nachbarschaft ausgestattet sein sollte: „Wo es möglich sein wird[,] eine grössere Anzahl von solchen Beamtenhäusern zu einem kleinen Cottageviertel zu vereinen, wird auch für die Unterbringung der nötigen Geschäftslokale, falls diese in der Nähe nicht ohnehin vorhanden wären, und für Wohlfahrtseinrichtungen (Kinderspielplätze, Bibliothek, Vereinsarzt etc.) nach Möglichkeit und Wunsch gesorgt werden.“246

243 Siehe Schweitzer, Renate: „Die Cottage-Anlage in Wien-Währing“, in: Wiener Geschichtsblätter, Jg. 22 (1967), Nr. 4, S. 240–252. 244 Sitte „Kundmachung (1902)“ (s. Anm. 234), S. 529 in diesem Bd. 245 Ebd. 246 Ebd., S. 529f. in diesem Bd. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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Camillo Sitte hat sich wenige Wochen, vielleicht wenige Tage vor seinem Ableben eingehend mit Fragen des Wohn- und Siedlungswesens auseinander gesetzt und darüber eine Abhandlung geschrieben.247 Die Themenkreise Enteignungsgesetz, Bebauungsplan, der Zusammenhang zwischen Hausform und Parzellierung und die Vorteile des Reihenhauses beschäftigten ihn dabei besonders. Immer wieder wendete er sich gegen die „strengen, aber gänzlich zwecklosen Regeln des geometrischen Städtebaus“, die Straßennetze nach dem „Diagonalsystem“ und die Sternplätze. Die dadurch entstehenden Baublöcke mit spitzen Winkeln ermöglichten keine guten Grundrißlösungen und keine wirkungsvolle, ruhige Fassadenbildung. Er sprach vom unbegreiflichen Widersinn des geometrischen Konstruierens. Ein Enteignungsgesetz, das die Ausführung solcher Willkür durch ein Zwangsverfahren da und dort möglich machte, lehnte er ab. Dabei zeigt sich, dass er die gründerzeitliche Baupraxis nicht nur aus raumkünstlerischen, sondern auch wegen der Rücksichtslosigkeit des Kapitalliberalismus angegriffen hat. Das Privateigentum werde auf Gnade und Ungnade der Gemeinde preisgegeben, was besonders gegenüber den kleinen Leuten schwer ins Gewicht falle, auf deren geringfügigen Hausbesitz oft genug der Betrieb ihres Geschäftes angewiesen sei und somit die Zukunft des Familienstandes ruhe. Dem stellt er den kommenden Städtebau nach sozialen Grundsätzen gegenüber. Als Praktiker zeigte er dies sowohl in seinen Projekten der Stadterneuerung als auch der Stadterweiterung. Sitte berichtete über die Hinwendung zum so genannten Drei- und Zweifensterhaus. Diese erfolge neuerdings im Hinblick auf eine Verbesserung der Wohnverhältnisse aus guten Gründen: „Eben deshalb weil diese Bauweise auf Grund schmaler Grundbesitzstreifen sich naturnotwendig aufbaut, ist sie keine nationale Erscheinung, etwa nur dem Nordseegebiete angehörend und von Holland ausströmend; sondern sie ist lediglich eine rein technische Parzellierungserscheinung, die daher allüberall selbständig sich entwickelt hat und genau wie in Holland und an der Nordsee auch im Binnenland, in Österreich (Brünn, Olmütz, Prag, Wien, Linz usw.), in Ungarn, in Bayern, Sachsen, ja allüberall zu Hause ist.“248 Stets auf dem letzten Stand der Entwicklung verwies Sitte dabei auf Rudolf Eberstadt (1856–1922), der damals gerade seine erste grundlegende Arbeit zum Thema Wohnungswesen veröffentlicht hatte, ein

247 Sitte „Enteignungsgesetz (1904)“ (s. Anm. 46), S. 591–617 in diesem Bd. 248 Ebd., S. 600 in diesem Bd.

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Gebiet, dem er dann sein Lebenswerk widmete.249 Eberstadt, habilitierter Nationalökonom, ging der Frage nach, warum sich im rheinischen Industriegebiet trotz stärkstem wirtschaftlichem und baulichem Wachstum wesentlich günstigere Wohnverhältnisse erhalten haben als zum Beispiel in Berlin. Für die Anregung zu dieser Studie und sachverständige Beratung dankte er Theodor Goecke. Es war dies ein erster grundlegender Beitrag zur Debatte Massenmietshaus oder Reihenhaus und über Bodenpreisbildung und Bodenspekulation. Eberstadt kam nach seiner Beweisführung zur Erkenntnis: Das System der Mietskaserne habe in der Schaffung zureichender Kleinwohnungen „vollständig versagt.“250 Sitte nahm Eberstadts Ergebnisse und Folgerungen zustimmend auf und ergänzte sie durch eigene Erfahrungen.

Camillo Sittes Vermächtnis Aus diesen Gegebenheiten heraus kann man sagen: Camilo Sitte ist, als ihn der Tod im November 1903 ereilt hat, auf dem Wege zu einem Städtebau künstlerischer Gestaltung, zu einer künftigen allumfassenden Stadtplanung gewesen, welche die Art der Stadterweiterung, alte und neue Raumgefüge, die Grundeigentumsverhältnisse, die Hausformen, die Bebauungspläne und vieles mehr harmonisch vereinen sollte. Seine letzten posthum in der Zeitschrift Der Städtebau gedruckten Worte klingen wie ein Vermächtnis: „Zum Heile unserer Städte haben wir somit augenblicklich keinen anderen Weg vor uns, als den des eifrigsten, vorurteilslosesten Studiums aller Fragen des Städtebaus, um endlich zu festen Anschauungen zu kommen, was auf diesem großen, viel verzweigten Gebiete gut und schlecht ist, was gemacht werden sollte, was vermieden werden sollte.“ Gesetze seien erst dann in Erwägung zu ziehen, „wenn sich feste Grundsätze des Städtebaus bereits gebildet und praktisch erprobt“ worden seien.251 Diese Aufgaben haben über hundert Jahre hindurch immer wieder zur Auseinandersetzung mit seinem Lebenswerk geführt.

249 Eberstadt, Rudolf: Rheinische Wohnverhältnisse und ihre Bedeutung für das Wohnungswesen in Deutschland. Jena: Fischer 1903, S. VII, 96. 250 Ders.: Handbuch des Wohnungswesens und der Wohnungsfrage, 4 Bde. Jena: Fischer 1909, 1910, 1917 und 1920. 251 Sitte „Enteignungsgesetz (1904)“ (s. Anm. 46), S. 613 in diesem Bd. Camillo Sittes städtebauliche Schriften

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Michael Mönninger

Die Zeitschrift „Der Städtebau“

Noch bis kurz vor seinem Tod 1903 war Sitte mit den Vorbereitungen für die Zeitschrift Der Städtebau beschäftigt, die von Januar 1904 an als Monatsschrift im Berliner Wasmuth-Verlag erschien, dem führenden Verlag für Architektur, Kunst und Stadtplanung in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sittes Mitherausgeber war der in Berlin lehrende und arbeitende Architekt Theodor Goecke, einer der ersten Städtebauprofessoren an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg und später Provinzialkonservator von Brandenburg. Er galt als Semper-Anhänger und als einer der treuesten Gefolgsleute Sittes, obwohl er als Autor und Stadtplaner im Ruf großer Nüchternheit steht.1 Nach dem Urteil der Deutschen Bauzeitung war Goeckes Arbeit „mehr von verstandesmäßigen Erwägungen als von lebhafter und phantasievoller Kunstauffassung getragen“.2 Gleichwohl verzeich1

Theodor Goecke (geb. 1850 in Emmerich am Rhein, gest. 1919 in Berlin) studierte Architektur an den Technischen Hochschulen in Berlin-Charlottenburg und Aachen. Mit Goeckes Berliner Habilitation 1895, so urteilt Wolfgang Hofmann, begann die Lehre des modernen Städtebaus in Berlin. Seit 1895 las Theodor Goecke in Berlin über „Allgemeine Gebäudeund Städtebaulehre mit besonderer Berücksichtigung der Socialen Bedürfnisse“. Von 1891–1895 arbeitete er als Privatarchitekt in Duisburg und wechselte 1896 in die Bauverwaltung von Brandenburg, für die er zahlreiche Kommunalbauten und Krankenhäuser errichtete. Von 1903 an war Goecke Professor für Städtebau an der TH Berlin. Zu seinen bekanntesten Schülern gehören Bruno Taut und Walter Gropius. 1908 übernahm Goecke das Amt des Provinzialkonservators der Provinz Brandenburg und gehörte zu den wichtigsten Initiatoren des Wettbewerbs zu einem Berliner Generalbebauungsplan und der „Städtebauausstellung Groß-Berlin“ 1910. Beide Tätigkeiten übte er bis zu seinem Tod 1919 in Berlin aus. Vgl. Vogt, Olaf: „Theodor Goecke. Provinzialkonservator in Brandenburg von 1908 bis 1919“, in: Brandenburgische Denkmalpflege, Bd. 4 (1995), Heft 2, S. 47–52. Vgl. ebenso Ribbe, Wolfgang/Schäche, Wolfgang (Hg.): Baumeister, Architekten, Stadtplaner. Biographien zur baulichen Entwicklung Berlins. Historische Kommission zu Berlin. Berlin: Stapp 1987, S. 389f. Vgl. auch Posener, Julius: Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. Das Zeitalter Wilhelms II. München, New York: Prestel 1995 (2. Aufl., Erstveröffentlichung München: Prestel 1979), S. 610f.

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Hofmann, Albert „Theodor Goecke †“, in: Deutsche Bauzeitung, Jg. 53 (1919), Nr. 45, S. 286f. Auch Eduard Jobst Siedler urteilte in seinem Nachruf nicht minder kritisch. Zwar habe Goecke zur „Befreiung des Städtebaues aus den Fesseln niederer Technik“ beigetragen. „Die Quelle, aus der Goecke seine städtebaulichen Gedanken schöpfte, war die mitDie Zeitschrift „Der Städtebau“

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neten Goeckes Veranstaltungen steigende Studentenzahlen und die große Themenbreite seiner Lehre fand besondere Anerkennung.3 Dass Sitte und Goecke einander hervorragend ergänzten, zeigen die komplementären Maßstabsebenen ihrer Planungspraxis. Während Sitte vor allem städtebaulich dachte und größten Wert auf die individuelle Gestaltung der Straßen, Einmündungen und Plätze legte, richtete Goecke sein Augenmerk vor allem auf die architektonische Individualisierung der Baublockformen und Parzellen. Obwohl die Geschichtssschreibung Goecke nur am Rande behandelt, gilt er als Anreger der „gemischten Bauweise“, einer Synthese aus Blockbebauung und Kleinsiedlungen, die auch in Sittes Entwürfe Eingang gefunden hat.4

telalterliche Stadtbildung. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Gestaltungen des Barock und Klassizismus von Goecke in ihrer Wesensart nicht ganz erkannt oder doch zu wenig beachtet sind.“ Siedler, Eduard Jobst: „Theodor Goecke †“, in: Zen­ tralblatt der Bauverwaltung, Jg. 39 (1919), S. 321. 3

So befürwortete das Kollegium der Abteilung für Architektur an der Königlichen Technischen Hochschule Charlottenburg am 6. März 1901 die Aufwertung von Goeckes Privatkollegien mit der Begründung: „Der Landesbaurath Goecke ist seit März 1896 Privatdo-

zent an der Technischen Hochschule und trägt vor über ‚Gebäude- und Städtebaulehre, das kommunale und soziale Bauwesen betreffend‘. Der Besuch dieses Kollegs hat sich sehr erfreulich entwickelt und ist von 4 Zuhörern im Winterhalbjahr 1896/97 auf 24 im Winterhalbjahr 1900/01 gestiegen. Herr Goecke hat jetzt den Antrag gestellt, das Privatkolleg in ein remunerirtes von 4 Stunden umzuwandeln und zwar will er vortragen über a. Städtebau: Wohnbautypen, Bauklassen und Arbeiterkolonien, Form und Größe des Baublocks, Blockteilungen, Straßenformen und Profile, Straßenvermittelungen und Platzanlagen, Stellung der öffentlichen Bauwerke, Bepflanzungen, Bebauungspläne und gesetzliche Bestimmungen b. Anlagen und Errichtung der Gebäude für die allgemeine Wohlfahrt und Volkserziehung“.

Siehe Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz (GStA PK) Berlin, I HA, Rep. 76, Kultusministerium, V b, Sekt. 4, Tit. III, Nr. 6, Bd. 6, 198. Weitere Dokumente aus dem gleichen Jahr sprachen von einem Anwachsen der Hörer Goeckes auf 66. Das Ministerium erteilte die Genehmigung am 17. Juni 1902. Am 1. April 1903, im Jahr der Berufung von Felix Genzmer nach Charlottenburg, erfolgte die offizielle Bewilligung von Goeckes Dozentur durch das Kultusministerium, wobei das Jahresgehalt mit 1440,- M. äußerst bescheiden ausfiel. Am 16. Dezember beschloß die Architekturfakultät der Königlich-Technischen Hochschule den Antrag auf Verleihung des Professorentitels an Goecke „in Anerkennung der erfreulichen Erfolge seiner Lehrtätigkeit“. Siehe GStA PK Berlin, I HA, Rep. 76, Kultusministerium, V b, Sekt. 4, Tit. III, Nr. 6, Bd. 7, Journal No. 1600 p.

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So plädierte Goecke für vom Rand zur Mitte hin abfallende Höhenstaffelungen und sah auch innere Wohnstraßen vor, die die Mietsblöcke gliedern und auflockern sollten. Vgl. Goecke, Theodor: Sociale Aufgaben der Architektur: 1. Die Architektur socialer Wohl-

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Der Städtebau war nach der spanischen Zeitschrift La Ciudad Lineal aus Madrid eines der ersten Periodika, das sich auf die räumlich-ästhetischen Aspekte des Städtebaus konzentrierte. Das von Sitte typographisch mitgestaltete Blatt war mit großformatigen und zuweilen mehrfarbigen Abbildungen als Kunstzeitschrift konzipiert, die sich deutlich von den an Fragen des Baustils oder der Konstruktionstechnik orientierten Architekturmagazinen absetzte. Gleichwohl erhob die Zeitschrift im Untertitel den Anspruch, eine Monatsschrift für die künstlerische Ausgestaltung der Städte nach ihren wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Grundsätzen zu sein. Den ganzheitlichen Anspruch auf eine nicht nur die ästhetischen, sondern auch die ökonomischen und hygienischen Seiten des Städtebaus behandelnde Herangehensweise begründeten Sitte und Goecke im Vorwort „An unsere Leser“ mit der Notwendigkeit, die „tausendfältige Einzelarbeit zu einem zusammenschließenden Ganzen“ zu vereinen.5 Obwohl Sitte knapp zwei Monate vor dem Erscheinen der ersten Ausgabe einem Gehirnschlag erlag, entwickelte sich Der Städtebau ganz in seinem Sinne zu einem Medium, in dem die herausragenden Vertreter ihres Faches – Joseph Stübben, Theodor Fischer, Karl Henrici, Charles Buls, Paul SchultzeNaumburg, Friedrich von Thiersch, Hermann Billing, Cornelius Gurlitt und viele andere – publizierten. Schon der Blick auf die ersten Themen – „Über die Stellung von Kirchen im Stadtplan“ (Fritz Wolff), „Vom Kölner Dom und seiner Umgebung“ (H. Bohrer), „Ungesunde Altertümelei im Städtebau“ (Paul Weber)6 – zeigt den thematischen Rahmen, den Sitte in seinem Städtebau-Buch von 1889 anhand historischer Stadtanalyse gesteckt hatte und der nun am Beispiel aktueller Bau- und Planungsaufgaben aktualisiert wurde. Bei aller Aufgeschlossenheit für gewandelte zeitgenössische Anforderungen zeigt sich Sittes konservatives Gesellschaftsbild bereits im Vorwort, in dem er sich mit Goecke gegen eine soziale Nivellierung und Angleichung der Klassenverhältnisse wendet: Wegen des erzwungenen Zusammenwohnens von

fahrts-Anstalten (= Fortschritte auf dem Gebiete der Architektur, Bd. 6). Darmstadt: Bergsträsser 1895. 5

Sitte, Camillo/Goecke, Theodor: „An unsere Leser (1904)“, S. 577–583 in diesem Bd.

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In dieser aufschlussreichen Polemik gegen Nachbauten und Stilimitate heißt es: „Die alten Städtebilder sind gerade deshalb so wertvoll und interessant, weil jedes Haus ehrlich sagt, aus welcher Zeit es stammt.“ Weber, Paul: „Ungesunde Altertümelei im Städtebau“, in: Der Städtebau, Jg. 1 (1904), Heft 4, S. 57. Das dürfte Sittes Abneigung gegen „Alter­ tümelei“, wie er sie schon früh in seinen Kunstkritiken immer wieder formuliert hatte, sehr entsprochen haben. Die Zeitschrift „Der Städtebau“

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Reichen wie Armen in Mietskasernen stelle „dieses einförmige Städtebausystem […] wahrlich kein ideales naturgemäßes Entgegenkommen gegen die so verschiedenartigen Bedürfnisse der Bevölkerung dar“.7 Damit stellte sich der Volkspädagoge Sitte frontal gegen die geradezu sozialreformerische Haltung des 1902 gestorbenen Berliner Stadtbaurates James Hobrecht, der bereits seit langem die Vorteile des „Durcheinanderwohnens“ beschrieben hatte, um die Klassenantagonismen zu mildern.8 Der Städtebau widmete sich fortan allen Fragen der Bauordnung, Bodenpolitik, Grundstücksspekulation, Industrieansiedlung, Verkehrsführung und des Stadtgrundrisses, war aber vor allem berühmt für seine großformatigen Abbildungen von Wettbewerbsbeiträgen für neue oder regulierte Stadtanlagen in ganz Europa. Nachdem die Städtebau-Ausstellungen von Berlin und Düsseldorf 1910 dazu beigetragen hatten, die von der Zeitschrift thematisierte künstlerische Sicht auf Planungsfragen populär zu machen, orientierte sich das Blatt nach dem Ersten Weltkrieg und dem Tod von Theodor Goecke 1919 deutlich um und favorisierte unter der Leitung von Heinrich de Fries anstelle der historischen die zeitgemäßen Lösungen. 1924 übernahm Werner Hegemann,9 ebenfalls ein engagierter Sitte-Anhänger, die Schriftleitung des Städtebau und richtete ihn auf einen Moderne-kritischen, aber gleichwohl sozialpolitisch engagierten Kurs aus.10 Von 1927 an erschien das Blatt mit der   7 Sitte/Goecke 1904 (s. Anm. 5), S. 581 in diesem Bd.   8 „Das Sehen und Kennenlernen, die Berührung mit der Armuth und der Unbemitteltheit in allen Abstufungen ist für den Reichen und Wohlhabenden eine sittliche Schule, während die Abschliessung entweder zu einer Verhärtung, oder bei empfindsamen Naturen […] zu einer falschen und nervösen Humanität führt.“ James Hobrecht, zitiert nach Strohmeyer, Klaus: James Hobrecht (1825–1902) und die Modernisierung der Stadt. Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 2000, S. 62. 9

Der Stadtplaner, Schriftsteller und Kritiker Werner Hegemann (geb. 1881 in Mannheim, gest. 1936 in New York) war u.a. Generalsekretär der „Internationalen Städtebauausstellung“ in Berlin 1910 und veröffentlichte nach langjährigen Aufenthalten in den USA zusammen mit Elbert Peets 1922 das Architektenhandbuch The American Vitruvius: An Architects’ Handbook of Civic Art (Erstveröffentlichung New York: Wenzel & Krakow 1922, Reprint New York: Princeton Architectural Press 1988). Das Buch basiert wesentlich auf der Stadtbaulehre Camillo Sittes, fordert die Einheit von Städtebau und Architektur und reicht in seinen Wirkungen bis zur postmodernen „New Urbanism“-Bewegung.

10 So lehnte Hegemann das Werk des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright kategorisch als naiv, romantisch und sogar secessionistisch ab, obwohl der Wasmuth-Verlag 1910 eine vielbeachtete Publikation über Wright veröffentlicht hatte und die europäische Moderne sehr fasziniert davon war. Vgl. Crasemann Collins, Christiane: Werner Hegemann and the Search for Universal Urbanism. New York, London: Norton 2005, S. 159f.

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Beilage Baupolitik. Von 1930 an wurde die Zeitschrift als Beilage von Wasmuths Monatsheften für Baukunst übernommen, die unter dem Titel Wasmuths Monatshefte für Baukunst und Städtebau noch bis 1942 erschienen.11

Sittes Aufsatz „Enteignungsgesetz und Lageplan“ In seinem im ersten Heft von 1904 postum erschienenen Aufsatz „Enteignungsgesetz und Lageplan“12 analysierte Sitte aktuelle Stadterweiterungsentwürfe und kritisierte vor allem einen Plan für die Südstadt von Hannover, der von den Berliner Architekten Havestadt und Contag entwickelt und von dem späteren Hannoveraner Stadtbauinspektor Gerhard Aengeneyndt überarbeitet worden war. Anstelle des mit Sternplätzen, Diagonalen, spitzwinkligen Einmündungen und rechtwinkligen Kreuzungen überzogenen Stadtgrundrisses setzte Sitte einen Gegenentwurf, der sich an die Ordnung der bestehenden Flurstücke anpasste, die Parzellenstruktur weitgehend konservierte und auch den Verkehrsfluß durch Straßenverschwenkungen verlangsamte.13 Auch wenn das Hannoveraner Stadtbauamt in einem Leserbrief an die Zeitschrift Der Städtebau massive Kritik an Sittes Unkenntnis der konkreten Örtlichkeiten übte, lieferte Sitte mit diesen Gegenentwürfen eine späte, geradezu materialistisch erscheinende Begründung für seine baukünstlerischen Überzeugungen. Hier findet sich bei ihm eine der deutlichsten Resonanz-

11 Vgl. Fuhlrott, Rolf: Deutschsprachige Architekturzeitschriften. Entstehung und Entwicklung der Fachzeitschriften für Architektur in der Zeit von 1789–1918. München: Verlag Dokumentation 1975, S. 181f. 12 Sitte, Camillo: „Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)“, S. 591–617 in diesem Bd. 13 Der Bebauungsplan von 1888/89 sollte die Südstadt von Hannover am Rand des Stadtwaldes Eilenriede als bürgerliches Quartier für wohlhabende Bevölkerungsschichten erschließen. Sein realisiertes Grundmuster besteht aus mehrfach sich überlagenden unterschiedlichen Straßensystemen: eine breite Nord-Süd-Durchquerung, quer dazu verlaufende Alleen mit Vorgärten, eine Waldringstraße sowie zahlreiche offene Plätze. Der Stadthistoriker Sid Auffarth sieht in der Anlage „das letztlich erfolgreiche Bemühen, die Südstadt zu einem glanzvollen Höhepunkt bürgerlichen Städtebaus zu entwickeln“. Siehe Auffarth, Sid: „Eine Stadt auf dem Wege in die Moderne: Hannover 1814 und später“, in: Städtebau in Hannover. Ein Führer durch 50 Siedlungen. Hg. von Michael Braum und Hartmut Millarg. Berlin: Reimer 2000, S. 29f. Über Stübbens Rolle als Preisrichter im Hannoveraner Wettbewerb vgl. Karnau, Oliver: Hermann Joseph Stübben. Städtebau 1876–1930. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1996, S. 405f. Die Zeitschrift „Der Städtebau“

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bildungen auf das biologische Entwicklungsdenken des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Denn Sitte fasste die Stadt als naturales Gebilde auf, dessen Wachstumslogik er gegen die modernen Planungsstrategien verteidigte. So hatte er schon früh gegen die Nivellierung des Bodenreliefs,14 gegen die Geraderichtung von alten Straßen und gegen die Geometrisierung des Stadtplans protestiert. Doch erstmals in diesem Aufsatz von 1904 wies Sitte auf die ästhetischen, ökonomischen und strukturellen Vorteile der „Einfühlung“ in das Vorhandene hin; in seiner Forderung nach dem Schutz der historischen Parzellen und Besitzverhältnisse vor der planerischen Einebnung steckte der Wunsch, eine quasi-natürliche Bodenökonomie zu konservieren, ja frühere Entwicklungsstufen der Stadt zu rekapitulieren. Sein Eintreten für die gekrümmte Straßenführung war somit keine bloße künstlerische Erfindung im Horizont des damaligen Jugendstil, sondern die Angleichung des Stadtplans an die Irregularität der konventionellen Eigentumstitel. Alle handwerklichen, künstlerischen und Stadtgestaltungsprinzipien von Sitte zielten auf ein genuin gesellschaftliches Ideal: auf die Wiedergewinnung der Stadt als ein soziales Kunstwerk. Sittes Widerstand galt der totalen Verflüssigung und Homogenisierung der geometrisierten Verkehrsstädte, in denen die traditionellen gesellschaftlichen Verschränkungen funktional wie sozial zerstört wurden. Städtebauliche Raumbildungen waren für ihn kein künstlerischer Selbstzweck, sondern sollten mit dem Mittel der Architektur wieder soziale Bindekräfte erzeugen. Im naturalen Blick auf die Morphologie der Stadt steckte eine die objektive und subjektive Natur verbindende kollektivistische Vorstellung von Stadtgesellschaft als sozialem Organismus, von einem natürlichen Gleichgewicht im gesellschaftlichen Aufbau. Als Angehöriger des wirtschaftsliberalen Bildungsbürgertums im Wien der Jahrhundertwende verteidigte Sitte eine prekäre Sozialordnung. Zwischen den Polen des monarchischen Obrigkeitsstaates einerseits und der gefürchteten sozialdemokratischen Umwälzung15 andererseits setzte er seine Hoffnungen darauf, mittels kleinteiliger Stadtgrundrisse auch eine ebenso differenzierte bürgerliche Eigentümerschaft zu stärken. Damit schien er die kommenden 14 Vgl. Sitte, Camillo: „Auf gleicher Höhe (1892)“, S. 369–373 in diesem Bd. 15 Es findet sich in Sittes Schriften nur eine späte politische Äußerung, die auf seine bürgerlich-konservative Gesinnung schließen lässt. In einer Erörterung über Wohn- und Siedlungsformen schreibt er, dass die Planungen eigener, von anderen Stadtteilen getrennter „Arbeiterviertel überhaupt die üppigsten Seuchenheerde für socialdemokratische Umtriebe abgeben“. Sitte, Camillo: „Erklärungen zu dem Lageplan für Reichenberg (1901)“, siehe Bd. 6 der CSG.

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Stürme der ökonomischen Vergesellschaftung zu ahnen, die gleichermaßen von rechts wie links kamen: von den großen Kapitalsammlern der Fonds und Banken ebenso wie von sozialistischen Enteignungspropheten, die die Städte in staatlichen Großgrundbesitz überführen wollten. Die Verfasser der von Sitte angegriffenen Stadtpläne wehrten sich heftig gegen die Vorwürfe, die sie als nicht in der Sache begründet ansahen. Auch der von Sitte attackierte Joseph Stübben meldete sich im gleichen Jahr mit einer Gegenrede16 im Städtebau zu Wort, in der er Sitte vorwarf, er habe sein Urteil über bereits vor 25 Jahren für Köln entworfene und längst ausgeführte Baupläne gefällt, „ohne die örtlichen Vorbedingungen zu kennen“. Sittes Gegenvorschläge für Hannover und Köln seien „zwar gut gemeint, aber von vornherein unausführbar“ und „für Ortskundige unannehmbar.“ Dennoch räumte Stübben ein, dass er nach einem Vierteljahrhundert seit der Verfassung des ursprünglichen Kölner Vorschlags den betreffenden Lageplan „heute vermutlich nicht ganz so gestalten würde“ – und relativierte dieses Zugeständnis mit der ironischen Anmerkung: „denn, so pflegte einer meiner Lehrer drastisch zu sagen, nur ganz alte Esel lernen nichts mehr zu.“ Es steht außer Zweifel, dass Sittes Ausführungen bei Stübben und anderen Städtebauern ein deutliches Umdenken bezüglich des „Anschmiegens“ (Stübben) der Planung an die vorhandene Bodenordnung bewirkten.17 Nach einer langen Latenzperiode tauchte diese Auffassung schließlich in der Parzellentheorie der Berliner Stadtbaudebatte nach 1990 wieder auf, ohne jedoch explizit auf Sitte Bezug zu nehmen.18 Als postume Hommage und offensichtlich auch als Reaktion auf die Kritiker von Sittes Enteignungs-Aufsatz veröffentlichte Theodor Goecke im ersten Jahrgang des Städtebau auch Sittes Entwurf für den Bebauungsplan von Marienberg (Mariánské Hory), einem Stadtteil von Ostrau (Ostrava), der heute drittgrößten Stadt der Tschechischen Republik.19 In diesem bereits vor 1900 erarbeiteten und in großen Teilen realisierten Entwurf hatte Sitte die Prinzipien seiner Städtebaulehre mustergültig angewendet und auch vehe-

16 Stübben, Joseph: „Stadtbauplan, Enteignung und Umlegung“, in: Der Städtebau, Jg. 1 (1904), Heft 9, S. 127–130. Alle folgenden Zitate ebd. 17 Vgl. Karnau 1996 (s. Anm. 13), S. 205ff. 18 Erstmals thematisiert bei Hoffmann-Axthelm, Dieter: Die dritte Stadt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 198ff. 19 Sitte, Camillo: „Erläuterungen zu dem Bebauungsplane von Marienberg“, in: Der Städtebau, Jg. 1 (1904), Heft 10, S. 141–145; Tafeln 73–76. Über Marienberg vgl. auch Kieß, Walter: Urbanismus im Industriezeitalter. Von der klassizistischen Stadt zur Garden City. Berlin: Ernst 1991, S. 395ff. Die Zeitschrift „Der Städtebau“

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11 Camillo Sitte, Bebauungsplan von Marienberg, vor 1900 (publiziert 1904)

ment seinen Widerstand gegen die zeitgenössischen Grundstücksumlegungen dokumentiert.20 In diesem Plan lehnt Sitte die „geschlossenen Markthallen in Glas und Eisenkonstruktion“ rigoros ab und plädiert für „das antike System des umbauten und vom Straßenverkehr abgeschlossenen Atriums oder Forums […], ein gegen den Himmel offener Markthof, der somit hinreichend lüftbar ist und keine Baukosten verursacht“.21 Auch sieht er in der „Anlage vieler und breiter Straßen eine geradezu finanziell unverantwortliche Vergeudung wertvollen Baugrundes.“ Stattdessen befürwortet er eine – an Goeckes gemischter Bauweise orientierte – „Zusammenfassung der Höfe und Gärten im Innern

20 Eine ausführliche Darstellung des Marienberg-Plans und der übrigen städtebaulichen Arbeiten Sittes enthält Bd. 6 der CSG. 21 Sitte „Erläuterungen zu dem Bebauungsplane von Marienberg“ (s. Anm. 19), S. 141–145, Zitat S. 142. Alle folgenden Zitate ebd.

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der Baublöcke“ und verweist auf die mittlerweile in Hamburg und anderswo eingeführte „innere Bauflucht“, die „eine gesunde staubfreie Luft […] und ein ruhiges behagliches Wohnen (Arbeiten und Schlafen) ermöglicht“. In Abkehr von der zeitgenössischen Verkehrsplanung formuliert er das Prinzip: „Die Formel des neuesten Städtebaues lautet, dass der Städtebauer ein Mindestmaß von Grundfläche für Straßen zu verwenden und dafür aber für gute Innenausbildung möglichst großer Baublöcke zu sorgen habe.“ Größten Wert legt Sitte auf die „sorgsame Berücksichtigung der Grundbesitz-Grenzen“. Angesichts der Umlegungs- und Enteignungsgesetze sieht er „sämtliche städtische Grundbesitzer zu einer Art Zwangsgenossenschaft zusammengeschweißt“, die bestrebt sei, „eine derartige das ganze Privatvermögen gleichsam verstaatlichende Gesetzgebung zu verhindern“. Damit stellte Sitte einen polemischen Bezug zur damaligen Kontroverse um die sogenannte „Lex Adickes“ her, jenem nach dem Frankfurter Oberbürgermeister benannten Umlegungsgesetz von 1902, mit dem zuvor ländliche Verfahren der Flurbereinigung auch auf Städte angewendet werden konnten, wo sie häufig auf massiven Widerstand der Grundbesitzer stießen. Sittes Arbeit für Marienberg sollte noch weitere Kreise ziehen. Sie wurde nicht nur auf der Berliner Städtebauausstellung 1910 gezeigt und von Werner Hegemann in American Vitruvius publiziert, sondern floß direkt in richtungsweisende amerikanische Planungen ein, wie John Nolens Gartenstadt Mariemont (Ohio).22

22 Vgl. Crasemann Collins, Christiane: „Sitte: Übertragung und Verbreitung über den Atlantik. Die frühen Boten: Raymond Unwin, John Nolen und Werner Hegemann“, in: Semsroth, Klaus/Jormakka, Kari/Langer, Bernhard: Kunst des Städtebaus. Neue Perspektiven auf Camillo Sitte. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2005, S. 137f. Die Zeitschrift „Der Städtebau“

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Sitte und Semper

Als junger Mann konnte Sitte die Entstehung von Gottfried Sempers Monumentalbauten an der Wiener Ringstraße beobachten. Mit der Bauaufgabe des Museumsforums vor den Toren der Hofburg war er freilich schon zuvor durch seinen Vater vertraut gemacht worden. Denn 1867 hatte Franz Sitte als Privatarchitekt, der sich zuvor schon erfolglos um den Bau der Votivkirche beworben hatte, ein selbständiges Projekt für die beiden Museen vorgelegt, mit dem er sich die Einladung zum Wettbewerb erhoffte.1 Darin verglich der Vater die Lage der beiden Museen mit der geographischen Gliederung Österreichs: „Der östliche Länder-Komplex des Staates Oesterreich hat einen vorwiegend agrikolen Charakter. Der westliche hingegen – nämlich im Gegenhalte zu jenem – einen mehr industriellen, gewerb-kunstthätigen.“ Aus diesem in seinen Erläuterungen mehrfach beschworenen „Dualismus“ des Habsburgerreiches zwischen Cis- und Transleithanien bezog Franz Sitte die bildliche Planfigur seines Entwurfes: Im südöstlichen Trakt wollte er das Natur- und im nordwestlichen das Kunsthistorische Museum unterbringen. Doch angesichts der beginnenden Legitimationskrise der Monarchie und des Autonomiestrebens der Kronländer war Franz Sittes Bauprogramm ein hilfloser Versuch, den zentrifugalen Kräften im Vielvölkerstaat mit der einheitsstiftenden Kraft der Monumentalbaukunst zu begegnen. Ein Jahr später legte der Vater das Bauprogramm für ein Phantasieprojekt vor, das er abwechselnd „Eintrachtskirche“ und „Friedensdom“ nannte.2 Darin stei-

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Sitte, Franz: Ein architektonischer Gedanke über die Erbauung der beiden natur- und kunsthistorischen Museen in Wien. Wien: Selbstverlag 1867. Alle folgenden Zitate ebd. Räumlich entsprach der Entwurf bereits den später von Gottfried Semper ausgeführten Bauten. Allerdings wollte Franz Sitte das Ensemble an der Ringstraße mit „Statuen, welche in natürlichen Zäunen stehen“, begrenzen und zur Lastenstraße hin mit einem Querflügel als Verbindungstrakt abschließen. Ich danke Roswitha Lacina für den Hinweis auf diese Publikation.

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Sitte, Franz: Beleuchtung des äussern Monumental-Monumentes des vom österreichischen Civil-Architekten Franz Sitte entworfenen und zur öffentlichen Betrachtung in der deutschen allgemeinen Kunst-Austellung in Wien vorgeführten Kirchenbau-Projectes das ein praktischer Versuch sein soll, die Spur zur Beantwortung der brennenden Baustylfrage aufzufinden. Geschrieben vom Projektanten. Wien: Selbstverlag 1868. Alle folgenden Sitte und Semper

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12 Franz Sitte, Grundriss, aus: Ein architektonischer Gedanke über die Erbauung der beiden naturund kunsthistorischen Museen in Wien. Wien: Selbstverlag 1867, Tafel 1

gerte er seine verzweifelte Suche nach einer politisch-ästhetischen Erneue­ rung der habsburgischen Reichseinheit zur schwärmerisch-kunstreligiösen Anrufung von „Schöpfergott“ und „Weltgeist“. In seinen Entwurfserläuterungen berief sich Franz Sitte auch auf „die Musik unsers größten Tonheroen, Richard Wagner“, in der er „die Posaune der Weltgeschichte“3 sah und die er zum Vorbild für die Suche nach einem neuen künstlerischen Stil erklärte. Somit hatte bereits der Vater den Anstoß für Camillo Sittes lebenslange Orientierung am Einheitsideal des Wagnerschen Gesamtkunstwerkes gegeben.4

Zitate ebd. Ich danke Roswitha Lacina für den Hinweis auf diese Publikation. Bemerkenswert ist, dass auch Camillo Sitte in seinen späten Lebensjahren das Phantasieprojekt eines Weltanschauungsmonumentes plante, den „Holländer-Thurm“. Vgl. Mönninger, Michael: „Leben und Werk Camillo Sittes“, in: CSG, Bd. 1 (= Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2008), S. 45f. 3

Sitte 1868 (s. Anm. 2), S. 78.

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Zu Camillo Sitte und Wagner vgl. Mönninger, Michael: „Sitte und Wagner“, in: CSG, Bd. 1 (= Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2008), S. 86–102.

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Gottfried Semper5 war ein lebenslanger Freund und Mitstreiter Richard Wagners. Beide hatten im Revolutionsjahr 1848/1849 in Dresden gekämpft, waren ins Exil geflohen und pflegten später in Zürich einen intensiven Gedankenaustausch.6 Aber genauso wie im Falle von Sittes Verhältnis zu Wagner ist nicht zu klären, ob Sitte persönlichen Umgang mit Semper hatte.7 Lediglich von Sempers Söhnen gibt es Äußerungen, dass man im Familienkreis sehr wohl von Sittes Eintreten für Semper aufmerksam Notiz genommen hatte.8 5

Gottfried Semper (geb. 29. November 1803 in Hamburg; gest. 15. Mai 1879 in Rom) studierte nach einer humanistischen Ausbildung in Hamburg an der Universität Göttingen und begann 1825 ein Architekturstudium in München. Nach Aufenthalten in Dresden (1834–1839), Paris (1849–1851) und London (1851–1855) wurde er als Professor an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich berufen, wo er 1855–1871 als Direktor der Bauschule wirkte. 1869 wurde er von Kaiser Franz Joseph I. nach Wien berufen, um die Planung der Wiener Hofmuseen zu begutachten. Bis 1876 wirkte Gottfried Semper in Arbeitsgemeinschaft mit dem Architekten Karl von Hasenauer an Planung und Bau der Hofmuseen (1869–1876), des Burgtheaters (1872–1876) und der Neuen Hofburg (Entwurf 1869–1873, Bau 1881–1913), die er mit den Hofmuseen zum Konzept eines „Kaiserforums“ vereinigen wollte. Über Sempers architektonisches Werk vgl. Fröhlich, Martin: Gottfried Semper. Zürich, München: Artemis 1991; Laudel, Heidrun: Gottfried Semper. Architektur und Stil. Dresden: Verlag der Kunst 1991; Mallgrave, Harry Francis: Gottfried Semper. Architect of the Nineteenth Century. New Haven, London: Yale University Press 1996.

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Über Sempers und Wagners lebenslange Verbindung vgl. Gregor-Dellin, Martin: Richard Wagner. Sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert. München: Piper 1991. Über Semper und Wagner in Zürich vgl. Knoepfli, Albert: „Zu Tische in der Aula des Semperschen Polytechnikumgebäudes. Zu den Zürcher Kreisen der frühen Semperzeit“, in: Börsch-Supan, Eva (Mitarb.): Gottfried Semper und die Mitte des 19. Jahrhunderts (= Geschichte und Theorie der Architektur. Schriftenreihe des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich, Bd. 18). Basel, Stuttgart: Birkhäuser 1976, S. 255–274. Vgl. auch Sturm, Hermann: Alltag & Kult. Gottfried Semper, Richard Wagner, Friedrich Theodor Vischer, Gottfried Keller. Basel, Berlin u.a.: Birkhäuser 2003.

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Selbst Zeitzeugen wie Sittes Sohn Heinrich bleiben in ihren Andeutungen über persönliche Beziehungen merkwürdig vage: „Durch den Jugendfreund Hans Richter war mit Wagner auch die Persönlichkeit Gottfried Sempers nahe gebracht worden, dessen Schriften, Gedanken über Städteanlagen und Theaterbau Sitte lange beschäftigten. Von ,Bayreuth’ war in den Briefen des Freundes versteckt andeutend die Rede, von Sempers gemütlicher Art im Verkehr mit Wagner.“ Sitte, Heinrich: „Camillo Sitte“, in: Neue Österreichische Biographie 1815–1918, Abt. 1, Bd. 6. Zürich, Leipzig u.a.: Amalthea 1929, S. 140.

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Die früheste Erwähnung findet sich in einem Brief von Hans Semper an Manfred Semper vom 18. Juli 1881: „Im neuen Wiener Tagblatt vom 8‘ Juli ist ein Artikel v. Schembera [Sittes Pseudonym], der Deine Publication von Papas Entwürfen bespricht und energisch gegen Hasenauer für Papa in die Schranken tritt.“ Siehe Archiv des Instituts für Geschichte Sitte und Semper

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Camillo Sitte fand in Sempers Gedankenwelt nicht nur das Vorbild eines idealen Städtebaus, der nicht symmetrische Regeln befolgte, sondern „organisch emporgewachsen“ war.9 Vor allem war es auch Sempers tiefgreifende Neubestimmung der Stilgeschichte und Formengenese im Sinne eines technologischen Materialismus und einer praktischen Produktionsästhetik, die für Sitte zur Grundlage seiner Auffassung von Wissenschaft und Kunst wurde.10 Freilich hing Sitte mit seiner Überbetonung der Stoffe und Zwecke als Hauptdeterminanten der Formgebung einer sowohl materialistischen wie ahistorischen Radikalinterpretation der Semperschen Stillehre an, gegen die Alois Riegl 1893 energisch den Einfluss von Kulturtransfer, Tradition, Ideenlehre und Kunstwollen ins Spiel brachte, um Semper vor dem reduktionstischen Kunstmaterialismus der sogenannten „Semperianer“ in Schutz zu nehmen.11 Aber diese Einseitigkeit Sittes ist nicht nur strategisch im Kampf gegen die Stilverwirrung des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu sehen. Sie hing auch mit seinem Erkenntnisinteresse zusammen, dass er nicht nur am Leitfaden von Sempers Gedanken in produktionstheoretischer Absicht nach ästhetischen

und Theorie der Architektur (gta), ETH Zürich, 21-K-1881-07-18. Ich danke Dieter Weidmann, Zürich, für diesen Hinweis.   9 So schreibt Semper 1834: „Wie lehrreich auch hier das Studium der Alten. Wie organisch aus sich selbst emporgewachsen alle die Städte mit ihren Märkten, Stoen, Tempelhöfen, Gymnasien, Basiliken, Theatern und Bädern, mit allen ihren Orten zur Beförderung des Gemeinsinns und des öffentlichen Wohls. Nicht nach symmetrischen Regeln willkürlich hingestellt, nein, da, wo Bedeutsamkeit und Bestimmung sie erheischte, standen die Monumente, scheinbar regellos, aber nach den höheren geistigen Gesetzen des Staatsorganismus bedungen. Alles war im Maßstab zum Volke konzentriert, in enger Umschließung, und dadurch imposant.“ Semper, Gottfried: „Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten, Altona 1834“, in: Semper, Gottfried: Kleine Schriften. Hg. von Hans und Manfred Semper. Berlin, Stuttgart 1884, S. 221 (Reprint Mittenwald: Mäander Kunstverlag 1979).. 10 Wie Sempers Lehre von den Urtypen als „Raumfigurationen der Vergesellschaftung“ sowohl auf Sitte wie auf die Wiener Kunst- und Städtebaudebatte eingewirkt hat vgl. Wilhelm, Karin: „Zur Architekturtheorie der Wiener Moderne“, in: Acham, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 5: Sprache, Literatur und Kunst. Wien: Passagen 2003, S. 445–469. 11 Vgl. Hanisch, Ruth/Sonne, Wolfgang: „Camillo Sitte als ‚Semperianer‘“, in: Franz, Rainald/ Andreas Nierhaus (Hg.): Gottfried Semper und Wien. Die Wirkung des Architekten auf „Wissenschaft, Industrie und Kunst“. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2007, S. 103f. Vgl. auch Dies.: „Die Welt der kleinen Dinge. Camillo Sittes Schriften zum Kunstgewerbe“, in: CSG, Bd. 1 (= Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2008), S. 130.

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Naturgesetzen in der Morphologie der Kunst und des Kunstgewerbes suchte, sondern diese Fragestellung später zunehmend auch rezeptionstheoretisch auf die Gesetze der Sinneswahrnehmung und der pädagogischen Bildungsprozesse hin erweiterte.

Sempers Stillehre So geht auch Ernst H. Gombrich sehr weit, wenn er Gottfried Semper und seine Bemühungen um eine Neubegründung der Stillehre und des Kunstgewerbes als entfernte Vorläufer des Bauhauses sieht.12 Sempers Arbeiten fielen in eine Umbruchzeit, in der zum rapiden Wachstum des wissenschaftlichen Wissens die entfesselte industrielle Warenproduktion hinzukam. Maschinenwesen und technische Materialbearbeitung sprengten die traditionellen Grenzen von Kunst und Kunstgewerbe und gaben der Willkür in der Formgebung freie Bahn. Zudem mussten diese gigantischen Stoffmengen erfasst und geordnet werden. Nicht zufällig stand Sempers Suche nach einer grundlegenden neuen Klassifikation der Kunst und des Kunstgewerbes in direktem Zusammenhang mit der Blütezeit der Weltausstellungen und der Gründungswelle neuer Sammlungen und Museen.13 Gegen die bis Ende des 18. Jahrhunderts gültige Einteilung nach materiellen Gesichtspunkten und nach einem normativen und ahistorischen Ordnungsraster hatte die Archäologie und Kunstwissenschaft mit Winckelmann das historische System einer zeitlichen Stufenfolge von niederen und ­höheren 12 „Der Weg von hier zum Bauhaus ist noch weit, aber im Grunde ist es dieselbe Straße.“ Gombrich, Ernst H.: Ornament und Kunst. Schmuckttrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens. Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 62. 13 Semper hatte 1851 als politischer Emigrant in London an der Vorbereitung der Weltausstellung teilgenommen und darüber seine Schrift Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung des nationalen Kunstgefühles (Braunschweig: Vieweg 1852) verfasst. Daraus ging sein grundlegendes Klassifikationsschema der vier Elemente in der Baukunst hervor. In diesem Zusammenhang entwickelte er auch seinen Plan für ein „ideales Museum“, der später zur Gründung des South Kensington Museums führte. Vgl. Mrazek, Wilhelm: „Gottfried Semper und die museal-wissenschaftliche Reformbewegung des 19. Jahrhunderts“, in: Semper, Gottfried: Wissenschaft, Industrie und Kunst und andere Schriften über Architektur, Kunsthandwerk und Kunstunterricht. Hg. von Hans Maria Wingler. Mainz, Berlin: Kupferberg 1966, S. 113–119. Siehe auch Lankheit, Klaus: „Gottfried Semper und die Weltausstellung London 1851“, in: Börsch-Supan 1976 (s. Anm. 6), S. 23–47. Sitte und Semper

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Kulturepochen gesetzt, in dem die Überlegenheit der Hervorbringungen ­eines Volkes über diejenigen eines anderen behauptet wurde. Weil Semper darin nur eine neue Willkür sah, die einen alten Schematismus durch einen anderen ersetzte, orientierte er sich an der Strenge der naturhistorischen Klassifikationen. In seinem 1853 im Londoner Exil verfassten Vortrag „Entwurf eines Systemes der vergleichenden Stillehre“ forderte Semper, „anstatt der früheren rein äußerlichen und mehr oder weniger willkürlichen Systeme der Beiordnung oder einer Scheinordnung ein organisches vergleichendes System“ aufzustellen.14 Er wollte auf kunsthistorischem Gebiet das leisten, was der französische Naturforscher Georges Baron de Cuvier (1769–1832) mit seiner vergleichenden Anatomie für die Naturgeschichte getan hatte.15 Cuviers radikale naturhistorische Neuerung bestand in der Abkehr von der traditionellen substantialistischen Taxonomie der Formen, Dispositionen und Größen hin zu einer funktionalen Auffassung der Arbeitsweise der Organismen als Korrelation von Teilen, die sich bislang der direkten Wahrnehmbarkeit entzogen hatte.16 Anstelle der zuvor stabilen Schöpfungsordnung der Lebewesen setzte Cuvier einen Stammbaum organischer Verrichtungen, worin verschiedene Organe einander bedingen und substituieren können oder sich wechselseitig transformieren. Semper griff diese Klassifikationsidee begeistert auf: „Eine solche Methode, ähnlich derjenigen, welche Baron Cuvier befolgte, auf die Kunst und speciell auf die Architektur angewandt, würde zum mindesten dazu beitragen, einen klaren Überblick über den ganzen Bereich zu gewinnen und vielleicht sogar die Basis einer Lehre vom Stile und einer Art von Topik oder Erfindungsmethode, welche zur Erkenntnis des natürlichen Processes des Erfindens führen könnte.“17 14 Semper, Gottfried: „Entwurf eines Systemes der vergleichenden Stillehre“, in: Ders.: Kleine Schriften. Hg. von Hans und Manfred Semper. Berlin, Stuttgart: Spemann 1884, S. 260. 15 Über Semper und Cuvier vgl. Rykwert, Joseph: „Semper and the Conception of Style“, in: Börsch-Supan 1976 (s. Anm. 6), S. 68–81. Vgl. auch Hauser, Andreas: „Der ‚Cuvier der Kunstwissenschaft‘. Klassifizierungsprobleme in Gottfried Sempers ‚Vergleichender Baulehre‘“, in: Grenzbereiche der Architektur. Festschrift Adolf Reinle. Basel: Birkhäuser 1985, S. 97–114. Vgl. auch Laudel 1991 (s. Anm. 5), S. 43ff. 16 So konnte Cuvier beispielsweise beim Tintenfisch alle Funktionen der Fische wiederfinden, trotz der Abwesenheit jeglicher Ähnlichkeiten oder Analogien, zudem ebenfalls zwischen Kiemen und Lungen, zwischen dem Bein eines Hasen und dem Schwanz eines Seehundes. Über Cuviers Klassifikationsmethode vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 322ff. Vgl. auch Mayr, Ernst: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt, Evolution und Vererbung. Berlin, Heidelberg u.a.: Springer 1984, S. 147f. 17 Semper „Vergleichende Stillehre“ 1884 (s. Anm. 14), S. 261.

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Semper hatte bereits auf der Londoner Weltausstellung von 1851 Kategorien vorgeschlagen, um der ungeheuren Evidenz der ausgestellten Waren und Kulturgüter Herr zu werden. Die Ordnung sollte nicht mehr materieller, sondern funktionaler Natur sein und die Ausstellungsgegenstände in die „Elemente der häuslichen Niederlassung: Herd, Wand, Terrasse, Dach“ einteilen.18 In weiterer Folge ordnete Semper diesen Elementen die damit verbundenen Urprinzipien kunsthandwerklicher Tätigkeiten zu, die gleichsam das Äquivalent zu den Verrichtungen des tierischen Organismus bildeten. In seinem großen Lehrwerk Der Stil führte er 1860 diese funktionale Klassifikation aus. In der Vorrede dazu beschrieb Semper seine Aufgabe, „die bei dem Prozess des Werdens und Entstehens von Kunsterscheinungen hervortretende Gesetzlichkeit und Ordnung im Einzelnen aufzusuchen, aus dem Gefundenen allgemeine Prinzipien, die Grundzüge einer empirischen Kunstlehre, abzuleiten.“ Semper verstand unter den Gesetzlichkeiten des Werdens, dass aus dem Modellieren für den Herd, der auch das sozial vereinigende Element ist, die Keramik entsteht; das Knüpfen, Weben und Binden für den Raumabschluss der Wand führt laut Semper zur textilen Bekleidungskunst; aus dem Zimmern und Zusammenfügen stabförmiger Teile für Terrasse und Dach geht die Tektonik hervor; schließlich kommt das Steinschneiden hinzu, die „Stereotomie“ der Steinkonstruktionen, die das textile Binden und tektonische Zusammenfügen ersetzt.19 Gemäß Cuviers Prinzip, nur Verrichtungen und Funktionen zu beachten, suchte Semper die Wurzeln der Ästhetik in der Produktion. Die architektonische Produktion wiederum leitete er vom Kunsthandwerk ab, aus dem das Bauen erst viel später hervorgegangen sei.20 Sempers praktische Produktionsästhetik und seine Nobilitierung des zuvor verachteten Kunstgewerbes

18 Semper „Wissenschaft, Industrie und Kunst“ 1852, wiederabgedruckt in: Semper 1966 (s. Anm. 13), S. 27–71, hier S. 30. 19 Vgl. Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1: Textile Kunst und Bd. 2: Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik. Frankfurt/M.: Kunst und Wissenschaft 1860 (Bd. 1), München: Bruckmann 1863 (Bd. 2) (Neuauflage Mittenwald: Mäander Kunstverlag 1977), Zitat Bd. 1, S. VIII. 20 Das erste Mal äußerte er diesen Gedanken in seinem Londoner Vortrag von 1853 über die vergleichende Stillehre. Darin stellt er fest, „daß die Geschichte der Architektur mit der Geschichte der Kunstindustrie beginnt, und daß die Schönheits- und Stilgesetze der Architektur ihr Urbild in denjenigen der Kunstindustrie haben.“ Semper „Vergleichende Stillehre“ (s. Anm. 14), S. 263. Sitte und Semper

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hatten auch auf den Wiener Kunsthistoriker Rudolph von Eitelberger großen Einfluss, Sittes akademischen Lehrer und Förderer. In seinen Aufsätzen würdigte Sitte Sempers Theorie als „unmittelbare[n] Ausfluß unumstößlicher Naturgesetze“21. Er stellte Semper in die gleiche geistige Tradition wie Lessing, dessen Kunstschrift „Laocoon“ die „Grenzen der einzelnen Künste […] als Folge der verschieden gegebenen materiellen Hilfsmittel der Darstellung“22 definiert hatte. Mit dem Verweis auf Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) wird Sittes geistiger Bezug zum Neuhumanismus der deutschen Aufklärung explizit. Das organologisch-anthropologische Ideal der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (Lessing) in der deutschen Aufklärung verstand Bildung vor allem als Selbstbildung des Menschen, was in Sittes naturhistorisch-evolutionistisch geprägter Auffassung von Kunst und Pädagogik eine späte Resonanzbildung erfuhr. In der 1766 erschienenen kunsttheoretischen Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie war Lessing der Streitfrage der zeitgenössischen Ästhetik nachgegangen, ob die bildenden Künste nach dem Vorbild der Griechen der Maßstab für die Dichtung seien. Lessing stellte angesichts der fehlgeleiteten Schilderungssucht der Malerei und der Allegoriensucht der Poesie die fundamentale Verschiedenheit der Aufgaben dieser Künste heraus. Seine Ableitung der Kunstprinzipien aus dem Gegenstand, seinen Materialien und Zeichen, beendete die Herrschaft abstrakt deduzierter Regeln in der Kunst, die „wie ein abgetragener Rock weggeworfen“ wurden (Goethe).23

21 Sitte, Camillo: „Gottfried Semper (1873)”, S. 165 in diesem Bd. 22 Sitte, Camillo: „Gottfried Semper (1879)“, S. 164–166 in diesem Bd. 23 Goethe beschrieb in Dichtung und Wahrheit die durchschlagende Wirkung des Laokoon auf die damaligen Zeitgenossen: „Das so lange mißverstandene ut pictura poesis war auf einmal beseitigt, der Unterschied der bildenden und Redekünste klar, die Gipfel beider erschienen nun getrennt, wie nah ihre Basen auch zusammenstoßen mochten. Der bildende Künstler sollte sich innerhalb der Grenzen des Schönen halten, wenn dem redenden, der die Bedeutung jeder Art nicht entbehren kann, auch darüber hinaus zu schweifen vergönnt wäre. Jener arbeitet für den äußeren Sinn, der nur durch das Schöne befriedigt wird, dieser für die Einbildungskraft, die sich wohl mit dem Häßlichen noch abfinden mag. Wie vor einem Blitz erleuchteten sich uns alle Folgen dieses herrlichen Gedankens, alle bisherige anleitende und urteilende Kritik ward, wie ein abgetragener Rock, weggeworfen […].“ Goethe, Johann Wolfgang von: Dichtung und Wahrheit, in: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9. München: Beck 1988, S. 316. Über die Stellung des Laokoon in Lessings Werk und in der Kunstgeschichte vgl. Guthke, Karl S. / Schneider, Heinrich: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart: Metzler 1967.

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In einem Nachruf auf Semper 1879 wiederholte Sitte die bereits in seinen Kritiken zur Malerei geprägte Formulierung vom Kreislauf der Stilarten im 19. Jahrhundert. Semper habe diese zyklischen Reproduktionen nicht weitergetrieben, sondern seine Leistung bestehe darin, „dass wir das Primitive von dem höher Entwickelten, das Zusammenpassende von dem sich Widersprechenden zu trennen lernen und nun mit Bewusstsein Kunstwerke schaffen. Dieses Bewusstsein, das Lessing einmal das Röhrenwerk der Kritik nannte, tritt heute an Stelle der Tradition […]“.24 Während früher zur Hervorbringung eines Kunstwerkes „Genie und Tradition“ nötig gewesen sei, gehöre nun, „wo die handwerkmässige Tradition ausgestorben, […] Genie und Bewusstsein, d.i. streng wissenschaftliche und kritische Durchbildung, stylistische Überzeugung dazu“.25 Bemerkenswert ist an dieser Stelle Sittes Abkehr vom Geniegedanken der Neuzeit, der das göttlich inspirierte, genia­ lische Subjekt gerade durch die Loslösung von konventionellen Bindungen definiert hatte. Sitte verknüpfte hier vielmehr die Schöpferkraft des Genies mit der Arbeitskraft des in der Tradition wurzelnden Handwerks, oder, in modernen Begriffen ausgedrückt, den Künstler mit dem Ingenieur. Einerseits evozierte Sitte damit die noch unentfremdete und nicht arbeitsteilig in Kopfund Handarbeit zerlegte Produktion.26 Zugleich stand er mit der Forderung, dass an die Stelle der nicht mehr verfügbaren Tradition das wissenschaftliche Bewusstsein treten solle, im geistigen Horizont der nachromantischen Zeit des Biedermeier und des aufkommenden Naturalismus.27

24 Sitte „Semper (1879)“ (s. Anm. 22), S. 164–166 in diesem Bd. Alle folgenden Zitate ebd. 25 Sittes Formulierung ist selber geistig verwandt einer Äußerung Sempers von 1853. Dort heißt es: „Je mehr wir in der Zivilisation und in den Kenntnissen vorschreiten, desto mehr scheint es, daß uns jenes instinktive Gefühl verkümmert, welches die Menschen bei ihren Erstlingsversuchen in der Kunstindustrie leitete, während die Wissenschaft noch nicht dahin gelangt ist, uns für diesen Verlust zu entschädigen.“ Semper „Vergleichende Stillehre“ 1884 (s. Anm. 14), S. 275. Im Gegensatz zu Semper scheint Sitte – 26 Jahre später – den Fortschritt der Wissenschaft als ausreichend zu empfinden, um den Verlust an Instinkt zu kompensieren. 26 Über die mit dem Gedanken der Arbeitsteilung verbundene Begriffsentwicklung vom Genie zum bürgerlichem Individuum vgl. Floßdorf, Bernhard: Kreativität. Bruchstücke einer Soziologie des Subjekts. Frankfurt/M.: Syndikat Autoren- und Verlags-Gesellschaft 1978, S. 48ff. 27 Die für diese Epoche charakteristische Zeitstimmung hat Jochen Schmidt in seiner Geschichte des Geniegedankens am Beispiel Gottfried Kellers treffend beschrieben: „Man fühlt sich als Epigone, sieht die großen Leistungen als unwiederbringlich vergangen an und empfiehlt als einzig legitime Aufgabe das kulturhistorische Aufbewahren und AufSitte und Semper

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Sempers Städtebau und Architektur Bei der Auseinandersetzung um Sempers Wirken in Wien, vor allem um seine Urheberschaft am Burgtheater und am „Museumsforum“, entwickelte sich Sitte nach Sempers Tod zum polemischen Verteidiger der Semper’schen Entwürfe. Sein Hauptaugenmerk lag auf Sempers räumlich-städtebaulichen Kompositionen. Allerdings sind die wichtigsten späteren Semper-Aufsätze Sittes unter einem Pseudonym verfasst. Der Grund dafür war, dass Sitte von 1875 an die Leitung der Salzburger Staatsgewerbeschule übernommen hatte und als Beamter keine öffentliche Kritik an Staatsbauten üben durfte oder wollte. Deshalb unterzeichnete er seine Artikel mit dem Namen seines Freundes und Redakteurs des Neuen Wiener Tagblatts, V. K. Schembera.28 In seiner ersten kämpferischen Semper-Apologie postum von 188129 verband Sitte eine Rezension neuer Architekturbücher über Semper mit einer freien architekturkritischen Betrachtung der Wiener Ringstraßenbauten. Dort hatte nach dem Vorbild von Napoleon III. in Paris Kaiser Franz Joseph 1857 eine radikale Stadtmodernisierung befohlen. Der Wiener Festungsgürtel war niedergelegt und die Glacisanlage mit öffentlichen Gebäuden bebaut worden. Der seit dem 13. Jahrhundert weitgehend unveränderte Stadtgrundriss Wiens sollte mit den mittlerweile 34 außerhalb des Walls entstandenen Vorstädten verbunden und zu imperialem Glanz gebracht werden.30 Als 1859 der erste Ringstraßen-Plan verabschiedet wurde, war die österreichische Armee im Krieg gegen Frankreich und Piemont unterlegen, und 1866 folgte

bereiten der Überlieferung.“ Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 2: Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reiches. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985, S. 124f. Dass diese kompensatorische Bewusstmachung verlorener Überlieferungen Sitte zufolge nur mit wissenschaftlichen Mitteln geschehen kann, deutet im Kern bereits auf die angestrebte Aufhebung der Distanz zwischen Naturwissenschaft und Kunst hin. 28 Den Artikeln Sittes über Semper, 1881–1885 im Neuen Wiener Tagblatt erschienen, ist im Sitte-Nachlass-Archiv eine handschriftliche Notiz vorangestellt, die einer der Söhne Camillo Sittes, vermutlich Siegfried Sitte, verfasst hat. Sie lautet: „Einlageblatt. Mit den folgenden vier Schriften trat unser Vater in den damals heftigen Kampf um die Urheberschaft Gottfried Semper’s an den Wiener Monumentalbauten ein. Mit Rücksicht auf die öffentliche Stellung des Verfassers wurden diese im ‚Neuen Wiener Tagblatt‘ erschienenen Artikel von dem befreundeten Redacteur und Schriftsteller V.K. Schembera gezeichnet.“ 29 Sitte, Camillo: „Der neue Wiener Styl (1881)“, S. 188–199 in diesem Bd. 30 Über den Wiener Stadtumbau vgl. Kieß, Walter: Urbanismus im Industriezeitalter. Von der klassizistischen Stadt zur Garden City. Berlin: Ernst 1991, S. 181–200.

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die Niederlage von Königgrätz. Das habsburgische Reich begann sich aufzulösen. Der Kaiser musste sich fortan verstärkt auf das Bürgertum stützen und machte das Zugeständnis, den zunächst dem Militär vorbehaltenen Josefstädter Paradeplatz mit Rathaus, Parlament und Universität zu bebauen.31

Semper und Hasenauer Höhepunkt der Ringstraßenmonumentalität war die Planung der Hofburg und des äußeren Burgplatzes mit Volks- und Kaisergarten.32 Als 1866/1867 ein Wettbewerb in Streitigkeiten vor dem Oberkämmereramt steckenzubleiben drohte, bat der an der Konkurrenz beteiligte Architekt Karl von Hasenauer33 brieflich Semper um Unterstützung. Schließlich wurde Semper auch von der Jury des Wettbewerbs als Schiedsrichter beigezogen und um ein Vergleichsgutachten gebeten. Er verwarf alle vier Wettbewerbsprojekte und plädierte für eine größere Lösung im Sinne einer „weit umfassenderen, um einen neuen Residenzbau sich concentrirenden Bauidee, der sich jene beiden Museen unterzuordnen haben würden“.34 1869 bat ihn schließlich der junge Kaiser Franz Joseph nach Wien und beauftragte ihn mit dem Entwurf der beiden Museen und der Hofburgerweiterung.35 Dabei wünschte der Kaiser 31 Hauser, Andreas: „Sempers städtebauliche Visionen“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 67 (2004), Heft 3, S. 396. 32 1865 hatten die Architekten Hansen, Ferstel, Löhr und Hasenauer in einem beschränkten Wettbewerb Entwürfe für die Hofmuseen vorgelegt. Weil die Konkurrenz erfolglos blieb, arbeiteten Löhr und Hasenauer ihre Entwürfe noch einmal um. Danach wurde Semper hinzugebeten. Vgl. Wagner-Rieger, Renate: Architektur in Wien. Vom Klassizismus bis zur Sezession (= Verein für Geschichte der Stadt Wien (Hg.): Geschichte der Stadt Wien. Neue Reihe, Bd. 7: Geschichte der Architektur in Wien, Teil 3). Wien: Selbstverlag des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 1973, S. 81ff. 33 Der Architekt Karl von Hasenauer (1833–1894) gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des Historismus in Österreich-Ungarn während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er war als Mitarbeiter des dreißig Jahre älteren Gottfried Semper an den Entwürfen für das Hofburgtheater und für das Kaiserforum beteiligt und wirkte u. a. als Chefarchitekt der Wiener Weltausstellung 1873. 34 Semper, Gottfried: „Bericht die Prüfung und Vergleichung zweier Projecte für den Bau der neuen k.k. Museen in Wien betreffend“, in: Die k. k. Hofmuseen in Wien und Gottfried Semper. Drei Denkschriften Gottfried Semper´s. Hg. von seinen Söhnen. Innsbruck: Edlinger 1892, S. 33. 35 Mallgrave, Harry Francis: Gottfried Semper. Architect of the Nineteenth Century. New Haven, London: Yale University Press 1996, S. 314ff. Sitte und Semper

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jedoch, dass Semper eines der vorhandenen Projekte benutzte. Dass Semper den Forumsentwurf des Architekten Karl von Hasenauer wählte, mag auch darin begründet sein, dass Hasenauer damals ein noch junger Architekt war, von dem Semper eine reibungslosere Zusammenarbeit erwartete als mit arrivierteren Kollegen. Darin sollte er sich sehr getäuscht haben.36 In seiner Ringstraßen-Kritik bemängelte Sitte zunächst, dass die neuere historistische Stilarchitektur seit 1857 die Wiener Ringstraße zu einem „Rundgang durch das ganze baugeschichtlich berühmte Europa“ gemacht habe.37 Aber zugleich lobte er, dass „der wuchtige Meister aus dem Schwabenlande [Friedrich von Schmidt, Architekt des Wiener Rathauses] uns die Traditionen des mächtigen Kölner Dombaues und seiner uralten Hütte brachte, während der nimmermüde Däne von der Schule Berlins und Athens kam [Theophil von Hansen, Architekt des Wiener Parlamentsgebäudes] und Meister Gottfried Semper, das Hamburger Kind, die Größe des alten Roms uns enthüllte“.38 Sitte setzte diese baulichen Errungenschaften aus der ersten Bauperiode der Ringstraße „Semper’s Martyrium in Wien“ gegenüber, das er auf die wachsende Einflussnahme des Architekten Karl von Hasenauer zurückführte. In der Tat klagte Semper: „Ich verfluche den Augenblick, der mich nach Wien führte (…). H(asenauer) ist ein infamer Jago und mein Verderben.“39 Danach 36 Vgl. Kassal-Mikula, Renata u.a. (Konzept.): Das ungebaute Wien. 1800 bis 2000. Projekte für die Metropole. Katalog zur Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 1999, S. 80f. 37 Über die 57 Meter breite und vier Kilometer lange Ringstraße schrieb Karl Mayreder, der von 1894 Chefarchitekt des Wiener Stadtregulierungsbüros war: Zusammen mit dem Gebiet des Josefstädter Paradeplatzes „kam die Anlage der auf den Festungsgründen geplanten Stadterweiterung mit mehr als 90 neuen Straßen und Plätzen und mehr als 500 öffentlichen und privaten Gebäuden in nicht vollen 30 Jahren zum vorläufigen Abschlusse“. Mayreder, Karl: „Stadtentwicklung“, in: Kortz, Paul (Red.): Wien am Anfang des XX. Jahrhunderts. Ein Führer in technischer und künstlerischer Richtung. Hg. vom Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Verein, Bd. 1: Charakteristik und Entwicklung der Stadt. Ingenieurbauten. Wien: Gerlach & Wiedling 1905, S. 65. Über das ungeheure Bautempo schrieb Josef Schwarzl, dass, gemessen an der Entstehungszeit der zuvor gebauten Häuser, die Fertigstellung der Ringstraße 350 Jahre gedauert hätte und dass selbst Optimisten von mindestens hundert Jahren ausgegangen waren. Schwarzl, Josef: Franz, Camillo und Siegfried Sitte. 100 Arbeitsjahre einer Wiener Architektenfamilie. Sonderabdruck aus Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines. Wien: Selbstverlag 1949, S. 3. 38 Sitte „Wiener Styl (1881)“ (s. Anm. 29), S. 188 in diesem Bd. 39 Semper, Gottfried: Brief an Manfred Semper, 28. Oktober 1875, Archiv des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (gta), ETH Zürich, 20-K-1875-10-28. Zitiert nach

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kam es zum endgültigen Bruch, und die beiden Architekten verkehrten nur noch über einen Rechtsanwalt miteinander. Die in Wien aufgrund der engen Zusammenarbeit Sempers und Hasenauers langezeit umstrittene Zuschreibung der Werke hält Sitte jedoch schon damals für zweifelsfrei.40 Sitte berief sich auf neuere Publikationen über Semper, anhand derer er die Zusammenarbeit Sempers und von Hasenauers sowie Sempers Haupturheberschaft an den Wiener Entwürfen deutlich zu machen versuchte. Mehrfach zitierte Sitte aus den genannten Büchern die Aussage, dass Kaiser Franz Joseph persönlich den Entwürfen Sempers den Vorzug vor denen Hasenauers gegeben habe. Sempers kolossale dreiflügelige Cour d’honneur der Hofburg, die sich zum Museumsforum öffnet, sollte kein vom Publikum abgeschlossener Hofbereich mehr sein, sondern der „Republikanisierung von Monarchischem“ dienen.41 Doch unbeantwortet bleibt die Frage, warum der Revolutionär und Demokrat Semper eine derart überdimensionierte Anlage für die Monarchie entwarf. Eine Erklärung mag sein, dass die Trias der bürgerlichen Bauten von Parlament, Rathaus und Universität zu klein geraten war und durch stilistische Uneinheitlichkeit zur Addition von Solitären wurde. Doch auf die Gestaltung dieses politischen Forums, das dem Kaiserforum mindestens ebenbürtig hätte sein können, besaß Semper keinen Einfluß. Das Defizit hatte Camillo Sitte gleichwohl deutlich erkannt und in seinem Städtebau-Buch von 1889 diese neuralgische Stelle der Ringstraße mit einem detaillierten „Beispiel einer Stadtregulierung“ neu geordnet: mit artikulierten Platzfolgen und einer Verdichtung durch Neubauten von der Votivkirche bis zum Parlament, die jedem Solitär einen eigenen Resonanzraum und dem Ensemble neue Bindungskräfte gab.42 Doch zunächst kam Sitte in seinem zweiten Aufsatz über Sempers Wiener Bauten auf das bis dahin unveröffentlichte Vergleichsgutachten Sempers über Hölz, Christoph: „Semper und Wien 1869 bis 1879“, in: Nerdinger, Winfried/Oechslin, Werner (Hg.): Gottfried Semper. Architektur und Wissenschaft. München u.a.: Prestel, Zürich: gta-Verlag 2003, S. 438. 40 Über Sittes Stellung im damaligen Forumsstreit, bei dem er Sempers Rolle ins rechte Licht rückte: Gottfried, Margaret: Das Wiener Kaiserforum. Utopien zwischen Hofburg und MuseumsQuartier. Imperiale Träume und republikanische Wirklichkeiten von der Antike bis heute. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2001, S. 80, 90. 41 Hauser 2004 (s. Anm. 31), S. 398. 42 Sitte, Camillo: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung modernster Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien. Wien: Graeser 1889 (Reprint der 1. Aufl. von 1889 in: CSG, Bd. 3. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2003), S. 154ff. Sitte und Semper

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die zweite Stufe der Konkurrenz für das Kaiserforum zu sprechen. Er zitierte Sempers Kritik an der „Pavillon-Architektur Hasenauer’s“ sowie an der Kuppellösung der beiden Museen.43 Zudem griff Semper den zugrunde liegenden Plangrundriss als zu groß geraten an und formuliert damit einen Gedanken über die enge Begrenzung und bühnenartige Geschlossenheit des Stadtbildes, der später sämtlichen städtebaulichen Schriften Sittes zugrunde liegt.

Von Dresden nach Wien Um auch bei der Zusammenarbeit von Hasenauer und Semper beim Burgtheater den klaren Vorrang Sempers herauszustellen, nahm Sitte eine von Semper selbstverfasste Schrift von 1849 über das Dresdner Hoftheater zum Anlass für einen dritten Artikel, der den Einfluss des Dresdner Baugedankens auf das Wiener Theater aufzeigen soll. Trotz seiner Nähe zu Richard Wagner, schrieb Sitte, habe Semper ein Wagner entgegengesetztes Theaterideal gehabt: „Das Ideal des Dichterkomponisten erstrebt vollständigste Illusion […] durch Weglassung der Logen, Versenkung des Orchesters […].“44 Sittes Interpretation ist richtig. Wagner hatte in seinen eigenen Schriften die kollektive Versenkung der Zuschauer in den Illusionsraum des Dramas gefordert. Seine Bühne sollte das antike Amphitheater mit der modernen Tiefenbühne vereinen. Er wollte, dass die Theaterarchitektur zusammen mit der Landschaftsmalerei des Bühnenbildes „zum Leben selbst“, zum „Weltraum“ werde.45 Sitte zufolge habe Semper dem Wagner’schen Bühnenkonzept in der Praxis zwar entsprochen, obwohl Sempers eigenes Ideal der „Verzicht auf alle moderne Illusion, Verzicht auf allen Dekorationseffekt, mit einem Worte, die Wiederherstellung der antiken Bühne“46 gewesen sei. Semper habe die Bühnentiefe reduzieren, die Öffnung des Proszeniums verkleinern und dessen Seiten lediglich mit spanischen Wänden ausstatten wollen, um einen, wie Sitte Semper zitiert, „tief im Publikum wurzelnde[n] irrige[n] Begriff von Illusion und szenischer Wirkung“ zu bekämpfen. Wäre Semper mit seinem Theaterideal durchgedrungen, hätte er in Sittes Augen die Stücke „vor naturalistischer Darstellung“ schützen können. 43 Sitte, Camillo: „Eine Handschrift Gottfried Semper’s (1885)“, S. 206–215 in diesem Bd. 44 Sitte, Camillo: „Gottfried Semper und der moderne Theaterbau (1885)“, S. 216 in diesem Bd. 45 Vgl. Wagner, Richard: „Das Kunstwerk der Zukunft“, in: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 3. Leipzig: Fritzsch 1887, S. 42–177, hier S. 150ff. Über Wagners Bühnenvorstellung vgl. auch Borchmeyer, Dieter: Das Theater Richard Wagners. Stuttgart: Reclam 1982, S. 73f. 46 Sitte „Semper und der Theaterbau (1885)“ (s. Anm. 44), S. 216 in diesem Bd.

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Weil Semper jedoch weder in Dresden noch in Wien damit Erfolg hatte, konnte er nur die antike Rundung des Zuschauerraumes realisieren, womit, so Sitte, der „Bezug zwischen der Kreisform des Auditoriums und der anfänglich geplanten Unterdrückung der Bühne“ zumindest andeutungsweise sichtbar geblieben sei. Später habe Semper die Kreisform auch im Äußeren des Burgtheaters immer mehr unterdrückt und die Mitte durch gerade Trakte unterbrochen.47 Im Gegensatz zu Sitte kommen einige Wissenschaftler heute zu einem günstigeren Urteil über Hasenauer, ohne den Semper in Wien weitaus geringere Wirkungsmöglichkeiten gehabt hätte.48 Aber auf die Frage, welches Bühnenkonzept Sitte selber favorisiert, findet sich in seinen Schriften keine klare Antwort. Nur seinem anonymen Brief an Wagner vom Dezember 187349 lässt sich andeutungsweise entnehmen, dass er Sempers antiker Bühnenauffassung ohne Illusion und Dekoration zuneigte. Denn er weist darauf hin, dass sich die Stimmen der Sänger in Wagners zahlreich geplanten Kulissen und Soffitten „verschlagen“ und nicht bis zur Rampe vordringen könnten, weshalb er die Verschalung der Seitenwände empfahl.50 Um auch Sempers Urheberschaft an der Gesamtkonzeption von Hofburg und Museumsforum herauszustellen, schilderte Sitte in einem vierten Aufsatz über Semper dessen vergleichbaren, aber gescheiterten Forumsentwurf für Dresden und seine Übertragung auf Wien.51 Er beklagte, dass die Architekten zwar die Formen alter Bauten getreu nachahmen, aber die Stadtanlage den

47 Die abgeflachte Fassade schreibt Renate Wagner-Rieger allerdings Hasenauer zu, der damit „in den Theaterbau das sakrale Motiv der großen Kirchenfassade“ integriert habe. Wagner-Rieger, Renate: „Semper und die Wiener Architektur“, in: Börsch-Supan 1976 (s. Anm. 6), S. 287. 48 Laut Renate Wagner-Rieger hat „Hasenauer nicht nur Sempers Bauideen übersteigert und sakralisiert, sondern auch die Basis geschaffen für die Einbindung von Sempers Stil in die Wiener Tradition in einer Art und Weise, daß darauf weitergebaut werden konnte.“ Sempers Wirkung auf die Wiener Architektur sei nur dort spürbar gewesen, wo Hasenauer mitgearbeitet habe. Wagner-Rieger 1976 (s. Anm. 47), S. 288. 49 Sitte, Camillo: „Brief an Richard Wagner (1873)“, in: CSG, Bd. 1 (= Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2008), S. 210–221. Original im Richard-Wagner-Nationalarchiv Bayreuth, Sign. NA IV A 24-9. 50 Über Sittes Umbauvorschlag an Wagner vgl. Habel, Heinrich: Festspielhaus und Wahnfried. Geplante und ausgeführte Bauten Richard Wagners. München: Prestel 1985, S. 358, 412, Anm. 307. 51 Diese Darstellung ist an zentraler Stelle in Sittes städtebauliches Hauptwerk eingegangen. Vgl. Sitte „Der Städte-Bau“ (s. Anm. 42), S. 127ff. Sitte und Semper

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Ingenieuren preisgeben würden.52 Dagegen habe Semper für Dresden im antiken Geist ein „modernes Forum“ errichten wollen, dessen Durchsetzung ihm allerdings ebensowenig gelungen sei wie die Einführung der antiken Bühne. Sitte berichtete von der Begebenheit, dass Semper aufgefordert worden war, einen Standort für ein Bronzebild des Königs Friedrich August vorzuschlagen, worauf Semper jedoch mit der Vorlage eines kompletten Stadtplanes für Dresden geantwortet habe.53 Den damals noch nach Osten geöffneten Zwinger von Matthäus Daniel Pöppelmann wollte Semper zu beiden Seiten mit neuen Flügeln senkrecht bis zur Elbe herunterführen. Doch nur sein Hoftheater konnte Semper wie geplant errichten, während er die Gemäldegalerie quer als vierte Seite in den Zwinger einbauen und die Forumsidee aufgeben musste. In Wien habe Semper, so Sitte, die Hofburg in ähnlicher doppelter Halbkreisform wie den Zwinger konzipiert und die Museumsflügel als Forumswände senkrecht davor gestellt. Sitte hofft, dass Wien die Vollendung dieses Werkes noch erlebt. Zugleich müsse die Nachwelt aber dabei „auch des verewigten Meisters gedenken, der die Idee dazu geschaffen“. Damit spricht sich Sitte in ganz praktischem Sinne gegen die Trennung von Idee und Ausführung, Zwecksetzung und Zweckrealisierung, Kopf- und Handarbeit aus und plädiert für die Einheit von Produktion und Aneignung, künstlerischer Verausgabung und kultureller Anerkennung, Arbeit und Profit.54

52 Sitte, Camillo: „Gottfried Semper’s Ideen über Städteanlagen (1885)“, S. 220–224 in diesem Bd. 53 Eine ähnliche Anekdote gibt es über Le Corbusier. Als Le Corbusier 1922 für den Pariser Herbstsalon einen Brunnen entwerfen sollte, entgegnete dieser, er werde das sehr gern tun, aber nur, wenn er hinter dem Brunnen eine Stadt für drei Millionen Menschen entwerfen dürfe. Daraus entstand Le Corbusiers „Plan de la Ville de 3 millions d’habitants“. Ich danke Stanislaus von Moos, Zürich, für diesen Hinweis. 54 Eine bemerkenswerte Übereinstimmung im Kampf um Gerechtigkeit für Gottfried Semper findet sich bei Camillo Sittes Erzrivalen Otto Wagner, der ebenfalls „Sempers unsterblichen Entwurf des Kaiserforums“ lobte und sich sogar über das zu geringe Honorar für den Entwerfer mokierte: „Der Architekt hat daher in der inneren Befriedigung den größten Teil seines Lohnes zu suchen. Nichtsdestoweniger muß er mit gleicher Liebe und Ausdauer sein Werk stets im Auge behalten und nicht irre oder müde werden, wenn selbst seine pekuniäre Entlohnung, wie es leider die Regel ist, einem Almosen gleichkommt und es der Welt wie bisher auch fernerhin gefallen sollte, beispielsweise einer Sängerin für eine Stunde Singens so viel zu geben, als Gottfried Semper sein ganzes Leben lang trotz aller Sparsamkeit erübrigte.“ Wagner, Otto: Moderne Architektur. Seinen Schülern ein Führer auf diesem Kunstgebiete. Wien: Schroll 1902 (3. Aufl., 1. Aufl. 1896, 2. Aufl. 1898), S. 19.

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Camillo Sittes Schriften zur Architektur

Schriften zur Architekturkritik Camillo Sittes Einstellung zur Architektur seiner Zeit ist durch eine grundsätzliche Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits drückt er in allen seinen Aufsätzen seine hohe persönliche Wertschätzung für die großen Baukünstler der Wiener Ringstraße aus: Seine Bewunderung gilt Friedrich von Schmidt ebenso wie Theophil Hansen, dessen Herkunft „von der Schule Berlins und Athens“ unterstrichen wird. Bei den Werken seines Lehrers Heinrich von Ferstel lobt Sitte dessen Vielseitigkeit, sowohl als hervorragender „Gothiker“, als auch in der Handhabung der Formensprache der „deutschen und italienischen Renaissance“, wobei er die „sonnig-heitere Eleganz“ seiner Werke hervorhebt. Besonders aber, und gleichsam als ein Schwerpunkt in seinen Schriften über Architektur, tritt Sittes Verehrung Gottfried Sempers hervor, der in seinen Werken der Stadt Wien „die Größe des alten Roms […] enthüllt“ habe.1 In zahlreichen Äußerungen lobt Sitte die künstlerische Qualität der großen Monumentalbauten der Ringstraße, wobei wiederum das Hauptwerk Sempers, das Projekt der Erweiterung der Hofburg als „Kaiserforum“, von Sitte als „das Hervorragendste […] in der Reihe unserer monumentalen Neubauten“ und „wie der Edelstein an einem Ring“ besonders gepriesen wird.2 Ebenso deutlich kritisiert Sitte jedoch die städtebauliche Ein- und Anbindung der Monumentalbauten der Ringstraße, die er in vielfacher Weise für missglückt und für verbesserungswürdig hält.3 In diesbezüglichen detaillierten Verbesserungsvorschlägen meint Sitte, man könnte die Wirkung einzelner Großbauten, wie die des Rathauses oder des Parlamentsgebäudes durch Umgestaltung ihres Umfeldes bedeutend steigern. Dabei fällt auf, dass Sittes Vorschläge in der gleichen Weise die Verkehrsader der Ringstraße übergreifen

1

Sitte, Camillo: „Der neue Wiener Styl (1881)“, S. 188–199 in diesem Bd.

2

Sitte, Camillo: „Gottfried Semper (1873)“, S. 164 in diesem Bd.

3

Z.B. in der zweiteiligen Artikelserie „Über alte und neue Städteanlagen mit Bezug auf die Plätze und Monument-Aufstellung in Wien (1889)“, S. 251–275 in diesem Bd., oder „Über die Wahl eines Platzes für das Wiener Goethe-Denkmal (1889)“, S. 276–281 in diesem Bd. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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und solcherart funktionell negieren, wie dies in Sempers Forumsprojekt für die Hofburg geschehen sollte.4 Zugleich artikuliert Sitte bereits in den frühesten seiner Schriften ein generelles Unbehagen über die Stilentwicklung seiner Zeit. In einer allgemein gehaltenen Stilkritik an den Bauten der Ringstraßenzone befindet Sitte, dass in Wien Stilelemente, die „man in Rom, in Venedig oder sonst wo […] schon gesehen hat“ vielfach „wirkungslos oder unruhig verzerrt“ erschienen, dass bei vielen Architekten die Fähigkeit fehle, die ausgewählten Formelemente von Stilvorbildern „zu einem einzigen harmonischen Akkord“ zu vereinigen. So erscheint es Sitte, wie wenn ein Künstler gute Musik „auf einem gänzlich verstimmten Klavier spielte“.5 Schon 1873 bemerkt Sitte das fortwährende Dilemma der stilistischen Repetition der älteren Epochen der Baukunst mit den Worten: „Der bildende Künstler des neunzehnten Jahrhunderts scheint ein Mehreres nicht zu vermögen, wenigstens hat noch keiner mehr gethan, als eine alte Kunstwelt wiedererweckt.“ Doch erkennt man längst das Bestreben nach einer Neuorientierung, denn „neben dieser Thätigkeit, durch welche nun schon fast die ganze Kunstgeschichte reproduzirend durchgegangen wurde, geht aber eine andere, welche das innere Wesen aller alten und neuen Kunst zu erkennen strebt“. Als Orientierungsmaßstab ganz wesentlich erscheinen Sitte dabei die theoretischen Schriften Gottfried Sempers, die „unvergänglicher […] als alle Werke, die er als Architekt, als Künstler hervorgebracht“ habe, seien.6 Sempers Thesen, insbesondere dessen „Bekleidungstheorie“7 erscheinen Sitte gleichsam als „wiedergefundene Naturgesetze“, indem sie erklären: „Der Künstler darf nicht Formen bilden, welche dem Material und der Technik, in welcher er arbeitet, widersprechen.“8 4

Mollik, Kurt/Reining, Hermann/Wurzer, Rudolf: Planung und Verwirklichung der Wiener Ringstraßenzone (= Wagner-Rieger, Renate (Hg.): Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche, Bd. 3). Wiesbaden: Steiner 1980, S. 255–259.

5

Sitte, Camillo: „Die komische Oper (1874)“, S. 168f. in diesem Bd.

6

Sitte „Semper (1873)“ (s. Anm. 2), S. 164, 166 in diesem Bd.

7

Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1: Textile Kunst und Bd. 2: Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik. Frankfurt/M.: Verlag für Kunst und Wissenschaft 1860 (Bd. 1), München: Bruckmann 1863 (Bd. 2) (Neuauflage Mittenwald: Mäander Kunstverlag 1977); Eggert, Klaus: „Gottfried Semper, Carl von Hasenauer“, in: Ders./Planner-Steiner, Ulrike: Friedrich von Schmidt, Gottfried Semper, Carl von Hasenauer (= Wagner-Rieger, Renate (Hg.): Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche, Bd. 8: Die Bauten und ihre Architekten, Teil 2). Wiesbaden: Steiner 1978, S. 73–221, hier insbesondere S. 81ff.

8

Sitte „Semper (1873)“ (s. Anm. 2), S. 165 in diesem Bd.

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Trotz des schon so früh ausgesprochenen Unbehagens erweist sich Sitte sowohl in seiner theoretischen baukünstlerischen Standortbestimmung als auch in seinen geplanten und ausgeführten Werken unverrückbar im „Strengen Historismus“ verankert.9 Die Versuche, dessen verlässliche Grundsätze aufzuweichen und zu verlassen, wie sie von zeitgenössischen Architekten des Späthistorismus unternommen wurden, quittiert Sitte mit Misstrauen und schärfster, oftmals ätzender Kritik. Eine Möglichkeit, mit seinen diesbezüglichen Ansichten an die Öffentlichkeit zu treten, sieht Camillo Sitte in der journalistischen Architekturkritik von Einzelwerken wie auch von Ergebnissen von Architektenwettbewerben. Die erste Gelegenheit hierzu ergibt sich im Januar 1874 anlässlich der Eröffnung der „komischen Oper für theatralische Vorstellungen und jeder Art des Ballets“ am Schottenring – später kurz „Ringtheater“ genannt (Abb. 13, 14). Der im Jahre 1882 durch eine Brandkatastrophe zerstörte und vor allem dadurch berühmt gewordene Bau war nach Plänen des Architekten Emil Ritter von Förster errichtet worden.10 Bereits in dieser ersten Architekturkritik Sittes11 treten zwei grundsätzliche Eigentümlichkeiten seiner diesbezüglichen Schriften in Erscheinung: Einerseits fällt die überaus pointierte, oft verletzend scharfe Polemik auf, mit der Sitte das Werk beurteilt. Im vorgestellten Fall wird das Ergebnis mit einer 9

Erstmalig wurde der Stilbegriff „Strenger Historismus“ von Renate Wagner-Rieger in ihrem Vortrag am CIHA-Kongress des Jahres 1964 definiert. Wagner-Rieger, Renate: „Der Historismus in der Wiener Architektur des 19. Jahrhunderts“, in: Stil und Überlieferung in der Kunst des Abendlandes (= Akten des 21. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte in Bonn 1964, Bd. 1). Berlin 1967, S. 240–248. Renate Wagner-Rieger präzisierte diesen Stilbegriff 1970 noch genauer: „Es ging dem strengen Historismus darum, mit den ‚reinen Elementen‘ der Stile der Vergangenheit gleichsam das Formenvokabular zu gewinnen, das auf die verschiedensten von der Gegenwart gestellten Aufgaben anwendbar war […] Die ‚Reinheit des Stiles‘ wurde zum Schlagwort. Das war eine grundsätzlich andere Einstellung als jene des Stilsynkretismus des romantischen Historismus, und trotz enger Bindungen zwischen beiden Phasen stieß die ältere bei der jüngeren Richtung auf eine theoretisch wohlfundierte Ablehnung. Nicht zufällig befinden wir uns in der Zeit der Anfänge der modernen Kunstgeschichtsschreibung“. Wagner-Rieger, Renate: Wiens Architektur im 19. Jahrhundert. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1970, S. 149f.

10 Emil Ritter von Förster (1838–1909), Sohn des Architekten Ludwig Christian Friedrich Förster, studierte an der Akademie der Künste in Berlin. Studienreisen nach Italien (1857/1858 und 1862–1864). 1895–1899 Mitarbeit im Atelier Carl Hasenauers am Bau der Neuen Hofburg in Wien. Weitere Werke in Wien: Giro- u. Kassenverein (Wien I., Rockhgasse 4, von 1880), Bodencreditanstalt (Wien I., Teinfaltstraße 8, von 1884–1887), Dorotheum (Wien I., Dorotheergasse 17, von 1898–1901). 11 Sitte „Komische Oper (1874)“ (s. Anm. 5), S. 167–171 in diesem Bd. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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13 Emil Ritter von Förster: Komische Oper (Ringtheater), 1873

ironischen Anspielung auf den Eröffnungstag im „Fasching […] mit Mummenschanz und Kurzweil aller Art“ als unzeitgemäße Maskerade angeprangert. In einem spöttischen Vergleich meint Sitte, der Bau sei nicht, wie behauptet „im Style der italienischen Renaissance“ gestaltet, vielmehr im „Style der Schweizer Berge“, da, so wie dort ein Engländer auf jedem Berge stehe, an der Fassade dieses Theaterbaues an jeder Stelle eine Statue stünde. Auf der Suche nach Stilvorbildern sei der Architekt mit dem „Skizzenbuch […] in italienischen Palazzis auf Plünderung ausgestiegen“, die Elemente seien schließlich unverstanden kompilatorisch „zusammengestoppelt“ worden. Andererseits ist zu beobachten, dass Sitte den Schwerpunkt seiner Kritik auf die Außenerscheinung des Baues legt. Während er sowohl an der

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14 Emil Ritter von Förster: Komische Oper (Ringtheater), 1873

Raumorganisation, als auch am Inneneindruck des Zuschauerraumes mit seiner „unvermutheten, wunderbar harmonischen Farbenwirkung“ und den Deckenmalereien von Ignaz Schönbrunner im Charakter der Schule Raffaels Lobenswertes findet, meint er, dass die Außenerscheinung des Baus überhaupt keinen Stil zeige, da die Gestaltung ohne „inneren, organischen, naturnothwendigen Zusammenhang“ formuliert sei. Tatsächlich wäre die „Komische Oper“ erst mit der Vollendung des Fassadendekors endgültig verdorben worden, sie erscheine „disharmonisch“, „unstät und konfus“. Indem Sitte die Vermischung von italienischen Renaissanceformen mit französischen Stilelementen bemängelt, zeigt er Unverständnis gegenüber dem Prinzip der mehr und mehr willkürlichen Stilauswahl der zeitgenössischen Architekten des Späthistorismus. Ähnlich akzentuiert ist Sittes Zeitungsartikel über den projektierten Bau des Justizpalastes (Abb. 15), der am 6. Juni 1874, ein Jahr vor dessen Baubeginn, erschienen ist.12 Es handelt sich dabei um die erste Kritik zu den einzelnen Entwurfsprojekten eines Architektenwettbewerbes von Camillo Sitte; schon zwei Jahre zuvor hatte er allerdings einen Bericht über eine Konkur12 Sitte, Camillo: „Die Konkurrenz-Projekte für den Justizpalast (1874)“, S. 172–175 in diesem Bd. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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15 Alexander von Wielemans: Justizpalast, 1875–1881

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renz zu einem Raumordnungsprojekt – dem bevorzugten Interessensgebiet Sittes – verfasst.13 Auch in dem Aufsatz über den Justizpalast dominiert der polemische Ton der Kritik: Die Konkurrenz habe „wenig Verschiedenartiges, noch weniger Originelles, […] gar nichts Fesselndes oder Imponirendes“ hervorgebracht, die Arbeiten seien gekennzeichnet von „sorgenloser Gemächlichkeit“. Scharf verurteilt werden einzelne Entwürfe: Am Projekt von M. Haas und J. Wahl findet Sitte die Fassade „ganz entsetzlich“, den Entwurf Franz von Neumanns nennt er ein „Monstrum“, Karl Köchlin „übertrifft sich selbst an Langeweile“. Wieder liegt ein Schwerpunkt der Beurteilung auf der jeweils projektierten Außenerscheinung des Baues und deren stilistischer Ausrichtung. So sei das Projekt von A. Wagner ein „Sammelsurium aus italienischer, französischer und berlinerischer, sogenannter griechischer Renaissance“, der Entwurf von Moritz von Loehr zeige die von diesem Architekten „bekannte langweilige […] Dekoration und Formenentwicklung“, die Fassade des Projekts von Emil von Förster so wie an der „Komischen Oper“ „eine Menge unmotivirter Motive, bunt durcheinander, ohne Harmonie“. Bemerkenswert ist, dass Camillo Sitte, der 1874 selbst noch am Anfang seines Schaffens als Architekt stand und soeben sein erstes weitgehend selbständiges Werk, den Bau der Wiener Mechitharistenkirche,14 vollendet hatte, in seinem kritischen Artikel über die Justizpalastkonkurrenz ohne Unterschied die Werke älterer und jüngerer Wiener Architekten, die immerhin zu den bedeutendsten Baukünstlern der Epoche zählten, verurteilt. Moritz Ritter von Loehr hatte bei der Gesamtplanung der Wiener Ringstraße eine wesentliche Rolle gespielt,15 noch zur älteren Generation gehörte auch der erfahrene Eisenbahnarchitekt Otto Thienemann,16 dessen Justizpalastentwurf Sitte „komplizirt“ und „unprak-

13 Sitte, Camillo: „Die Kahlenberg-Pläne (1872)“, S. 161–163 in diesem Bd. 14 Schwarz, Mario: „Zur Baugeschichte der Wiener Mechitharistenkirche“, in: Steine sprechen, Jg. 38 (1999), Nr. 114, S. 20–36. 15 Bereits ab der Ausschreibung des „Concurses“ im Jahre 1858 als Sektionsrat im Handelsministerium. Moritz von Loehr (1810–1874), aus Berlin, studierte am Polytechnikum in Wien, unternahm Studienreisen mit Carl Ritter von Ghega in die USA, gestaltete die Hochbauten der Wien–Gloggnitzer Eisenbahn, der Semmeringbahn und der Karstbahn, entwarf den ersten Wiener Westbahnhof (1858–1860) und beteiligte sich mit einem Wettbewerbsprojekt an der Stadterweiterungs-Ausschreibung für die Wiener Ringstraße. Mollik/Reining/ Wurzer 1980 (s. Anm. 4), S. 116. 16 Otto Thienemann (1827–1905), aus Gotha, studierte am Polytechnikum und an der AkadeCamillo Sittes Schriften zur Architektur

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tisch“ findet. Den jüngeren Kollegen spricht Sitte weitgehend Selbständigkeit ab, da er Franz von Neumann17 ganz im Einfluss Friedrich von Schmidts stehend sieht und George Niemann (1841–1912) zu sehr von Theophil Hansen geprägt bezeichnet. Das Projekt des Wettbewerbssiegers Alexander Wielemans Edlen von Monteforte (1843–1911) hält Sitte für eine „gänzlich gehaltlose und unmerkwürdige Arbeit“. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1881 muss er allerdings anerkennen, dass das „Justizpalais“ mittlerweile zum „enfant chéri der Wiener“ avanciert sei,18 und in seiner Rezension des Werkes Wiener Neubauten bekennt Sitte, dass die Tafelabbildungen vom Justizpalast, dem „Zierbau Wielemans’“ beim Beschauer „herzlichste Freude“ auslösten. In der Argumentation Camillo Sittes fällt immer wieder auf, wie stark er sowohl in seinem Urteil als auch in seinen Interessensschwerpunkten von den Erfahrungen seines Vaters Franz Sitte (1818–1879) geprägt war. Die hohe Wertschätzung des Architektenwettbewerbes, die für Camillo Sitte angefangen von seinem Artikel über die Justizpalastkonkurrenz bis zu seiner Tätigkeit als Jurymitglied beim Wettbewerb für das Museum der Stadt Wien am Karlsplatz kennzeichnend war, ging zweifellos auf seinen Vater zurück. Dieser hatte als Bauleiter und Mitarbeiter des Architekten Johann Georg Müller bei der Errichtung der Wiener Altlerchenfelderkirche19 selbst miterlebt, wie der Architektenwettbewerb für diesen Bau als wirkungsvolles Zeichen der allge-

mie in Wien und in Berlin. Mitarbeiter im Atelier Eduard van der Nülls und August Sicards von Sicardsburg sowie bei Ludwig Christian Förster. Wiener Bauten: Niederösterreichischer Gewerbeverein/Österreichischer Ingenieur- u. Architektenverein (Wien I, Eschenbachgasse, von 1870–1872), Kärntnerhof (Wien I, Kärntnerstraße–Führichgasse–Tegetthoffstraße–Maysedergasse, von 1875), Grabenhof (Wien I, Graben, von 1872–1876), Dianabad (Wien II, Lilienbrunngasse 7–9, von 1889). 17 Franz Ritter von Neumann (1844–1905), Architekturstudium an der Akademie in Wien bei Eduard van der Nüll, August Sicard von Sicardsburg und Friedrich von Schmidt. Mitarbeit im Atelier Schmidts beim Bau des Wiener Rathauses. Wiener Werke: Arkadenhäuser Rathausplatz, Stadiongasse, Lichtenfelsgasse, Bartensteingasse, Felderstraße, Grillparzerstraße, Ebendorferstraße (Wien I., von 1878–1883), Kuffner-Sternwarte (Wien XVI., Johann-Staud-Straße 10, von 1884–1886), Pfarrkirche St. Antonius (Wien X., Antonsplatz 21, von 1896–1901), Regensburger Hof (Wien I., Lugeck 7, von 1898); weitere Werke: Rathaus Reichenberg (Liberec, Tschechien), Villa Erzherzog Wilhelm in Baden, Helenental, Villen Neumann, Bittner, Johannesruh, Kleinhans u.a. am Semmering. 18 Sitte „Wiener Styl (1881)“ (s. Anm. 1), S. 196 in diesem Bd. 19 Pfarrkirche „Zu den Sieben Zufluchten“, Wien VII., Lerchenfelderstraße 113, erbaut 1848– 1861.

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meinen Befreiung von der Bevormundung der bis dahin allein herrschenden Baubürokratie des Vormärz empfunden wurde.20 So kämpfte Camillo Sitte ebenso hartnäckig für die Behauptung der künstlerischen Freiheit der Architekten und wies auch immer wieder auf das beispielgebende Vorbild dieses ersten, entscheidenden Architektenwettbewerbs in Wien hin.21 Auf die Tätigkeit seines Vaters Franz Sitte am Bau der Altlerchenfelderkirche geht zweifellos auch die große Wertschätzung Camillo Sittes für den Maler Joseph Ritter von Führich (1800–1876) zurück, der die Leitung der malerischen Ausgestaltung dieser Kirche innehatte22 und mit dem die Familie Sitte überdies eine verwandtschaftliche Beziehung verband.23 Obwohl Führich als Hauptvertreter der Nazarener und des „Romantischen Historismus“ in seinem Werk einen bereits überholten, altertümlicheren Stilschwerpunkt repräsentierte als Friedrich von Schmidt, der führende Architekt des „Strengen Historismus“, rechnet Camillo Sitte beide in seiner subjektiven Sicht gleichermaßen „der romantischen Richtung“ zu und beklagt, dass es den beiden kongenialen Künstlern nicht vergönnt gewesen sei, ein gemeinsames Gesamtkunstwerk von Architektur und malerischer Ausgestaltung zu schaffen.24 In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass in Sittes frühen Schriften auf kunsthistorischem Gebiet noch eine gewisse Unsicherheit im stilistischen Urteil auffällt. In einem Aufsatz von 187525 geht Sitte auf die Kirche „unter den Weißgärbern“ im dritten Wiener Gemeindebezirk ein26 und kritisiert an diesem Bau Friedrich von Schmidts die „Wahl einiger unschöner spätgothischer, bereits naturalistischer Blattmotive“ in offensichtlicher Unkenntnis, dass die Bauplastik der französischen Hochgotik bereits im 13. Jahrhundert mit dem Bau der Kathedrale von Reims den Entwicklungsschritt zu natura-

20 Rieger, Franz: Die Altlerchenfelder Kirche, ein Meisterwerk der bildenden Kunst, zur Feier des fünfzigsten Jahrestages ihrer Einweihung. Wien: Gerlach 1911, S. 7–26. 21 Z.B. in Sitte, Camillo: „Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)“, S. 229–250 in diesem Bd. 22 Rieger 1911 (s. Anm. 20), S. 35–49, 83–92. 23 Schwarz 1999 (s. Anm. 14), S. 22. 24 Sitte, Camillo: „Führich und Schmidt (1875)“, S. 176–180 in diesem Bd. 25 Ebd. 26 Weißgerber Pfarrkirche „St. Othmar“, Wien III., Kolonitzplatz, erbaut 1866–1873. Czerny, Wolfgang/Keil, Robert u.a. (Bearb.): Wien. II. bis IX. und XX. Bezirk (= Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs. Topographisches Denkmälerinventar. Hg. vom Bundesdenkmalamt Wien). Wien: Berger 1993, S. 72f. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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listischen vegetabilischen Formen vollzogen hatte, was zu dieser Zeit durch die Forschungen Eugène Viollet-le-Ducs bereits weithin bekannt war.27 Bei der Beschreibung der Kirche „Maria vom Siege“28 von Friedrich von Schmidt meint Sitte im gleichen Aufsatz, dass das „Motiv der Kuppel […] in der alten Gothik keine Verwendung fand“, was in auffallendem Widerspruch zu Filippo Brunelleschis Hauptwerk, der Domkuppel von Florenz, zu Benedetto Antelamis Kuppel des Baptisteriums von Parma und zahlreichen anderen Kuppelwölbungen der italienischen Gotik steht.29

Camillo Sittes Kritik am zeitgenössischen Kirchenbau Ebenso wie die vorgenannten Interessensschwerpunkte hatte Camillo Sittes intensive Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Kirchenbau ihre Wurzeln in den Arbeiten und den Erfahrungen seines Vaters Franz Sitte. 1887 widmete Camillo Sitte diesem Thema einen umfangreichen Aufsatz, der auch als Sonderdruck erschien.30 In einem ausführlichen Rückblick schildert Sitte einmal mehr die Situation des Sakralbaues in Österreich unter der Vorherrschaft der Baubürokratie während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie auch die Bevormundung der Architekturstudenten bei ihrer Ausbildung an der Wiener Akademie unter Professor Peter von Nobile (1774–1854), „der die Gothik gründlich verabscheute“, seinen Schülern die Anwendung gotischer Stilformen in ihren Arbeiten untersagte und dadurch Franz Sitte veranlasste, die Wiener Akademie zu verlassen und sein Studium in München fortzusetzen.31 Auch in diesem Aufsatz hebt Camillo Sitte die außerordentliche Bedeutung hervor, die seiner Meinung nach der Bau der Altlerchenfelderkirche für die Wiener Architekturgeschichte hatte. (Abb. 16, 17) Wie Sitte meint, entziehe sich dieses baukünstlerisch so außergewöhnliche Werk einer eindeutigen stilistischen Zuordnung. Es sei „subjectiv poetisch“ ausge27 Viollet-le-Duc, Eugène-Emmanuel: Dictionnaire raisonné de l’architecture Française du XIe au XVIe siècle, 10 Bde. Paris: E. Bance etc. 1854–1868. 28 Fünfhauser Pfarrkirche „Maria vom Siege“, Wien XV., Mariahilfer Gürtel, erbaut 1868– 1875. 29 Wagner-Rieger, Renate: Die italienische Baukunst zu Beginn der Gotik, Bd. 1: Oberitalien (= Publikationen des Österreichischen Kulturinstituts in Rom, Abteilung für historische Studien, 1. Abt., Abhandlungen 2). Graz, Köln: Böhlau 1956, S. 144–157, 197–213. 30 Sitte „Kirchliche Architektur (1887)“ (s. Anm. 21), S. 229–250 in diesem Bd. 31 Schwarz 1999 (s. Anm. 14), S. 22.

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16 Paul Sprenger, Johann Georg Müller, Franz Sitte: Altlerchenfelder Kirche, 1848–1861

arbeitet, „weder romanisch noch gothisch, weder deutsch noch italienisch, aber auch durchaus nicht eklektisch“; vielmehr habe der Architekt Johann Georg Müller (1822–1849) mit diesem individuellen Werk geradezu den Weg der „Erfindung eines neuen Styles“ beschritten, wobei er den Anregungen seines Lehrers an der Münchener Akademie, Professor Ziebland, nachfolgte, der seine Schüler ermahnte, nicht alte Vorbilder zu kopieren, sondern „den Genius der eigenen neuen Zeit auszudrücken“. Von der Münchener ArchiCamillo Sittes Schriften zur Architektur

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17 Paul Sprenger, Johann Georg Müller, Franz Sitte: Altlerchenfelder Kirche, 1848–1861

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tektur beeinflusst gewesen sei auch die bereits 1841–1846 von Karl Roesner (1804–1869) erbaute „Kirche in der Jägerzeile“,32 die als „erster Versuch der neuen Richtung in Österreich“ anzusehen sei, „im Style noch unklar, theils byzantinische, theils romanische Elemente aufnehmend“. Dieser viel versprechende Weg sei allerdings nicht weiterverfolgt worden. Vielmehr habe das erwachende Interesse an den Baudenkmälern der Vergangenheit neue, verfeinerte Grundlagen für die Rezeption der historischen Baustile geschaffen, wobei Sitte die wichtige Rolle der 1853 gegründeten K. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale hervorhebt. Deren Mitgliedern – voran den Kunsthistorikern und Historikern Rudolph von Eitelberger (1817–1885), Eduard Freiherr von Sacken (1815–1883), Gustav Heider und Josef Feil sowie dem Architekten August von Essenwein (1831–1892) – sei die Wiederentdeckung unzähliger Baudenkmäler des Mittelalters, „an dem man seit Jahrhunderten blind vorbeigegangen war“, in Österreich und Ungarn, Böhmen und Mähren zu verdanken. Deren Studium habe die neue Sakralbaukunst mit wesentlichen Anregungen befruchtet. Sittes Darstellung der Entwicklung der Sakralbaukunst des 19. Jahrhunderts spannt den Bogen von den anfänglich noch sehr angefeindeten ersten Vertretern der Neugotik wie Leopold Oescher (1804–1849) und Leopold Ernst (1808–1862)33 über die Erfahrungen, die im Zuge zahlreicher Restaurierungen mittelalterlicher Kirchen in allen Ländern Österreich-Ungarns – genannt werden Beispiele aus Tirol,34 Steiermark, Niederösterreich, Kärnten, Salzburg, Krain, Böhmen und Mähren, Ungarn, Kroatien und Siebenbürgen – gewonnen werden konnten, zum Höhepunkt unter Friedrich von Schmidt (1825–1891), der für Sitte als der „unbestritten größte Gothiker unserer Zeit“ gilt. Ihn würdigt Sitte vor allem als „Vertreter und Bahnbrecher ganz bestimmter baulicher Principien“, und zwar der Wiederbelebung des Bauhüttenwesens in Fortführung der mittelalterlichen Tradition im künstlerischen Zusammenwirken von Baumeistern, Maurern, Steinmetzen und Kunsthandwerkern. Diese Praktik wurde auch beim Bau der Wiener Votivkirche, erbaut 1856–1879 von Heinrich von Ferstel (1828–1883), dem Hauptwerk der neugotischen Kirchenbaukunst in Österreich, angewandt. Bei der Ausstattung der Votivkirche hebt Sitte die Wandmalereien Josef Mathias Trenkwalds in den Apsidialkapellen als „Bilder-

32 Pfarrkirche „St. Johann Nepomuk“, Wien II., Praterstraße 45, 1841–1846. 33 Camillo Sitte gibt sein Geburtsjahr mit „1809“ an. Sitte „Kirchliche Architektur (1887)“ (s. Anm. 21), S. 231 in diesem Bd. 34 Camillo Sitte nennt u.a. „Tertan“ statt richtig Terlan. Ebd., S. 236 in diesem Bd. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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cyklus feinster Art in echt Schwind’schem Geiste“ hervor. Er bezeichnet sie als „eine Oase in der Wüste moderner naturalistischer Malerei“ und zeigt hier wieder seine Präferenz für den entwicklungsgeschichtlich bereits überholten „Romantischen Historismus“ auch in der Malerei. Besonders hervorgehoben wird von Sitte die Gestaltung des Orgelprospekts, ein Werk seines Arbeitskollegen an der Staatsgewerbeschule in Wien, Hermann Ritter von Riewel. Wie Sitte erklärt, war vor allem der Einfluss der Votivkirche „auf alle Kunstzweige auch über die Grenzen der kirchlichen Kunst hinaus […] ein mächtiger“. Einen „geradezu heroischen Entschluß“ nennt Sitte das Vorhaben Bischof Rudigiers von 1859, den Linzer Dom in neugotischem Stil neu zu erbauen. Nach dem Überschreiten des Höhepunktes der neugotischen Kirchenbaukunst, für die Sitte vor allem auf die zahlreichen Sakralbauten Friedrich von Schmidts hinweist, sei aus verschiedensten Gründen ein Nachlassen der Begeisterung für die Stilvorbilder der Gotik eingetreten. Sitte macht dafür die hohen Erhaltungskosten „und ewigen Restaurationen an den zierlichen Maßwerken und Steinspitzen“ verantwortlich, „so daß bei größeren Domen das Bauen thatsächlich niemals aufhört, weil immer wieder an der einen Seite begonnen werden müsse, wenn die Restaurationen auf der anderen Seite zu Ende sind“. Auch habe die wieder aufgegriffene Bauweise der Gotik zu wenig Platz für die Anbringung von großformatigen Wandmalereien geboten, ebenso habe man die eingeschränkte Farbigkeit der neugotischen Bauten zu bemängeln begonnen. An diesem Punkt bringt Camillo Sitte den Bau der Wiener Mechitharistenkirche35 ins Spiel: Sein Vater Franz Sitte hatte den Bauauftrag der armenischen Mechitharisten-Congregation übernommen und die Kirche zunächst in neugotischen Formen entworfen. Als Camillo Sitte gegen Ende des Jahres 1872 die Bauausführung vom Vater übernahm, änderte er den Stilcharakter des gesamten Baues grundlegend: Die stilistische Neuorientierung veränderte zwar nicht die architektonische Struktur der Kirche als dreijochig gewölbter Saalbau mit flachen seitlichen Wandnischen, eingezogenem Rechteckchor und Doppelturmfassade, doch wurde der Neubau sowohl in der Außengestaltung als auch im Inneren nicht in neugotischem Stil unter Heranziehung von Formvorbildern der Florentiner Frühgotik gestaltet, wie Franz Sitte es vorgesehen hatte, sondern im Formenvokabular der italienischen Frührenaissance (Abb. 18).36 35 Wien VII., Neustiftgasse 4, erbaut 1871–1873. 36 „Rechnungsplan No. 22“, Aufrissschnitte zur endgültigen Innengestaltung des Neubaues

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18 Camillo Sitte: Mechitharistenkirche, 1871–1873

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Die Stiländerungen am Konzept der Mechitharistenkirche bedeuteten eine radikale Abkehr Camillo Sittes von den Grundsätzen seines Vaters Franz Sitte, der vor allem als konsequenter Vertreter der Neugotik im Kirchenbau aufgetreten war. Für Camillo Sittes Richtungsänderung war zweifellos das Vorbild seines Lehrers Heinrich Ferstel maßgeblich, der schon in seinem Frühwerk, dem Bank- und Börsengebäude der Österreichisch-Ungarischen Bank in der Wiener Herrengasse, aus dem Motivrepertoire der italienischen Frührenaissance geschöpft hatte37 und der seit 1869 mit dem Neubau der Wiener Universität an der Ringstraße betraut war, für die er neuerlich Stil­ anregungen aus der italienischen Renaissance wählte.38 Bei beiden Werken erfolgte die Stilwahl aus historischen Beweggründen: beim Bank- und Börsengebäude als Bezugnahme auf die Entstehung des modernen Geldverkehrswesens in Italien zur Zeit der Renaissance, bei der Universität als Referenz auf die traditionsreichen italienischen Lehranstalten wie Bologna, Padua und Genua, die Ferstel 1871 im Zuge einer Studienreise besucht hatte.39 Camillo Sitte war damals von dem aufwändigen und ideologisch durchdachten Projekt seines Lehrers Ferstel so begeistert und beeinflusst, dass er sich entschloss, das von seinem Vater übernommene Bauprojekt der Mechitharistenkirche ebenso vor einem ideengeschichtlichen Hintergrund zu einem Gesamtkunstwerk historistischer Renaissance zu gestalten: Auch für die Geschichte der Mechitharisten-Congregation gab es einen zentralen historischen Bezugspunkt, nämlich das ökumenische Konzil von Ferrara (1431–1447), wobei sich die armenische Kirche im Unionsdekret vom 22. November 1439 mit der römischen Kirche vereinigt hatte.40 Obwohl die Union nicht von Dauer war, blieb dieses Ereignis besonders für den Mechitharistenorden denkwürdig, da dessen Gründer Mechithar von Sebaste 1701 eine der Wiener Mechitharistenkirche, signiert von Stadtbaumeister Philipp Theiss, vidiert von Architekt Camillo Sitte. Archiv der Mechitharisten-Congregation Wien (AMCW), Plansammlung. Schwarz 1999 (s. Anm. 14), S. 35, Anm. 41. 37 Schwarz, Mario: „Das Bank- und Börsengebäude in der Wiener Herrengasse und sein Architekt Heinrich Ferstel“, in: ÖRAG, Österreichische Realitäten-Aktiengesellschaft (Hg.): Bericht über die Revitalisierung des Palais Ferstel. Wien 1986, S. 15, 28f. 38 Schwarz, Mario: „Die Symbolik des Baues“, in: Fillitz, Hermann (Hg.): Die Universität am Ring 1884–1984. Wien, München: Brandstätter 1984, S. 48. 39 Wibiral, Norbert/Mikula, Renata: Heinrich von Ferstel (= Wagner-Rieger, Renate (Hg.): Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche, Bd. 8: Die Architekten und ihre Bauten, Teil 3). Wiesbaden: Steiner 1974, S. 167. 40 Hofmann, Georg: Die Einigung der armenischen Kirche mit der katholischen Kirche auf dem Konzil von Florenz (= Orientalia Christiana Periodica, Bd. 5). Rom 1939, S. 151ff.

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Verbindung des armenischen Ritus mit dem katholischen Mönchstum nach der Regel des heiligen Benedikt unter dem Primat des römischen Papstes geschaffen hatte.41 Die Architekturformen des italienischen Quattrocento, insbesondere der florentinischen Frührenaissance in Camillo Sittes neu formuliertem Entwurf für die Wiener Mechitharistenkirche, führten also sowohl zeitlich als auch geographisch zu jenem zentralen Ereignis zurück, das für die armenisch-katholischen Beziehungen von grundsätzlicher Bedeutung war. Tatsächlich zeigt die Fassade der Mechitharistenkirche mit der über alle Bauglieder gezogenen Rustizierung mit Bossenquadern in versetzten Fugen Bezugnahmen zur florentinischen Palastarchitektur des Quattrocento. Weitere konkrete Stilbezüge, etwa in der Portalgestaltung, bestehen zur Architektur Bernardo Rosselinos in Pienza, zu Werken Leon Battista Albertis, Michele Sammichelis und Sebastiano Serlios.42 Neben seinen Studien in architektonischer Formenlehre kamen Camillo Sitte bei der Anwendung dieser Motive zweifellos die Eindrücke zugute, die er selbst in „vielfachen Studienreisen nach Italien“ gewonnen hatte. 1876 bekräftigte Camillo Sitte in einem Brief an den Generalabt der Mechitharisten, die Gestaltung der Wiener Kirche „nach bestem italienischen Renaissancemuster“ gewählt zu haben und belegte dies eigens mit Vergleichsbeispielen aus der kunsthistorischen Fachliteratur.43 Umso mehr verwundert es, dass Camillo Sitte nun elf Jahre später, in seinem Aufsatz von 1887, den er Professor Carl von Lützow widmete, schreibt, der Bau der Mechitharistenkirche sei „in deutscher Renaissance“ gestaltet, „deren Wiederbelebung damals gerade erst aufzudämmern begann“. Camillo Sitte nennt sich in diesem Aufsatz nicht selbst als Schöpfer des Entwurfs, hebt jedoch hervor, die „öffentliche Meinung erklärte es einhellig als erfreuliches Ereigniß, dass nunmehr auch auf kirchlichem Boden der Bann der Gothik gebrochen sei“.44 Sitte bemerkt dazu, dass „die Peterskirche in Rom als ein erhabenes Denkmal kirchlicher Kunst“ inzwischen wieder voll

41 Arat, M. Kristin: „Mechithar von Sebaste – Spiritualität zwischen Ost und West. Ein ‚Ökumeniker‘ der Vergangenheit aus der benediktinischen Tradition“, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, Bd. 97 (1986), Nr. 1–2, S. 237ff. 42 Schwarz 1999 (s. Anm. 14), S. 26f. 43 Sitte, Camillo: Brief an den Generalabt der Mechitharisten, Salzburg, 29. Mai 1876, mit Hinweis auf „Bucher und Grauth, Das Kunsthandwerk, I. Jahrgang, Blatt 78“. Archiv der Mechitharisten-Congregation Wien (AMCW) (s. Anm. 36), signiert: Sitte Camillo, 1876. 44 Sitte „Kirchliche Architektur (1887)“ (s. Anm. 21), S. 245 in diesem Bd. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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anerkannt sei, während noch ein Vierteljahrhundert zuvor die Vertreter der Neugotik den Petersdom als Ausgangspunkt „einer falschen und verderblichen Richtung in der Baukunst“ angeprangert hatten. Wie relativ solches Urteil sei, führt Sitte jedoch gleich am Beispiel Vasaris vor, der einst die Gotik als „barbarisch“ erklärt hatte. Obwohl bis zu diesem Zeitpunkt ein Entwicklungsstand in der Baukunst erreicht war, der „das Bauen in allen Stylen ganz nach Belieben“ ermöglicht habe, wendet sich Sitte entschieden gegen die Schlussfolgerung, dass gerade das beliebige Bauen in allen Stilen eigentlich „der Styl unserer Zeit sei“. Vielmehr habe die mit der fortschreitenden bauhistorischen Forschung gekoppelte Wiederentdeckung der einzelnen historischen Baustile als jeweiliger Ansatzpunkt für eine adäquate Gegenwartsarchitektur nichts anderes als eine fortwährende Selbsttäuschung bewirkt, die das tatsächliche Problem verdeckte, und dies sei nach wie vor die „Erfindung des sogenannten neuen Styles“, zugleich als zentrales Anliegen „allein die geheime Triebfeder all dieser bis zum Äußersten angespannten Arbeit“. Sitte konstatiert erstaunt, „daß sich dabei alles so streng logisch entwickelte, dabei aber zugleich keiner der Mitbetheiligten den einheitlichen Gesammtweg überblicken konnte. Jeder meinte zu schieben und war doch selbst nur geschoben in Folge der inneren Nothwendigkeit des Zusammenhanges.“

Neobarock versus Secession Ein für Camillo Sitte ganz entscheidender Interessensschwerpunkt ist ebenfalls auf die Tätigkeit seines Vaters zurückzuführen, und zwar die Begeisterung für den Barockstil. 1856 hatte Franz Sitte die Aufgabe übernommen, die beiden Türme der Piaristenkirche in der Wiener Josefstadt mit Geschossaufbauten und Turmhelmen zu erhöhen, die dem barocken Baustil dieser Kirche angepasst waren.45 (Abb. 19) Dieses Werk zählt zu den ersten Formulierungen einer neobarocken Bautätigkeit im Wien des 19. Jahrhunderts. 1879 erscheint die programmatische Schrift Die Zukunft des Barockstyls von Albert Ilg, die von Camillo Sitte mit Begeisterung aufgenommen und rezensiert wird.46 Sitte erinnert sich später in diesem Zusammenhang an die Worte seines Lehrers Heinrich Ferstel, „der […] stets gepredigt hat, die Meisterwerke 45 Czerny/Keil 1993 (s. Anm. 26), S. 329f. 46 Sitte, Camillo: „Offenes Schreiben an Dr. Ilg (1879)“, S. 185–187 in diesem Bd.

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19 Franz Jänggl oder Johann Lucas von Hildebrandt: Piaristenkirche Maria Treu, 1698, 1716–1752; Franz Sitte: Turmaufstockung und Turmhelme, 1856–1860

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der Barocke fleissig zu studiren“.47 In der Folge festigt sich für Sitte immer mehr die Vorstellung, dass die konsequente Vollendung der Entwicklung der Baukunst des 19. Jahrhunderts in der Anwendung von Formvorbildern des Barocks liege. Sitte führt aus, dass vor allem die fortgeschrittene kunsthistorische Forschung das Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der einzelnen Baustile so sehr vermehrt habe, dass überhaupt erst eine entwicklungsgeschichtlich konforme Anwendung historischer Stilaufnahmen ermöglicht wurde – mithin jenes Phänomen, das die Kunstgeschichtsforschung des 20. Jahrhunderts, wie dargelegt, als „Strengen Historismus“ bezeichnet hat.48 Eine Fortführung der Stilaufnahme über die Vorbildepoche der Renaissance hinausgehend und die österreichische Baukunst des 18. Jahrhunderts miteinschließend kann daher durchaus als folgerichtige Anwendung der Prinzipien des „Strengen Historismus“ verstanden werden, sofern die gewählten Stilvorbilder aus verlässlich erforschten Grundlagen bezogen wurden. Mit dem Erscheinen des Buches Die Zukunft des Barockstyls von Albert Ilg im Jahre 1879 deklariert sich Camillo Sitte nachdrücklich als Bewunderer und Anhänger des österreichischen Barocks. Sitte würdigt das „Umfassende und Lebenskräftige dieses Styles, welcher Literatur, Politik, Sprache und Sitten seiner Zeit gleichmässig beherrschte“ und bemerkt zu Ilgs Buch: „Mit dieser Schrift ist denn die neueste Station, bei welcher unsere historisch reproduzirende Kunstentwicklung angelangt ist, bezeichnet und diess ist in der That von bleibender Bedeutung.“49 Sitte nimmt in seinem Artikel „Der neue Wiener Styl“ vom 8. Juli 1881 den Hauptmeister der Wiener Barockarchitektur, Johann Bernhard Fischer von Erlach, ausdrücklich zum Maßstab für das Werk seines Lehrers Heinrich Ferstel. Im gleichen Artikel rezensiert Sitte voll Begeisterung die Neuerscheinung des architekturgeschichtlichen Werkes Die Barockbauten Wiens. Der Herausgeber dieser Publikation, Franz von Neumann, dessen Justizpalastentwurf von Sitte vernichtend kritisiert worden war, wird hier nunmehr als „ausgezeichneter und feingebildeter Architekt“ und als „Erbauer der prächtigen Arkadenhäuser am Rathhausplatz“50 gewürdigt, wohl nicht zuletzt deshalb, da ihn Sitte als Gesinnungsgenossen seiner Barockvorliebe erkannt hat.

47 Sitte „Städteanlagen (1889)“ (s. Anm. 3), S. 269 in diesem Bd. 48 Wagner-Rieger 1970 (s. Anm. 9), S. 147–224. 49 Sitte „Offenes Schreiben (1879)“ (s. Anm. 46), S. 186f. in diesem Bd. 50 Sitte „Wiener Styl (1881)“ (s. Anm. 1), S. 188–199 in diesem Bd.

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1887 erinnert Sitte an die große österreichische Barockbaukunst, die „in üppiger Fülle so glanzvolle Werke wie die Karlskirche, die Piaristenkirche in der Josephstadt, die Universitätskirche, St. Peter in der inneren Stadt, die großartigen Stiftskirchen von St. Florian, Melk u. a. hervorgebracht hatte“.51 In seinem Nachruf auf Albert Ilg vom 2. Dezember 189652 würdigt Sitte mit größter Hochachtung und Bewunderung die Forschungen seines einstigen Studienkollegen und Freundes, der in seiner großen Publikation über Johann Bernhard Fischer von Erlach nicht nur Leben und Werk dieses Baukünstlers nach neuesten methodischen Ansätzen kunsthistorisch bearbeitet hatte, sondern in ausführlichen Exkursen auch auf die Werke vieler anderer österreichischer Barockkünstler eingegangen war und solcherart eine ganz neue Grundlage einer kunsthistorischen Bewertung des österreichischen Barocks geschaffen hatte. Was zuerst nur von einem kleinen Kreis von Interessierten in seiner Bedeutung erkannt werde, „wird und muß zum Durchbruch kommen; denn eine große Zeit, einmal als solche erkannt, kann nicht mehr der Vergessenheit anheim gegeben werden, nicht ständig ohne Nachwirkung bleiben“. Tatsächlich hatte sich inzwischen eine durchaus kraftvolle Variante des Historismus in der Wiener Architektur herausgebildet, die ihre Anregungen aus der Barockbaukunst bezog. Zu den ersten Vertretern dieser Richtung gehörte Gustav Korompay (1833–1907), der mit Karl von Hasenauer 1873 für die Bauten der Wiener Weltausstellung arbeitete.53 Es folgten die ersten neobarocken Bauten Carl Königs (1841–1915), des langjährigen Professors für Gestaltungslehre an der Fakultät für Architektur der Technischen Hochschule in Wien,54 wie der Philipphof55 oder 51 Sitte „Kirchliche Architektur (1887)“ (s. Anm. 21), S. 229–250 in diesem Bd. 52 Sitte, Camillo: „Albert Ilg (1896)“, S. 468–475 in diesem Bd. 53 Wagner-Rieger 1970 (s. Anm. 9), S. 254. Es fällt dabei auf, dass Sitte den neobarocken Weltausstellungsbauten des Ateliers von Karl von Hasenauer in seinem kritischen Artikel vom 8. Juli 1881 jene Anerkennung versagt, die er ihnen als Anhänger der neobarocken Richtung eigentlich zollen müsste. Vielmehr bemerkt Sitte dazu: „Herrn Hasenauer mangelt […] künstlerische Individualität, mangelt der persönliche Styl.“ Sitte „Wiener Styl (1881)“ (s. Anm. 1), S. 190 in diesem Bd. 54 Pozzetto, Marco: „Karl König und die Architekten der Wiener Technischen Hochschule“, in: Marchetti, Maria (Hg.): Wien um 1900. Kunst und Kultur. Wien, München: Brandstätter 1985, S. 305f. 55 Wien I., Augustinerstraße 8, erbaut 1883–1884. Krause, Walter: „Philipp-Hof“, in: Frodl, Gerbert (Hg.): Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, Bd. 5: 19. Jahrhundert. Hg. von Hermann Fillitz im Auftrag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. München, Berlin u.a.: Prestel 2002, S. 224, Katalog-Nr. 48. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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die Produktenbörse,56 das Deutsche Volkstheater von Ferdinand Fellner d. J. und Hermann Helmer57 oder das Palais Equitable von Ludwig Tischler und Andreas Streit.58 Zum Durchbruch kam der Neobarock in der Wiener Architektur des Späthistorismus jedoch mit dem Projekt der Fertigstellung des Michaelertraktes der Wiener Hofburg, wobei der seit 1869 gefasste Plan zunächst 1889 von Karl von Hasenauer nach dem Vorbild der Entwürfe des 18. Jahrhunderts konkretisiert, dann aber 1893 in modifizierter Form von Ferdinand Kirschner (1821–1896) verwirklicht wurde.59 Die Stilwahl des Barock entsprach zweifellos der Vorliebe des Kaiserhauses. Schon 1853 war mit dem Bau der Reithalle im Komplex der Hofstallungen eine der ersten monumentalen Anlagen des Neobarock entstanden.60 Der Ausbau des Michaelertraktes der Hofburg, die Fertigstellung des Maria Theresia-Denkmals (1888) und die Veranstaltung einer „Maria Theresien-Ausstellung“ sowie die Vollendung der prachtvollen Vestibüle der Hofmuseen wirkten mit, dass „die Wiederaufnahme des Barock in Architektur und Plastik tatsächlich zum ‚spezifischen Wiener Styl‘“61 weiterentwickelt wurde. Von größter Bedeutung war dabei, dass Albert Ilg als persönlicher Kunsterzieher Erzherzog Franz Ferdinands tätig gewesen war62 und diesen nachhaltig für die österreichische Barockkunst zu begeistern vermochte. Franz Ferdinand trat im Jahre 1896 nach dem Tode Erzherzog Karl Ludwigs die Thronfolge in Österreich-Ungarn an und galt von nun an als der präsumtive nächste Kaiser. Franz Ferdinand stand als Protektor der K.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale an der Spitze der gleichen Organisation,63 in der auch Albert Ilg seit 1878 als „Correspondent“ und ab 1883 als „Conservator“ gewirkt hatte. Der Erzherzog erwies sich nicht nur in seiner persönlichen Stilvorliebe als Anhänger der Barock56 Wien II., Taborstraße 10, erbaut 1887–1890. Czerny/Keil 1993 (s. Anm. 26), S. 20f. 57 Wien VII., Neustiftgasse 1, erbaut 1888–1889. Ebd., S. 291f. 58 Wien I., Stock-im-Eisen-Platz 3, erbaut 1890. 59 Wagner-Rieger 1970 (s. Anm. 9), S. 255. 60 Klein, Dieter: „Die Reithalle der ehemaligen Hofstallungen“, in: Steinschlag. Aktuelle Berichte aus der Reihe ‚Steine sprechen‘, Jg. 29 (1990), Nr. 91. 61 Ottillinger, Eva B.: „Vom Blondel’schen Styl zum Maria Theresien Stil“, in: Polleroß, Friedrich (Hg.): Fischer von Erlach und die Wiener Barocktradition (= Institut für die Erforschung der Frühen Neuzeit, Wien (Hg.): Frühneuzeit-Studien, Bd. 4). Wien, Köln u.a.: Böhlau 1995, S. 355. 62 Ebd., S. 359. 63 Brückler, Theodor: „Quellen zur Geschichte der österreichischen Denkmalpflege“, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege, Jg. 62 (2008), Heft 1, S. 114–118.

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tradition, was sich z.B. bei der Ausgestaltung seiner Residenz im Wiener Belvedere oder beim Umbau seines niederösterreichischen Schlosses Artstetten manifestierte, sondern förderte gleichzeitig die Architektur des Neobarock nachhaltig, was sich in der Ablösung des Leiters der Bauführung am Projekt der Neuen Hofburg in Wien, Friedrich Ohmann, durch Ludwig Baumann (1854–1936) auswirkte, der als ein „weitaus mehr barock gestaltender Architekt“ galt.64 Bei großen öffentlichen Aufträgen wie dem Bau des Technischen Museums65 oder dem Neubau des Kriegsministeriums66 wurden neobarocke Entwürfe anderen, bereits in secessionistischen oder frühmodernen Formen gestalteten Projekten vorgezogen.67 Franz Ferdinand förderte die Entfaltung eines spätimperialen neobarocken Baustils in vielfältiger Weise, da er in einer Wiederaufnahme und Vervollkommnung des „Maria-Theresia-Stils“ eine adäquate architektonische Umsetzung seiner konsolidierenden Reformvorstellungen für die Habsburgermonarchie zu erkennen glaubte.68 Für viele musste daher die vital auftretende neobarocke Architektur um die Jahrhundertwende als „Architektur der Zukunft“ erscheinen. Gegner der neoba­rocken Richtung, wie Otto Wagner, fühlten sich dagegen von der Kunstpolitik Erzherzog Franz Ferdinands diskriminiert.69 64 Wagner-Rieger 1970 (s. Anm. 9), S. 255. 65 Wien XIV., Mariahilfer Straße 212, erbaut 1910–1913 von Architekt Hans Schneider unter dem persönlichen Protektorat von Erzherzog Franz Ferdinand. Siehe Czerny, Wolfgang/ Kastel, Ingrid u.a. (Bearb.): Wien. X. bis XIX. und XXI. bis XXIII. Bezirk (= Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs. Topographisches Denkmälerinventar. Hg. vom Bundesdenkmalamt). Wien: Berger 1996, S. 298–300. 66 Wien I., Stubenring 1, erbaut 1909–1913 von Ludwig Baumann. Kolowrath, Rudolf: Ludwig Baumann, Architektur zwischen Barock und Jugendstil. Wien: Compress 1985, S. 73–82. 67 Haiko, Peter: „Otto Wagner, Adolf Loos und der Wiener Historismus. ‚Die Potemkin’sche Stadt‘ und die ‚Moderne Architektur‘“, in: Marchetti, Maria (Hg.): Wien um 1900. Kunst und Kultur. Wien, München: Brandstätter 1985, S. 297–304. 68 Schwarz, Mario: „Altkunst – Neukunst?“, in: Steine sprechen, Jg. 38 (1999), Nr. 112, S. 13. 69 So bemerkt Otto Wagner im Vorwort zu seinem Tagebuch: „Zur Eröffnung der Steinhofer Kirche kam, in Vertretung des Kaisers, Erzherzog Franz Ferdinand. Ich mußte ihm den Bau erklären, worauf er als Schlußbemerkung einer Ansprache sagte: ‚Der Maria-Thersien-Stil ist doch der schönste.‘ Ich erwiderte ihm, dass zur Zeit Maria Theresias die Kanonen verziert gewesen seien, während man sie heute vollkommen glatt mache. – Mit ungeheurem Hochmut wendete er sich von mir ab und sein Haß verfolgte mich, trotz mehrfacher Interventionen, derart, dass ich eine Anzahl Aufträge verlor, für die ich in Aussicht genommen war […]. Die Gemeinde hatte viel zu wenig Mut, sich den überaus gehässigen Machenschaften des Erzherzogs entgegenzustellen. Mit dem Tode des Thronfolgers war, meiner Ansicht nach, für Österreich das größte Hindernis der letzten 15 Jahre für die Betätigung Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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Der Wettbewerb um das Kaiser Franz Joseph-Stadtmuseum am Karlsplatz Am 3. Juli 1900 fasst der Wiener Gemeinderat den Beschluss, am Karlsplatz ein „Kaiser Franz Joseph-Stadtmuseum“ zu errichten, das die Sammlungen des 1887 institutionell begründeten Historischen Museums der Stadt Wien aufnehmen solle.70 Ziel ist die Fertigstellung des Museumsbaues zum sechzigjährigen Jubiläum der Thronbesteigung Kaiser Franz Josephs im Jahre 1908. Am 19. März 1901 konstituiert sich ein Gemeinderatsausschuss, der für den Museumsbau einen zweistufigen Architektenwettbewerb vorbereiten soll. Das Bauprogramm und die Bedingungen des Wettbewerbes werden vom Gemeinderat am 7. Mai 1901 genehmigt. Bis 15. September 1901 läuft die Vorkonkurrenz, die acht Preise zu je 20.000 Kronen vergibt. Die zweite Stufe des Wettbewerbs wird am 30. April 1902 abgeschlossen, das Amtsblatt der Stadt Wien berichtet am 13. Juni 1902 über das Ergebnis.71 Camillo Sitte ist in der Jury des Museumsbau-Wettbewerbes. Er tritt in dieser Angelegenheit zwischen 1901 und 1903 mit vier Publikationen an die Öffentlichkeit. In seinem streng sachbezogenen ersten diesbezüglichen Artikel vom 22. November 1901 unter dem Titel „Eine Kunstfrage“72 bringt Sitte das Problem schon im Einleitungssatz auf den Punkt: „Einen der größten Contraste in der Geschichte unserer Stadt bildet die Zeit, in welcher die Carlskirche gebaut wurde und die Zeit, in der jetzt der architektonische Rahmen dazu geschaffen werden soll. Damals ein Höhepunkt baukünstlerischen Lebens; heute ein Tiefpunkt“. Sitte konstatiert, dass die künstlerische Entwicklung in einer „ungünstigen Richtung der künstlerischen Zeitströmung“ verlaufe, die es besonders problematisch mache, in unmittelbarer Nachbarschaft der Karlskirche, die er als „eines der hochragendsten Denkmäler der Bauund Kunstgeschichte überhaupt“ ansieht, einen Monumentalbau zu errichten. Unter diesen Umständen sei die Verantwortung der Entscheidungsträger eine besonders große, und es wäre wohl besser, wenn „die Ausgestaltung des Carlsplatzes in so stylverworrener, mit sich selbst unklarer Zeit lieber gar nicht in Angriff genommen“ würde. und Fortentwicklung der modernen Architektur überwunden.“ Geretsegger, Heinz/Peintner, Max: Otto Wagner 1841–1918. Unbegrenzte Großstadt – Beginn der modernen Architektur. Salzburg: Residenz 1964, S. 22. 70 Czeike, Felix: Historisches Lexikon Wien, Bd. 4. Wien: Kremayr & Scheriau 1995, S. 331f. 71 Graf, Otto Antonia: Otto Wagner, Bd. 1: Das Werk des Architekten 1860–1902. Wien, Köln u.a.: Böhlau 1985, S. 380–399. 72 Sitte, Camillo: „Eine Kunstfrage (1901)“, S. 520–528 in diesem Bd.

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Sitte steigert den Ausdruck seiner Ablehnung der gegenwärtigen Kunstentwicklung noch weiter, indem er von einer „Zeit vollständiger Entartung architektonischen Stylgefühles“ spricht. Dieser Angriff richtet sich nicht gegen die „Mehrzahl der concurrirenden Künstler“, die sich in ihren Arbeiten im Großen und Ganzen dem Stil der Karlskirche angepasst und auch in begleitenden Kommentaren ausgedrückt hätten, „dass hier an dieser Stelle nicht anders gebaut werden dürfe“. Sitte bezeichnet hingegen die Konkurrenzentwürfe der zehn am Wettbewerb beteiligten Mitglieder der Wiener Secession für einen Monumentalbau in Nachbarschaft der Karlskirche als grundsätzlich ungeeignet. Obwohl Sitte bereits hier dem Secessionismus den Stilbegriff abspricht und ihn lediglich als „Moderichtung“ gelten lassen will, gibt er in diesem Artikel noch zu, dass „Manches an der Secession […] jeden künstlerisch warmfühlenden Menschen entschieden sympathisch berühren“ müsse, „so der Muth, mit dem Stylcopiren brechen und grundsätzlich Neues schaffen zu wollen“. Sitte merkt sogar an, dass das Projekt von Oberbaurat Otto Wagner „im Rahmen dieser momentanen Wiener Gesammtrichtung unleugbare Vorzüge“ aufweise; dennoch würden die dominierenden Elemente moderner Konstruktionsweise aus Glas und Eisen so sehr im Gegensatz zu Fischer von Erlachs Kirchenbau stehen, dass die Verwirklichung dieses Projektes nicht verantwortet werden könne. In gewohnter Polemik greift Sitte Otto Wagner persönlich an: „Blos um Neues zu bringen, kann und darf man als Monumentalkünstler eben nicht zu solchen Mitteln greifen.“ Vorausgegangen war diesem Artikel die Juryabstimmung der Vorkonkurrenz, bei der von den acht ausgewählten Projekten auch zwei Arbeiten von Secessionisten angenommen worden waren, darunter eben jenes von Sitte verurteilte Projekt Otto Wagners. Wie viel später, in einem Artikel vom 21. Januar 1903 in der Neuen Freien Presse, mitgeteilt wird, erklärte Camillo Sitte in einem Vortrag im Ingenieur- und Architekten Verein, dass er bei der Juryabstimmung der Vorkonkurrenz zunächst ein Separatvotum abgegeben habe, mit dem Inhalt, „dass die Zuziehung Otto Wagners zur engeren Concurrenz lediglich seiner Person als tüchtigem Meister und als AkademieProfessor gelte, nicht aber seinem entschieden schlechten Projecte“.73 Sitte habe danach vorgeschlagen, „es solle bei der Programmverfassung für die entgültige Entscheidung der Jury die Anpassung des Museums an den Stil der Karlskirche ausdrücklich verlangt werden“. 73 „Der Wiener Museumsbau“, in: Neue Freie Presse, 21. Januar 1903. Sign. SN: 400-618. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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Einen noch viel ausführlicheren Bericht über die erste Wettbewerbsstufe des Museumsprojektes am Karlsplatz liefert Camillo Sitte 1902 in der Allgemeinen Bauzeitung unter dem Titel: „Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums der Stadt Wien.“74 Im Unterschied zu seinen frühen Aufsätzen über Architekturwettbewerbe legt Sitte nun viel mehr Gewicht auf die Beurteilung der Grundrissdisposition und der Raumorganisation der Projekte. Eingangs lobt Sitte den Entwurf des Architekten Richard Schneider, den er angeregt von römischen Vorbildern des 16. Jahrhunderts und adäquat passend zum „herrlichen Meisterwerke der KarlsKirche“ einschätzt, und bedauert, dass die Ausführbarkeit dieses baukünstlerisch bestechenden Projektes am Schema der schon zuvor festgelegten Baulinien scheitern musste, die der Wettbewerbsteilnehmer außer Acht gelassen hatte. An diesem Beispiel zeigt Sitte, dass er die Vorgangsweise bei der Durchführung dieses Architektenwettbewerbes grundsätzlich für verfehlt hält und beklagt, dass die gesamte Platzgestaltung ausschließlich dem Diktat optimaler Verkehrsverhältnisse untergeordnet werde, was die baukünstlerische Freiheit bedauerlich einenge. In der Analyse der einzelnen Wettbewerbsbeiträge geht Sitte systematisch auf die Grundrissgestaltung der Museumsprojekte ein, wobei er vor allem die Handhabung der Gelenkwirkung bei der Vermittlung von einer symmetrischen Eingangsfront hin zu den Seitenflügeln des unregelmäßigen Grundrissvierecks vergleicht. In der Folge kommt Sitte auch auf einen seiner Lieblingsgedanken zu sprechen, nämlich den fragwürdigen Wert einer konsequent geometrisch konstruierten Symmetrie in Zweifel zu stellen. So lobt Sitte etwa das Projekt von Friedrich Schön wegen seiner „souverän freien und nicht ängstlichen Lösung“, das an die Stelle einer durchkonstruierten Symmetrie eine gleichgewichtige Anordnung tatsächlich unsymmetrischer Raumfolgen vorsieht. Immer wieder betont Sitte, wie wenig man bei der Begehung eines solchen Museumsbaues von exakter Regelmäßigkeit in Grundrissgestaltung und Symmetrie tatsächlich wahrnehmen könne. So wie in seinen Ausführungen zum Städtebau75 plädiert Sitte für eine empirische Gestaltungstätigkeit und erinnert an „die alten naiven Meister“, die „an Ort und Stelle spazierengehend entworfen haben, während wir alles am Reißbrett mit Zirkel und Lineal uns herausquälen“. Als negative Beispiele für Mu-

74 Sitte, Camillo: „Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz JosephMuseums der Stadt Wien (1902)“, S. 537–563 in diesem Bd. 75 Beispielsweise in Sitte „Städteanlagen (1889)“ (s. Anm. 3).

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seumsentwürfe, die „pedantisch streng“ und „mit […] der alles verderbenden Reißschiene entworfen“ wurden, nennt Sitte jene von Max Hegele76 und Adolf Ritter von Inffeld. Sitte enthält sich in diesem Bericht weitgehend der Polemik gegenüber den Teilnehmern aus dem Kreis der Secessionisten, merkt aber an, es sei zu erwarten gewesen, dass diese ihre Stilauffassung auch neben einem Bau von so bedeutendem künstlerischen Rang wie der Karlskirche für angebracht halten würden. Von den secessionistischen Entwürfen hebt Sitte die „gemäßigten“ hervor, darunter den von Max Fabiani,77 dem er eine Perspektivabbildung widmet, sowie jenen von Ignaz Sowinszky, der sogar eine Tafelabbildung erhält. Otto Wagners Entwurf wird in dem Bericht dagegen nur mit einer Grundrissdarstellung illustriert. Voll schärfster Polemik gegen Otto Wagner und die Secessionisten ist dagegen Camillo Sittes Zeitungsartikel vom 12. Juni 1902 mit dem Titel „Am Carlsplatz“.78 Bereits einen Tag vor dem offiziellen Amtsorgan der Stadt Wien berichtet Sitte im Neuen Wiener Tagblatt über den Ausgang der Juryentscheidung des zweiten Wettbewerbsverfahrens. Demnach habe das Projekt von Friedrich Schachner (Abb. 20) 13 Stimmen, jenes von Albert Pecha 12, das Projekt von Franz Freiherr von Krauß und Josef Tölk sieben Stimmen, jenes von Prof. Otto Wagner sechs Stimmen und das von Max Hegele vier Stimmen erhalten. Sitte lobt das Siegerprojekt Schachners als Entwurf von „wahrer künstlerischer Größe“ im „Styl ruhiger, an die Barocke anklingender Hochrenaissance“. Es fällt auf, dass Sitte bezüglich der Gestaltung der großen Museumshalle Schachners an der „über den ganzen Raum gespannte[n] 76 Max Hegele (1873–1945), 1883–1893 Schüler Camillo Sittes an der Staatsgewerbeschule Wien I., Schellinggasse. Architekturstudium an der Akademie in Wien bei Karl Hasenauer und Viktor Luntz. Hofarchitekt des Fürsten Liechtenstein, Sieger des Wettbewerbes zur baulichen Ausgestaltung des Wiener Zentralfriedhofs, 1903–1911 Gestaltung der Zeremonienhallen und der Dr. Karl-Lueger-Gedächtniskirche am Zentralfriedhof. Weitere Werke: Pfarrkirche Preßbaum (Niederösterreich, von 1906–1908), Landhäuser, Industriebauten. 77 Max Fabiani (1865–1962), Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Wien, danach dort Assistent und Professor. Mitarbeit im Atelier Otto Wagners bei der Gestaltung der Stadtbahnstationen und der Karlsplatzgestaltung. 1905–1914: Berater des ErzherzogThronfolgers Franz Ferdinand in Kunstfragen. Wiener Bauten: Geschäftshaus Portois & Fix (Wien III., Ungargasse 59, von 1897), Geschäftshaus Artaria (Wien I., Kohlmarkt 9, von 1901–1902), Geschäftshaus Reithoffer (Wien VI., Lehárgasse 9, von 1909–1911), Urania (Wien I., 1909–1910). 78 Sitte, Camillo: „Am Carlsplatz. Das Kaiser Franz Joseph-Museum der Stadt Wien (1902)“, S. 531–536 in diesem Bd. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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20 Friedrich Schachner: Projekt für das Kaiser Franz Joseph-Museum der Stadt Wien, 1902

Glasoberlichte, welche außen nur mäßig über die Façade des Hauptgebäudes emporragt“ keinerlei Anstoß nimmt, während er die Anwendung von Glas und Eisen im Entwurf Otto Wagners geißelt. Die Angriffe auf Wagner fallen in diesem Artikel Sittes sehr hart und sehr persönlich aus: So liest man, dass Wagner nach der Meinung Sittes im zweiten Wettbewerbsdurchgang „in fast jeder Beziehung hinter sich selbst zurückblieb“, ja dass er „diesmal […] gänzlich versagte“. Jedoch sei er „selbst schuld an seinem Niedergang“, da er „sich immer mehr und mehr fanatisch doctrinär in die Secession verbohrt“ habe, was ihn „wie auf schiefer Ebene unerbittlich abwärtszieht“. Sitte geißelt gleichermaßen „diese sogenannte Kunst, die man gegenwärtig Secession nennt“: Er hält sie für „verstandesmäßig erpreßt, schablonenhaft und mühselig erarbeitet, eklektisch zusammengeflickt“. Wie aus dem Artikel in der Neuen Freien Presse vom 21. Januar 1903 zu erfahren ist,79 habe es nach der zweiten Wettbewerbsstufe „maßlose Angriffe […] gegen die Entscheidung der Jury“ gegeben, gegen die sich Sitte nun zur 79 „Der Wiener Museumsbau“ (s. Anm. 73).

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Wehr setzt. Tatsächlich eskaliert die Auseinandersetzung noch weiter, wie aus dem in zwei Teilen erschienenen Artikel mit dem Titel „Sezession und Monumentalkunst“ vom 5. und 6. Mai 1903 hervorgeht.80 Nun verspottet Sitte den Wettbewerbsentwurf Otto Wagners unter Bezugnahme auf einzelne Details: Die Empfangsräume hätten „den Charakter eines Kanarienvogelhauses“, Sitte ortet „massenhaft auf den Dächern“ hockende Goldbronze-Engel, und auch das übrige sei „so massenhaft mit vergoldeten Bronzen und Treibarbeiten überhäuft, dass dadurch die Gesamtwirkung eines putzigen Spielwarenkastens zur Erscheinung kommt“. Man habe „in diesem Modell ein trauriges Beispiel vor Augen, bis zu welchem Extrem die grundsätzliche Stilverachtung führen muß“. Sitte beurteilt den Stilcharakter von Wagners Entwurf „von allen Seiten her kompilatorisch und schemenhaft zusammengestoppelt, […] nicht historisch gewachsen, nicht bodenständig, nicht ehrlich“. Eine für Camillo Sitte typische Ambivalenz drückt sich im gleichen Artikel bei seinem Urteil über die Wiener Secession aus. Zunächst erklärt Sitte seine Bereitschaft, „das viele Reizende, das von der Sezession bereits geschaffen wurde, voll und ganz, und auch gerne […] anerkennen“ zu wollen; dabei weist er auch auf die Beachtung hin, die die Bewegung der Secession bereits im Ausland in Fachzeitschriften wie Art et Décoration oder The Studio gefunden hat. Gleichzeitig schränkt Sitte dieses Lob bloß auf Leistungen der Kleinkunst und des Kunstgewerbes ein, insbesondere der Spitzen-, Glas- und Keramikerzeugung, auf Metallarbeiten oder Buchgestaltung. Schon beim Möbelbau versagt Sitte den Künstlern der Secession weitgehend die Anerkennung, er führt die Leistungen auf diesem Gebiet auf die bloße Übernahme von Vorbildern aus England oder aus dem Biedermeier zurück und kritisiert die vielfachen „Verstöße gegen den guten Geschmack, gegen Material und Konstruktion, gegen den Zweck der Möbel“. Die Schmiedeeisenarbeiten der Secessionisten findet Sitte „ausnahmslos gänzlich abscheulich“. Sitte vergleicht die Leistungen der Secession mit „impressionistischen Kunststückchen“, „eine Unterhaltungssache von vorübergehendem, kurzlebendem Werte“, der er aber immerhin „Beweglichkeit, Abwechslung, Neuheit, Individualität, sowie das Hervortreten des Autors“ attestiert. Die hohen Ansprüche, die die Baukunst, die reine Kunstform der Architektur jedoch stelle, könnten von der an Grundsätzen der Kleinkunst orientierten Secession nach Sittes Meinung niemals erfüllt werden. Sitte vergleicht die Idealform der Baukunst mit idealer Volkskunst, die aus jahrhundertelan80 Sitte, Camillo: „Sezession und Monumentalkunst (1903)“, S. 564–576 in diesem Bd. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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ger Tradition hervorgegangen sei81 und durch „Stetigkeit der Entwicklung, starke Gesetzlichkeit, Stil und ein Zurücktreten des Autors hinter seinem Werke“ gekennzeichnet sei. Die Monumentalkunst dürfe keinesfalls als wechselhafte Modeerscheinung aufgefasst werden, wie es der Kunstbegriff der Secession vorgäbe. Dagegen sei „die Haupteigenschaft monumentaler Kunst seit jeher die Objektivität, das Festhalten an der Tradition, der Stil gewesen“. Als Vertreter des „Strengen Historismus“ wendet sich Sitte methodisch folgerichtig daher gegen „das Losungswort der Sezession: ‚Weg mit den alten Stilen und ihrer Nachbetung!‘“, obwohl er sich des Dilemmas der Stilreproduktion voll bewusst ist. Das „hauptsächlichste Schlagwort der Sezessionisten […], daß dieser Stil der Stil unserer Zeit sei, und daß wir daher nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet seien“, diese Kunstrichtung selbstbewusst gegen die „Dokumente früherer Jahrhunderte“ zu setzen, bezeichnet Sitte als „Trugschluß“. Wenn Sitte der Secession pauschal die Fähigkeit abspricht, monumentale Architektur zu schaffen, ignoriert er bewusst die Entwürfe Otto Wagners für bedeutende Wiener Monumentalbauten, wie für die Akademie der bildenden Künste (1897)82, die Hofburg (1898)83 oder für den Umbau der Kapuzinerkirche (1898)84, die ihm bekannt sein mussten. Er lässt das 1898 errichtete programmatische Gebäude der Secession von Joseph Maria Olbrich85 (Abb. 21) ebenso außer Acht wie das Palmenhaus im Burggarten (erbaut 1901), mit dem Architekt und Secessionsmitglied Friedrich Ohmann86 einen markanten

81 Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1998, S. 149f. 82 Graf 1985 (s. Anm. 71), S. 306–321, Werkverzeichnis Nr. 88. 83 Ebd., S. 338–345, Werkverzeichnis Nr. 94. 84 Ebd., S. 341–357, Werkverzeichnis Nr. 95. 85 Josef Maria Olbrich (1867–1908) aus Troppau, Schüler Camillo Sittes an der Staatsgewerbeschule in Wien, Architekturstudium an der Akademie in Wien bei Karl Hasenauer und Otto Wagner. Mitarbeit im Atelier Otto Wagners bei der Gestaltung der Hochbauten der Wiener Stadtbahn. Gründungsmitglied der Wiener Secession, deren Ausstellungsgebäude er 1897–1898 erbaut. Ab 1899 vom Großherzog Ernst Ludwig von Hessen nach Darmstadt berufen, Gestaltung der Künstlerkolonie „Mathildenhöhe“. 86 Friedrich Ohmann (1858–1927), aus Lemberg, Architekturstudium am Polytechnikum in Wien bei Heinrich Ferstel und Carl König und an der Akademie in Wien bei Friedrich von Schmidt. Professor an der Wiener Staatsgewerbeschule bei Camillo Sitte. 1897–1903: Mitglied der Wiener Secession; 1899–1907: Bauleiter der Neuen Hofburg in Wien; 1903–1907: Gestaltung der Wienfluss-Ausmündung im Stadtpark; 1907: Kaiserin Elisabeth-Denkmal

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21 Joseph Maria Olbrich, Secessionsgebäude, 1897–1898

secessionistischen Akzent im Ensemble der Hofburg gesetzt hatte. Nicht zuletzt ignoriert Sitte die zahlreichen im Stil der Secession gestalteten Stationsgebäude der Wiener Stadtbahn, mit denen Otto Wagner unter maßgeblicher Mitarbeit Olbrichs dem Stadtbild eine wesentliche neue Note hinzugefügt hatte.87 Obwohl wichtige Monumentalbauten secessionistischer Künstler wie Otto Wagners Postsparkasse oder die Kirche am Steinhof sowie die Wienflussverbauung von Friedrich Ohmann zu dieser Zeit noch nicht errichtet waren, unterschätzt Sitte offensichtlich die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der Wiener Secession und ignoriert auch die inzwischen bereits erfolgte Anerkennung dieser Stilbewegung im Ausland, wie sie durch die Gründung der Darmstädter Künstlerkolonie Mathildenhöhe erfolgt war, wo man Olbrichs Bauten bereits 1901 als „Tempel zeitgenössischer Kunst“ pries.88 Sitte polemisiert gegen die Zeiterscheinung, wonach Architektur zur „Marktware“ in Massenproduktion geworden und dadurch vom „alltäglichen Momentgebrauch“ diktiert sei. Höhere Baukunst sieht Sitte nur bei Aufgaben

im Volksgarten. Weitere Bauten: Museum Carnuntinum in Bad Deutsch Altenburg, Stadtmuseum in Magdeburg, Schlossbrunnen-Kolonnade in Karlsbad, Kurhaus in Meran. 87 Wagner-Rieger 1970 (s. Anm. 9), S. 268f. 88 Latham, Ian: Joseph Maria Olbrich. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1981, S. 52. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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des Kirchen- und Denkmalbaues, teilweise noch des Burgen- und Palastbaues, sowie im Rathaus-, Museums- und Theaterbau. Warenhäuser, Zinshäuser, Kasernen und andere Nutzbauten rechnet er dagegen überhaupt nicht zur Baukunst. Bemerkenswert ist an dieser Stelle Camillo Sittes eigene idealistische Auffassung von der Sakralkunst, dem „Kirchenbau, bei dem es zu allen Zeiten […] Grundanforderung war, daß der Mensch, der hier sich flehend an das Höchste der Welt, an die Gottheit wendet, sein Bestes zu geben verpflichtet ist, das Kostbarste, das er besitzt“. Diese Formulierung bedeutet nicht nur eine Rückerinnerung an den Vater Franz Sitte, der jahrzehntelang als Architekt im Sakralbau tätig war, sondern weist auch auf den Umstand hin, dass Camillo Sitte selbst sich über dreißig Jahre mit großem Idealismus in den Dienst der Errichtung und Ausgestaltung der Wiener Mechitharistenkirche gestellt hat.89 Sitte sichert seine Argumentationslinie dadurch ab, dass er gerade jene Kategorien von Bauwerken, mit denen die Secession soeben spektakulär in Erscheinung getreten war, der Baukunst einfach nicht zurechnen will: Dies sind technische Bauten, wie die Bahnhöfe, Glas-Eisen-Konstruktionen wie Ohmanns Palmenhaus oder Ausstellungsbauten, zu denen er auch das Secessionsgebäude zählt. Neben den argumentativ sachlich begründeten Einwänden gegen die Linie der Secession erhebt Sitte auch moralische Anklagen gegen die neue Kunstrichtung: So steht er dem „Beethovenfries“ von Gustav Klimt verständnislos gegenüber; in subjektivem Urteil bezeichnet Sitte dieses Werk „wahrlich moralisch und ästhetisch schlechtweg scheußlich“. In den Arbeiten der Secessionskünstler finde man „Wahres und Falsches, Schönes und geradezu sinnlich Abstoßendes, Gesundes und geradezu Wahnwitziges auf einen Haufen zusammengetragen“. Sitte wirft den Künstlern dieser Gruppe „Unbelehrbarkeit“ und „Uneinsichtigkeit“ vor. „Unaufrichtigkeit“ und „Unehrlichkeit“ seien „ein charakteristisches Merkmal der Sezession“. Der Ausdruck der Ablehnung Sittes gipfelt in den Worten: „Unsere Zeit müßte sich geradezu schämen, wenn derartige Kunstformen, die bar sind allen Ernstes, aller Tiefe, allen großen Inhaltes, der Ausdruck unserer Zeit sein sollten.“ Im zweiten Teil seiner Artikelfolge „Sezession und Monumentalkunst“ tritt noch stärker eine allgemeine Modernismuskritik hervor, indem Sitte immer öfter die Begriffe „sezessionistisch“ und „modern“ austauscht. Man gewinnt den Eindruck, dass bei Sittes Kritik an der Secession, die sich immer mehr auf das Werk und die Person Otto Wagners fokussiert, alte 89 Schwarz 1999 (s. Anm. 14), S. 27–34.

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Ressentiments gegen Wagner mitspielen. Dieser hatte 1894 im Berufungsverfahren der Nachfolge Hasenauers als Professor an der Wiener Akademie der bildenden Künste den Sieg über seinen Konkurrenten Camillo Sitte errungen,90 was für Sitte wohl die größte Enttäuschung seines beruflichen Lebens bedeutete. Nun muss Sitte beobachten, wie Wagner nicht nur im Architekturgeschäft äußerst erfolgreich ist, sondern auch eine internationale Ehrung nach der anderen erhält.91 Immer mehr erkennt Sitte, dass sich Wagner als Hauptfigur unter den Architekten der Secession zum Propagandisten einer grundsätzlich neuen Richtung der Baukunst aufschwingt und sich dabei auf Argumente von Künstlern und Theoretikern des fortschrittlichen Auslandes berufen kann.92 Dass Otto Wagner auf seinem Weg vom Historismus in eine neue Richtung die wertvollsten stilistischen Anregungen durch seinen überaus talentierten Ateliermitarbeiter Joseph Maria Olbrich geliefert bekommt, der aus der von Camillo Sitte geleiteten Staatsgewerbeschule hervorgegangen war,93 ist noch ein zusätzliches Ärgernis. Unverzeihlich muss es schließlich erscheinen, wenn Otto Wagner in seiner 1896 veröffentlichten Schrift Moderne Architektur Gottfried Semper kritisch und – wie Sitte glaubt

90 Schorske, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle. Aus dem Amerikanischen von Horst Günther. München: Piper 1997, S. 77. 91 1896 ist Wagner bereits Mitglied des Königlichen Instituts britischer Architekten in London, 1898 Mitglied der Société Centrale des Architectes in Paris, der Société Centrale d’Architecture in Brüssel und der Gesellschaft zur Beförderung der Baukunst in Amsterdam, 1902 auch Mitglied der Kaiserlichen Gesellschaft der Architekten in St. Petersburg. Graf 1985 (s. Anm. 71), S. 263. 92 So berichtet Sitte in seinem Artikel „Am Carlsplatz“ (S. 531–536 in diesem Bd.) vom 12. Juni 1902 selbst: „Es war schon im Jahre 1879, als Zola seine Salonberichte […] herausgab, daß, davon inspirirt, der Architekt Dubuche […] eine n e u e A r c h i t e k t u r verkündete. Diesmal sollte sie demokratisch sein und jenes gewaltige Etwas ausdrücken, das in der modernen Seele des modernen Menschen noch ungehoben schlummert und sich vorläufig nur in Fabriksschloten, Maschinen- und Markthallen, Bahnhöfen und dergleichen als eine neue Welt der Baukunst ankündigt. Die neuen Materialien, Glas und Eisen, werden der neuen Baukunst die Wege weisen und, gesteigert durch Schönheit, ein bisher noch nie erreichtes Etwas der Welt schenken.“ Sitte weist diese Prognose zurück und meint angesichts dieses „Eisenstyls“, den seither Otto Wagner in seinen Stadtbahnstationen „copirt“ habe, nur „materialwidrige und haltlose Formen“ erkennen zu können. 93 Reiterer, Gabriele: „Architektur von 1890 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs“, in: Schmied, Wieland (Hg.): Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, Bd. 6: 20. Jahrhundert. Hg. von Hermann Fillitz im Auftrag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. München, London u.a.: Prestel 2002, S. 425. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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– missbräuchlich zitiert.94 Sitte spricht Otto Wagner – wohl im Hinblick auf seine eigene Urteilsfähigkeit auf der Basis seines Kunstgeschichtsstudiums bei Rudolph von Eitelberger – die nötige Kompetenz in der Architekturtheorie mangels eines entsprechenden Fachwissens ab.

Camillo Sittes Schriften zu Fragen der Denkmalpflege Im Laufe seiner schriftstellerischen Tätigkeit äußert sich Camillo Sitte mehrmals zu Themen der Denkmalpflege. Seine erste diesbezügliche Arbeit ist ein Auszug eines Vortrages über die Baugeschichte und die Restaurierung der Wolfgangskirche in Kirchberg am Wechsel in Niederösterreich im AlterthumsVerein in Wien am 2. November 1885.95 Die Denkmalpflege hatte sich schon in der Frühzeit des Wirkens der K.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale mit diesem bedeutenden gotischen Sakralbau beschäftigt. Die 1796 exsekrierte und zur Ruine gewordene Kirche war 1860– 1862 instand gesetzt und wieder eingeweiht worden.96 Für Sitte ist die an diesem Objekt veranschaulichte Verbindung von angewandter kunsthistorischer Bauforschung und architektonischer Restaurierung ein Modellfall für jene evolutionäre Befruchtung der zeitgenössischen Kirchenbaukunst, die aus dem Studium mittelalterlicher Baudenkmäler gewonnen werden könne und auf die Sitte zwei Jahre später in seiner umfangreichen Arbeit über die „neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn“ Bezug nimmt.97 1892 berichtet Camillo Sitte ausführlich über kunsthistorische Forschungsergebnisse und die Restaurierungsproblematik des Gurker Domes.98 Seine Untersuchung erscheint im offiziellen Organ der K.  k. Central-Commission 94 „Semper hatte, wie auch Darwin, nicht den Mut, seine Theorien nach oben und nach unten zu vollenden und hat sich mit einer bloßen Symbolik der Konstruktion beholfen, statt die Konstruktion selbst als die Urzelle der Baukunst zu bezeichnen.“ Wagner, Otto: Moderne Architektur. Seinen Schülern ein Führer auf diesem Kunstgebiet. Wien: Schroll 1902 (3. Aufl., 1. Aufl. 1896, 2. Aufl. 1898), S. 99f. 95 Sitte, Camillo: „Auszug aus dem Vortrage über die Baugeschichte und Restauration der gothischen St. Wolfgang-Kirche bei Kirchberg am Wechsel (1886)“, S. 225–228 in diesem Bd. 96 Röllig, W.: „Die gothische Kirche des heil. Wolfgang zu Kirchberg am Wechsel“, in: Mit­ theilungen der K.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, Jg. 7 (1862), Nr. 6, S. 159–163. 97 Sitte „Kirchliche Architektur (1887)“ (s. Anm. 21). 98 Sitte, Camillo: „Über die Erhaltung des Gurker Domes und dessen Malereien (1892)“, S. 380–398 in diesem Bd.

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zur Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmäler und folgt in der Argumentation den aktuellsten methodischen Richtlinien der zeitgenössischen Denkmalpflege, ähnlich den Theorien Georg Dehios in Deutschland. Demnach sollten sich die Eingriffe stets auf das „Erhalten des Vorhandenen“ beschränken, „jede Art eigener Zuthaten“ sollten „ausgeschlossen sein“. Damit stellt sich Sitte ausdrücklich gegen die ältere Auffassung der Denkmalpflege, die das Ziel einer Restaurierung in der Stilbereinigung und Ergänzung aus der Sicht des Historismus sah. Sitte betont den Dokumentationswert auch von anscheinend unbedeutenden Substanzresten: „selbst ein Mörtelstück kann in seiner Zusammensetzung, Schichtung und mehrmaligen Tünchung Aufschluß geben über Zahl und Zeit verschiedener früherer Restaurationen.“ Er vertritt dabei die gleiche fortschrittliche Auffassung, die für die technologische Befunderstellung der Denkmalpflege bis heute Gültigkeit behalten hat. Auf fortschrittlichstem Forschungsstand beruhen auch Sittes Anregungen, zur Restaurierung des mittelalterlichen Quadermauerwerks die historischen Steinbrüche als Materialquellen und Studienobjekte heranzuziehen oder vorhandene Bauinschriften für epigraphische Analysen möglichst detailgetreu aufzunehmen. Zukunftsweisend ist Sittes Eintreten für das Abnehmen und museale Konservieren gefährdeter Wandmalereien, die er als unschätzbare künstlerische und historische Denkmäler bewertet. Vor allem erkennt Sitte die wertvollen Möglichkeiten, aus einem solcherart konservierten reichhaltigen Bestand von Wandmalereien künftighin vergleichende Schlussfolgerungen aus Studien zur „Entwicklung des perspectivischen Zeichnens bis zur figuralen DetailVerkürzung […] oder über den Stand der Kunst-Anatomie in verschiedenen Zeiten“ gewinnen zu können. So entwirft er bereits Pläne zur „Gründung eines Fresco-Museums und einer Restaurir-Schule“. Im darauf folgenden Jahr zeigt sich in dem Artikel „Das Waldviertel einst und jetzt“99 in Sittes Einstellung ein bemerkenswerter Stimmungsumschwung. In seiner Beschreibung der Burgruine Hartenstein bei Krems schwelgt Sitte von der „Romantik des Reisens“ in früheren Zeiten und stellt sich wie in einer virtuellen Rekonstruktion die Burg aus der Sicht seiner Begeisterung für das Mittelalter zur Zeit der Nibelungen vor: Den Torbau und Vorhof bringt er in Zusammenhang mit dem legendären „Ritter Iwein“, Palas, Rittersaal und Freitreppe vergleicht er mit Gunthers Burg, auf welcher Siegfried zu Gast war, im Festsaaltrakt glaubt er, die „Etzelburg“ zu erkennen. Im höchsten Grad neo99 Sitte, Camillo: „Das Waldviertel einst und jetzt (1893)“, S. 417–421 in diesem Bd. Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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romantisch ist Sittes Wortwahl bei der „Beschreibung der geradezu erhaben furchtbaren Waffenthaten“, die er sich an diesem Ort vorstellt. Hinsichtlich der Möglichkeiten eines Wiederaufbaues der Ruine Hartenstein ist Sitte in diesem Bericht aber eher skeptisch, denn „die Neuherstellung solcher bereits in Trümmer verfallener Bauwerke ist doch blos am Papier vernünftig“, ihre Umsetzung sei hauptsächlich eine „angenehme Phantasiebeschäftigung des bauleitenden Architekten“ und bringe „weder der Kunstgeschichte, noch der in die Zukunft strebenden lebendigen Kunst“ etwas Wesentliches. In auffallendem Gegensatz hierzu steht Sittes ausführlicher Aufsatz von 1898 „Aus der Burg Kreuzenstein“.100 In einer Aufwallung romantischer Begeisterung beschreibt er das eindrucksvolle Werk der phantastischen Rekonstruktion von Burg Kreuzenstein in Niederösterreich. Die Burg aus dem 12.  Jahrhundert war 1702 bereits als Ruine in den Besitz der Familie Wilczek gekommen und wurde ab 1874 von Johann Nepomuk Graf von Wilczek (1837–1922) nach Plänen der Architekten Carl Gangolf Kayser (1837–1895) und Humbert Walcher Ritter von Molthein (1865–1926)101 als neoromantische „Musterburg“ wiederaufgebaut, wobei mittelalterliches Mauerwerk sowohl von der Ruine als auch reichlichst in Form übertragener Spolien verwendet wurde. Gerade der von der fortschrittlichen Theorie der Denkmalpflege abgelehnte Gesichtspunkt der historischen Rekonstruktion unter Einbeziehung von Originalsubstanz erscheint in Kreuzenstein neu aufgegriffen und in unvergleichlicher Konsequenz angewandt. An die Stelle der von Sitte zuvor vertretenen Linie denkmalpflegerischer Zurückhaltung, die sich auf die bloße Substanzsicherung und Konservierung historischen Bestandes beschränkt, tritt hier ein unbekümmert-phantasievoller Umgang mit Kunstwerken in einer schöpferisch-gestalterischen Abundanz, wie sie in Österreich seit dem Bau der Franzensburg in Laxenburg nicht mehr vorgekommen war. Die Einrichtung und Ausstattung der Burg wurde aus den umfangreichen Kunstsammlungen und dem Antiquitätenbesitz des Bauherrn zusammengestellt. Voll Bewunderung bemerkt Sitte: „Die grosse Menge von kunstgeschichtlich höchst wertvollen Figuren, Bildern, Glasmalereien, Arbeiten in verschiedensten Materialien und Techniken […] ist nicht blos mit feinstem Kunstsinn zusammengetragen, sondern auch in künstlerischer Schaffensfreude zusammengebaut.“ Sitte fühlt sich angesichts des „Gesammteindrucks“ an die alte höfische Dichtung, an „Parsival“ erinnert. In den „Grund100 Sitte, Camillo: „Aus der Burg Kreuzenstein (1898)“, S. 476–510 in diesem Bd. 101 Camillo Sitte schreibt „Moltheim“.

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zügen der Conception“ wie auch in den Details erscheint Sitte an diesem Werk „mit unendlich feinem Kunstgefühle die grosse Regel alles künstlerischen Schaffens, nämlich: strengste Einheit bei möglichster Mannigfaltigkeit, in […] mustergültiger Weise verkörpert.“ Sitte rühmt die kunsthandwerkliche Qualität zahlreicher Einzelheiten, in der Sakristei der Burgkapelle etwa die „prächtige Thürglocke […], die man entschieden für eine Antiquität halten würde, wenn ihre Herstellung durch den Burgschmied […] nach Entwurf […] von Graf Wilczek nicht bekannt wäre“. Er nimmt also keinerlei Anstoß an der willkürlichen Mischung von antiken Kunstgegenständen und Kopien im Hinblick auf die Erzielung eines malerischen Ensembles. Sitte geht in seinem Bericht auch auf die persönlichen Bedingungen ein, unter denen die hier eingesetzten Kunsthandwerker ihre Restaurierungsund Rekonstruktionsarbeiten durchführten. Graf Wilczek schuf ein Klima schöpferischer Zusammenarbeit, welches als beispielhaft galt. Was Camillo Sitte ganz besonders beeindruckt, ist die hier geübte Wiederentdeckung und getreue Anwendung historischer Handwerkstechniken im Geiste nacherlebter Geschichte. Der in Kreuzenstein herrschende „poetisch schöne Zug geistigen Zusammenwirkens und rein menschlichen Fühlens […] bildet […] ein Bindemittel, welches alle an ihrer Arbeit theilnehmen, allen ihre Arbeit […] als die Freude des Tages empfinden lässt.“ Von weither seien die Kunsthandwerker gekommen, um bei Graf Wilczek zu arbeiten, und „wie die Eisenspäne am Magnet, so haften die hier Beschäftigten an ihrer Aufgabe, an ihrem Auftraggeber.“ Das Zustandekommen dieser einzigartigen Kunstschöpfung war eindeutig bestimmt von der Persönlichkeit des Bauherrn Graf Wilczek, der nicht nur als Kunstsammler, Reisender, Forscher und Organisator, sondern auch als Mäzen und Philanthrop von unglaublicher Tatkraft war. Was von ihm zunächst nur als würdiger Rahmen für die Errichtung einer Familiengruft geplant war, wurde in einem Prozess fortwährender phantasievoller Erweiterung und Erneuerung schließlich zu einem unvergleichlichen Museum von einer Faszination, der sich auch Camillo Sitte nicht entziehen konnte. Es ist bezeichnend, dass Sitte an die Spitze seines Berichtes jenen Ausdruck höchster Bewunderung stellt, den Erzherzog Franz Ferdinand anlässlich eines Besuches der Burg Kreuzenstein über das hier geschaffene Werk ausgesprochen hat. Franz Ferdinand und Graf Wilczek waren sich im Übrigen nicht nur in der Begeisterung für das Sammeln von Kunstwerken einig, sondern auch in der Ablehnung der von Otto Wagner vertretenen neuen Architektur.

Camillo Sittes Schriften zur Architektur

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Bernhard.:

Kreativität.

Bruchstücke

einer

Soziologie

des

Subjekts.

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Verwendete Literatur

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Die Kahlenberg-Pläne (1872) Neues Wiener Tagblatt, 21. August 1872. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 213–444.

Also auch ihn haben sie erwischt, die bösen Männer, welche Banken gründen, unseren alten bemoosten Kahlenberg! Dieser alte Bursche ahnt wohl gar nicht, daß er im Ausstellungssaale des Ingenieurvereines im Schönbrunner Hause schon auf achterlei Art parzellirt ist, und träumt noch von den wundersamen Dingen, welche er als historische Warte der „blauen“ Donaustadt miterlebte, von den Nibelungenrecken, von Walther und Neidhardt, von den Türkenhorden und wieder von ruhiger Zeit, in der kühne und liebliche Sänger in seinem Grün verweilten, Sänger, deren Namen Beethoven und Mozart! Wie munter erschallte es, wenn unsere Wiener Künstler, welche seither allerdings auch schon gerne ein wenig mitgründen, in seinen ehrwürdigen Buschen ihren herrlichen Altmeister Dürer leben ließen. Sind das gewiß doch gemüthvolle, lebensfreudige Tage gewesen, die unser Alter erlebt hat! Schön ist dies Alles gewesen, nun aber ist es Zeit, daß es ein Ende damit nimmt, und der träumerische Taugenichts soll nun auch einmal was Solides leisten, soll Zins tragen und Renten abwerfen. Diesen zeitgemäßen Richterspruch sprach ihm die Union-Baugesellschaft, und selbige geht auch allsogleich an die Vollziehung des Urtheils.1 Acht Parzellirungsprojekte sind gegenwärtig im Ingenieurverein ausgestellt, von denen drei mit Preisen ausgezeichnet worden sind. Der erste fiel C . B a u e r zu, Obergärtner des botanischen Gartens in Lemberg. B a u e r ’s Plan ordnet eine ziemlich große Anzahl Landhäuser mit kleinen einschließenden Gärten, ringförmig an dem äußersten Rand der Parzelle herumlaufend, wodurch ein möglichst großer Raum im Innern für eine Parkanlage wird. Das jetzige Wirthshaus, das bereits in Umwandlung in ein Hotel begriffen ist, schließt wie der Stein oder die Siegelplatte diesen Ring. Den zweiten Preis erlangte I . D a u s c h e r, Ingenieur der HochquellenWasserleitung in Mauer. Sein Entwurf unterscheidet sich von dem vorigen vorzüglich durch eine geringere Anzahl Villen, welche dafür aber besser 1

[1871 erwarb die im gleichen Jahr gegründete Union-Baugesellschaft den größten Teil des Kahlenbergs. In der Folge ließ sie anstelle des bestehenden Ausflugslokals ein großes Hotel mit Restaurant sowie die 1874 eröffnete, von Nußdorf ausgehende Zahnradbahn errichten. Die Union-Baugesellschaft, die über eigene Ziegeleien und Steinbrüche verfügte, war vor der Jahrhundertwende in Wien u.a. an der Errichtung der Großbauten der Ringstraße und am Bau der Stadtbahn maßgeblich beteiligt.] Die Kahlenberg-Pläne (1872)

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­situirt sind, und durch einen kleinen Wiesenplan im Park nach dem Muster barocker Parkanlagen. Die letztere Anordnung ist an sich sehr schön, aber auf dem Kahlenberg sicher ohne bedeutenden Effekt. Die Wirkung einer solchen Einrichtung beruht nämlich ausschließlich auf starken Perspektiveffekten, und diese mögen auf dem Kahlenberg noch so gut ausgedacht sein, so werden sie die Konkurrenz mit den natürlichen Fernsichten bis Oberösterreich, nach Mähren und bis an’s Leithagebirge und anderen, die sich an den verschiedensten Punkten ganz von selbst darbieten, nicht aushalten können. Den dritten Preis bekam C . G o u d o u i n , Ingenieur im Augarten. Diese drei Projekte sind in der That die entsprechendsten, obwohl die übrigen nur wenig zurückstehen. Eines derselben verdient jedoch Erwähnung, weil es sich dem kommerziellen Grundgedanken in ungebundenster, fröhlichster Laune in die Arme wirft. „H ö h e r P e t e r ! “ heißt das Motto des unbekannten Autors.2 Der ganze Berg ist bienenstockartig in eine Unzahl ganz kleiner Bauparzellen abgetheilt, welche alle unmittelbar an einander stoßen. Gegen zweihundert Bauten der verschiedensten Art sind darauf angegeben: z.B. Pompejanisches Haus, Alhambra, Arena, Hippodrom, Velocipede-Gymnase, deutsche Ritterburg, Museum, Bärenzwinger, hängende Gärten der Semiramis, Eremitage, P r i v a t - E n t b i n d u n g s a n s t a l t u . s . w . Nun, der „Höher Peter“ ist zwar bereits durch ein neueres Sensationslied verdrängt, aber dieser Entwurf ist in der That schon das „Höhere“. Schade, daß er nicht ausgeführt wird, die Verblüffung unseres guten alten, an die Praktik des modernen Lebens noch gar nicht gewöhnten Berges hätte dadurch auch den „höheren“ Grad erreichen können. Kolossale Einfälle imponiren eben Jedermann, selbst einem Berg, und ist es nicht etwa eine kolossale Idee, eine Privat-Entbindungsanstalt auf den Kahlenberg zu postiren? Da kommen eben auch die Kindlein der elendesten Demokraten bereits „h o c h wohlgeboren“ zur Welt und in den freundschaftlichen Inseraten unserer Wehmütter würde es nicht mehr heißen: Drei Treppen hoch – es hieße dann: „Kahlenberg links, neben den hängenden Gärten der Semiramis, zu jeder Tageszeit; im Dutzend billiger.“ So gibt es denn auch humorvolle Leute – war es der Ärger, daß man auch den alten, lieben, grünumbuschten Berg „verschandeln“ will, war es der wild aufbrechende Hohn ob dem fortwährend weiterfressenden Krebsübel der

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[Das Motto des Entwurfs „Höher Peter“ spielt auf das vom Wiener Hofopernkapellmeister Josef Strebinger (1819–1885) komponierte und von Carl Reder vertextete Wiener Lied „´s liebt der Peter die Emilie (Höher Peter)“ an.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Vielbauerei zu Geldzwecken – einerlei, der Entwurf ist ein jokoser Einfall, und wer weiß, ob der alte Kahlenberg, wenn er die Ausführung erleben würde, sich nicht vor Lachen so schütteln würde, daß der ganze architektonische „Palawatsch“ zusammenstürzte. Der Plan selbst ist aber mit vieler Sorgfalt und Liebe gezeichnet, und gute drei Wochen Arbeit hat er dem Autor gekostet. Der Mann hat Zeit zum Humor. Wie beneidenswerth!

Die Kahlenberg-Pläne (1872)

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Gottfried Semper (1873) Neues Wiener Tagblatt, 29. November 1873, Abendausgabe. Sign. SN: 156–423.

Wenigen Männern ist es gegönnt, gleich Semper bei ihrem siebenzigsten Geburtstage auf ein so thatenreiches Leben zurückblicken zu können und dabei noch immer mitten im regsten Schaffen begriffen, an der Spitze ihrer Zeit zu stehen. Das herrliche Werk seiner jüngeren Jahre, das Dresdener Theater, baut er selbst von Neuem in neuer Gestalt auf, indem er die Leitung seinem Sohne überlassen. Zugleich wird in Darmstadt ein neues großes Theater nach seinen Plänen errichtet. Er selbst aber legt da Hand an, wo seine eigenste Thätigkeit es scheint bewirken zu können, der Nachwelt die größten und schönsten Werke zu hinterlassen. Mit Stolz können wir es aussprechen, daß es unser Wien ist, dem sich nunmehr der Meister zugewendet hat, um hier das bedeutendste der zahlreichen architektonischen Werke, den Bau der Burg mit den Museen und des Burgtheaters mit eigener Hand zu leiten. Wie der Edelstein an einem Ring, so ist diese große Baugruppe das Hervorragendste durch Gruppirung und Ausdehnung in der Reihe unserer monumentalen Neubauten. Und gerade Semper ist es, dem eine solche Aufgabe eben wegen ihrer Größe den freudigsten Schaffensdrang eingibt. Was von seinen Intentionen bisher in die Öffentlichkeit gedrungen, ist von solcher Größe und Schönheit, daß es auch ungetheilte Bewunderung und Theilnahme, ja Neugierde hervorbrachte, noch mehr von den Gedanken zu erfahren, mit denen sich der Meister trägt, um mit so viel Kunst unsere Stadt zu schmücken. Doch Geduld! Wien wird diese Werke besitzen, aber schon jetzt kann es uns Allen zur Freude gereichen, Semper in unserer Mitte zu wissen und seiner sicheren Hand so große Aufgaben anvertraut zu haben. Auch in seinem eigenen Leben und reichen Schaffen nehmen diese Projekte, welche hier zur Ausführung gelangen sollen, eine hervorragende Stelle ein, noch ist es aber nicht das Bedeutendste, das Semper zu leisten vermochte. Unvergänglicher und größer als alle Werke, die er als Architekt, als Künstler hervorgebracht, werden stets diejenigen ewigen Errungenschaften bleiben, die er unserer und allen folgenden Zeiten als Theoretiker gesichert hat. Die Theorie ist zwar gerade gegenwärtig im Allgemeinen nicht sehr im Ansehen und doch ist es die Theorie, welche bewußt oder unbewußt in irgend einer Weise allem Schaffen zu Grunde liegt. Was für den Steinmetz oder Baumeister der Plan der Architekten ist, der ihm vorschreibt, was er

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

ausarbeiten soll, das ist wieder für den Architekten die Theorie seiner Kunst, die ihm vorschreibt, wie er die Pläne fertigen soll. Allerdings sind zu einer solchen wichtigen Theorie nicht Handbücher moderner Ästhetik geeignet, sondern eine solche Theorie muß unmittelbarer Ausfluß unumstößlicher Naturgesetze sein. Eine solche ist es aber, an deren Ausbau Semper den allerhervorragendsten Antheil genommen hat. Seine Vorschriften sind auch alsbald als wiedergefundene Naturgesetze erkannt worden und es gereicht diese Anerkennung ihrer Giltigkeit allen Gebieten künstlerischer und kunsttechnischer Thätigkeit zum größten eigenen Vortheil. Gegenwärtig kann man kein Gebäude sehen, kein Industrieprodukt, an dem sich künstlerisches Streben kundgibt, ohne daß man leicht wahrnehmen könnte, wie der Verfertiger in der That auf demjenigen Wege sich befindet, den Semper in seinem, im wahrsten und vollsten Sinne des Werkes epomachenden Buch über den Styl, ihm als den allein naturgemäßen und daher allein richtigen vorgezeichnet hat. Begegnet man aber dennoch an öffentlichen Werken irgend einen Verstoß gegen Semper’s Theorie, so kann man sicher sein, daß die öffentliche Rüge in allen möglichen Kritiken nicht ausbleibt. Die Kunstkritik hat eben die von Semper aufgestellten Grundsätze als ewig giltige Naturgesetze erkannt und bewahrt sie als solche neben wenigen anderen als dasjenige, welches ihrem eigenen Schalten und Walten zur Richtschnur dient. Das große Kunstgesetz, welches Semper aufgefunden, lautet: Der Künstler darf nicht Formen bilden, welche dem Material und der Technik, in welcher er arbeitet, widersprechen. So einfach sich das anhört, so ist es doch gleichfalls ein Ei des Kolumbus. Es könnte leicht nach dieser Regel eine Kunst v o r und n a c h Semper unterschieden werden, denn so alltäglich es gegenwärtig ist, bei öffentlichen und privaten Besprechungen über Kunstgegenstände, in gedruckten Kritiken oder auf Kunstschulen gehaltenen Vorlesungen immer und immer hervorgehoben zu finden, daß es ganz widersinnig und unschön sei, in warmer, weicher Wolle bei einem Teppich kalte, harte Steintäfelung nachzuahmen, oder in sprödem Glas geschnitztes Holzwerk, oder in Eisen und Stahl weiches Lederzeug nachzuäffen; so allgemein es gegenwärtig schon ist, derlei Kunststücklein in ihrer ganzen barbarischen Geschmacklosigkeit zu empfinden, so ist dies doch einzig ein Gedanke Semper’s, der sich gegenwärtig allgemeine Anerkennung errungen, vor Semper jedoch eine unbekannte Sache gewesen. Es verhält sich hiemit gerade so, wie mit dem einfachen Grundgedanken Lessing’s, den er in seinem Laocoon ausführte. Die Poesie stellt Handlungen Gottfried Semper (1873)

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dar, die Malerei Körper. Wie einfach und doch welche Fülle von Anwendungen in der Praxis! Derlei Sätze sind denn in der That Bereicherungen des Wissens und Könnens in seiner umfassenden Allgemeinheit. Keine Schulansichten und Modeartikel, sondern, einmal erkannt, von unvergänglicher Wirkung, gerade so wie Gesetze der Mathematik oder Mechanik. Aus solchen Regeln besteht denn die wahre Theorie der Kunst, die wahre Ästhetik und diese Theorie ist eben nicht grau, wie unser vielverehrter Dichter meinte, der aber eben auch keinen Laocoon geschrieben hatte. Es ist aber gegenwärtig noch Gebrauch, alles künstlerische Schaffen als Werk des alleinseligmachenden Genies zu betrachten und die Theorie geringzuschätzen. Zu allen Zeiten, in welchen aber die Kunst blühte, gab es auch eine große gewissenhaft aufgebaute Theorie und die größten Künstler aller Zeiten waren immer auch die größten Theoretiker. Zu diesen größten Künstlern gehört denn auch Gottfried Semper. Er wirkte in Theorie und ­Praxis immer auf architektonischem Gebiete, was er aber hier im Ganzen und im Detail alles Neues und Großes geleistet, könnte nimmermehr in dem engen Rahmen einer kurzen Besprechung auch nur in Umrissen ausgeführt werden. Als Künstler gehört Gottfried Semper ganz unserer Zeit. Auch er zählt zu den Männern, welche sich aufmachten, die verlorengegangene große Kunst wiederzufinden. Semper suchte sie im alten Rom. Dies ist sein Glaubensbekenntniß. Auch dort, wo er die Formen der Renaissance benützt, geschieht es von diesem seinem Standpunkte aus. Der bildende Künstler des neunzehnten Jahrhunderts scheint ein Mehreres nicht zu vermögen, wenigstens hat noch keiner mehr gethan, als eine alte Kunstwelt wiedererweckt. Neben dieser Thätigkeit, durch welche nun schon fast die ganze Kunstgeschichte reproduzirend durchgegangen wurde, geht aber eine andere, welche das innere Wesen aller alten und neuen Kunst zu erkennen strebt. Diese ist es, welche allmälig die Kraft uns gibt, das unserem Sinn entsprechende neue Kunstwerk zu schaffen; und das ist jene theoretische Geistesthätigkeit, welche in Semper einen ihrer größten Vertreter gefunden hat, der aber als ebenbürtiger Nachfolger selbst Lessing’s vor unseren Augen steht. Noch ist dieses sein Werk mit so vielen anderen nicht vollendet, aber rüstig und froh arbeitet der Künstler weiter, und alle Zeitgenossen freuen sich, der Vollendung entgegenzusehen.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Die komische Oper (1874) Neues Wiener Tagblatt, 13. Januar 1874. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 147–129/2.

Die arme komische Oper!1 Der Fasching ist da, mit Mummenschanz und Kurzweil aller Art, die ganze Welt soll nach altem Brauch lustig sein – da erschließt denn die „Komische Oper“ gleichfalls ihre Räume, die frohen Gäste zu empfangen. Es ist aber, als ob der Ball schon zu Ende wäre, und die komische Oper selbst, ein neuer Ankömmling unter den lustigen Bauten des Ringes, gleicht einer heiter aufgestutzten Maske, welche sich total verspätet und am Narrenabend erst erscheint, nachdem schon Alles vorüber, der Saal geleert, die Lichter verlöscht und nur mehr im Morgennebel ein und das andere Katzenjämmerchen nach Hause getragen wird. Arme komische Oper! So schön geziert mit bunten Schleifen, Guirlanden, Goldschmuck, Blumen und Masken! Aber zu spät. Für dich ist aller Champagner schon verkracht und da du nüchtern heimkehrst, so will ich dich nüchtern begleiten und wenigstens zu Hause deine reizende, prunkende Garderobe bewundern. Offiziell heißt es, der Zuschnitt zu diesem architektonischen Kostume sei im Style der italienischen Renaissance. Ein tiefkundiger Freund sagte mir aber lächelnd, der neue Musentempel sei im Style der Schweizer Berge gehalten. In den Schweizer Bergen sieht man nämlich auf jedem Vorsprunge einen Engländer und hier auf jedem Vorsprunge eine Statue. In diesem Sinne wird es wohl zu nehmen sein, wenn gesagt wird, das Gebäude sei im Style der italienischen Renaissance. Das will nämlich weiter nichts sagen, als daß Architekt, Maler und Bildhauer mit ihren Skizzenbüchern häufig in italienischen Palazzis auf 1

[Die kaiserliche Genehmigung zum Bau der „Komischen Oper für theatralische Vorstellungen jeder Art und des Ballets“ in Wien I., Schottenring 7, wurde am 3. Oktober 1872 erteilt. Der Bau nach Plänen des Architekten Emil Ritter v. Förster wurde 1873 begonnen und fertig gestellt. Die Eröffnung fand am 17. Januar 1874 mit einer Aufführung von Rossinis „Barbier von Sevilla“ statt. Die von Camillo Sitte angesprochenen Fassadenfiguren schuf Edmund Hellmer, die Deckenmalereien im Zuschauerraum stammten von Ignaz Schönbrunner. 1878 erhielt die „Komische Oper“ die neue Namensbezeichnung „Ringtheater“. Am 8. Dezember 1881 wurde das Ringtheater während einer Abendvorstellung von „Hoffmanns Erzählungen“ von einer Brandkatastrophe erfasst, bei welcher mindestens 386 Menschen den Tod fanden. Die Brandruine wurde abgetragen, an ihrer Stelle entstand als kaiserliche Stiftung das „Sühnhaus“ nach Plänen von Architekt Friedrich v. Schmidt, welches 1945 durch Bomben beschädigt und 1951 abgetragen wurde. 1969–1974 entstand auf dem Grundstück der Neubau der Wiener Polizeidirektion.] Die komische Oper (1874)

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Plünderung ausgestiegen waren. Dem ist nicht einmal so, sondern die Herren haben schier noch fleißiger in Frankreich, vornehmlich in Paris gewegelagert oder „studiert“, weil sich das annehmlicher ausnimmt. Zufälligerweise ist ein Unterschied zwischen Studium und Studium. Der Eine studirt aus allen Dingen ihr inneres Wesen heraus und formt dann seine eigenen Werke gleichfalls von innen heraus; der Andere studirt die äußere Form und stoppelt sein Werk aus einzelnen, hie und da aufgelesenen Details zusammen. Der Erstere allein ist zu allen Zeiten der richtige Künstler und dieser arbeitet streng genommen nie in einem anderen Styl als dem seinigen. Der Andere ist der Kompilator und dieser arbeitet streng genommen in keinerlei Styl, weder in italienischer, noch in französischer oder deutscher Renaissance; denn Styl bedeutet den inneren, organischen, naturnothwendigen Zusammenhang eines Werkes in allen seinen Theilen und dieser fehlt eben dem Werke des Kompilators. So ist beispielsweise eine Symphonie Beethoven’s eben in keinem andern als im Style Beethovens, wenn man schon durchaus will, geschrieben, dagegen eine Meyerbeer’sche Oper aus allen Weltgegenden zusammengeplün… Pardon, studirt. Eine solche Meyerbeer’sche Oper ist denn auch auf architektonischem Gebiete das neueste Theatergebäude Wiens, die komische Oper. Im Innern allerdings feiner, vornehmer und auch interessanter, als eine solche; das Äußere aber mit seinem unzusammenhängenden, aufgeblasenen Bombast gleicht bis zum letzten I-pünktchen der Ouverture zu einer Meyerbeer’schen Oper. Ein Haufen von Thüren, Säulen, Fenstern, Gesimsen, Figuren, Obelisken, Alles um einen großen Bogen herum aufgeschichtet, das ist die Façade der neuen komischen Oper. Hie und da stehen zerstreut etliche derbe Quadern hervor. Wäre noch zum Drittheil oder zur Hälfte Epheu dazwischen gerankt, so wäre eine baroke Gartenruine, wie sie in Schönbrunn stehen, leidlich fertig, nur lange nicht so imposant und ruhig. Ruhe, dieses Merkzeichen jedes echten Kunstwerkes, das ist es, welche dieser Façade mangelt. Sie mangelt hier in noch auffälligerer Weise, als dies zwar in der Regel bei modernen Bauten der Fall ist, bei deren längerem Anblick das Auge so disharmonisch bewegt wird, wie von einer flimmernden Lichtstrahlung, wovon selbst jene allerlangweiligsten Kompositionen in der sogenannten griechischen Renaissance nicht frei sind, welche doch in dieser Langweiligkeit der ewig gleichen Säulenstellung eine hinlängliche Gewähr architektonischer Ruhe haben sollten. Dennoch sind sie unstät und konfus im Vergleich sogar des krummlinigsten baroken Bauwerkes. Es fehlt eben Etwas, das alle Linien zu einem einzigen harmonischen Akkord vereinigt. Diese Ingredienz, dieses Geheimmittel,

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

auf welches leider kein Privilegium zu nehmen, scheint im Laufe der Zeit in Verlust gerathen zu sein und nun mühen sich unsere Architekten meistens vergebens ab, sie wieder zu finden. Wenn man die Bauten unserer Ringstraße durchmustert, so findet man Vieles, was man in Rom, in Venedig oder sonst wo an einem alten Bauwerk schon gesehen hat. Aber merkwürdig. Am alten Bauwerk ist es schön, daß man sich nicht satt sehen kann, und hier wirkungslos oder unruhig verzerrt. Es ist als ob man gute Musik auf einem gänzlich verstimmten Klavier spielte. Eine Kleinigkeit wenn man will. Diese Kleinigkeit verdirbt aber eben Alles. Die schönste Komposition ist dann nicht zum Anhören. Man hat schon oft gesagt [gestrichen: und Hegel gab den Anstoß], Architektur sei versteinerte Musik. Wenn dem so ist, so sind unsere Architekten Musiker, welche oft ganz gute Kompositionen liefern, dieselben aber auf verstimmten Instrumenten vorspielen und nun ist das Ganze nicht zum Anhören, oder eigentlich diesfalls nicht zum Ansehen. Es flimmert unruhig und das Auge ist beleidigt, gerade so peinlich wie das Ohr von falscher Musik. Daß unsere Architekten in der That oft gut komponiren, aber falsch und verstimmt ausführen, zeigt der Umstand, daß die Entwürfe in der Zeichenmappe einen ganz anderen und viel harmonischeren Eindruck machen, als die ausgeführten Werke, über deren sonderbar umgewandelten Eindruck sich mancher Baukünstler wohl selbst im Stillen mit Schrecken verwundert. Ein anderer Umstand bestätigt dies gleichfalls. So lange ein Bauwerk noch erst halb fertig und theilweise durch die Gerüste verdeckt ist, verspricht es oft ungemein schön zu werden, je mehr es aber der Vollendung entgegengeht, desto trockener und trotzdem unharmonischer wird es. Dies war denn im hohen Grade bei der komischen Oper der Fall. So lange die Façade von Gerüsten verdeckt und nur theilweise sichtbar war, guckten allenthalben kräftige Details hervor, die den Beschauer glauben machten, daß hier endlich einmal etwas urwüchsig Originales und trotzdem Harmonisches im Entstehen begriffen sei. Aber nein. Die Gerüste sind weg und nun sind wir wieder in Allem und Jedem die Betrogenen. Statt Urwüchsigkeit und Originalität haben wir schon wieder zum so und so viel tausendsten Male die nimmerenteilenden Zwickelfiguren rechts und links am Bogen sitzen, und zwar in so brutaler Größe, als ob sie uns arme Spaziergänger verhöhnen wollten, daß sie schon wieder da sind, und zwar wo möglich noch größer, als sie sich auf den Portalen der Weltausstellung breit machten. Nun, ich beneide sie doch nicht um ihren Sitzplatz auf dem runden, abschüssigen Bogen, ich neide sie nicht um die Mühe, welche sie sich geben müssen, nicht herabzurutschen und nicht um die Anstrengung, mit der sie ihr Die komische Oper (1874)

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dreieckiges Feld mit Kopf und Armen so gut es gehen will ausfüllen müssen, nur möchte ich unsere Architekten gebeten haben, uns Sterbliche mit diesen Folterkammer-Figuren endlich zu verschonen! Ich möchte sie freilich auch bei der Gelegenheit allerinnerlichst bitten, uns mit vielem Anderen gleichfalls zu verschonen, aber gerade diese Formen, welche schon jeder Hausmeister auswendig kann, sind es, welche uns immer wieder von Neuem aufgetischt werden. Von solchen noch nicht dagewesenen Formen ist nun die Façade der komischen Oper eine Musterkarte und zwar eine sehr buntscheckige ohne viel Ordnung wie es der Zufall gewollt hat. Komisch sieht sich das Ding genug an. Allein dies zu charakterisiren dürfte doch nicht Absicht der Architekten gewesen sein, denn sonst könnte man die ganze Ringstraße für eine einzige ununterbrochene komische Oper ansehen. Doch die Façade ist, wie gesagt, der weitaus schwächste Theil des Ganzen. Vestibule und Foyer sind ohne Raumverschwendung mit geschickter Umgehung der Schwierigkeiten des unregelmäßigen Bauplatzes angelegt. Ebenso Stiegen und alle anderen Lokalitäten zu den verschiedensten Zwecken. Man betritt das Innere und – ist überrascht. Überrascht von der merkwürdigen, unvermutheten und wunderbar harmonischen Farbenwirkung. Der Grundton der Architektur ist wie in der Oper und dem Stadttheater Gold und Weiß. Dazu aber in schönster Übereinstimmung die Innenwände der Logen ebenfalls goldgelb und alle Vorhänge, die sammtenen Sitzpölster, der Vorhang am Proszeniumsbogen dunkel goldbraun. Die Wirkung dieser einheitlichen Farbenstimmung ist eine ungemein angenehme und diese Anordnung um so anerkennenswerther, als gerade dadurch die Toiletten der Damen in den Logen und vor Allem die Kostüme und Dekorationen auf der Bühne selbst wesentlich gewinnen werden und auch eine gewisse Kühnheit in dieser Farbenwahl liegt, indem sie gegen das herkömmliche, fast privilegirte, schreiende Roth sich auflehnt. Eine glückliche Wahl ist ferner getroffen worden, indem die Decke dekorativ leicht bemalt wurde, nach dem Muster derjenigen freien Weise, wie sie in der Schule Rafael’s besonders von Giulio Romano mit Vorliebe gepflegt wurde. Störend wirken jedoch schon die zu dunkel gehaltenen Felder an den Bogen der letzten Gallerie. Freilich ist diese Art der Farbengebung denselben Mustern entlehnt, nach denen die Decke um den großen Luster herum abgeschrieben ist, aber die Kontraste sind an den alten Decken doch nicht so grell und zudem die Bogenstellung niemals eine solche, daß man sie lieber wenig statt stark auffallend hervorheben sollte, wie hier, wo sie an sich nicht sehr schön ist, wegen der nothwenig zu dünnen Pfeilermasse und der

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

häufigen nicht allzu regelmäßigen Wiederholung. Es wäre hier wünschenswerth gewesen, daß man sich statt an die gleichfalls nicht sehr gelungene Bemalung dieser Felder im Treppenhaus des Künstlerhauses und im österreichischen Museum lieber an die mit außerordentlich feinem Gefühl durchgeführte Behandlung dieses heiklen Punktes im großen Opernhause gehalten hätte. Vielleicht wollte aber die kleine Oper überall lieber als gerade hier lernen; und es ist dies auch nicht ganz unrecht. Im Stadttheater fällt es zum Beispiele nicht sehr angenehm auf, denselben Proszeniumsbogen sehen zu müssen wie in der Oper, und es ist anzuerkennen, wenn unsere Theater nicht alle über denselben Leisten geschlagen werden. Am Proszeniumsbogen und den Logen ist manches wenigstens für Wien Neues zu sehen. Je mehr man sich aber von der harmonischen Farbenstimmung abwendet und wieder das Auge mit den reinen Formen beschäftigt, desto mehr geräth man in das Gestrüpp des Unharmonischen. Die schmächtigen Säulchen am Proszenium stehen auf Quadermauerwerk, was überhaupt in einem Innenraume besonders von so zarter Struktur gar nicht paßt und tragen die ihrer ganzen Fläche nach glatt sichtbare schwere, massive Scheidewand. Der Bogen, auf welchem diese aufliegt, ist einige Male scheinbar in seinem elastischen stetigen Verlauf gebrochen, weil er in ganz plumper Weise nur aus reinen Zirkelschlägen zusammengesetzt ist. Dies gilt auch von den geraden und krummen Linien des Grundrisses. Dem unbefangenen Besucher sei damit nicht die Freude verdorben, denn im Ganzen ist doch viel geleistet und lustig sieht es genug aus, gerade von der rechten Größe, um sich mit einer leichten Operette einen angenehmen Abend zu bereiten. Ein monumentales Werk von kunstgeschichtlicher Bedeutung ist es nicht, ein solches zu schaffen ist aber auch nicht die Absicht gewesen, mit welcher der Bau begonnen wurde. Es sollte ein schöner Käfig werden für lustige Singvögel wie Minnie Hauk, und das ist es denn auch, und es bleibt nur der eine Wunsch übrig, daß die heiteren Weisen, welchen dieses Haus geweiht ist, nicht vor leeren Bänken gesungen werden. Zum Ball zu spät gekommen und trotzdem Katzenjammer, das wäre denn doch hart vom Schicksal ausgemessen!2

2

Ein Wort voller Anerkennung verdient der Dekorateur Hr. P u r k h o l z e r , der auch die Vergoldung der obersten Figuren besorgte. Die Zweitheilung der Vergoldung, Fleisch matt, Draperie glänzend, ist hier zum ersten Male nach eigener Erfindung Purkholzer’s mit schönstem Effekte zur Ausführung gelangt. Die komische Oper (1874)

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Die Konkurrenz-Projekte für den Justizpalast (1874) Laut handschriftlichem Vermerk: Neues Wiener Tagblatt, 1875. Genaues Datum unbekannt. Sign. SN: 150–424.

Gerade ein Dutzend Entwürfe ist es, das gegenwärtig im Parlamentsgebäude zur öffentlichen Ansicht vorliegt.1 Ganz im Allgemeinen ist wenig Verschiedenartiges, noch weniger Originelles und gar nichts Fesselndes oder Imponirendes gebracht worden. Sämmtliche Arbeiten bewegen sich mit sorgenloser Gemächlichkeit innerhalb des Rahmens des gegebenen Programms und innerhalb der momentan üblichen Art, derlei Aufgaben zu lösen. Dies gilt sowohl von den Grundrissen als auch von dem dekorativen Theil, wie er sich an den Façaden ausprägt, welche sämmtlich so aussehen, als ob sie schon irgendwo auf der Ringstraße als Zinshauspalais stünden. Es ist gewöhnliches, landläufiges Mittelgut, kurrente Waare, die sich hier in verträglichem Kreis zusammengefunden. Das erste Projekt, links gleich beim Eintritt, ist von M . L ö h r.2 Eine klare einfache Eintheilung mit wenigen geraden langen Gängen läßt es vortheilhaft erscheinen. Der Raum für das Publikum ist geschickt zusammengehalten um einen großen mit Glas gedeckten Zentralraum. Dieser ist übrigens im Programm schon gefordert worden und von allen Konkurrenten an dieselbe Stelle verlegt worden, wie es sich fast mit Nothwendigkeit aus der Form des nahezu quadratischen Bauplatzes, zwischen der Volksgartengasse, der Lastenstraße3 und dem neuen Parlamentsgebäude ergab. Ein Hauptübelstand des Löhrischen Projektes ist, außer einigen finsteren Gängen, die bekannte

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[Der Justizpalast in Wien I., Schmerlingplatz 10, wurde 1875–1881 nach den Plänen von Alexander v. Wielemans erbaut. Alexander August Wielemans Edler v. Monteforte (1843– 1911) absolvierte sein Architekturstudium an der Wiener Akademie der bildenden Künste bei Eduard van der Nüll, August Sicard v. Sicardsburg und Friedrich v. Schmidt. Neben Bauaufgaben in Budapest, Innsbruck und Graz schuf er in Wien die Breitenfelder Pfarrkirche, VIII., Uhlplatz (erbaut 1893–1898), und die Pfarrkirche „Neu-Ottakring“ („Zur Heiligen Familie“), XVI., Familienplatz (erbaut 1894–1898).]

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[Moritz (Ritter v.) Loehr (1810–1874) absolvierte das Architekturstudium am Wiener Polytechnikum und war ab 1838 als Architekt für die Hochbauten des Eisenbahnwesens tätig. Ab 1848 war er für die Hochbauangelegenheiten des gesamten staatlichen Eisenbahnwesens zuständig. 1858–1860 schuf er den Wiener Westbahnhof. 1857 beteiligte er sich mit einem Projekt an der Stadterweiterungs-Ausschreibung der Wiener Ringstraße und legte einen Entwurf für die kaiserlichen Museumsbauten vor.]

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[Heute Museumsstraße.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

langweilige, nüchterne Dekoration und Formenentwicklung, die bei Löhr immer an die reizvolle Bauperiode erinnert, in der z.B. das Polytechnikum4 entstanden ist. In dieser Beziehung ist übrigens dieses neueste Projekt immerhin noch ein Fortschritt gegen die Façaden der Hofmuseenentwürfe von Löhr. Das Projekt von A . W a g n e r ist was Führung der Trakte und Gruppirung der dadurch entstehenden inneren Höfe betrifft, noch einfacher, es hat nebst der glasgedeckten Zentralhalle nur zwei große Höfe. Die dadurch beeinträchtigte Kommunikation ist aber in höchst gezwungener Weise durch offene Brücken oder Viadukte quer über die Höfe hergestellt. Ähnliche, unnöthigerweise sonderbare, gezwungene Motive kommen in den Stiegenanlagen vor. Die architektonische Form läßt sich etwas zu dekorationsmäßig an und ist ein Sammelsurium aus italienischer, französischer und berlinerischer, sogenannter griechischer Renaissance. Die Säle sind fast barock überladen. Das Anziehendste ist der gedeckte Hofraum. Das Projekt von M . H a a s und J . W a h l ist weniger gut in der Eintheilung. Durch eine Menge schmale Trakte, welche oft sogar beiderseits Licht haben, entstanden im Innern sogar sieben Höfe. Die Façade ist, kurz gesagt, ganz entsetzlich und erinnert lebhaft an die Rudolfskaserne. Das Projekt von C . P l a t o n hat fünf Klafter Höhe und eine ganz gewöhnliche Boulevardfaçade, das von F r. N e u m a n n hat wieder einen sehr günstigen, einfach gruppirten praktischen Grundriß, aber das Ganze ist ein Monstrum, das unter dem Einfluß unseres Rathhaus- und Dombaumeisters entstanden ist.5 Die Härten dieser Stylrichtung sind alle dem trefflichen Meister prächtig abgeguckt, aber – diese breiten Verhältnisse der zwei- und dreifach gekoppelten Fenster, diese abgenagten, oben unaufgelösten Pavillons und so weiter!! Der Entwurf von G . N i e m a n n schließt sich wieder an Th. Hansen an. Darnach sähe das neue Justizgebäude beiläufig so aus wie das Eckhaus am Franzensring gegenüber der Votivkirche. Der Grundriß ist so verzettelt, daß

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[Heute Technische Universität Wien.]

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[Franz (Ritter v.) Neumann (1844–1905) erwarb seine Architektenausbildung an der Wiener Akademie der bildenden Künste bei Eduard van der Nüll, August Sicard v. Sicardsburg und Friedrich v. Schmidt. Er arbeitete danach im Atelier Schmidts und war bis 1883 insbesondere mit dem Bau des Wiener Rathauses beschäftigt. 1878–1883 baute er mehrere der Arkadenhäuser beiderseits des Rathauses. Weitere Werke in Wien sind die KuffnerSternwarte (1884–1886), die St. Antonius-Pfarrkirche X., Antonsplatz 21 (1896–1901) und der „Regensburger Hof“ I., Lugeck 7. Franz v. Neumann gilt außerdem als Schöpfer des charakteristischen rustikalen Baustils der Villen auf dem Semmering.] Die Konkurrenz-Projekte für den Justizpalast (1874)

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er sogar zehn kleine und nur drei Klafter breite Höfe zählt. Originell, aber deswegen noch nicht glücklich ist die Formation der öffentlichen Verhandlungssäle. Diese sind nach dem Muster der alten Basiliken der Römer, welche ja auch zugleich Richterplätze waren, formirt, und solche Basiliken zählt dieses Justizgebäude nicht weniger als a c h t z e h n . Über einen ungemein großen überdeckten Zentralraum mit freien Stiegen und sonst noch Höfen und Stiegen verfügt das Projekt von J . H u d e t z , im Ganzen recht theaterlich und phantastisch aufgestutzt im Geschmacke schwülstiger, französischer Renaissance. O . T h i e n e m a n n 6 liefert ein komplizirtes und dennoch unpraktisches Gedränge von zehn Höfen und einer Menge Stiegen. Die Façade ist ebenso aus einer Menge kleiner Kuppeln und sonstiger Einzeltheile zusammengesetzt, welche sich zu keinem kräftig wirkenden Ganzen zu vereinigen vermögen. A . W i e l e m a n s ist nicht kalt und nicht warm. Er lieferte eine fleißige, nicht unpraktische und nicht unschöne, aber dabei doch gänzlich gehaltlose und unmerkwürdige Arbeit, die in dieser Hinsicht als der Repräsentant der ganzen Ausstellung genommen werden könnte. E . F ö r s t e r 7 hatte die glückliche Idee, die Gänge in welchen das Publikum verkehrt, sehr breit, doppelt so breit als die übrigen, zu machen, wodurch auch einiges Schönes und Originales in die Auflösung hineinkam. Die Façade ist nicht unähnlich der der „Komischen Oper“, auch hier ist das Hauptmotiv wieder ein halber nach Außen offener Kuppelraum. Auch hier wiederum wie an der Komischen Oper eine Menge unmotivirter Motive, bunt durcheinander, ohne Harmonie. K . K ö c h l i n 8 übertrifft sich selbst

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[Otto Thienemann (1827–1905) studierte Architektur am Wiener Polytechnikum und an den Akademien von Wien und Berlin und arbeitete danach im Atelier von Eduard van der Nüll und August Sicard v. Sicardsburg. Danach war Thienemann als Eisenbahnarchitekt tätig. Er beteiligte sich an der Konkurrenzausschreibung für das Wiener Rathaus und erhielt den zweiten Preis. Seine bedeutendsten Werke in Wien sind das Gebäude des Ingenieur- und Architektenvereines und des Niederösterreichischen Gewerbevereines, Wien I., Eschenbachgasse 9–11, und der Grabenhof, Wien I., Graben 14–15, den er 1874–1876 gemeinsam mit Otto Wagner ausführte.]

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[Emil (Ritter v.) Förster (1838–1909) absolvierte sein Architekturstudium an der Akademie in Berlin und unternahm 1857–1864 Studienreisen nach Italien. Seine wichtigsten Werke in Wien waren die „Komische Oper“ („Ringtheater“), Wien I., Schottenring 7 (1873), die Bankgebäude des „Giro- und Kassenvereins“, Wien I., Rockhgasse 4 (1880) und der Bodencreditanstalt, Wien I., Löwelstraße 20/Teinfaltstraße 8–8a (1884–1887). Ab 1895 trat Förster in den Staatsdienst und führte den Ausbau der Neuen Hofburg weiter.]

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[Karl Koechlin (1828–1894) studierte Architektur zuerst am Prager Polytechnikum und ab 1847 an der Wiener Akademie der bildenden Künste. 1851–1872 war Koechlin in der staat-

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

an Langeweile. Das Beste aber ist das Projekt von L . B a r v i t z i u s .9 Er hat nicht nur den einfachsten und praktischesten Grundriß mit nur zwei großen Höfen und durchaus lichten Gängen, sondern auch die einfachste und dabei doch prächtigste und verhältnißmäßig originellste Façade. Was die K o s t e n anbelangt, so bewegen sich die Summen alle mit meist nur geringen Abweichungen um drei Millionen Gulden herum. Es ist also soviel gewiß: der Bau wird etwas über drei Millionen kosten, wird seinen praktischen Anforderungen ganz gut genügen und im Übrigen auf alle Fälle – keine Merkwürdigkeit sein.

lichen Generalbaudirektion tätig, danach arbeitete er im Atelier seines Schwagers Heinrich v. Ferstel. Koechlins Hauptwerke befinden sich in Graz, Klagenfurt, Wiener Neustadt, Czernowitz und Troppau. Nach dem Tode Ferstels führte er 1883–1884 die Fertigstellung des Neubaues der Wiener Universität aus.] 9

[Anton Barvitzius (1823–1901) absolvierte seine Studien der Architektur und Malerei in Prag und Wien. 1854 führte er die Restaurierung des österreichischen Gesandtschaftspalastes in Rom (Palazzo Venezia) durch. Seit 1866 war Barvitzius als Architekt in Prag tätig.] Die Konkurrenz-Projekte für den Justizpalast (1874)

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Führich und Schmidt. Ein Blatt Kunstgeschichte (1875) Laut handschriftlichem Vermerk: Neues Wiener Tagblatt, 1875. Genaues Datum unbekannt. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN.: 151–133.

Es ist eine Reihe der für die Entwicklung der Kunst überhaupt und für das künstlerische Gepräge der Stadt Wien bedeutungsvollsten Werke, welche sich an die Namen F ü h r i c h und S c h m i d t 1 knüpfen, aber nicht das allein ist es, daß sie Beide zu unseren größten Meistern zählen, was uns gerade z u g l e i c h an sie denken läßt. Führich und Schmidt haben auch im engeren Sinne in ihrer Wirksamkeit Manches gemein, wenn auch sonst ihre Wesen1

[Friedrich (Freiherr v.) Schmidt wurde am 23. Oktober 1825 in Frickenhofen (Württemberg) geboren und starb am 23. Januar 1891 in Wien. Nach dem Studium am Polytechnikum in Stuttgart ging er an die Kölner Dombauhütte, wo er eine Ausbildung als Steinmetz bis zum Werkmeister erhielt. 1857 wurde er nach Mailand berufen und 1859 zum Professor für mittelalterliche Kunst an der Architekturschule der Akademie der bildenden Künste in Wien ernannt, an der er bis zu seinem Tod lehrte. Die von Camillo Sitte genannten Kirchenbauten sind die Kirche des Lazaristenordens an der „Mariahilfer Linie“, Wien VII., Kaiserstraße 7 (erbaut 1860–1862), die Sitte unrichtig als „Elisabethkirche“ bezeichnet – sie trägt tatsächlich das Patrozinium „Zur unbefleckten Empfängnis Mariae“ – weiters die Pfarrkirche St. Othmar („Weißgerberkirche“), Wien III, Kolonitzplatz (erbaut 1866–1874), die Brigittenauer Pfarrkirche St. Brigitta, Wien XX, Brigittaplatz (erbaut 1867–1874), und die Pfarrkirche Fünfhaus „Maria vom Siege“, Wien XV, Mariahilfer Gürtel (erbaut 1867–1875). Fresken und dekorative Malereien für die „Weißgerberkirche“ und für die Brigittenauer Pfarrkirche schufen die Brüder Carl Jobst (1835–1907) und Franz Jobst (1840–1890). Die Malereien in der Kuppel der Pfarrkirche Fünfhaus schufen die Brüder Karl, Josef und Ignaz Schönbrunnner, von denen Ignaz Schönbrunner (geb. 1835) der auf Ornamentmalerei spezialisierte Künstler war, während die figürlichen Szenen (Christus Salvator, Evangelisten, Kirchenväter, Propheten, Triumph Mariens, christologische Szenen) von Karl Schönbrunner (1832–1877), Schüler von Carl Rahl und Joseph v. Führich an der Wiener Akademie, sowie vom Maler Karl Madjera stammen.



Joseph (Ritter v.) Führich wurde am 9. Februar 1800 in Kratzau (Chrastava, Böhmen) geboren und starb am 13. März 1876 in Wien. Seine malerische Ausbildung erhielt Führich ab 1819 an der Prager Kunstschule und 1827–1829 über ein Rom-Stipendium, wodurch er in den Künstlerkreis der Nazarener kam. Ab 1834 wirkte er als Kustos an der Gemäldegalerie der Wiener Akademie der bildenden Künste und wurde daselbst 1840 Professor. 1852–1865 war Führich Leiter einer Meisterschule für Malerei an der Wiener Akademie, 1865–1871 Leiter einer Spezialschule für Historienmalerei. Führich war auch Mitglied der Akademien in München und Berlin. Sein Hauptwerk ist der Gesamtentwurf und die Leitung der Ausführung der Fresken der Altlerchenfelder Kirche in Wien (1854–1861), deren Bauleitung Franz Sitte innehatte. Joseph v. Führich und die Familie Sitte waren auch durch verwandtschaftliche Beziehungen verbunden.]

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heit und Gesinnung verschiedene bedeutende Gegensätze aufweist. Beide sind Vertreter der romantischen Richtung und Beide gehören zu denjenigen so wenigen Künstlern, welche die hohe Kraft besessen, eine jüngere Generation mit ihrem Geiste zu durchdringen, e i n e S c h u l e z u g r ü n d e n . Viele Werke ihrer Hand stehen als bleibende Denkmäler einer der merkwürdigsten Entwicklungsfasen [sic!] der Kunst vor uns, den kommenden Künstlergenerationen als tiefbedeutungsvolle Erinnerungszeichen an den hohen Ernst, dem allein die wahre Kunst entsprießen kann und als sinnvolle, immerwährende Lehrmeister über manche dunkle Gebiete unseres Kunstschaffens. Beide Meister stehen gegenwärtig auf der Höhe ihrer künstlerischen Kraft und werden hoffentlich noch viel Hervorragendes schaffen. Aber auch ihre früheren Werke bis nahe hinauf zu ihren Erstlingswerken sind in unserer Mitte hervorgebracht und es ist hochinteressant, die allmälige Entwicklung an diesen Kunstwerken zu beobachten. Dombaumeister S c h m i d t hat durch eine Reihe hervorragender Kirchenbauten so wie durch die Restaurirungen zu Sankt Stefan schon bisher einen entscheidenden Einfluß ausgeübt auf den architektonischen Gesammtcharakter Wiens. Ebenso steht Meister F ü h r i c h als alleiniger geistiger Lenker und Gründer alles dessen da, was auf dem Gebiete der Malerei in der kirchlichen Kunst hervorgebracht wird und selbst auf die Plastik erstreckt sich sein Einfluß. S c h m i d t vollendet nun eben sein kirchliches Meisterwerk: d i e K i r c h e i n F ü n f h a u s , während Führich an die Spitze seiner Schüler zu treten berufen scheint, um die so eben in Angriff zu nehmende innere Malerei der Votivkirche in einer Weise zu dirigiren, daß die Malerei, welche doch erst die Seele dieses ganzen großen majestätischen Kunstwerkes ist, dieser kostbarsten unserer neuen Kirchenbauten entsprechend große und erhabene Gedanken einhaucht. So würde denn Führich in dem Werke Ferstels eine seinem Geiste und seiner Bedeutung für die Kunst gleich große Aufgabe zu lösen haben und man kann einer nach allen Richtungen hohen und gelungenen Lösung bei diesem für die künstlerische Entfaltung Wiens so wichtigen Monumentalbau entgegensehen, während eine Verbindung Führich’s mit dem genialen Kirchenbaumeister Schmidt bisher ein neidisches Schicksal verhindert hat. In der That ein neidisches Schicksal! Denn es ist vom reinen Kunststandpunkte aus gar wohl zu beklagen, daß die, architektonisch genommen, so gewaltig groß erfundenen Werke, welche selbst die alten Meisterschöpfungen der Gothik noch schier übertreffen, eine nur mittelmäßige malerische Ausschmückung, ja was das figurale, also das gerade Wichtigste, anbelangt, Führich und Schmidt. Ein Blatt Kunstgeschichte (1875)

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sogar eine oft unwürdig unkünstlerische, ja gedankenlose Beigabe erhalten haben. Schmidt ist Meister der architektonischen Form. Diese benützte er allein zur Komposition der Elisabethkirche in der Nähe der Mariahilferlinie. Bei der Kirche unter den Weißgärbern und in der Brigittenau folgte er schon dem durch die neuere Kunstforschung an den alten Werken erkannten System der gänzlichen Bemalung des Innenraumes. Schon der erste Versuch einer solchen kolossalen dekorativen Bemalung, welchen Schmidt in der Weißgärberkirche zugleich mit dem bekannten Maler J o b s t ausführte, ist eine merkwürdige Leistung, so weit es den ornamentalen Theil betrifft. Die Formen, welche Architekt Schmidt selbst beherrscht, sind, abgesehen von der Wahl einiger unschöner spätgothischer, bereits naturalistischer Blattmotive, zum Beispiel an der Decke der Vorhalle, und abgesehen davon, daß die Formen von beinahe vier Jahrhunderten und auch die Formen orientalischer Teppiche, wie sie durch Handel in mittelalterliche Häuser und von da in Ornamentwerke über das Mittelalter wanderten, verwendet wurden, abgesehen von diesen stylistischen Kleinigkeiten sind die Formen im Ganzen und Großen wohl gewählt. Aber die Farbe ist schon hart und im Allgemeinen viel zu dunkel. Die Härte der Farbe besteht darin, daß die Farben blau, grün, gelb, roth, weiß, schwarz zu unvermittelt und auch schlecht kombinirt und nicht im Sinne ihrer harmonischen Wirkung auf das Auge abgetönt wurden. Derlei ist allerdings an manchen gothischen alten Malereien gleichfalls zu sehen, aber die gelegentlichen Stümpereien eines mittelalterlichen Dorfanstreichers sollten denn doch nicht als durchgängig mustergiltig angesehen und nicht mit historischer Treue nachgeahmt werden. Was die Dunkelheit der gesammten Bemalung anbelangt, so stimmt auch diese mit Resten alter Bemalungen überein, aber entweder hat man es hier mit einer Nachdunkelung oder mit nur stellenweise dunklerer Bemalung, oder endlich wirklich mit einem Geschmack zu thun, der von dem unseren so weit verschieden ist – gewiß ist, daß gerade die allzu große Dunkelheit weder unserem Publikum, noch auch dem Maler Jobst selbst gefallen hat, so zwar, daß seine Ausmalung der Kirche in der Brigittenau den Versuch darstellt, im Ganzen einen lichteren Ton zu erzielen. Erreicht wurde dies durch weniger ausgebreitete Anwendung der dunkelblau, roth, schwarzen Teppichmuster. Statt dieser wurden die Ziegelschaaren als Ornamentmotiv verwendet und abwechselnd weißliche und lichtrothe Streifen hergestellt, wie sie allgemein üblich waren und sind an arabisch-maurischen, türkischen Architekturen, auch schon an der Agia Theodokos und anderen byzantinischen Kirchenbau-

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ten, und welche Streifung auch ähnlich an italienischen Domen, zu Orvieto u.s.w., vorkommt. Eine dritte Stufe der Ausbildung erreichte endlich unter Schmidt’s Leitung die vollkommene Innenbemalung an der Kirche in Fünfhaus. Diese Bemalung ist noch lichter, im Ganzen auch mit reichlichster Vergoldung ausgestattet. Die Kuppelmalerei ist bereits fertig. Diese Bemalung wird von S c h ö n b r u n n e r ausgeführt, der auf dem Gebiete der ornamentalen Malerei gegenwärtig unstreitig unsere erste Kraft ist. Auch die Farbentöne sind schon sehr harmonisch gestimmt und die Motive mannigfaltig, selten roh. So wird denn hier eine ornamentale Bemalung endlich erreicht, welche beinahe an die wundervoll künstliche und doch so überaus brüstige, markige Architektur ebenbürtig heranreicht. Man kann sich nicht enthalten, Schmidt hier eine schrankenlose Bewunderung zu zollen. Die Gothik hat er an sich bereichert durch das ihr so entschieden angehörende Motiv der Kuppel, das nur zufällig in der alten Gothik keine Verwerthung fand. Nun sehe man aber noch diese ungemein elastisch anstrebende Linie dieser Kuppel und vom Standpunkte der gothischen Konstruktion aus, so überaus herrliche Auflösung der äußeren Verstrebung und endlich noch die kräftige, hochoriginelle Profilirung und Detailbildung, in welcher nicht einmal mehr Pässe und Maßwerke vorkommen, ohne doch aufzuhören gothisch zu sein, die knorrigen Säulchengalerien und die prächtigen Portale. Alles stimmt zusammen, um uns die höchste Anerkennung abzugewinnen, so daß gesagt werden kann, das was Meister Schmidt in seiner Elisabeth-Kirche erst zu leisten versprach, nicht selbst nur ahnte, ist hier durch vielversuchte, geprüfte Meisterhand zur Wirklichkeit geworden. Schade, daß das Gleiche von den theils harmlosen, theils gedankenlosen Bildern nicht gesagt werden kann. Sie rühren theils von dem Bruder des Dekorationsmalers S c h ö n b r u n n e r, theils vom Maler M a d j e r a her. Beide sind Schüler Führichs. Aber den Schülern fehlt der hohe Geist ihres Meisters und wohl auch die innige, sich selbst ganz vergessende Hingabe an die Sache. Wie schön könnte aber ein so großes Werk vollendet werden, wenn bei einem so großen Anlasse der Meister selbst, der ja noch rüstig schafft, seine Schüler, die ihn verehren und lieben und gewiß mit Hingebung unter seiner Leitung an der Ausführung solcher Werke sich betheiligen würden, um sich versammelte und das Ganze mit seinem erhabenen Wollen und Denken durchdringen würde, statt daß er seine edle Kraft nur zu immer neuen Holzschnitt-Illustrationen verwendet sieht. So eben ist wieder ein solcher Führich und Schmidt. Ein Blatt Kunstgeschichte (1875)

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tief­poetischer Illustrationszyklus, der Psalter2, erschienen und einige neue sollen in Vorbereitung sein. Führich besitzt noch eine Reihe tüchtiger Schüler, welche schon große Arbeiten selbstständig ausgeführt haben, wie Maler W ö r n d l e und T r e n k w a l d . Vielleicht sehen wir die ganze Schule beisammen thätig in der Votivkirche?3

2

[Allioli, Joseph Franz von (Übers.): Der Psalter. Allioli’s Übersetzung. Mit Original Zeichnungen von Joseph von Führich. In Holzschnitt ausgef. von Kaspar Oertel. Leipzig: Dürr 1875.]

3

[Die Wand- und Deckengemälde der am 24. April 1879 mit der Einweihung vollendeten Votivkirche wurden – großteils nach Entwürfen von Joseph von Führich – von August von Wörndle, Franz und Carl Jobst, Josef Mathias Trenkwald und anderen ausgeführt.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Gottfried Semper (1879) Salzburger Gewerbeblatt, Jg. 3 (1879), S. 22–24. Sign. SN: 156–365/1.

In jüngster Zeit hat G o t t f r i e d S e m p e r, einer derjenigen Geister, welche ihrer Zeit den Stempel ihres Fühlens, Wollens und Könnens aufdrücken, sein Leben geendet. Auf allen Gebieten der Kunst und Werkthätigkeit ist diese Nachricht eine Trauerkunde gewesen, denn in allen Gebieten der grossen Kunst, in allen Gebieten des Kunstgewerbes griffen seine Gedanken ein, waren seine Ideen massgebend geworden. S e m p e r, seines Zeichens Architekt, war doch nicht Architekt in dem landläufigen Sinne, er war auch nicht zünftiger Kunsthistoriker und doch zehrt mancher gefeierte Kritikus und Historiker ausschliesslich von den Abfällen seiner wissenschaftlichen Thätigkeit. Semper war vor Allem eine volle ganze Individualität und indem er stets voll und lebendig das Ganze erfasste, und allseitig durcharbeitete, war er Gelehrter und Künstler zugleich, war er Architekt und Kunsthistoriker und Ästhetiker, wenn auch keines davon im Sinne moderner Einseitigkeit. Dass Semper die schier titanenhafte Kraft besass, gegen den Genius unserer Zeit, der zu armseliger Spezialisirung drängt, das grosse Ganze der Kunst in Vergangenheit und Gegenwart zu suchen, das hat ihn zum ersten Baukünstler seiner Zeit und zum Führer am Gebiete der Theorie der Kunst gemacht. Der erste Baukünstler unserer Zeit ist er zu nennen, nicht weil er so und so viele Theater, Paläste, Museen und andere Dinge erbaute. Das haben Andere auch geleistet. Aber bei ihm ist der Standpunkt, von dem aus die Aufgabe betrachtet wurde, stets höher. Nicht blos die Lösung eines speziellen Bauwerkes schwebte Semper in jedem einzelnen Falle vor, sondern in Allem legte sich Semper die Frage vor: W a s i s t K u n s t ? W a s i s t d i e K u n s t unserer Zeit? Jedes Einzelne seiner Kunstwerke ist immer ein Versuch, diese grössten allgemeinsten Fragen in einem besonderen Beispiele zu lösen; seine sämmtlichen wissenschaftlichen Arbeiten, die historischen und kritischen, sind nichts als Studien hiezu. So findet sich auf einer höheren Stufe des geistigen Schaffens die ­Einheit für all diese mannigfaltige, theils wissenschaftliche theils künstlerische Thätigkeit wieder. Die Vielseitigkeit wird zur Einheit und das ist es, was das ganze reiche Wirken Sempers, in einem vielbewegten langen Leben, wie zu einem Gottfried Semper (1879)

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einzigen grossen Kunstwerk zusammenfasst. Hierin hat Semper unter allen Meistern der bildenden Künste unseres Jahrhundertes nicht seines Gleichen. Betrachtet man unser vielgespaltenes, ja geradezu verworrenes Kunstleben überhaupt und denkt man hiebei an Sempers Wirksamkeit, so dämmert dem spürenden Auge plötzlich eine Hoffnung auf, den Weg aus der modernen Kunstfinsterniss zu finden, denn hier gewahren wir Einen, der bereits auf rechter Fährte. Hier ist Einer, der nicht mehr mit beliebig wählender Hand eine zufällig dargebotene Stylform ergreift und reproduzirt; hier ist Einer, der mit Bewusstsein, mit Absicht auswählt, der nicht zugibt, dass der Styl den Künstler mache, sondern der weiss, dass es das Werk der Künstler sein muss, den Styl zu schaffen. Aus diesem Bewusstsein heraus, das allen neueren Künstlern den richtigen Weg weist, entstand das Hauptwerk seines Lebens: „Der Styl in den technischen und tektonischen Künsten.“ Was dem Werkmeister der Plan des Architekten, das ist dem Architekten dieses Werk. So wie der Entwurf den Werkleuten vorschreibt, wie sie das Bauwerk aufzuführen haben, so schreibt dieses Werk den Architekten vor, wie sie ihre Entwürfe anzulegen haben. Es ist Theorie im höchsten, im besten Sinne des Wortes. Merkwürdig ist dabei die nahe innere Verwandtschaft mit einem Meisterwerke der Kunstlehre, das als Markstein am Anfange des neueren Kunstlebens steht, des Laocoon von Lessing. Stofflich haben diese Werke der beiden geistig so merkwürdig ähnlicher Meister nicht gemein, dem Wesen nach sind sie aber geradezu identisch. L e s s i n g s Grundgedanke, den er auch in allen seinen übrigen ästhetischen Werken verfolgt, ist: d i e G r e n z e n ( u n d G e b i e t e , r e s p . M o tive) der einzelnen Künste als Folge der verschiedenen gegebenen materiellen Hilfsmittel der Darstellung zu verzeichnen. Genau dasselbe ist der Grundgedanke von S e m p e r s Werk. Nur die Gebiete, auf welchen diese Grenzaufnahme vorgenommen wird, sind verschiedene. Semper stellt die Grenzen der architektonischen und kunstgewerblichen Techniken unter einander fest, ohne sich im Geringsten um die Grenzen zwischen Dichtkunst und Malerei zu kümmern. Lessing erforschte diese, und in der Hamburger Dramaturgie die Grenzen einzelner Dichtungsarten unter einander, ohne sich dabei um d i e G r e n z e n , oder, mit Semper zu reden, d e n S t y l der technischen und tektonischen Künste zu bekümmern.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Beide Werke, so verschieden in Stoff und Form und so gleichartig im Wesentlichen, sind aber bleibende unvergängliche Errungenschaften mitten im wechselnden Getriebe des künstlerischen Schaffens unserer Zeit. Der Werth des Semper’schen Lebens, wie er sich in diesem Hauptwerke am energischesten ausdrückt, ist ein ewig dauernder und für den Künstler der Gegenwart, der nach Zielen sucht, ein unschätzbarer. Alle Stylarten sind in unserer Zeit in wenigen Dezennien in beinahe chronologisch richtiger Reihenfolge versucht worden. Zuerst Griechisches, dann Römisches, dann Gothik und der romanische Styl, endlich Renaissance aller Schattirungen und gegenwärtig bereits Barrocke und Roccoco, so dass wir wieder glücklich bei uns selbst angelangt sind, ohne uns desshalb gerade selbst gefunden zu haben. Vorläufig sind wir zu Ende und rathlos darüber, was weiter werden soll, denn dass der Reigen nun nicht neuerdings von vorne anheben kann, oder gar etwa die Reproduktion reproduzirt werden kann, und nun Schinkel wieder daran käme u.s.f. ist selbstverständlich. Was soll also das Endergebniss all dieser künstlerischen Bemühungen sein? Doch nicht das, dass die Frage: was ist Kunst? was ist die Kunst unserer Zeit? einige Dezennien weggetäuscht wurde? Das Endergebniss sehen wir in Sempers Werken so deutlich wie sonst nirgends verkörpert. Es besteht darin, dass wir jetzt nicht mehr, wie vor 50 Jahren, der Fülle und Mannigfaltigkeit in den Kunstwerken aller Zeiten und Völker verblüfft und rathlos gegenüber stehen, sondern dass wir anfangen unterscheiden zu können, dass wir das Primitive von dem höher Entwickelten, das Zusammenpassende von dem sich Widersprechenden zu trennen lernen und nun mit B e w u s s t s e i n Kunstwerke schaffen. Dieses Bewusstsein, das Lessing einmal das Röhrenwerk der Kritik nannte, tritt heute an Stelle der Tradition und gehört viel absichtliche oder unabsichtliche Begriffstützigkeit dazu, es an Stelle der Phantasie zu setzen oder des künstlerischen Genies oder wie immer man diese eigene seelische Kraft des Individuums nennen will, welche zum Schaffen eines Kunstwerkes unerlässlich ist. In alter Zeit gehörte zur Hervorbringung eines Künstlers: G e n i e u n d T r a d i t i o n . In unserer Zeit, wo die handwerksmässige Tradition ausgestorben, gehört G e n i e u n d B e w u s s t s e i n , d.i. streng wissenschaftliche und kritische Durchbildung, stylistische Überzeugung dazu. In diesem Sinne war Gottfried Semper ein Typus, ja ein Ideal des wahren modernen Künstlers, geistig nahe verwandt mit den grossen Meistern der Renaissance und doch wieder tiefgehend verschieden. Gottfried Semper (1879)

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Die Städte seiner hauptsächlichsten Wirksamkeit sind: Dresden, Zürich, Wien. Dazwischen hielt er sich längere Zeit in Paris und London auf. Classische und mathematische Studien, Reisen in Italien und Griechenland fallen in die erste Zeit seines Lebens. Der Architektur wendete sich Semper erst später zu. Geboren zu Altona1 1803, wurde Semper 1834 als Professor an die Bauschule in Dresden berufen. 1835 entstand der erste Plan zum Theater, Museum und Orangerie. 1842 war der Theaterbau vollendet. 1849 erschien die interessante Publikation hierüber. 1853–70 war Semper Leiter der Bauschule am Züricher Polytechnikum, von wo aus er nach Wien zum Entwurf der Hofmuseen und des neuen Burgtheaterbaues berufen wurde. Von hervorragenderen Bauwerken Sempers sind noch zu nennen: Das Polytechnikum in Zürich, das Rathhaus in Winterthur, das neue Dresdener Hoftheater und das Theater in Darmstadt. Ausser dem schon genannten theoretischen Hauptwerk: d e r S t y l (erschienen 1860) sind zu nennen: Über bemalte Architektur und Plastik 1834; die vier Elemente der Baukunst; Wissenschaft, Kunst, Industrie; Ideales Museum für Metallotechnik; Ein Vortrag über Baustyle. Semper starb zu Rom am 15. Mai 1879. Die Nachwelt wird den dahingeschiedenen Meister stets in Erinnerung behalten.

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[Heute Hamburg-Altona.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Offenes Schreiben an Dr. Ilg (1879) Salzburger Gewerbeblatt, Jg. 3 (1879), S. 54f. Sign. SN: 402–328.

Lieber Freund! Ich geniesse unter Anderem das Vergnügen, täglich auf meinem Arbeitstisch etliche mehr oder weniger umfangreiche wohlverschnürte Pakete vorzufinden. Es sind Bücherballen, die mit Liebenswürdigkeit und seltener Unverdrossenheit von hiesigen Buchhandlungen zur Ansicht geschickt sind. Für den ersten Anfang scheint die Sache recht amusant. Immer das ­Neueste! Die Neugierde regt sich. Man möchte doch ein Weniges diese täglich ans Licht gebrachten Geistesschätze begucken. Aber mit welch’ anderer Stimmung wird der Bindfaden wieder zugezogen! Diese Früchte vom Baume der Erkenntniss haben auch heute noch immer das Eigene, dass sie nicht so wohl bekommen, als man anfangs glaubt. Wie im Mährchen glaubt man anfangs eitel Gold aller möglichen Weisheit vor sich zu enthüllen, und das durchmusterte Paket zeigt gewöhnliche Steine, immer wieder dieselbe Abschreiberei von ebenfalls schon abgeschriebenen Produkten. Auf dieser Fluth gewöhnlicher Marktwaare, mit ihrer freventlichen Vergeudung der edlen Druckerschwärze, schwimmen nun allerdings auch, wie herrenloses Gut, die Schätze echter unermüdlicher Geistesarbeit ihrem zufälligen Schicksale entgegen. Derjenige aber, der am Strande dieses Literaturmeeres steht, und dem Treiben seiner Wogen zugesehen hat, schärft sich für dieses Spiel allmälig seinen Blick. Man greift nicht mehr so harmlos heiter zu, sondern mustert vorerst mit gefühllosem Kennerblick die oben aufgeschnürte Factura und siehe da, man kann sich das Öffnen des heutigen Paketes ersparen. Nr. 1 ist das Buch eines Autors, den man schon als Abschreiber ruchlosester Sorte gar wohl kennt; bei Nr. 2 lauscht ein bedenklich längliches Ohr schon aus dem Titel heraus; Nr. 3 ist wieder eine allerneueste Methodik des Freihandzeichnens, um es aus einem Compendium zu lernen u.s.f. Selbst der Verlagsort, das Format der Tafeln, der Preis und Ähnliches werden im Zusammenhang mit dem Titel zu Anzeichen des Inhaltes. So geht die Arbeit rasch von Statten und man kann auch hier sagen: Vortheil treibts Handwerk. Auch heute wollte ich einen dickleibigen Bücherballen uneröffnet zur Seite schieben, aber ein kleines Wörtchen aus der heutigen Factura hatte sich unvermerkt ins Gedächtniss eingenistet und rumorte da ganz eigens, als der Blaustift ansetzte, das gewohnte „Zurück“ auf den Ballen zu setzen. Es nützte nichts, die Factura musste nochmals gelesen werden und da stand das kleine Wörtchen so unscheinbar und doch so klar und klug dreinsehend: „Die Zukunft des Barockstyls“. Wer kann das sein, der Offenes Schreiben an Dr. Ilg (1879)

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heute an die Zukunft des Barockstyls denkt? Das ist unmöglich Einer von den Gewöhnlichen. Dem Barockstyl heute eine Zukunft zuzuschreiben ist noch kein Schlagwort, mit dem ein obligates Dutzendheftchen produzirt wird, es ist aber auch nicht der Eingang in die Sackgasse eines Phantasten, sondern die Inschrift der Schwelle, vor der unsere moderne Kunstentwicklung in der That angelangt ist, und wer vor dieser Inschrift steht und sie herunterliest, muss mit der Kunstbewegung und den Trieben unserer Zeit auf’s Innigste vertraut sein; oder es läge hier ein Zufall sonderbarster unerklärlichster Art vor. So musste denn der Blaustift weichen und das Paket wurde eröffnet. Der ganze Titel lautete: „D i e Z u k u n f t d e s B a r o c k s t y l s , e i n e K u n s t ­e p i s t e l v o n B e r n i n i d e m J ü n g e r e n “.1 Die rasch angestellten Stichproben über die Barocke in ihrer grossen selbstständigen Entwicklung in Österreich; über die Industrie Frankreichs und unsere Schul- und Museumsbestrebungen enthüllten auch sogleich den Autor und es war eine gute Stunde, in der Freund Ilg dieses Opus fertigte. Ich möchte nun gerne die schönsten Stellen hier wiederholen, diess hiesse aber das Ganze nachschreiben, und so sei nur die Wiederholung des Ideenganges zur eigenen Freude und zur Anregung der Lecture des Ganzen gestattet. Zuerst ist die Entwicklung der Stylfrage von Schinkel bis zu den neuesten von Wien ausgegangenen Richtungen kurz und treffend geschildert. Hierauf folgt eine Schilderung des Wiederaufnehmens der deutschen Renaissance und der vielfach einzuschränkenden Befähigung dieses Styles für unsere Zeit, die man stets wieder mit Vergnügen liest. Die folgende Darstellung des anfänglichen horrors vor der deutschen Renaissance und noch mehr vor dem „Zopf“, der geradezu als technische Bezeichnung für alles Absurde galt und noch gilt, und die elegante Einführung und quasi Rehabilitirung von Madame Barocke ist ein Meisterstück feinster Art. Das Umfassende und Lebenskräftige dieses Styles, welcher Literatur, Politik, Sprache und Sitten seiner Zeit gleichmässig beherrschte und so viel Neues zu schaffen vermochte, sehen wir so lebendig vor uns, dass man sich wie unwiderstehlich angezogen fühlt, sich der Barocke in die Arme zu werfen, obwohl es nur ausdrücklich darauf abgesehen ist, das ungerechte und bereits auch unzeitgemässe alte Vorurtheil gegen die echte Barocke zu brechen und dem freien Laufe unserer Kunstentwicklung ein unberechtigtes rein scholastisches Hinderniss aus dem Wege zu räumen. 1

[ Ilg, Albert: Die Zukunft des Barockstils. Eine Kunstepistel von Bernini dem Jüngeren. Wien: Manz 1880.] 

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Mit dieser Schrift ist denn die neueste Station, bei welcher unsere historisch reproduzirende Kunstentwicklung angelangt ist, bezeichnet und diess ist eine That von bleibender Bedeutung. Durch diese stetig dem gesteckten Ziele entgegenführende Darlegung ziehen sich aber, wie der Einschlag eines Gewebes, noch eine Menge köstlicher Ausfälle gegen die bei uns blühende Prinzipienreiterei in Kunstangelegenheiten, wie überhaupt das Ganze in heiterster Laune glänzt. Dieser Einschlag trägt nicht nur zur Heiterkeit bei, sondern auch zur Festigung des ganzen Gewebes, denn wer kann noch als Wortführer gegen die natürliche Freiheit des Kunstschaffens, welche hier lebensfreudig und kunstwahr als ein natürliches Recht der Kunst eingeräumt wird, auftreten, vom Standpunkte einer angeblich allein berechtigten Theorie, vom Standpunkte jener modernen Compositionen von stylpolizeilicher Unbescholtenheit, die, wie es treffend heisst, ganz Logik, ganz Regelmässigkeit, aber auch ganz Langeweile sind, oder vom Standpunkte jener echt deutsch – kathedermässigen Einseitigkeit, welche endlich den strengen „Stylisten zwingt, den Freund Naturalisten um eine Garnitur Vögelchen und Bübchen zu ersuchen“ zur Vollendung seines Kunstwerkes? Dass nicht Jeder die gleiche Freude an diesem reizenden und doch so schwerwiegenden Opus haben wird, dürfte nicht zu verwundern sein. Gar mancher verzopfte Hasser des Zopfes wird sich dabei bekreuzen, aber was thuts? Leben und Kunst gehen ja doch so wie so ihre eigenen Wege. Wohin wir gelangen, wenn auch diese letzte mögliche Restauration einer alten Kunstwelt hinter uns liegt, werden wir ja sehen. Stehen bleiben können wir unbedingt nicht.

Offenes Schreiben an Dr. Ilg (1879)

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Der neue Wiener Styl (1881) Neues Wiener Tagblatt, 8. Juli 1881. Mit handschrifltichen Redaktionen. Sign. SN: 158–420. Verfasst unter dem Pseudonym „V[ictor] K[arl] Schembera“.

„Er schreibt eine gute Feder,“ sagen wir; die Alten redeten in gleichem Sinne von ihrem Styl. Daß aber noch niemals so viel von Styl in den bildenden Künsten die Rede war, ist ein Kennzeichen, daß wir eben keine uns selbst eigene Empfindungsweise in der Kunst haben. Wir reden eben immerfort „vom Styl“, gerade wie der Kranke immer von der Gesundheit spricht. Die großen Staatsbauten, die an einer Strecke der Ringstraße ihrer Vollendung entgegengehen, tragen auch diesen Stempel ihres Jahrhunderts an sich, und es ist merkwürdig, zu beobachten, welche auffallende Ähnlichkeit zwischen diesen neuesten Wiener Bauten und den etwas älteren Werken Münchens besteht. Es ist, als ob sich das Kunstleben Münchens, wie es seinerzeit der kunstsinnige Ludwig der Erste hervorgerufen, bei uns ohne jede Absicht, nur aus innerer Nothwendikeit noch einmal wiederholt hätte. Während man in München vor den Propyläen sich nach Athen versetzen kann, die Feldherrnhalle die Florentiner Loggia des Orcagna kopirt und so fort, kann man in Wien binnen einer Viertelstunde einen Rundgang durch das ganze baugeschichtlich berühmte Europa anstellen – Rom, Athen, Köln, Straßburg, Alter­ thum, Mittelalter und Renaissance haben ihre Spenden hier ausgeschüttet. Bei alledem redet man gegenwärtig gerne – es ist so Mode geworden – vom neuen „Wiener Styl“, von einer spezifischen Wiener Kunst. Manche, die das thun, wissen recht gut, warum sie es thun und weil sie es in schnöd-egoistischer Absicht thun, gereicht es weder ihnen noch ihrer Sache zur besonderen Ehre. So ganz bedeutungslos ist das beliebte Schlagwort vom neuen Wiener Styl aber doch nicht. Trotzdem die Vorbilder unserer Monumentalbauten aller Welt gehören, ja trotzdem die Künstler, welche sie uns erbaut haben, auch aus allerlei Herren Länder stammen, trotzdem der wuchtige Meister aus dem Schwabenlande uns die Traditionen des mächtigen Kölner Dombaues und seiner uralten Hütte brachte, während der nimmermüde Däne von der Schule Berlins und Athens kam und Meister Gottfried Semper, das Hamburger Kind, die Größe des alten Roms uns enthüllte, trotzdem ist ein gemeinsamer Zug doch nicht zu leugnen. Man denke sich die Münchner Bauten, Glyptothek, Basilica, Aukirche etcetera in so unmittelbarer Nähe, wie hier das griechische Parlament, das gothische Rathhaus und die Universität in italienischer Renaissance, so würden die Kontraste herber, die Differenzen

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größer und unvermittelter sein. Die Extreme haben sich im Laufe der großen Bauentwicklung der letzten Dezennien hier gegenseitig gesteigert bis zur höchsten Leistungsfähigkeit und doch zugleich auch gemildert. Es hat in dem gemeinsamen Ringen um den ersten Preis sich ein reger Austausch künstlerischer Kraft Bahn gebrochen und gewiß ist, daß jeder einzelne der seither berühmt gewordenen Architekten a l l e i n das nicht geworden wäre, was er, angespornt durch den Wetteifer, getragen von den herrlichen Aufgaben, die zu lösen waren, geworden ist. Das allein schon bildete eine gemeinsame Basis, auf der sich die Bauthätigkeit Wiens entwickelte und der heitere genius loci, wie Lübke nicht unrichtig sagt, that das Übrige, in all’ diese Verschiedenheit doch einen Zug von Gemeinsamkeit zu bringen. Ob man das aber schon einen eigenen Styl nennen darf? Vielleicht könnte F e r s t e l als der eigentliche Meister eines solchen Styls genannt werden. Ferstel schließt sich in seinen Renaissancearbeiten mit großem Glücke an den Machthaber der Barock-Architektur Wiens, an Fischer von Erlach, an. Aber Ferstel ist ebensowohl Gothiker und drückt sich auch in deutscher Renaissance wie in der italienischen, sozusagen wie in einer Muttersprache aus. Diese architektonische Vielsprachigkeit hindert aber doch nicht, daß man Ferstel in jedem seiner Werke erkennt. Sowie man den Italiener oder Engländer erkennt, auch wenn er deutsch spricht, so erkennt man die spezifische Empfindung des Künstlers in seinen Werken, denn es gibt außer dem Style des Jahrhunderts oder dem Style eines großen Kunstplatzes noch einen Styl des Individuums und dieser individuelle Styl ist es, der jedem Werke eines echten Meisters die Signatur gibt, an der man jedes seiner Werke auch sofort als ein Gebilde seines Geistes erkennt. Wer erkennt nicht aus einigen Takten und Akkorden schon die Musik eines Beethoven oder aus wenigen Versen schon die Sprache Goethe’s? So auch in der Architektur und selbst im Kunstgewerbe. Die sonnig-heitere Eleganz Ferstel’s, die effektvolle Derbheit Schmidt’s, wer erkennt sie nicht gleich auf den ersten Blick? So erkennt man ja auch ein Bild, sagen wir von Makart, ohne erst im Katalog nach dem Namen suchen zu müssen und auch diejenigen Künstler, deren Namen nicht jedem geläufig sind, erkennt man an ihren Werken, wenn man sich eingehender mit ihnen beschäftigt, so daß man endlich das Individuelle in ihrer Art zu arbeiten herausgefunden hat, ihren persönlichen Styl. Bei einem unserer derzeit häufigst genannten Architekten wird man sich aber vergebens bemühen, dieses Individuelle herauszufinden, an dem man das Werk eines Künstlers auch ohne Unterschrift und Katalog erkennt, und das ist Herr H a s e n a u e r. Aus den ersten Jahren seines Auftretens sind Der neue Wiener Styl (1881)

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­einige Stücke in Heideloff’scher Nürnberger Spielwaarengothik bekannt. Dieser Stylus scheint Herrn Hasenauer selbst damals sehr behagt zu haben, und einen Eckschrank dieser Art scheint er für etwas ganz Besonderes angesehen zu haben, denn man findet ihn in Teirich’s „Blättern für Kunstgewerbe“ sogar zweimal publizirt. Zweimal publizirt, weil das erstemal für die Anforderungen des Schöpfers nicht gut genug gedruckt, aber auch auf dem zweiten Blatt sieht sich’s langweilig, eckig und unschön an. Das war die erste Stylperiode Herrn Hasenauer’s. Hierauf folgte ganz unvermittelt das Projekt zur Florentiner Domfaçade, ein Riesenblatt, das über Jahr und Tag im österreichischen Museum stand. Eklektisch zusammengetragen aus einer Menge bekannter vorhergehender Projekte und Arbeiten über diese dezenniumlang fortwuchernde Frage. Wieder ganz anderen Geistes in Architektur und Zeichnung und Allem zeigte sich das hierauf folgende Projekt zur Museenkonkurrenz. Daß Herr Hasenauer mit dem Museenbau einmal wirklich was wird zu schaffen haben, hätte damals Niemand gedacht, und glücklicherweise werden die Museen jetzt auch in der That total anders, als sie im Projekte des Herrn Hasenauer aussahen, ausgeführt, nach Semper’s Entwürfen nämlich. Und wieder kommt eine neue Periode, die der Weltausstellungsbauten. Wer würde bei diesen errathen, daß sie gerade von Herrn Hasenauer herrühren und nicht von irgend einem andern Architekten. Wenn sie Schmidt, wenn sie Hansen gemacht hätte, man würde es sogleich von ferne schon erkannt haben, da sie aber aus dem Atelier des Herrn Hasenauer stammen, muß man dies früher wissen, muß man die Unterschrift auf den Plänen zuerst gesehen haben. Man weiß, wie in Ateliers vielbeschäftigter Architekten gearbeitet wird. Es ist nicht möglich, daß der Chef alles persönlich zeichnet. Er wird vielleicht das Wenigste, ja fast Nichts selbst zeichnen und doch ist Alles, was aus diesem Atelier hervorgeht, sein Werk, auch ohne Unterschrift, denn von ihm ist die Idee, die erste flüchtige Skizze, er selbst ordnet alle Arbeiten seiner Gehilfen an, geht von Brett zu Brett, drückt mit Kohle und Bleistift bessernd und entwerfend, überall den Stempel seines Ichs auf und zuletzt ist Alles wie aus Einem Guß, nur s e i n e r Empfindung entsprechend, voll von s e i n e r Individualität, obwohl alle die unzähligen Tuschstriche und alle die Farbentöne nicht von seiner eigenen Hand hingesetzt sind. Zum Schluß kommt die Unterschrift, wirklich eine Nebensache, denn der ganze Entwurf selbst zeigt ja, weß’ Geisteskind er ist. Herrn Hasenauer mangelt diese künstlerische Individualität, mangelt der persönliche Styl. Indeß g e n a n n t wird Herr Hasenauer ununterbrochen, lärmvoller, als ein Ferstel oder Schmidt. An zwei großen Bauten ist sein Name angeheftet, an dem der Hofmuseen und dem des

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neuen Burgtheaters, schon wird auch die Tafel angestrichen, welche an die Planke des bevorstehenden Umbaues der kaiserlichen Burg gehängt wird, worauf ebenfalls der Name des Herrn Hasenauer in großen Lettern zu lesen sein wird. Als ob bei der Schöpfung dieser drei großen Architekturwerke kein Gottfried Semper die leitende Hand dabei gehabt hätte, als ob Gottfried Semper ein untergeordneter Zeichner bei Herrn Hasenauer gewesen wäre, was sich freilich drastisch genug ausgenommen hätte. Visitkarte: Gottfried Semper, Zeichner im Atelier Hasenauer. Ungefähr so, als wie Michelangelo, Bildhauergehilfe bei Maestro Baccio Bandinelli, oder A. W. Mozart, Notenabschreiber der Firma Schikaneder. Und so ist es denn vonnöthen, wieder einmal von G o t t f r i e d S e m p e r und seiner Stellung in der Entwicklung des modernen Wiener Kunststyls zu sprechen. Eine fürtreffliche Gelegenheit ergibt sich eben hiezu, da eine mit Sehnsucht erwartete, dankenswertheste große Publikation zu erscheinen beginnt: „ D i e B a u t e n , E n t w ü r f e u n d S k i z z e n v o n G o t t f r i e d S e m p e r “ , ein Prachtwerk in Kupferstich, das in sechsundzwanzig Lieferungen mit je fünf Tafeln von 30 Cm. auf 50 Cm. Stichgröße binnen zwei Jahren ausgegeben wird. M a n f r e d S e m p e r 1 sagt im Prospekte: „Nach dem Tode Gottfried Semper’s, des Meisters, dessen vielseitigem und rastlosem Schaffen und Forschen die deutsche Kunst so unvergeßliche Werke, so viele bahnbrechende Anregungen verdankt, wurden seine reichhaltigen Mappen dem Unterzeich­

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[Manfred Semper (geb. 1838 in Dresden, gest. 1913 in Weferlingen, Kreis Gardelegen) war der älteste Sohn Gottfried Sempers. Er studierte von 1856 bis 1859 bei seinem Vater an der Bauschule des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich. 1860 bis 1861 besuchte er das Atelier des mit seinem Vater befreundeten Architekten Jakob Ignaz Hittorff in Paris. Von 1862 an arbeitete er am Bau des Zürcher Polytechnikums und der Sternwarte. Zu Studienzwecken reiste er 1864 bis 1865 nach Italien und weilte hauptsächlich in Rom. Zu seinen ersten eigenen Aufträgen gehörte 1866 der Bau einer Villa am Comer See. Während sein Vater 1870 dem Ruf des österreichischen Kaisers folgte und in Wien gemeinsam mit Karl von Hasenauer das Museumsforum und das Hofburgtheater baute, übernahm Manfred Semper von 1870 bis 1878 die Bauaufsicht beim Hoftheaterbau seines Vaters in Dresden. Weitere eigene Bauten sind ein nicht mehr erhaltenes Bahnhofsgebäude in Altona, das Naturhistorische Museum in Hamburg sowie viele Nutzbauten und Privathäuser. Der Entwurf für den Neubau des abgebrannten Hoftheaters von Georg Moller in Darmstadt, den er mit seinem Vater von 1871 bis 1873 erarbeitete, scheiterte am Widerstand konservativer Politiker, denen Sempers Architektur zu fortschrittlich war. Manfred Semper entwarf auch das Grabmal für seinen Vater in Rom. Neben seiner Arbeit als Architekt war Manfred Semper als Herausgeber der Arbeiten seines Vaters sowie als Fachschriftsteller tätig und veröffentlichte hauptsächlich zum Thema Theaterbauten.] Der neue Wiener Styl (1881)

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neten mit dem Auftrage übergeben, für die Veröffentlichung Sorge zu tragen und damit den darin enthaltenen Ideenschatz zum Gemeingute der Künstler und Kunstfreunde zu machen. Mit Freuden und mit Stolz unterzog er sich dieser ehrenvollen Aufgabe, in der Überzeugung, durch eine gewissenhafte, pietätvolle Lösung derselben dem Andenken seines Vaters und Lehrers ein Denkmal ganz in dessen Sinne zu errichten und damit zugleich der Kunst und in erster Linie der Baukunst eine Gabe von ganz besonderem Werthe und von dem größten Interesse zu bieten.“ Ja wohl, von ganz besonderem Werthe und von dem größten Interesse. Speziell für Wien. Bringt doch beispielsweise gleich die erste Lieferung als Doppeltafel den Gesammtgrundriß des projektirten Ausbaues der Hofburg nebst den Hofmuseen und dem Hofburgtheater nach einer Pause des in Zürich ausgearbeiteten ersten Semper’schen Entwurfes. Vor unserem Auge ersteht der ganze kolossale Bau, erstehen die gewaltigen Hemicyklen, die triumphbogenartigen Querpassagen mit Portiken, welche die Vermittlung des Neubaues der Burg mit den Museen bilden, ersteht der ungeheure, mit Monumenten und Fontainen zu schmückende Platz, ersteht das Forum, das dem Meister in Dresden zu schaffen vereitelt worden und das wir hier verkörpert finden. Mit welcher Ehrfurcht wendet man Blatt um Blatt! Vollständig wird das Werk nicht werden, weil so mancher Plan in unbegreiflicher Weise verloren gegangen, wie ja auch eine Streitschrift Semper’s, die er in Rom vor seinem Tode beendigt hatte, unbegreiflicher Weise verloren gegangen ist und mit ihr das ganze Material des abschließenden Bandes vom „Styl“, aber dennoch werden wir durch die Publikation Manfred Semper’s ein, den Künstler nach allen Richtungen charakterisirendes Vollbild erhalten auch in kunstgewerblicher Beziehung, welche Bruno Bucher, scharfsinnig und geistvoll wie immer, bereits gewürdigt. Ein zweiter Sohn Semper’s, Professor H a n s S e m p e r, hat gleich seinem Bruder das Andenken des Vaters geehrt durch die Herausgabe einer Biographie: „ G o t t f r i e d S e m p e r. E i n B i l d seines Lebens und Wirkens mit Benützung der Familienp a p i e r e “ Wir lesen darin über die Entwürfe Semper’s für die Museen auf Seite 31 Folgendes: „Semper entwarf noch im Jahre 1869 in Zürich den Enbloc-Plan der Museen, der Burg und des Burgtheaters nebst perspektivischer Ansicht des Ganzen, wobei ihm seine Schüler, die Schweizer Architekten Koch und Reverdon, behilflich waren. Als diese in einigen Stücken an Hasenauer’s Entwurf anknüpfende, jedoch freier, großartiger und malerischer durchgeführte Arbeit in Schraffiermanier zur Hälfte ausgeführt, während die andere symmetrische Hälfte noch in Bleistift belassen war, wurde sie von Herrn Hasenauer, der derselben die höchste Bewunderung zollte, sammt dem Reißbrett

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nach Wien geholt, damit sie dort vollendet und mit einem malerischen Hintergrund versehen werde. Das Entstehen dieser Arbeit, in Zürich beobachtet zu haben, bezeugen sowohl Semper’s Schüler Jovanovics, als auch Semper’s langjähriger Freund Friedrich Pecht. Ferner entwarf Semper noch in Zürich zwei Blätter mit dem Aufriß des Mittelbaues sowie des einen Seitenrisalits. Nach seiner Berufung durch den Kaiser im Oktober 1871 hat sodann Semper ununterbrochen an den Detailplänen sämmtlicher Façaden der Museen, an der architektonischen Ausstattung der Vestibüle und an der Innendekoration der Säle des Hochparterre gearbeitet, während Herr Hasenauer fast ganz durch die Arbeiten für die Wiener Weltausstellung in Anspruch genommen war. Für die Vestibüle stellte Semper zwei Durchschnitte in großem Maßstabe her. Als die Ausführungspläne nöthig wurden, besorgte auch diese zum großen Theile Semper. Semper gab den Façaden durch Einführung markigerer Vorsprünge, großartigerer Verhältnisse der Arkaden, römischer Motive, sowie der das Glasdach verhüllenden Ballustraden jene harmonische und imposante Gestaltung, die wir an diesen der Vollendung nahen Bauwerken so sehr bewundern. Kurz, in welchem Maße Semper in dem Neugestaltungsprozesse der Museen-Entwürfe eingegriffen, ergibt sich am deutlichsten aus dem Vergleich der zur Ausführung gelangten Entwürfe mit den Entwürfen des Herrn Hasenauer. Was nun Semper’s Antheil an dem neuen Hofschauspielhaus betrifft, für welches er im Auftrag des Kaisers gleichfalls einen Plan ausgearbeitet hatte, so gab der Kaiser selbst dem Plane Semper’s gegenüber dem des Herrn Hasenauer den Vorzug. Blos der viereckige Ansatz an der Vorderseite des Theaters ist ein Motiv, welches Semper von Herrn Hasenauer übernahm, mit dem er auch diesen Bau gemeinsam zur Ausführung erhielt. Und wir glauben, daß dieser viereckige Frontansatz statt des ovalen oder halbkreisförmigen, der bei Semper’s Theaterprojekten sonst typisch ist, den Ausdruck, die Charakteristik, sowie die malerische Mannigfaltigkeit des Baues nur schädigt. Im Übrigen sind sämmtliche Zeichnungen für das Theater, für dessen Façaden, für die Loggien, das Proszenium, den Saal, die Hoffesträume, die Treppenhäuser Semper’s eigene Erfindung und wurden auch für die Ausführung ohne wesentliche Veränderung beibehalten. Selbst auch die Ausführungspläne wurden, da Herr Hasenauer damals vollauf von den Weltausstellungsarbeiten in Anspruch genommen war, unter Semper’s ausschließlicher Leitung hergestellt. Wer da weiß, daß Semper in der ganzen Welt als Meister in der Anlegung von Theatern gilt und wer die Gesammtheit der von ihm entworfenen Theaterpläne überblickt, der wird insbesondere auch in der Anlage des neuen Burgtheaters zu Wien seine Meisterschaft wieder erkennen.“ Der neue Wiener Styl (1881)

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Ein nicht weniger pietätvolles Denkmal für Semper ist K o n s t a n t i n L i p s i u s ’ ausführliche Studie: „ G o t t f r i e d S e m p e r i n s e i n e r B e d e u t u n g a l s A r c h i t e k t “ , welches mit dreiunddreißig Durchschnitten und Grundrissen Semper’scher Bauwerke versehen ist, wodurch die Hauptbauten Semper’s auch dem Laien anschaulich gemacht werden. Konstantin Lipsius sagt darin auf Seite 94: „Die Façaden der Museen tragen unverkennbar den Stempel Semper’scher Architektur. Sie erinnern im Motiv an die Zwingerseite des Dresdener Museums, nur in wesentlich gesteigertem Maße; eine Säulenstellung über rustizirtem Parterre … der Eindruck der Gebäude ist ein imposanter … das Hofschauspielhaus, das nicht dem ursprünglichen Entwurfe (Semper’s) gemäß, im Volksgarten und in Verbindung mit der Hofburgerweiterung, sondern als Pendant zum Rathause errichtet wird, erinnert in der ersten Skizze in der Grundrißform lebhaft an (Semper’s) Münchener Festtheater. Für die Ausführung entwarfen Semper und Herr Hasenauer Pläne und es entschied sich der Kaiser für den Semper’s unter Adoptirung der von Herrn Hasenauer in Vorschlag gebrachten geradlinigen Loggia über den unteren Eingängen.“ Im Anschlusse an dieses illustrirte Werk ist auch E r n s t F l e i s c h e r ’ s vorzügliche, acht Foliotafeln enthaltende Ausgabe der „Architektonischen und bildnerischen Überreste des alten von Gottfried Semper erbauten Hoftheaters in Dresden“ zu nennen, wodurch jede noch erhaltene Einzelheit des klassischen Bauwerkes vor Vergessenheit gerettet wird. Die Reihe der Schriften über Gottfried Semper ist damit noch nicht abgeschlossen. Manfred Semper arbeitet an einer großen, umfassenden Biographie seines Vaters2, in welcher eine große Anzahl von Briefen und Aktenstücken 2

[Von der oben bereits erwähnten Schrift Die Bauten, Entwürfe und Skizzen von Gottfried Semper. Gesammelt und herausg. von Manfred Semper (1. Lieferung, Leipzig: G. Knapp, Verlagsbuchhandlung E. Nowák 1881) ist kein weiterer Band mehr erschienen. Erst sehr viel später kam: Semper, Manfred: Hasenauer und Semper. Hamburg: Boysen & Maasch 1895. Seltsam mutet freilich ein Brief von Hans an Manfred Semper an, in dem die Söhne sich sehr kritisch gegenüber Sitte alias Schembera zeigen: „Das Buch [d. h. Kleine Schriften von Gottfried Semper] macht doch einen ganz stattlichen Eindruck, ist auch schon günstig prognostizirt worden, wie beiliegende Anzeigen, um deren Rücksendung ich bitte, Dir zeigen. […] Was nun das alberne Feuilleton von Schembera betrifft, so habe ich sofort, da dasselbe in der That wie eine Anklage gegen die Familie klang, Aufklärungen über die Grundlosigkeit seiner mysteriösen Vermuthungen geschickt, indem ich ihn bezüglich des 3. Bandes Stil auf das beste Argument, nämlich das von Papa 1870 verfaßte Verzeichniß seiner Schriften, sowie auf den Umschlag des Manuscriptes Aegypten, der ‹Letztes Msc.› bezeichnet ist, hinwies. Bezüglich der angebl. Memoiren habe ich ihm meine Vermuthung geäußert, daß er vielleicht aus dem Artikel v. [Constantin] Jovanovits, zu dem mir Papa

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veröffentlicht wird, die speziell Semper’s Martyrium in Wien beleuchten werden. Alle Anerkennung müßte man Herrn Hasenauer zollen, wenn auch er in den reichen Schatz von Erinnerungen an seinen Verkehr mit Gottfried Semper greifen wollte. Es ist eine schöne Aufgabe für den Mitarbeiter eines großen Mannes, mit der Hingebung des Biographen und der unverbrüchlichen Gewissenhaftigkeit des Historikers einen Mann zu schildern, dem man Vieles für’s ganze Leben verdankt. Über wie Vieles könnte nicht Herr Hasenauer Aufschluß geben, er, der Zeitgenosse. Jedes Jahr Verspätung erschwert die genaue und gründliche Ausführung solcher Aufgabe. Die Frage steht gerade so, wie bei kritischer Beurtheilung eines alten Bildes. Jeder Pinselstrich wird da erwogen und jede Retouche, und gar mühsam wird nach Jahrhunderten die Hand des Meisters festgestellt, wo kein Freund mehr Aufschluß geben kann und selbst die Archive schweigen. Hoffen wir, daß Herr Hasenauer, was er bisher versäumt, nachholen wird und uns mit einem Memoirenbuche über Gottfried Semper erfreut. Die Wiener Monumentalbauten, mit welchen Gottfried Semper’s Name monumental verknüpft ist, finden in einer großartigen Publikation künstlerisch vollendete Darstellung, in dem Werke „ W i e n e r M o n u m e n t a l b a u t e n “ , welches im Verlage von L e h m a n n u n d W e n t z e l i n W i e n zu erscheinen beginnt.3 Respekt vor der Unternehmungskraft dieser rühmlichst bekannten, ausgezeichneten Firma! Das will etwas heißen, bei u n s ein Werk zu entriren, das große Kosten erheischt und ein großes Risiko – leider! – in sich trägt. Die Franzosen, ja die Franzosen, aber wir, hier in Wien, in Öster­

einzelne Punkte diktirte, diese falsche Vermuthung geschöpft habe; oder daß er von einer Biographie gehört habe, die herauskommen solle, daß diese aber erst aus d. einzelnen Papieren zusammengestellt werden müsse u keine fertigen Memoiren des Verstorbenen sei. – Zum Schluß erklärte ich ihm, daß solche Äußerungen der Familie nicht angenehm sein könnten, da Fernerstehende diese verantwortlich machen würden. – Seinen Antwortsbrief lege ich mit der Bitte um Rücksendung ebenfalls bei.“ Siehe Semper, Hans: Brief an Manfred Semper, 9. Januar 1884, Archiv des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (gta), ETH Zürich, 21-K–1884-01-09. Der erwähnte Antwortsbrief befindet sich weder im Zürcher Semper-Archiv noch im Wiener Sitte-Nachlass-Archiv. Ich danke Dieter Weidmann, Zürich, für den Hinweis auf diese Quelle.] 3

[Die Reihe Wiener Monumentalbauten erschien als Serie B des Überblickswerks Wiener Neubauten ab 1881 im Verlag Lehmann. Herausgegeben wurden bis 1885: Der Justizpalast von A. von Wielemans. Wien: Lehmann & Wentzel 1881; Das Hofopernhaus von van der Nüll und von Sicardsburg. Wien: Lehmann & Wentzel 1881 sowie einige Jahre später nochmals: Auer, Hans: Das k.k. Hof-Opernhaus in Wien von van der Nüll und von Siccardsburg. Wien: Lehmann & Wentzel 1885.]  Der neue Wiener Styl (1881)

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reich! In Frankreich finden solche Werke Subvention von Seite der Regierung, die Geburts- und Geldaristokratie unterstützen es durch Subskription, auch wenn die Herrschaften keinerlei Verständniß für das architektonische Detail besitzen – bei uns? Was geschieht bei uns? Also muß man mit der intensivsten und herzlichsten Theilnahme ein solches Unternehmen begleiten und es allen kunstliebenden, kunstfördernden Kreisen ans Herz legen, nicht allein den technischen. Die Firma hat ihren Muth bereits einmal erwiesen durch die Ausgabe der „Wiener Privatbauten“ (zwei Bände), welche die erste Serie des großen Werkes „Wiener Neubauten“ bildet,4 indeß, der Entwicklung der Baubewegung in Wien logisch folgend, die Monumentalbauten die zweite Serie bilden. Das Opus ist der modernen Wiener Architekturthätigkeit würdig; gerade so wie keine andere moderne Stadt in so kurzer Zeit so viele herrliche Monumentalgebäude und dazu beinahe gleichzeitig ausgeführt hat, ebenso hat keine moderne Stadt eine ähnlich meisterhafte Darstellung dieser Baubewegung. In welch’ glänzender Weise diese Darstellung besorgt wird, erweist allein schon die Angabe, daß der erste Band – im Ganzen werden es vier Bände werden – zwanzig Lieferungen zu je sechs Blatt enthält, also hundertzwanzig Kupfertafeln des größten Formates, darunter viele Doppelblätter, jedes Jahr erscheinen sechs Lieferungen (zum Subskriptionspreise von sechs Gulden), so daß im Jahre 1883 der erste Band fertig gestellt sein wird. Derselbe bringt achtzig Tafeln vom Opernhaus und vierzig vom Justizpalais, diesem enfant chéri der Wiener. Die Ausführung der Stiche ist den vortrefflichsten Künstlerhänden anvertraut: E. Obermaier, H. Bültemeyer und Hrachowina, Meister des architektonischen Stiches. Gedruckt wird das Werk in der Kunstdruckerei Fr. Kargl. Das erste Heft erzeugt allein schon herzlichste Freude in dem Beschauer, vom Zierbau Wielemans’ „im Fortissimo der deutschen Renaissance komponirt“ finden wir neben dem Opernhause einige herrlich ausgeführte Blätter. Ein zweites architektonisches Sammelwerk versendet gleichfalls seine erste Lieferung: „ D i e B a r o c k b a u t e n W i e n s “ (Verlag der ­artistischen Anstalt von M . J a f f é in Wien).5 Herausgeber ist unser ausgezeichneter 4

[Lützow, Carl von/Tischler, Ludwig (Hg.): Wiener Neubauten. Serie A: Privatbauten. Unter Mitwirkung der Architekten H. von Ferstel, E. und H. von Förster, Th. von Hansen, Baron K. von Hasenauer, J. von Romano, F. Schmidt, A. von Schwendenwein, G. Semper … Gestochen unter Leitung von Ed. Obermayer. Wien: Lehmann & Wentzel 1876 (Bd. 1), 1880 (Bd. 2).] 

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[Neumann, Franz jun. (Hg.): Die Barockbauten Wiens. Eine Sammlung der hervorragendsten Profan- und Kirchenbauten aus dem XVII. und XVIII. Jahrhundert. Wien: Artistische Anstalt M. Jaffé, 1880–[1881].]

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und feingebildeter Architekt F r a n z N e u m a n n jun., der Erbauer der prächtigen Arkadenhäuser am Rathhausplatz. Der Herausgeber geht von dem Standpunkte aus, eine Lücke in den architektonischen Publikationen zu füllen, welche um so befremdlicher ist, als unsere modernen Architekturbestrebungen auf dem vergleichenden Studium mustergiltiger Vorbilder aus früheren Bauperioden beruhen. Die Wiener Barockbauten sind dadurch bemerkenswerth, daß sie unter dem Einfluß italienischer Kunst jener Zeit entstanden sind, der Zeit eines Leopold des Ersten am Ende des siebenzehnten und zum Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, der Zeit eines Fischer von Erlach, des Erbauers von Schönbrunn, der Karlskirche und anderer Bauzierden von Wien. Lucas von Hildebrand baute das Belvedere, Fischer von Erlach, der Jüngere, und Dominik Martinelli gingen auf dem eingeschlagenen Wege weiter. Der Herausgeber sieht bei der Auswahl der Objekte vor Allem darauf, daß die verschiedenen Nuancirungen, welche die stylistische Tendenz seinerzeit erfahren, genügend durch entsprechende Vorbilder zum Ausdruck kommen. Soviel es durch photographische Aufnahme zulässig ist, werden auch Hofanlagen, sowie Vestibuls und Stiegenhäuser den Publikationen eingefügt. Die erste Lieferung enthält in vorzüglicher Ausführung das sogenannte ungarische Ministerium, das Unterrichtsministerium am Minoritenplatz, das Palais des Fürsten Kinsky, das Rathhaus in der Wipplingerstraße, das Hotel Munsch, endlich das Palais der Geymüller’schen Erben in der Wallnerstraße. Das Werk wird in zirka achtzehn Lieferungen erscheinen zu je sechs Blatt. (Subskriptionspreis pro Lieferung drei Gulden.) Unmöglich kann man aber von Wiener kunstwissenschaftlichen Publikatio­ nen sprechen, ohne an die anhaltend wichtige Publikation zu denken, das publizistische Organ vornehmlich der österreichischen Kunstgeschichte, die „ A l l g e m e i n e B a u z e i t u n g “ , welche jetzt in ihrem sechsundvierzigsten Jahrgang steht, in strotzender Lebenskraft, ausgezeichnet geleitet und ausgezeichnet publizirt.6 A u g u s t K ö c h l i n redigirt sie unter Mitwirkung der Architekten Heinrich v. Ferstel, Emil v. Förster, Hansen und Schmidt; R. v. W a l d h e i m ist der kunstsinnige Verleger. Das mir vorliegende Doppelheft enthält fünfzehn Tafeln (sechs darunter betreffen die neue Wiener Sternwarte) und im Texte eine Anzahl inhaltreichster Aufsätze, so vor Allem die

6

[Allgemeine Bauzeitung. Österreichische Vierteljahresschrift für den öffentlichen Baudienst. Gegründet von Christian Friedrich Ludwig Förster. Hg. von den K.k. Ministerien für öffentliche Arbeiten, der Finanzen, des Handels, der Eisenbahnen und des Ackerbaues. Wien: Waldheim-Eberle 1836–1918.]  Der neue Wiener Styl (1881)

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geistvolle Studie von Rudolf Redtenbacher, „Die Baukunst der Vergangenheit und ihre Stellung zu derjenigen der Gegenwart“.7 Beschäftigen sich die vorher besprochenen großen Publikationen mit der Architektur, so verschaffen uns zwei andere das Vergnügen, plastischen Schmuck von Monumentalgebäuden reproduzirt zu sehen, und zwar den der Museen. Diese willkommene Detailschriften sind: „ S t a t u a r i s c h e r S c h m u c k d e r F a ç a d e n d e s k . k . k u n s t h i s t o r i s c h e n M u s e u m s i n W i e n “ . Verlag von V. A . H e c k , Photographie und Lichtdruck von I . L ö w y .8 Die erste Lieferung enthält die Statuen „Architektur und Kunstgewerbe“ von Kundmann, Alexander und Augustus von Tautenhayn, Pallas Athene von Benk (Kuppel), Victorien und Amor und Psyche von demselben. Das zweite, gleichfalls im Verlage von V. A. Heck erscheinende Photographienwerk ist bereits zur vierten Lieferung gediehen. Es sind dies die „Zwickelfiguren an dem kunsthistorischen Hofmuseum“, ausgeführt von dem Bildhauer Rudolf W e y r.9 Mit einer Einleitung von Albert Ilg. Auf dem zuerst angeführten Werke stehen die Worte: „Erbaut von Karl Fr. von Hasenauer“. Uns scheint dies eine unvollkommene Angabe zu sein. Es gehörte sich, da einmal Herr von Hasenauer auf dem Titelblatte genannt wird, ohne daß es gerade nöthig ist, denn es ist ja ein dem plastischen Schmucke gewidmetes Werk, daß auch der Name Gottfried Semper darauf stünde, oder gar keiner. Semper braucht keine Reklame, wird man einwenden, ganz richtig. Aber es gibt doch eine ganze Menge guter Leute, welche schlechtes Gedächtniß haben oder schlecht informirt sind, für diese muß der Name denn doch mit der entsprechenden Leuchtfarbe aufgetragen werden. Erinnert wird ja der Wiener jetzt immer und immer an Semper, ob er über die Ringstraße wandelt oder ob er Wien aus der Ferne betrachtet. Er wie der Fremdling wird durch die hochragenden Pantheon-Kuppeln der Museen von Weitem schon aufmerksam gemacht. Es wäre auch ganz hübsch, wollte man das Andenken an Semper von Seiten der Stadt durch Benennung einer neuen großen Straße oder, noch besser, eines Platzes ehren. Als Semper vor nun mehr denn zwei Jahren zu Rom im Schatten der Pyramide des Cestius in fremde, wenn auch geliebte Erde gesenkt wurde, da schlugen Freunde des großen Todten vor, 7

[Redtenbacher, Rudolph: „Die Baukunst der Vergangenheit und ihre Stellung zu derjeni-

8

[Kunsthistorisches Hofmuseum (Hg.): Statuarischer Schmuck der Façaden des K.K. Kunst-

9

[Weyr, Rudolf: Zwickelfiguren auf dem K.K. Kunsthistorischen Hof-Museum in Wien. Aus-

gen der Gegenwart“, in: Allgemeine Bauzeitung, Jg. 46 (1881), S. 1–4, 17–20.] historischen Hof-Museums in Wien. Erbaut von Carl von Hasenauer. Wien: Löwy 1881.]  geführt vom Bildhauer Rudolf Weyr. Wien: Heck 1880.]

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man möge auf die Tafel ob der Gruft die Worte setzen: „Semper Semper“. Der Vorschlag wurde abgelehnt; so schön der Gedanke ist, sein Ausdruck hat doch etwas vom Wortspiel an sich. Wir, die wir ihn lieben als Todten, wie wir ihn im Leben geliebt, wir, die wir den Namen des großen Meisters in den Blättern der Kunstgeschichte mit unauslöschlichen Lettern eingetragen wissen, wir, die wir eifersüchtig darüber zu wachen haben, daß sein Ruhm nicht geschmälert wird, wir kehren uns an das Wortspiel nicht, wir sagen doch: Semper Semper!

Der neue Wiener Styl (1881)

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Über Akustik in Theatern und Concertsälen (1883) Sonderdruck, Salzburg 1883 (Erstveröffentlichung in Mitteilungen des technischen Clubs in Salzburg, Neue Folge (1883), S. 1–5). Sign. SN: 197–477.

Über Akustik grosser Räume gibt es noch keine irgend festgestellten sichern Regeln. Alles ist noch dem glücklichen Instinkt, nicht dem Wissen des Architekten anheimgestellt und ein günstiges Resultat gilt als glücklicher, erfreulicher Zufall. Ein Raum ist schlecht akustisch, wenn man an vielen Plätzen desselben gar nicht oder nur dumpf, matt hört, ferner wenn er Echo hat, oder wenn er, wie man sagt, schmettert, wenn jeder Ton in ihm rauh klingt. Das matt oder gar nicht Hören kommt daher, wenn zu wenige, oder zu wenig starke Schallstrahlen in das Ohr gelangen. Das Schmettern ist nur eine Abart des Echo, welches dann entsteht, wenn der Raum mehrere Echos besitzt, die so schnell aufeinander folgen, dass sie sich fast decken. Dann ist das Ohr nicht im Stande jedes einzelne Echo als solches deutlich zu unterscheiden, sondern empfindet das Ganze als eine dem Tone anhaftende Rauhigkeit. Nun kommt es darauf an, zunächst zu untersuchen, von welcher Beschaffenheit ein grosser Raum sein muss, damit er mit diesen Übelständen nicht behaftet ist. Es liegen zwei solche Übelstände vor, der des Tonverzehrens und der des Echos; diese müssen, da sie unter sich nichts gemein haben, getrennt von einander betrachtet werden. Zunächst also das, was sich auf die Verzehrung eines Tones in einem Raume bezieht. Nimmt man die Stimme eines Sängers als Schallquelle an, und befindet sich dieser z.B. in der Mitte der Bühnenöffnung eines Theaters, geradeaus gegen das Auditorium singend, so lautet die Aufgabe: Welche Einrichtungen muss man vermeiden, damit die Hörbarkeit der Stimme nicht im Ganzen oder an einzelnen Örtern des Gesammtraumes vermindert wird? Um die Antwort auf diese und viele ähnliche Fragen zu erlangen, greifen wir zu demjenigen theoretischen Hilfsmittel, das zuerst in grossem Massstabe bei Construktion des Concertsaales der Pariser Weltausstellung 1878 im Palast des Trocadero mit ausgezeichnetem Erfolge Anwendung fand; es ist dies die physiologische Vergleichung zwischen der Thätigkeit des Auges und des Ohres und die Herzuziehung optischer Gesetze. Das Wesentliche dieser Theo­ rie ist aber das Folgende.

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Der Unterschied zwischen der Welt des Lichtes und des Schalles liegt nicht in einer principiellen Verschiedenheit zwischen dem, was der Physiker unter Licht und Schall versteht, sondern in unsern ganz verschieden gebauten Sinneswerkzeugen. Licht und Schall sind beide Schwingungen kleinster MaterieTheilchen (Luft, Äther), die einen raschere, die andern langsamere. Sie sind ihrer Natur nach im Wesentlichen ein und dasselbe, wie verschieden auch das ist, was Aug und Ohr mittelst dieser unscheinbaren Schwingungen wahrnehmen. Das Auge sammelt alle Lichtstrahlen, die von einem Punkte des Raumes ausgehen wieder auf einen Punkt der empfindenden Netzhaut, und so sind wir im Stande den uns umgebenden Raum zunächst als hell oder dunkel, und nachher in seiner Ausdehnung nach Länge, Breite und Höhe vor uns wahrzunehmen, als ob wir ihn aus der Ferne betasteten, aber statt mit Händen mittelst Lichtstrahlen. Ganz anders verfährt das Ohr mit seinen Schallwellen. Es untersucht nicht, wie das Auge, woher der Schallstrahl kommt, sondern welcher Art er ist. Im Ohr finden alle Schallstrahlen von allen Richtungen her Zutritt; es zerlegt jede Thonmasse in ihre einfachen elementaren Bestand­ theile, und hat uns längst über die Natur des Schalles unterrichtet, bevor es die Richtung, aus welcher derselbe gekommen, auch nur annähernd ermittelt. Aug und Ohr sind zwei Instrumente der Seele, Jedes aber zu einer andern Verrichtung tauglich. Die Ursache dieser grossen Verschiedenheit ist aber nicht abhängig von der Beschaffenheit der Licht – oder S c h a l l w e l l e n . Anatomisch und physikalisch könnte es auch umgekehrt sein, so zwar, dass wir mit Hilfe der Schallwellen den uns umgebenden Raum erkennen könnten, und andererseits wieder mit Hilfe der Lichtstrahlen die innere Natur der Lichtquelle zu erkennen vermöchten. In schwacher Weise ist dies auch der Fall. Es lässt sich ein wenig beurtheilen w o h e r ein Schall kommt, jedoch nicht detaillirt genug, um mit Hilfe des an den Wänden eines uns umgebenden Raumes reflectirten Schalles diesen Raum selbst wahrzunehmen. Auch das Auge besitzt die Fähigkeit des Ohres e i n w e n i g ; es ist diess die Unterscheidung der F a r b e . Gerade so wie die Unterscheidung der Höhe des Tones nichts anderes ist, als die Wahrnehmung der schnelleren oder langsameren Schwingung der verschiedenen Schallstrahlen; so ist die Farbempfindung dasselbe in Beziehung auf den Lichtstrahl. Aber welcher Unterschied in der Leistungsfähigkeit beider Organe! Wenn das Auge eine Farbe sieht, vermag es nicht zu unterscheiden ob es eine reine oder eine auf hunderterlei Art gemischte Farbe ist. Für das Ohr hingegen Über Akustik in Theatern und Concertsälen (1883)

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gibt es keine Tongemische in dem Sinne wie es Mischfarben gibt, denn das Ohr vermag alles wieder zu sondern, gleichsam zu seciren und erkennt selbst mitten im Gewirre eines Tanzsaales z.B. wo tausende von Schallwellen der verschiedensten Art den Raum durchziehen, den Ton eines einzelnen Musikinstrumentes, die Stimme einer bekannten Person, das Rauschen der Gewänder, ja selbst der einzelnen Stoffgattungen, alles nach seiner innewohnenden Art. Es ist auch nicht zu verwundern, dass das Auge in dieser Hinsicht vom Ohre übertroffen wird, denn es ist nur ein Nebengeschäft des Auges die A r t des Lichtes zu erkennen. Hauptsache ist ihm wahrzunehmen, woher das Licht kommt. Hierin überbietet es wieder umgekehrt die Leistungsfähigkeit des Ohres um ein Gleiches. Aug und Ohr haben daher dieselben Fähigkeiten, nur in sehr ungleich starker Ausbildung. Das Auge vermag zu unterscheiden w o h e r ein Lichtstrahl kommt (sehr genau) und w e l c h e r A r t er ist (nur beiläufig); das Ohr vermag zu unterscheiden w o h e r ein Ton kommt (nur beiläufig) und w e l c h e r A r t er ist (sehr genau). Die Fähigkeit welche bei dem Einen hoch entwickelt ist, zeigt sich bei dem Andern dafür gerade wenig entwickelt, und umgekehrt. In dieser Einrichtung lässt sich auf den ersten Blick eine fein durchgebildete Arbeitstheilung erkennen, warum aber die Anordnung nicht gerade in umgekehrter Weise vorkommt, hat, wie gesagt, s e i n e n G r u n d n i c h t i n der Beschaffenheit der Schall – und Lichtstrahlen; und diess ist wichtig hier nachzuweisen, weil hiemit zugleich auch die Berechtigung erwiesen wird, optische Gesetze im Gebiete der Akustik in Verwendung zu bringen. Die Unterschiede zwischen der Akustik und der Optik kommen lediglich nur daher, weil in einer Theorie der Optik nichts enthalten sein kann, was sich nicht s e h e n lässt, und in einer Theorie der Akustik nur davon die Rede sein kann, was man zu h ö r e n vermag. Z. B. die Gesetze der Brechung des Lichtes sind uns sehr weitläufig bekannt, weil wir mittelst des Auges im Stande sind, den Weg jedes einzelnen Lichtstrahles genau zu verfolgen. Über die Gesetze der Brechung des Schalles wird nirgends viel berichtet, weil wir den Weg des Schallstrahles mit dem Ohre nur in höchst unvollkommener Weise verfolgen können. Die Grenzen der Akustik und Optik liegen eben f ü r u n s innerhalb der von der Natur gesetzten Schranken zwischen der Leistungsfähigkeit des Auges und Ohres. Nun wissen wir aber unzweifelhaft, dass für Schall und Licht dieselben Grundgesetze der Brechung gelten, aus dem Echo, der Flüsterhöhle, dem Sprachrohr,

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und endlich aus der Wellentheorie selbst. Gestützt auf diese Betrachtungen kann man es versuchen, die schön ausgebildeten Theorien von der Brechung des Lichtes, der Perspective und Schattenconstruction auf akustische Untersuchungen anzuwenden, und hieraus mit Vorsicht Nutzen zu ziehen. Denkt man sich statt des Sängers in der Gegend des Souffleurkastens eines Theaters eine Lichtquelle, z. B. eine starke Gasflamme aufgestellt, so kann man sagen: w e n n j e t z t d e r g a n z e Z u s c h a u e r r a u m s c h ö n und gleichmässig hell beleuchtet ist, dann ist er auch gut akustisch. Sind in dem so erhellten Raume Vorsprünge und Vertiefungen vorhanden, wie z. B. die üblichen Logen in unseren Theatern, so gibt es für das Auge beleuchtete Flächen, dann aber auch solche im Schlagschatten und im Selbstschatten. Das Auge erkennt durch diese Schattirungen eben die Formation des Raumes. Nehmen wir nun statt der Gasflamme wieder eine Schallquelle an derselben Stelle an, so würden die Schallwellen denselben Weg nehmen, den die Lichtwellen genommen haben, und wenn wir ein Auge dafür hätten, so würde dieses mit Hilfe von Schall den uns umgebenden Raum ebenfalls sehen können, denn es gibt auch jetzt Flächen, wo der Schall direkt auffällt und in Masse reflektirt wird (die früher voll beleuchteten Flächen), dann solche Stellen, welche gar nicht von Schallwellen getroffen werden (früher Schlagschatten), und endlich solche, welche nur von reflektirten, bereits geschwächten Schallwellen getroffen werden (früher Selbstschatten). Nun empfindet aber das Ohr das alles nicht; sondern es nimmt die G e s a m t m a s s e des zu ihm gelangenden Tones auf, und verarbeitet denselben dann nach seiner Weise. Diese Gesamtmasse besteht aus dem in direkter Richtung unmittelbar von der Schallquelle zum Ohre des Zuhörers gelangenden Schallstrahlen, und ferner noch aus der Summe sämmtlicher von den Wänden und von der Decke her reflektirten Strahlen. Dass diese letztere Summe neben dem allerdings an sich stärksten direkten Schallstrahl nicht zu vernachlässigen ist, zeigt die oft beträchtliche Stärke eines Echo. Nun sind wir der ersten Anforderung an die Akustik eines grossen Raumes bereits hart am Leibe. Es handelt sich einfach darum, die besprochene Summe aller reflectirten Strahlen auf ein Maximum zu bringen. Diese Summe wird, für was immer für einen Punkt des Auditoriums, w e n n m a n v o n ihm aus möglichst wenig Flächen sieht, welche sich im Selbstschatten oder im Schlagschatten befinden. Hierüber lässt sich eine sichere Construktion leicht ausführen, und die akustisch empfehlenswertheste Form eines Zuschauerraumes leicht finden. Über Akustik in Theatern und Concertsälen (1883)

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Der einzig von der Bühne aus am besten und gleichmässig hell erleuchtete Raum, wird auch den meisten Schall zu Gehör bringen, den Schall am wenigsten absorbiren. Ein Übelstand aller unserer Theater sind somit die Logen und Gallerien von was immer für Construktion, und zwar sind hierin die Fussböden derselben weniger noch schädlich, als die senkrechten Theilwände der Logen. Dass diese Theilwände z. B. im alten Dresdener Hoftheater von vorne her so stark ausgeschnitten waren, ist unter anderem eine der auch akustisch vortrefflichen Anordnungen Sempers gewesen; denn diese senkrechten Wände würden, von der Bühne her beleuchtet, den meisten Schatten erzeugen, und zwischen sich die Licht- oder auch Schallstrahlen gleichsam selbst verschlingen. Wollte man daher eigens einen Schallverzehrungs-Apparat in einem Auditorium anbringen, so könnte man nichts wirkungsvolleres machen, als solche Wände möglichst stark vorspringend und coulissenartig angeordnet aufstellen. Für diese, auf theoretischem Wege gefundene Annahme, lässt sich eine Bestätigung aus der Praxis des bisherigen Theaterbaues beiziehen. Denkt man sich einen Sänger an der Stelle des jetzt üblichen Souffleurkastens, und ihm gegenüber im rückwärtigen Theil des Parterres einen Zuhörer, so befinden sich diese (bei einem grossen Theater) beiläufig in einer gegenseitigen Entfernung von circa 20 Meter. Der Zuhörer wird hiebei die Stimme des Sängers mit einer gewissen Deutlichkeit wahrnehmen. Lässt man nun Beide die gleiche gegenseitige Entfernung beibehalten, den Zuhörer aber in der ersten Sitzreihe des Parterres seinen Platz einnehmen, während nun der Sänger sich im Hintergrund der Bühne befindet, so wird in diesem Falle die Stimme des Sängers weniger stark und deutlich gehört werden, obwohl die Distanz die gleiche geblieben ist. Jeder Sänger und Theaterbesucher weis diess, und man pflegt zu sagen: der Ton habe sich zwischen den Coulissen, Soffiten und im Schnürboden verschlagen, d. h. es gelangen aus den Coulissen keine reflectirten Schallstrahlen zum Ohre des Hörenden. Hiermit wäre die eine Frage nach der Stärke des Tones erledigt, und es erübrigt die zweite, das Echo und das Schmettern betreffend, zu lösen. Auch hier hilft die Optik der Akustik aus. Ein Echo ist nämlich für das Ohr dasselbe, was für das Auge ein Spiegelbild. Ein Spiegelbild für das Auge kann nur zu Stande kommen, wenn die spiegelnde Fläche für die sehr feinen Lichtwellen hinlänglich glatt ist, um sie nicht nach allen Seiten regellos auseinander zu trennen. Ebenso kann ein Echo nur dann stattfinden, wenn die reflectirende Fläche für die Schallwellen im Ganzen eine Art Wand von nahezu gleicher Entfernung aller Theile vom Hörer darstellt, wozu noch die zweite

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Bedingung kommt, dass zwischen dem Hören des ursprünglichen Tones und des Echos eine gewisse Zeit verstreicht. In einem ganz kleinen Raume ist daher ein Echo gar nicht möglich, in einem grösseren ist höchstens ein Schmettern, und in einem entsprechend noch grösseren endlich erst ein wahres Echo möglich. M ö g l i c h , aber nicht unumgänglich nothwendige Folge der Grösse eines Raumes, denn wenn alle reflektirenden Flächen desselben von solcher Rauhigkeit sind, dass der Schall stets nach allen Richtungen zerstreut wird, so ist ein Echo in keiner Weise denkbar. Diese Rauhigkeit der Flächen ist für den Schall in weit grösserem Massstabe nothwendig, als für die ungleich kürzeren (rascheren) Lichtwellen, und ist bereits nichts anderes als eine wahre Plastik; denn diese Rauhigkeiten müssen für den Schall Dimensionen von 1/3 bis 1 Meter und darüber haben. Die in Theatern und Concertsälen an Wänden und Decken anzubringende Plastik ist daher nicht nur architektonischer Schmuck, sondern gehört ganz eigentlich mit zum akustischen Apparat. Alle Concertsäle, denen diese Plastik mangelt, leiden an diesem Übel besonders; den viereckigen ist die Eigenschaft des Schmetterns erfahrungsgemäss meistens anhaftend. Die Regeln, welche aus dieser allgemeinen Betrachtung fliessen, sind einfach, und wird für jeden, der in Perspektive und Schattenconstruktion hinlänglich bewandert, eine kurze Überlegung genügen, die wichtigsten Anforderungen in jedem einzelnen Falle zu finden. Bei schwierigen Fällen ist es jedoch auch möglich an einem kleinen Modelle förmlich eine der Ausführung vorhergehende akustische Probe anzustellen, indem man, statt der Schallquellen, Lichtquellen verwendet. Dass dieses Verfahren, wie schon eingangs erwähnt, beim Baue des ungewöhnlich grossen Concertsaales vom Trocadero sich bewährte, ist der praktische Beweis für die Richtigkeit dieses theoretischen Calcules, und erhebt diesen zu einem schätzenswerthen Beitrag zur praktischen Akustik.

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Eine Handschrift Gottfried Semper’s. Ein Beitrag zur Baugeschichte Wiens (1885) Neues Wiener Tagblatt, 9./10. Januar 1885. Sign. SN: 159–421 u. 422. Verfasst unter dem Pseudonym „V[ictor] K[arl] Schembera“.

Unsere Zeit ist reich an einem schier unüberzählbaren Heer von Künstlern: Malern, Bildhauern, Architekten, Künstlern aller Art, großen und kleinen und in allen Stylarten, aber merkwürdig arm an großen Kunstwerken, an Kunstwerken, die etwas bedeuten, von denen sich reden ließe wie von ­Werken der alten Meister, als Bereicherungen des künstlerischen Könnens überhaupt. Wenn man so die zahllosen Baulichkeiten, die allenthalben in den letzten Dezennien entstanden sind, mustert und sich bei jedem einzelnen Stücke denkt, ob es in hundert Jahren auch noch merkwürdig sein wird, ob damit etwas Neues geschaffen worden, das eine Lücke ausfüllte und für den Fortschritt in der Kunstgeschichte unentbehrlich ist, dann wird einem trübe zu Muthe, ein Stück nach dem andern wandert zur Seite; Abklatsch und Nachahmung, recht gute Schulwaare, vortrefflich gemacht, sauber durchstudirt, aber nicht s o beschaffen, daß es unentbehrlich zum Verständniß der Kunstentwicklung. So schlimm es mit den Werken steht, so steht es auch mit den Meistern. Wird der Stempel wahrer Kunst verlangt, dann bleiben nur wenige Auserwählte zurück. Unter den Wenigen Einer der größten des Jahrhunderts, G o t t f r i e d S e m p e r, der leidenschaftliche Meister, der wenig Verstandene, aber Vielgequälte, der nun friedlich ausruht von des Lebens Kämpfen unter den dunklen Zypressen nächst der Pyramide des Cestius zu Rom. So wie man bei nichtigen Alltagsgrößen erst recht deutlich wahrnimmt, daß man es mit leerem Scheine zu thun habe, wenn man sich dieselben wegdenkt aus der Geschichte und wahrnimmt, daß man dann nichts zu missen hätte, daß dann die Welt ganz ebenso wäre, so kann man durch denselben Kunstgriff erst recht ermessen, was Gottfried Semper gewesen. Denken wir uns sein gesammtes Schaffen weg, so klafft augenblicklich die Lücke. Eine ganze Reihe von Architekturen, Büchern, Vorlesungen und Rezensionen, ja eine ganze Schule der Ästhetik, von der thatsächlich die meisten Lehrkanzeln leben, darunter bekannte angesehene Namen, sind mit Einem Schlage nicht mehr denkbar, wenn Gottfried Semper’s ureigenste geistige Arbeit als ihre Basis ihnen unter den Füßen weggezogen würde. Bezeichnend ist dabei nur das Eine, daß noch keiner dieser Spezialisten des Reißbrettes oder der ästhetischen Phrase es für angezeigt hielt, es offen und laut kund zu thun,

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daß er Alles und Jedes von diesem Meister entlehnt habe. Schaden bringt das aber nicht sonderlich, denn die Nachwelt wird hier entscheidend sein und es sicher ehrlicher meinen mit dem Geschiedenen, als es die Mitwelt mit dem Lebenden hielt. Durch die zeitliche Entfernung wird der Blick für das Typische, für das Individuelle merkwürdig geschärft, und Gottfried Semper ist eine Individualität ausgeprägtester Art. Dem Schreiber dieses ist es zufällig zweimal passirt, daß er vor Bauwerken Gottfried Semper’s stand, ohne deren Herkunft zu kennen. Die ganze Art derselben drängte mit zwingender Gewalt zur Betrachtung und endlich zu dem Ausrufe: „Das m u ß Semper gemacht haben!“ Bei alldem wäre es weit verfehlt, den Meister als Architekten im landläufigen Sinne des Wortes anzusehen, das heißt, als ein Individuum, das nur am Reißbrett zu liegen versteht und nur bauen kann ganz im Sinne der lieben modernen Arbeitstheilung. In diesem Sinne war Gottfried Semper, der erste Architekt unseres Jahrhunderts, nicht einmal Architekt. In seiner Jugend wußte er wahrscheinlich selbst nicht was er sei. Bald fand er sich als Hafenbau-Ingenieur, bald als Astronom und Mathematiker, bald gänzlich in historische Studien vertieft oder auf Reisen im Süden verschollen. Hierauf Direktor der königlichen Bauschule zu Dresden, dann als Politiker verbannt und jahrelang mit theoretischen Studien beschäftigt, könnte er ebenso als Schriftsteller, Historiker, Gelehrter, angesprochen werden; Reise-Feuilletons, kleine Aufsätze, Broschüren, Vorträge gibt es genug von ihm. Gerade darum aber, daß er nicht unter dem Fluche moderner Einseitigkeit zunftmäßig nur ein einziges Handwerksgeräth führt, daß er vielmehr nach Allem greift, in Allem aber sein eigenes Ich sucht und findet, gerade das stempelt ihn zu dem, was in der modernen Künstlerwelt so erschreckend selten geworden ist: zu einer Individualität. D a s ist seine Größe und das stellt ihn auch gleich den großen alten Meistern in die Reihe derjenigen Männer, welche Kunstgeschichte g e m a c h t haben. So erkennen wir Gottfried Semper deutlich vor uns in seiner Gänze und in jedem einzelnen Werk, und es ist wahre Thorheit, uns weiß machen zu wollen, daß etwas, was nur dieser Genius von diesem ganz spezifischen Wollen und ganz eigenartigem Wissen, von diesem markanten Temperament und unzweifelhaft sicheren Fähigkeiten, das nur gerade dieser Genius schaffen konnte, etwa von einem Andern herrühre. Warum wird nun Gottfried Semper mit Recht der erste Baukünstler unseres Jahrhunderts genannt? Weil er selbst gegen den Genius unserer Zeit, der zu armseliger Spezialisirung drängt, das große Ganze der Kunst in Vergangenheit und Gegenwart suchte, weil er bei jedem seiner Werke nicht blos die Lösung eines speziellen Baues suchte, sondern in Allem sich die Frage Eine Handschrift Gottfried Semper’s. Ein Beitrag zur Baugeschichte Wiens (1885)

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vorlegte: Was ist Kunst? Was ist die Kunst unserer Zeit? So wurden alle seine Bauführungen und alle seine theoretischen Arbeiten ein einziges untrennbares Ganze; so wurde jedes Einzelne seiner Kunstwerke immer ein Versuch, diese allgemeinen Fragen in einem besonderen Beispiele zu lösen, seine sämmtlichen historischen und ästhetischen Arbeiten sind aber die Studien dazu. Nur Ein Beispiel: In seinem großartigen Werke über den Styl ist eine der herrlichsten Monographien die Studie über das Wesen des Quaderbaues, der Rustika. Die echte, kraftvolle Steinbauweise wird historisch zurückverfolgt bis zu den ältesten Denkmälern, dann eine Reihe von Fehlern und Verirrungen als solche scharf gefaßt und endlich das Wesentliche herausgeschält und klar gemacht. Als Beispiel fungirt neben dem Quaderwerk des Palazzo Pitti zu Florenz die eigene Lösung eines Quaderwerkes am Dresdner Museum. Aber auch das Züricher Museum, das alte und neue Dresdner Theater und seine Wiener Bauten könnten mustergiltige Beispiele dazu liefern. Gottfried Semper hat eben seine monumentale Anschauungsweise über dieses Thema zweimal kundgegeben, einmal in Wort und Schrift und das anderemal in Stein, durch die That. In der zweiten Form durchlief sein Schaffen schrittweise eine Reihe von Varianten in logischer Folge, wie sie am deutlichsten an seinen Theaterkonzeptionen hervortritt. Am ersten Dresdner Theater noch bescheidene Anwendung der Rustika, am neuen Baue dagegen ein kraftstrotzendes Überfluthen dieser Motive über den ganzen Bau. An seinem Wiener Burgtheater aber ist die Rustika einerseits an Kraft noch mehr gesteigert, andererseits aber zurückgedrängt auf das Untergeschoß und im Gleichgewichte erhalten durch die mächtigen, stark ausladenden Pilaster, welche das große Hauptgebälk tragen. Eine echt Semper’sche Idee! Das Ganze fügt sich geradezu dem Ideengange seines ganzen Lebens organisch an und zeigt den Meister auf der Höhe seiner Schaffenskraft, eine Höhe, von der aus er wohl mit berechtigtem Stolze jene kühnen Worte über die moderne Kunst aussprechen konnte, die ihm so vielfach übel genommen wurden. Sie seien hierher gesetzt: „Gedrängt von ihren Gläubigern hilft sich die halbbankerotte Architektur durchs Papier und bringt zweierlei Sorten in Umlauf, um sich wieder zu erholen; die erste Sorte sind die Durand’schen Assignaten (D. Précis des lecons d’architecture)1, die zweite Papiersorte, die der allgemeinen Ideennoth nicht minder zustatten kommt, ist das durchsichtige Ölpapier. Durch dieses Zaubermittel sind wir unumschränkte Meister über alte, mitt1

[Durand, Jean-Nicolas-Louis: Precis des Leçons d’Architecture données à l’Ecole Royale Polytechnique, 2 Bde. Paris: Firmin Didot 1802–1805.]

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lere und neue Zeit.“ Eine andere Stelle charakterisirt unsere moderne Plastik nur zu richtig also: „Auch sie geht schon lange auf den Markt, nicht um dort an das Volk zu reden, sondern um sich feil zu bieten. Wen ergreift nicht Trauer und Wehmuth bei Betretung jenes Marktes, der mit lieblichen nackten und verschleierten Sklavengestalten aus Marmor angefüllt ist. Sah man nicht deutlich, daß sie sich der Züge ihrer hohen Abkunft schämten? Und sie buhlten in ihrer Erniedrigung so verführerisch nach einem Käufer!“ Der Welt so unverblümt die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, ist indeß nicht zeitgemäß. Solchen Charakteren, die nicht bereit sind, in die allgemeine Verschwommenheit miteinzustimmen, weicht man heutzutage lieber aus. Und so kam es, daß in den Nachrufen an den dahingegangenen großen Meister recht rührend über seine „scharfkantigen Eigenthümlichkeiten“ geklagt wurde, über seinen kühnen Willen, „die Zeit nach seinen Ideen zwingen zu wollen“ und über seine Heftigkeit, die das Gewollte unruhig antizipirend, ebenso ein Temperamentsfehler, wie eine Kraftäußerung des Temperaments gewesen sei. So war man denn darüber einig, – in gewissen Kreisen – daß an allen Konflikten nur der Meister selbst die Schuld trage, mit seiner Unverträglichkeit und seiner „Reizbarkeit, wo sein starkes Streben durch die gegebenen Bedingungen nicht hindurch konnte“. Daß es eine edle, höhere Pflicht des Volkes ist, von den wenigen außerordentlichen Genien, welche seine geistige Größe ausmachten, sich auch eine außerordentliche Energie und Begeisterung für ihre Werke gefallen zu lassen, d a s ist natürlich zu viel verlangt! Welch‘ herrliche Aufgabe für einen Mann der Zukunft – wer schriebe sie heute? – die Biographie Gottfried Semper’s zu verfassen! Die Gegenwart hat die Aufgabe, alles Materiale zusammenzutragen, die Bausteine dazu zu schichten, das Wahre von dem Falschen zu scheiden. Bis dahin wird auch die Prachtausgabe der Zeichnungen und Entwürfe Gottfried Semper’s, die seine wackeren Söhne H a n s und M a n f r e d S e m p e r unternommen haben und die nach Erscheinen des ersten Heftes aus materiellen Gründen sistirt werden mußte, vollständig vorliegen. Einen höchst werthvollen Beitrag zur Vervollständigung des künstlerischen Bildes ihres Vaters lieferten die beiden Söhne mit der Sammlung der „K l e i n e n S c h r i f t e n v o n G o t t f r i e d S e m p e r “ (Verlag von W. S p e m a n n in S t u t t g a r t ), womit sie einem großen Bedürfnisse entsprechen, die zerstreuten Aufsätze des Meisters, die in Broschüren und Zeitschriften verzettelt waren, sowie seine überhaupt noch nicht publizirten Vorträge und Studien gesammelt vor sich zu haben. Gottfried Semper’s kolossale Vielseitigkeit tritt uns aus dem stattlichen, von der Verlagshandlung würdigst ausgestatteten Bande, lebhaft entgegen. Wir finEine Handschrift Gottfried Semper’s. Ein Beitrag zur Baugeschichte Wiens (1885)

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den den Stoff in vier Abtheilungen zerlegt: Kunstgewerbliches, Archäologie der Architektur, Urelemente der Architektur und Polychromie, Reisebriefe, Berichte und dergleichen. Vieles davon ist von Hans und Manfred Semper in der vorliegenden Sammlung ins Deutsche übertragen aus dem Englischen, Französischen und Italienischen, Notabene in einer der Ausdrucksweise des Verfassers aus dem deutschen Sprachgeiste wunderbar angepaßten Art, ohne daß die Eigenthümlichkeit der Originale irgendwie Schaden genommen hätte. So umfassend nun die Sammlung auch ist, so vermisse ich doch schmerzlich darin ein kunsthistorisch hochbedeutsames Gutachten Gottfried Semper’s, welches hohenorts seinerzeit von ihm abverlangt wurde. Darüber in einem zweiten Artikel das Nähere und viel Neues.2

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[Ende Teil 1. Die Umstände, unter denen Sitte dieses Gutachten veröffentlichte, erhellt ein Brief von Theodor Sickel, dem Ehemann von Gottfried Sempers jüngerer Tochter Anna. Darin ist sogar von einer Klagedrohung Karl von Hasenauers gegen Sitte alias Schembera die Rede: „Wenigstens durch [Bruno] Bucher u. Schembera wissen Sie, was die Verehrer des Verst. [d. h. Gottfried Sempers] seit langem von den Angehörigen und zumal von Ihnen erwarten. Daß bisher noch nichts zur Ehrenrettung Ihres Vaters geschehn ist, erfährt in Wien die übelste Deutung. Ich weiß nur vom Hörensagen was Sie zur Rechtfertigung Ihres absoluten Schweigens anführen und enthalte mich deshalb des Versuchs der Widerlegung. Aber zu begreifen vermögen wir es allerdings nicht, daß Sie den wiederholten Aufforderungen gar keine Folge geben, und so oft in Wien dieser Streit um das geistige Eigenthum wieder in grösserm oder kleinerm Kreise zur Sprache kommt, empfinden wir es schmerzlich, daß der Ruhm des Verst. von Hasenauer so geschmälert wird und daß seine Clique grade Ihr Schweigen als Beweis für die Wahrheit ihrer Behauptungen geltend macht. Die Schwierigkeiten den Kampf aufzunehmen und mit Erfolg durchzuführen sind gar nicht so groß. Wie wenig Hasenauer (nebenbei gesagt, ist er jüngst auch zum Professor der Architektur an der Kunst-Akademie ernannt worden) sich sicher fühlt, mögen Sie folgendem entnehmen. Die ganz formelle Drohung H’s gegen Schembera auf Ehrenbeleidigung zu klagen, wenn dieser nicht seine Angaben über die Autorschaft der Baupläne widerrufe, diese Drohung hat H. sich gehütet zu verwirklichen, als Sch. den Beweis der Wahrheit anzutreten erklärte. Und was H. sicher wusste, Sch. verfügt doch nur über sehr dürftiges Material. Erst vor wenigen Tagen ist mir angekündigt worden daß eine [sic!] neuer Angriff gegen H. in einer Wiener Zeitung bevorsteht, um H. doch zu einer Klage zu zwingen. Kommt es einmal zu gerichtlicher Verhandlung, so stell ich um die Ehre des Verst. zu retten das in meinen Händen befindliche Material zur Verfügung – es besteht freilich nur in Abschriften, so daß ich nicht umhin kann auf die in Ihren Händen befindlichen Originale hinzuweisen. Es steht ganz bei Ihnen den Dingen eine andere u. bessere Wendung zu geben.“ Siehe Sickel, Theodor: Brief an Manfred Semper, 23. August 1884, Archiv des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (gta), ETH Zürich, Schublade „20 (Ungeordnetes)“, Mappe „Sickel Theodor Briefe: 1875“, 21-K–1884-08–23. Ich danke Dieter Weidmann, Zürich, für den Hinweis auf diese Quelle.]

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Mit dem vierundzwanzigsten Dezember des Jahres 1857 beginnt die neue Ära der Wiener Architektur, mit dem Tage, an welchem der Kaiser die Auflassung der Festungswälle dekretirte. Eine Reihe von kunstgeschichtlich und nicht allein lokal bedeutungsvollen Bauten wurde in den von Ludwig Förster entworfenen Stadterweiterungsplan eingestellt. Zu den hervorragendsten dieser öffentlichen Monumentalbauten gehören die Hofmuseen. Bekanntlich wurden im Jahre 1865 die Architekten Hansen, Ferstel, Löhr und Hasenauer zur Ausarbeitung von Plänen für dieselben aufgefordert. Diese beschränkte Konkurrenz blieb erfolglos; zwei der Architekten entschlossen sich indeß zur Umarbeitung ihrer Entwürfe, Löhr und Hasenauer. Gottfried Semper, der damals noch als Professor am Polytechnikum in Zürich wirkte, wurde, als der größte zeitgenössische Architekt, vom Kaiser am dreizehnten April des Jahres 1869 zum Schiedsrichter ernannt. Im Hinblick auf die hohe Bedeutung der Aufgabe und bei der peinlichen Gewissenhaftigkeit, die ihm eigen war – er betonte gesprächsweise oftmals diesen Umstand besonderer Gewissenhaftigkeit – beeilte sich Gottfried Semper nicht mit dem Urtheilsspruche; man weiß, wie maßgebend es in seinen Folgen gewesen und daß Gottfried Semper den kaiserlichen Auftrag erhielt, ein neues Projekt auszuarbeiten, das er zum Theile in Zürich, zum Theile in Dresden in den Jahren 1869 und 1870 entwarf. Im September 1871 übersiedelte er definitiv nach Wien. Mir steht glücklicherweise manches werthvolle Materiale aus Gottfried Semper’s schriftstellerischem Schaffen zur Verfügung und ich will aus dem Schatze ein Stück des obenerwähnten, noch nie publizirten Gutachtens herausgreifen, leider nur ein Stück, da der Raum für das Ganze mangelt. Das Gutachten sagt zur Einleitung: „Der Unterzeichnete ist sich der großen Verantwortlichkeit sehr wohl bewußt, welche er gleichzeitig mit dem ihm gewordenen, sehr ehrenden allerhöchsten Auftrage übernahm, die beiden miteinander konkurrirenden Museumsprojekte von Löhr und Hasenauer zu prüfen und dasjenige zu bezeichnen, welchem er den Vorzug gebe. Er gesteht auch, daß er nicht ohne Zögern das Resultat seiner Prüfungsarbeiten außer Händen gibt, die ihn schließlich nicht dahin geführt haben, mit rechter, voller Überzeugung eines von den beiden Projekten zur Ausführung empfehlen zu können. Es sei ihm gestattet, den Bericht über seine Arbeiten mit einigen allgemeinen Betrachtungen über gewisse Fragen, welche bei der Lösung des vorliegenden Problems und aller ähnlichen Aufgaben der Baukunst wohl am meisten in Betracht kommen, einzuleiten; sie sind das Ergebnis seiner eigenen Studien und Erfahrungen, die er gerade auf diesem Gebiete zu machen besondere Gelegenheit hatte, anEine Handschrift Gottfried Semper’s. Ein Beitrag zur Baugeschichte Wiens (1885)

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gewandt auf den vorliegenden, speziellen Fall. Sie sollten zwar, in kurze Form gebracht, zunächst nur als Grundlage seiner Vergleichungsarbeit dienen, vielleicht aber bieten sie auch für Andere einigen Anhalt bei der definitiven Lösung der schwierigen Aufgabe, um die es sich handelt, oder erweitern sie wenigstens den Kreis der Anschauungen über gewichtige, hieher bezügliche Fragen, die ihre absolute Lösung noch keineswegs gefunden haben. Sie betreffen folgende Punkte: 1. Gesammtanlage der beiden Museen. 2. Zweckmäßigkeit der Einrichtung in Beziehung zur Vollständigkeit aller Erfordernisse, deren Zusammentreten und gegenseitiges Verhalten, so daß dem Zwecke der Sammlungen möglichst entsprochen werde. 3. Beleuchtungsfrage. 4. Ventilation und Heizung. 5. Konstruktion. 6. Kunstmoment. Ad 1: Gesammtanlage. Das Programm schreibt vor, daß die Museen zu beiden Seiten des Platzes zwischen dem äußern Burgthore und dem k.k. Hofstallgebäude errichtet werden sollen, deren eines die Sammlungen für Kunst, das andere jene für die naturwissenschaftlichen Fächer enthalten wird. Beide Gebäudemassen sollen der Symmetrie halber gleich lang, breit und hoch und auch in ihrer äußern architektonischen Ausstattung übereinstimmend gehalten werden. Der Unterzeichnete würde die ihm gewordene gemessene Instruktion überschreiten, wollte er diesen Paragraphen des Programms von Neuem zum Gegenstande individueller Meinungsäußerung machen; nur das Eine erlaubt er sich dazu zu bemerken, daß, wie immer der Platz bebaut werde oder werden könne, doch dabei das Hauptaugenmerk dahin zu richten ist, daß die kaiserliche Hofburg der beherrschende Zentralpunkt der Gesammtanlage bleibe oder werde, alles Übrige sich ersterer unterordne und auf sie beziehe. Schon aus diesem Grunde würde Unterzeichneter die Pavillon-Architektur Hasenauer’s mit ihren vielfachen und starken Vorsprüngen und Rücklagen, gegen welche sich auch andere zweckliche Bedenken erheben lassen, nicht billigen können, da von dem größten Theile der Hofburg gesehen, die Façaden sich nicht entwickeln könnten und die unteren Partien der Kuppel (der einen wenigstens) sich verstecken würden. Die beiden Kuppeln selbst schließen die Voraussetzung in sich, daß die Hofburg künftig einen noch höhern und reicheren Kuppelbau als Aufsatz erhalte, weil sonst durch sie dem vorhin betonten Grundsatze der Subordination zu nahe getreten wird. Die Kuppel ist überhaupt nach der unmaßgeblichen Ansicht des Unterzeichneten eine bauliche Form, die den Dualismus nicht verträgt, sondern vereinzelt oder in der Gruppirung, um eine mächtigere Einheit derselben Gattung aufzutreten hat. In geringerem Grade würde auch das Löhr’sche Projekt, wenn es zur Ausführung käme, auf die künftige Gestaltung der kaiserlichen

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Hofburg zurückwirken müssen, so daß ein noch höheres, corinthisches Säulendach als Mittelpunkt der Beziehungen den Frontons der beiden Museen die nöthige Einheitlichkeit gäbe. Die zunächst liegende Folgerung, die der Unterzeichnete aus diesen Betrachtungen zu ziehen sich erlaubt, ist die, daß es wünschenswerth sei, sich von dem künftigen Zusammenwirken der großartigen Gesammtanlage, wobei die kaiserliche Hofburg das Hauptmoment zu bilden hat, eine klare Idee zu verschaffen, ehe man den Bau der beiden Museen nach irgend einem außer diesem Zusammenhang erdachten Plane in Angriff nimmt. Dabei sind allgemeine Situationspläne, wie der Hasenauer’s nicht genügend. Der disponible Raum zwischen der Hofburg und dem kaiserlichen Hofstallgebäude einerseits und den beiden Häuserfronten, die den Platz seitwärts einschließen anderseits, ist von so großer Ausdehnung, daß er durch seine Weite den Architekten in Verlegenheit setzt, ihn zwingt, möglichst große Verhältnisse zu wählen und namentlich alles kleinliche Detail zu vermeiden. Vieles Kleine, was nebeneinander gereiht und übereinander gethürmt wird, macht zusammen noch nichts Großes und eignet sich am allerwenigsten für so weitläufige Umgebungen. Diese moderne Vorliebe für möglichst weite Plätze und Straßen verschuldet es zum Theil, daß unsere Monumente, selbst großartig gedachte, nicht die erwartete Wirkung machen, sowie umgekehrt die architektonischen Meisterwerke Italiens zum Theile ihre virtuelle Größe dem Umstande verdanken, daß ihre Umgebung beschränkt ist. Es ergibt sich hieraus als nächste praktische Folgerung, daß man der Weite des Platzes zu lieb die innere Zweckmäßigkeit der Museen nicht beeinträchtigen darf, daß man namentlich wegen des Staubes und des Reflexlichtes, auch wegen des Straßenlärms sich bei der Anlage der Museen von den beiden Häuserfronten der verlängerten Mariahilferstraße und der entgegengesetzten verlängerten Burgstraße möglichst entfernt zu halten hat, was Hofrath v. Löhr bei der neuesten Umarbeitung seines Situationsplanes sehr richtig erkannte. Was die Verschiedenheit der Terrainhöhen von sechs bis acht Fuß auf 99 Klafter betrifft, so hält Unterzeichneter sie für unwesentlich. Ein für das Auge unmerklich ansteigendes Terrain hat den Vortheil, daß es durch perspektivische Wirkung ein am Ende desselben Befindliches größer erscheinen läßt, als es ist. Dagegen hat die Auskunft des Ausgleichens dieser Verscheidenheiten der Terrainhöhen durch die Anlage schöner Treppen und Terrassen als Abschluß des freien Platzes wenigstens die gleiche Berechtigung. … Ad 6: Kunstmoment. Es ist ein ungünstiger Umstand, daß die Ortsverhältnisse und die inneren Erfordernisse der beiden Museen es mit sich zu bringen scheinen, daß die größeren und höheren Räumlichkeiten dieser Gebäude Eine Handschrift Gottfried Semper’s. Ein Beitrag zur Baugeschichte Wiens (1885)

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durch die ihrer Bestimmung nach niedriger zu haltenden Seitenlichtkabinette umschlossen und gewissermaßen verdeckt werden. Es folgt daraus, daß diese letzteren die Elemente, oder Maßeinheiten der Façaden bilden müssen, wodurch eine großartige, die weite Umgebung beherrschende Architektur unmöglich wird. Dazu kommen noch die beengenden Schranken, welche den Architekten durch den Machtspruch gestellt wurden, daß die Höhe der Ausstellungssäle das Maß ihre Breite nicht überschreiten dürfe, welche Fessel die Architekten verhindern mußte, diese Säle sich angemessen nach ihrer Höhe entwickeln zu lassen, so wenig äußerlich, wie innerlich. Unterzeichneter glaubt nicht an die Nothwendigkeit dieser Höhenbeschränkung, hält vielmehr seine schon weiter oben ausgesprochene Ansicht über den Vor­theil hoher Verhältnisse für Oberlichträume, ja auch für Seitenlichträume aufrecht. Er hält dafür, daß ohne Nachtheil für die innere Zweckmäßigkeit, ja zum Vortheile derselben, den Museumsgebäuden größere, der überwältigenden Umgebung mehr entsprechende Autorität dadurch verschafft werden könne, daß man die gesteigerten Höhenverhältnisse der Oberlichtsäle äußerlich zur Geltung bringe. Um kurz zu sein, verweist er hierüber auf das Dresdener Museum, welches sozusagen, die Geschichte des Ringens nach der Verkörperung der oben ausgesprochenen Idee erzählt. Wohl ist ihm bewußt, daß das Problem hätte besser gelöst werden können, als dort der Fall ist, daß besonders die äußere Façade dieses Bauwerkes im Detail zu wünschen übrig läßt, aber das Streben nach Geltendmachung des Großen und Subordination des Kleinern unter ersteres, was sich daran kundgibt, erscheint ihm immer noch als der einzige Weg, der zu der Erreichung großer architektonischer Wirkungen führt. Nach dieser Einleitung sei es gestattet, zu der Detailprüfung der beiden Projekte überzugehen. Projekt Hasenauer. Gesammtanlage. Der Künstler betont mit Recht, daß die kaiserliche Residenz als das Hauptmoment der ganzen Anlage zu betrachten sei; aber wie schon in den vorausgeschickten allgemeinen Bemerkungen angeführt worden ist, leistet er diesem Prinzipe keine Folge, da die vielen und bedeutenden Vorsprünge der beiden Gebäude gleichsam Koulissen bilden, hinter denen sich ihre Hauptpartien für den Blick von der kais. Hofburg aus verstecken. Diese unruhige Pavillons-Architektur hat, beiläufig gesagt, auch den materiellen Nachtheil, daß sie eine Masse von Reflexlichtern erzeugt und damit die gute Beleuchtung der Seitenlichtsäle beeinträchtigt. Auch werden Letztere durch diese Vorsprünge in Etwas verdunkelt. Die gewählte Architektur muß trotz ihrer Bewegtheit und in gewissen Sinne wegen derselben, den großen Massen der Residenzbauten gegenüber kleinlich

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erscheinen. Daß Hasenauer die Vorfahrt mit den Eingängen zu den Museen identifizirt, ist zwar getadelt worden, aber immer noch der Auskunft Löhr’s, der für Fahrende von den Straßen aus besondere Eingänge bestimmt hat, der großen, durch dieselben veranlaßten inneren Störungen wegen, vorzuziehen. Es ließe sich vielleicht einrichten, daß die Equipagen die Einfahrt an der nordöstlichen Seite benützten und ihre Herrschaften bei der mittleren Haupttreppe absetzten. Dann wäre gar keine bedeckte oder unbedeckte äußere Vorfahrt nöthig. Die Gartenanlagen mit der Terrassenvermittlung am südwestlichen Ausgange derselben ist hübsch gedacht – aber das Monument in der Mitte derselben von erdrückender Kolossalität. … Kunstmoment. Es ist schade, daß Herr Hasenauer bei der Umarbeitung seines Projektes zu radikal verfuhr, denn offenbar ist in vieler Beziehung sein alter Plan dem neuen vorzuziehen. Gesagtes berührt nicht allein die Verhältnisse, sondern auch die ruhigere, einfachere Disposition des Ganzen, ja zum Theile auch die innere Zweckmäßigkeit. So ist zum Beispiel für die Zugänglichkeit der Diensträume besser gesorgt. Noch unmotivirter als die Vorsprünge und Risalite, womit der neue Plan ausgestattet ist, erscheinen uns die Unterbrechungen der großen Linie des Hauptgesimses, das sich zweimal auf jeder Lang-Façade plötzlich senkt, gleichsam, als müsse dem unruhigen Grundplane auch ein unruhiges Profil entsprechen. Auch hier ist das alte Projekt besser. … “ Es ist ein Torso blos, was hier geboten, aber man ersieht daran schon die ganze Art und Weise der hohen Auffassung Gottfried Semper’s. Schade, daß dieses Gutachten und noch einige andere darauf bezügliche Schriften Gottfried Semper’s nicht in das gestern erwähnte Sammelwerk aufgenommen sind. Der Schaden läßt sich indeß leicht gut machen, wir hoffen das beste. Jedenfalls wird die eventuell neue Publikation früher zustande kommen, als die kleine Ehrenbezeugung, nach der wir Jahr für Jahr umsonst die Stimme an dieser Stelle erheben, daß in Wien eine Straße oder ein Platz Gottfried Semper’s Namen trage. Verdient Gottfried Semper um Wien nicht einmal d a s ?3

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[Sittes Aufsatz motivierte offenbar auch die Söhne Sempers zu weiteren Schritten gegen Hasenauer: „Des ferneren mache ich Dich auf Artikel Schemberas im N. W. Tagblatt, sowie auf eine Erklärung Hasenauers in d. N. freien Presse, etwa vom 18ten aufmerksam. Letztere ist mir selbst entgangen, doch hoffe ich sie noch aufzutreiben. Hasenauer vindizirt sich darin das Eigenthumsrecht an dem Entwurf der Museen. Ich glaube es wäre ein richtiger Moment, um Papas Gutachten über die Projekte zu veröffentlichen.“ Siehe Semper, Hans: Brief an Manfred Semper, 25. Januar 1885, Archiv des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (gta), ETH Zürich, 21-K–1885-01–25. Ich danke Dieter Weidmann, Zürich, für den Hinweis auf diese Quelle.] Eine Handschrift Gottfried Semper’s. Ein Beitrag zur Baugeschichte Wiens (1885)

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Gottfried Semper und der moderne Theaterbau (1885) Neues Wiener Tagblatt, 17. Januar 1885. Sign. SN: 160–419. Verfasst unter dem Pseudonym „V[ictor] K[arl] Schembera“.

Es ist merkwürdig, daß gerade Gottfried Semper, als Jugendfreund von Richard Wagner, schließlich die Wünsche desselben in Betreff des Theaterbaues architektonisch verkörperte, nämlich in dem leider unausgeführt gebliebenen herrlichen Projekte für ein Bühnenfestspielhaus in München, welches Projekt bekanntlich von den Baumeistern des Bayreuther Richard Wagner-Theaters, so gut sie es vermochten, benützt wurde. Merkwürdig ist dieß deshalb, weil auch Semper sich ein Ideal des Theaterwesens in seiner Gesammtheit – Bau und Darstellung zusammengenommen – gebildet hatte, ein Ideal, das aber das gerade Gegentheil von dem Bühnen-Ideale Richard Wagner’s war. Das Ideal des Dichterkomponisten erstrebt vollständigste Illusion durch alle nur möglichen Mittel, auch selbst der baulichen Zurichtung, durch Weglassung der Logen, Versenkung des Orchesters und so weiter. Alle diese, theilweise schwierigen Anforderungen an den Architekten löste Gottfried Semper in vollendeter Weise und hiedurch ging er in der Praxis ganz auf die Intentionen Richard Wagner’s ein. Sein eigenes Theater-Ideal war aber ein anderes, ein diametral entgegengesetztes. Sein Ideal war der Verzicht auf alle moderne Illusion, Verzicht auf allen Dekorationseffekt, mit einem Worte, die Wiederherstellung der a n t i k e n Bühne. Verkörpert hat Semper dieses Idealbild aus den Studien seiner Jugendzeit niemals, obwohl er im Theaterbau förmlich Spezialist wurde und mit Recht unser T h e a t e r b a u e r k a t ’ e x o c h e n genannt werden könnte. Er hat dieses Ideal, trotz leidenschaftlicher Anhänglichkeit, niemals verkörpert, weil es eben unmodern, der Gesammtrichtung unserer dramatischen Kunst entgegen war; aber angestrebt hat er es ganz energisch, und zwar nicht blos theoretisch, sondern auch praktisch durch seinen ersten Entwurf für das alte Dresdener Hoftheater, der aber, um ausgeführt zu werden, im Sinne moderner Anforderungen modifizirt werden mußte. Bei dieser Umänderung fielen so ziemlich sämmtliche Neuerungen Semper’s in Bezug auf den Bühnenbau hinweg; bestehen blieb jedoch die antik halbkreisförmige Rundung des Zuschauerraumes. Diese folgerichtig auch außen ausgeprägte Rundung war aber in dem ausgeführten Projekte nur mehr ein Torso; in vollem Einklang mit der Gesammt-Idee stand sie nur im ersten Entwurf. Gottfried Semper schildert diese Entwicklung selbst in seiner im Jahre 1849 erschienenen Publikation über das Dresdener Theater, und diese Schil-

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derung sei mit Semper’s eigenen Worten gegeben, um neuerdings zu zeigen, wie sicher und fest Studium, Ideenbildung und Kunstschaffen bei ihm in Eins verwachsen waren. Er sagt: „Abgesehen von äußeren Anlässen zu Abweichungen von der ursprünglichen Idee, mußten die in dem ersten Entwurf niedergelegten Überzeugungen des Architekten vielfache Modifikationen erleiden in Folge derjenigen Ansprüche, die mehr nach theatralischem Herkommen und dem Balletstyl modernen Bühnengeschmackes, als nach richtigem Gefühle für das wahre Interesse der Kunst an ein neues Schauspielhaus gemacht werden. Der fälschlich sogenannten Bühne war nach dem ersten Projekt eine weit geringere Tiefe zugedacht und die Öffnung des Prosze­ niums war kleiner, als sie bei den neueren Theatern gewöhnlich ist. Dagegen befand sich vor der Bühnenöffnung ein sehr breites Podium, welches rechts und links von Proszeniumsmauern eingeschlossen war. Diese Mauern waren reich mit dreifach übereinander gestellten Säulenordnungen und Statuen verziert. Auch war an jeder Seite eine Thüre angebracht, um vom Innern auf die Vorbühne gelangen zu können, selbst wenn der Vorhang der Bühnenöffnung herabgelassen war. Auf dieser zwölf Schuh tiefen V o r b ü h n e sollten nun der Idee des Architekten nach d i e H a u p t h a n d l u n g e n d e s S t ü c k e s v o r s i c h g e h e n , wogegen der hinter der Öffnung befindliche Theil der eigentlichen Bühne n u r z u d e n P r o s p e k t e n u n d V e r wandlungen, wodurch der Ort der Handlung im Stücke b e z e i c h n e t w e r d e n s o l l gewidmet war. Damit aber bei Ausgang des Aktes die Schauspieler nicht genöthigt wären, durch die ganze Tiefe der Vorbühne zurückzutreten, um den Vorhang vor sich fallen zu lassen, sollte am Rande des Podiums, an der Rampe eine spanische Wand aus dem Boden emporsteigen, n a c h d e m V o r b i l d e d e r a n t i k e n T h e a t e r. Dabei dürften natürlich keine Proszeniumslogen statthaben, da sie noch mehr, als in den gewöhnlichen Theatern geschieht, gestört hätten und man von ihnen aus auch nur die Schauspieler wie von hinten gesehen haben würde.“ Das war das Ideal Semper’s, von dem er im weiteren Verlaufe selbst auch sagt, daß die moderne Bühnenpraxis und „ein tief im Publikum wurzelnder irriger Begriff von Illusion und szenischer Wirkung gebieterisch dagegen auftritt.“ Das ist richtig, denn mit einer solchen Bühne wären beispielsweise die Erfolge der Meininger von vorneherein unmöglich, wohl aber würden antike und antikisierende Stücke und etwa Shakespeare gewonnen haben, zum mindesten wären sie vor naturalistischer Darstellung geschützt gewesen. Dem sei aber wie immer, Semper drang nicht durch, die ganze Bühneneinrichtung mußte er modernisiren und nur der Rundbau des Zuschauerraumes blieb. Wie sehr Gottfried Semper und der moderne Theaterbau (1885)

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er aber auch hierin vollbewußt seinen eigenen Weg ging, zeigt auch die folgende Stelle: „In Bezug auf die den Theatersälen zu gebende Grundform steht das Eine fest, daß die Halbkreisform die meisten Vortheile gewähren würde, wenn sie sich mit den modernen Ansprüchen an die Bühnenkunst vereinen ließe. Diese Form scheint von der Natur selbst vorgeschrieben zu sein. Wo immer etwas die allgemeine Schaulust in Anspruch nimmt, dort gruppirt sich die Menge im Kreise. Ein Jeder will möglichst nahetreten, und dieses Bestreben erhält durch die Nothwendigkeit, auch Anderen Platz zu gewähren, eine mechanische Gegenwirkung. Aus der Wechselwirkung dieser beiden in der Masse lebenden Bestrebungen ergibt sich allmälig ein ziemlich regelmäßiger Ring von Zuschauern. Wo der Gegenstand der Aufmerksamkeit sich an eine Wand anlehnt, dort wird ein Halbkreis von Schaulustigen entstehen. Dieser letztere Fall trat bei der antiken Bühneneinrichtung in Anwendung, bei der das Proszenium die Wand bildete, vor welcher die szenische Handlung sich entwickelte. Die Halbkreisform des Zuschauerraumes ist nun freilich bei unserer zugkastenartigen Einrichtung der Bühne nicht wohl ganz rein durchzuführen, jedoch läßt sich behaupten, daß derjenige Saal am wenigsten ungeschickt geformt sei, der von ihr am wenigsten abweicht.“ Diese eigenen Erörterungen Semper’s sollen hier an Stelle einer Zeichnung dienen, zur Versinnlichung des gerade ihm so spezifisch eigenthümlichen Ideenganges. Man sieht auch aus den bloßen Worten die Einrichtung ganz deutlich vor sich und bemerkt dabei den nothwendigen gegenseitigen Bezug zwischen der Kreisform des Auditoriums und der anfänglich geplanten Unterdrückung der Bühne. Trotzdem änderte Semper nur Bühne und Proszenium und behielt das Übrige unverändert für die Ausführung bei. Es war ja nicht beanständet worden. Bei seinen folgenden Theaterbauten wich Semper aber auch hier allmälig immer mehr im Sinne des modernen Theaters aus. Hatte er sich ja doch der modernen Praxis auf Gnade und Ungnade ergeben müssen. Dieses allmälige Akkomodiren ist aber ein stetiger Zug, der durch alle Theaterpläne Semper’s in späterer Zeit hindurchgeht. Im logischen Zusammenhange damit wird auch die Hervorhebung der Rundung im Äußern bei Semper später geringer, und es ist auffallend, daß er gerade bei zwei Entwürfen, die in dieselbe Zeit fallen, bei derselben Modifikation angelangt ist. Es sind hier gemeint Semper’s Entwurf für den zweiten Aufbau des Dresdner Hoftheaters und Semper’s Entwurf für das neue Hofburgtheater in Wien. Beide Konzeptionen stimmen in der Hauptsache dadurch überein, daß die Rundung nach Außen in der Mitte durch einen geraden Trakt unterbrochen ist und daß sie an den beiden Seiten durch gerade

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Seitenflügel begrenzt ist. Der Unterschied besteht darin, daß an der Wiener Lösung die Seitenflügel länger sind, als an der Dresdner Lösung, und in der veränderten Detailbildung. Diese letztere ist aber wieder echter Semper, die unverkennbare Kralle des Löwen. Auch in der Gesimsführung, der Stockwerkbildung, der Säulenstellung, der eigenartigen Auflösung der FensterÖffnungen und so weiter läßt sich der Konnex Semper’scher Ideenkreise, die sich logisch durch sein ganzes Leben fortspinnen, erkennen. Leider muß das Alles rein kritisch herausgelesen werden, als ob es sich um die archäologische Bestimmung eines alten Bildes oder einer alten Handzeichnung handelte, eine saure Arbeit, die aber nothwendig ist, weil sich in der Literatur offenbare Irrthümer einzunisten anfangen oder, besser gesagt, hie und da bereits eingenistet haben, um sich dann von Geschlecht zu Geschlecht weiter fortzupflanzen. Nun ist aber Gottfried Semper viel zu wichtig für die Kunstgeschichte, als daß es bei den Hauptwerken seines Talents gleichgiltig sein könnte zu wissen oder auch nicht zu wissen, wie weit bei diesem oder jenem Werke sein eigener Einfluß gegangen ist.

Gottfried Semper und der moderne Theaterbau (1885)

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Gottfried Semper’s Ideen über Städteanlagen (1885) Neues Wiener Tagblatt, 22. Januar 1885. Sign. SN: 161–418. Verfasst unter dem Pseudonym „V[ictor] K[arl] Schembera“.

Das Städtebauen liegt in unseren Tagen in Bezug auf Kunstgeschmack wohl sehr im Argen. Es ist der Geist der Maschine der Genius, welcher die Erde mit eisernem Schienennetz umspannte, der auf diesem Gebiete herrscht. Nicht mehr die Architekten und Künstler sind es, welche heute die Anlagen der Städte bestimmen, sondern Ingenieure. Alle Achtung vor der Kunst des Meßtisches! Licht, Luft, Wasser fließen den modernen Städten so gut und so reichlich zu wie nie zuvor, und eine ungeheure Menge von Menschen und Wagen durcheilt die geräumigen Straßen einer modernen Stadt. Auch die Gesundheitsverhältnisse haben sich unter diesem Einflusse in den großen Städten wesentlich verbessert; aber das äußere Gepräge ist nüchtern, ja geschmacklos und ohne jeden künstlerischen Werth. Es kann dies auch gar nicht anders sein, denn die praktische Geometrie des Ingenieurs kennt nur Formeln und Berechnungen von Bedürfnissen des Verkehres und so weiter, aber keine Koeffizienten für ästhetische Wirkung, für das Malerische und dergleichen. Man braucht nicht auf die Nüchternheit amerikanischer Städte zu verweisen, alle unsere europäischen neueren Anlagen kranken an demselben Übel. Das eine Mal werden alle Straßen wie auf einem Schachbrett genau senkrecht zu einander herunterrastrirt, was für die Arbeit der Parzellirung Kanalisirung, Pflasterung und so weiter recht angezeigt sein mag, aber in Natur tödtlich langweilig aussieht; das andere Mal wird in der Mitte ein Rondeau angelegt, von dem aus strahlenförmig die Straßen ausgehen wie die Fäden eines Spinnennetzes. Am Plane sieht das recht nett aus, Lineal und Zirkel haben da nach Herzenslust gewirthschaftet, aber in der Wirklichkeit, wie jämmerlich präsentirt sich das! In jeder Gasse dieselbe Eintheilung, dieselbe Längendurchsicht, nirgends ein Punkt, an den sich die Phantasie anklammern könnte, nirgends Merkzeichen, an welchen die Erinnerung haftet, so daß selbst zur Orientirung diese Eintheilung sich höchst ungeschickt erweist, denn in Wirklichkeit hat man ja das schöne geometrische Bild des Stadtplanes nie im Auge, es wäre denn von einem Luftballon herab. Ein naher Verwandter zu diesem Spinnennetzplan ist der Plan mit den Ringen, den Ringstraßen. Was dabei herauskommt, darüber könnten wir Wiener leider eine lange Geschichte erzählen. Aber am deutlichsten vielleicht springt das absolut Unkünstlerische des modernen Stadtbausystems in die Augen in Ita-

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lien. Dort, wo die neue Ingenieurkunst sich knapp neben den herrlichsten antiken und Renaissance-Anlagen angesiedelt hat, dort ist das neue Städtebausystem geradezu unerträglich, eine ästhetische Qual. Wer hätte das nicht empfunden, der auch nur einmal im Leben den Markusplatz und die Piazzetta geschaut, oder zu Florenz vom Palazzo Vecchio her über die Signoria zum Domplatz, und von da in die modernen Stadttheile gegen Porta San Gallo gegangen ist! Welche Herrlichkeit entfaltet eine alte Platz-Anlage, und welche frostige Langweile dehnt sich durch unsere modernen Ingenieurstraßen! Der Unterschied ist genau derselbe, wie zwischen dem farbenprächtigen, schwungvollen Renaissance-Kostüm und zwischen Zylinder und Frack. Staunenswerth ist dabei aber, daß unsere modernen Architekten in Allem und Jedem beflissen sind, die Formen der alten Bauten getreulich nachzuahmen, den Platzbau selbst jedoch, die Stadtanlage als solche, gänzlich preisgeben und willig ohne Schwertstreich den Ingenieuren überließen, die sich um die künstlerische Seite dieser großen Frage grundsätzlich nicht kümmerten. War es Mangel an Interesse, oder Mangel an Verständniß, oder lediglich die mißliche Frucht der modernen Arbeitstheilung? Sicher ist, daß unsere herrlichsten Bauten und darunter auch unsere Wiener Monumentalbauten lange nicht so wirken, wie es sein könnte, wenn sie besser situirt wären. Frappirend ist hiebei der weitere Umstand, daß gerade in Architektenkreisen für den malerischen Zusammenbau mehrerer Gebäude gar keine Begeisterung vorhanden ist. Jeder will sein Werk allein vor sich sehen und zeigen, möglichst isolirt, und ja nirgends verdeckt, nicht einmal durch ein klein wenig Baumschlag oder Strauchwerk. Der Einzige, der mit vollem Bewußtsein im großen Style hierin anders dachte, als es Mode ist, war G o t t f r i e d S e m p e r. Auch da schloß er sich an die Antike an, auch da vertrat er theoretisch und praktisch seine Idee und suchte ihr durch baukünstlerische Konzeptionen ebenso wie durch Wort und Schrift Eingang in der Mitwelt zu verschaffen. Dies sollte ihm aber ebensowenig gelingen, wie die Einführung der antiken Bühne. So haben wir denn wieder nur sein Gedankenwerk vor uns und keine Ausführung seiner herrlichen Konzeptionen. Als Gottfried Semper das erste Mal an die große Aufgabe schritt, ein m o d e r n e s F o r u m zu errichten, war er noch ein jugendlicher Künstler von dreißig Jahren; Dresden aber, dem diese Anlage bestimmt war, besäße heute einen der schönsten Plätze der Welt und unstreitig die schönste moderne Anlage, wenn seine Ideen ausgeführt worden wären. Es sollte damals das von Rietschel ausgeführte sitzende Bronzebild des Königs Friedrich August von Sachsen aufgestellt werden, aber man war über die Wahl des Gottfried Semper’s Ideen über Städteanlagen (1885)

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Platzes noch nicht schlüssig und so wurde der noch nicht lange vorher zum Direktor der Dresdener Bauschule ernannte Gottfried Semper beauftragt, seinerseits Vorschläge darüber einzureichen. Semper antwortete darauf nach kurzer Frist mit der Vorlage eines ganzen Stadtplanes. Einen ganz neuen Stadttheil hatte er am Papier aufgebaut, um unter Anderen darin auch das genannte Monument würdig unterzubringen. Mit stürmendem Feuereifer hatte er sich der Aufgabe bemächtigt und alles zusammengerafft, was ihm in den momentanen Bauverhältnissen Dresdens dienlich sein konnte. Diese verschiedenartigen Baufragen, welche nun Gottfried Semper zu einer einzigen organisch zusammenschweißte, waren: Die Beseitigung des sogenannten italienischen Dörfchens, einer verrufenen Häuschen- und Hüttenmasse zwischen dem Zwinger und der Elbe, welche schon lange in Stadtkreisen ventilirt wurde; ferner die Erbauung eines neuen Theaters statt des alten, schon vielfach beanständeten, dann noch die Errichtung eines Museums für die bis dahin nur schlecht untergebrachte Gemäldegalerie und schließlich die Erbauung einer Orangerie, für welche das Hofbau-Amt sogar schon Vorerhebungen und Pläne in petto hatte, allerdings für einen ganz anderen Platz. Gerade dieser Umstand, daß hiemit unter den Kranz der Neubauten, welche Gottfried Semper für seinen forumartigen Platz brauchte, einer einbezogen war, der schon in Vorbereitung stand, sollte dem Gelingen des Ganzen verderblich werden. Die Idee Semper’s war nun: Nach Wegräumung des italienischen Dörfchens, wodurch der Zwinger blosgelegt war und zwischen diesem flottesten Bauwerk Dresdens und der Elbe ein großer freier Raum entstand, sollte dieser mächtige Platz so mit Bauwerken eingeschlossen werden, daß die Längenachse desselben von der Mitte des Zwingers senkrecht bis zur Elbe hinabging, links sollte an den Zwinger die Orangerie und das neue Theater stoßen, rechts die neue Bildergalerie und die alte katholische Kirche dem Theater also gegenüber. Der ganze Platz sollte überhaupt wie ein antikes Forum, mit Monumenten und Bildwerken allerart passend angefüllt werden und hiezu durch Aufstellung des obenerwähnten Denkmals der Anfang gemacht werden. An der Elbe aber sollten zwei hohe freie Säulen stehen, wie in Venedig an der Piazzetta, und sehr schön gezierte Flaggenstangen und dergleichen Schmuck noch mehr. Der Erfolg dieser ganz unerwarteten Proposition war ein durchschlagender. Besonders bei Hof wurde die Großartigkeit der Idee erkannt und geschätzt. So war Gottfried Semper für den Augenblick Herr der Situation und wirklich resultirte für ihn daraus der Bau des Theaters und später des Museums, aber die herrliche Platzanlage kam zu Fall. Semper schildert dies selbst mit folgenden Worten: „Alle die weitsehenden

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Pläne sind später zunichte gemacht worden und müssen stets unausgeführt bleiben. Die Ausführung der Orangerie an dieser Stelle, ein so nothwendiges Glied des Ganzen, unterblieb nämlich auf Veranlassung des Hofbau-Amtes, welches sie in den sogenannten Herzoglichen Garten, in einen versteckten Theil der Stadt verlegte, um angeblich die Kosten der Expropriation derjenigen Gebäude zu ersparen, auf deren Stelle, dem Plane gemäß, die Orangerie stehen sollte. Dort steht nun das Gebäude, mit ungewöhnlichem Reichthum von Skulpturen und Gliederungen von außen ausgestattet, in vollständiger Isolirung, und weit entfernt, zu dem Erreichen einer Gesammtwirkung als Element mitbeitragen zu helfen, kann es nicht einmal wegen schlechter bedrängter Lage, sich selbst repräsentiren“. Durch diesen Umstand kam nun der erste unheilbare Riß in das Ganze, dessen Erreichung durch den Theaterbau angebahnt und gesichert schien. Die Leidensgeschichte geht aber weiter. Als es zum Museumbau kam, fehlte diesem nach Semper’s Plan das Vis-à-vis, die Orangerie. Semper kämpfte noch immer für sein geplantes Forum und schlug an Stelle der Orangerie ein Theatermagazin vor, allein bei den Ständen, welche die Summe für den Museumsbau zu bewilligen hatten, drang eine andere Idee durch: die Galerie als vierte Seite des Zwingers herzustellen, und damit war die schöne Idee des Forums für Dresden für immer vereitelt…1 So wie aber Gottfried Semper am Anfange seiner Laufbahn dieses Forum konzipirte, so war es ihm am Ende seines Lebens noch beschieden, ein gleiches zu ersinnen für Wien. Es ist merkwürdig, daß hierin neuerdings Dresden und Wien, wie beim Theaterbau, zwei gleiche Konzeptionen Semper’s erhielten und diese Gleichheit ist in dem zweiten Falle ebenso in die Augen springend. Denkt man sich nämlich an Stelle der Elbe bei der Dresdener Anlage die Wiener Lastenstraße, so hat man in beiden Fällen das gleiche Projekt. Vollkommen identisch. Selbst die Halbkreisrundungen um die beiden Reiterstatuen Prinz Eugen und Erzherzog Karl, welche Semper für Wien projektirte, sind in Dresden vorgebildet. Semper sollte auch dieses Werk nicht erleben. Vielleicht werden wir die Glücklicheren sein, es vollendet zu schauen. Hierin stehen in Wien die Verhältnisse günstiger, denn wenn die Verkörperung dieser Idee in Dresden die Abtragung des Museums verlangte, wohl eine Unmöglichkeit, so steht der endlichen Vollendung dieser prachtvollen Platzanlage für Wien

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[Sempers Dresdner und Wiener Entwüre hat Sitte vier Jahre später in seinem Hauptwerk Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen nochmals ausführlich dargestellt. Vgl. Camillo Sitte Gesamtausgabe, Bd. 3. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2003, S. 124 ff. Gottfried Semper’s Ideen über Städteanlagen (1885)

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vorläufig noch nichts im Wege, und dies wäre wohl ein überaus großartiger Abschluß der Wiener Stadterweiterung, wohl geeignet, manche Fehler, die dabei unterliefen, wieder vergessen zu machen und demnach Wien den ersten Platz unter den modernen Städten, in Bezug auf seine monumentale Ausstattung, zu sichern. Wollen wir hoffen, daß Herrn Hasenauer’s Hand glücklicher sei, als die des stürmischen, verbitterten, unglücklichen Meisters. Er braucht ja nur die Idee Gottfried Semper’s, gleichgiltig ob er sie in Wien oder Dresden aufgegriffen, zu adoptiren und als sein Adoptivkind sorgsam aufzuziehen. Daß dies gelinge, muß Jeder aus vollem Herzen wünschen, dem die Schönheit der Stadt Wien nicht gleichgiltig ist. Aber wer immer das Werk vollendet, der möge auch des verewigten Meisters gedenken, der die Idee dazu geschaffen.

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Auszug aus dem Vortrage über die Baugeschichte und Restauration der gothischen St. Wolfgang-Kirche bei Kirchberg a.W. (1886) Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines in Wien, Bd. 23 (1886), S. 248–250. Nach einem Vortrag, gehalten am 2. November 1885 im Alterthums-Verein, Wien. Dieser Text ist im Sitte-Nachlass nicht enthalten. Eine Abbildung.1

Der Vortragende resumirte zuerst die Resultate der bisherigen Forschung, wie sie in den Mittheilungen der Central-Commission von 1862, S.  159, und des Alterthums-Vereines von 1866, S.  20 enthalten sind2). Daraus ergibt sich eine Reihe von Widersprüchen, indem die Bauzeit theils mit Bestimmtheit in die Zeit von 1394–1404, theils ebenso bestimmt nach 1450 verlegt wurde. Auch im Detail wurden allenthalben Widersprüche gezeigt. Nur darin sind alle ­bisherigen Ansichten einig, dass die einzelnen Theile des Baues aus verschiedenen Bau­­ perio­den stammen. Gerade dies aber stimmt wieder nicht mit den neu zur Mittheilung gebrachten Daten der Pfarrchronik, wo es Seite 10 heisst: „Endlich gegen Ende des 14. Jahrhunderts hat sich ein Herr Artolff v. Offenbeck um sie angenommen und weil kein anderes Mittel der Abhilfe übrig war, entschlossen, mit Beyhilf der Pfarrmenge eine besondere neue Pfarrkirche zu erbauen. Der Ort war ausser dem Markt auf dem sogenannten Lenberg bestimmt, und in dem 1400ten Jahr hiezu der Anfang gemacht, sie wurde der Anzahl der Pfarrkinder gemäß, groß, und auch sehr stark gebaut, und Anno 1414 verfertiget. 11 Unterthanen derselben ganz mit vollkommen genöß übergeben und gestiftet.“ Der Vortragende ging nun über auf die Kritik der vorgeführten Widersprüche und zeigte, dass jede der verschiedenen Ansichten Vieles für sich hat, dass aber bei näherer Betrachtung keine richtig sein kann und somit so viele ungelöste Fragen sich auf einem so kleinen Bauobjecte häufen, wie dies kaum irgend ein zweites Mal der Fall ist. Die Ursache dieser abnormen Erscheinung ist die ebenfalls abnorme Bauentstehung und Bauführung, worüber die Pfarrchronik einige Streiflichter verbreitet. Der historische Werth der streng und schön nach Urkunden gearbeiteten Pfarrchronik wurde erbracht durch Mittheilung interessanter Actenstücke aus dem Archive von Schloss Feistritz, welche die Angaben der Chronik vollinhaltlich bestätigen. Demzufolge bestand schon vor 1216 die Pfarre. Das Frauenkloster wurde daselbst 1272 gegründet und diesem die ganze Seelsorge übertragen durch 1

[Wir danken Roswitha Lacina für den Hinweis auf diesen Text.]

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Bem. d. Red.: Die erst am Vortage des Vortrages erschienenen neueren Untersuchungen von W. Böhaim über diese Kirche waren dem Vortragenden noch unbekannt. Auszug aus dem Vortrage über die Baugeschichte der St. Wolfgang-Kirche

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Erzbischof Friedrich v. Salzburg und König Ottokar von Böhmen. Die Bauernschaft aber war damit nicht zufrieden, indem sie sich ihre frühere selbstständige Pfarre nicht wollte nehmen lassen, und so entstand ein Rechtsstreit, der volle 500 Jahre währte, bis zur endlichen Auflösung des Frauenklosters im Jahre 1772. Eine wichtige Phase dieses Streites ist nun durch Erbauung der Wolfgangkirche (gleichsam als Nebenpfarre der Bauern) charakterisirt und hängen damit die Abnormitäten der Baugeschichte zusammen, welche das Urtheil hierüber so sehr zu trüben geeignet sind. Ausser diesen Urkunden gibt der Bauzustand selbst noch neue Aufschlüsse. Es wurden aufgefunden: 27 verschiedene Steinmetzzeichen bester gothischer Zeit, die also auf den Anfang des 15. Jahrhunderts verweisen, u.zw. in schönster Ausführung und sehr häufiger Anwendung an allen Theilen der Kirche mit einziger Ausnahme des jetzigen Hauptchores; ferner: zwei bisher unbemerkte alte Inschriften am nördlichen Seitenportal. Die eine lautet: „Jörg von Straubing hat das gemacht 1421“, die andere: „O. E. D. fiat voluntas tua Sebastian gruber“. Die erstere ist in Stein gemeisselt und bezieht sich auf den Baumeister, die letztere ist gemalt und gehört auch dem Maler. Es wurde dann noch an der Hand des Baues nachgewiesen, dass auch das kleine Seitenschiff unzweifelhaft in zwei Absätzen in die Höhe geführt wurde, aber nach einheitlichem Plan, zeitlich unmittelbar hintereinander, also in partieweiser und trotzdem einheitlicher (auch der Zeit nach enggeschlossener) Bauführung. Dies ergibt sich aus den Manipulationen der alten Bauführung, nach welchen scharfe Grundrissaussteckungen mit modernen Messinstrumenten noch unbekannt waren; aus den Veränderungen an Gesimsen und Strebepfeilern aus verschiedenen Steinschnittdetails und auch aus dem Aufbau der Mauern. Diese seltene, weil an sich uncorrecte und nur durch die Noth aufgezwungene Bauweise wurde auch beim ganzen übrigen Bau beibehalten, wodurch sich alle bisher unlöslich gebliebenen Widersprüche aufklären. Als Schlussglied des Beweisverfahrens entsteht dabei aber die Forderung nach Angabe jener äusseren zwingenden Ursache, welche eine so abnorme, ja an sich irrationelle Bauführung veranlasste. Diese Ursache gibt aber die Pfarrgeschichte. Nach den Verhältnissen, unter welchen der Bau entstand, muss es nämlich der Pfarrmenge daran gelegen sein, möglichst bald, wenigstens nur einen kleinen Raum zu gewinnen, zur ersten Einrichtung des Gottesdienstes, zur Abhaltung von Predigten und Versammlung von Wallfahrten, dem dann alles Übrige partienweise folgen konnte, wie es die Opfergaben zur St. Wolfgangs-Zeche (Baufond) ermöglichten. Dem im Detail nachgewiesenen ringförmigen Weiterbauen folgend, gip-

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felt zuletzt die ganze Frage dahin: in welcher Richtung so stückweise weiter gebaut wurde. Es sind hier zwei Fälle möglich, nämlich dass der zuerst begonnene Capellenraum die grosse Concha des Hauptschiffes war, oder aber die kleine Concha des nördlichen Seitenschiffes. Das letztere war unzweifelhaft der Fall, denn in der hiedurch fixirten Baurichtung folgen sich die am Bau noch befindlichen Jahrzahlen. Nur von der kleinen Concha aus konnte in’s Freie hinaus auf günstig amphitheatralisch ansteigendem Wiesenplan gepredigt werden, wofür sich noch die alte (altvermauerte) Kanzel­ thür findet, während die grosse Concha am Bergabhang steht. Am Portal bei der kleinen Concha steht auch die schon bekannte Inschrift „A. Offenbeck, A n f ä n g e r des Gotshaus“. Nur mit dieser Baurichtung stimmt auch die Zerstörung der kleinen Sakristei neben der kleinen Concha, wie überhaupt das Vorhandensein zweier Sakristeien und deren Gebrauch während des Weiterbauens Vieles erklärt. In dieser Baurichtung ist auch eine stetige Abnahme der Kostbarkeit des Bauens wahrzunehmen, durch stetig zunehmendes Sparen an Rippen, Gesimsen und Profilirungen, welches als Folge der stetigen Abnahme des Baufondes sich leicht erklärt, denn die Bauernschaft hatte sich ja thatsächlich eine schier über ihre Kräfte gehende Last selbst aufgebürdet. Endlich konnte diese Last wirklich nicht mehr getragen werden. Es mag da manchen harten Verdruss gesetzt haben zwischen der überbürdeten Pfarrmenge und den gut (also auch theuer) construirenden Steinmetzen, bis es endlich ganz zum Bruch kam und auch diese Phase findet sich am Bau in Stein verkörpert vor, es ist die Stelle, wo plötzlich bei der Hauptconcha alle Steinmetzzeichen aufhören und das schlechte Mauerwerk beginnt. Nach dieser Hypothese geht die ganze Baugeschichte Null auf Null auf. Es bleibt kein einziges unerklärtes Detail übrig und gerade dieser Umstand dürfte selbst wieder ein starker Beleg für ihre Richtigkeit sein. Zum Schlusse brachte der Vortragende nebst Besprechung der Restauration des Baues noch eine Reihe von bisher nicht publicirten Daten über den angeführten Baumeister Jörg v. Straubing, über dessen Hütte von Landshut und die Schule seines Lehrmeisters H. Stettheimer senior von Burghausen und zeigte die thatsächliche Verwandtschaft des Baues mit den gothischen Bauten von Landshut und Straubing. Da die Pfarrer von Kirchberg und Salzburg ernannt wurden, wohin sie sich jedes Mal begaben und dort H. Stettheimer junior gebaut hat, während beide Stettheimer auch nach Wien berufen waren, so sind auch die Anknüpfungspunkte gegeben zur Übertragung des St. Wolfgangbaues an diese Schule. Merkwürdig ist, dass auch das Steinmetzzeichen von H. Stettheimer senior auf einem (wie zu einer Grundsteinlegung Auszug aus dem Vortrage über die Baugeschichte der St. Wolfgang-Kirche

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Kirchberg am Wechsel

geeigneten) Werkstück, in grösserem Format als die übrigen Zeichen, vorkommt.

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Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887) Sonderdruck, Wien: Verlag der Österreichisch-ungarischen Revue, 1887 (Erstveröffentlichung in: Öster­reichisch-ungarische Revue. Monatsschrift für die Culturinteressen Österreich-Ungarns, Neue Folge, Bd. 3 (1886), S. 65–87). Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 190–450.

Es ist an der Zeit, einen Rückblick zu halten über die Entwickelung des Kirchenbaues der letzten vierzig Jahre, denn Jedermann fühlt, daß sich in diesen, für die Gestaltung der Architektur so hochwichtigen Decennien eine Umwälzung von Anschauungen und Grundsätzen vollzogen hat, wie sie kaum umfassender gedacht werden kann. Ausgehend von einem intensiven Gefühle geradezu des Hasses gegen die vorausgehende Barocke und alle ihrer Ausläufe, der alles verzehrte, was dieser Stylrichtung auch vorher zu Grunde lag, sind wir, allmählich alle Stylperioden durcheilend, heute wieder bei ihr angelangt und können es kaum fassen, wie es eine Zeit geben konnte, welche selbst die edelsten und höchsten Werke der Renaissance mit Geringschätzung betrachtete, obwohl wir diese Zeit selbst miterlebten. Das Verständniß für die Antriebe dieser Bewegung kann nur erschlossen werden durch einen Rückblick auf die Verhältnisse des höheren, besonders des kirchlichen Bauwesens, unmittelbar vor Beginn dieser reichbewegten Bauperiode. Es war ein langer Winterschlaf, in welchem die Baukunst in der ersten Hälfte des Jahrhunderts befangen war, nachdem sie vorher in üppiger Fülle so glanzvolle Werke wie die Karlskirche, die Piaristenkirche in der Josephstadt, die Universitätskirche, St. Peter in der inneren Stadt, die großartigen Stiftskirchen von St. Florian, Melk u.a. hervorgebracht hatte. Rudolf v. Eitelberger, der genaue Kenner aller damaligen Verhältnisse, schildert in seinem Nachrufe an Van der Nüll1 dieselben folgendermaßen: „Die Baukunst war damals ein Geschäft, wie viele andere, dem sich vorerst die bürgerlichen Baumeister widmeten, welche reich werden wollten; sie war ein Amtsberuf für Jene, welche als k.k. beeidete unbesoldete Baupraktikanten in den Staatsdienst treten wollten und die Ambition hatten, nach langjähriger unentgeltlicher Dienstzeit und nach ebenso langem, sehr gering entlohntem Staatsdienste am Ende des Lebens Landesbaudirector zu werden … Damals verstanden die Baubureaukraten alles, sie übten die Censur gegen die ein1

Gesammelte Schriften, I. Band. [Eitelberger von Edelberg, Rudolph: Gesammelte kunsthistorische Schriften, 4 Bde. Wien: Braumüller 1879–1884. Der Nachruf auf van der Nüll findet sich in Bd. 1: Kunst und Künstler Wiens der neueren Zeit. Wien: Braumüller 1879, S. 228–270.] Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)

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gereichten Baupläne ebenso schroff und arg, wie die Censurbeamten in den Bureaux der Herrengasse. War von kirchlichen Baumonumenten die Rede, so verstand es sich ganz von selbst, daß sie diejenigen waren, welche dem Bau vorzustehen hatten. In dieser Baubureaukratie hieß es: ‚Die Architektur bin ich.‘ Gute Gelehrte und Künstler wurden nicht gebraucht und nicht erzogen, sondern nur gute Beamte. Die Kaserne, das Bureau war das Höchste, wozu sich die Baupraxis dieser Zeit aufschwang.“ Diesem Urtheile entsprechen denn in der That die Werke, wie sie damals unter der Herrschaft des allgewaltigen Oberbaurathes P. Sprenger zu Stande kamen: das Münzgebäude und das Hauptzollamt. Auf dem Gebiete des Kirchenbaues, dessen hohe künstlerische Anforderungen weit über den Horizont Sprenger’s emporragten, kam es zu der traurigen gußeisernen Spitze am Augustinerthurm und zur kostspieligen Herstellung eines neuen Thurmhelmes von St. Stephansdom, der nach wenigen Jahren schon so baufällig war, daß er 1861 wegen drohenden Einsturzes wieder abgetragen werden mußte. Von den kleinen Landkirchen, welche hie und da denn doch zugestanden wurden, ist es besser zu schweigen. Hand in Hand mit dieser eigenen Unfähigkeit ging die Sucht, alle jüngeren Talente, welche künstlerisch wirken wollten, gewaltsam zu unterdrücken. So wurde der talentvolle Architekt Leopold Öscher (geb. Wien 1804, gest. daselbst 1849), einer der ersten Vorkämpfer der Gothik, in kränkender Weise behandelt, weil er es gewagt hatte, gegen das Sprenger’sche Thurmbauproject von St. Stephan Einsprache zu erheben, und ebenso wurde an der Akademie systematisch alles unterdrückt, was im Sinne derjenigen Ideen, welche die Gemüther zu fesseln anfingen, vorwärts wollte. Diese Verhältnisse gehören bereits der Geschichte an und so sei es denn erlaubt, aus der heute schon ersterbenden Tradition eine an sich unbedeutende Episode zu retten, welche aber ein scharfes Streiflicht über den Stylstreit dieser Tage wirft. Der spätere erste Zeichner und Bauführer G. Müller’s beim Baue der Altlerchenfelderkirche und der Vollender dieses Baues, der Architekt Franz Sitte, frequentirte damals unter der Direction von Peter Nobili, eines geistvollen tüchtigen Mannes, der aber als Italiener kaum deutsch konnte und die Gothik gründlich verabscheute, die Architekturschule der Akademie. Die Herzen der jungen Akademiker gehörten bereits der romantischen Richtung und so zeichnete und studirte denn auch der Genannte privatim in der an der Akademie verbotenen gothischen Bauart. Dieses arge Vergehen blieb Nobili nicht verborgen und so wurde denn der heimliche Romantiker, der einen ersten Preis erhalten sollte, vorher zu Nobili citirt, ihm hier sein Stylfrevel vorgehalten und direct verlangt, diese unerlaubte Rich-

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tung abzuschwören, widrigenfalls der erwünschte Preis nicht ertheilt werden könnte. Der Gefragte vermochte es aber nicht, seinem künstlerischen Ideale zu entsagen, ließ Preis und Akademie im Stiche und zog nach München, wo unter König Ludwig I. gerade ein goldenes Zeitalter für Kunst begann. So stand es im öffentlichen Baudienste und an der Akademie, obwohl auch in Wien die neue Stylbewegung bereits ihren Einzug gehalten hatte. Außer Ö s c h e r gehörten dieser Richtung an: der Architekt L e o p o l d E r n s t (geb. zu Wien 1809, gest. 1862), welcher eine der ersten Publicationen über mittelalterliche Baudenkmale Österreichs unternahm, von der vier Hefte erschienen und der zuerst die Frage der Restauration der Stephanskirche anregte. Ernst wurde später Dombaumeister, vollendete 1853 die vier großen Giebel, restaurirte die Tirna’sche Capelle und begann die Neuherstellung des großen Thurmhelmes. Auch K a r l R ö s n e r kann hierher gerechnet werden, der sogar an der Akademie als Lehrer fungirte, aber anfangs sehr untergeordnet und ohne Einfluß. Die von ihm erbaute Kirche in der Jägerzeile muß als erster Versuch der neuen Richtung in Österreich bezeichnet werden. Sie ist gewissermaßen ein Seitenstück zu der etwas früher in München erbauten Ludwigskirche von Gärtner, im Style noch unklar, theils byzantinische, theils romanische Elemente aufnehmend. Ein wesentliches Verdienst kommt diesem Baue zu durch Aufnahme großer Fresken im Innern, besonders des herrlichen Kreuzweges von Führich, der nur leider zu schlecht beleuchtet ist und vielleicht hauptsächlich deshalb nicht so oft betrachtet wird, wie diese edlen und wahrhaft großen Compositionen es verdienen würden, die den Fresken von Cornelius in der Ludwigskirche ebenbürtig zur Seite gestellt werden müssen. Rösner blieb zeitlebens der eingeschlagenen Richtung treu, die er aber in seiner ruhigen, bedächtigen und genauen Art stetig vervollkommnete, so daß er in seinem letzten großen Werke, dem Dome zu Diakovar in Slavonien, in reinerem romanischen Style eine große harmonische Leistung zu Stande brachte, in der er sich sozusagen selbst übertraf. Außerdem wurden nach seinen Entwürfen erbaut die Capelle im Arsenal und die Cyrill und Methodiuskirche in Karolinenthal zu Prag. Als früheste Vorkämpfer auf literarischem Gebiete sind zu nennen: Franz Tschischka, der 1832 eine Monographie über St. Stephan veröffentlichte und Dr. E. Melly (geb. 1814 zu Krems und gest. zu Pystian 1854), welcher 1850 eine ziemlich umfangreiche Arbeit über das Westportal von St. Stephan publicirte. Schon frühzeitig, schon von 1844 an, machte sich auch der auf diesem Gebiete so entscheidend werdende Einfluß unseres größten Kunsthistorikers, R. v. Eitelberger, bemerkbar. Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)

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Während sich auf künstlerischem Gebiete durch die Wirksamkeit dieser Kräfte eine allmähliche Reform vorbereitete, brachen die Ereignisse des Jahres 1848 herein. Die nächste Folge war ein momentaner gänzlicher Stillstand aller künstlerischen Unternehmungen, dann aber ging es plötzlich rasch vorwärts. Graf Leo Thun wurde Cultusminister und berief Graf Franz Thun, der selbst ein Romantiker zu nennen ist und sich bereits wesentliche Verdienste um die Hebung der bildenden Künste in Prag erworben hatte, zum Referenten für Kunstangelegenheiten in’s Ministerium. Unter solchen Verhältnissen konnte es geschehen, daß der Bau der Altlerchenfelderkirche zu einem epochemachenden Ereignisse für die Kunstentfaltung in Österreich sich gestaltete. Der Neubau dieser Pfarrkirche war bereits im April 1845 beschlossen und schon war mit dem Baue nach der Schablone eines bauamtlichen Planes begonnen, als die Architekten, Kunstfreunde und Gelehrten, an ihrer Spitze bereits R. v. Eitelberger, diesem Baue ihre Aufmerksamkeit zuwendeten. Einen ausschlaggebenden Erfolg erzielte der junge, kürzlich erst von L. Förster nach Wien gezogene Architekt G e o r g M ü l l e r mit einem in der Plenarversammlung des neugegründeten Architektenvereines 1848 gehaltenen Vortrag: „Der deutsche Kirchenbau und die neu zu erbauende Renaissancekirche für Altlerchenfeld.“ J . G e o r g M ü l l e r (geb. 1822 zu Mosnang in der Schweiz, gest. den 2. Mai 1849), selbst voll jugendlich verzehrender Begeisterung und ganz hingegeben den neuen Ideen der künstlerischen Erhebung, des Wortes in hohem Grade mächtig, nach seiner ganzen Vorbildung und nach seinen bisherigen Arbeiten halb Dichter und halb Architekt, war der richtige Mann, diejenigen Worte zu finden und auszusprechen, welche damals allen vorwärtsstrebenden Elementen im Sinne lagen. Sein Vortrag erregte ungeheures Aufsehen und lange Jahre danach konnte man Solche, die ihn gehört hatten, noch schwärmerisch davon sprechen hören. Diesem mächtigen Eindrucke entsprechend war auch der positive Erfolg. Es erfolgte bald darauf die Sistirung des bisherigen Baues und mit 15. August 1848 die Ausschreibung einer allgemeinen Concurrenz. Schon am 27. September 1848 wurde das preisgekrönte Project Müller’s auch zur Ausführung bestimmt. Welch’ ein Umschwung aller Verhältnisse, denn auch die Anwendung des Concurrenzwesens war ja eine gewaltige Neuerung. Als besondere Merkwürdigkeit muß erwähnt werden, daß Müller in dem preisgekrönten Entwurfe seinem eigenen schriftlichen Programm nicht ganz treu blieb. Sein Vortrag zielte offenbar auf eine deutsch-gothische Kirche; sein Entwurf aber brachte Motive der italienischen Gothik und eine durch-

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gehende Rundbogenarchitektur. Dieser, bisher noch niemals näher erörterte Umstand, ist bezeichnend für die rein subjectiv poetisch arbeitende Individualität des früh dahingeschiedenen Künstlers, wie für die rückhaltlose Begeisterung der damaligen Zeit, die nicht allzukritisch war in der Beurtheilung und welcher gleichfalls Originalität und Poesie am meisten galt. Zu erwähnen kommt noch der, bisher unbekannt gebliebene Umstand, daß auch Müller zuerst ein gothisches Project ausarbeitete, dann aber, als er die Harmonie mit seiner Empfindungsweise darin nicht finden konnte, das wirklich überreichte Project in den letzten acht Tagen vor Ablauf der Frist concipirte. Dieses wirklich ausgeführte Project ist denn thatsächlich weder romanisch noch gothisch, weder deutsch noch italienisch, aber auch durchaus nicht eklektisch in dem schlechten Sinne des losen Verbindens verschiedentlicher Stylfragmente; es ist thatsächlich eine Stylvariante für sich, der man einen eigenen Namen geben müßte, wenn sie zahlreichere Nachfolgerschaft gefunden hätte. Müller folgte hierbei lediglich seiner Empfindung und construirte das Ganze aus sich selbst heraus. Und hiermit hat er denn als Künstler sein eigenstes wahres Glaubensbekenntniß abgelegt, was die Absicht, die sogenannten altdeutschen oder gothischen Kirchen zu copiren, gar nicht in sich schloß. In seinem tiefsten Innern glaubte Müller an die Erfindung eines neuen Styles und diesen Glauben hatte er schon in München in sich aufgenommen, wo er damals dominirte und Meister Ziebland, sein Lehrer, einer der Hauptvertreter war. Ziebland stellte allen Ernstes an seine auserwählten Schüler die Forderung, in ihren Arbeiten nicht den Geist einer alten Zeit zu copiren, sondern den Genius der eigenen neuen Zeit auszudrücken und hierzu selber entsprechende Formen zu finden oder wenn es sein müßte, neu zu schaffen. In München wurde damals diese neue Kunst förmlich absichtlich gesucht. König Ludwig ließ sich die Widmung eines Ornamentenwerkes gefallen aus vaterländischen Pflanzen, dessen Zweck die Erfindung einer neuen Pflanzenornamentirung sein sollte u.dgl.m. Auch Müller war für nichts so sehr begeistert, als für die Herstellung eines unserer Zeit und unserem Denken entsprechenden eigenthümlichen monumentalen Baustyles. In der That ist dies gewiß das Endziel aller unserer Kunstbestrebungen; der Irrthum der ersten Begeisterung bestand aber darin, einem Einzelnen zuzumuthen, was nur das Werk von Jahrhunderten sein kann. Bei all’ dem muß es mit Bewunderung und Staunen erfüllen, wie viel Neues dieser erst 26jährige Künstler in seinem größeren Erstlingswerk niederzulegen vermochte. Für den Zusammenhang zwischen den quadratischen Wölbungen des sehr breiten Mittelschiffes zu den Seitenschiffen, eine Aufgabe, an der sich, im Übergange aus der Romanik in Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)

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die Gothik, Jahrhunderte abgemüht hatten, fand er spontan eine ganz neue und zutreffende Lösung. Die Rundbogenarchitektur des Romanischen verband er mit den zierlichsten Profilirungen, Pfeilerdimensionen und Construc­ tionsstärken im Sinne spätester Gothik zu merkwürdigem Einklang und die prachtvolle bunte Marmorincrustation des Florentiner Domes versuchte er in bescheidenen Anklängen in einfachen Ziegelrohbau mit mäßigem Stein und Sgraffitto zu übersetzen. Auch der Strebepfeiler fehlt und statt der Strebebögen sind antikartige Aufmauerungen wie bei Renaissancekirchen verwendet. Im Ganzen dürfte etwa die Bezeichnung Neuromanisch am meisten für diese Stylvariante passen. Müller erlebte nur mehr wenige Monate der Bauausführung. Die Kirche ist innen vollständig Fresco gemalt unter der Oberleitung von J . v . F ü h r i c h . Die von Führich selbst herrührenden Gemälde (die erschütternden Conceptionen des Engelsturzes und jüngsten Gerichtes an der Eingangswand), ferner auch die in Form und Farbe stylvoll gehaltenen Fresken der Vorhalle stimmen vortrefflich zur Architektur; ein großer Theil der übrigen Gemälde, ganz im jeweiligen Sinne jedes einzelnen der mitwirkenden Künstler gehalten und theilweise bis an die Grenzen des Naturalismus gehend, fallen mehr oder weniger aus dem einheitlichen Rahmen des Ganzen heraus, die trennende Ornamentik, welche meist aus Mustern des damals über die Decorationen der Sophienkirche eben erschienenen Werkes von Salzenberg zusammengesetzt ist, paßt durchaus nicht. Mit ihr hielt der gewöhnliche Eklekticismus seinen Einzug in das Werk. Müller hätte diesen Theil des Ganzen im Anschluß an seine Muster zu St. Croce und zu Assisi und in Übereinstimmung mit seiner freien Conception, gewiß ganz anders gelöst. Derlei Schwächen des Zusammenschweißens von allerlei fremdartigen Elementen, wie sie anderwärts sogar noch schärfer zu Tage kamen, bereiteten jedoch energisch eine andere Strömung vor, deren Streben in der Erreichung größtmöglicher Stylstrenge und Stylreinheit bestand. Vorbereitet und unterstützt wurde diese neue Phase der Entwickelung durch die mittlerweile erstarkte wissenschaftliche Untersuchung und die mächtig hervortretende Restauration mittelalterlicher Kirchendenkmäler. In Österreich fanden diese Bestrebungen einen Mittelpunkt durch die 1853 vollzogene Gründung der k.k. Centralcommission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, welcher sich die Gründung zahlreicher Alterthumsvereine in den Kronländern anschloß. Alle diese Vereinigungen waren getragen von dem starken Interesse für die mittelalterliche Kunst, das allmählich alle Kreise der Gebildeten erfaßt hatte. Daß von einer Pflege der Renaissance oder gar Barockgeschichte in

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diesen Kreisen nicht die Rede sein konnte, ist selbstverständlich, denn die ganze Zeit haßte und verachtete ja geradezu diese Stylrichtungen. Die leidenschaftliche Concentrirung auf den Romanismus und die Gothik war aber so stark, daß selbst die Theilnahme für antike Funde zusehend abnahm und dies sogar wiederholt zu Aufrufen und öffentlichen Ermahnungen in Fachblättern Veranlassung gab, man möge doch die Pflege dieses Gebietes nicht ganz vernachlässigen. Vieles vereinigte sich, eine so mächtige Wirkung auf die Gemüther hervorzubringen. Die Ideen, welche Tieck, Schlegel und die übrigen Romantiker in ihren Schriften ausgesprochen hatten, beherrschten die Gedanken; eine neue Bahn lag offen zur Bethätigung und der Reiz der Neuheit wirkte belebend wie Morgenthau und Waldesduft. Auch von den antiquarischen Forschungen gilt dies in hohem Grade, denn hier galt es geradezu eine neue unbekannte Welt zu entdecken. Die meisten alten romanischen und gothischen Kirchen mußten buchstäblich neu entdeckt werden, Überraschung und Freude des Findens lohnte reichlich jeden Ausflug mit all’ den kleinen Aufregungen, die damit verbunden sind. So kam es, daß die Centralcommission sogar einen eigenen Paragraph in ihr Statut aufnahm, über „d i e E n t d e c k u n g v o n B a u d e n k m ä l e r n “ und regelmäßige Forschungsreisen veranstaltete, auf welche in den ersten Jahren die Architekten Hiesen, Zimmermann, Lippert, Bergmann, Essenwein, Rösler und die Historiker Eitelberger und Heider entsandt wurden. So tauchte unter Andern die dunkle Kunde auf, daß auch in Ungarn zwischen der Donau und Drau Überreste mittelalterlicher Baudenkmale sein sollten. Eitelberger und Hieser rüsteten sich zur Entdeckungsfahrt und brachten wirklich die Pläne und Beschreibung der herrlichen romanischen Abtei von Szt. Ják und vieles Andere als Ausbeute heim. Eitelberger beginnt seinen interessanten Bericht hierüber folgendermaßen: „Die nachfolgenden Blätter enthalten einen Bericht über jene mittelalterlichen Baudenkmale Ungarns, welche ich in zwei kurzen Ausflügen von 1854 und 1855 besichtigt habe. Sie gehören fast ausschließlich dem romanischen oder Übergangsstyle an und bezeichnen eine für jene Gegenden nicht unbedeutende Bauthätigkeit, d i e m i c h u m s o m e h r ü b e r r a s c h t e , je weniger die Nachrichten inländischer oder ausländis c h e r S c h r i f t s t e l l e r e i n e s o l c h e e r w a r t e n l i e ß e n . Ich zweifle gar nicht, daß sich auch im übrigen Ungarn interessante Monumente aus dem romanischen und gothischen Style vorfinden, und daß selbst in den von mir durchstreiften Gegenden noch Denkmale der Art vorhanden sind, die zu besuchen mich Mangel an Zeit verhindert hatte.“ Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)

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Das ist die Art über bisher völlig Unbekanntes zu berichten, wie es heute nur mehr bei Reisen nach Centralafrika oder dem Nordpol vorkommt; damals aber lag das Unbekannte dicht vor der Thüre und überall, es war das Mittelalter, an dem man seit Jahrhunderten blind vorbeigegangen war, während nun jede Publication Unerhörtes brachte, mit Sehnsucht erwartet und mit Heißhunger studirt wurde. Zu den verdienstvollsten Mitgliedern der Centralcommission zählten gleich in den ersten Jahren der Gründung ihr erster Präsident, Freiherr v. Czoernig, ferner Freiherr v. Sacken, Camesina, J. Feil und K. Weiß. In der Natur dieser Richtung mußte es liegen, daß die Commission und ebenso die Alterthumsvereine fast gänzlich im Dienste der kirchlichen Kunst arbeiteten, denn kirchliche Bauwerke sind es hauptsächlich, welche uns noch aus der romanischen und gothischen Periode erhalten sind. Die allgemeine Begeisterung für diese Werke ermöglichte es aber auch, bisher unerhörte Summen für ihre Restauration und Conservirung aufzubringen durch Sammlungen, Spenden aller Art, durch Zuschüsse aus dem Religionsfonds, von Ländern und Gemeinden, ja selbst durch Übernahme ganzer Restaurationen durch Private. Eine der ältesten Restaurationen ist die Stiftskirche zu Inichen, schon 1846 begonnen und 1853 zu Ende geführt; dann die der Pfarrkirchen zu Tertan und zu Statz in Tirol, sowie der Altäre und des Presbyteriums zu Säben. Noch in den Fünfzigerjahren wurden in Tirol theils begonnen, theils auch zu Ende geführt: die Restauration des Domes zu Trient unter Architekt A. Essenwein mit seinen alten Mosaiken, zu denen noch die musivische Ausschmückung der nördlichen Seitenapsis kam; ferner die Restaurirung der gothischen Kirchen zu Bludesch, Ridnaun, Lana, Naz, Kundl; des alten romanischen Kirchleins zu St.Florian bei Bozen, der Kirchen zu Piè di Castello bei Trient und in der Vill bei Neumarkt und mehrerer Flügelaltäre und Anderes noch mehr. In den anderen Kronländern südlich der Donau wurden gleichfalls allenthalben solche Arbeiten in Angriff genommen, von welchen erwähnt sein soll: die umfassenderen Wiederherstellungen an der Pfarrkirche in St. Steyr, des spätgothischen Friedhofkirchleins von St. Peter zu Salzburg, der Stiftskirche zu Neuberg in Steiermark, der Lechkirche in Graz, der Pfarrkirche zu Ischl durch den Architekten H. Michel, welche auch ein Altarblatt von Kupelwieser und einen umfassenden Freskencyklus von Mader erhielt, der Restauration des berühmten St. Wolfgang-Altares und des Presbyteriums der Wolfgangkirche am gleichnamigen See durch Architekt Bergmann, die Bloßlegung und Restauration des Domes von Spalato, der Kathedrale von Sebenico, des Baptis-

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teriums zu Aquileja, des Domes zu Gurk, der Kirche von Deutsch-Altenburg an der Donau u.s.w. In den Ländern nördlich der Donau, besonders in Böhmen, theilten sich hauptsächlich die Architekten Professor B. Grueber (Aegidikirche zu Nimburg, Katharinencapelle Sluperkirche zu Prag, Decanatskirche zu Pilsen, Maria Verkündigung zu Prag, etc.), welcher unter anderen auch die gewissenhaften Aufnahmen der interessanten gothischen Kirchen zu Kuttenberg durchführte, und Architekt Schmoranz (Katharinenkirche zu Chrudim und Decanatskirche daselbst) die ersten Restaurationen. Zu Prag wurde ferner die umfassende Herstellung der Teynkirche am großen Ring unter der Leitung des Architekten und Steinmetzmeisters Kranner in Angriff genommen. Ferner wurden früh begonnen die Restaurationen der Dompfarrkirche in Budweis, der gothischen Marienkirche zu Sedletz, der Mauritiuskirche in Olmütz und an der Decanatskirche zu Pisek wurde das gothische Haupt- und Seitenportal frei gelegt. In Krakau begannen 1858 die Vorarbeiten zur Restauration der Katharinenkirche und zum Wiederaufbau der Dreifaltigkeitskirche. Auch Ungarn nahm regen Anteil an dieser Strömung, wie die schon 1845 bis 1867 unter Lippert’s Leitung durchgeführte Restauration der früheren Krönungskirche des St. Martinsdomes von Preßburg (eine Hallenkirche, gebaut von 1090 bis 1452) zeigt; ferner der Mathiaskirche am Dreifaltigkeitsplatz zu Ofen, die sogar 150 Jahre als Moschee diente, nach den Plänen Schuschek’s, der Kirche des Clarissenklosters ebendaselbst; die Restauration des Elisabethdomes zu Kaschau unter Leitung des Architekten K. Gerstner. In Siebenbürgen wurde zu Karlsburg der Thurm der Kathedrale restaurirt und für die Pfarrkirche in Klausenburg schon Mitte der Fünfzigerjahre die Errichtung eines neuen gothischen Thurmes in Aussicht genommen. Bei all’ dieser ungeahnt reichen Thätigkeit ist noch der großen Stifte zu gedenken und der Restaurationen alter Kreuzgänge, wie sie in Millstatt, Brixen und Pettau angefangen wurden, denen später die des altromanischen Kreuzganges vom Frauenstift am Nonnberg zu Salzburg folgte und in neuerer Zeit die zu Klosterneuburg, Heiligenkreuz und Zwettl. Letztere durch den Architekten H. v. Riewel. Eine hervorragende Rolle unter den ersten Gothikern in Österreich-Ungarn gebührt auch dem Architekten J. Lippert, welcher 1857 mit der Restau­ ration der gothischen Kirche von Maria Straßengel in Steiermark betraut wurde und bald darauf vom Erzbischofe von Olmütz den Auftrag zu einer gothischen Capelle für das Knabenseminar in Kremsier und vom Bischof von Raab zu einer gothischen Hauscapelle erhielt. Lippert ging auch an die VorarDie neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)

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beiten zur Restauration des Domes von Agram (später von Friedrich Schmidt geleitet), dessen Aufnahme er durchführte und ist seitdem mit Kirchenbauten in Ungarn beschäftigt gewesen und Primatialarchitekt zu Gran. Als Muster aller dieser Unternehmungen muß in technischer, künstlerischer und archäologischer Beziehung aber die im größten Style organisirte Restauration von St. Stephan zu Wien betrachtet werden. Der Antheil von Dombaumeister Ernst wurde schon erwähnt und diene zur Ergänzung, daß in die jetzt geschilderte Zeit die (1857) vollzogene) Gründung des Dombauvereins fällt und daß von 1858 und 1859 an auch der Staat und die Commune Wien sich mit namhaften Beiträgen betheiligten. Der Erfolg so intensiver Vertiefung in die alten Originalwerke in wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung und die Rückwirkung auf die eigene schöpferische Thätigkeit konnte nicht ausbleiben. Im Zusammenhange mit den Bedenken, welche so manche unreife Frucht des Stylerfindenwollens erweckte, kam immer mehr die Idee zur Geltung, daß nur in der Reinheit und Echtheit des Styles allein alle Kraft und Wirkung liege, daß jedes Abweichen hiervon störend wirke und von Übel sei. Ein wesentlich anderes künstlerisches Glaubensbekenntniß als das der Romantiker. Freilich hatte schon Rumohr das Zurückgehen auf die alten Stylmuster verlangt, die er die Incunabeln der Kunst nannte, aber jetzt erst fand die Idee allenthalben Glauben, jetzt erst war sie, sozusagen, handgreiflich geworden, an der Hand praktischer Erfahrung, an der Hand thatsächlicher Mißerfolge. So weit war die Entwickelung der Ideen gediehen, als neuerdings der Concurs zu einem großen Kirchenbau in Wien zur Ausschreibung kam, zum Baue der Votivkirche. Es waren 75 Projecte eingelaufen und darunter hervorragende Conceptionen von allen bedeutenden Gothikern Deutschlands und Österreichs, von Friedrich Schmidt, V. Statz, G. Ungewitter, H. Riewel und Anderen. Alle Projecte waren gothisch, und zwar meist rein und streng in der Durchführung. Am 10. Juni 1855 wurde dem jungen Wiener Architekten Heinrich Ferstel der erste Preis zuerkannt und sein Entwurf zur Ausführung bestimmt. Ferstel (geb. zu Wien 1828, gest. 1882), damals erst 27 Jahre alt, hatte kaum seine Studien vollendet und nur erst den Barbara-Altar zu St. Stephan im Verein mit Architekt Stache ausgeführt. Dennoch war sein Entwurf eine reife Meisterleistung, eine Leistung, wie sie nur zehn Jahre früher überhaupt eine Unmöglichkeit gewesen wäre, so sichtbar rasch eilte die Zeit ihren Zielen entgegen. Es hieße Allbekanntes wiederholen, die Anordnung dieses größten Werkes unserer neueren Kirchenbaukunst beschreiben zu wollen. Der Grundgedanke der Conception muß aber hervorgehoben werden, weil er

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charakteristisch ist für die Phase der Entwickelung, in der er entstand. Wenn nämlich gesagt wurde, daß zehn Jahre vorher ein solcher Plan hätte nicht geboten werden können, weil die Vertiefung in die echte alte Gothik, weil die Kenntniß ihrer sämmtlichen Mittel und Motive noch nicht weit genug gediehen war, so kann mit demselben Rechte auch behauptet werden, daß heute schon die leitenden Grundsätze dieses Werkes nicht mehr die unseren sind und ein eben solcher Bau kaum jemals mehr entstehen wird. Es sei erlaubt, zur genauen Bezeichnung des Platzes, den er in der Entwickelung einnimmt, weiter auszuholen. Wenn Jemand das Typische aller gothischen Dome sammelte und daraus das Interessanteste und Wesentlichste auswählte, um einer dafür interessirten Zuhörerschaft den Kern der Sache, etwa in einem Vortrage, so recht deutlich und klar vor Augen zu stellen, so wird kein einzelnes Beispiel der alten Kunst ihm hierzu vollkommen tauglich sein; er wird entweder Vieles bringen müssen und dadurch den beabsichtigten Gesammteindruck verzetteln, oder er wird sogenannte Schemata selbst combiniren müssen, wie sie thatsächlich zu solchen Zwecken schon mehrfach gegeben wurden. Wenn die Sache vollkommen gelingt, so wird, durch Worte hervorgezaubert, ein allgemeines Bild dessen, was der gothische Kirchenbau in seiner höchsten Entwickelung denn eigentlich gewesen sei, in der Phantasie der Zuhörer entstehen. Nun wohl, hier steht dieses Phantasiebild leibhaft verkörpert in Stein gemeißelt vor den Augen des Volkes. Gerade ein solches Phantasiebild war es aber, das der ganzen Zeit ahnungsvoll vorschwebte. Der junge Künstler, der selbst noch ganz der Verehrung und dem Studium der alten Meister hingegeben war, hat es zu bauen, zu verwirklichen gewußt, und so wurde er denn mit dem freudigen Zuspruch aller Kreise der Kunst belohnt, denn es war ihr Gedanke, ihr Wunsch, den er zu fassen und auszudrücken verstand. Auch an die technische Ausführung dieses majestätischen Werkes knüpfen sich hochwichtige Errungenschaften. Gleichfalls nach dem Vorbilde der mittelalterlichen Steinmetzhütten wurde sogleich die Anlage einer Bauhütte beschlossen, Lehrlinge nach eigenem Statut zur Ausbildung wurden angenommen und das Ganze in eigener Regie zu bauen begonnen. Zum Vorstande dieser Hütte wurde der Architekt und Steinmetz J. Kranner (geb. zu Prag 1801, gest. 1871) aus Prag berufen, nach dessen Tod H. v. Riewel das Werk vollendete. Auch diese Unternehmung gelang vollkommen und es wurde thatsächlich eine neue Generation von Steinmetzen erzogen, welche mit Leichtigkeit ihre Maßwerke und selbst als Bildhauer ihre Krappen und Kreuzrosen frei aus dem Stein hervorbrachten. Hiermit war die Periode der reinen strengen Gothik für Österreich in glänzender Weise begonnen. Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)

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Der Einfluß dieses Baues auf alle Kunstzweige auch über die Grenzen der kirchlichen Kunst hinaus war ein mächtiger; Ferstel selbst aber war späterhin merkwürdigerweise wenig mit kirchlichen Aufträgen in Anspruch genommen. Von größeren Werken sind nur zu nennen die dreischiffige evangelische Kirche in Brünn, die katholische Kirche in Schönau bei Teplitz und der neue Hauptaltar in der Schottenkirche in Wien. Von immer größerer Bedeutung wurde von nun an aber auch der hervorragende Einfluß, der von den ersten Kirchenfürsten in Österreich und Ungarn ausging. Schon lange vorher war in Ungarn der Bau der stolzen Domkirche zu Gran mit der weithinragenden Kuppel unter Fürst Primas Cardinal Rudnay 1821 nach den Entwürfen Kühnel’s begonnen als der sichtbare Ausdruck des ungarischen Primates. In den Fünfzigerjahren, in welchen bis 1856 dieser Kolossalbau seiner Vollendung entgegenreifte, wurde ihm allerdings nicht die gebührende Aufmerksamkeit zu Theil, denn der Bau war ja nicht gothisch. Dem Beispiele des Fürst-Primas folgte der auch als Dichter bekannte Erzbischof L. Pyrker von Erlau, der auch für seinen Bischofsitz einen würdigen Dom begann durch Architekt Hild 1837 in italienischer Renaissance, der noch frühen Jahrzahl angemessen. Als erster großer Kirchenerbauer nach neuer Richtung ist Dr. Stroßmayer zu nennen, dessen gewaltiger Dombau von Diakovar schon erwähnt wurde. Einen geradezu heroischen Entschluß muß man die Idee Bischof Rudigier’s nennen, auch in Linz mit beschränkten Mitteln die Gründung eines Dombaues im größten Style zu wagen. Dieser streng gothische Mariendom wird seit 1859 allmählich weiter geführt nach den Entwürfen des Kölner Architekten V. Statz. Für Wien begann eine neue Ära des vom Bischofsitze ausgehenden Kirchenbaues unter Cardinal Rauscher und diese kann als epochemachend bezeichnet werden, weil sie mit einem anderen Ereignisse von größter Tragweite zusammenhing, nämlich mit der 1859 erfolgten Berufung des ein Jahr vorher in Mailand thätigen Kölner Dombau-Architekten Friedrich Schmidt, der in rascher Folge eine ganze Reihe von Kirchen ausführte, nämlich die 1859 begonnene Lazaristenkirche am Schottenfeld, die Weißgärber Pfarrkirche 1864, die Brigittenauer 1867, die Lazaristenkirche in Neuwähring 1875, die Pfarrkirche in Fünfhaus 1867 begonnen, dann später noch die Pfarrkirche in Weinhaus und zuletzt die Capelle im Sühnhaus. Auch der als Capelle benützte Festsaal des akademischen Gymnasiums wäre zu erwähnen. Mit Friedrich v. Schmidt hielt nicht nur der unbestritten größte Gothiker unserer Zeit, sondern auch der Vertreter und Bahnbrecher ganz bestimmter baulicher Principien seinen Einzug in Wien; er ist in erster Linie Meister des

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Steinbaues und der materialgerechten unverhüllten Construction. Mit ihm kamen die Schule des Kölner Dombaues und die kräftige schwäbische Art der Architekturempfindung nach Österreich. Das Merkwürdigste und ihm allein Eigenste ist aber wohl sein Verhältniß zu den alten Meistern. Diesen gegenüber verhält er sich nicht sowohl als Wiederbeleber oder Nachahmer, sondern geradezu wie ein unmittelbarer Nachfolger, wie einer aus ihrem Kreise selbst. So schuf er denn nicht ängstlich wählend und zusammensetzend, sondern stets frei nach den einmal festgestellten Principien, aus einem für jedes Werk angenommenen Grundgedanken heraus construirend und entwickelnd, und so wurde denn auch jede folgende Conception immer wieder ein Neues und jede der bereits angeführten Wiener Kirchen wurde zu einem Ereigniß im Gebiete des Kirchenbaues bis zur Durchführung des centralen Kuppelbaues in Fünfhaus, jenes Unicums im Gebiete der Gothik. Gleich bewundernswerth ist hierbei die nie versiegende Mannigfaltigkeit immer neuer Combinationen und Lösungen, sowie die ungeheuere Schaffenskraft, die es ihm ermöglichte, nebst einer ungemeinen Menge von Kirchenbauten in Deutschland noch Pläne für Bauten in Schweden, Italien, Frankreich und einen großen gothischen Dom für China zu entwerfen. Von österreichischen Kirchenbauten Schmidt’s sind noch zu nennen: die Lazaristenkirche in Graz, die gräflich Thun’sche Hauscapelle in Tetschen, die Kirche in Bruck im Pinzgau, die Kirchen in Wildbad Gastein, in Tischnowitz und zu Weiler in Vorarlberg, endlich noch die St. Niclaskirche in Innsbruck. An Restaurationen sind zu nennen: die der Stephanskirche in Braunau, der Markuskirche in Agram, der Pfarrkirche zu St. Steyer, die Restaurationen zu Klosterneuburg und der Dome in Agram und in Fünfkirchen. Seit 1862 ist Schmidt Dombaumeister zu St. Stephan und hat als solcher den großen Thurmhelm vollendet, die herrliche Kanzel restaurirt, die alten Heidenthürme und Theile der Façade wieder hergestellt und einen großen Theil des Innern pietätvoll und mustergültig in Ordnung gebracht. Auch zu St. Stephan wurde eine Bauhütte eingerichtet, welcher als Bauführer nach der Reihe vorstanden: Ernst jun., Mocker, derzeit Dombaumeister in Prag, Wächter, Laužil, derzeit Director der Staatsgewerbeschule in Graz und Architekt Herrmann. Von nachhaltigem Einflusse auf das kirchliche Bauwesen in Österreich ist auch die hervorragende Thätigkeit Schmidt’s als Lehrer an der Akademie. Eine ganze Generation jüngerer Architekten nennt sich mit Stolz seine Schüler und tragen seine architektonischen Grundsätze in weiteste Kreise. Bei einer so wahrhaft großartigen Bauentwickelung konnte es nicht ausbleiben, daß auch alle übrigen Künste lebendig wurden. Der ersten Werke Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)

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der wieder erneuerten Frescomalerei in der Jägerzeiler- und Altlerchenfelderkirche wurde schon gedacht. Die ersten Glasgemälde für den Dom von St. Stephan wurden nach Führich’s Cartons unter Dombaumeister Ernst von Geyling angefertigt. 1861 erfolgte die Gründung der Glasmalereianstalt in Innsbruck durch Architekt Vonstadl, Historienmaler Mader und durch Neuhauser. Zu europäischem Ruf gelangte der Führichschüler H. Klein durch seine zahlreichen Entwürfe zu Glasfenstern. Klein gehörte aber in diesen Entwürfen nicht mehr zu den Romantikern, sondern auch hier, im Gebiete der Malerei, machte sich die Strömung der Zeit geltend und verlangte strenge Nachahmung der alten gothischen Muster mit aller Ungelenkheit in der Bewegung, mit all’ den noch unperspectivischen Zeichenmanieren u.dgl.m. Klein und seine Gesinnungsgenossen kamen diesen stylistisch strengen Anforderungen gewissenhaft nach, während Mader in seinem Freskencyklus der Ischler Kirche sich freier hielt in der Art von Steinle und Heß. Steinle selbst, obwohl ein geborener Wiener und der Träger der religiösen Historienmalerei in Deutschland, erhielt für österreichische Kirchen nur einen einzigen Auftrag, und zwar zu einem Glasgemälde für die Votivkirche. Von Heß enthält nur der Dom zu Gran ein Altarblatt. Auch Meister Führich konnte nach Vollendung der Lerchenfelderkirche keine Wände mehr finden für seine tiefernsten Compositionen und seine gewaltige Zeichnung. Er mußte sich’s mit dem Holzschnitt und kleinen Staffeleibildern genügen lassen, während allenthalben Kirche um Kirche neu entstand. Auch das lag in der Zeit, denn die rein constructive Gothik hat keinen Raum für den Maler großer Fresken und der Architekt, der alles allein besorgt, erübrigt höchstens ein paar winzig kleine Flächen in den Conchen oder etliche Zwickel an den Gewölben für untergeordnete figurale Darstellungen. Die mitunter reiche Polychromie unserer neugothischen Kirchen ist daher vorwiegend ornamental architektonisch. In dieser Richtung wurde Bedeutendes geleistet besonders durch die Brüder Karl und Franz Jobst, welche die innere Polychromie der Brigittenauer- und Weißgärberkirche herstellten, auch an den Malereien in der Votivkirche betheiligt waren und an Anderem. In der Fünfhauserkirche stammt die figurale Bemalung von A. Mayer und K. Schönbrunner und die decorative von F. Schönbrunner. In der Votivkirche sind die Cartons zu einigen Glasgemälden und die Fresken in dem Vierungsgewölbe von Laufberger, einige andere von Wörndle und ein Theil der decorativen Bemalung von Jobst. Eine Heimstätte zu tiefernstem, aber nur zu wenig beachtetem und gewürdigtem Schaffen fand Trenkwald in der Votivkirche. Von ihm sind die

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Cartons zu den Mosaiken des Altarbaldachins welche Papst Pius IX. als Geschenk in der päpstlichen Mosaikanstalt in Rom anfertigen ließ. Höchst anziehend in der Composition und tüchtig in der Ausführung sind die Bilder Trenkwald’s in den Absidialcapellen. Es ist dies ein Bildercyklus feinster Art in echt Schwind’schem Geiste, voll Wärme, Leben und echtem großen Stylgefühle, eine Oase in der Wüste moderner naturalistischer Malerei. Gerade deshalb aber kümmert sich Niemand um diese Werke stillen beschaulichen Schaffens. Auch die Glasgemälde Kratzmann’s verdienen noch hervorgehoben zu werden. Hauptsächlich die Votivkirche ist zu einer Stätte figuraler kirchlicher Plastik geworden. Der Hauptbildhauer war hier H. Gasser. Seine Meisterstücke sind das Tympanon und Giebelfeld des Hauptportales. Außerdem enthält die Votivkirche Werke von Benk, Melnitzky, Bauer, Erler, Pilz, Schmiedgruber, Preleuthner und Anderen. Die Orgel ist nach Zeichnungen des Architekten H. v. Riewel (derzeit Fachvorstand an der Staatsgewerbeschule in Wien) von dem Altarbildhauer Westreicher in Linz ausgeführt; die Glocken von der bekannten Firma Hilzer und Sohn in Wiener-Neustadt. So sproßte neues Leben allenthalben um diese großen Bauwerke und eine feste Stylrichtung wenigstens für das kirchliche Bauwesen schien für immer gesichert zu sein. Der Münchener Versuch, auch den Basilicabau wieder zu beleben, fand in Österreich nirgends Nachahmung, obwohl Bunsen diese Form als die allein echte und richtige für die christliche Kirche erklärt hatte. Ein in seiner Art glänzend gelungenes Beispiel der Anwendung des byzantinischen Styles gab Th. Hansen in seiner griechischen Kirche am alten Fleischmarkt in Wien. Die Anwendung dieses Styles blieb aber vereinzelt, obwohl es nicht an Stimmen fehlte (allerdings nur für kurze Zeit), welche auch diesen Styl als den allein richtigen für die Zukunft bezeichneten, weil er noch bildungsfähig sei, indem er nicht ganz zur Durchbildung gelangt sei. Noch vereinzelter steht das Beispiel einer echt englisch-gothischen kleinen Landkirche da. Es ist die englische Kirche zu Marienbad, welche von dem berühmtesten englischen Gothiker Scott daselbst erbaut wurde. Glasgemälde, Bronzen etc. kamen direct aus England von den ersten Firmen. Der Bau selbst wurde bis in’s kleinste Detail in echt englischer Weise hergestellt, ist bei aller Kleinheit und Einfachheit in jeder Beziehung mustergültig und interessant, findet aber bei der einheimischen Bevölkerung nicht den geringsten Anklang; er ist ein unverstandener Fremdling. So blieb denn verhältnißmäßig lange für unsere raschlebige Zeit alles ruhig bei dem festgefügten System und als Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)

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anderwärts im Profanbaue die Renaissance allenthalben schon dominirte und der weitere Bau gothischer Wohnhäuser bereits als Unding galt, entstand, wie von selbst, eine Art Compromiß, welcher besagte: Kirchen sind selbstverständlich ausschließlich gothisch zu bauen, alles andere aber gehört der Renaissance; damals noch strengere italienische oder sogenannte griechische. Aber auch das sollte anders werden. Zuerst wurden Stimmen laut, welche die schweren Erhaltungskosten und ewigen Restaurationen an den zierlichen Maßwerken und Steinspitzen der gothischen Werke bemängelten, so daß bei größeren Domen das Bauen thatsächlich niemals aufhört, weil immer wieder an der einen Seite begonnen werden müsse, wenn die Restaurationen auf der anderen Seite zu Ende sind. Dann wurde auch auf die nothwendigerweise derbe, ja ungeschlachte Farbengebung hingewiesen, die man aber nicht verfeinern könne, weil man sonst aus der Rolle falle. Ebenso wurde die Unterdrückung der großen Malerei, die leidige Nothwendigkeit eckig und falsch zu zeichnen, weil die Figuren sonst nicht in den Styl passen würden, hervorgehoben. Das große Publicum fand im Allgemeinen den Eindruck besonders des Inneren für unsere Empfindung gar zu ernst, ja düster; die Kenner aber entdeckten täglich neue Momente, welche aus technischen Gründen und aus Gründen der gänzlich veränderten Productionsverhältnisse und Handwerksgebräuche es klar machten, daß eine wahrhaft getreue Wiedergabe der echten alten Gothik ein Ding der Unmöglichkeit sei; die Neugothik aber denn doch nicht den Geist unserer Zeit frei und ungehindert auszudrücken vermöge. Wo aber einmal die Kritik ihr zersetzendes Werk begonnen, da erlahmt die Begeisterung und so trat denn eine allmähliche Ernüchterung an Stelle des ursprünglichen Feuereifers. Das Entdecken alter Werke hatte den Reiz verloren, denn es war eben nicht mehr viel zu entdecken und über das Gefundene war nicht mehr viel wesentlich Neues zu sagen. So wurde denn bereits in den Siebzigerjahren die Gothik endlich als etwas Allbekanntes, Gebräuchliches hingenommen, über das man sich nicht sonderlich in Aufregung zu versetzen braucht. Unter solchen Verhältnissen kam es, daß der an sich geringfügige kleine Neubau der Mechitaristenkirche in Wien eine lebhafte literarische Besprechung hervorrief. Der Bau wurde 1872 durchgeführt, und zwar schnurgerade entgegen dem allein herrschenden Dogma, daß jede Kirche selbstverständlich gothisch sein müsse, in deutscher Renaissance, deren Wiederbelebung damals gerade erst aufzudämmern begann. Bei Beginn des Baues war das Werk von Lübke „Über die Geschichte der deutschen Renaissance“ noch nicht erschienen und von Ortwein’s Publication lagen nur die ersten Lieferungen

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vor. Die öffentliche Meinung erklärte es einhellig als erfreuliches Ereigniß, daß nunmehr auch auf kirchlichem Boden der Bann der Gothik gebrochen sei und thatsächlich gehört der neueste Kirchenbau der Renaissance wieder an. In erster Linie wendete sich eine der entscheidendsten Instanzen, das Wiener erzbischöfliche Consistorium, dieser Richtung zu und Baurath Bergmann, welcher einige Jahre früher die Karolinenkirche im IV. Bezirk noch gothisch erbaut hatte, errichtete jetzt im X. Bezirk einen Kirchenbau im Style der italie­nischen Renaissance. Die vollständige Wandlung aller ursprünglichen Ideen war hiermit abgeschlossen. Vor Allem kam im Laufe der Entwickelung immer mehr die Ansicht zur Geltung, daß die Stylfrage eine rein technischkünstlerische sei und nicht als religiöse Angelegenheit aufzufassen sei. Man hatte eben alle Style der Reihe nach durchprobirt und gefunden, daß sich in jedem derselben die verschiedensten Stimmungen, auch die des Großen und Erhabenen, hervorbringen lassen, und daß kirchlicher Ernst dem Renaissance­ bau ebenso innewohnen könne, wie dem Gothischen. Jetzt fing man wieder an, die Peterskirche in Rom als ein erhabenes Denkmal kirchlicher Kunst zu feiern, über welche G. Müller noch vor erst 25 Jahren unter dem einhelligen Beifalle aller Kunstgenossen das folgende Urtheil verkündet hatte: „So ist es gekommen, daß der Bau der Peterskirche die Zahl jener Baudenkmäler, welche die göttlichen Kräfte des schaffenden Menschengeistes beurkunden, nicht nur nicht vermehrte, sondern daß er die Veranlassung einer falschen und verderblichen Richtung in der Baukunst wurde, die in ihrer nachherigen völligen Entartung Werke errichtete, die ein bejammernswerthes Bild von jenem Grade der Verwirrung sind, in welchen das menschliche Schaffen ge­ ra­­then kann, wenn es von Wahrhaftigkeit und Reinheit, von Vernunft und Maß, kurz wenn es vom guten Geiste verlassen ist. Man bedenke, mit welcher ungewöhnlichen Würde und Größe sich die mittelalterlichen Motive an der ungeheuren Vorderseite des St. Peter-Domes hätten ausbilden lassen, und man wird mit Trauer empfinden, wie entsetzlich die Baumeister jenes Domes eine großartige Aufgabe der Kunst mißbraucht haben. Ebenso unbefriedigend wurde die Aufgabe der christlichen Kunst im Inneren der Peterskirche gelöst. Die schönen Pfeilerbildungen der christlichen Kirchenbaukunst wurden mit riesigen Pilasterstellungen vertauscht; die sinnreichen Kreuzgewölbe der christlichen Dome wurden dem römischen Tonnengewölbe hintangesetzt; jener blaue Himmel mit zahllosen goldenen Sternen mußte einer inhaltlosen Nachahmung des Cassettengewölbes im Pantheon weichen“ etc. Heute würde dieses übersprudelnd leidenschaftliche Urtheil wohl Niemand mehr unterschreiben; ebensowenig, wie das ihm entgegenstehende Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)

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gleichfalls voreingenommene des Vasari, der alle Werke des gothischen Styles als schlechtweg barbarisch erklärte und Denjenigen als den Helden einer ruhmeswerthen That feiern wollte, welcher sie allesammt vom Erdboden vertilgen würde, da sie Anderes nicht verdienten. Heute, wo wir genaue praktische Einsicht in das Wesen aller Stylrichtungen genommen haben, urtheilen wir freier über diese Angelegenheit und es sind selbst Stimmen laut geworden, welche meinten, daß das Bauen in allen Stylen ganz nach Belieben eben der Styl unserer Zeit sei. Ein solcher bis zur Gleichgültigkeit kühler und in seinem Wesen eigentlich sinnloser Ausspruch, kann aber nie und nimmer ein Princip sein, das den Künstler erwärmt und begeistert, auf das sich die Kunst einer Zeit gründen läßt. Dieses Princip gilt heute auch nur in den Fabri­ ken, wo nur des Erwerbes halber jede beliebige Marktwaare erzeugt wird. In der wahren lebendigen Kunst kam dagegen Barocke und Rococo an die Reihe, aber kaum zu einer nur annähernd ähnlichen Wiederbelebung wie der griechische Styl, der Romanismus, die Gothik und selbst Byzantinismus und Altchristliches. Barocke und Rococo werden nicht mehr ernst genommen; sie werden hastig überstürzt, gerade nur, um denn auch noch flüchtig daran gewesen zu sein. Die Ursache dieser auffälligen Erscheinung liegt durchaus nicht in den Stylen, die trotz aller zeitlichen Nähe uns sehr fremd geworden waren, die groß in ihrer Art, uns viel zu lernen und zu behalten geben würden. Es sei nur an die Sicherheit und Größe erinnert, mit welcher die alten Meister dieses Styles ganze Gebäudecomplexe (Kirchen und Klöster) zu einander zu stellen, wie sie wirkungsvolle Kirchenplätze und überhaupt große Ensembles zu gruppiren verstanden. Die Ursache, warum wir es mit diesen letzten Stylgattungen nicht mehr so genau nehmen, liegt in uns selbst, weil wir am Ende einer langen mühevollen Lehr- und Lernzeit immer deutlicher gewahr wurden, worauf denn das Ganze hinauslaufe. Anfangs glaubten wir steif und fest, in jeder neu dem Studium unterzogenen Stylrichtung die Fährte des gesuchten allein seligmachenden Styles unserer Zeit gefunden zu haben. Jetzt, am Ende dieser so merkwürdig systematischen Lehrzeit, sehen wir, daß alles Täuschung war, daß wir nur zu lernen hatten, und vom Standpunkte dieser Selbsterkenntniß aus sind wir schlechterdings unfähig, die gleiche Herzensgluth der als bloßes Studienobject erkannten Barocke entgegen zu bringen, welche den anderen Stylen ja auch nur genau so lange galt, als wir in der Täuschung befangen waren, in ihnen den erlösenden Ausweg gefunden zu haben. So sind wir also nach langem Ringen wieder beim Ausgangspunkte angelangt, es sei frank und frei herausgesagt, bei der Erfindung des sogenannten neuen Styles.

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Diese Idee ist in der nunmehr abgeschlossenen Periode des strengen Stylstudiums arg verlästert worden und doch war sie allein die geheime Triebfeder all’ dieser bis zum Äußersten angespannten Arbeit. Also hinweg mit jeder Selbsttäuschung! Es ist nicht anders, wir stehen im Wesentlichen wieder auf dem Boden, auf dem Ziebland, Müller und Van der Nüll standen. Nirgends kann man dies deutlicher sehen als an der großen baulichen Entwickelung Wiens. Der erste große Monumentalbau, das Opernhaus, ist ein Versuch, eine neue Renaissance zu gestalten, durch Aufnahme gothischer Elemente. Der jüngst vollendete große Monumentalbau, das Rathaus, will im Wesentlichen dasselbe, nämlich eine neue Gothik durch Aufnahme von Renaissance-Elementen. Dazwischen liegt die Periode der Stylreinheit. Es ist ein Zeugniß ungewöhnlicher innerer künstlerischer Kraft, daß Meister Schmidt beide Bahnen durcheilt hat. Über sein Rathhaus sagte er selbst in einem hierü­ber 1877 im österreichischen Museum für Kunst und Industrie gehaltenen Vortrag wörtlich: „Wenn an mich die Frage gerichtet wird, in welchem Style das Rathhaus gebaut sei, ob gothisch, so muß ich offen bekennen, daß ich es nicht weiß. Wenn man mich früge, ob es im Style der Renaissance gebaut sei, so muß ich antworten, daß ich es nicht glaube; wenn aber irgend etwas charakteristisch für den Styl des Baues ist, s o m a g e s d e r G e i s t d e r N e u z e i t i m e i g e n t l i c h e n S i n n e d e s W o r t e s s e i n , der sich voll in ihm ausspricht.“ Ist das etwas Anderes als die eingangs erwähnte Forderung Ziebland’s, in der Architektur den Genius der eigenen neuen Zeit auszudrücken? Noch in den Sechzigerjahren wäre Derjenige literarisch gesteinigt worden, der solche Worte auszusprechen gewagt hätte. Es that dies aber auch Niemand. Heute dagegen sind derlei Aussprüche an der Tagesordnung. Noch ein Beispiel für viele: Es erscheint seit 1886 ein Werk, „Die Pflanze in Kunst und Gewerbe“. Im Prospect heißt es: „Hat die Gegenwart schon kein eigenes künstlerisches Gepräge im Sinne eines s c h a r f u m r i s s e n e n Styles, so strebt sie doch nach einer indirecten Selbstständigkeit dadurch, daß sie über den übernommenen Vorrath mit vollster Freiheit zu ihren anders gewordenen Culturzwecken schaltet und waltet. An dem uralten Thema der Pflanze, die allen Völkern der Erde das wichtigste Material des Kunststudiums gewesen, wollen wir abermals unser Können üben, jedoch in demjenigen zwiefachen Sinne, wodurch sich eben unsere Kunstrichtung charakterisiren muß: Erstens, indem wir anwenden, was wir von der Vorzeit gelernt und zweitens, indem wir i n d e r S p r a c h e u n s e r e r Z e i t verkünden, was wir in jener edlen Schule in uns aufgenommen haben. Dann glauben wir, wird unser Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)

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Werk in seinem Antlitze die Züge vornehmer Ahnen mit dem frischen Ausdrucke blühenden Lebens vereinigen.“ Zur Zeit des Concurses um die Votivkirche hätte ein solches Programm für veraltet gegolten, für verwerflich eklektisch; heute hat es als elementare Macht sogar die Akademien innerlich verwandelt, obwohl sie äußerlich noch den Typus tragen, den sie in der Periode der Stylstrenge erhielten. Entsprechend den streng stylistischen Anforderungen wurden an allen Architekturschulen Österreichs und Deutschlands verschiedene Meisterschulen nach Stylen eingerichtet, eine für Gothik, eine andere für Renaissance, etwa noch eine dritte für die griechische Stylrichtung. Jeder Akademiker wählte sich seine Stylrichtung, bei der er mit Stolz verblieb. Die Meisterschulen nach Stylen geordnet, bestehen heute auch noch, aber die jungen Akademiker betrachten die Wahl nicht mehr als ernste Angelegenheit des künstlerischen Glaubensbekenntnisses, sondern wandern nach Jahrgängen aus einer Schule in die andere, um alles kennen zu lernen und dann sich selbst zu vertrauen. So haben wir denn in seltsam rascher Folge ein Stück Entwickelungsgeschichte des menschlichen Geistes miterlebt und gewiß staunenerregend muß der Umstand wirken, daß sich dabei alles so streng logisch entwickelte, dabei aber zugleich keiner der Mitbetheiligten den einheitlichen Gesammtweg überblicken konnte. Jeder meinte zu schieben und war doch selbst nur geschoben in Folge der inneren Nothwendigkeit des Zusammenhanges. Wenn nun aber auch das Ziel, das heute angestrebt wird, wieder dasselbe ist, nämlich Selbstständigkeit in der Kunst; die Mittel sind doch wesentlich verschieden. Die kindlichen Träume, daß der Einzelne einen Styl schaffen könne, beirren uns nicht mehr und vor groben Mißgriffen eines primitiven Eklekticismus sind wir bewahrt, denn wir verfügen nun über die genaue Kenntniß aller Mittel der einzelnen Stylgattungen und lernen mit jedem Tage schärfer beurtheilen, was zusammenpaßt und was sich gegenseitig ausschließt. Von dieser Excursion auf das Gesammtgebiet der Architektur wieder zurückkehrend zur Entwickelung des Kirchenbaues, ist noch Einiges zur Vervollständigung des Bildes anzuführen. Die Wiederaufnahme des Renaissancekirchenbaues ist, wie gezeigt, eine rein interne Kunstangelegenheit. Gerade diese wurde aber sowohl von der Geistlichkeit als auch von den Laien freudig begrüßt, und zwar hauptsächlich aus folgenden Gründen: Besonders im Gegensatze zur Gothik gestattet der Renaissancebau eine freiere, breitere Raumentfaltung mit mehr Licht, mit freierem Gesammtüberblick, besserer Sichtbarkeit der Altäre und der Kanzel und in der Regel ist er auch besser akustisch. Alle antiquarischen oder sonst

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wie immer gearteten eingebildeten oder wirklichen Bedenken müssen aber schweigen dem Umstande gegenüber, daß dieser Styl allein die volle Entfaltung der Malerei und Plastik auf der Höhe ihrer Entwickelung zuläßt. Was die angebliche constructive Inferiorität des Gewölbebaues gegenüber der Gothik betrifft, so ist dies ein Mährlein aus der Sturm- und Kampfperiode der ersten Zeit der Neugothik, an das heute Niemand ernstlich mehr glaubt. Daß die Renaissance nur die Nachahmung der römischen Antike und diese wieder nur die Verschlechterung der griechischen sei, glaubt heute Niemand mehr; wir wissen vielmehr, daß die gesammten Errungenschaften des mittelalterlichen Gewölbebaues als Erbschaft an die Renaissance übergegangen sind, daß eben dadurch der Wölbebau derselben sich wesentlich von dem noch elementareren der Römer unterscheidet und daß speciell im Renaissancekirchenbau alle constructiven Elemente des gothischen Domes latent enthalten sind: Die Strebepfeiler, die Strebebogen, die Theilung und Leitung des Gewölbeschubes durch große Kappen und daß endlich beim Kuppelbau und durch die mannigfache Anwendung der sogenannten Platzel neue und belangreiche Probleme der Wölbekunst gelöst wurden. Gerade dadurch, daß die Renaissance, als höher entwickelte Kunst, lediglich auf die beabsichtigte Wirkung lossteuert, nicht aber auch das nackte, rohe Skelett der Construction dem Beschauer darbietet, wird es möglich, constructiv alles zu gebrauchen, was gut und zweckdienlich ist, ja selbst neu auftauchende Hülfsmittel der Construction in sich aufzunehmen und zu verdauen. So ist gerade ihr die größte Freiheit der Bewegung eigen, vermöge der sie allen Anforderungen zu folgen im Stande ist. Das ist es aber gerade, was unseren so mannigfachen Bedürfnissen entspricht. Der Renaissancebau (diese Stylbezeichnung hier immer im weitesten Sinne genommen) kann in kostbarstem Materiale monumental ausgeführt werden, aber, wenn es sein müßte, auch mit so weit gehender Sparung am Steinmaterial, wie es in der Gothik geradezu unmöglich wäre. Er läßt sich sogar dem Untergrunde und den dadurch bedingten Fundirungsanforderungen anpassen, während der Gothiker bei schlechtem Boden genöthigt ist, den im Oberbau auf einzelne Punkte concentrirten Druck durch ein förmliches Spiegelbild von Gurten und Wölbungen unter der Erde wieder künstlich auf große Flächen zu vertheilen, wie es bei den kostspieligen Fundirungen der Kirche de la Bastide zu Bordeaux, der St. Johanneskirche zu Altona und anderen wirklich geschah. So sehen wir denn der weiteren Entwickelung getrost entgegen und hoffen vor Allem, daß die Pflege des Renaissancekirchenbaues der großen Frescomalerei diejenigen Flächen zu würdiger Entfaltung bietet, welche die Die neuere kirchliche Architektur in Österreich und Ungarn (1887)

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strenge Gothik hartnäckig verweigerte. Wenn es dieser Richtung gelänge, die großen Künste der Malerei, Plastik und Architektur wieder so in einen harmonischen Zusammenklang zu vereinen, daß jede dieser Schwesterkünste wieder gleichartig zur Geltung käme, wieder ihr Höchstes darbieten könnte zum gemeinsamen Werk, dann würde diese neue Richtung so Großes für die Kunstentfaltung geleistet haben, als es nur je geleistet wurde und zugleich auch dasjenige, was der Kunst unserer Zeit, in ihrer Zersplitterung nach Specialfächern, am meisten noththut.

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Über alte und neue Städteanlagen mit Bezug auf die Plätze und Monument-Aufstellung in Wien (1889) Untertitel: „Vortrag des Herrn Regierungsrathes Camillo S i t t e , gehalten in der Wochenversammlung am 26. Jänner 1889 (nach dem Stenogramme).“ In: Wochenschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines, Jg. 14 (1889), Nr. 33, S. 261–263; Nr. 34, S. 269–274 (August 1889). Sign. SN: 214–443. Unter dem Titel „Das Wien der Gegenwart und Zukunft“ erschien ein kurzer Bericht zu diesem Vortrag im Neuen Wiener Tagblatt (28. Januar 1889, Abendausgabe), der in dieser Edition nicht wieder gegeben ist (Sign. SN: 400–620).

Hochansehnliche Versammlung! Wir haben bekanntlich eine grosse Entwicklungsperiode des Städtebaues in Wien hinter uns. Trotzdem stiegen aber mächtige Fragen neuerdings bei uns auf, und es dürfte daher angezeigt sein, abermals in die alte Zeit zurückzukehren und wieder die Meisterwerke der Vergangenheit, wie dies vor Decennien geschehen ist, zum Zwecke künstlerischer Orientirung vor uns heraufzubeschwören. Selbstverständlich ist es mir von meinem Standpunkte aus nicht im entferntesten in den Sinn gekommen, mich jemals in technische Angelegenheiten, soweit sie Stadtangelegenheiten, Verkehrswesen u.dgl. betreffen, einzumengen, sondern ich betrachte die Sache lediglich vom künstlerischen Standpunkte. In dieser Richtung sind die Urtheile auch darüber, was schon geschehen ist, sehr getheilt. Ich habe Urtheile über unser schönes und grossartiges Wien, das ich entstehen gesehen, gehört, die mich als Wiener, der ich zu den Füssen der grossen Meister, die es geschaffen haben, aufgewachsen bin, oftmals schmerzlich berührten. Ich glaube aber, dass die Ursache mancher berechtigter Unbefriedigtheit nicht in unseren grossen Monumentalbauten, sondern in ihrer Situirung liegt, und gerade deshalb möchte ich diese specielle Frage einer besonderen Beleuchtung unterziehen. Zu diesem Zwecke werde ich mir erlauben, auf die Vergangenheit zurückzugreifen, Sie jedoch nicht mit einer chronologischen Aufzählung behelligen, sondern vielmehr versuchen, die Hauptregeln herauszugreifen, die in den alten Städteanlagen zu liegen scheinen. Ich will sehen, bis wieweit diese Regeln auch heute noch nicht blos bei uns, sondern überhaupt beobachtet werden. Wenn wir uns an die grossen Ideale der Antike, die Akropolis in Athen und das Forum in Rom erinnern, so wissen wir, dass die Hauptregel der Antike war, dass der Platz selbst, die Gebäude, welche an diesem Platze standen, die Monumente und das tägliche Leben, welches auf diesem Platze sich abspielte, immer ein einziges harmonisches Ganzes untereinander bildeten. Dies ist schon im Mittelalter etwas anders geworden. Das Alterthum kennt Über alte und neue Städteanlagen (1889)

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hauptsächlich zwei Typen von Plätzen: Die A g o r a , das Forum, wo die staatlichen Angelegenheiten sich abspielten und den M a r k t p l a t z . – Im Mittelalter zerfiel die erste Kategorie bereits in zwei Formen und zwar nach der herrschenden Gewalt der kirchlichen und weltlichen Macht in die Typen des D o m p l a t z e s und der S i g n o r i a . Ich werde mich hauptsächlich, soweit ich die antike Tradition im Auge habe, an Italiens Muster halten, weil dies das Land ist, in dem die antiken Traditionen sich bis heute am lebhaftesten erhalten haben. Der Domplatz war dadurch ausgezeichnet, dass thatsächlich alle Gebäude, die dem Sinne nach zueinander gehören, hier vereinigt standen: Die Kirche, die Residenz des Bischofs u.s.w. Auch die Signoria ist in ähnlicher Weise charakterisirt: Die Burg des Fürsten, Paläste, grosse Monumente hervorragender Staatsmänner und historische Erinnerungszeichen fanden sich hier nebeneinander gereiht. – Der Marktplatz ist es, der sich merkwürdigerweise bis auf den heutigen Tag mit einer gewissen Widerstandsfähigkeit gegen die Zerstückelung der alten Ideale erhalten hat. Trotzdem ist der Marktplatz auch schon nicht mehr dem wirklichen praktischen Leben gewidmet; denn wir wissen, dass das lustige Treiben des Marktplatzes heutzutage in die Glaskäfige unserer Markthallen gesperrt wurde und dass für den Platz selbst eine lebendige Bedeutung nicht mehr geblieben ist. Auch der Marktbrunnen, zu dem ehemals die Thiere zur Tränke getrieben wurden, ist heute nur mehr dem Namen nach da und eine rein künstlerische Angelegenheit. – Die Schaffung einer Agora, eines wirklichen Volksplatzes, ist heute in den wenigsten Fällen möglich; auch mit dem kirchlichen, dem Domplatze – ich erinnere nur an die herrliche Akropolis von Pisa,1 wo thatsächlich ganze Gruppen von zusammengehörigen Gebäuden, getrennt von allen profanen Bauten, in weihevoller Ruhe beisammen stehen und das Geniessen des Ganzen ermöglichen und seine Intentionen erfassen lassen – steht es heute nicht mehr so wie früher, heute, wo der Dom mitten auf dem Platze steht, daneben der Kramladen eines Schneiders sich befindet, und dazwischen das Geschrei der Kutscher und der Dienstmänner erschallt. Es ist also zusehends zwischen dem inneren Leben des Volkes, den Gebäuden und Plätzen succesive, aber stetig eine Lockerung nicht zum künstlerischen Besten der Sache eingetreten. – Etwas ähnliches gilt von den M o n u m e n t e n .

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[Als „Akropolis von Pisa“ bezeichnet Sitte die an der Stadtmauer im Norden der Stadt gelegene Piazza dei Miracoli, den Dombezirk Pisas. Auf freier Fläche befinden sich dort – nördlich begrenzt vom Camposanto (1278–1358) – die freistehenden Bauten von Dom (1063/1118–1350), Baptisterium (1152–1358) und Campanile (1173–1372).]

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Wir besitzen bekanntlich zu unserer Freude grossartige Bildhauerschulen in Wien und wahrlich, ihre Werke sind zahlreich. Die Monumentalbauten sind reichlich geschmückt, und wir wissen, dass für einzelne fortwährende Ausschmückungen geplant sind, beispielsweise für die Votivkirche, das österreichische Museum u.s.w. Zahllos sind die Werke, die schon geschaffen wurden, aber was sehen wir auf unseren Plätzen? Da kehrt sich das Bild in das gerade Gegentheil um. Während wir bei den Monumentalbauten eine solche Fülle von Plätzen für Figuren haben, dass Commissionen zusammenberufen werden, um zu entscheiden, was man hinstellen soll, können wir bei den Plätzen das gerade Gegentheil beobachten. Selbst für einzelne Figuren ist in der ganzen Stadt kein Platz zu finden. Es geschah dies so mit dem G ä n s e m ä d c h e n , mit H a y d n und jetzt mit Vater R a d e t z k y .2 Grosse, neue Plätze wurden versucht, die sich aber jedesmal als nicht tauglich herausstellten. Das Monument wandert dann an einen kleinen alten Platz, wo es sehr schön aufgestellt ist. H a y d n steht jetzt sehr schön auf einem kleinen alten Platze, und wenn R a d e t z k y im Inneren der Stadt beim Kriegs-Ministerium seine Aufstellung fände, so würde das Monument eine grossartige, gewaltige Wirkung hervorrufen. – Dafür kann jeder mit seiner künstlerischen Ehre einstehen, der im Stande ist, sich dies im vorhinein vorzustellen. – Woher kommt es, dass wir nicht in der Lage sind, unsere Monumente unterzubringen? – Es kommt dies hauptsächlich daher, dass wir heute alles unbedingt symmetrisch machen zu müssen, und unbedingt jedes Monument nur im Mittelpunkte eines Platzes aufstellen zu können glauben. – Mittelpunkt hat jeder Platz aber nur einen einzigen, und kann man daher bestenfalls selbst auf 2

[Auf die in der Folge dargestellte Translozierungsgeschichte der Denkmal-Trias „Gänsemädchen“, „Vater Haydn“ und „Vater Radetzky“ geht Sitte auch in seinem Hauptwerk ein. Siehe Sitte, Camillo: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung modernster Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien. Wien: Graeser 1889 (Reprint der 1. Aufl. von 1889 in: CSG, Bd. 3. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2003), S. 19. Der sogenannte „Gänsemädchenbrunnen“, benannt nach der von dem Bildhauer Anton Paul Wagner (1834–1895) geschaffenen Bronzefigur einer Gänsehirtin, wurde 1865–1866 zunächst auf der Wiener Brandstätte errichtet. 1874 abgetragen, fand er nach zwölfjähriger Odyssee seinen endgültigen Aufstellungungsort an der Rahlstiege im 6. Wiener Gemeindebezirk. Das seit 1886 projektierte Radetzky-Denkmal, für dessen Aufstellung 21 Standortvorschläge existierten, wurde erst 1892 nach Plänen Caspar von Zumbusch (1830–1915) auf dem Platz Am Hof aufgestellt. Zum Radetzky-Denkmal siehe Sitte, Camillo: „Das Radetzky-Denkmal (1891)“, S. 326–330 in diesem Bd.] Über alte und neue Städteanlagen (1889)

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dem mächtigsten Platze nur eine einzige Figur aufstellen, während die Alten hunderte und – wie die alten Schriftsteller berichten – selbst tausende von Figuren und Bildnissen auf einem einzigen Forum zur Aufstellung brachten. Wenn ein Platz aber unsymmetrisch ist und keinen genauen Mittelpunkt hat, können wir gar nichts aufstellen! Mit dieser Symmetrie ist es überhaupt eine eigenthümliche Sache. Das Wort Symmetria kommt schon in den Antiken bei den griechischen Schriftstellern vor. Ich habe mir einmal die Mühe gegeben, alle Sätze, die das Wort Symmetria enthalten, in meinen Büchern zu unterstreichen, um zu sehen, was Symmetrie überall da bedeutet. Und siehe da, das Wort Symmetrie bedeutet in der gesammten antiken und mittelalterlichen Literatur niemals das, was es bei uns bedeutet, sondern immer nur Proportion oder proportionales Verhältnis. Symmetrisch werden z.B. die Proportionen der Säulen genannt, von denen die eine 7, die andere 8, die dritte 9 Durchmesser zur Höhe hat. Aber jenes Spiegelbild, wo die rechte Seite der linken gleicht, kennen das Alterthum und das Mittelalter nicht, vielmehr hat sich dieser Begriff erst später, u.z. Hand in Hand mit dem Umstande entwickelt, dass man in den Bauhütten anfieng, die Zeichenkunst zu pflegen und grosse Werke der Baukunst nach Plänen zu bauen. Beim Zeichnen der Pläne kam man darauf, dass zunächst die Aufreissung einer Mittellinie praktisch ist. Hiemit war erst der Begriff der Symmetrie geschaffen, aber in seine Glanzperiode trat er erst durch die Erfindung des Pauspapieres. – Die Symmetrie ist also ein moderner Begriff, und wie bei Allem, was sich nach und nach entwickelt hat und grösser wurde, schliesslich Übertreibungen entstehen, so ist es auch mit der Symmetrie. Erst dann jedoch, wenn der wirkliche Begriff der Symmetrie in den breiten Volksschichten bekannt ist, wird man nicht mehr der Sklave dieser geometrischen Regel sein. Dies ist immer der Grund, warum wir auf unseren Plätzen keine Monumente unterbringen können. – Ich gehe auf eine weitere Regel über, welche uns die Geschichte lehrt. – Wenn wir wieder das antike Forum als Ausgangspunkt betrachten, so finden wir etwas für uns sehr Merkwürdiges: Sämmtliche Monumente und Statuen stehen am Rande des Forums, und die Mitte des Platzes ist leer. – Die Mitte des Platzes gehörte nicht den Statuen, sondern den Gladiatoren und Volksversammlungen. Diese künstlerisch sehr weise und gute Tradition, welche in der Antike mit den ganzen Lebensverhältnissen zusammenhieng, hat sich in späterer Zeit noch conservirt und ist nur nach und nach ausgestorben. Wir sehen auf dem herrlichen Platze der Signoria in Florenz eine Fülle von Monumenten, wie wir sie nach unserer Aufstellungs-Maxime nicht unterzubringen im Stande wären. Sie sind alle auf diesem kleinen Platze unterge-

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bracht, und dies kommt nur daher, weil sie nicht in der Mitte, sondern rund herum unmittelbar vor dem Palazzo Vecchio stehen. Selbst das Reiterstandbild C o s i m o ’s steht nicht in der Mitte des Platzes. In dieser Beziehung ist auch das merkwürdige herrliche Monument des G a t t a m e l a t a , welches vor San Antonio zu Padua steht, sehr interessant.3 Dasselbe steht auf einer Seite mit dem Gesichte nach der Seite heraus. Dies ist eine Aufstellung, in Bezug auf die man die Hand in’s Feuer legen kann, dass sie keine moderne Commission wählen würde. Der alte Künstler, der weise D o n a t e l l o hat sie jedoch gewählt; denn er sah ein, dass das Monument in die Mitte gestellt, lange nicht die Wirkung gemacht hätte, die es thatsächlich macht. Er hat es eben gethan, weil damals noch die Regel galt, die Figuren an den Rand der Plätze zu stellen. Es gelingt aber auch nach dieser Regel nicht immer leicht, die Monument­ aufstellungen in den alten Städten zu erklären. Namentlich in den alten deutschen Städten ist es oft schwer, für die Aufstellung der Marktbrunnen, der Monumente u.s.w. eine Erklärung ausfindig zu machen. Wenn man glaubt, schon die Regel gefunden zu haben, nach welcher die Aufstellung erfolgt ist, passt dieselbe in den nächsten Fällen immer und immer wieder nicht. Es ist unmöglich, diese Regel in Worte zu fassen und in eine Definition zu kleiden. Ich muss demzufolge zu einem Beispiele meine Zuflucht nehmen, das vielleicht etwas an Trivialität grenzt, was ich mir zu verzeihen bitte, da es eben aus dem Leben herausgegriffen ist. Es ist bekannt, dass Kinder in ihren Spielen, in ihrem ersten Zeichnen und Modellirversuchen, immer Formen hervorbringen, wie sie die primitiven Völker und die sich erst entwickelnde Kunst hervorbrachten. So ist es auch bei der Monumentaufstellung. Ich will an das Errichten der Schneemänner erinnern. Wenn wir uns einen recht dicht beschneiten Marktplatz vorstellen, auf dem die Kinder Schneemänner errichten, so kennen wir zwar nicht die Regel, nach welcher sie es thun, aber wir fühlen es, dass sie dieselben dort aufstellen, wo die Monumente der Alten stehen würden. Woher kommt das? Auf einem solchen frisch beschneiten 3

[Der venezianische Kondottiere Erasmo de’Narni (um 1370–1443), genannt Gattamelata („Katze in Honig“, „Honigkatze“), führte 1434–1441 die Truppen der Republik Venedig gegen das Herzogtum Mailand. Das vom Florentiner Bildhauer Donatello (um 1386–1466) ab 1447 gegossene bronzene „Reiterstandbild des Gattamelata“ wurde 1453 vor der Basilika Sant’ Antonio in Padua enthüllt und ist – nach den Steinskulpturen des um 1230 geschaffenen „Bamberger Reiters“ und des in der Mitte des 13. Jahrhunderts geschaffenen „Magdeburger Reiters“ – das dritte bekannte nachantike Reiterstandbild, jedoch das erste, das überlebensgroß und im Gussverfahren hergestellt wurde.] Über alte und neue Städteanlagen (1889)

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Platze gehen eine Menge von Wegen und Fahrgeleisen und schmutziger Communicationen hierher und dorthin, auf diesen Wegen werden die Kinder nicht den Schneemann aufstellen, wohl aber dort, wo der Schnee rein, schön und frisch ist. Wenn Sie nun, meine Herren, die alten Städtebilder ansehen, so merken Sie sofort, dass diese Regel auch hier Geltung hatte. Da findet man, dass die Plätze nicht so gepflastert waren wie heutzutage, sondern dass oft mitten im Centrum einer solchen Stadt des 15. oder 16. Jahrhunderts unebene, ausgefahrene Wege waren genau so wie in unseren Dörfern. Wenn man sich nun vornahm, in dieser alten Stadt irgend eine Mariensäule oder einen Brunnen aufzurichten, so that man dies nicht in den ausgefahrenen Rinnsalen eines Weggeleises oder Wassergrabens, sondern auf einer übrig gebliebenen Platzinsel, und wenn dann der Brunnen reicher ausgestattet wurde, so wurde er wieder an dieselbe Stelle gesetzt, wo er früher war. Man sieht aus diesem Gleichnisse, dass jeder Platz seine eigene Geschichte hinter sich hat und dass diese Aufstellung den künstlerischen und praktischen Standpunkt in einer merkwürdig schönen Weise miteinander verband; denn es sollten nicht blos nicht die Communicationen, sondern auch nicht der Anblick der Gebäude gestört werden, was unbedingt geschehen würde, wenn die Monumente in der Mittelarea der Hauptportale der Gebäude stehen würden. Ein besonders lehrreicher Fall für die Monumentaufstellung ereignete sich in neuester Zeit in Florenz, der Hauptstadt alter italienischer Kunst, u.z. mit dem Meisterwerke des grossen M i c h e l A n g e l o , dem „D a v i d “.4 Der „D a v i d “ ist bis 1874 an derjenigen Stelle gestanden, die der Meister selbst ausgesucht hat. Dies war auch eine solche Stelle, die man heutzutage nach unserem modernen Standpunkte für die unbedingt schlechteste und sogar für unwürdig halten würde. Michel Angelo hat jedoch dennoch diesen Platz

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[Die 1501–1504 vom Florentiner Bildhauer, Architekten und Maler Michelangelo Buonarroti (1475–1564) geschaffene kolossale Marmorstatue des „David“ stand bis 1874 auf der Piazza della Signoria in Florenz. Ursprünglich für einen Strebepfeiler am Florentiner Dom bestimmt, entschied eine von der Signoria eingesetzte Kommission, der u.a. Sandro Botticelli (1445–1510) und Leonardo da Vinci (1452–1519) angehörten, die Statue vor der Hauptfassade des Palazzo Vecchio aufzustellen. 1874 translozierte man die durch Wetter und Schmutz in Mitleidenschaft gezogene Skulptur in die Florentiner Galleria dell’ Accademia. Eine Bronzekopie des „David“ wurde 1873 in der Mitte der neu geschaffenen Piazzale Michelangelo am südlichen Arnoufer enthüllt. Als Teil der durch den Architekten Giuseppe Poggi (1811–1901) ab 1868 angelegten Hügelstraße Viale dei Colli ist die Piazzale Michelangelo bis heute einer der beliebtesten Aussichtspunkte auf die Altstadt von Florenz und die umgebenden Hügelketten.]

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gewählt, und es geht die Sage, dass er Einiges von solchen Dingen verstanden hat. Die Figur stand auf einem kleinen Sockel links neben dem ungezierten Portale des Palazzo vecchio, an der Wand einfach und anspruchslos. Aber gerade an dieser Stelle kam die Figur zur Geltung wie an keiner anderen, denn man konnte sie voll unter den zwerghaft kleinen Menschen sehen, und riesengross ist sie in der Phantasie emporgewachsen. Auch die dunkle Hinterfläche der derb gebräunten Rustica des Quadermauerwerkes gab einen Hintergrund ab, wie ihn kein Maler für ein Porträt sich besser wünschen kann. Alle diejenigen, welche dieses merkwürdige Bild an dieser merkwürdigen Stelle gesehen haben, schildern den mächtigen Eindruck, den es hier machte. Diese Stelle war aber ganz gegen den modernen Zeitgeist; die Figur musste weg, und es wurde ein eigener Glaskäfig für sie errichtet. Sie kam in den grossen Kunstkerker, Museum genannt, wo man sich zwischen Photographien, Lichtdruck und Gypsabgüssen förmlich mit Aufopferung von Geistesarbeit hindurchdrängen muss, um zur Einsicht ihrer Wirkung zu gelangen. Dazu kommt noch, dass dieses Bild facsimile in Bronze abgegossen und auf ein hohes Postament auf einen riesig grossen Platz gestellt wurde, haarscharf in’s Centrum: voran die grosse Aussicht, rückwärts ein Paar Kaffeehäuser, auf der Seite der Wagenstandplatz, hinten der Corso, rundherum Bädecker-Rascheln. Wirkung macht die Figur hier keine. Allein nicht nur in Bezug auf die Monumentaufstellung wandelt unsere Zeit eigenthümliche Wege, sondern es ist auch in neuerer Zeit sowohl in der alten, wie in der neuen Welt Mode geworden, auch die Monumentalbauten wo möglich in die Mitte eines Platzes zu stellen, und sie gleichsam auf einem Teller zu präsentiren, wie eine Torte. Auch dies ist in alter Zeit nicht so gewesen. Ich will nicht zahllose Beispiele anführen, sondern nur ein Verzeichnis von Kirchen in Rom zur Verlesung bringen. In Rom gibt es 41 Kirchen, welche an einer Seite angebaut sind, 96 Kirchen, welche an zwei Seiten, 110 Kirchen, welche an drei Seiten und zwei Kirchen, welche an vier Seiten angebaut sind. Kirchen, welche nach modernem Recepte gar nicht angebaut sind, gibt es in ganz Rom nur sechs, und davon sind zwei die protestantische und englische neue Kirche, und die vier anderen freistehenden stehen eigentlich nach unserer Regel nicht frei, denn sie sind wenigstens an den Rand und die Ecke des betreffenden Platzes geschoben, so dass die Passage rückwärts sehr schmal ist, und vorne die Summe des Platzes erhalten bleibt. Ich glaube, dass man für die Stadt Rom, wo man von dem Kirchenbau etwas verstanden hat – sind doch dort 255 Kirchen gezählt – direct die Geltung der Regel annehmen kann, die Kirchen nicht frei zu stellen. Auch dies ist heutzutage bei uns ganz anders. Über alte und neue Städteanlagen (1889)

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Bei uns in Wien haben wir einen grossen Platz gehabt, den Magdalenenplatz. Es wurde nun beschlossen dort eine Kirche zu bauen, und diese wurde natürlich nach den modernen Gepflogenheiten haarscharf in die Mitte gestellt, so dass das Centrum der Kirche und die Mitte des Platzes sich genau decken. Jetzt geht rundherum eine enge Strasse und diese heisst heutzutage Magdalenenplatz. Ähnlich ist es mit dem Hegelplatze, wo sich die Schule befindet, an der ich als Lehrer zu wirken die Ehre habe. Die ganze Fläche ist jetzt verbaut, von einem Platze ist gar nichts übrig, und im Volksmunde heisst aber diese Strasse doch noch der Hegelplatz. Der Platz, auf dem in NeuMödling die schöne Spende des grossen H y r t l gebaut ist, heisst Hyrtlplatz. Dieser ist einmal ein Platz gewesen. Jetzt befindet sich in der Mitte die Kirche, auf der rechten Seite ein Gebäude, auf der linken Seite ein Gebäude und vom Platze ist nichts übrig, als eine einzige Passage und 2 Tafeln, auf denen zu lesen ist „Hyrtlplatz“. Man ist aber nicht damit zufrieden, die neuen Gebäude freizustellen, sondern auch die alten Gebäude sollen, wie der Terminus technicus lautet, „herausgeschält“ und womöglich in die Mitte einer Strassenachse auf einen freien Platz gebracht werden. Der Hauptsport mit diesem Herausschälen wird gegenwärtig mit den Stadtthoren getrieben; so ist es mit dem Holstenthore in Lübeck, mit dem Carlsthore zu Heidelberg der Fall, und kürzlich haben wir in den Zeitungen gelesen, dass auch die Porta pia5 in Regensburg freigelegt werden soll. So ein freigelegtes Stadtthor, wo man herumspaziert, aber nicht durchgeht, ist eine besonders schöne Sache. Wir sehen also, dass wir auch in diesem zweiten Punkte heutzutage das gerade Gegentheil von dem machen, was in alter Zeit geschah; damit sind aber noch nicht alle Gegensätze erschöpft. Wenn ich wieder auf das Forum zurückgehe, so ist die wunderbare Geschlossenheit dieses Platzes zu bemerken. Es ist dies begreiflich; denn das Forum der Römer und Griechen ist ja eigentlich nach unseren Begriffen gar kein Platz gewesen, sondern ein Saal. Wenn wir uns z.B. das Forum zu Pompeji vergegenwärtigen, wo ringsherum öffentliche Bauten aufgestellt waren, wo 5

[Bei dem von Sitte als „Porta Pia“ (offenbar in Verwechslung mit dem Stadttor in Rom) bezeichneten Regensburger Tor handelt es sich um die Reste der sogenannten Porta Prae­toria, die als Nordtor des 179 n. Chr. fertig gestellten römischen Legionslagers Castra Regina errichtet wurde. Infolge der Wiederentdeckung des Tores bei Umbauarbeiten (1885) diskutierte man die Frage einer (partiellen) Freilegung bis zum römischen Bodenniveau. 1887 wurde der Torbogen der Porta Praetoria zum Teil restauriert, 1909 auch das Quadermauerwerk des östlichen Turms frei gelegt.]

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aber nur ein einziger, der Tempel des Jupiter herausblickte, während alle übrigen Gebäude mit zweistöckigen Säulengalerien zum Herumgehen überzogen sind, und uns diesen Eindruck vorstellen, so müssen wir sagen, dass das ganze am ehesten einem modernen Concertsaale ohne Decke gleicht. Ein solcher Saal ohne Decke im Gegensatze zu unseren modernen Räumen sind auch das antike Theater und auch das antike Haus mit seinem Atrium gewesen. Und wir wissen, dass auch die alten Tempel hypetral gebaut wurden, so dass der freie Himmel hereinsah.6 Ein solcher hypetraler Festsaal war das Forum. Auf der einen Seite des Forums zu Pompeji münden drei Strassen gar nicht; sie gehen sackförmig aus. Sämmtliche anderen Strassen sind vergittert, und die zwei Hauptstrassen sind mit Triumphbögen abgeschlossen, so dass man durch eine abgeschlossene Portalöffnung den festlichen Platz betreten konnte. Dieser Begriff der Geschlossenheit verflüchtigt sich immer mehr, je näher wir unserer Zeit entgegenschreiten. In den mittelalterlichen und Renaissancestädten ist diese Geschlossenheit der Plätze noch als ein tüchtiges Motiv der Wirkung behandelt worden, wo die Strassen so eigenthümlich und klug geführt wurden, dass der Blick des Beschauers nirgends durch Spalten hinausstreifen kann. Der Platz ist also immer scheinbar geschlossen. Diese Geschlossenheit der Plätze wird aber noch durch andere Motive bewerkstelligt. Ich erinnere an das herrliche Motiv der Thorbögen, welche in so schönen Mustern an den alten Städten zu beobachten sind. Diese Schwibbögenthore sehen wir überall in alten Städten, und auch der herrliche Josefsplatz in Wien verdankt dem Thorbogenmotiv die Möglichkeit der Conception. Nimmt man diesem Platze das Hilfsmittel der zwei Thorbögen weg und setzt an deren Stelle Strassenlücken, so ist auch die ganze prächtige Wirkung verloren. Ein weiteres Motiv, um die Geschlossenheit der Plätze zu bewirken, das gleichfalls in der Antike häufig cultivirt wurde, ist das Motiv der Colonnaden. Mit diesem Motiv wurde die Wirkung des riesenhaften Petersplatzes in Rom hervorgerufen. Ohne Colonnaden bleibt der Petersplatz ein leeres Feld, auf dem unregelmässig einzelne Gebäude dastehen. Heutzutage verwendet man das Motiv des Schwibbogens, Thorbogens und der Colonnaden merk6

[Das hier falsch geschriebene Adjektiv „hypäthral“ leitet sich vom griechischen hýpaithros („unter freiem Himmel“) ab. Der Ausdruck wird von Vitruv in seinem Werk De Architectura Libri Decem (Buch III, Kapitel 2) für die siebte Tempelgattung, den „Hypäthros“, verwendet. Als „Hypäthros“ bezeichnete Vitruv einen Tempel mit zehnsäuliger Front und doppelten Säulenreihen, dessen von einer zweistöckigen Säulenhalle umgebene Cella kein Dach aufweist.] Über alte und neue Städteanlagen (1889)

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würdig selten, und legen wir überhaupt gar kein Gewicht auf die Geschlossenheit der Plätze. Nicht nur, dass man gewöhnlich ungeheuer breite Strassen in die Ecken des Platzes münden lässt, so dass immer die eine Kreuzseite die andere schneidet, damit ein möglichst grosses Loch entsteht, durch das man weit hinausblicken kann, so legen wir sogar mit Vorliebe unsere Plätze an den Rand von schon vorhandenen möglichst grossen Strassen. Es wäre unser Schwarzenbergplatz sicherlich einer der herrlichsten Plätze, hätte er nicht das Unglück, an der so breiten Ringstrasse7 zu liegen.8 Ich komme nun auf denjenigen Punkt zu sprechen, der für meinen heutigen Zweck ganz besonders wichtig ist, dass nämlich unsere Plätze vom Parlamentshaus angefangen bis zur Votivkirche gar nicht als Plätze, sondern als riesenhaft grosser leerer Raum wirken. Das Motiv der Geschlossenheit ist ja das allererste und wichtigste für einen Platz, genau sowie bei einem Saale und Zimmer. Es ist richtig, dass im Sinne der Alten, wie Aristoteles geschrieben hat, auch der Schmuck mit Tempeln, Palästen, Statuen und Bildern dazu gehört. Aber es verhält sich mit einem Platze geradeso, wie mit einem Zimmer. Zu einem Zimmer gehört nicht mit Nothwendigkeit, dass es auch möblirt sei. Es gibt auch leerstehende, unmöblirte Zimmer. Aber ein Zimmer, in dem eine Wand fehlt, ist kein Zimmer; es muss geschlossen sein. Auch die Plätze 7

[Der Bau der Wiener Ringstraße geht auf ein Handbillet Kaiser Franz Josephs I. (Regentschaft 1848–1916) an den österreichischen Innenminister vom 20. Dezember 1857 zurück, in dem er die Erweiterung der Inneren Stadt und die Anlage einer Prachtstraße auf dem Gelände des abzutragenden Festungsgürtels verfügte („Es ist mein Wille“). Bereits einen Monat später, am 31. Januar 1858, wurde ein Wettbewerb zur Erlangung eines Bebauungskonzepts ausgeschrieben. Unter den 85 eingereichten Projekten vergab man drei erste Preise. Auf Grundlage der prämierten Vorschläge Ludwig Försters (1797–1863), August Sicard von Sicardsburgs (1813–1868) und Eduard van der Nülls (1812–1868) sowie Friedrich August von Staches (1814–1895) wurde der endgültige Bebauungsplan erarbeitet, den Franz Joseph I. am 1. September 1859 genehmigte. Die Ringstraße konnte bis Mai 1865 angelegt werden, die Errichtung der Neubauten wurde erst 1888 großteils abgeschlossen. Bei der Wiener Ringstraße handelt es sich um die zentrale städtebaulicharchitektonische Leistung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der österreichischen Hauptstadt. Als „Schaufenster“ der K.u.k. Monarchie in Zeiten des sich verringernden internationalen Einflusses (Abtretung der Lombardei 1859 und Venetiens 1866, Niederlage bei Königgrätz 1866) und der innenpolitischen Reorganisation (österreichisch-ungarischer Ausgleich 1867) entstanden, ist die Straße in architekturhistorischer Hinsicht ein erstrangiges Flächendenkmal des Strengen Historismus, in kulturhistorischer Hinsicht ein einzigartiges Zeugnis der franzisko-josefinischen Epoche.]

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[Ende Teil 1.]

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müssen nicht geschmückt sein, aber eine geschlossene künstlerische Einheit müssen sie darstellen. Und dies ist bei dem genannten Raume nicht der Fall; und so lange diese Zerfahrenheit des riesengrossen, leeren Platzes nicht geändert wird, so lange wird sich auch mit diesen Plätzen nichts anfangen lassen. Wir haben erst jüngst das Beispiel erlebt, dass ein Bürger unter uns mit einem Mäcenatenthume, das unsere Herzen höher schlagen liess, da wir fühlten, dass dies in unserer Zeit etwas seltenes ist, auftrat und sich im Vereine mit einem Künstler ersten Ranges mit einem Änderungsprojecte für den Rathhausplatz beschäftigte. Und trotzdem müssen wir uns sagen, dass dieser Zweck sich solange nicht werde erreichen lassen, als nicht zunächst ein wirklicher Platz zur Anlage kommen wird. Selbst M i c h e l A n g e l o würde, wenn er aus dem Grabe aufstände, daraus nichts machen können; denn man sieht hier schlechterdings vor lauter Platz keinen Platz mehr. Es ist hier gleichsam die Ringstrasse geplatzt, hierhin und dorthin fliesst ihr Rauminhalt aus, wie ein grosser, in das Meer mündender Strom bei seinem Delta, wo die Gelehrten sich abmühen, den Hauptarm herauszufinden. Es ist dies geradezu ein „Ringstrassen-Delta“. Noch komme ich auf einen Punkt, in dem die alten Meister uns eine gute Lehre geben: auf die Verhältnisse der Plätze in Bezug auf Form und Grösse. Was die Grösse der Plätze anbelangt, so kann ich mich sehr kurz halten; denn es ist uns allen bekannt, dass die alten Plätze in der Regel klein waren. Höchstens die Exercierplätze der alten Städte waren gross; aber die Plätze, auf denen Kirchen, Monumente und andere Bauwerke standen, waren nicht gross. Und dies ist sehr weise; denn in der Kunst wirkt bekanntlich Alles nur durch seine Verhältnisse und nicht durch sein absolutes Mass. Ich habe in Gartenanlagen Darstellungen von Zwergen gesehen, die 3 m hoch waren und doch wie Zwerge wirkten. Und wir kennen aus der Antike Herkules- und andere Riesenstatuen von Daumeslänge, und diese Däumlinge wirken doch wie Herkules und Riesen. Auf die Länge kommt es nicht an, sondern auf die richtigen Verhältnisse. Dies gilt vor Allem bei dem Verhältnisse zwischen Plätzen und Gebäuden. Wenn ein Platz zu gross ist, muss der Baukünstler, der auf solchem Riesenplatze ein Gebäude aufrichtet, alle seine Motive erschöpfen und Mittel über Mittel, Massen über Massen häufen, wie noch keiner vor ihm gethan. Und wenn das Riesenwerk dasteht, wie es die Welt noch nicht gesehen, und man es von diesem colossalen Platze aus betrachtet, so kommt noch immer nicht die Natur des Colossalen zum Ausdrucke, weil Alles auf diesem Punkte auf Gegenseitigkeit beruht. Ich weiss nicht, ob die erst vor Über alte und neue Städteanlagen (1889)

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Kurzem neu entdeckte Krankheit der Platzscheu9 mit den modernen Plätzen zusammenhängt, aber es scheint sicher, dass auf künstlerischem Gebiete auch die aus Marmor und Bronze gefertigten Menschen diese Krankheit haben. Diese wollen auch nicht den Anfang machen auf einem solchen Platze. Die Platzscheu kann man speciell bei uns in Wien am Ringstrassencorso studiren. Von der Gartenbau-Gesellschaft bis zum Operntheater geht man auf der Stadtseite; vom Operntheater geht aber plötzlich Alles auf die andere Seite. Vor dem Theater mag Niemand vorbeigehen, weil dort plötzlich eine leere Façade und ein grosses Pflaster sichtbar werden. Da befällt Jeden die Platzscheu, und er geht geschwind auf die andere Seite. Noch ärger ist es auf der anderen Strecke des Ringstrassencorsos. Beim Schwarzenbergplatz flieht Alles auf die gegenüberliegende Seite an die Mauer hin. Mit der Form der Plätze ist es folgendermassen bestellt: Wenn man die alten Plätze studirt, so findet man, dass diese nicht zuerst da waren, sondern dass zuerst ein Häusergewirre oder ein leerer Raum war; dann kam eine Kirche oder ein Rathhaus hinzu, und dieses Gebäude hat sich seinen Platz selbst geformt. Entsprechend diesem Gebäude wurde der Platz aus dem Häusermeere herausgeschnitten und so geformt, dass dieses Gebäude nach Möglichkeit zur Geltung kommt. Ich möchte da hauptsächlich Höhen- oder Tiefen- und Breitenplätze unterscheiden. Breitenplätze haben in den alten Städten fast ausnahmslos solche Gebäude, welche ihre Façade nach der Breite entwickelt haben. Höhenplätze haben solche Gebäude, wo an der schmalen Seite des Platzes eine hochaufragende Kirchenfaçade steht, wie dies bei Santa Croce in Florenz der Fall ist. Ich möchte noch an eine Kleinigkeit erinnern, nämlich an die Unregelmässigkeit der alten Plätze. Die Regelmässigkeit eines Platzes ist heutzutage gleichfalls ein Dogma. Die Alten haben sich jedoch gar nicht daran gehalten und trotz der größten Unregelmässigkeit oft die schönsten Erfolge erzielt. Diese Unregelmäßigkeit merkt man meist gar nicht. Der Platz vor S. Maria novella in Florenz ist fünfeckig, und alle Personen, die sich ihn aus der Erinnerung vorstellen, halten ihn für viereckig. An jeder Stelle des Platzes ist es nämlich nicht denkbar, zu gleicher Zeit mehr als drei Seiten zu übersehen. Selbst ein Geometer,

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[Die „Platzscheu“ (Agoraphobie, Raumangst) wurde von dem in Wien tätigen Psychiater Carl Friedrich Otto Westphal (1833–1890) erstmals 1871 bei einem Patienten diagnostiziert. Siehe Westphal, Carl Friedrich Otto: „Die Agoraphobie, eine neuropathische Erscheinung“. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 3 (1871/1872), S. 138–161.]

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der eigens den Platz aufnehmen will, kann ihn nicht ganz aus freiem Auge aufzeichnen. Wir selbst haben ja viele schiefe Plätze, ohne zum Bewusstsein ihrer Schiefheit zu gelangen. Der kleine Platz, wo jetzt das Haydnmonument steht, ist auch schief, und die Strasse ist darauf in einem Winkel von mehr als 20° schief. Und doch bemerken wir dies in Wirklichkeit nicht, sondern nur auf dem Plane. Die Alten, die jedoch ohne Plan gearbeitet haben, haben Alles nach dem freien Augenmasse gemacht und somit nur solche Unregelmässigkeiten vermieden, welche auch mit freiem Auge unangenehm auffallen. Noch ein Motiv ist bei den Alten vorherrschend, nämlich das der Platzgruppen. Die Alten haben nämlich gewöhnlich mehrere Plätze untereinander verbunden u.zw. entweder durch einen Schwibbogen oder durch ein Seitengässchen. Dadurch haben sie z.B. bei einer Kirche jede Façade einzeln zur Geltung gebracht. Sie hatten z.B. einen kleinen Höhenplatz für die Hauptfaçade, dann kam man durch einen möglichst engen Durchgang auf einen grossen weiten Platz, wo man die Seitenfaçade geniessen konnte, und wenn man wieder herum­ging, kam wieder ein Stück der rückwärtigen Façade zur Geltung. Eine solche Platzgruppirung ist auch der Platz von San Marco mit der Piazzetta und dem rückwärtigen Platze. Der Markusplatz ist ein Tiefenplatz in Bezug auf die Kirche und ein Breitenplatz in Bezug auf die Procuratien; die Piazzetta ist ein Breitenplatz in Bezug auf die Längsfaçade des Dogenpalastes und ein Tiefenplatz in Bezug auf die Aussicht auf das Meer. Wie herrlich diese Wirkung ist, wissen die Herren. Ich besitze 14 verschiedene Photographien dieser Platzgruppirung, von denen jede einzelne ein besonderes eigenes Stadtbild gibt. Von einem heutigen Platze würde ich mir nicht getrauen, drei Photographien zu machen, die man nicht als die Abbildung ein und desselben Platzes erkennen würde. Die heutigen Plätze repräsentiren eben nicht eine Summe künstlerischer Effecte, sondern gewöhnlich nur so und so viel Kubikmeter Luft. Nach unserem Systeme spielt der Häuserblock die Hauptrolle, und wie wir in Allem und Jedem, wie wir bis jetzt gesehen haben, das Gegentheil der alten Kunst üben, thun wir auch das Gegentheil bei der Verbauung von Plätzen. Wenn ein Terrain irgendwie zur Verbauung kommt, wird für den Häuserblock eine rein quadratische, rechtwinklige Figur herausgeschnitten, und was dazwischen winklig und dreieckig übrig bleibt, ist Platz. Ganz anders in der alten Kunst! Die Alten haben das Winklige und Dreieckige verbaut und haben als Platz, weil er für sie Festsaal und Zimmer war, das möglichst wirkungsvollste Format herausgeschnitten. Wenn man einen solchen alten Stadtplan ansieht, bemerkt man, dass alles Viereckige, Runde und Symmetrische leer, das Winklige jedoch verbaut ist. Heutzutage Über alte und neue Städteanlagen (1889)

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ist dies umgekehrt. Das Reguläre ist an den Plänen schwarz, d.h. verbaut, und das Winklige ist weiss, leer. Ich habe mich bei der bisherigen Besprechung an die Bilder gehalten, die uns der Süden bot. Im Norden liegen die Verhältnisse in mancher Beziehung anders. Ich muss da bei der Besprechung der nordischen Kirchenbauverhältnisse von zwei Typen ausgehen. Der eine Typus sei repräsentirt durch die Frauenkirche in München. Dieselbe ist frei gebaut, und dies hat seinen bestimmten historischen Grund, indem nämlich rings um die Kirche der Friedhof angelegt war und nach der Auflassung desselben der freie Platz zurückblieb. In der Anlage von Salzburg ist der andere Typus, der italienische mit den Colonnaden, vorhanden.10 Eines der wesentlichen Motive im Norden ist die Verbindung der Thürme mit der Façade, während die Italiener den Campanile freigestellt haben. Die richtigste Aufstellung einer solchen gothischen Kirche ist die, dass sie rückwärts an dem Chore und den Seitenfaçaden möglichst verbaut ist; denn von der Seite gesehen, ist ja die gothische Kirche nicht symmetrisch. Auf der einen Seite sind hochragende Thürme, und dann schiesst das Ganze nach der entgegengesetzten Seite schräg ab. Dieser unsymmetrische Anblick, wenn er so frei geboten wird, wie dies bei der herrlichen Votivkirche11 der Fall ist, ist entschieden nicht ästhetisch. Im Sinne der alten Meister hat der Anblick nur vorne frei zu sein; aber ein solcher Riesenplatz, wie der bei der Votivkirche ist entschieden nicht dasjenige, was ein solches Werk zur höchsten Wirkung bringen würde. Auch die Barocke besitzt noch eine ausserordentliche Anzahl von Motiven; ich erinnere an den Hufeisenplatz, an den Platz vor der Piaristenkirche.12 Wie mächtig und gross erscheint 10 [Der von der Doppelturmfassade des Doms (1614–1628) beherrschte Domplatz in Salzburg wird im Norden und Westen von Gebäudetrakten der ehemaligen bischöflichen Residenz, im Süden vom Kloster St. Peter begrenzt. Durch Verbindungstrakte über den Arkadendurchgängen zu Residenz- und Kapitelplatz sowie zur Franziskanergasse wird der rechteckige Platz optisch rundum geschlossen.] 11 [Mit dem Bau der Wiener Votivkirche im Stil der französischen Kathedralgotik des 13. Jahrhunderts wurde 1856 nach Plänen Heinrich von Ferstels (1828–1883) begonnen. Sitte kritisierte mehrfach die Lage des 1879 fertig gestellten Kirchenbaus auf einem weitläufigen, dreieckigen Platz zwischen zwei Hauptstraßen. In Der Städte-Bau präsentierte er ein „Project zur Umgestaltung des Votivkirchen-Platzes“, das vorsah, der Kirche ein lang gestrecktes, von spitzbogigen Arkaden umgebendes Atrium vorzulagern, um eine „Steigerung des Eindruckes der Kirchenfacade“ zu erzielen. Siehe Sitte „Der Städte-Bau“ 1889 (s. Anm. 2), S. 157–164 sowie Fig. 106. Das Zitat auf S. 160f.] 12 [Der rechteckige Jodok-Fink-Platz im 8. Wiener Gemeindebezirk öffnet sich ehrenhofartig zur Doppelturmfassade der ab 1716 errichteten Piaristenkirche Maria Treu. Eine positive

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dieser Platz! Und doch ist er nicht einmal so breit wie die Ringstrasse! Er lässt in der Erinnerung den Eindruck einer gewaltigen Grösse, und doch geht er in einen der grossen Plätze an der Ringstrasse 20mal hinein. Die Meister der Barocke haben eben sehr verstanden, gute Situationen zu schaffen. Sie haben die monumentalen Bauten in den Hintergrund eines solchen atriumartigen Vorplatzes hineingestellt, um so den Hintergrund wie eine Decoration im Theater vollständig zur Geltung zu bringen. Eines der herrlichsten Beispiele befindet sich bei Wien, das prächtige Schloss Schönbrunn. Die modernen Stadtbau-Systeme wurden von R . B a u m e i s t e r in einem trefflichen Werk13 geschildert, der selbst an dem gewöhnlichen modernen Systeme, an dem sog. Schachbrettsysteme gar nichts zu loben, sondern nur zu tadeln weiss. Ich habe eine ganze Sammelmappe von Verwerfungsurtheilen der gesammten Publicistik und Literatur gegen dieses System zu Hause, und in der ganzen Journal- und Fachliteratur ist mir noch nie etwas Lobendes darüber untergekommen. Eines dieser Urtheile will ich citiren. Dasselbe ist dem Pariser „Figaro“ vom 23. August 1874 entnommen und lautet, bei Besprechung einer Reise des Marschalls Mac Mahon14: „Rennes hat nicht gerade Antipathie gegen den Marschall, aber diese Stadt ist überhaupt keiner Begeisterung fähig. Ich habe bemerkt, dass das von allen Städten gilt, die nach der Schnur angelegt sind und in denen die Strassen sich rechtwinkelig kreuzen. Die gerade Linie lässt keine Erregung aufkommen. So konnte man auch im Jahre 1870 beobachten, dass die ganz regelmässig gebauten Städte sich von drei Ulanen einnehmen liessen, während recht alte und winkelige Städte ganz bereit waren, sich auf’s Äusserste zu vertheidigen.“ Bewertung des Platzes findet sich auch in Der Städte-Bau: „Der Piaristenplatz im achten Bezirk kann als Muster eines vortrefflich wirkenden Kirchenplatzes genannt werden.“ Siehe Sitte „Der Städte-Bau“ 1889 (s. Anm. 2), S. 84.] 13 [Baumeister, Reinhard: Stadt-Erweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung. Berlin: Ernst & Korn 1876. Der Bauingenieur Reinhard Baumeister (1833–1917), ausgebildet an den Polytechnika in Karlsruhe und Hannover, übernahm 1862 eine Professur an der Ingenieurschule des Karlsruher Polytechnikums. Baumeister widmete sich vor allem städtebaulichen Fragen und wurde zu einem führenden Theoretiker. Mit seiner oben angeführten Schrift publizierte Baumeister das erste systematisierende Handbuch der sich neu entwickelnden Disziplin Städtebau im deutschsprachigen Raum. Weniger als morphologische oder historische Analyse angelegt, thematisierte er darin die administrativen, technischen und volkswirtschaftlichen Aspekte von Stadterweiterungen.] 14 [Patrice de Mac-Mahon (1808–1893) war – nach seiner militärischen Karriere als französischer General im Krimkrieg, im Sardischen Krieg und im Deutsch-Französischen Krieg – von 1873 bis 1879 Präsident der Dritten Französischen Republik.] Über alte und neue Städteanlagen (1889)

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Ein anderes System des Stadtbaues sehen wir zuerst in Paris in großem Style zur Durchführung gebracht. Nach diesem Pariser Typus werden Stadtplätze dadurch geschaffen, dass ganze Stadttheile ausgeräumt werden. Gleichfalls in dem gewaltigen antiken Cäsaren-Style, nur nicht gar so grimmig, wie Nero es gethan, der gleich mit einem Feuerschwamm über ganz Rom hingefahren war. Ich habe noch das System zweier sich kreuzender Strassen zu besprechen. Dieses System hat eine besondere Eigenthümlichkeit, und damit komme ich auf einen Punkt, den R . B a u m e i s t e r in seinem Buche vergessen hat und der noch hätte erwähnt werden sollen. Wenn ich die verschiedenen Richtungen, nach denen die Wägen verkehren, betrachte, so kann ich mir mittelst Combination ohne Wiederholung berechnen, wie viele Wagenbegegnungen an den Kreuzungen vorkommen werden. So kommen beim Einmünden einer Strasse in eine andere zwölf Wagenbegegnungen vor, unter welchen sich drei Kreuzungen befinden, so dass die Wagen hintereinander nicht frei passiren können. Wenn man jedoch jene Strassen in Betracht zieht, die nach dem Mannheimer Typus15 entwickelt sind, so sind bereits 54 Varianten von wahren Combinationen möglich, und unter diesen kommen bereits 12 Fahrbahnkreuzungen vor. Wenn man noch eine einzige fünfte Strasse hinzugibt, sind 160 Varianten von Wagenbegegnungen möglich, und darunter ist die Zahl der schlechten Fälle noch weit grösser. Die Herren können sich nun denken, welche Folgen es hat, wenn an einem solchen Platze fünf bis sechs Strassen zusammen kommen. In Lyon z.B. kommen sieben Strassen zusammen, und es sind daher bereits einige tausend Combinationen und einige hundert Kreuzungen an dieser Stelle vorhanden. Nimmt man an, dass dieser Platz in der Mitte der Stadt ist, wie es z.B. mit dem Albrechtsplatze in Wien der Fall ist, und dass gerade Theater- und Concertzeit ist, so kommen aus all’ diesen Strassen die Wagen zusammen, und dann stehen alle in der Mitte und können nicht weiter. Bekanntlich beschäftigt sich die moderne Industrie, der moderne Maschinenbau u.s.w. damit, an die Stelle menschlicher Vorrichtungen selbstthätige 15 [Die 1606–1607 vom pfälzischen Kurfürsten Friedrich IV. (1583–1610) in unmittelbarer Nachbarschaft gegründeten, auf idealen geometrischen Stadtgrundrissen ausgeführten Anlagen der Festung Friedrichsburg (radiale Straßenführung) und der Bürgerstadt Mannheim (rechtwinkliges Straßennetz) wurden nach 1700 in barockem Verständnis mit einem einheitlichen quadratischen Straßenraster zusammengefasst. In Sittes Schriften wird Mannheim immer wieder als Beispiel für das uninspirierte, die örtlichen Gegebenheiten ignorierende „moderne System“ des Städtebaus, das „Schachbrettmuster“, angeführt. Siehe Sitte „Der Städte-Bau“ 1889 (s. Anm. 2), S. 99.]

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Maschinerien zu setzen. Auch dies ist in unserem Falle geschehen, u. zw. glaube ich, gebührt das Verdienst dieser Erfindung zuerst Paris, denn hier sind zuerst diese Missstände fühlbar geworden. Es wird nämlich ein erhöhtes Stück Trottoir in die Mitte gestellt, in dessen Mitte sich eine schlanke Gaslaterne befindet, und dieses bildet die Rettungsinsel zur Aufnahme der sich flüchtenden Passanten. Das ist doch gewiss ein neues Motiv im Städtebau, und da sagt man noch, dass wir keine Phantasie haben. Dieser Centralplatz spielt in Paris und in allen Städten, welche nach modernem Zuschnitte aufgebaut sind, eine grosse Rolle. Es gibt aber noch ein anderes System: in Chicago sollen die Häuserblöcke sechseckig sein; alle sind von gleicher Grösse, genau so wie die Zellen im Bienenstocke, womit man bei der äussersten Grenze der Nüchternheit angelangt ist. Wenn man diese Verhältnisse überblickt und sieht, wie so allmälig alle Schönheiten des antiken Städtebaues immer mehr versiegt sind, so dass hauptsächlich in der neuen Welt fast nicht mehr in dieser Beziehung von Idealität übrig geblieben ist, beschleicht uns ein sehr wehmüthiges Gefühl. Dies ist aber noch mehr der Fall, wenn man bedenkt, wie sehr das gesammte Urtheil der Fachmänner, der Kritiker, der Schriftsteller vollständig einhellig ist über die Langweiligkeit dieser Construction. Wenn man noch bedenkt, dass der Wunsch, es anders zu sehen, nichts nützt und es in der ganzen Welt einzig und allein bei diesem System sein Bewenden hat, da wird man wirklich trübsinnig gestimmt, und man hält sich die Frage vor, ob wir wirklich so weit gekommen sind, dass wir keinen Werth auf Kunst und ideale Schönheit mehr legen und dass das Wort des Aristoteles: „Die Städte sollen so gebaut sein, dass die Menschen darin nicht nur sicher, sondern auch g l ü c k l i c h leben können,“ heute bereits keine Sinn mehr hat. Wenn wir auf unseren öffentlichen Plätzen in unserer grossen weiten Stadt die Schönheit missen können, die Kunst vermissen können dort, wo die Begeisterung für die eigene Heimat erzogen werden, wo schon in die Jugend der Keim gelegt werden soll, stolz auf unsere Vaterstadt zu sein, die so herrlich ist, wie keine zweite, dann begreife ich nicht, warum andere Kunstwerke, Theater, Concerte u.s.w. noch einen Sinn haben können. Wir brauchen jedoch die Kunst, und bei den Bauwerken haben wir Millionen und Millionen ausgegeben, nicht blos für praktische Zwecke, sondern auch für künstlerische Ausstattung. Warum thun wir dies nicht bei unseren Plätzen? Es ist sicher, dass es eine Menge von Rücksichten gibt, dass Vieles, was wir an den alten Städten bewundern und wovon wir schwärmen, wenn wir von einer Reise heimkommen, heute nicht mehr möglich ist. Es ist nicht möglich, Über alte und neue Städteanlagen

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bei unseren neuen Stadtplänen so krummverzogene Gassen und Platzwinkel, wie etwa im alten Nürnberg, zur Anlage zu bringen. Es ist nicht möglich, uns selbst eine erlogene Geschichte und erlogene Naivetät zu geben, blos den alten Städtebildern zuliebe. Es ist auch nicht möglich, unseren Verkehr wieder auf die Plätze zu lenken, denn die Zeiten lassen sich nicht ändern, und wir stehen vor einem eisernen Muss. Wir können es nicht hindern, dass heute nicht mehr auf öffentlichen Plätzen von behördlichen Rednern und Leuten aus dem Volke uns Verkündigungen mitgetheilt werden, sondern dass wir zu Hause alle Nachrichten aus den Zeitungen erfahren. Wir können es nicht ändern, dass der Verkehr aus hygienischen und anderen Rücksichten sich von den Marktplätzen in die Markthallen zurückzieht. Wir können es nicht ändern, dass nicht mehr unsere Mägde, schön geschürzt, mit ihren Kübeln zum Marktbrunnen schreiten, vielmehr in jeder Küche bereits die Wasserleitung functionirt. Wir können es nicht ändern, dass unsere Kunstwerke in die Museen wandern, und Zinshauskasernen bis in das fünfte Stockwerk emporragen. Wenn wir aber auch empfinden, dass Vieles von der alten Schönheit und Kunst über Bord gehen muss, so ist es anderseits auch sicher, dass Vieles bewahrt werden könnte, was nicht bewahrt wird. So meine ich denn, dass auch in den heutigen grossen Städten, in denen das Verkehrsleben riesig angewachsen ist, doch noch manches Schöne geleistet werden kann. Denn auch das alte Rom ist eine grosse Millionenstadt gewesen, auch im alten Rom sind bereits viele breite Strassen und colossale Plätze gemacht worden, ohne dass die Regeln der Kunst ausser Acht gelassen worden wären. Auch in Paris ist manch’ Beachtenswerthes geleistet worden; Paris ist eine Stadt, in der der Künstler, wie nirgends zähe an den alten Traditionen hält. So hat sich die perspectivische Composition der Alten nirgends so erhalten wie in Paris. Vor Allem aber wäre das System der Barockmeister, welches bereits den modernen Anforderungen entspricht und von dem wir gerade in Wien eine Reihe von Anlagen vereinigt finden, zu pflegen. Ich erinnere mich da an die Worte unseres grossen Meisters F e r s t e l ,16 zu dessen Füssen ich zu sitzen das Glück gehabt, der uns Jüngern der Kunst, 16 [Der Architekt Heinrich von Ferstel (1828–1883), ausgebildet am Polytechnikum und an der Akademie der bildenden Künste in Wien (Lehrer waren Carl Roesner, Eduard van der Nüll, August Sicard von Sicardsburg), wurde durch den Gewinn des Wettbewerbs für die Wiener Votivkirche 1854 schlagartig bekannt. Im Zuge dieses Erfolgs konnte er eine Reihe von Projekten in Wien (Palais Ferstel, Palais Pollack, Palais Erzherzog Ludwig Victor) und anderen Städten der Monarchie (Kirchen in Brünn und Schönau) verwirklichen. An der Gestaltung

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als man die grossen Werke in Wien zu bauen begann, stets gepredigt hat, die Meisterwerke der Barocke fleissig zu studiren; denn die Barocke ist der Typus des alten Wien. Ferner glaube ich, könnten wir ganz gut die diversen Principien der alten Meister, die ich zu erörtern versucht habe, befolgen und ein Monument statt in der Mitte eines Platzes, am Rande aufstellen und die Strassen zu einem Platze so führen, dass man nicht überall herausschauen kann. Möglich also ist ein solches Princip des Städtebaues, das in technischer Beziehung noch den Vorzug geniesst, dass die vielen hemmenden Knotenpunkte des Verkehres sich vermeiden lassen, und bei dem die Regelung des Verkehres sich gleichfalls vereinfacht. Grosse, neue Fragen stehen vor uns, in denen dieselben Gesichtspunkte wünschenswerth wären. Was aber bereits fertig vor uns steht und nach meiner Überzeugung, um zur vollsten idealen Geltung zu kommen, nur eines anderen Platzes bedarf, das ist die herrliche Gruppe von Monumentalbauten von der B u r g bis zur V o t i v k i r c h e . Da stehen sie beisammen, so schön, so gross, so herrlich, wie in keiner anderen Stadt! Wie herrlich müssten diese Bauten wirken, wenn auch der Platz ihre künstlerische Bedeutung heben und unterstützen würde! Ich habe mir deshalb, um ein Beispiel zu geben, ob denn das, was im Sinne der alten Meister möglich war, noch heute Geltung besitze, lediglich zum Zwecke einer akademischen Untersuchung diesen Bezirk gewählt. Und ich bitte die geehrte Versammlung, mir in der Phantasie zu folgen und diverse Veränderungen vorzunehmen. Ich denke mir den so wunderbaren, herrlichen Markusplatz in das Ringstrassen-Delta versetzt, die Markuskirche an Stelle der Votivkirche u.s.w., so wird das Ganze ähnlich wirken, wie die Bauten bei uns in Wien, und der Markusplatz wird zu existiren aufgehört haben. Umgekehrt wird die Votivkirche an Stelle der Markuskirche in Venedig – obwohl ich ganz gut weiss, dass unsere hervorragenden Kunstpflanzen nicht in das südliche Klima passen – das Rathhaus an Stelle der Procuratien, das Burgtheater an Stelle des Dogenpalastes, eine ähnlich gesteigerte Wirkung üben, die wir heute in Venedig so mächtig empfinden. Es ist zwar der Markusplatz nicht mehr, aber die Wirkung wäre eine überwältigende. Ich

der Wiener Ringstraße war Ferstel mit zwei großen Staatsbauten, dem Österreichischen Museum für Kunst und Industrie (1868–1871) und der Universität (1873–1884), beteiligt. Ferstel, 1879 in den erblichen Freiherrenstand erhoben und Ehrenmitglied der Kunstakademien in München, Berlin und Paris, war ein herausragender Vertreter der historistischen Architektur. Er lehrte ab 1866 am Wiener Polytechnikum, wo er maßgeblichen Einfluss auf seinen Schüler Camillo Sitte hatte.] Über alte und neue Städteanlagen (1889)

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möchte durch solche phantastische Veränderung auch das R a t h h a u s in die Kärntnerstrasse versetzen, und ich bitte, sich vorzustellen, wie colossal diese grosse, mächtige Façade, diese mächtigen Pfeiler, diese Thürme wirken würden. Das Ganze erfüllt von einer erdrückenden Menge, Goldschmieden, Juwelieren, Bazars, gleichwie im Palais Royal in Paris, der Hof mit Menschen erfüllt und von den Klängen heiterer Musik, vom Lärm der Feste und zu nächtlicher Stunde von den weissen Strahlen der Mondesscheibe beleuchtet – eine packende Wirkung! Ich glaube, die Herren werden mit mir übereinstimmen, wenn ich sage, dass auf dem Rathhausplatze der Verkehr nicht blos zu gering, sondern vielmehr auch der Platz selbst viel zu gross ist. Mit der Situirung unseres B u r g t h e a t e r s möchte ich folgende Wandlung vornehmen: Unser Theater geht mit der Front nach vorne heraus in einem Bogen.1 7 Dieser Vorsprung der vorderen Front verlangt nun vor Allem eine Gegenkrümmung des Trottoirs oder etwas Ähnliches. Die Empfindung, dass vor dem Theater die Ringstrasse und die Tramway so ganz haarscharf vorbeigeht, ist geradezu eine peinliche. Es ist dies dieselbe Empfindung, die manchmal das Gespräch mit einzelnen Personen hervorruft, welche die üble Gewohnheit haben, Einem immer näher und schliesslich zu nahe zu treten, bis sie Einen beim Kopfloche und beim Kragen haben. Das ist unanständig, und ebenso unanständig benimmt sich die Ringstrasse und ihr Tramwaygeleise gegenüber dem neuen Burgtheater. Es sollte für das grosse Kunstinstitut ein Platz der Ruhe geschaffen werden, vorne mit einem grossen Trottoir und einem Vorsprung, der markirt sein müsste, damit auch äusserlich ein Grund vorhanden ist, warum die Façade so aussieht. Und was Anderes könnte auf diesem Platze stehen, als zwei Monumente, die dieselbe Wirkung hervorriefen, wie die beiden Säulen auf der Piazzetta oder die Flaggenstangen am Markusplatze! Und was Anderes könnte da Platz finden, als die Statuen der beiden Dichterheroen G o e t h e und S c h i l l e r !18 17 [Der Neubau des Wiener Burgtheaters wurde 1874–1888 nach Plänen Gottfried Sempers und Karl von Hasenauers an der neu angelegten Ringstraße errichtet. Der in Spätrenaissanceformen gestaltete, dem Rathaus gegenüber gelegene Theaterbau zeichnet sich durch einen breiten, zur Ringstraße vorgewölbten Mittelteil zwischen zwei langgestreckten Seitenflügeln aus. Nach den Theaterbauten für Dresden (1838–1841; Neubau nach Brand 1871–1878) und den Planungen für München (1864–1867) stellt der Wiener Bau Sempers viertes Theaterprojekt dar.] 18 [Die beiden Denkmäler befinden sich in axialer Beziehung auf dem Schillerplatz (Schiller) bzw. am Opernring (Goethe). Das nach einem Modell des Dresdner Bildhauers Johannes

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Wie verhält es sich mit der rückwärtigen Seite des Theaters? Ich gehe dort oft und gerne vorbei, und immer thut es mir leid um diesen Platz. Diese herrliche steinerne Façade! Ja, wo haben wir denn sonst eine solche steinerne Façade, um einen Platz damit zu zieren? Gleich daneben stehen jedoch gewöhnliche Zinshäuser in gewöhnlicher Putz-Architektur, die die Schönheit dieser Façade gar nicht ausnützen lassen. So was wäre im alten Italien nicht möglich gewesen; die feinfühligen Italiener nützen das im Gegensatze zu uns sofort aus. Dahin sollte eine Avenue gehen, und drei Plätze könnten mit diesem Monumentalbaue geschaffen werden! Bekanntlich geht das jetzt nicht mehr, weil rückwärts kreuz- und querdurcheinander Gebäude stehen, die nicht mehr beseitigt werden können. Höchstens auf der Seite gegen den Volksgarten zu, könnte eine Veränderung behufs Gewinnung eines Platzes jetzt noch eintreten. So sollte im Sinne der alten Meister dieser Bau ausgenützt werden. Über die V o t i v k i r c h e lässt sich Ähnliches sagen; vorne soll der Platz getheilt werden, damit er nicht so ungeheuer gross ist. Ferner wäre es wünschenswerth, wenn die Kirche in würdiger, weihevoller Musse und Ruhe, abseits vom Tramwaygerassel liegen, und auch nicht gleichzeitig die grosse Pagodenkuppel rechts gesehen würde. Die Kirche sollte von umliegenden Gebäuden enger eingeschlossen werden. Etwas Ähnliches wäre auch bei unserem R a t h h a u s p l a t z e erforderlich. Es würde jedes einzelne der drei herrlichen Werke wesentlich gewinnen, wenn man sich liebevoll dem Genusse jedes einzelnen hingeben könnte. Ich bin auch unzählige Male um das Rathhaus herumgegangen, und als geeignetster Platz zur Betrachtung erschien mir immer die seitliche Gartenanlage, von wo aus allein sich eine wirkungsvolle Ansicht des Thurmes darbietet. Da steht der Thurm, wie in einer Märchen-Illustration von Doré,19 und diese Wirkung hat er nur an diesem Punkte allein und nicht von der Ringstrasse aus.

Schilling (1828–1910) gegossene Bronzestandbild Friedrich Schillers wurde bereits 1876 an seinem heutigen Standort aufgestellt. Die Errichtung eines Goethe-Denkmals war zum Zeitpunkt von Sittes Vortrag offensichtlich projektiert, ein Wettbewerb wurde aber erst 1890 ausgeschrieben. Nach einem Entwurf des Wiener Bildhauers Edmund Hellmer (1850– 1935) ausgeführt, konnte das Denkmal – der Dichter wird in einem Prunksessel sitzend dargestellt – im Dezember 1900 enthüllt werden.] 19 [Der französische Maler und Graphiker Gustave Doré (1832–1883) schuf ab 1852 vornehmlich Illustrationen zu Literaturklassikern. Einem großen Publikum europaweit bekannt wurde Doré mit Illustrationen der Neuausgaben von Dantes Divina Commedia (5 Bde., Paris: Hachette 1861–1872) und Jean de la Fontaines Fables (Paris: Hachette 1867).] Über alte und neue Städteanlagen (1889)

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Mit Rücksicht auf alle diese Umstände habe ich versucht, einen Regulirungsplan zu skizziren, um alle diese Werke nach meiner Ansicht zur richtigsten Geltung zu bringen. Das P a r l a m e n t s h a u s leidet auch daran, dass man es nicht geniessen und von keinem Punkte aus vollständig sehen kann. Der Meister des Werkes hat es nicht so gewollt; aber es musste so kommen, wie es der Dämon unserer modernen Stadtkunst will. Im antiken Sinne hätte vor dem Gebäude eine Agora sich befinden sollen. Wie herrlich dieses Gebäude wirkt, kann man sich bei uns nur im Winter vorstellen, wenn die Bäume des Volksgartens unbelaubt sind und es im Volksgarten einige Fleckchen gibt, wo man durch die Zweige und das Gitter durchsehen kann. Dann erst sieht man das Parlamentshaus in seiner Fernwirkung; vorher hat man es nicht gesehen! Da steht es in richtiger perspectivischer Entfernung – eine Gruppe von erhabenen, griechischen Tempeln. Wenn man sich wenigstens nur dazu entschliessen könnte, einmal probeweise die paar Bäume, die auf der Ringstrasse stehen, zu beseitigen, dann erst würde die Wiener Bevölkerung sehen, was sie bisher an diesem Monumentalbaue noch nicht gesehen hat. Gegenüber dem Parlamentshause, etwas in den Volksgarten eingeschnitten, entstünde eine Rundung und im Hintergrunde der Rundung ein Platz für ein Monument, wie er nicht grösser gedacht werden könnte. Dieses Monument an dieser geradezu erhabenen Stelle, von wo man auf das Gebäude der Volksvertretung des ganzen Reiches hinübersieht, könnte ein Monument allerersten Ranges werden. Was die ähnliche Constellation bei der Votivkirche anbelangt, so habe ich vor Allem an das ruhige Atrium, wie es in den italienischen Kirchen sehr häufig vorkommt und die Wirkung derselben so wesentlich steigert, gedacht, u.z. an ein Atrium, vorne abgekantet und spitzzulaufend. Nun komme ich zur vorderen Partie. Hier der grosse, mächtige, herrliche Eingang, wie bei einem alten Campo santo. Vorne das Portal, flankirt mit einem Bautheile, an dessen Vorderseite ein mächtiger neugebauter Monumentalbrunnen von jenen Dimensionen Platz hätte, wie sie die Fotana Trevi in Rom besitzt. Und dann bleibt noch ein Zwickel übrig, auf dem sich eine Stelle für ein Monument ausscheiden lässt, die so gross wäre, wie die Fläche der Votivkirche selbst, so riesenhaft ist die gegenwärtig hier vorhandene Platzleere. Ferner will die Seitenfaçade als Ganzes genossen werden können; folglich kommt auf die eine Seite ein solcher Platz. Es wäre aber nicht nöthig, auch auf der anderen Seite einen eben solchen Platz zu formieren, das gäbe

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wieder die gebräuchliche moderne Langeweile. Das Freilegen zweier gleicher Kirchenfaçaden ist gerade so als ob man sich ein Buch ein zweitesmal kauft, um es nochmals lesen zu können. Auf der anderen Seite könnte man hier etwas Anderes bilden und zwar am besten einen Platz zum Behufe der Über-Eck-Ansicht des Kapellenkranzes. Was den Rathhausplatz anbelangt, so fühle ich, dass ich mich am meisten von der geltenden Empfindung entferne; denn dass dieser Rathhausplatz so und nicht anders existirt, ist thatsächlich eine Sache der Gewohnheit. Dieser Rathhausplatz hat eben auch, wie Alles, seine Geschichte, und diese Geschichte sagt, dass er ursprünglich ein Exerzierplatz gewesen ist. Und das ist er faktisch heute noch: Ein Exerzierplatz in Pension. Von dieser Empfindung, dass dieser Platz nicht kleiner gemacht werden dürfe, sind wir, glaube ich, alle inficirt. Es ist das die Macht der Gewohnheit, dass Alles, was wir täglich sehen, so und nicht anders in Ordnung ist. Erst, wenn wir nach wochenlangem Aufenthalte in Italien wieder in die Heimat zurückkehren, dann merken wir plötzlich einen starken Unterschied. Ich glaube, dass gegen diese Anordnung der Verbauung die Gewohnheit eine mächtige Einsprache erheben würde. Aber falls die Verbauung mit Häusern nicht entspräche, könnte man ein Arrangement mit Gartenanlagen schaffen, damit vor dem Rathhause einerseits und dem Burgtheater anderseits je ein Platz entsteht. Dies ist bisher wegen der Tramwaygeleise nicht möglich. Diese müssten unbedingt verlegt werden u.zw. unmittelbar vor dem Rathhause vorbei, was nebenbei auch zur Belebung des Verkehres viel beitragen würde. Ich glaube, dass das Rathhaus mit seinen mächtigen Fronten so componirt ist, dass es dies verträgt. Nun bliebe noch der Theil des V o l k s g a r t e n s mit der wichtigsten Partie, der des Theseustempels übrig. Dieser müsste auch einen kleinen Platz bekommen und würde gleichfalls vis à-vis vom Theseustempel ein Platz für ein Monument entstehen, z.B. für ein Goethe-Monument, falls dieses nicht vor dem Burgtheater postirt würde. Dann würde der Meister deutscher Dichtkunst zum Theseustempel, gleichsam wie zu einem Symbol der Ideale seiner Kunst, hinüberblicken. Was die Ausführbarkeit des Werkes anbelangt, so ist selbstverständlich, wie ich bereits erwähnt habe, die Sache nicht gefährlich. – Die Frage ist nur akademisch behandelt; ich glaube aber gezeigt zu haben, dass solche Anlagen im Sinne der alten Meister auch heute noch bei uns, vor Allem in Wien möglich sind. – Es würde dadurch ein ganzer Kranz von Forum-Anlagen entstehen, mächtiger als in den kleinen italienischen Städten, wo sich zwei bis drei kleine Plätzchen um den Dom gruppiren. Ich halte aber nicht blos dieses, Über alte und neue Städteanlagen (1889)

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sondern überhaupt alle dahin zielenden Projecte für unausführbar; denn es ist eine Regel der Geschichte, dass solche Dinge, die blos aus der künstlerischen Begeisterung hervor gehen, auf diesem Gebiete niemals Vollendung erhalten. Ich kenne eine ganze Reihe lediglich vom Geiste der Kunst inspi­ rirter Versuche, die nicht ausgeführt wurden. Der geniale Architekt M ü l l e r hat solche Plätze für Brüssel componirt. Sie blieben unausgeführt, wie der Plan Meister S e m p e r ’s für Dresden.20 Im Gegentheil, man kommt immer auf das Schachbrettmuster zurück, und da bin ich bei der Schlussstelle angelangt, in der ich den Grund angeben möchte, warum nach meiner Anschauung die Sache sich so schwer ändern lässt. Wir machen es eben umgekehrt, wie die Alten. Die Alten haben zuerst Monumente gebaut und dann den Platz darnach geformt, wir machen zuerst den Stadtplan mit den Baulinien und Parcellen, diese werden dann verkauft und verbaut. Und diese Methode ist bei uns vermöge des grossen Verkehres, wo so viele Bauparcellen vergeben werden müssen, schwer zu ändern. Wir brauchen eine Ablinirung, ein Protokoll, um überhaupt verkaufen zu können, und nichts anderes als BauparcellenVerkaufsprotokolle sind unsere modernen quadratischen Muster nach dem Systeme von Mannheim. Es gibt aber Nichts, was einem Gemälde von Raphael oder den Markusplatze in Venedig weniger ähnlich sieht, als ein Protokoll. Dennoch können wir von diesen Protokollen nicht Umgang nehmen. Es würde nur ein einziges Heilmittel geben, um aus den Folgen dieser Protokolle hinauszukommen, indem man nämlich in diese Protokolle auch kleine Rubriken für ästhetische Angaben aufnehmen würde. Aber alle diese Rubriken haben die gemeinsame Eigenthümlichkeit, dass sie bekanntlich nicht ausgefüllt werden. Protokolle sind eben meistentheils leer. Für eine stete vollständige Ausfüllung der Kunstrubrik im Stadtplanprotokolle müsste gleichfalls vor-

20 [Der Architekt und Architekturtheoretiker Gottfried Semper (1803–1879), von 1834–1849 Professor an der Dresdner Kunstakademie, nach langjährigem Aufenthalt in der Schweiz ab 1871 in Wien ansässig, entwickelte zwischen 1835 und 1846 mehrere Pläne zur Erweiterung des 1710–1719 durch Matthäus Daniel Pöppelmann (1662–1736) errichteten Zwingers in Dresden. Sempers erste Planung (1835) sah vor, den Zwinger durch einen lang gestreckten Flügelbau mit einem neuen Theatergebäude zu verbinden. Zugleich beabsichtigte der Architekt, den Innenbereich des Zwingers auf ein sich nördlich anschließendes Forum zu öffnen, das auf der einen Seite vom Theaterneubau, auf der anderen von Hofkirche und Altstädter Wache begrenzt werden sollte. Ein zweiter Erweiterungsplan Sempers (1842), der 1844 von Ludwig Förster in der Allgemeinen Bauzeitung veröffentlicht wurde, blieb ebenfalls unausgeführt.]

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gesorgt und von Amtswegen stets auch der künstlerische Standpunkt vertreten werden. Und damit glaube ich, alles dasjenige erwähnt zu haben, von dem ich annehmen durfte, dass es vom Standpunkte des alten Städtebaues für uns von Nützlichkeit sein könnte.

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Über die Wahl eines Platzes für das Wiener Goethe-Denkmal (1889) Sonderdruck, Wien 1889 (Erstveröffentlichung in Chronik des Wiener Goethe-Vereins, Jg. 4 (1889), Nr. 3, S. 18–20). Sign. SN: 215–442/2. Nach einem Vortrag, gehalten am 22. Februar 1889 bei der General-Versammlung des Goethe-Vereins.

Hochgeehrte Versammlung! Indem mir die Ehre zu Theil wurde, heute über ein uns Alle so sehr interessirendes Thema das Wort ergreifen zu können, muss ich zunächst einiges Allgemeines über Denkmal-Aufstellungen überhaupt vorausschicken. Schon der Umstand, dass wir bei jeder Monument-Aufstellung bei der Platzwahl stets den grössten Schwierigkeiten begegnen und schliesslich meist irgend einen kleineren Platz der Altstadt wählen, während sich die neuangelegten Riesenplätze der Reihe nach als untauglich erwiesen, zeigt, dass vom künstlerischen Standpunkte aus irgend etwas bei modernen Plätzen nicht ganz in bester Ordnung zu sein scheint. Hievon überzeugt man sich sofort leicht, wenn man alte und neue Plätze, sowie die Aufstellung der Monumente daselbst gegeneinander hält und die Grundsätze vergleicht, von welchen ausgegangen wurde. Da sieht man, wie wir in Allem und Jedem gerade das Gegentheil von Demjenigen thun, was die alten Meister des Städtebaues als Regel befolgten, und dass somit bei uns auch die entgegengesetzten Wirkungen entstehen. Die Alten bildeten ihre Plätze in geschlossener Form aus, gleichsam als hypetrale Versammlungssäle des Volkes, weshalb das Einmünden von Strassen möglichst vermieden oder doch wenigstens durch allerlei Kunstgriffe versteckt wurde, und diesem Beispiele folgten Mittelalter, Renaissance und Barocke. Wir dagegen legen sie an breite Ringstrassen, damit gleich von vorneherein jede Platzwirkung ausgeschlossen ist, oder lassen viele breite Strassen einmünden, wodurch die Platzwand in einzelne Häuserwürfel zerschnitten wird und nirgends ein geschlossener, ruhiger Hintergrund für ein Monument übrig bleibt. Die Alten liebten kleine Plätze, die sie durch eine Fülle von Statuen und Monumenten aller Art wie Hauptsäle von Wohnhäusern schmückten; wir dagegen verzetteln unsere wenigen Monumente in der ganze Stadt und glauben für jeden Gefeierten auch einen besonderen Platz allein haben zu müssen. Die Alten stellten ihre Monumente an den Rändern der Plätze entlang, lediglich besorgt um gute Ansichtspunkte und einen guten Hintergrund, wobei selbst kleinere Bildwerke oft bedeutende Wirkungen erzielten; wir dagegen leben in dem Wahne, dass jedes Monument selbstverständlich nur in der Mitte eines Platzes aufgestellt werden könne, und sind unseren Riesenplätzen gegenüber kaum im Stande, sie gross

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genug zu machen. Bei dieser in jeder Beziehung denkbar ungünstigen Aufstellung in der Mitte, wahrscheinlich um den Gefeierten auch von hinten begucken zu können, lässt sich freilich nicht mehr als je ein einziges Monument auf einem Platze unterbringen, und bei etwas unregelmässigen Plätzen ohne geometrische Mitte nicht einmal ein einziges. So liesse sich noch Vieles anführen, was Alles beweisen würde, dass wir in der Kunst von Städteanlagen und Monument-Aufstellungen den Faden künstlerischer Tradition verloren haben und in Allem das gerade Gegentheil von demjenigen thun, was bisher in jeder grossen Kunstperiode üblich war. Am Forum zu Pompeji standen sieben Figuren an der einen Schmalseite und zwölf an der einen Langseite, und ähnlich war die Aufstellung auf allen antiken Foren, während die Mitte der Plätze frei blieb. Auch der Athene-Coloss auf der Akropolis von Athen stand seitwärts von der Festzugsstrasse, sowie schon bei egyptischen Tempeln die Pharaonenbildnisse nicht als Verkehrs- und Visurhindernisse in der Tempel­ axe, sondern zu beiden Seiten des Haupteinganges Aufstellung fanden. Die zahlreichen Monumente, Figuren und auch der monumentale Brunnen auf der Signoria zu Florenz stehen an den Wänden und in den Ecken des Platzes, und selbst das Reiterbild Cosimo’s nicht in der Mitte, ebenso die Brunnen aller alten Marktplätze in einer Platzecke oder mindestens hart an einer vorbeigehenden Strassenflucht. Nur ausnahmsweise und selten wird auch die Mitte gewählt, wenn die Situation dies zuläßt, was hauptsächlich bei Rundplätzen zutrifft. In diesem Falle muß aber auch das Monument dementsprechend in seiner architektonischen Hauptform ausgestaltet sein, schlank und hoch, eine Säule, ein Obelisk, wie am Petersplatz in Rom oder an den Enden antik-römischer Rennbahnen. Diesem Typus entspricht vollkommen in Form und Aufstellung das Tegetthoff-Monument1 in Wien und fehlt hier nur der entsprechende architektonische Hintergrund. Dies in Kürze vorausgeschickt, kann mit Bestimmtheit gesagt werden, dass in Wien gerade die neuen Riesenplätze beim Rathhaus, bei der Votivkirche etc. in ihrem jetzigen Zustande für Monument-Aufstellungen untauglich sind, eben wegen ihrer Grösse und wegen ihrer Formlosigkeit. Diese 1

[Das Denkmal für Admiral Wilhelm von Tegetthoff (1827–1871), zum Todeszeitpunkt oberster Chef der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine, befindet sich am Praterstern im 2. Wiener Gemeindebezirk. Bereits unmittelbar nach Tegetthoffs Tod projektiert, wurde das Monument erst 1886 nach Plänen Karl von Hasenauers und Carl Kundmanns (1838–1919) ausgeführt. Der Schaft der elf Meter hohen Marmorsäule, auf der sich die Statue Tegetthoffs befindet, ist mit bronzenen Schiffsschnäbeln versehen und folgt den nach römischem Vorbild 1810 errichteten Rostrasäulen in St. Petersburg.] Über die Wahl eines Platzes für das Wiener Goethe-Denkmal (1889)

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Übelstände müssten vorher behoben werden, und dann könnte erst an ihre künstlerische Ausgestaltung durch Aufstellung von Brunnen, Monumenten und Ähnlichem gedacht werden. In diese zerrissene Fülle von gestaltlosem leeren Raum müsste zunächst Geschlossenheit und Rhythmus gebracht werden, und dann erst würden Plätze genug entstehen für Hunderte von Statuen und Monumenten, grossen und kleinen, ganz nach Bedarf, und je mehr sich davon hier allmählich ansammelte, desto grösser wäre die Wirkung, sowol aller zusammen, als auch jedes einzelnen. Nur um ein beiläufiges Bild zu geben, sei es versucht, anzudeuten, was hier im Sinne alter monumentaler Plätze geschehen müsste. Der formlose Zwickelplatz zwischen Parlament und Justizpalast müsste theilweise verbaut werden, denn dieser sogenannte Platz ist sonst incurabel. In seine vordere Dreieckspitze gegen die Ringstrasse müsste ein mächtiger Rundbau gestellt werden, etwa wie ein antikes Kaiser-Mausoleum, der aber nur gegen die Ringstrasse zu in mehr als Halbkreisrundung frei bliebe, während nach rückwärts ein gerader Tract parallel zum Parlament und ein anderer parallel zum Justizpalast eng anzuschliessen wäre. Hiedurch würde die jetzige höchst unangenehme Wirkung wegfallen und beim Justizpalast ein noch immer verhältnissmässig grosser Platz erübrigen, welcher zu Monument-Aufstellungen geeignet wäre und auch an sich einen schönen Anblick gewähren könnte, falls der Architekt des Neubaues seiner Aufgabe gewachsen wäre. Vor dem Parlamente müsste quer über die Ringstrasse bis zum Volksgarten ein beiderseits durch Säulenhallen im Stile des Parlamentshauses eingeschlossener Platz geschaffen werden, ein Reichsforum, eine Agora. In der Nähe des ohnehin bereits im Entstehen begriffenen majestätischen neuen „Burgplatzes“, eines wahren Kaiserforums, mit dem herrlichen Maria Theresia-Monument,2 würde dieser weit kleinere säulenumgrenzte Platz eine eigenartige Wirkung hervorbringen, eine Vorlegung der Rampe gestatten, wie es der Architekt des Baues ohnehin von Anbeginn an projectirt hatte, und die auf Fernsicht berechnete Tempelgruppe der Hauptfaçade erst zur Geltung bringen. Gegenüber dem Parlamentshause wäre am besten eine sanfte

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[Das von dem Bildhauer Caspar von Zumbusch und dem Architekten Karl von Hasenauer zu Ehren Erzherzogin Maria Theresias von Österreich (Erzherzogin 1740–1780) geschaffene monumentale Denkmal wurde 1888 auf dem nach ihr benannten Platz zwischen den Wiener Hofmuseen aufgestellt. Die sechs Meter hohe bronzene Sitzfigur der Herrscherin erhebt sich auf einem prismenförmigen Aufbau, der auf einem Kolossalsockel steht.]

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Rundung in den Volksgarten einzuschneiden, und hier wäre der Platz für ein oder mehrere Monumente, ein Platz, wie man ihn sich zu diesem Zwecke gar nicht günstiger denken könnte. Die jetzige Situation vor dem neuen Burgtheater birgt sonderbare Conflicte. Die mächtige Rundung des Baues verlangt gebieterisch eine Gegenbewegung des Trottoirs davor, so dass eine bühnenbildartige Rückstauung des Platzes entstünde, dessen Hintergrund der Theaterbau bildete. Anstatt alledem schneidet hier das Tramway-Geleise mit Rasiermesserschärfe geradezu jede natürliche Raumempfindung verletzend vorbei. Hier müsste unbedingt die Tramway verlegt werden, und wohin? Das ist aus der ganzen Situation klar, offenbar in die Reichsrathsstrasse vor der mächtigen Langfront des Rathhauses vorbei, wo die Tramway nicht nur nicht stören könnte, sondern sogar zur Belebung dieses sogenannten todten Viertels beitragen würde. Der viel zu grosse und noch obendrein in die Ringstrasse zerfliessende Rathhausplatz müsste theilweise verbaut werden, damit ein eigener Rathhausplatz entstünde, der nur den Zweck hat, diesem Monumentalbau allerersten Ranges allein zu dienen, damit aber auch ein eigener Theaterplatz entstünde und damit der Stilconflict von Gothik, griechischer römischer und italienischer Renaissance beseitigt würde. Dies vorausgesetzt, würden auch hier zahlreiche vortreffliche Plätze für Monumente entstehen. Am Rathhausplatz wäre Raum genug zur Verherrlichung der Heroen des engeren Stadtkreises, am Theaterplatz aber wäre der naturgemässe Ort für die Monumente großer Dichter und überhaupt grosser Künstler. Hier wäre vor Allem zu beiden Seiten der Theater-Rundung der herrlichste Platz für Goethe und Schiller. Es wurde dies auch, trotz der jetzigen ungeschickten Situation, schon empfunden, und für die Übertragung des Schiller-Denkmals hieher sind schon die Kosten berechnet worden auf beiläufig zehntausend Gulden. Schwerwiegende Gründe sprechen aber dagegen. Die jetzige Sockel-Architektur des Wiener Schiller-Monumentes passt bis zu einem gewissen Grade zur Architektur des Akademiegebäudes, vor dem es jetzt steht, in Stil und Steinfarbe. Zum Burgtheaterbau würde das Alles nicht stimmen. Eine Änderung des gesammten Steinbaues würde aber grosse Kosten verursachen und doch nichts helfen, denn der Stilconflict würde zwischen dem figuralen und architektonischen Theile weiterbestehen und zudem einen üblen Einfluss auf das als Gegenstück zu concipirende Goethe-Denkmal ausüben, der nichts weniger als wünschenswerth wäre. Noch eine dritte Platzgruppe könnte geschaffen werden, auf der Monumente verschiedenster Grösse und in erheblicher Zahl Raum finden könnÜber die Wahl eines Platzes für das Wiener Goethe-Denkmal (1889)

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ten, während jetzt dort nicht eine einzige Aufstellung möglich ist, nämlich auf dem unabsehbar grossen Raumzwickel vor der Votivkirche. Schon wegen seiner öden Formlosigkeit und wegen des höchst ungünstigen Druckes, den er auf den wundervollen Kirchenbau ausübt, sollte dieses Platzmonstrum je eher, je lieber aus der Welt geschafft werden. Vor der Kirche wäre ein atriumartiger, sehr grosser Vorhof zu bilden mit mächtigen Arkaden mit gleichzeitiger Verbauung der unregelmässigen Platzreste für was immer für Zwecke. Auch der rückwärtige Theil wäre theilweise zu verbauen, so zwar, dass zwei verschiedene (nicht symmetrische, nicht gleiche) Plätze entstünden, einer gegenüber dem chemischen Laboratorium, für den Anblick der Seitenfaçade bestimmt, und ein zweiter in der Ecke bei der Prälatur, welchem in Bezug auf den Kirchenbau die Aufgabe zufiele, die Wirkung der Concha und ihres Überganges zum Querschiff in der wirkungsvollen Übereckansicht zur Geltung zu bringen. Auf diesen Plätzen wären dann geeignete Stellen für gar viele Monumente und desgleichen noch weitere an der Spitze des Atriums gegen die Ringstrasse. Eine solche Herrichtung unseres jetzigen formlosen Platzmeeres vorausgesetzt, hätten wir dann plötzlich Orte zu Monument-Aufstellungen, genug für Jahrhunderte. Freilich müsste da noch die weitere Annahme hinzukommen, dass wir uns gleichzeitig von dem Wahn befreien, dass jedes Monument nur in der Mitte eines Platzes aufgestellt werden könne. Eine so umfassende Neugestaltung, wenn auch nicht aussichtslos, ist doch gewiss nicht eine Sache von heute auf morgen; bis dahin aber können alle die weiten Räume vor den monumentalen Prachtbauten, vor welchen auch der monumentale Schmuck der Stadt vereinigt werden sollte, nicht benützt werden und auch für das Standbild Goethes ist da vorläufig nirgends Platz, ausser etwa in der Ecke neben dem Burgtheater auf der entgegengesetzten Seite vom Volksgarten. Dieser Platz wurde bereits in Erwägung gezogen, aber gilt als aussichtslos wegen Verkehrsrücksichten. So bleibt schliesslich Nichts übrig, als der in diesen Blättern schon empfohlene P l a t z i m V o l k s g a r t e n b e i m T h e s e u s - T e m p e l . Dieser Raum ist sehr geeignet, aber auch nicht in der jetzigen Form, denn nach dieser müsste das Standbild unmittelbar vor der Giebelseite des Tempels mit dem Rücken gegen den Eingang gestellt werden. Damit wären folgende Übelstände verbunden: Das Monument würde den Ausblick auf die Hauptansicht des Tempels stören, selbst aber an den bewegten Linien, der starken Plastik und Schattenwirkung desselben einen ungünstigen Hintergrund erhalten. Ferner müsste wegen der unmittelbaren Nähe des Tempels der Sockel in altgriechischem Style

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

gehalten werden, was dann in weiterer Folge ein griechisches Costume für das Standbild selbst verlangte. Also auch hier müsste der geeignete Platz erst geschaffen werden, wenn das Monument in voller Freiheit erstehen soll. Eine günstige Platzform zu erzielen wäre aber leicht, weil es sich hier nur um geringfügige Änderungen der Gartenanlage handelte. Es müsste gegenüber dem Tempel in entsprechender Entfernung eine geschlossene Gartenwand aus Bäumen und Sträuchern hergestellt werden, in deren vertiefter Mitte das Standbild Platz fände. Die Figur würde zu dem Tempel hinüber sehen, was symbolisch gar wohl in Einklang stünde mit den so oft und tief auf die Antike gerichteten Ideen des Dichters. Zu Füssen wäre ein kleiner freier Platz zu bilden, seitlich geschlossen ohne Wege und Eingänge, damit hier eine weihevolle Ruhe entstünde und einige Bänke an der Laubwand aufgestellt werden könnten, von denen aus einerseits das Monument, andererseits der Tempel mit Musse betrachtet werden könnte, ohne dass der gleichzeitige Anblick eine gegenseitige Störung verursachte. Bei den gegenwärtig misslichen Platzverhältnissen wenigstens einen gefunden zu haben, der eine befriedigende Aufstellung zulässt, muss schon als günstig genug bezeichnet werden; wie eng die Platzwahl mit der Conception, ja selbst mit der Ausführung des Monumentes zusammenhängt, geht aber gerade aus diesem Vorschlage hervor. Kein Zweifel, wenn hier das Standbild Platz fände, müsste es entweder aus Marmor ausgeführt werden, denn nur dieser, nicht aber die grün patinirende Bronze hebt sich von ­einer grünen Laubwand günstig ab; oder die Bronzefigur müsste vorerst noch einen architektonischen Hintergrund bekommen, vielleicht sogar mit etwas rothen Marmorbestandtheilen an den Rändern zur Ausgleichung des Farben­effectes. So hängen die Conception des Werkes und seines Platzes innig zusammen. Wie wäre es also, wenn bei der Concurrenz den bildenden Künstlern, welche uns dieses Werk schaffen wollen, selbst mit dem Entwurf des Werkes zugleich auch die Wahl des Platzes überlassen bliebe und Platz und Monument-Skizze zugleich zur Auswahl kämen? Je mehr Freiheit der Phantasie in solchen Fällen gelassen wird, desto mannigfaltigere und schwungvollere Gedanken sind zu erwarten. Hoffen wir, dass darunter Einer ersteht, der nicht nur unserer Begeisterung entspricht, sondern der auch unseres Dichters selbst würdig wäre.

Über die Wahl eines Platzes für das Wiener Goethe-Denkmal (1889)

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Vortrag über moderne Städtebauten (1889) Mährisches Tagblatt (Olmütz), 5./6. November 1889. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 216–478/1 u. 2. Nach einem Vortrag, gehalten am 2. November 1889 im deutschen Casino in Olmütz.

Folgende längere Passage zu Beginn wurde von Sitte gestrichen: „Gute Vorträge sind ebenso selten wie vollkommene Bauwerke zu finden. Wir haben hier schon große Poeten gehört, deren Dichtungen uns beim Lesen begeistern, und wir haben geistvolle Schriftsteller gehört, deren Feuilletons uns entzücken, ihre Vorträge aber ließen kalt, und unbefriedigt verließen die Hörer den Vortragssaal. Will der Vortragende sein Auditorium erwärmen, darf es ihm selbst an innerer Wärme, seinem Vortrage nicht an Fluß der Rede und jenem eigenartig hinreißenden Zuge fehlen, der sich sofort auf den Hörer überträgt. Einen solchen Vortrag brachte uns am Sonnabend Herr Regierungsrath Camillo Sitte, als er im deutschen Casino über modernen Städtebau sprach und speciell die hiesigen Verhältnisse einer eingehenden Erörterung unterzog. Man fühlte, daß der Vortragende ganz erfüllt sei von Liebe für die Sache, die er zum Thema seiner Besprechung gemacht hatte, man hörte, daß er nicht bloß graue Theorien zum Besten gab, man lauschte seiner ernsten Mahnung mit Spannung und lachte herzlich über die heitere Laune, die wirksam in dem Vortrage sich geltend machte und über die glücklichen humoristischen Lichter, die das ernste Thema beleuchteten. Camillo Sitte beherrscht nicht nur sein Thema mit vollkommener Meisterschaft, er spricht klar, hell und verständlich und weiß den Hörer sofort für sein Thema zu interessiren. Das zahlreich erschienene Publikum, unter dem sich auch Seine k. Hoheit, Herr Erzherzog Eugen befand, der sich bekanntlich für alles Schöne interessirt, dankte dem Vortragenden durch stürmischen Beifall. Es darf ihm, wie wir denken, die ganze Bevölkerung unserer Stadt dankbar sein für die Winke und Anregungen, die er für die fernere Durchführung unserer Stadterweiterung gab. Seine Rathschläge in dieser Hinsicht sind keineswegs unpraktische Ideale von einseitig künstlerischem Standpunkte; sie haben vielmehr das Gute, daß sie äußerst praktisch sind und dennoch die künstlerische Seite der Stadterweiterung nicht aus dem Auge verlieren. Wir freuen uns, daß wir in der Lage sind, den so überaus trefflichen und interessanten Vortrag unseren Lesern vollinhaltlich mittheilen zu können.“

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Der Vortragende1 entwickelte zuerst die Grundsätze des Städtebaues als Kunstwerk nach den Mustern der alten Meister und zeigte, daß es vor Allem zwei Momente sind, ohne deren Beachtung eine künstlerische Wirkung eines Stadtplatzes unmöglich ist, nämlich die G e s c h l o s s e n h e i t d e r P l a t z w a n d und das F r e i h a l t e n d e r M i t t e .2 Diesen beiden Hauptregeln folgen alle wirkungsvollen Plätze der Antike, des Mittelalters und der Renaissance bis zu ihren letzten Ausläufern: Barrocke und Roccoco; während der moderne Stadtbau diese unerläßlichen Grundregeln nicht mehr kennt und deßhalb auch noch niemals trotz ungeheurer Kosten, ein herzerfreuendes Stadtbild zu Stande gebracht hat. Die Mittel wodurch die alten Meister einerseits die Geschlossenheit ihrer Plätze und andererseits den freien Ausblick auf die Kunstwerke auf denselben erzielten, sind einfach und könnten heute noch überall zur Anwendung kommen, denn sie verstoßen weder gegen die Anforderungen des modernen Verkehres noch gegen andere mit Recht hoch gehaltene Forderungen der Hygiene etc. Lediglich das Verständniß dafür ist uns abhanden gekommen, und wir sollten uns nicht immer wieder verwundern, wenn der gewünschte Effect ausbleibt, da wir mit merkwürdiger Consequenz die Mittel hiezu nicht gebrauchen. Die Mittel zur Erzielung der Geschlossenheit der Platzwand sind aber: ein richtiges Einmünden der Strassen besonders an den Ecken der Plätze und zwar so, daß die Blickrichtung sich mit der Strassenrichtung schneidet, wodurch es unmöglich wird durch dieselbe weit hinaus zu sehen; ferner ein Überbauen der Strassenmündungen, so daß man auf den Platz durch große Thorbogen einmündet; endlich im äußersten Nothfalle die Errichtung von raumabschließenden Collonaden. Alle diese Hilfsmittel des Städtebaues wurden in alter Zeit in den mannigfachsten Variationen verwendet während sie

1

[Der Olmützer Vortrag stellt Sittes erstes öffentliches Auftreten im mährischen Raum dar. Hier sollten sich ihm später die einzigen Chancen zur Realisierung städtebaulicher Projekte eröffnen (wie die Regulierungspläne für Mährisch-Ostrau/Moravská Ostrava 1897 und Marienberg/Mariánské Hory 1903). Zu Sittes Planungen siehe CSG, Bd. 6.]

2

[Die an dieser Stelle angesprochenen Mittel zur Erzielung der „künstlerische[n] Wirkung eines Stadtplatzes“ finden sich fast wörtlich in Sittes Städte-Bau als Überschriften des zweiten und des dritten Kapitels („Das Freihalten der Mitte“/„Die Geschlossenheit der Plätze“). Siehe Sitte, Camillo: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Wien: Graeser 1889 (Reprint der 1. Aufl. von 1889 in: CSG, Bd. 3. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2003), S. 12, 22.] Vortrag über moderne Städtebauten (1889)

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heute geradezu als ausgestorben betrachtet werden müssen. Dies wurde durch zahlreiche Beispiele an der Hand von Photographien, Zeichnungen und Tafelskizzen erläutert. Die Mittel zur Erzielung des freien Ausblickes über die auf einen Platz angehäuften Monumente, Brunnen und Gebäude sind bei den alten Meistern noch einfacher. Sie lassen sich alle in die einzige Regel zusammenfassen: einfach alles (Monumente und Bauwerke) wie in einem wohleingerichteten Zimmer an den Wänden herum aufzustellen. Unter den hiefür angeführten Beispielen besonders lehrreich war der Hinweis auf die Kirchenbauten von Rom, wo bei zweihundertneunundvierzig eingebauten nur sechs freistehende vorkommen, worunter zwei neueste Bauten (die englische und protestantische Kirche), während die vier übrigen wenigstens gegen eine Platzwand angeschoben sind. Auch das wird heute überall entgegengesetzt gemacht, indem man alle neuen Kirchen in die Mitte der Plätze stellt, wodurch der schöne große Platz zerstört wird; der Bau selbst aus allem Zusammenhang gerissen, nicht voll zur Geltung kommt; wegen mangelnder Verbindung mit Schule und Pfarrhof eine Menge praktischer Übelstände aufweist und viel theurer zu stehen kommt. Ebenso glaubt man jedes Monument, jeden Brunnen immer nur in die geometrische Mitte der Plätze stellen zu dürfen, wodurch allein schon die moderne Platznoth für Monumente entsteht, während die Alten Hunderte von Statuen auf ihren Foren unterbrachten. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Anlage großer Hauptstrassen, bei welchen gleichfalls eine künstlerische Wirkung nur dann zu Stande kommen kann, wenn deren Seitenwände in architektonischer Geschlossenheit hergestellt werden. Auch dem widerstrebt das moderne Blocksystem mit den vielen Zerschneidungen der Strassenwand durch Querstrassen, wobei die Kreuzungen der Strassen noch obendrein gerade für den Verkehr ungünstig sind, indem eine einfache Rechnung ergibt, daß die Passagestörungen beim Wagenverkehr sich rasch vervielfachen, wenn immer mehr Strassen auf einen Punkt zusammen laufen. Diese wesentlichsten Grundsätze nun auf Olmütz angewendet; kann man zunächst die Schönheiten der alten Stadt sich erklären. Wie in allen alten Städten bestehen hier als Hauptpunkt einerseits der Domplatz und andererseits der Rathhaus- und Marktplatz als kirchliches und weltliches Centrum. Besonders die Platzgruppe: Ober- und Nieder-Ring weist zahlreiche Schönheiten auf als deren Ursachen die angeführten Hilfsmittel der alten Meister des Städtebaues sich unschwer erkennen lassen. Die Strassenmündungen sind günstig

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

eingeführt, so daß die Platzwand für den Anblick geschlossen bleibt, was am deutlichsten in Erscheinung tritt, wenn man vom Niederring auf den Oberring hinsieht. Dort ist die Ausmündung des Niederringes für den Verkehr doch gewiß hinreichend breit; für den Anblick ist aber das Bild regelrecht geschlossen durch die rückwärtige Rathhausfaçade. Das Rathhaus steht zwar rings herum frei, aber nicht im Sinne der schlechten modernen Gepflogenheit in der geometrischen Mitte des Gesammtplatzes sondern mehr gegen den Niederring zu geschoben, so daß die Hauptmasse des Platzes auf der anderen Seite noch wirkungsvoll übrig bleibt. Im Sinne der meisten ähnlichen Fälle in alten Städten wäre eine noch größere Verschiebung in diesem Sinne angezeigt gewesen. Diese scheint jedoch seinerzeit verhindert gewesen zu sein durch Berücksichtigung anderweitiger Wünsche, wie etwa die Stellung des großen Brunnens bei der Schulgasse damit dort vor der Halle der Freitreppe freier Raum bleibt für Volksansammlungen zur öffentlichen Ausrufung von Verordnungen u. dgl. Sehr wirkungsvolle Stadtbilder entstehen sowohl vom Niederring her als auch noch mehr vom Max-Josef-Platz durch die Schulgasse herab dadurch, daß im Hintergrunde der schöne Rathhausthurm sichtbar ist. Auch die Brunnen und Monumente haben durchaus vorzüglich gewählte Standplätze, wie sie aber heute schwerlich wieder gewählt würden, weil wir heute allen gesunden Sinn für solche künstlerische Stadtbaufragen verloren haben. Nur unter dieser traurigen Annahme wird es auch begreiflich, daß bei modernen Stadtanlagen und Monumentaufstellungen nirgends nur annähernd so Schönes glückt, wie in den alten Städten. Es ist als ob ein Fluch auf dieser Angelegenheit lastete, denn selbst dort wo schöne Projecte schon von einzelnen Künstlern entworfen wurden, kamen sie regelmäßig nicht zur Ausführung. Einer der Gründe, welche bei uns eine künstlerische That auf diesem Gebiete nicht aufkommen lassen, besteht in der Verzettelung aller einschlägigen Bauangelegenheiten, derzufolge jedes Object (Gebäude oder Monument) immer nur als eine Einzelfrage für sich behandelt wird. Der Vortragende gibt hiezu ein Beispiel aus seiner eigenen Erfahrung. Er hatte als Mitglied einer Regulirungs-Commission in Salzburg vor Jahren vorgeschlagen, alle gleichsam in der Luft schwebenden Baufragen zu vereinigen und hiedurch ein wirkungsvolles Ensemble zu ermöglichen. 3 Dieser Vorschlag,

3

[Auf den im Folgenden dargelegten Vorschlag geht Sitte zehn Jahre später in einem Münchener Vortrag, dessen Manuskript nicht im Sitte-Nachlass-Archiv enthalten ist, ein weiteres Mal ein. Siehe „Camillo Sitte über Städtebau“, in: Münchner Neueste Nachrichten, 17. Dezember 1899. Bei Sittes Vorschlag für Salzburg handelte es sich um eine AlternativVortrag über moderne Städtebauten (1889)

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welcher natürlich nicht einmal discutirbar war, da er über den beschränkten Rahmen der Commissions-Befugnisse hinaus ging, war: bei Gelegenheit der Gersbach-Regulirung und der geplanten Niederlegung einiger Festungsreste an der Salzach gleich unter Einem die Frage der zweiten Salzachbrücke und der in nächster Zukunft etwa ausführbaren öffentlichen Gebäude zu lösen und zwar so, daß vor den linksseitigen Brückenkopf ein möglichst prächtiger dreiseitig geschlossener Platz formirt würde. Dazu wären drei mit Arkaden verbundene Gebäude nothwendig gewesen, und als diese wurden bezeichnet der damals in Aussicht stehende Neubau der Staatsgewerbeschule, das Künstlerhaus und als Gegenstück zu demselben ein neues Museum. Seither sind Brücke und Künstlerhaus bereits wirklich vollendet, aber jedes als Object für sich ohne irgend einem wirkungsvollen Zusammenhang mit anderen Anlagen zur Erzielung eines harmonischen effectvollen Stadtbildes. Museum und Gewerbeschule werden sicher auch noch einmal an die Reihe kommen, aber voraussichtlich jedes als Einzelfrage behandelt werden und das eine Gebäude hierhin, das andere dorthin gestellt werden, wie es der liebe Zufall will. Ein anderer Hauptgrund, warum alle modernen Städteanlagen künstlerisch mißglücken, besteht darin, daß man immer einen completen Baulinienplan aufstellt, ohne noch fixirt zu haben, was denn eigentlich da gebaut werden soll. Wie soll denn da ein wirklicher Stadtbau-Künstler Hauptstraße und Plätze anlegen, wenn noch keinerlei Bedürfniß dazu angegeben ist? In diesem Falle bleibt freilich nichts übrig, als ein Quadratnetz herunter zu linieren, das blos das Flächenausmaß in simpler geometrischer Form gliedert. So etwas ist derartig sinnlos, daß man, wenn Straßenbreite und Hausblockgröße einmal durch Gemeinderathsbeschluß festgesetzt sind, einen solchen sogenannten Stadtplan von jedem beliebigen Amtsdiener herunter rastriren lassen kann. Ist dann aber so ein Rastrum einmal genehmigt zur Durchführung, dann ist alles verloren und lassen sich Schönheiten des Stadtbaues überhaupt nicht mehr erzielen: ja selbst dem Architecten, welcher ein Einzelgebäude planung zu der 1884 errichteten Karolinenbrücke über die Salzach, die – nordöstlich der Mündung des Gersbachs gelegen – den Stadtteil Nonntal mit dem Rudolfsplatz verbindet. Der von Sitte projektierte, dreiseitig von den Neubauten der Staatsgewerbeschule, des Künstlerhauses und einem Museum eingefasste Platz am westlichen Salzachbrückenkopf fand keine Umsetzung. In den 1880er und 1890er Jahren wurden die erwähnten Bauten an unterschiedlichen Stellen ausgeführt: Zunächst errichtete man 1884 das Künstlerhaus als freistehenden Bau am Salzachufer. Erst 1897–1900 wurde einige hundert Meter flussabwärts der lang gestreckte Bau der Salzburger Staatsgewerbeschule ausgeführt.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

etwa monumental durchführen soll, sind von vorne herein die Hände gebunden und eine denkbar ungünstige Situation vorgeschrieben, bei welcher die meisten wirkungsvollen Baumassen-Gliederungen ausgeschlossen sind. Ein solches unglückseliges Baurastrum ist auch der Stadterweiterungsplan für Olmütz vom Jahre 1885.4 Kritisiren kann man so etwas gar nicht, was in seiner Absicht, in seinen Grundsätzen schon verfehlt ist; es kann nur als Entschuldigung angeführt werden, daß heute eben in der ganzen Welt die Stadtpläne ausnahmslos nur nach diesem Quadratnetzsystem (nach Häuserblöcken) gemacht werden, und ferner kann noch mit Bestimmtheit vorher gesagt werden, daß mit Durchführung dieses Rastrums alle künstlerischen Wirkungen von vorne herein todtgeschlagen sind. Auf den ersten Blick dürfte es den Anschein haben, als ob der Anforderung eines bestimmten Programmes überhaupt nicht entsprochen werden könnte. Dem ist aber nicht so. Die Statistik ist schon weit genug ausgebildet, um es dem Kenner localer Verhältnisse zu ermöglichen, wenigstens beiläufig ein Bild der Entwicklung einer Stadt für die nächsten Decennien zu geben, und das genügt. Wenn man weiß, wie hoch man die Bevölkerungszunahme für die nächsten 50 Jahre annehmen darf, so weiß man zugleich, wie viele neue Schulen, Kirchen, Theater und sonstige Hauptgebäude dann in dieser Zeit nothwendig werden. Indem aber hiefür im Stadtplan Vorsorge getroffen wird, hat man zugleich Anhaltspuncte gewonnen zur Feststellung einiger Hauptplätze und Hauptstraßen. Wenn diese künstlerisch vollendet gelingen würden, so wäre aber das Wesentliche gerettet; alles Übrige ist von geringerem Belange und kann getrost der Entwicklung von Parthie zu Parthie überlassen werden. Es sei erlaubt, gerade dieß an dem Beispiele der Stadterweiterung von Olmütz darzuthun; die Ziffern der Stadtbevölkerung, so weit sich dieß mehr weniger genau feststellen ließ, sind:

4

[Die Möglichkeit zu einer Stadterweiterung für Olmütz ergab sich erst ab 1886 infolge des Beschlusses Franz Josephs I., den Festungsstatus der mährischen Stadt aufzuheben. Im gleichen Jahr wurde das Fortifikationssystem abgetragen, das zwischen 1850 und 1866 verstärkt worden war.] Vortrag über moderne Städtebauten (1889)

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Im Jahre 1060, 10000 Einwohner. ”

” 1139,

13400





” 1240,

16000





” 1450,

29000





” 1529,

36000





” 1640,

36000





” 1650,

1675





” 1710,

6000





” 1857,

14000





” 1869,

15229





” 1887,

16000



Die Einwohnerzahl betrug also schon einmal beiläufig das doppelte. Das merkwürdigste ist aber die unnatürlich geringe Zunahme in den letzten Decennien. Unnatürlich, weil gerade in dieser Zeit alle mitteleuropäischen Städte mit Eisenbahnverkehr rapid gewachsen sind, während Olmütz seit 1650 in der jährlichen Zunahme mit nicht einmal ganz 100 Personen sich stetig gleich blieb. Die Gesammtbevölkerung Europas hat sich zwischen 1800 und 1888 von circa 175 Millionen auf 350 Millionen also bis auf das doppelte vermehrt, und ist es bekannt, daß davon der größte Theil auf die großen Städte entfällt, dann noch ein großer Theil auf mittlere Städte mit Eisenbahnverkehr, während in Landstrichen sogar hie und da eine Verminderung der Bevölkerung beobachtet wurde. Das unnatürliche Ausbleiben der Bevölkerungszunahme von Olmütz muß seine Gründe haben. Nach den dießbezüglichen Publikationen der Gemeindeverwaltung und der Handelskammer bestehen diese in dem Mangel an Ausdehnbarkeit wegen des Festungsgürtels und im bisherigen Mangel guten Trinkwassers, welche Umstände einerseits das Festhalten mancher Bevölkerungsclassen (Pensionisten etc.) verhinderte und andererseits das Aufblühen von Industrien in Nachbarorten (Sternberg, Prerau, Proßnitz) ablenkte. Vermöge der mustergiltigen Führung der Stadtangelegenheiten steht aber die endliche Beseitigung dieser Hindernisse des Aufblühens in nächster Zukunft bereits bevor, und somit steht ein völliger Umschlag zu erwarten um so sicherer als ja das natürliche Wachsthum eine Zeit lang gewaltsam unterdrückt war, und so dürfte es nicht allzu gewagt sein einen Aufschwung bis zu der einstigen Bevölkerungsziffer von circa 30000 in nicht allzu ferner Zukunft anzunehmen, was einer Vergrößerung um ein bedeutendes Maß gleich käme.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Was die Orte betrifft, welche hauptsächlich dieser Vergrößerung gewidmet werden könnten, so wären dieß die neu zu gewinnende Fläche zwischen dem Steinmühlgraben einerseits und dem Stadtpark und der Johann-Allee andererseits, sowie der einspringende Zwickel zwischen der Mittelmarch bei der Genie-Schwimmschule und der Garnisonskirche mit den anstoßenden Rahmen. Besonders das erstere Terrain wäre hervorragend geeignet einen schönen neuen Stadttheil aufzunehmen, welcher dereinst das Nobelviertel von Olmütz werden könnte, wegen seiner unmittelbaren Nähe beim jetzigen Stadtcentrum (beide Ringe, Theater etc.) und von den herrlichen Stadtanlagen. Hier könnten auch etwa zwei künstlerisch hervorragende Plätze und eine Hauptstraße geschaffen werden, wozu das bauliche Materiale, wie gleich gezeigt werden soll, vorhanden ist. Eine kleine Nebenbemerkung sei aber an dieser Stelle gestattet. Die Wiener Erfahrungen bei der ähnlichen Auflassung der Festungswerke haben gelehrt, daß es sehr unpractisch wäre hier wie auf einer Zeichentafel mit dem Schwamm die Festungswerke einfach wegzulöschen und nun den Platz als leere g l e i c h a r t i g e Ebene zu betrachten auf welcher beliebige Häuserquadrate angelegt werden könnten. Ein solcher Baugrund ist eben kein gleichartiger, denn in der Erde stecken noch die alten felsenfesten Fundamente, und wehe dem Bauherrn, dessen Hausmauern zum Theil auf diesen unnachgiebigen Grundfesten, zum Theil in den tiefen Stadtgräben stehen. Da kostet die Fundirung das Zehnfache wie unter normalen Verhältnissen und ungleiche Setzungen, Mauerrisse etc. sind trotzdem kaum zu verhüten. Diese Übelstände wenigsten auf ein Minimum zu bringen, müßte einer der wichtigsten Gesichtspuncte bei Verfassung des Verbauungsplanes sein, was so viel heißt als, daß er unter Anlehnen an die vorhandenen Festungsfundamente construirt werden müßte. Dem Verehrer des modernen Stadtplanrastrums mag diese Forderung ein Greuel sein; aber praktisch wäre es, weil hiedurch Hunderttausende an Baukosten erspart werden könnten, und schön wäre es, weil dadurch eine natürliche Ursache zu allerlei Unregelmäßigkeiten gegeben wäre, welche Unregelmäßigkeiten an und für sich eine künstlerische Nothwendigkeit sind, denn das peinlich Geradlinige und Gleichartige eines Stadttheiles ist allein schon von so drückender Langweiligkeit, daß alle Kunst dagegen vergeblich ankämpfen würde. Ähnliches würde auch für die zweite größere Baufläche südöstlich von der Garnisonskirche gelten. Der ganze Norden ist wegen seiner Grundwasserverhältnisse nicht besonders geeignet für Erweiterungen der Stadt.

Vortrag über moderne Städtebauten (1889)

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Die bereits begonnene Anlage des Villenviertels gegen den Localbahnhof kann auch vom künstlerischen Standpuncte aus als eine gelungene That bezeichnet werden. Der gartenumgebene Villenbau ist eben an sich ein gutes Motiv, was stets in die Statur paßt, stets einen freundlichen Eindruck macht und demzufolge auch überall in seiner Anwendung zu einem befriedigenden Resultat führte.5 Noch muß einer Idee Erwähnung gethan werden, deren Ausführung bereits in Angriff genommen wurde, nämlich der Errichtung einer Avenue von der Kaiser Franz Josefs-Straße zum Hauptbahnhof. Diese Idee ist trefflich; deren weitere Ausführung aber nicht ohne Gefahr. Sollte die Bebauung dieser Hauptverkehrsader so fortgeführt werden, wie sie mit dem Bau der Landwehrkaserne begonnen hat, dann würde die Lösung dieses schwierigen Problems, künstlerisch genommen, gerade nicht sehr classisch ausfallen. Das moderne Wort für dieses Motiv, sowie die in jüngster Zeit geschaffenen berühmteren Muster solcher Avenuen stammen aus Paris.6 Es kann aber doch Niemandem einfallen, hier in offener freier Gegend ein Muster einer der großen Pariser Avenuen oder der Wiener Ringstraße nachahmen zu wollen, denn die Vorbedingungen sind gänzlich andere. Nicht einmal symetrischer Anbau auf beiden Seiten oder symetrische Ausgestaltung des Straßenzuges durch beiderseitige Alleen erscheint hier als Nothwendigkeit. Naturgemäß wäre hier lediglich die Schaffung zweier Kopfstationen durch Schaffung je eines characteristischen Platzes am Anfange und am Ende der Bahnhofstraße. Unmittelbar am Bahnhofe oder in dessen Nähe beim Eintritt in den Rahmen des Stadtbezirkes wird sich ganz von selbst mit der Zeit ein kleiner Baucomplex ansiedeln, bestehend zunächst aus Hotelanlagen, wie sie überall entstehen, wo der Bahnhof eine Strecke außer der Stadt sich befindet.

5

[Ende Teil 1.]

6

[Unter der Herrschaft Napoléons III. (französicher Kaiser 1852–1870) kam es in Paris zu großangelegten städtebaulichen Eingriffen in die bestehende, zum Teil noch mittelalterliche Bausubstanz. Der zwischen 1853 und 1870 amtierende Präfekt von Paris, Baron Georges-Eugène Haussmann (1809–1891), ließ – in der Tradition des absolutistischen Städtebaus – vor allem auf dem rechten Seineufer breite Avenuen anlegen, die als Sichtachsen die Stadtstruktur neu ordneten und markante Plätze und Monumente miteinander verbanden. Im Sinne der über Napoléon I. (Kaiser 1804–1814; Rue de Rivoli) und Ludwig XV. (König 1715–1774; Rue Royale) bis in die Zeit Heinrichs IV. (König 1589–1610; Place Dauphine, Place des Vosges) zurückverfolgbaren Tradition einheitlich gestalteter Plätze und Straßenzüge erhielten zu jener Zeit ganze Avenuen weitgehend homogene Fassadengestaltungen im klassizierenden Beaux-Arts-Stil (z.B. die Avenue de l´Opéra).]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Überläßt man das dem gütigen Zufall, so wird das Ganze hinreichend unrhythmisch ausfallen und schwerlich eine mustergiltige Lösung darstellen. Hier hätte also der Stadtplan-Künstler schon eine kleine Aufgabe vor sich. Ebenso bei dem Austheilen eines architektonisch wirksamen und characteristischen Platzes am Stadtende der Bahnhofstraße. Die zwischenliegende Strecke aber, welche schwerlich in absehbarer Zeit innerhalb die Häusermassen der Stadt zu liegen kommt, wäre vorläufig höchstens auf einer Seite mit Villenbauten und Vorgärten nebst einer einseitigen Allee zu verbauen. Außer den Orten, über welche sich die Stadterweiterung erstrecken könnte, kämen die öffentlichen Gebäude in Frage, deren Entstehung in nächster Zukunft erwartet werden kann und welche somit zur Formirung monumentaler Plätze herangezogen werden könnten. Es sind dieß, vermöge ihrer verwandten Zwecke gleich nach Gruppen für je einen Platz zusammengestellt: eine neue Kirche sammt Pfarrhaus und Schule und ein deutsches Gymnasium. Nach den Grundsätzen des alten Städtebaues in geschlossener Reihe hufeisenförmig zusammengestellt, würden diese Gebäude die Bildung eines herrlichen Platzes zulassen, in dessen Hintergrunde die auf drei Seiten eingebaute nur mit der Hauptfacade frei stehende Kirche dominiren würde. Eine solche Kirche würde, da der auch sonst praktische Einbau nur für die ­schmale Hauptfacade Kosten für architektonische Ausgestaltung (Steinsockel, Steinportal und einen Thurm mit etwa schönem Helm) erforderte, für 500 Personen unter Anwendung der öconomisch und constructiv vortrefflichen Monier-Gewölbe nur einen Kostenaufwand von 50.000 bis höchstens 60.000 fl. erfordern. Links und rechts kurze Loggien mit nur wenigen Säulen angebracht, könnten eine vortrefflich wirksame Platzwand bilden. Eine zweite senkrecht darauf stoßende Platzwand würde das neue Gymnasium einnehmen, und wenn dessen Facade ernst und möglichst einfach (mit Vermeidung der modernen sinnlosen Cementgußschnörkel-Überladung) durchgeführt würde und alle Facadenkosten auf ein edles, groß wirkendes Steinportal, etwa mit kleiner Freitreppe davor, concentrirt würden, könnte die Wirkung ohne erhebliche Kosten gleichfalls eine bedeutende werden. Gegenüber müßte ein Privatbau in ähnlicher Weise durchgeführt werden. Falls die wichtigsten Hauptmauern aller dieser Bauten den vorhandenen Fundamenten an geeigneter Stelle angepaßt würden, wobei auch einzelne Gurtenspannungen mitfolgen könnten, wegen der unverrückbaren Massivität der Festungsmauern, so ließe sich zweifellos viel an Fundirungskosten sparen, und ein in dieser Weise geschickt angelegter Platz würde dann einen Kristallisationspunct bilden für die weitere Ausgestaltung des Verbauungsplanes Vortrag über moderne Städtebauten (1889)

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an dieser Stelle. Das wäre denn doch ein wesentlich anderer Vorgang als das bloße gedankenlose Herunterlinieren des üblichen Baublockrastrums. In ähnlicher Weise könnte in der Neuanlage vor dem Steinmühlgraben noch ein zweiter Platz ausgemittelt werden. An Gebäuden hiefür könnten vielleicht jetzt schon in Aussicht genommen werden: die Erbauung eines Justizgebäudes, eines deutschen Vereinshauses, eines städtischen Museums, einer Turnhalle; was reichlich genug breiter durchzubildende Monumentalbauten gäbe, um wieder einen würdigen, characteristischen Platz zu ermöglichen. Man schrecke nicht sogleich zurück vor der Größe der Aufgabe. Was heute nicht geschieht, kann morgen geschehen, wenn man aber von vorne herein annimmt, daß eben nichts geschieht, wie soll denn da ein Plan zu Stande kommen, der dann seinerzeit die Erstehung von etwas Schönem und Großem zuläßt. Gewiß wird es über Kurz oder Lang in Olmütz zu diesen Bauten kommen, denn sie sind Bedürfnisse unserer Zeit und entstehen überall, früher oder später: in der ganzen Stadt planlos verzettelt, kommen sie aber trotz aller darauf verwendeten Mittel doch nicht zur Geltung, und dieser ungünstige Fall muß nothwendiger Weise einmal eintreten, wenn bei Beginn des großen Werkes schon der Muth fehlt, daran zu glauben und der leidige Blocksystemplan für alle kommenden Zeiten eine günstige Situirung unmöglich gemacht hat. Das Studium der vorhandenen Festungs-Fundamente im Hinblick auf den neuen Verbauungsplan wird aber voraussichtlich auch Stellen erkennen lassen, wo ein günstiger Fundirungsgrund überhaupt nicht zu erlangen ist und somit wie in Wien und anderwärts Hunderttausende zwecklos in die Tiefen zu vergraben wären in drei- und vierfachen Kellergeschoßen ohne Zweck und Verwendbarkeit. Diese Stellen müßten zu leeren Plätzen, breiten Straßen, Höfen etc. verwendet werden. So ergibt sich eine Fülle von Erwägungen und Aufgaben, und das heißt einen Stadtplan construiren. Diese kurzen Andeutungen mögen hinreichen, um zu zeigen, daß es nicht nur den einzigen heute üblichen Weg gäbe, um zu einem Baulinienplan zu gelangen und daß es auch thatsächlich denkbar, ja ausführbar, ist zur Verfassung eines solchen ein Programm aufzustellen. Es bleibt noch eine Frage zur Erörterung übrig, nämlich die nach der Methode, nach welcher ein solcher Plan zu erlangen wäre. Auch darüber liegen reichliche Erfahrungen vor, aber leider nur negative, wie die Sache nicht geht. Auch das ist für die Praxis von Werth. Am nächsten stehen der Absicht einen auch künstlerisch werthvollen Plan zu erlangen, offenbar alle diejenigen Versuche, wo zur Erlangung solcher Pläne öffentliche Concurrenzen mit Preisen ausgeschrieben wurden.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Auch dieser Weg hat bisher noch nirgends zum Ziele geführt. Es gestattet die Zeit nicht, hier auf die zahlreichen inneren Ursachen jedes einzelnen solchen Mißerfolges einzugehen. Die allgemeine Betrachtung ergibt aber Folgendes: Bei jeder Stadterweiterung kommt es lediglich darauf an, ob man zielbewußt und ernstlich wünscht, daß die neue Stadt auch als ein Kunstwerk erstehen soll oder nur als Menschenmagazin. Wünscht man sie als Kunstwerk, so daß die Bewohner dereinst auch ihre Freude daran haben können, dann kann auch nur ein einzelner Künstler das Ziel erreichen, denn Kunstwerke können nicht anders geboren werden, als nur aus dem Kopf eines einzelnen. Ebenso wenig als man eine Symphonie durch ein Comité kann componiren lassen, ebensowenig kann man einen Stadtplan als Kunstwerk durch Commissionen zu Stande bringen. Aber die vorliegende Frage ist so schwierig, daß auch die Auftraggebung an einen Künstler, so wie eines Kirchenbaues oder Rathhausbaues etc. den glücklichen Erfolg noch immer nicht verbürgen dürfte. Warum? Aus zwei Gründen, weil nämlich Künstler meist eigensinnig und auch der Natur ihres Berufes und Temperamentes folgend auch meist in irgend einer Richtung hin einseitig sind. Der allein Hoffnung gewährende Fall aber, daß ein Künstler sowohl über die nöthige Feinfühligkeit und Phantasie verfügt als auch über die hier unerläßlichen ausgebreiteten Spezialstudien durch zahlreiche Reisen etc. und zu dem noch die Geschichte der Bauentwicklung der betreffenden Stadt genau kennt, sowie alle gesellschaftlichen Bedürfnisse, Wünsche und zahllosen sonstigen Bedingungen für das große Werk der Errichtung einer neuen Stadt, dieser ganz besondere Fall dürfte wohl selten zutreffen. Würde er zutreffen, dann müßte dieser Künstler allerdings befähigt sein, einen Plan auszugestalten, welcher allgemeine Befriedigung erzielen könnte in practischer wie auch in künstlerischer Beziehung. Falls diese Vorbedingungen jedoch nicht zutreffen, dann müßte eine begeisterte liebvolle Mithilfe aller betheiligten Corporationen das fehlende ersetzen; der betreffende Künstler aber müßte Einsicht und Geduld genug besitzen, um nach dem ersten vorgelegten Plan nach Kenntnißnahme aller Einwände, Bedenken und ferneren Daten sogleich einen neuen zu verfassen. Auch dieser wird voraussichtlich noch nicht ganz das Rechte treffen, seine Phantasie dürfte aber nicht erlahmen noch einen dritten und wenn nöthig vierten zu bieten. So, und nur so, wäre es möglich, das Richtige auch auf einem Umwege zu erlangen. Das bringt aber wieder neue Schwierigkeiten mit sich. Von Seite des Künstlers setzt es Geduld und Mangel an Eigensinn in so hohem Grade voraus, wie dieß gerade wieder bei Künstlern selten vorkommt. Aber auch auf Seite der Stadtverwaltung steigen die Anforderungen Vortrag über moderne Städtebauten (1889)

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mit den höheren Zielen. Auf dieser Seite wäre die starke Hand einer leitenden Persönlichkeit erforderlich; die Hand eines Mannes, der mit höchster Begeisterung für sein der Vaterstadt und den Mitbürgern gewidmetes Werk auch die hier nöthigen umfassenden Detailkenntnisse und denjenigen hohen Grad von Kunstsinn vereinigt, um als treuer Berather seinem Künstler stets bei dem schwierigen Werk hilfreich beizustehen. Speciell in Olmütz liegen die Verhältnisse insoferne günstig, als ein solcher Mann thatsächlich an der Spitze der Stadtverwaltung steht, und damit ist die wichtigste Vorbedingung eines glücklichen Gelingens hier in seltener Weise vorhanden. Die heutigen allgemeinen Erörterungen schließend, sei es nur noch gestattet, den Wunsch auszusprechen, daß das unter so günstigen Voraussetzungen begonnene Werk auch eben so glücklich enden möge und eine der herrlichen alten Stadt ebenbürtige neue in nicht allzuferner Zukunft erstehe.

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Das Wien der Zukunft (1891) Sonderdruck, Wien: Holzhausen 1891 (Erstveröffentlichung in: Monatsblätter des Wissenschaftlichen Club, Jg. 12 (1891), Nr. 4, Außerordentliche Beilage, 15. Januar 1891). Sign. SN: 217–441. Nach einem Vortrag, gehalten am 4. Jänner 1891 im Wissenschaftlichen Club aus Anlass der Schaffung von Gross-Wien.

Hochansehnliche Versammlung! Das grosse Ereigniss der jüngsten Tage, welches die Entwicklung Wiens in neue Bahnen lenkt und so einen Wendepunkt in seiner Geschichte bedeutet, lässt unsere Herzen höher schlagen und gehobenen Muthes uns an die Zukunft denken. Wir sind erfüllt von der Freude, diesen bedeutungsvollen Moment miterlebt zu haben, wir sind erfüllt von neuer Spannkraft, neuer Schaffenslust. Wovon aber das Herz voll ist, davon geht der Mund über, und so ist es denn auch den Mitgliedern unseres Wissenschaftlichen Club zum Bedürfniss geworden, dafür einen Ausdruck, dafür Worte zu finden. Wenn Männer der Wissenschaft dies thun wollen, so wird Niemand voraussetzen, dass sie bei so feierlichem Anlasse sich mit den damit verknüpften unmittelbaren Tagesfragen beschäftigen; wohl aber, daß die Art der Kundgebung desjenigen Geistes nicht entbehre, der unseres Berufes ist; dass wir theoretisch und historisch Umschau halten und in diesem Sinne unserer Vorstellung von der Grösse des Ereignisses Ausdruck geben. Geschichte und Theorie haben aber zusammen, wie der alte Zeitengott, ein zwiefaches Angesicht: eines, das in die Vergangenheit blickt, eines, das vorschauend in die Zukunft späht. Gerade solche Ereignisse wie das vorliegende, in welchem Vergangenheit und Zukunft sich im lebenden Tage berühren, fordern den Ausblick nach beiden Richtungen. Der Gestaltung in der Zukunft gilt ja das ganze lebendig gewordene Drängen und Schaffen des Tages; die Vergangenheit aber sei die Lehrmeisterin der Zukunft. In diesem Sinne soll die kurze Vergleichung der grossen ersten Stadterweiterung Wiens mit der gewaltigen zweiten, an deren Schwelle wir stehen, ferner eine allgemeine Übersicht über den Ausbau der Theorie und die Literatur des Städtebauwesens überhaupt und schliesslich ein Überblick über die grossen Baufragen des Wiens der Zukunft der Gegenstand der heutigen Betrachtung sein. Wer sich noch an das Inslebentreten der ersten Stadterweiterung erinnern kann, der muss staunen über den ungeheuren Unterschied zwischen Einst und Jetzt. Die Stimmung in der gesammten Bevölkerung war zu Beginn der ersten Stadterweiterung (Dec. 1857) eine vollständig andere als heute. Das Wien der Zukunft (1891)

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Eine freudige Erregung bemächtigte sich allerdings auch damals der ganzen Stadt, aber an der Ausführbarkeit des geradezu ungeheuerlich erscheinenden Werkes wurde wenigstens insoferne gezweifelt, als Niemand daran glaubte, dessen Ausführung je erleben zu können, denn man meinte, dass hiezu Jahrhunderte nöthig wären, und in der That hätte die Vollendung aller seither ausgeführten Bauten ca. 350 Jahre bedurft, wenn die Bauthätigkeit auf den Umfang der ersten fünfziger Jahre beschränkt geblieben wäre. Die Zahl der jährlichen Neubauten betrug damals im ganzen Stadtgebiete nur durchschnittlich 22, in manchen Jahren nur 12 und 16, ebenso die der Zu- und Umbauten nur durchschnittlich 27, während wenige Jahre nach Beginn der Stadterweiterung die Zahl der Neubauten auf mehr als 300 pro Jahr gestiegen war, welche Ziffer sowohl für Neubauten als auch für Zu- und Umbauten seit 1883 endlich als constant angesehen werden kann, und zwar ausschliesslich der Vororte. Denkt man sich an der Hand solcher und ähnlicher Ziffernreihen in die beschränkten Verhältnisse vor der ersten Stadterweiterung zurückversetzt, so wird es begreiflich, dass man sich damals keine rechte Vorstellung bilden konnte von der erst beginnenden Umwälzung in allen Verkehrs- und Industrieverhältnissen und deren Rückwirkung auf die Bevölkerungszunahme der grossen Städte. Ebenso wie im Allgemeinen die Bevölkerung standen auch Techniker und Künstler vor einer dunklen Zukunft, und auch in diesen Kreisen gingen die Vorstellungen zunächst nicht wesentlich über das Bild des damaligen Wiens hinaus. Es fand diese ganz naturgemässe Erscheinung ihren Ausdruck in mehreren Stadterweiterungs-Projecten (wie das des Malers Amerling1), welche den ganzen Glacisgrund als Stadtpark belassen wollten, und in der vielfachen Opposition gegen die Verbauung dieses Terrains, so dass zunächst wenigstens noch der grosse Exercirplatz der Verbauung entzogen blieb, sowie in der zaghaften Beschränktheit der ersten privaten Bauversuche. Aber gar bald entfaltete sich die ganze Größe und Bedeutung des begonnenen Riesenwerkes; an Stelle der Bedenken und Zweifel war bald eine erdrückende Fülle von neuen Fragen technischer und künstlerischer Art getreten, deren Lösung erst zu finden war. Wenn wir heute, ausgerüstet mit 1

[Der Maler Friedrich von Amerling (1803–1887), ausgebildet an der Akademie der bildenden Künste, nach vierjährigen Studienaufenthalten in Prag, London und Paris ab 1828 in Wien ansässig, war einer der herausragenden Porträtmaler des Hochadels und des Großbürgertums im biedermeierlichen Wien. Der von Sitte angesprochene Vorschlag Amerlings, das Glacis nicht zu bebauen, sondern als Stadtpark zu gestalten, lässt sich nicht rekonstruieren.]

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einem Schatz von Wissen und Erfahrungen, auf diese Zeit der ersten Gährung zurückblicken, müssen wir den Muth der damaligen Generation bewundern, welche mit jugendlichem Selbstvertrauen ans Werk ging, aber auch staunen über die Menge bedeutender Erfolge, welche dabei errungen wurde, und sind dieselben um so höher zu schätzen, als der anfänglichen Zaghaftigkeit rasch eine Zeit allgemeiner Überstürzung und einer bisher unerhörten Steigerung der Bauthätigkeit gefolgt war. Indem wir heute diese erste Stadterweiterung in ihrem grössten und schönsten Bestandtheile, dem neuen Hofburgbaue, seiner Vollendung entgegenreifen sehen, müssen wir gestehen, dass sichtlich ein guter Stern über dem grossen Ganzen waltete. Der wesentlichste Theil des grossen Unternehmens ist gelungen und weist einen Ring mächtig wirkender Monumentalbauten und herrlicher Denkmäler grössten Styles auf, dass es eine Freude ist, Herz und Sinn daran zu erheben. Wir Alle wissen, dass dieses herrliche Gelingen sowohl der weisen Vorsicht zu danken ist, mit der das Werk von vorneherein angeordnet war, als auch der majestätischen Grösse der Aufgabe selbst, welche die herangezogenen bedeutenden Talente sichtlich mit ihren höheren Zwecken wachsen liess. Alle diese Verhältnisse sind aber bekannt, und es handelt sich heute nicht um deren Schilderung, sondern lediglich auf die Verwertung der Lehren der Vergangenheit für das Wien der Zukunft. Bei dieser mehr theoretischen Untersuchung kommt es nicht mehr allein auf die in Wien gemachten Erfahrungen an, sondern auch auf das anderwärts unter ähnlichen Verhältnissen errungene Wissen und somit auf eine allgemeine Übersicht über die Literatur des Städtebaues aus den letzten Decennien. Nachgesehen kann dieselbe werden in dem erst jüngst erschienenen umfassenden Handbuche des Städtebaues von Stübben2; das allgemeine Urtheil über die kolossale Thätigkeit auf diesem Gebiete, wie es literarisch vorliegt, kann aber als bereits ziemlich abgeklärt angesehen werden, und

2

[Stübben, Josef: Der Städtebau (= Durm, Josef/Ende, Hermann/Wagner, Heinrich/Schmitt, Eduard (Hg.): Handbuch der Architektur, Teil 4: Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude, Halb-Bd. 9). Darmstadt: Bergsträsser 1890. Hermann Josef Stübben (1845–1936) wirkte nach einem Architekturstudium an der Berliner Bauakademie zunächst als Stadtbaumeister in Aachen (1876–1881), schließlich in Köln (1881–1891). Die Berufung nach Köln erfolgte aufgrund des Wettbewerbserfolgs für die Anlage der Neustadt (mit Karl Friedrich Wilhelm Henrici (1842–1927)). Wie Sitte wurde Stübben infolge der Herausgabe seines Buchs in Deutschland und im Ausland als Gutachter und Juror zu Rate gezogen. Stübben erarbeitete eine Reihe von Stadterweiterungsplänen, u.a. für Wien (erster Preis Generalregulierungsplan 1894), Metz, Danzig und Koblenz.] Das Wien der Zukunft (1891)

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dieses anerkennt einhellig die gewaltigen Fortschritte des Städtebaues in t e c h n i s c h e r Beziehung, betreffend die mannigfachen Fragen des Verkehres und der Verwaltung, aber vor Allem der städtischen Hygiene3, deren unvergängliches Verdienst allein schon glänzend erwiesen ist durch die Herab­minderung der Mortalitätsziffern der meisten grossen Städte beinahe um ein Drittel. Auch den herrlichen Monumentalbauten, welche allenthalben entstanden, blieb die wohlverdiente Ehre der Anerkennung nicht versagt. Ganz anders lautet aber das allgemeine Urtheil über das in der ganzen Welt während dieser Periode der Städteerweiterung ausschliesslich in Anwendung gebrachte Parcellirungssystem. Es ist dies die schachbrettartige Aneinanderreihung von ziemlich gleich grossen Bauwürfeln, eine Methode, welche allerdings an geradezu verblüffender Einfachheit nichts zu wünschen übrig lässt. In der Literatur findet sich kein einziger Versuch einer Ehrenrettung dieser mechanischen Rastrirung aller unserer modernen Stadtpläne, wohl aber eine wahre Fluth von Verwerfungsurtheilen bis zu Spott und Hohn herab. Trotzdem blieb bis heute dieses System in der Praxis allein bestehen, und die theoretische Untersuchung bemüht sich noch immer, die Ursachen dieser schier unbegreiflichen Lebenszähigkeit zu ergründen, um womöglich doch endlich ein Mittel zur Beseitigung dieses allem guten Geschmack und aller Vernunft zuwiderlaufenden Gebahrens zu finden. Nachdem die Entscheidung über die Parcellirungsmethode eine der wichtigsten Vorfragen zur Verfassung eines Stadtplanes betrifft, so seien hier die bisher nachgewiesenen Mängel dieses Systems kurz zusammengestellt; sie sind: 1. Der Mangel an Rücksicht auf die natürlichen Verk e h r s v e r h ä l t n i s s e . Historisch gewordene Strassenzüge folgen geschmeidig den Bodenverhältnissen wie die natürlichen Wassergerinne und nicht minder den durch den Bedarf gegebener Verkehrsrichtungen in mannigfacher Verästelung von verschiedener Strassenbreite, ähnlich dem Geäder des Blutumlaufes im thierischen Körper. Der moderne geometrische Baukastenplan kennt solche Feinheiten natürlich nicht. 2. Stetige Verkehrsstörungen an den zahllosen Kreuz u n g s s t e l l e n d e r r e c h t w i n k l i g s i c h s c h n e i d e n d e n ­S t r a ß e n , 3

[Zur Frage des städtischen Verkehrswesens und der „städtischen Hygiene“ erschien 1890 ein Buch des von Sitte mehrfach erwähnten Karlsruher Professors Reinhard Baumeister. Siehe Baumeister, Reinhard: Städtisches Straßenwesen und Städtereinigung (= Handbuch der Baukunde, Abt. 3,3). Berlin: Toeche 1890. Zu Baumeister siehe Sitte, Camillo: „Über alte und neue Städteanlagen mit Bezug auf die Plätze und Monument-Aufstellung in Wien (1889)“, S. 265, Anm. 13 in diesem Bd.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

was auch ein fortwährendes unbehagliches Überschreiten der Fahrbahnen durch die Fussgänger im Gefolge hat. 3 . S c h u t z l o s i g k e i t g e g e n W i n d u n d W e t t e r, weshalb er dem alten natürlichen Strassennetz auch hygienisch nachsteht. 4 . V e r s c h w e n d u n g a n B a u g r u n d und somit auch Kostspieligkeit in Bezug auf Strassenherstellung und Reinigung wegen der viel zu zahlreichen menschenleeren Seitenstrassen. 5.

Nöthigung

zur

Verschwendung

bei

öffentlichen

B a u t e n b e i v e r m i n d e r t e r a r c h i t e k t o n i s c h e r W i r k u n g , weil sie nunmehr als freistehende Bauwürfel ringsherum künstlerisch durchgebildet werden müssen, ohne dass es möglich wäre, diesen zwecklos verschwendeten Reichthum gleichzeitig überschauen zu können, während die Alten sie klugerweise in den Hintergrund eines Platzes einbauten. 6 . M a n g e l a n G e s c h l o s s e n h e i t a l l e r P l ä t z e , wodurch eine einheitliche, bedeutende Wirkung derselben von vorneherein unmöglich gemacht wird. 7. Umsäumung aller öffentlichen Gartenanlagen durch S t r a s s e n z ü g e , wodurch auch diese Wind und Wetter schonungslos preisgegeben werden. 8. Unmöglichkeit, mannigfache Baugruppirungen anz u b r i n g e n , etwa in Hufeisenform oder sonst abwechselnd und besonderen Bedürfnissen angepasst. Alle Lebendigkeit des Stadtbildes geht in der öden Reihenfolge der Bauwürfel unter. 9. Schwierigkeit, Monumente und Brunnen malerisch günstig aufzustellen. 1 0 . M a n g e l a n O r i e n t i r u n g s m i t t e l n f ü r d e n V e r k e h r, so zwar, dass eine stetig angespannte Aufmerksamkeit erforderlich ist, um sich in der ewig gleichartigen Menge von Häusern und Strassen nicht zu verirren. Ausserdem wurde die geometrische Parcellirungsschablone schon ungezählte Male langweilig gescholten und die nach ihr entstandenen Stadttheile als poesielos und geisttödtend erklärt; die Erkenntniss und Erörterung aller dieser Übelstände verursachte aber stetig an Zahl und Entschiedenheit zunehmende Versuche, ein neues elastischeres System zu finden, das sich der Natur und Kunst gegenüber nicht so unbildsam spröde erweist, und diese Bestrebungen sind gerade jetzt im Begriffe, aus dem Stadium der blos theoretischen Untersuchung heraus ins praktische Leben einzutreten.

Das Wien der Zukunft (1891)

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Die erste wichtige Kundgebung dieser Art stammt aus dem Jahre 1874 und gipfelt in folgenden Beschlüssen der damaligen Generalversammlung des Verbandes deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine: 1. Die Projectirung von Stadterweiterungen besteht wesentlich nur in der Feststellung der Grundzüge aller Verkehrsmittel. 2. Das Strassennetz soll z u n ä c h s t n u r d i e H a u p t l i n i e n enthalten, w o b e i v o r h a n d e n e W e g e t h u n l i c h s t z u b e r ü c k s i c h t i g e n s i n d . Die untergeordnete Theilung ist jeweils nach dem Bedürfniss der näheren Zukunft vorzunehmen. 3. Die Gruppirung verschiedener Stadttheile soll durch geeignete Wahl der Situation und sonstiger charakteristischer Merkmale herbeigeführt werden. Dieser kühne Beschluss hatte trotz seiner Vortrefflichkeit zunächst keinerlei Erfolg. Ganz natürlich, denn das Übel sitzt tiefer. Blosse Hauptlinien geben keinen Stadtplan, denn ohne Detailparcellirung kann ja mit dem Verkaufe einzelner Bauparcellen und sonach mit der ganzen Stadterweiterung nicht begonnen werden. Zudem können ja auch Hauptlinien ungeschickt genug angelegt werden, und wird man mit blos ein, zwei Motiven, etwa: Avenue und Ringstrasse nicht ausreichen, um ein bewegtes Stadtbild zu gestalten. Die Forderung muss weitaus energischer gestellt werden und frägt es sich vor Allem, ob man wirklich ernstlich wünscht, dass eine neue Stadt auch als ein Kunstwerk erstehe oder nur als Menschenmagazin. Wünscht man sie als Kunstwerk, so dass die Bewohner dereinst auch ihre Freude daran haben können, dann kann auch nur ein einzelner Künstler das Ziel erreichen, denn ebensowenig als man eine Symphonie durch ein Comité componiren lassen kann, ebensowenig kann man einen Stadtplan als Kunstwerk durch Commissionen oder von Amtswegen zu Stande bringen. Aus dieser heute theoretisch wenigstens allgemein zugegebenen Ansicht entstand die Forderung, dass zur Erlangung von Stadterweiterungsplänen unbedingt C o n c u r r e n z e n ausgeschrieben werden sollten. Aber auch das genügt noch immer nicht, die Verfassung eines Stadtplanes oder eines Theiles desselben einem Künstler oder einem Wettbewerb von mehreren zu übertragen, w e n n n i c h t d i e s e m e i n ü b e r h a u p t k ü n s t l e r i s c h f a s s b a r e s b e s t i m m t e s P r o g r a m m zu Grunde gelegt wird. Dieses Programm müsste auf Grund amtlicher Erhebungen und statistischer Nachweisungen etc. enthalten: einen genauen Plan des Stadtgebietes, welcher den gesammten Bestand an vorhandenen Bauten, Culturen, Wegen,

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Wasserläufen, bisherigen Canalisationen, wichtigen Rohrlegungen etc., aber auch Angaben über Bodenbeschaffenheit hauptsächlich in Bezug auf Grundwasser und solche Verhältnisse enthalten müsste, welche auf Fundirungen von Bauanlagen und auf die sanitären Verhältnisse zukünftiger Stadttheile von Einfluss sein könnten; auch dürften Angaben über Stärke und Richtung der gewöhnlichen Windrichtungen und was sonst noch von Einfluss sein könnte, nicht fehlen. Ferner müsste die Zunahme der Bevölkerung und des Verkehres für die nächsten Decennien voraus berechnet werden, zu welcher Wahrscheinlichkeitsberechnung die heute schon allenthalben zur Verfügung stehenden statistischen Nachweisungen ein hinlängliches Materiale bieten, und endlich müsste darauf fussend wieder Zahl und Umfang der erforderlichen neuen Schulen, Kirchen, Volks- und Kindergärten, Theater, Badeanstalten, Markthallen etc. angegeben werden, etwa noch mit Bemerkungen über die grössere oder geringere Sicherheit, mit welcher deren einstig Nothwendigkeit schon jetzt vorhergesehen werden kann, und über verschiedenes Anderes, was jetzt schon als Bedürfniss erkannt oder vielleicht schon angestrebt wurde. Wer nur einigen Einblick in die Entwicklung moderner Stadtanlagen und die diesbezügliche Statistik genommen hat, kann an der Möglichkeit eines solchen Programmes nicht zweifeln. Gerade diese nothwendigen Daten mit Umsicht und Kaltblüthigkeit zusammenzubringen, kann aber nicht die Aufgabe des concurrirenden Stadtbaukünstlers sein, sondern nur die Arbeit amtlicher Instanzen, denn der Einzelne verfügt schlechterdings nicht über diejenige ungeheure Arbeitskraft und vielleicht auch Vielseitigkeit, welche hiezu unerlässlich ist, und würde voraussichtlich auch gar leicht Lieblingsideen nachjagen und Gefahr laufen, in umgekehrter Schlussfolgerung nach zufälligen Eingebungen zu einem Plan sich auch das Zukunftsbedürfniss zurechtzurücken, wie dies bisher noch alle Stadtplan-Concurrenzen hinlänglich dargethan haben. Die Ermittlung obiger Daten müsste unbedingt von einem vielgliedrigen und entsprechend zusammengesetzten amtlichen Apparat erwartet werden; die harmonische Zusammenfassung zu einem künstlerischen Ganzen müsste aber der Inspiration Einzelner überlassen bleiben, und an dieser Stelle hätte die Vornahme einer Concurrenz erst platzzugreifen. Wird den Concurrenten die hier bezeichnete Vorarbeit nicht gewährt, so stehen sie vor der Nothwendigkeit, diese ganze ungeheure Arbeit selbst zu leisten, was nicht möglich ist, oder sie müssen tollkühn ins Blaue hinein arbeiten, wodurch nothwendigerweise Projecte zu Stande kommen, welche zur Ausführung nicht angenommen werden können. Hiemit ist zugleich die Das Wien der Zukunft (1891)

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Ursache blossgelegt, warum bisher auch die wohlgemeintesten Concurrenzen zu keinem entsprechenden Ergebnisse führten und warum auch den an sich so vortrefflichen (vorher angeführten) Beschlüssen von 1874 der gewünschte Erfolg versagt blieb. Die blosse Feststellung der G r u n d z ü g e aller Verkehrsmittel und die Angabe z u n ä c h s t n u r d e r H a u p t l i n i e n des Strassennetzes macht eben noch keinen Stadtplan aus und ist es praktisch unmöglich damit allein vorzugehen, weil o h n e d e t a i l l i r t e P a r c e l l i r u n g mit dem Verkauf von Bauplätzen und sonach mit dem Anbaue eines neuen Stadttheiles gar nicht begonnen werden kann. Man bedenke doch, dass der Bau einer ganzen Stadt im Wesentlichen dem Baue eines einzelnen Gebäudes ähnlich ist. Für den Bau eines Rathhauses z.B. genügt es ja durchaus nicht, blos einige Hauptaxen, Höfe oder Hauptstiegen allein vorher in Aussicht zu nehmen und alles Übrige der lieben Zukunft anheimzustellen. Auf solcher Basis kann Niemand zu bauen anfangen; man muss über das Zukünftige schon vorher eines Entschlusses fähig sein. Einen Stadtplan in ähnlicher Weise ohne Programm zu verlangen, wäre gerade so, als ob Jemand seinem Architekten sagte: ‚Hier habe ich einen Bauplatz und hier 500.000 fl., bauen Sie mir dafür etwas.’ Wenn dann auf alle Fragen des Architekten, ob der Bau ein Zinshaus oder eine Fabrik oder eine Villa etc. werden soll, vom Bauherrn stets mit ‚n e i n ’ geantwortet wird, dann kann überhaupt nicht zu bauen angefangen werden. Man sollte meinen, dass dies sonnenklar ist, und doch konnte man sich beim modernen Städtebau nicht zu detaillirten Programmen entschliessen. Die nothwendige Folge davon war das moderne Schachbrettsystem, was eben blos die nüchterne geometrische Formel darstellt für all dieses Nichtwissen, all dieses Nichtwollen. Bis zu diesem Punkte der Erkenntniss wurde diese schwierige Frage in neuerer Zeit vorerst theoretisch gebracht. Wenn nicht Alles trügt, was in Literatur und Praxis jüngster Zeit sich regt, so stehen wir auf diesem Gebiete aber vor einem Wendepunkt der Anschauungen und Bestrebungen. Die Bildung der Plätze und des Strassennetzes alter Städte ist im Wesentlichen ein Product ihrer geschichtlichen Entwicklung unter, fast möchte man sagen, instinctiver Mitwirkung uralter künstlerischer Traditionen. Der moderne Aufschwung des Städtebaues brachte uns das geometrische Quadratnetz der Strassenzüge. Dessen immer offenkundiger gewordene Mängel, deren bedeutendste im Vorigen angeführt wurden, rief aber nicht nur die geschilderte literarische Bewegung hervor, sondern reifte auch Versuche, die Resultate in die

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Praxis umzusetzen, und somit scheint es, dass wir gerade jetzt in eine neue Stylrichtung des Städtebaues einzulenken beginnen. Es liegt hier ein Plan zur Ansicht vor zur Stadterweiterung von Dessau.4 Dieser ist verfasst von Architekt C. Henrici5, Professor am Polytechnicum zu Aachen, einem bekannten vorzüglichen Spezialisten auf diesem Gebiete, und dieser Plan enthält bereits Alles, was nach dem Vorigen heute von einem sozusagen auf der Höhe der Zeit stehenden Stadtplane gefordert werden kann. Wer Städtepläne zu lesen versteht, der glaubt in dieser herrlichen Neustadt bereits mit Wohlbehagen spazieren zu gehen, jeder Punkt ist anders gebildet, so dass man stets weiss, wo man sich befindet, eine kleine Anzahl verschieden grosser, verschieden geformter Plätze von bestimmtem Charakter und in geschlossener Form, mit öffentlichen Bauten innig verwachsen, bildet eine so prächtige Gruppe im Centrum der Anlage, dass man einen schönsten Stadttheile des alten Italiens vor sich zu haben glaubt, und welche Fülle von Abwechslung geschickt angelegter Bauplätze, so dass für verschiedene Bedürfnisse da Passendes gefunden wird und es eine Lust sein müsste, als Architekt für so mannigfach und günstig gedachte Situationen hier Baupläne zu ersinnen, während die ewig gleichen Häuserwürfel des geist- und gemüthlosen Schachbrettsystems von vorneherein alle Phantasie lähmen und selbst durch zwecklose Vergeudung ungeheurer Geldsummen nicht in ihrer angestammten unerhörten Langweiligkeit überwunden werden können. Zudem ist in diesem geradezu mustergiltigen Plan für Communication, Luft und Licht und alle anderen modernen Anforderungen in einer Weise gesorgt, wie dies auf Grund des bisher allein

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[1889 wurde ein städtebaulicher Wettbewerb zur nordwestlichen Erweiterung der anhaltinischen Stadt Dessau durchgeführt. Der von Karl Friedrich Wilhelm Henrici verfasste preisgekrönte Entwurf wurde 1890 publiziert. Siehe Henrici, Karl: Konkurrenz-Entwurf zu der nordwestlichen Stadterweiterung von Dessau. Ein Beitrag zur Lösung des Städtebauproblemes. Aachen: Mayer 1890.]

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[Karl Friedrich Wilhelm Henrici (1842–1927) studierte bis 1864 an der Technischen Hochschule Hannover Architektur. Zwischen 1870 und 1875 wirkte er als Stadtbaumeister im damals noch selbständigen Harburg bei Hamburg. Seit 1875 Dozent, dann Ordinarius an der RWTH Aachen, unterstützte Henrici Sittes Kampf für eine künstlerische Ausrichtung des modernen Städtebaus. Seine bekannteste Planung ist – neben der mit Hermann Josef Stübben verfassten Anlage der Kölner Neustadt – der siegreiche Wettbewerbsentwurf für die Münchener Stadterweiterung 1893, der sich durch geschwungene Straßen auszeichnete. Henrici verfasste weitere Stadterweiterungspläne für Brünn, Hannover, Jena, Trier und die ostfriesische Stadt Leer. 1904 widmete er Sitte die Aufsatzsammlung Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau. München: Calwey 1904, in der er die Grundsätze seines künstlerischen Stadtplanungsverständnisses darlegte.] Das Wien der Zukunft (1891)

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üblichen geometrischen Systems schlechterdings gar nicht möglich wäre. Nach demselben System arbeitet Henrici derzeit im directen Auftrage bereits an mehreren anderen Stadterweiterungsplänen und ebenso Architekt Voss in Hamburg an einem Plane für Altona u.dgl.m. Kein Zweifel, es steht eine neue Ära des Städtebaues vor der Thür, und wir können uns glücklich preisen, dass mit diesem Zeitpunkte theoretischer und praktischer Erstarkung die Inaugurirung unserer zweiten Wiener Stadterweiterung gerade zusammenfällt. Wenn nunmehr noch die Beziehungen zwischen diesen literarischen Errungenschaften und auch den Erfahrungen der ersten Wiener Stadterweiterung zu derjenigen, vielleicht noch grösseren, vor der wir jetzt stehen, angeführt werden sollen, so kann Alles kurz dahin zusammengefasst werden: Wir können sicher sein, dass alle technischen Fragen eine mustergiltige Lösung finden werden. Dafür bürgt uns die Vortrefflichkeit unserer Inge­ nieure mit ihrer umfassenden Erfahrung. Dass auch noch zuwachsende Monumentalbauten und Denkmäler ihren Meister finden werden, kann nicht bezweifelt werden; wohl aber ist die äusserste Vorsicht unerlässlich bei Aufstellung der Normen für den sogenannten Baulinienplan, denn hierin ist es unserer Zeit bisher noch nirgends geglückt, eine volle Befriedigung zu erreichen, und die neuesten Grundsätze sind eben erst im Begriffe, sich praktisch in Wirklichkeit umzusetzen. Trotz dieser Schwierigkeit steht aber auch in dieser Beziehung zu hoffen, dass eine günstige Lösung zu Stande kommt, weil eine Menge Umstände einer solchen förderlich sind. Es kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass sowohl die Altstadt, als auch ein großer Theil der Vororte ihre Strassenzüge noch der Periode des allmäligen Werdens an der Hand der Natur und eines langsam wachsenden Bedürfnisses verdankt. Dieser Schatz an vorhandenen naturgemässen Linienzügen braucht blos sorgsam gehütet und nicht zugegeben zu werden, dass die zweifelhafte Kunst des Messtisches hierin zu wüthen anfängt, so wird sich organisch der alte Stadtkern mit den umliegenden Orten wie von selbst verbinden. Ebenso ist auf dem Boden der Linienwälle6 schon von Natur aus 6

[Der infolge eines Dekrets Kaiser Leopolds I. (Kaiser 1658–1705) nach Planungen Johann Jakob Marinonis (1676–1755) 1704 aus Verteidigungsgründen errichtete Linienwall umgab die Wiener Vorstädte in einem unregelmäßigen Halbkreis von St. Marx im Südosten bis Lichtental im Nordwesten. 1738 wurde der durch Palisaden verstärkte Erdwall zusätzlich mit Ziegeln aufgemauert. 1873 entstand die Gürtelstraße, die dem Verlauf des Walls weitgehend folgte. Nach der Eingemeindung der außerhalb des Linienwalls gelegenen Vororte 1890/1892 wurde die Anlage 1893–1894 abgebrochen und die frei gewordene Fläche bebaut.]

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beinahe Alles vorgezeichnet: die Kreuzungen der Strassenzüge, die Ringbahn und Anderes, und es wäre nur von Strecke zu Strecke ein Platz als Centrum für einige öffentliche Bauten (Kirchen, Schulen etc.) oder geeignete Partien für Gärten (aber nicht freiliegende) mit Umsicht und Geschmack auszumitteln. Am schwierigsten dürfte sich noch die Lösung der Frage der Donaustadttheile an der Reichsbrücke gestalten. Aber auch hier liegt die Angelegenheit eigentlich sehr günstig, denn hier kann mit Gemüthsruhe noch zugewartet werden und hat es keinen Sinn, dem ewigen unnöthigen Drängen einiger Bauunternehmer hier nachzugeben, wo so Vieles am Spiele steht und die Verantwortung der Gegenwart vor dem Forum der Zukunft eine so grosse ist. Wer nur einigermassen in die Zukunft Wiens zu blicken versucht, der kann mit Zuversicht annehmen, dass diese Stelle an der regulierten Donau dereinst eine ganz andere Rolle spielen wird, als sie ihr derzeit zukommt. Es ist ja sicher nur eine Frage der Zeit, bis die Regulirung der Donau am Eisernen Thore etc. vollendet sein wird, und ebenso wird der Donau-OderCanal7, ein großer Donauhafen und manches Andere, was geeignet ist, den Donauverkehr um ein sehr Vielfaches von heute zu heben, zu den vollendeten Thatsachen gehören. Ein bedeutend gesteigerter Verkehr auf der Donau wird aber nicht verfehlen, eine starke Anziehungskraft auf Bahnen und andere Verkehrsmittel, sowie auf die Lage des Handelscentrums zu äussern. Ausserdem ist es sicher zu erwarten, dass die schon längst projectirte Bahnverbindung zwischen England und dem Continent8 und die schon 1873 auf

7

[Das Projekt eines Donau und Oder verbindenden Kanals existierte bereits seit dem Jahr 1719. 1870 legte die Anglo-österreichische Bank ein Trassenprojekt des Ingenieurs Arthur Oelwein (1837–1917) vor und erhielt 1873 die Konzession zu dessen Realisierung. Infolge des Börsenkrachs kam das Projekt jedoch noch im selben Jahr zum Erliegen. Nachdem sich 1892 und 1897 unterschiedliche Syndikate für die Ausführung beworben hatten, begann 1901 die Planung des großflächigen Wasserstraßennetzes, die 1910 abgeschlossen werden konnte. Erst 1939 wurde der Bau endgültig gestartet, kam aber über ein 4,2 Kilometer langes Teilstück im Gemeindegebiet von Groß-Enzersdorf nicht hinaus.]

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[In einer Studie, die Sitte sicherlich bekannt war, befasste sich der österreichische Diplomat und Schriftsteller Ernst von Hesse-Wartegg (1851–1918) mit dem Projekt eines Tunnels zwischen Frankreich und England (siehe Hesse, Ernst von: Der Unterseeische Tunnel zwischen England und Frankreich vom geologischen, technischen und finanziellen Standpunkte beleuchtet. Leipzig: Baumgaertner 1875). Ein 1851 aufgekommenes Vorhaben, einen Stahltunnel unter dem Kanal anzulegen, wurde im Auftrag Napoléons III. durch eine Wissenschaftlerkommission geprüft und als machbar eingestuft. Nachdem man 1880 erste Versuchsbohrungen durchgeführt hatte, wurden die Tunnelprojekte ab 1882 auf Druck Großbritanniens ausgesetzt.] Das Wien der Zukunft (1891)

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der Wiener Weltausstellung durch ein schönes Project als verhältnissmässig sogar leicht ausführbar nachgewiesene Brücke über den Bosporus bei Constantinopel dereinst ausgeführt werden. Einfach der endlich in Fluss kommende Ausbau der Orientbahnen wird dazu nöthigen.9 Mag die Ausführung dieser Werke aber auch noch viele Decennien dauern, kommen wird und muss dieselbe endlich doch. Dann aber wird ein ununterbrochener Schienenstrang von England bis Indien laufen und Wien wird an dieser wichtigsten Strasse der Welt die Pforte zwischen dem Osten und Westen bilden, wie einst Venedig zur Zeit anders gearteter Verkehrsmittel. Zugegeben, dass zu alledem die Arbeit eines halben Jahrhunderts vielleicht noch nöthig ist, so haben wir doch jetzt schon die Pflicht, daran zu denken, und thun wir das, so sehen wir Wien nicht blos dem Namen nach, sondern in Wahrheit an der Donau liegen, welche Idee ja schon bei Inangriffnahme der grossartigen Donauregulirung in selbst- und zielbewusster Weise mit in Erwägung gezogen wurde. Wer diesen Standpunkt festhält, der muss erkennen, dass im Centrum dieser neuen Donaustadt an der Reichsbrücke ein grosses vornehmes Handelsviertel liegen muss mit einem Hauptplatz beim Brückenkopf, wie die Place de la Concorde10 von Paris, mit Theater, Kirche und anderen hervorragenden Bauwerken unmittelbar daran oder in nächster Nähe, verbunden durch eine grossartige Avenue bis zum Praterstern, dessen herrliches Säulenmonument schon heute den Weltverkehr andeutet und die Ausgestaltung eines großen monumentalen Ringplatzes fordert etwa durch Anlage eines Centralbahnhofes in geschlossener Halbkreisform mit großen triumphbogenartigen Durchfahrten. Stromaufwärts kann ein Villenviertel und stromabwärts folgend der Windrichtung ein Fabriksviertel gedacht werden. Diese Donaustadt würde im Verein mit der Altstadt den Prater umschliessen als schönsten und grössten Stadtpark, der nirgends sonst seines Gleichen hat und würde den

  9 [Bereits 1856 wurde die lediglich bis 1858 bestehende Kaiser Franz Joseph-OrientbahnGesellschaft gegründet, die die Errichtung einer Strecke von Wien über Sopron (Ödenburg) und Osijek (Esseg) bis Belgrad zum Ziel hatte. Der bekannte Orient-Express befuhr die Strecke Paris-Varna ab 1883 mit einem Halt in Wien. Ab 1889 führte die Trasse bis nach Konstantinopel.] 10 [Die Pariser Place de la Concorde, auf dem rechten Seine-Ufer am westlichen Rand des Tuilerien-Gartens gelegen, wurde zwischen 1755 und 1775 durch den Architekten JacquesAnge Gabriel (1698–1782) als Place Louis XV. angelegt. Der Platz wird im Norden von dem ebenfalls nach Plänen Gabriels errichteten Hôtel de Crillon abgeschlossen. Im Süden öffnet er sich zum Pont de la Concorde, der auf das Gebäude der Assemblée Nationale zuführt.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

äusseren Ring der zweiten Stadterweiterung ebenso abschliessen, wie der majestätische Burgbau mit seinem Riesenplatz und seinen Monumenten den glänzenden Abschluss der ersten Stadterweiterung bildet. Wie armselig ist diese gewaltige Idee seither verkümmert bis zur sinnlosen Zerstückelung dieser wunderbaren Baufläche und zur Besiedelung mit Zinshausblöcken niederster Sorte, so dass dereinst an dem Strome (wenn dem nicht Einhalt geboten wird) eine zweite Auflage des zehnten Bezirkes stehen wird, den wohl Niemand je als ein Beispiel der Poesie des Städtebaues preisen wird. An dieser wichtigsten Stelle des Wiens der Zukunft ist es Pflicht der Gegenwart, eben an diese Zukunft zu denken und nicht an die vorläufig noch gar minderwerthigen Bedürfnisse der Gegenwart. Es hindert uns aber auch nichts daran, diesen grossen Nebengedanken der Donauregulirung festzuhalten, denn hier kann, wie schon gesagt, mit Gemüthsruhe zugewartet werden, umsomehr als dem Wunsche nach Bauthätigkeit nunmehr baldigst an anderen Orten hinlänglich Gelegenheit zur Bethätigung gegeben sein wird. In dieser Möglichkeit des Zuwartens bis zu einer Zeit, in welcher die Bedeutung dieser Stelle eine wesentlich andere geworden ist, liegt aber wieder ein günstiges Moment, welches auch hier das Beste hoffen lässt. Noch andere Stellen zukünftiger Baubethätigung, an welche höhere Fragen der Kunst herantreten und welche daher mit Vorsicht ohne Überstürzung gelöst werden sollten, sind: die Umgebung der Karlskirche, die Area des Freihauses, die beiden Donaukasernen und das Gelände des Wienflusses. Gewaltige Aufgaben! kaum kleiner als diejenigen der ersten Wiener Stadterweiterung und dieser nur darin nachstehend, dass so grosse kostbare Monumentalbauten in solchem Umfange nicht mehr in Frage kommen werden; wie sehr aber gerade diese unter dem Einflusse der neuen Gestaltung gewinnen werden, braucht nicht besonders erörtert zu werden. Hiemit am Schlusse unserer theoretischen Betrachtungen angelangt, wenden sich unwillkürlich unsere Blicke dem erhabenen Spender dieses doppelten Segens zu; alle Herzen schlagen unserm g e l i e b t e n K a i s e r entgegen, denn wir Alle wissen, dass nur S e i n e r eigensten Initiative, nur S e i n e r Gnade wir diese Fülle von Leben und herrlicher grossen Aufgaben verdanken. An diesem Punkte angelangt, habe ich nicht mehr als Vortragender zu sprechen, sondern im Auftrage und in Vertretung des Präsidiums unseres Wissenschaftlichen Club, und indem wir einen Ausdruck suchen für unsere Empfindungen ehrfurchtsvollster Dankbarkeit, fordere ich Sie auf, ein dreiDas Wien der Zukunft (1891)

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maliges Hoch auszubringen auf Seine Majestät unsern erlauchten Kaiser. S e i n e M a j e s t ä t K a i s e r F r a n z J o s e f I . lebe hoch! hoch! hoch! (Die Versammlung, welche sich mittlerweile von den Sitzen erhoben hatte, stimmte in stürmischer Begeisterung in dieses dreifache Hoch ein.)

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So geht’s nicht! (1891) Untertitel: Zur Entscheidung in der Mozart-Denkmalfrage. In: Neues Wiener Tagblatt, 21. März 1891. Im Nachlass befindet sich eine handschriftliche Abschrift mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 219–439.

„So geht’s nicht!“ – Dieser Ausruf entringt sich unwillkürlich der beklommenen Brust, wenn man die sonderbar verschlungenen Schicksalswindungen der neuesten Wiener Monumentfrage überlegt, der Denkmalsetzung für Mozart.1 Zwei Konkurrenzen; schließlich das fast einstimmige Urtheil einer großen Jury und noch immer keine Befriedigung. Die Kritik stürmt an gegen das Juryurtheil, und das Denkmalkomité gibt nach, indem es die Ausführung an den Träger des zweiten Preises vergibt. Aber auch dieses Entgegenkommen bannt die Zweifel noch keineswegs, und das haltlos hin und her schwankende Urtheil ist nur groß im Verwerfen, aber ohne mit Bestimmtheit sicheren Boden für das Monument zu gewinnen, und zwar immer wieder wegen der leidigen Platzfrage. Sogar der alte Platz vor der Oper wird neuerdings noch einmal empfohlen. Zweifellos wäre auch vor und neben der Oper Platz in Hülle und Fülle, um Dutzende von Monumenten da aufzustellen, wenn es hiebei nur auf das Flächenausmaß nach Quadratmetern ankäme. Die Ringstraße allein ist ja zum Beispiel um sieben Meter breiter als der Markusplatz in Venedig, und die beiden Seitengärtchen neben der Oper sind so groß, wie gar viele berühmte Kirchenplätze und Signorien in Italien, auf denen Photographen, Vedutenzeichner und Aquarellisten zu den ständigen Erscheinungen gehören.

1

[Die Errichtung des Wiener Mozart-Denkmals hat eine lange Vorgeschichte. Schon 1815 gab es die Absicht, in der Karlskirche eine Denkmalgruppe der Komponisten Joseph Haydn (1737–1806), Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) und Christoph Willibald Gluck (1714–1787) aufzustellen. Erst 1887 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, dessen Ergebnisse im Januar 1888 im Wiener Künstlerhaus präsentiert waren. Obwohl der Bildhauer Edmund Hellmer den Wettbewerb gewinnen konnte, entschied sich das Denkmalkomitee für den Entwurf des Zweitplazierten Viktor Tilgner (1844–1896) und löste damit heftige Proteste aus. Am 21. April 1896 konnte das Denkmal auf dem hinter der Hofoper gelegenen Albertinaplatz aufgestellt werden. Bereits kurz darauf mehrten sich die Stimmen, die eine Verschiebung des Standbilds vorschlugen. Nach Bombenschäden im Jahr 1945 wurde das restaurierte Standbild im Juni 1953 an seinem heutigen Standort im Wiener Burggarten aufgebaut.] So geht’s nicht! (1891)

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Bei modernen Plätzen kommt dies bekanntlich nicht vor, denn diese sind weder malerisch noch auch zu Monumentaufstellungen geeignet, sondern eben nur langweilig. Der Grund von alledem ist die Zirkel- und Reißschienen-Gerechtigkeit, nach welcher in neuerer Zeit alle Plätze lediglich nach geometrischen Figuren am Reißbrett zurecht geschnitten werden, und nicht früher wird der ganze Denkmalplatzjammer enden, bis nicht an diese Wurzel alles Übels ernstlich die Axt angesetzt wird. So lange das nicht geschieht, kann man auch unseren Denkmalkomités, welche sich wahrlich in keiner beneidenswerthen Lage befinden, nicht ernstlich böse sein; denn sie befinden sich stets in der Zwangslage, entweder die Denkmalsetzung überhaupt aufzugeben oder mit einem solchen Wechselbalg von Platz, wie es der hinter der Oper ist, verzweiflungsinnig vorlieb zu nehmen. Dieser Platz ist unmöglich, wenn man verlangt, daß Umgebung und Monument zu harmonischem Einklang gebracht werden sollten; er ist möglich im weitesten Sinne, wenn man um jeden Preis das Mozart-Denkmal endlich zustande bringen will, denn Niemand weiß einen besseren. Man wird auch hier sich beschaulich versenken können in den Anblick der Bildsäule des großen Meisters, aber leider mit einiger Schwierigkeit und ohne von der Umgebung in geheimnißvollem Geistesweben hiezu eingeladen zu werden. Ob nicht, herausgerissen aus einem Momente weihevoller Stimmung, dann der Ingrimm über den rasselnden Trödelkram des Alltagslebens umso mächtiger emporlodert, ist eine andere Frage. Immerhin wird Mozart hier gar leicht erinnern an Beethoven, wie er, von plötzlicher Inspiration erfaßt, mitten auf der Straße stehen blieb, um sich etwas zu notiren und hiebei fast überfahren wurde; oder an Archimedes, der, vertieft in seine Kreise, nicht bemerkte, daß er erschlagen wurde. In solchem weitesten Sinne möglich wären auch die vorgeschlagenen Plätze vor und neben der Oper; nur müßte in dem einen Falle theilweise die Façade und ein Theil der Ringstraße umgeformt werden, während in dem anderen Falle der Garten sammt der Umfassungsbalustrade und der Laternensäule an der Ecke gänzlich umgeformt werden müßten. Es ist interessant und lehrreich, solche Verhältnisse ins Detail zu verfolgen. Bei neueren Baugruppirungen (Parcellirungen, Baulinienplänen etc.) werden nämlich immer reguläre geometrische Formen ausgesucht; zunächst irgend eine Hauptachse, nach welcher der ganze verfügbare Raum symmetrisch ge­ theilt werden kann; dann rechtwinklige Schneidungen, Eckpunkte und Mit-

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telpunkte. Alle diese Theile des geometrischen Netzes werden dann durch Straßenzüge, Gebäude, Standsäulen etc. markirt, und wenn dieses trockene, poesielose Gerüste dann ausgebaut ist, kann sich kein Baum, kein Gebäude, kein Thurm, kein Monument, nichts mehr organisch eingliedern, weil dafür nicht vorgesorgt ist, weil alle geometrischen Punkte schon in festen Händen sind und das pedantische System keine Störung verträgt. Wie ganz anders verhalten sich dagegen alte naturwüchsige Stadtplätze! Die Signoria von Florenz, ohnehin schon mit Statuen und Brunnen angefüllt wie ein Museum, vertrüge noch Dutzende von Statuen, Büsten und sogar noch einen oder zwei Brunnen und etwa auch noch ein Reiterstandbild,2 während man in modernen Riesenstädten seine liebe Noth hat, ein einziges Figürchen unterzubringen. Das kommt nur daher, weil eben unsere sogenannten Plätze im künstlerischen Sinne Plätze gar nicht sind, sondern nur im administrativen Sinne. Im Interesse öffentlicher monumentaler Kunstpflege wäre es an der Zeit, daß man für große städtische Gemeinwesen die Ausgestaltung künstlerischer Plätze endlich auch als eine öffentliche Nothwendigkeit erkennen möchte; ebenso wie Niemand die repräsentative Nothwendigkeit eines Salons als Bestandtheil jeder besseren Privatwohnung bestreiten dürfte. Soundsoviel Kubikmeter Luft und etliche emaillirte Gußeisentaferl mit der Bezeichnung eines Platzes machen einen künstlerisch brauchbaren Platz eben noch lange nicht aus. Was nun die beiden unter so ungünstigen Verhältnissen um die Palme ringenden Entwürfe zum Mozart-Denkmal betrifft, so kann von dem Entwurfe Tilgner’s vorläufig noch nicht recht gesprochen werden, denn der zur Ausführung bestimmte ist nicht der der Jury vorgelegene und öffentlich aus-

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[Auf der Piazza della Signoria vor dem Palazzo Vecchio in Florenz fanden im späten 15. und im 16. Jahrhundert eine Reihe überlebensgroßer Skulpturen ihre Aufstellung, die im Auftrag der Republik bzw. der regierenden Medici von den bedeutendsten Künstlern der Zeit geschaffen wurden – etwa die Statue des „David“ (1501–1504; Michelangelo), die Gruppe „Judith und Holofernes“ (1457–1458; Donatello) oder das Reiterstandbild Cosimos I. (1591–1594; Giambologna). Im ersten Kapitel des 1889 erschienen Städte-Bau („Beziehungen zwischen Bauten, Monumenten und Plätzen“) führt Sitte die Piazza della Signoria in Florenz als „sprechendes Zeugniss“ für die richtige Positionierung von Monumenten an den Außenseiten eines Platzes an. Siehe Sitte, Camillo: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Wien: Graeser 1889 (Reprint der 1. Aufl. von 1889 in: CSG, Bd. 3. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2003), S. 13, 21.] So geht’s nicht! (1891)

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gestellte, sondern eine in Aussicht genommene Überarbeitung. Wieder eine Merkwürdigkeit! Sollte das Mißliche unseres Platzmangels noch schärfer sich darstellen müssen, um endlich nach Abhilfe zu drängen? Wohlan! Man denke sich das Mozart-Denkmal bereits an seinem Platz. Von wo aus wird man es halbwegs gut, ohne überfahren zu werden, betrachten können? Nur von der sogenannten Rettungsinsel aus. Dort wird sich auch zu diesem Behufe täglich eine Gruppe Andächtiger einfinden, und wollte man diesen ganz zu Diensten sein, so müßte dort noch auf erhobenem Sockel ein monumentales Fremdenkanapé errichtet und hinter der Figur alltäglich zu bestimmter Stunde ein großer Jutevorhang aufgezogen werden zur Bildung eines neutralen passenden Hintergrundes; die Figur müßte aber auf einer Drehscheibe stehen, um auch von den übrigen Seiten gesehen zu werden, und so gäbe es dann alle Tage eine schöne Mozart-Denkmal-Produktion. Doch genug des bösen Spieles! Es muß doch endlich empfunden werden, wie weit solche Lösungen von einer ideal monumentalen entfernt sind. Die Forderungen nach Raum, Licht und Hintergrund enthalten nur die bescheidensten technischen Ansprüche; nun kommen noch hiezu die weiter gehenden Forderungen nach einer würdigen, gleichgestimmten Umgebung überhaupt. So vielfachen Anforderungen kann der liebe Zufall nicht entsprechen, und man wird sich wohl kaum auf die Dauer der Ansicht verschließen können, daß M o n u m e n t a l p l ä t z e eine Nothwendigkeit sind, deren Mangel sich um so empfindlicher fühlbar macht, je mehr Monumente noch untergebracht werden sollen. Solche Monumentalplätze müssen zielbewußt angestrebt und geschaffen werden in den verbauten Stadttheilen mit Anlehnung an das bereits Vorhandene, in neuen Stadttheilen durch rechtzeitige Berücksichtigung im Verbauungsplan. Keine Gelegenheit sollte aber versäumt werden, auf deren Nothwendigkeit hinzuweisen und immer wieder den Mahnruf erschallen zu lassen: „So geht’s nicht weiter.“

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Die Kunst des Städtebauens (1891) Neues Wiener Tagblatt, 5. März 1891. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 218–440.

Wenn man einen Unterschied macht zwischen alten und neuen Stadtanlagen und die historisch wie von selbst aus dem Boden gewachsenen Altstädte mit dem Unterscheidungsnamen „Naturstädte“ bezeichnen würde, so weiß Jeder, was er sich dabei zu denken hat. Diese Stadt ist eben wahrhaft ein Stück lebendiger Natur, wie Berg und Wald, wo die lieben Thierlein alle ihre erbgesessenen Nester haben; sie ist ein Stück Geschichte, wie ein alter Dom, dessen Mauern, Denksteine, Statuen und Bilder den Beschauer zurückversetzen in längst entschwundene Zeiten; sie ist ein großes Familienhaus, das als liebes, treu gehütetes Vermächtniß von Generation zu Generation sich vererbt hat. In entschiedenem Gegensatz hiezu nach Form und Entstehungsweise befindet sich dasjenige, was man eine „moderne Stadt“ nennt, wobei sich aber Wort und Sinn nicht ganz genau decken, denn das, was man dabei denkt, nämlich eine Stadt mit „s c h ö n e n g e r a d e n “ Straßen, die sich schön rechtwinklig schneiden; mit schön gleich großen Häusern, wie es in allen Reisehandbüchern hervorgehoben wird, das hat es zu allen Zeiten gegeben, auch schon im Alterthume, nur war es damals eine Ausnahme, während es heute die Regel ist. Eine einzig dastehende Ausnahme in der Geschichte des altgriechischen Städtebaues war der schachbrettartige Verbauungsplan für das neue Alexandrien mit durchaus parallelen ostwärts und parallelen nordwärts gehenden Straßen, was sich in den Rekonstruktionen genauso ausnimmt, als ob dieser Plan dem Muster von Mannheim abgeguckt wäre.1 Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen. Alexander der Große war eben in der That bereits ein Städteerbauer im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts nach Christi und nicht im Style altgriechischer Kunst. Rasch sollte alles gehen, sehr

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[Die 331 v. Chr. von Alexander dem Großen (356–323 v. Chr.) an der Stelle der Siedlung Rhakotis gegründete Stadt Alexandria wurde unter Beteiligung des Architekten Deinokrates auf einem rechtwinkligen Stadtgrundriss angelegt. Sitte bezeichnet Alexandria hier interessanterweise als „einzig dastehende Ausnahme“ im altgriechischen Städtebau. Die auf Grundlage des hippodamischen Systems im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. neu angelegten bzw. geplanten Städte Milet, Priene und Piräus nennt er – bewusst oder unbewusst – nicht. Zu Mannheim und zum „Mannheimer Typus“ siehe Sitte, Camillo: „Über alte und neue Städteanlagen mit Bezug auf die Plätze und Monument-Aufstellung in Wien (1889)“, S. 266, Anm. 15 in diesem Bd.] Die Kunst des Städtebauens (1891)

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rasch, und womöglich sollte er die Erweiterung des altegyptischen Rhakotis zum meerbeherrschenden Alexandrien noch bei Lebzeiten erschauen. Es scheint aber in der Natur des menschlichen Denkvermögens begründet zu sein, daß alle derartigen Erstlingsversuche einer Beherrschung der Natur durch Lineal und Zirkel schachbrettartig, rechtwinklig ausfallen. Überall, wo das Städtebauen hastig, in großem Umfange und somit nach vorgefaßtem Plan in Angriff genommen wurde, verfiel man zunächst auf dasselbe Rezept. Spuren davon wurden schon nachgewiesen selbst an den ältesten Großstädten Mesopotamiens und der alten Reiche am Nil. Selbst wenn man älteste Stadtpläne und Burgenpläne, sowie älteste Versuche von Situationsplänen und Landkarten daraufhin betrachtet, bemerkt man leicht, wie da alles rechtwinkelig dargestellt ist oder wenigstens der rechtwinkeligen Darstellung sich nähert, was in der Natur in scheinbar unentwirrbarer Unregelmäßigkeit nach allen Richtungen auseinanderläuft. Man denke an die ältesten Karten der Mittelmeerländer; wie schön senkrecht da Italien und die Adria nach Süden streben und nun gar alles übrige kleinere Detail nach wenigen großen Hauptrichtungen des Vorstellens da aufgezeichnet erscheint, ganz anders, als es in Wirklichkeit sich verhält. Mit geradezu elementarer Gewalt, zwingend wie ein Naturgesetz, treten diese rechtwinkeligen Schemata zutage, wenn es sich um Parzellirungen großen Styls, als gewaltige Neuschöpfungen handelt, welche an die menschliche Schaffenskraft plötzlich mit neuen Aufgaben herantreten. Das Rechtwinkelschema erscheint in diesem Falle wie der Ausfluß eines Naturdenkprozesses, eine Form, in der die Weltseele denkt; überall die gleichen Erscheinungen, als ob es gar nicht anders gemacht werden könnte. Die großartigste Parzellirung dieser Art ist die Staateneintheilung von Nordamerika nach Breiten- und Längengraden, welche ebenso wie die ähnlichen Grenzbestimmungen in Zentralafrika auch deutlich das Wesen dieses Vorganges enthüllt. Der Vorgang besagt, daß man hier Flüsse und Berge noch nicht genau genug kennt, daß man noch nicht weiß, wie sich Leben und Verkehr hier entwickeln werden und somit in vollständiger Unkenntniß und äußerster Rathlosigkeit nichts Anderes vermöge, als das Rechtwinkelschema des Denk- (oder Rede-?) Apparates an Stelle der noch unergründlichen Naturform zu setzen. Dieselben Verhältnisse erzeugten in neuerer Zeit massenhaft die modernen sprichwörtlich langweiligen Städteanlagen. Der Mangel eines Programms ist der Urboden, aus welchem zu allen Zeiten das Schachbrettmuster des Verbauungsplanes hervorgewachsen ist. Noch niemals aber ist das Unnatürliche, Poesielose, Unzweckmäßige dieser harten, gedankenlosen Schablone so

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deutlich empfunden worden, wie in unserer Zeit, theils weil es an so massenhaften abschreckenden Beispielen fehlte, theils weil in früheren Zeiten auch bei planmäßigen Stadtanlagen immer noch Naturgefühl, Kunstsinn und alte Tradition ein Wörthlein mitredeten. So zum Beispiel leistete geradezu künstlerisch Großartiges die Barocke in planmäßigen Anlagen bedeutendster Art. Eine gewisse Frostigkeit weht aber durch all’ den aufgethürmten Pomp und Theaterkram von Perspektiven, Durchblicken, künstlichen Fernsichten, geradlinig beschnittenem Baum- und Strauchwerk u.dgl.m., obwohl jeder Beschauer die Größe der Konzeption fühlt und sich der Wirkung derselben auf sein Gemüth nicht entziehen kann. Sollten wir an dem getheilten Eindruck nicht zum Theil selbst schuld sein? Gewiß haben die Zeitgenossen der barocken Meister ihren Werken eine anders geartete Empfänglichkeit entgegengebracht und sie daher voll und ganz genossen, während für uns stets ein fremder Rest übrig bleibt, der mit unserer Art des Empfindens nicht mehr in Harmonie gesetzt werden kann. Wir bewundern die Prospekte der gestutzten Baumreihen und die durchdachte Gesammtanlage des barocken Parkes, wir lieben aber das nicht mehr. Unser Herz hängt weit mehr an der reinen Natur, und der sogenannte englische Park ist es, der unserer Empfindung mehr entspricht und überall bei Neuanlagen bevorzugt wird. Ähnlich verhält es sich auch bei Stadtanlagen. Das geometrische Häuserkastenwerk wird allerdings weder bewundert, noch geliebt, weil es ja weder den Anforderungen der Kunst, noch denen der Natur, sondern nur der Reißschiene entspricht; wohl aber werden allenthalben villenartige Anlagen mit Vorgärten gepflegt und gelobt. Es ist dies der N a t u r a l i s m u s d e s S t ä d t e b a u e n s , entsprechend der Gesammtrichtung unseres derzeitigen Dichtens und Trachtens.2 Man kann aber Millionenstädte nicht lediglich aus Villen und Vorgärten aufbauen, auch das Motiv der Avenue oder der Ringstraße allein reicht zur Gliederung so gewaltiger Körper nicht aus. Da betreten wir denn beim 2

[Mit seiner Bezeichnung „Naturalismus des Städtebauens“ schlägt Sitte den Bogen zur zeitgenössischen Dicht- und Bildkunst. In seinen kunstkritischen Arbeiten der 1870er und 1880er Jahre verwendet er den Terminus „Naturalismus“ als pejoratives Synonym für Einfallslosigkeit und Kopiermentalität der zeitgenössischen Malerschulen. Siehe hierzu den Einführungsbeitrag „,Künstler und Gelehrter´ – der Universalist Camillo Sitte. Ein Eitelberger-Schüler im Umfeld der ,Wiener Schule für Kunstgeschichte´“ von Robert Stalla (unter Mitarbeit von Andreas Zeese), in: CSG, Bd. 5 (= Schriften zur Kunsttheorie und Kunstgeschichte).] Die Kunst des Städtebauens (1891)

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Städte­bau neuestens denselben Weg, der schon vor Dezennien zur Auffrischung des architektonischen Schaffens gewählt wurde, den Weg des historischen Studiums der Meisterwerke der Vergangenheit, um uns zunächst wieder in dem Besitz aller der Schätze verloren gegangenen Wissens und Könnens zu setzen, das, wie in einem aufgeschlagenen Lehrbuche des Städtebaues, vor uns liegt in zahllosen Beispielen aus Alterthum, Mittelalter und Neuzeit. Eine große Aufgabe, die wir aber, einmal erkannt, nicht mehr von uns weisen können. Heute geht es schlechterdings nicht mehr an, die Bebauungsfläche einer Stadterweiterung ohne Rücksicht auf Natur und Kunst einfach am Reißbrett zu tranchiren, wie man eine Wurst aufschnittelt. Heute muß höheren Anforderungen Rechnung getragen werden, weil sie bereits gestellt sind. Heute gilt nicht einmal die Ausrede mehr: „das gehe nicht anders“, weil bereits eine Literatur hierüber vorliegt und sich stets mehrende Versuche nach praktischer Lösung dieser das allgemeine Interesse fesselnden Frage. Zu den Publikationen der jüngsten Zeit gehören zwei starke Bände von Duam’s [sic!] „Handbuch der Architektur“ 3; der Eine von dem Altmeister Essenwein behandelt die Geschichte des Burgen- und Festungsbaues und bietet an der Hand eines reichen Materials eine meisterhafte Schilderung aller der mannigfachen Formen dieser Kunst, welche in früheren Zeiten so vielfach bestimmend auch in das Stadtbild eingriff; der andere Band: „Stübben’s Handbuch des Städtebaues“ bringt eine gewissenhafte Zusammenstellung aller Anforderungen und Motive mit reichlicher, wenn auch nicht erschöpfender Literatur der letzten Dezennien.4 Diese Arbeit ist rein kompilatorisch, wie es dem Wesen eines Handbuches auch entspricht, aber sehr werthvoll für Jeden, der das Buch zum Nachschlagen verwenden will, wegen der Verläßlichkeit und Umsicht des Autors.

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[Das Handbuch der Architektur, ein umfangreiches Kompendium zur Architektur und Baukunst in vier Teilen (37 Bände), wurde ab 1883 von den Architekten Josef Durm (1837– 1919), Hermann Ende (1829–1907) und Heinrich Wagner (1834–1897) herausgegeben. An den Teilbänden war eine Reihe prominenter Autoren beteiligt, etwa August von Essenwein (1831–1892), Manfred Semper (1838–1913), Josef Stübben, Max Hasak (1856–1934) und Ludwig Hilberseimer (1885–1967).]

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[Essenwein, August von: Die Kriegsbaukunst (= Durm, Josef/Ende, Hermann/Wagner, Heinrich/Schmitt, Eduard (Hg.): Handbuch der Architektur, Teil 2, Bd. 4, Nr. 1). Darmstadt: Bergsträsser 1889; Stübben, Josef: Der Städtebau (= Durm, Josef/Ende, Hermann/Wagner, Heinrich/Schmitt, Eduard (Hg.): Handbuch der Architektur, Teil 4: Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude, Halb-Bd. 9). Darmstadt: Bergsträsser 1890.]

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Als gereifte Frucht eigenen Denkens und als bedeutender Beitrag zur Lösung der großen Gesammtfrage muß das Werk: „Der optische Maßstab für den Städtebau“ von Baurath Hermann Märtens, Bonn 18905, angeführt werden, während die zweifellos vorzüglichste praktische Lösung einer Stadtplanfrage in dem „Konkurrenzentwurf zu der nordwestlichen Stadterweiterung von Dessau“ von Karl Henrici,6 Architekt und Professor der technischen Hochschule zu Aachen, 1890, vorliegt als Brochure mit Lichtdruckbeilage des Planes. Dieser prächtige Plan zeigt unwiderleglich, daß allen Anforderungen des modernen Verkehres, der Hygiene etc. vollkommen entsprochen werden kann, ja viel besser als mit dem jüngst noch allgemein üblichen Blockrastrum und daß zugleich die Bedingungen der Kunst und der Ökonomie erfüllt werden können. Nur verstehen muß man es. Auch rein archäologische Arbeiten sind bereits dieses Frage gewidmet, von der bisher alle Handbücher der Kunstgeschichte in harmonischer Übereinstimmung geschwiegen haben. Um nur Einiges davon anzuführen, sei da genannt die treffliche Arbeit von Gustav Hirschfeld: „Die Entwicklung des Stadtbildes“ (im Alterthum) in der „Zeitschr. d. Gesell. f. Erdk.“ zu Berlin 1890 und die Arbeit über Hippodamus von Milet und der symmetrischen Städtebaukunst der Griechen in: Philologus XLII, 2.7 Hiezu noch die neuesten Beschlüsse von Architektenvereinen, die bereits zahlreichen Aufträge von Stadtgemeinden direkt an bewährte Architekten und das Hervortreten der Konkurrenz zur Erlangung von Stadtplänen gerechnet, sieht man deutlich, daß wir an einem Wendepunkt in der Methodik des Städtebauens angelangt sind. 5

[Märtens, Hermann Eduard: Optisches Maß für den Städtebau. Bonn: Cohen 1890. Hermann Eduard Märtens (1823–1898) war nach seinem Studium an der Berliner Bauakademie als Baubeamter in unterschiedlichen preußischen Städten tätig, u.a. in Köln und Aachen. In seinem umfangreichen literarischen Werk setzte er sich mit der Anwendbarkeit der physiologischen Studien Hermann von Helmholtz’ (1821–1894) auf Architektur und Bildkünste auseinander. Bereits seine 1877 erschienene Untersuchung Der optische Maßstab oder die Theorie und Praxis des ästhetischen Sehens in den bildenden Künsten (Bonn: Cohen 1877) präsentierte Typen von Idealplätzen. 1890 veröffentlichte er das oben genannte Buch, in dem er sich explizit auf Sittes ein Jahr zuvor erschienenes Werk bezog und – dieses ergänzend – die Raumwirkung von Plätzen physiologisch untersuchte.]

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[Henrici, Karl: Konkurrenz-Entwurf zu der nordwestlichen Stadterweiterung von Dessau.

7

[Hirschfeld, Gustav: Die Entwickelung des Stadtbildes (= Zeitschrift der Gesellschaft für

Ein Beitrag zur Lösung des Städtebauproblemes. Aachen: Mayer 1890.] Erdkunde zu Berlin, Bd. 25). Berlin: o. V. 1890; Erdmann, M.: „Hippodamos von Milet und die symmetrische Städtebaukunst der Griechen“, in: Philologus, Jg. 42 (1884), S. 193–227.] Die Kunst des Städtebauens (1891)

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Das frische Leben, welches sich da allenthalben regt und nach Bethätigung ringt, sei uns aber ein gutes Vorzeichen einer glücklichen Lösung unserer eigenen neuen großen Stadtbaufrage, vor der wir seit jüngster Zeit stehen.

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Die neue Stadterweiterung (1891) Neues Wiener Tagblatt, 27. September 1891. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 221– 438/2.

Die zunächst vor uns stehende Aufgabe in Betreff der großen Neugestaltung Wiens ist zweifellos die Herstellung eines Generalregulirungsplanes.1 Gerade diese Aufgabe kann man sich aber nicht schwer genug vorstellen, nicht ernst genug nehmen. Die ganze zukünftige Entwicklung wird durch die zarten, unscheinbaren Linien dieses Planes vorherbestimmt. Welche ungeheure Verantwortung liegt da auf den Schultern derjenigen, welche berufen sind, an einem solchen Werke theilzunehmen. Das Pulsiren des öffentlichen Lebens, aber auch die Behaglichkeit am häuslichen Herde; Gesundheit und Wohlfahrt der Bevölkerung, aber nicht minder die Freude an der Schönheit und Zweckmäßigkeit der Vaterstadt, diese Wurzel schönen patriotischen Stolzes und gesunden Heimatsgefühles, alle diese wichtigen Dinge stehen in festem Zusammenhange mit dieser ersten Gesammtanordnung des Aufbaues. Die Anforderungen, welche man gegenwärtig an einen solchen Plan stellt, sind ungleich höher als noch vor nicht ganz fünfzig Jahren, als man noch meinte, Alles gethan zu haben, wenn einige Normalstraßenbreiten und Häuserhöhen vorschriftsmäßig festgesetzt und alle Straßen kreuz und quer schön gerade 1

[Der 1892–1894 durchgeführte Wettbewerb zum Generalregulierungsplan für Wien ist die vermutlich aufwändigste Städtebaukonkurrenz, die in der österreichischen Hauptstadt durchgeführt wurde – in Umfang und Anspruch sicherlich vergleichbar mit dem 1910 in der deutschen Hauptstadt abgehaltenen Wettbewerb „Groß-Berlin“. Ziel war es, eine die rasante demographische und wirtschaftliche Entwicklung Wiens berücksichtigende stadtplanerische Generalkonzeption zu finden, die den unterschiedlichen Aspekten – Verkehr, Bauweise, Versorgungseinrichtungen, Kanalisierung, Grünflächen – Rechnung tragen sollte. Infolge der Eingemeindung der Vororte in den Jahren 1890/1892 wurde vom Wiener Gemeinderat im Mai 1892 das Wettbewerbsprogramm beschlossen; die öffentliche Ausschreibung erfolgte am 3. November 1892. Im Februar 1894 wurden die Projekte des Wiener Architekten Otto Wagner (1841–1918; „Artis sola Domina necessitas“) und des Kölner Stadtbaumeisters Josef Stübben („Die Wienerstadt“) mit jeweils einem ersten Preis ausgezeichnet; die Arbeit Eugen Fassbenders (1854–1923) erhielt einen zweiten Preis. Keiner der Entwürfe wurde letztlich zur Gänze umgesetzt. Stattdessen etablierte die Stadt Wien 1894 das kommunale „Regulierungsbüro“, das – unter Berücksichtigung der im Wettbewerb erhaltenen Anregungen – einen Generalstadtplan und einen Generalbaulinienplan erstellte. Dem Regulierungsbüro gehörten u.a. Stadtbaudirektor Franz Berger (1841–1919), Bauadjunkt Heinrich Goldemund (1863–1947) sowie der Architekt Karl Mayreder (1856–1935) an.] Die neue Stadterweiterung (1891)

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und schön senkrecht aufeinander gezogen wurden. Recht bequem wäre dieses Verfahren auch heute noch, denn etliche Gemeinderathsbeschlüsse über Hausblockgröße und ähnliche gewaltig wichtige Punkte dazu fertiggestellt, könnte man dann einen solchen sogenannten Stadtplan in Gemüthsruhe vom Amtsdiener herunterrastriren lassen. So bequem, wie man es sich noch bis vor Kurzem bei uns und überall machte, geht dies aber nicht mehr, denn die gesammte Öffentlichkeit verwirft bereits dieses Häuserkastensystem, das in seiner Verkörperung langweilig bis zum Überdruß nur Wind und Staub und Verkehrsstörungen bietet, während es zugleich die Aufstellung von Monumenten und die wirkungsvolle Gruppirung von Gebäuden geradezu unmöglich macht. Alle Welt stellt heute überzeugungsvoll die Forderung, daß es in einer neuen Stadt nicht nur g e s u n d und z w e c k m ä ß i g , sondern auch b e h a g l i c h und a n g e n e h m wohnen sein soll; daß sich der Plan den gegebenen natürlichen Bedingungen anschmiegt, daß Abwechslung in den Stadtbildern entstehe, welche charakteristisch wirken und die Orientirung erleichtern soll; daß vorhandene Fernsichten und sonstige Schönheiten zur Geltung gebracht werden und überhaupt die ganze Flächen- und Raumgliederung auch nach künstlerischen Grundsätzen erfolgt; daß Silhouetten, Verschneidungen und Perspektiven berücksichtigt werden, ein stetiges Fahren und behagliches Spazierengehen ermöglicht wird, was Alles wieder ein förmlich ziffermäßig statistisches Studium der Verkehrsrichtungen und der Lebensbedingungen der Bevölkerung voraussetzt, sowie ein genaues Eingehen auf das von der Natur aus Gegebene, auf Wind, Himmelsrichtung und endlich sogar auf dasjenige, was unter der Erde steckt: Baugrund, Grundwasser, alte Festungsfundamente oder Gräben etc.; daß nicht, wie bei unserer ersten Stadterweiterung, Millionen in den Untiefen eines Stadtgrabens zu Fundirungszwecken spurlos verschwinden, während gleich gegenüber eine Riesenfläche besten Baugrundes für Grassamen und Gebüsche ausgewählt werde; kurz, der Stadtplan darf der vorhandenen Natur nicht gewaltsam aufgenöthigt werden nach irgend einer willkürlich vorgefaßten Meinung, sondern er muß aus der Natur selbst heraus entwickelt werden, genau so, als ob eine Jahrhunderte lange allmälige Entwicklung das wie von selbst zu Stande gebracht hätte. Was bei den alten Städten in Wirklichkeit naturgemäß gewachsen ist, das muß heute auf dem Papiere eben so wachsen, und das ist die ganze ungeheuere Bedeutung eines modernen Regulirungsplanes. Ihn naturgemäß auf dem Papiere wachsen zu lassen, wie ein Werk der geschichtlichen Entwicklung, das ist beinahe mehr noch, als höchste Kunst, und doch ist das diejenige Forderung, die mit aller Schärfe gestellt werden muß, wenn dereinst das Werk den Meister loben soll.

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Schon der erste Schritt, mit dem man an diese Aufgabe herantritt, ist entscheidend. Es frägt sich kurz und bündig: Will man die neue Stadt erstehen lassen als K u n s t w e r k oder nur als M e n s c h e n m a g a z i n ? Falls man das Erstere nicht mit vollem Bewußtsein der ganzen Tragweite dieses Wortes, nicht mit eisernem Ernste will, so ist jede Mühe vergebens, schade um jedes Wort, das Künstler, Kunstfreunde, Kritiker, Patrioten vergeuden, die Sache wird ewig ein Flickwerk, eine nüchterne Stümperei bleiben. Falls man aber wirklich den großen Willen zu fassen vermöchte, daß die neue Stadt, wie ein Naturprodukt als wahres Kunstwerk erstehen soll, dann frägt es sich zunächst noch um mehr als um den Generalregulirungsplan, dann frägt es sich vorher noch, w i e ein solcher Plan in Angriff zu nehmen sei und w e r ihn machen kann. Die Antwort scheint leicht. Einen Plan, der ein Kunstwerk sein soll, kann nur ein Künstler machen. Richtig! Aber das hier zu Leistende ist so übermenschlich groß, daß die Aufgabe von einem Einzelnen gar nicht bewältigt werden kann. Auch dafür scheint der Ausweg schon gefunden, denn man spricht schon allenthalben von Kommissionen und amtlichen Vorarbeiten geradeso wie von großartigen Konkurrenzausschreibungen zum Behufe der Ermittlung der richtigen Künstler. Beide Faktoren glücklich gefunden und richtig vereint, müßten auch in der That diejenigen Kräfte darstellen, welche die ungeheure Aufgabe bewältigen könnten. Das Wesentlichste dabei ist nur gleich von vorneherein die richtige Abgrenzung der Befugnisse, die naturgemäße Arbeitstheilung zwischen dem Künstler einerseits und dem Bureau anderseits. Man muß sich vorerst klar werden darüber, was nur der Künstler allein leisten kann und das Bureau nicht und umgekehrt, und darauf allein müssen alle Anordnungen gestellt sein, ohne die geringste Rücksicht auf persönliche oder sonstige Wünsche. Der einzelne Künstler kann unmöglich alle die umfassenden Vorerhebungen pflegen, welche ihm als Materiale zu seiner Arbeit vorliegen müssen. Diese Materialien können nur bureaumäßig als systematische Arbeit Vieler herbeigeschafft werden. Es ist geradezu besorgniserregend, daß hierüber bisher noch so wenig gesprochen wurde. Die Bearbeitung und Herausgabe eines G e s a m m t - S t a d t p l a n e s im Verhältniß 1 : 2880 ist beinahe das einzige Lebenszeichen von derlei Maßnahmen. In demselben Maßstab sollte aber auch ein B a u g r u n d p l a n hergestellt werden, welcher nach Art der geologischen Karten Alles enthält, was für die Wahl der Plätze zu Gebäuden oder Gärten etc. von Wichtigkeit ist. Damit ist aber noch lange nicht Alles erschöpft, was zur Verfassung eines naturwüchsigen Regulirungsplanes an Material vorliegen muß. Eine Karte der Luftströmungen; Bevölkerungs-Statistik, auch nach Berufszweigen geordnet, Die neue Stadterweiterung (1891)

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alles nach einzelnen Bezirken und womöglich in Kurvendarstellungen, deren Richtung sich dann hypothetisch etwas in die Zukunft hinein verfolgen ließe, sind ebenfalls unerläßliche Behelfe. Von geradezu erlösender Bedeutung würde es sein, wenn auch bei uns, wie es schon anderwärts versucht worden ist, die F r e q u e n z s ä m m t l i c h e r S t r a ß e n i n B e z u g a u f W a g e n u n d F u ß g ä n g e r z u v e r s c h i e d e n e n T a g e s z e i t e n und auch nach ihren Summen innerhalb vierundzwanzig Stunden faktisch gezählt würde. Dies müßte zweifellos erstaunliche Resultate geben. Man würde da sicher rechnungsmäßig nachweisen können, warum so viele neueste breiteste Straßenzüge allerorts ganz menschenleer sind, und daß unser gebräuchlich gewordenes System, das Stadtganze bis zu lauter ziemlich gleich großen Baublöcken zu zerklüften, gar keinen Sinn hat. Welche große aber lohnende Aufgabe wäre es, auch nur a n e i n e m T a g sämmtliche Passanten aller Straßen einer großen Stadt z u z ä h l e n ! Im Grunde wäre es nichts anderes, als was in einem ähnlichen Falle der Wassertechniker für unerläßlich hält, wenn er die ein Flußbett passirende Wassermenge mißt. Solche und noch andere Vorarbeiten sind allein die Aufgabe des Bureaus. Sind diese Materialien endlich bis zu einem gewissen Grade beisammen, dann ändert sich die Situation. Es handelt sich dann um die Gruppirung des Ganzen, um die geistige Durchdringung. Das Chaos soll Form nehmen, soll zum Kunstwerk sich gestalten. An dieser Stelle sind wieder die Fähigkeiten des Bureaus zu Ende und d i e s e A u f g a b e k a n n n u r d e r K ü n s t l e r leisten. Wenn das Bureau sich wieder theilt, indem es seinen Mitgliedern gestattet, die Konkurrenz mitzumachen, so kann jeder einzelne die Aufgabe lösen, jeder anders, jeder vortrefflich. Aber alle zusammen im Rahmen des Kommissionsverbandes mit seinen Paragraphen und Abstimmungen und Instanzenzügen und Vorbehalten etc. werden nichts leisten können, weil sie sich gegenseitig behindern statt fördern, weil es unmöglich ist, so die Ideen in Fluß zu bringen und die Phantasie walten zu lassen. Eine Kommission kann kein Kunstwerk schaffen, nicht einmal ein Blumenbouquet könnte sie stecken, denn wenn durch die eine Abstimmung die gelbe Rose bereits für die linke Seite bestimmt wäre, könnte sie nicht leicht mehr jeden Augenblick wieder gustirend nach rechts oder in die Mitte gebracht werden bis endlich alles am rechten Fleck sitzt. Die Lösung der Stadtplanfrage gleicht auf’s Haar dieser Blumensteckung zu einem Bouquet. Die einzelnen Plätze, Straßen, Gärten, Markthallen, Schulen, Kirchen, Amtshäuser etc. müssen so lange hin und her geschoben werden, bis jedes in allerbester Form am allerbesten Fleck sitzt, und wenn dies nicht überall in ideal tadelloser Weise

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möglich ist, wenigstens zwischen zwei Übeln stets das kleinere als gewählt erscheint. Ist dieses Stadtplanbouquet dann einmal gesteckt, dann kann es zur weiteren Ausführung und Überwachung getrost weiter in die Hände der Bauämter übergehen. Es ist höchst erfreulich, daß in diesem Sinne schon beachtenswerthe Stimmen sich vernehmen ließen. Die Zuschrift der Wiener Künstlergenossenschaft an den Bürgermeister athmete diesen Geist; ebenso der Antrag Silberer im Gemeinderathe, betreffend eine allgemeine Konkurrenzausschreibung für Verfassung eines Generalregulirungsplanes; die Detailanträge der Gemeinderäthe Schuh und Genossen und vieles Andere. Zu wünschen wäre nur, daß dies Alles auch auf fruchtbaren Boden fiele, und daß die vorher bezeichneten amtlichen Vorarbeiten auch wirklich in genügendem Umfange angeordnet werden. Die Fülle solchen Materiales allein schon würde den Konkurrenten die Größe und Schwierigkeit der Arbeit in einer Weise vor Augen führen, welche die höchsten Kraftanstrengungen herausfordern müßte. Anderseits aber würde der Mangel solcher Daten ernste Männer abhalten müssen, sich mit einer unreifen Frage zu befassen. Wenn man diese große Angelegenheit mit voller Hingebung nützen will, darf man aber nicht verschweigen, daß neben erfreulichen, die Sache vorwärts treibenden Kundgebungen auch genug Ledernes, Veraltetes nebenher läuft. Es wird gut sein, auch davon Einiges zu zitiren, um den rechten Kurs dadurch noch schärfer zu markiren. So kann man ab und zu immer wieder vernehmen, daß der Ausbildung der Verkehrsmittel alle anderen baulichen Anordnungen sich unterordnen müssen. Dies ist richtig, wenn man es nur auf die großen Verkehrsmittel: Bahnen, Flußläufe, Kanäle bezieht; aber nicht richtig, wenn man die Regeln verallgemeinert und versteinert. Die Details guter Stadtpläne sind vielmehr umgekehrt von den Gebäuden abhängig, welche zunächst richtig gestellt werden, dann einen gerade ihnen entsprechenden Vorplatz oder eine sonstige von ihnen der Form nach abgeleitete Umgebung bekommen müssen, von der dann in letzter Linie erst die Einmün­dung und somit auch Linienführung der Straßen abhängt. Wird dieser Vorgang umgekehrt und zuerst das ganze Straßengatter festgenagelt, so ist von vorne­ herein alles verdorben und eine mannigfaltige zweckmäßige Gruppirung der Gebäude hervorragender Art gar nicht mehr möglich. Sehr häufig wird die äußerste Dringlichkeit der Verfassung des Baulinienplanes betont, was ja auch seine Richtigkeit hat, aber merkwürdigerweise nur ein einziges Mal die sofortige Nothwendigkeit, die hiezu nöthigen V o r a r b e i t e n mit größter Energie anzugreifen, dieses einemal allerdings von kompetentester Seite, Die neue Stadterweiterung (1891)

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nämlich vom S t a t t h a l t e r selbst. Der geradezu majestätisch großen Aufgabe entsprechen vorläufig nur die mit sicherem Schritt aufeinanderfolgenden gesetzlichen Maßnahmen und die von den Hofämtern geleiteten Werke, der so staunenswerth rasch geführte prächtige Burgbau gegen den Michaelerplatz und die Förderung des großartigen Volksparkes bei Schönbrunn. Im Übrigen wird noch Vieles erst in den rechten Fluß zu kommen haben, wozu in erster Linie die Förderung der D o n a u s t a d t an der Reichsbrücke gehört. Freilich werden hier fort und fort Baublöcke parzellirt und Bauplätze veräußert, ja sogar durch Hypothekardarlehen und Tramway-Subventionen die Baulust künstlich zu fördern gesucht; aber entspricht denn das nur im Entferntesten der hier zu lösenden Aufgabe? Muß nicht hier nothwendigerweise dereinst eine Hauptstelle des Wiens der Zukunft liegen? Schon rückt in greifbare Nähe die Vollendung der Donauregulirung in ihrem ganzen unteren Laufe, die weitere Hebung der Schifffahrt durch den Donau-Oderkanal, die Bildung eines mächtigen Eisenbahnknotenpunktes an dieser Stelle und der engere Anschluß der Donaustadt an die Altstadt ist doch auch nur eine Frage der Zeit. Es muß die Ausdehnung Wiens sich endlich auch dieser Seite zuwenden, es muß sich hier ein reges Leben vornehmerer Art entwickeln gerade an dieser herrlichsten Stelle mit den schönen Fernsichten auf das Kahlengebirge und über den mächtigen Strom. Gewiß, es wird dieses Ufer dereinst eine weit höhere Bedeutung besitzen; wenn man aber von diesem Gesichtspunkte aus den jetzigen Baulinienplan betrachtet, so fällt es Einem schwer aufs Herz, gerade hier ein Blockrastrum aus der schlimmsten Periode des Städtebaues vor Augen zu haben. Nach diesem unglücklichen Plan zu Ende geführt, wird die Donaustadt unpraktisch, windig, staubig, langweilig bis zum Äußersten, das reine Ebenbild des zehnten Bezirkes, den doch gewiß Niemand wagen würde als ein Beispiel der Poesie des Städtebaues zu preisen. Und wie leicht könnte hier sofort Hilfe geschafft werden, sogar ohne jede Störung der bisherigen Bauspekulation. Alles Materiale zur raschen Verfassung eines neuen Verbauungsplanes liegt vor, denn die Situation ist hier ganz klar und einfach. B i n n e n w e n i g e n T a g e n k ö n n t e h i e f ü r e i n e K o n k u r r e n z a u s g e s c h r i e b e n w e r d e n und bei kürzestem Termine von wenigen Wochen könnte jeder Projektant mit einem vollständig durchdachten Plan fertig werden. Es würde sich nur um eine Kleinigkeit handeln: um den guten Willen zu dieser nothwendigen That, und diese That ist nothwendig, denn heute ist die Bedeutung dieser kostbaren Fläche von Baugründen eine ganz andere, als zur Zeit der Sanktionirung des ersten Verbauungsplanes, heute sind unsere Einsichten in das Wesen solcher Arbeiten

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weitaus tiefere, unsere Kenntnisse und Erfahrungen reichere, heute wäre es unverantwortlich, ja unmöglich, ein so gedankenloses Blockrastrum einen Stadtplan nennen zu wollen. Diese sofortige kleinere Konkurrenz wäre auch ein geeignetes Vorspiel für die große bevorstehende Konkurrenz und alle betheiligten Kreise würden gewiß dabei Ersprießliches lernen können. Durch solche Maßregeln größeren Styls müßte Leben in die Sache gebracht werden, nicht blos durch ein paar Hypothekaranlehen und sonstige kleine Verfügungen von Tag zu Tag. Es muß das Bewußtsein geweckt werden, d a ß e s s i c h hier um eine große Zukunft handelt, daß hier Wien mit d e m W e l t v e r k e h r e z u s a m m e n h ä n g t , und das herrliche Denkmal Tegetthoff’s2 soll uns an der Schwelle dieses Bezirkes ein Sinnbild dieses stolzen Bewußtseins darstellen. Nicht soll Vindobona vor dem großen Seehelden verschämt an der Schürze zupfend stehen bleiben, sondern froh und festen Muthes hinaussehen in die offene Bahn, denn hier liegt die Zukunft Wiens, und nicht auf der entgegengesetzten Seite im Krapfenwaldel oder auf der Knödelhütte.

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[Zum Denkmal für Wilhelm von Tegetthoff siehe Sitte, Camillo: „Über die Wahl eines Platzes für das Wiener Goethe-Denkmal (1889)“, S. 277, Anm. 1 in diesem Bd.] Die neue Stadterweiterung (1891)

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Das Radetzky-Denkmal (1891)1 Neues Wiener Tagblatt, 4. Oktober 1891. Sign. SN: 220–437.

Ende Juli 1849 war es, als der Bildhauer Professor H a l b i c h 2 aus München in Monza eintraf, um eine Büste Radetzky’s nach dem Leben zu modelliren. Im April desselben Jahres war der Sieg bei Novara erfochten, Radetzky stand bereits auf der Höhe seines Ruhmes, und König Ludwig I. von Bayern hatte Halbich eigens nach Italien entsendet, um eine Büste des siegreichen Heerführers für die Walhalla bei Regensburg zu erhalten. Halbich hatte seinen Lieblingsschüler als Gehilfen mitgenommen, und dieser nahm an allen Arbeiten theil, war bei jeder Sitzung zugegen und vertiefte sich gleich seinem Meister mit Begeisterung in die bedeutungsvolle Aufgabe. Die Urtheile Radetzky’s selbst und seiner Umgebung wurden gehört und in einem Zuge ein Werk vollendet, das sich allgemeine Anerkennung errang. Seither sind Dezennien verflossen. Aus dem damaligen Schüler ist selbst ein großer Meister geworden, und das Schicksal hat es so gefügt, daß gerade dieser ausersehen wurde, das Radetzky-Denkmal für Wien zu schaffen; der einstige Gehilfe Halbich’s ist unser Meister Z u m b u s c h .3 1

[Das von Caspar von Zumbusch geschaffene Denkmal für Josef Wenzel Radetzky von Radetz (1766–1858) stand ab 1892 vor dem alten Kriegsministerium Am Hof. 1912 wurde es an den Stubenring transloziert und vor dem Neubau des Ministeriums postiert. Zum Radetzky-Denkmal siehe auch Sitte, Camillo: “Über alte und neue Städteanlagen mit Bezug auf die Plätze und Monument-Aufstellung in Wien (1889)“, S. 253, Anm. 2 in diesem Bd.]

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[Der Bildhauer Johann von Halbig (1814–1882), in München am Polytechnikum und der Akademie der bildenden Künste ausgebildet, lehrte ab 1846 als Professor am Münchener Polytechnikum. Unter König Ludwig I. (König 1825–1848) wurde er vor allem zu dekorativen Arbeiten und als Porträtbildhauer, u.a. für die Walhalla, herangezogen. Zu den bekanntesten Werken Halbigs, der in seinen Skulpturen einer naturalistischen Auffassung huldigte, gehören das Löwengespann für das Münchener Siegestor (1847), die Skulptur des bayerischen Löwen an der Lindauer Hafeneinfahrt sowie das Denkmal des Erzherzogs Joseph von Österreich in Budapest (1869).]

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[Der Bildhauer Caspar von Zumbusch (1830–1915), Schüler Johann von Halbigs an der Modellierschule des Münchener Polytechnikums, war im Sommer 1849 als Gehilfe seines Lehrers in der Lombardei tätig. Nach einem Aufenthalt in Rom 1857/1858 und der Ausführung bedeutender Monumentalwerke in Bayern (u.a. Denkmal für König Maximilian II. in München, 1866–1872) wurde Zumbusch 1873 als Professor an die Wiener Akademie der bildenden Künste berufen. In Wien schuf Zumbusch mit dem Beethoven-Denkmal (1880), dem Maria-Theresien-Denkmal (1888), dem Radetzkydenkmal (1892) und dem Rei-

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Nur noch Wochen trennen uns von dem Tage, an welchem die Hülle von dem herrlichen Monumente fallen wird. Alle diejenigen, welche das nunmehr fast vollendete Werk in seiner Entstehung verfolgen konnten, erwarten schon jetzt ungeduldig die Stunde, in welcher jubelnd ganz Wien ausrufen wird: „Ja, das ist unser Radetzky!“ Denn genau so lebt er in der Vorstellung des Volkes, wie er hier dargestellt ist, lebenswahr und charakteristisch bis zum kleinsten Detail an Bewegung und Haltung. Aber der Freude über ein so volles Gelingen sei hier nicht vorgegriffen; sie wird ihren Ausdruck finden in den Tagen der Enthüllung. Vielmehr scheint es jetzt angezeigt, den Festplatz zu ordnen und alle Bedenken und Klagen endgiltig zur Seite zu räumen, welche allenthalben gegen die Platzwahl und Aufstellungsart noch immer bestehen, damit nicht etwa Erwägungen so fataler Art die Freude des Gelingens stören. Gleich zu Beginn dieser Erörterung sei es ausgesprochen, daß das Reiterbild selbst, mit seinen bewegten Linien, durchaus nicht so schief und unbegreiflich dastehen wird, wie das hohe geradlinige Bretterhaus, von dem es jetzt umschlossen ist; es wird vielmehr voll und ganz zur Wirkung gelangen auch in dieser sicher nicht tadellosen Aufstellung; aber die Entwicklungsgeschichte dieser denn doch sonderbaren Stellung muß einmal zusammengefaßt werden, denn diese ist für alle ähnlichen Fälle im höchsten Grade lehrreich. Sie ist zum großen Theil in weiteren Kreisen bekannt und soll daher nur kurz notirt werden, so weit sich daran drastisch die gewiß merkwürdige Erscheinung nachweisen läßt, daß durch eine Reihe an sich tadelloser Einzelbeschlüsse doch zuletzt etwas Unpassendes herauskommen kann. Zuerst wurde erkannt, daß unsere neuen sogenannten Plätze zu Monumentaufstellungen nichts taugen und daher ein alter Stadtplatz gewählt, was richtig war. Dann glaubte man, der damals allein herrschenden Regel folgend, daß nur die Platzmitte allein zur Aufstellung sich eigne. Diese Regel wurde aber theoretisch und historisch widerlegt, und seither ist es in Öster­ reich und Deutschland förmlich Mode geworden, Monumente, Brunnen, Kirchen etc. an den Platzrand zu stellen, wie es die alten Meister gethan haben. Auch für die Radetzky-Denkmalfrage wirkte dieser Umschwung der Anschauungen förmlich erlösend, und man entschloß sich, das Monument an den Rand des Platzes, und zwar zum Kriegsministerialgebäude hinzusetzen, was wieder richtig war. Freilich hätte da nun eine künstlerische Hand

terstandbild des Erzherzogs Albrecht (1899) vier Hauptwerke monumentaler Plastik. Als wichtigster Monumentalbildhauer der Wiener Ringstraßenzeit gefeiert, legte Zumbusch 1901 seine Lehrtätigkeit nieder; 1908 verließ er Wien.] Das Radetzky-Denkmal (1891)

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allein waltend alles Weitere besorgen sollen; statt dessen aber wurde weiter kommissionirt und geltend gemacht, daß die künstlerisch nothwendige, möglichste Naherückung an das Kriegsgebäude nicht zulässig wäre, weil die Norm über Straßenbreite nicht verletzt werden dürfe (so?) und unten ein Kanal sich befinde, in den man die Fundamente nicht stellen könne. Das sieht auch wieder ganz richtig aus und diese Umstände als wirklich zwingend vorausgesetzt, blieb naturgemäß nichts anderes übrig als das Monument weiter weg von der Gebäudefront gegen die Mitte des Platzes zu verschieben. Doch wehe! Da ergibt sich schon wieder ein neues Bedenken. Wenn das Monument mit seinen Langseiten, wie bisher angenommen war, senkrecht zur Gebäudefront bleiben sollte, würde dessen vordere linke Ecke in die von der Freiung her kommende Straße einschneiden. Hilf Himmel! Das geht nicht! Auch wieder wahr und richtig. Alle voraus erfolgten Beschlüsse als bindend angenommen, blieb nun allerdings nichts übrig, als das Monument an der einmal erreichten Stelle ein wenig zu drehen, damit es zur Straße stimme. Auch wieder wahr! – Aber ein Seufzer entringt sich der beklommenen Brust, und nur eine Hoffnung erhellt das Dunkel, nämlich die, daß solche deutliche Beispiele denn doch endlich der Anschauung Bahn brechen müssen, daß künstlerische Fragen nicht in Reihen von Einzelbeschlüssen aufgelöst, nicht durch Abstimmungen und Kommissionen beantwortet werden können. Der Künstler verläßt, wenn er merkt, daß er in eine Sackgasse gekommen, sofort den eingeschlagenen Weg und fängt wieder ganz von vorne an, und so durcheilt er im Fluge der Phantasie blitzartig Dutzende von Varianten, bis er die rechte Lösung gefunden hat. Sollte dieser Weg mit Abstimmungen und Protokollen gepflastert werden, so würden Berge von Konzeptpapier und hunderte von Jahren nicht reichen, eine nur mäßig verwickelte künstlerische Angelegenheit richtig zu entscheiden. Es muß also, um auf diesem Wege überhaupt zu einem Ende zu kommen, an dem Grundsatze festgehalten werden, daß einmal gefaßte Beschlüsse in Geltung bleiben. Das aber ist das Grab der Kunst, die nicht wie das praktische Leben, die Industrie und selbst die Wissenschaft auf Arbeitstheilung beruht, sondern auf einheitlicher Zusammenfassung, auf sinnlich empfundener Konzentration, also auf dem geraden Gegentheile. Im städtischen Bauamte, welches diese Angelegenheit leitete, scheint man auch das Schiefe dieser ganzen Situation empfunden zu haben, denn wie eine sanfte Entschuldigung klangen die Mittheilungen über die endgültige Platzschau vom August 1890, in welchen es ausdrücklich heißt: „Da der Gemeinderath bereits über den Platz verfügt und die Kommission an Ort

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und Stelle also eine Entscheidung nicht mehr zu treffen hatte, begnügten sich die anwesenden Gemeinderäthe mit einem bloßen Meinungsaustausche und hörten mit großem Interesse die Ausführungen Dumba’s4 an und die Erklärungen von Zumbusch.“ Ja, warum war denn dann diese Kommission berufen und der Monumentsockel in naturgroßem Holzmodell an Ort und Stelle aufgestellt, wenn es darüber nichts mehr zu beschließen gab? Auffallend war auch die Eile, mit der alles betrieben wurde. Kein Zweifel, man wollte Widerspruch vermeiden und die Sache endlich zum Abschluß bringen, was aber viel einfacher und einzig sicher zu erzielen gewesen wäre, wenn man vertrauensvoll dem Schöpfer des Monumentes auch die Aufstellung überlassen hätte. So aber sank die Aufstellung des Modells zu einer bloßen Komödie herab, bei welcher dem Künstler, dem Denkmalkomité-Präsidenten und einer Anzahl Gemeinderäthe nur die Stelle von Statisten zugedacht war. Um 12 Uhr herum wurde das Modell gestellt, ohne daß dieser Umstand weiteren Kreisen bekanntgegeben wurde, und vor 4 Uhr Nachmittags war schon wieder alles spurlos verschwunden. Wozu die Eile? Warum so wenig Ruhe? – Ja, richtig! Es wurde ja noch auf einen wichtigen, den wichtigsten Faktor vergessen – auf die Marktweiber und die Gemüsestände. Mit dem Standrecht aber in Konflikt zu gerathen, kann man Niemandem zumuthen; das ist wiederum richtig. Soll es gesagt werden, wie sich auch hier wieder der Künstler geholfen hätte? Er wäre ungenirt vor die Marktfrauen hingetreten und hätte gesagt: „Kinder! Heute handelt es sich um unseren Radetzky, da müßt ihr schon auf ein paar Tage mit euern Sachen wo anders hingehen, ihr thut’s dem Vater Radetzky zu Liebe!“ Das hätte zuverlässig eingeschlagen, freudig hätten sie ihren Kohl zusammengepackt und in fernsten Tagen noch hätten sie ihren Enkeln und Enkelskindern erzählt, wie sie auch einmal dem Vater Radetzky was zu Liebe gethan hätten. Alles geht, wenn man nur will, aber auf dem eingangs geschilderten Wege geht es in Kunstangelegenheiten nie und nimmermehr; auf diesem Wege muß nothwendiger Weise trotz aller Plackerei schließlich eine Kräh4

[Der griechisch-österreichische Industrielle und Politiker Nikolaus Dumba (1830–1900), Betreiber einer Baumwollgarn-Spinnerei im niederösterreichischen Tattendorf und zwischen 1870 und 1895 Mitglied des niederösterreichischen Landtags, war einer der bedeutendsten Kunstmäzene im Wien der Ringstraßenzeit mit exzellenten Kontakten zum Kaiserhaus. Als Mitglied einer Reihe von künstlerischen Vereinigungen betätigte er sich nicht nur als Sammler, sondern förderte zahlreiche Denkmalprojekte in Wien (u.a. die Standbilder für Beethoven, Makart, Mozart, Radetzky).] Das Radetzky-Denkmal (1891)

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winkliade5 herauskommen. Wir müssen uns endlich bis zu der Höhe d e r Anschauung durcharbeiten, i n K u n s t s a c h e n d e m K ü n s t l e r f r e i e H a n d z u l a s s e n . Wenn doch dieser und ähnliche Vorfälle eine gute Lehre für die Zukunft wären! Bis zu dieser Höhe der Anschauung scheint aber der Weg noch weit zu sein und selbst dem schon so viel herumgeschobenen Radetzky-Denkmal drohen noch immer neue Gefahren. Man sollte dies bei so einfachem Fall eigentlich für unmöglich halten, aber es ist so. Schon liegt ein detaillirter Beleuchtungsplan vor, gegen den freilich Zumbusch vom künstlerischen Standpunkte aus bereits protestirt hat, aber ob das nützen wird? Diese geradezu unästhetische entsetzliche Idee, wie sie nur am Reißbrett eines Geometers entstehen konnte, der dabei an den Effekt gar nicht gedacht hat, besteht darin: an allen vier Ecken des Denkmals je einen großen gußeisernen Gaskandelaber nach dem gewöhnlich üblichen Modell hinzusetzen. Geradezu schauderhaft! Zumbusch wünscht, daß wenigstens einige Tage nach der Enthüllung das Denkmal rein und ohne Entstellung bleiben möge, dann erst soll das Verhängniß seinen Lauf nehmen, wenn es schon unvermeidlich ist. Warum sollte es aber unvermeidlich sein? Sehen denn die zwei Allerheiligenlaternen beim Haydn-Denkmal nicht ohnehin schon lächerlich genug aus? Kann man denn nicht am Kriegsministerialgebäude und am Hause Nr. 4 noch mehrere Gasarme anbringen, welche Licht genug geben? Gewiß kann man das, und dann wäre nur noch Eines erwünscht, nämlich, daß diese merkwürdige Situirungsgeschichte in Erz gegraben und diese Schrift am Sockel noch irgendwo angebracht würde. Der Fremde würde dann, wenn er zuvor von dem gewaltigen Eindrucke des Monumentes auch an dieser Stelle hingerissen, endlich auch über dessen sonderbare Aufstellung nachdächte, hierüber Aufschluß finden und dann auch nach dieser Richtung befriedigt heimwärts ziehen.

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[Sittes Wortwahl „Krähwinkliade“ ist ein Rückgriff auf Johann N. Nestroys (1801–1862) Stück Freiheit in Krähwinkel, einer 1848 erschienenen „Posse mit Gesang“. Das Stück zeichnet ein satirisches Bild der kleinsinnigen Nutznießer und engstirnigen Opfer der Revolution von 1848.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Stadterweiterung und Fremdenverkehr (1891) Neues Wiener Tagblatt, 11. Oktober 1891. Im Nachlass befindet sich eine handschriftliche Abschrift mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 222–436.

Alle Wege führen nach Rom. Laßt den Wienern ihren Prater! – Warum nicht umgekehrt: Laßt den Römern ihr St. Peter und: alle Wege führen nach Wien. In dieser anscheinend lächerlichen Umkehrung liegt, wenn man will, eine ganze Philosophie des Fremdenverkehrs im Keime verborgen. Rom, die Ewige Stadt, von der man schon in der Schule so viel gehört hat, möchte wohl Jeder gerne einmal im Leben sehen. Wien zu besuchen, wäre auch nicht übel, aber wer die Wahl hat, geht doch schließlich lieber nach Rom, Paris, Venedig oder London als nach Wien, falls ihn nicht Geschäfte hieher führen oder falls er nicht schon alle noch stärkeren Anziehungspunkte hinter sich hat. So kämpfen auch die als Reiseziel konkurrirenden Orte unter sich um den Vorrang und alle Vereine zur Hebung des Fremdenverkehrs nützen nichts, wenn es nicht gelingt, den Ort selbst in seiner Begehrenswürdigkeit über andere zu erheben. Ausschlaggebend in dieser Beziehung ist nicht einmal so sehr der Preis an Mühe, Zeit und Kosten, der hiefür gezahlt werden muß, als vielmehr die Qualität und Menge des Gebotenen. Der Schaulustige Fremde – und deren Zahl überwiegt ja weitaus die Zahl der reisenden Spezialisten und Fachmänner – will stets Außergewöhnliches sehen, wovon man reden kann. Salzburg, Neapel und Konstantinopel sind da mächtige Anziehungspunkte, denn sie sind sprichwörtlich die drei schönstgelegenen Städte der Welt. Den Kölner Dom soll man auch gesehen haben, den er gilt als chef d‘oeuvre der Gothik. Die Sixtinische Madonna1 würde allein Tausende nach Dresden führen, auch wenn es sonst dort nichts zu sehen gäbe und selbst der Eiffelthurm übte eine gewaltige Anziehung aus, denn er ist das Höchste seiner Art. Das Zweitstärkste an Zugkraft bildet die Massenhaftigkeit und vortheilhafte Repräsentation des Gebotenen. Selbst Minderwerthiges geschickt zu einem großen Ganzen vereinigt, kann eine riesige Wirkung thun, wofür das schlagendste Beispiel unser Prater abgibt. Jedes einzelne Gast- oder Kaffeehaus, Ringelspiel oder Sonstiges ist für sich allein gewiß nicht welterschütternd; aber die äußerst gelungene Vereinigung der ganzen ungeheuren 1

[Raffaels (1483–1520) berühmte, 1512–1513 geschaffene „Sixtinische Madonna“, ein von Papst Julius II. (Pontifikat 1503–1513) gestiftetes Ölgemälde für den Hochaltar der Piacentiner Klosterkirche San Sisto, wurde 1754 von Friedrich August II. (sächsischer Kurfürst 1733– 1763) erworben und in die 1722 gegründete Gemäldegalerie nach Dresden gebracht.] Stadterweiterung und Fremdenverkehr (1891)

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Menge in der herrlichen weitgedehnten Au mit ihren Jahrhunderte alten Bäumen gibt ein Gesammtbild, das in seiner Art unübertroffen dasteht. [Gestrichen: In Wien den Prater nicht gesehen zu haben, wäre weit schlimmer, als in Rom den Papst nicht gesehen zu haben.] Auf solche Dinge also kommt es an, wenn eine Stadt Zugkraft für den Fremdenverkehr erhalten soll. Das glänzendste Muster dieser Art bietet Paris und es ist ja bekannt, daß dort dieser Erfolg zielbewußt schon seit Jahrhunderten angestrebt wurde; nicht bloß durch vielfachen, architektonischen und plastischen Schmuck, sondern auch wesentlich durch passende Anordnung, damit alle diese Schätze auch wirkungsvoll zur Geltung kommen. Diese geschickte Anordnung ist aber das Werk des Stadtplanes. Auch vom Standpunkte der Hebung des Fremdenverkehres sind also große umfangreiche Stadtregulirungen zweifellos zu betrachten. Paris ist dabei sehr gut auf seine Kosten gekommen; in Wien aber war gerade dies seit jeher die schwache Seite seiner gesamten Bauentwicklung. Wohl gibt es auch bei uns Sehenswürdigkeiten in Hülle und Fülle, aber sie sind zerstreut, versteckt, schwer zugänglich, weit entfernt vom Zentrum des Verkehres, gedrückt durch eine ungünstige Umgebung oder noch wenig besprochen und sogar den Einheimischen unbekannt. Jeder gute Wiener, der schon einmal Verwandte oder Freunde aus dem Auslande beherbergte, wird davon ein trauriges Lied singen können. Zuerst möchte man aufjauchzen vor heller Freude, den lieben Gästen endlich einmal sein theures Wien, in welchem es sich so gut, so gemüthlich lebt, zeigen zu können, aber leider schon nach wenigen Tagen ist man tief betrübt, daß das Alles so wenig Effekt macht und fast möchte die Freundschaft darob kühler werden, wenn man sich nicht zur eigenen Ueberraschung gestehen müßte, daß es wirklich schwer hält, auch nur für fünf, sechs Tage ein Programm zu entwerfen, bei welchem der Fremde aus einem Staunen ins andere fällt und gestehen müßte, das woanders noch nicht gesehen zu haben. Dem Vergnügungsreisenden kann man ja nicht Spezialstudien zumuthen, nicht die technologische Sammlung des Polytechnikums zeigen oder das militär-geographische Institut, nicht die Wachspräparate des Josefinums oder einige Unika in Archiven und selbst der weltberühmte einzig dastehende Papyrus Raineri2 wird ihn kalt lassen, denn derlei eignet sich nicht zum Ansehen, sondern nur zum Studiren. Auch die Schätze der Albertina bieten reichlich

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[Die Wiener Papyrussammlung, auf eine Schenkung Erzherzog Rainers von Österreich (1827–1913) zurückgehend, wurde 1883 gegründet und ist mit 180.000 vornehmlich alt­ ägyptischen Objekten, darunter fast 138.000 Papyri, die größte Sammlung dieser Art.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Belehrung und Genuß nur Demjenigen, der ihrem Studium mindestens fünf bis sechs Wochen widmen kann; dem rasch Dahineilenden bieten sie aber rein nichts. Soll die Schaulust befriedigt werden, so müssen die vorhandenen Schätze, wenn schon nicht pompös, so doch ü b e r s i c h t l i c h , f a ß l i c h a u s g e s t e l l t sein, wie die technologische Sammlung in Paris oder die Handzeichnungen und Stiche in den Uffizien. In Wien wird der Fremde gerne noch einen Tag zugeben, damit ihm die Liechtenstein-Galerie nicht entgeht; die vielen kleineren Sammlungen, Akademie, Czernin, Schönborn etc. wird er aber übergehen, wenn er sich hiezu eigens Zeit nehmen müßte.3 In Kopenhagen darf man das Thorvaldsen-Museum nicht übergehen, in Wien braucht man von R. Donner nur den Brunnen am Neuen Markt4 zu besuchen, denn ein R a p h a e l D o n n e r - M u s e u m besitzen wir eben n i c h t , obwohl dieser vielleicht bedeutendste Plastiker seit Michel Angelo entschieden größer als Thorvaldsen ist. In München besucht man sogar das Schwanthaler-Museum denn man könnte daheim danach gefragt werden; in Wien braucht man aber den Werken des hoch über ihm stehenden ­F i s c h e r 5 nicht erst

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[Bis auf die Sammlung der Akademie der bildenden Künste, die sich teils aus Aufnahmearbeiten der 1692 gegründeten Lehrstätte, teils aus einem Vermächtnis des Grafen Anton Franz de Paula Lamberg-Sprinzenstein (1740–1822) zusammensetzt, gehen die von Sitte angeführten Galerien auf adelige Kunstsammlungen des 17. bis 19. Jahrhunderts zurück. Als älteste und größte Wiener Sammlung wurde die seit Mitte des 17. Jahrhunderts angelegte Galerie der Fürsten Liechtenstein ab 1807 im Gartenpalais im Alsergrund gezeigt. Die von Friedrich Karl Graf von Schönborn (1674–1746) in seiner Zeit als Reichsvizekanzler in Wien (1705–1731) zusammengetragene Sammlung befand sich ab 1746 im angekauften Stadtpalais Batthyány-Schönborn in der Renngasse 4. Als jüngste der genannten Kollektionen wurde die etwa 300 Objekte umfassende Czerninsche Kupferstich- und Gemäldesammlung ab etwa 1800 von Johann Rudolf Graf Czernin (1757–1845) zusammengetragen.]

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[In der Mitte des vom Wiener Barockbildhauer Georg Raphael Donner (1693–1741) 1737– 1739 für den Neuen Markt geschaffenen „Donnerbrunnens“ – einem rechteckigen Steinbassin mit halbkreisförmig anschließenden Schmalseiten – befindet sich die auf einem erhöhten Baluster sitzende Bronzefigur der „Providentia“. Die vier Liegefiguren auf dem Bassinrand – sie symbolisieren die Flüsse Enns, March, Traun und Ibbs – wurden 1873 durch Bronzeabgüsse ersetzt.]

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[Der im Allgäu geborene Bildhauer und Anatom Johann Martin Fischer (1740–1820), in den 1760er Jahren Mitarbeiter des Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt (1736–1783), wirkte an der Akademie der bildenden Künste seit 1786 als Professor für Anatomie, seit 1807 als Professor für Bildhauerei und von 1816 bis zu seinem Tod als Direktor. 1798 schuf Fischer die Bronzefigur des „Moses“, die auf einem zuvor auf den Franziskanerplatz transferierten Brunnen ihre Aufstellung fand. Der von Sitte angesprochene „Wachsamkeitsbrunnen“ (1799) wurde 1934 von der Straßenecke Alserstrasse/Skodagasse auf den SchleStadterweiterung und Fremdenverkehr (1891)

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nachzugehen, denn danach fragt Niemand, da man sie ja in Wien kaum kennt. Wer weiß es denn, daß die geradezu erhabene Mosesfigur am Brunnen des Franziskanerplatzes sein Werk ist und ebenso der Brunnen am Graben. Der Brunnen in der Alserstraße, dessen klassische Figur ebenfalls aus Fischer’s Hand hervorging, war sogar eine Zeit lang durch eine riesige Anschlagesäule verstellt, bis diese zufolge künstlerischer Einsprache dann doch wieder entfernt wurde. Soll man aber den Fremden wegen dieser einzigen Figur eigens eine halbe Stunde weit hinausfahren? Wäre es zu verwundern, wenn er da ernüchtert fragte, was es denn da in dieser Gegend sonst noch Merkwürdiges zu sehen gäbe? Oder soll man ihn von da wieder beinahe eine Stunde weit zum Schaller-Brunnen nach Margarethen hinausführen oder zu dem ins Winkel gestellten Gänsemädchen an der Rahlstiege, vor dem achtlos Alles vorbeiströmt, ohne das arme Ding da zu beachten, während das Gänsemännle in Nürnberg eine angesehene, weltberühmte Person ist.6 Ganz begreiflich, denn abgesehen davon, daß es über dieses allerdings meisterhafte, humorvolle, aber doch kleine Genrefigürchen schon eine ganze Literatur gibt, ist es doch eine wahre Wonne, in diesem Stückchen Nürnberg um die Marienkirche herum ein paar Stunden behaglich zu verbummeln und auf Schritt und Tritt allerlei kleinen und größeren Meisterwerken zu begegnen, und dabei kommt eben das kleine Figürchen auch gar trefflich zu seiner Wirkung. Könnte man die Gebäude und Monumente einer Stadt so nach Belieben herumschieben, wie die Möbel und Bilder einer Wohnung, hei!, welche Lust! da würde es sich zeigen, daß wir mit unserem Inventar an Kunstsachen, zum Beispiel um M a r i a a m G e s t a d e herum gar bald einen prächtigen größeren geschlossenen Platz und daneben ein paar kleinere Plätze zur Ergänzung und Abwechslung beisammen hätten, voll Brunnen, Monumenten und allerlei reizendem Kunstkram an den geschlossenen Wänden pompöser Palastfaçaden, daß auch hier Jedermann gerne verweilen möchte, und kein Fremder den Aufbruch rüstete, bevor er das nicht auch noch gesehen. Das Alles mühsam in allen Ecken und Winkeln der Stadt sich selbst zusammenzuholen, das kann man von ihm billigerweise freilich nicht verlangen. singerplatz im 8. Wiener Gemeindebezirk versetzt. 1804 entstanden die Bleifiguren des „Heiligen Josef“ und des „Heiligen Leopold“ für die Brunnen am Graben.] 6

[Zum „Gänsemädchenbrunnen“ siehe Sitte, Camillo: „Über alte und neue Städteanlagen mit Bezug auf die Plätze und Monument-Aufstellung in Wien (1889)“, S. 253, Anm. 2 in diesem Bd. Der „Gänsemannbrunnen“ in Nürnberg wurde 1550 vom Nürnberger Erzgießer Pankraz Labenwolf (1492–1563) geschaffen und befand sich ursprünglich – vor seiner Transferierung auf den Rathausplatz – auf dem Obstmarkt.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

So zeigt sich deutlich, wie die Wirkung der Kunstschätze einer Stadt nicht blos von der Zahl und dem Werthe der Gegenstände allein abhängt, sondern auch von deren Situirung, also vom Stadtplan. Noch ein Beispiel: Wie viele Fremde sind bisher schon nach Wien gekommen, um hier die Werke großer Freskomalerei zu studiren? Diese Frage mag geradezu sonderbar klingen, denn gewiß haben selbst viele Wiener noch keine Ahnung von dem Reichthum und dem Werth unseres Fresko-Inventars. Nur ein verschwindend kleiner Theil der Bevölkerung kennt die unübertroffen kühn ausgeführten riesigen Kuppelfresken von M a u l b e r t s c h 7 in der Josefstädter Piaristenkirche. Diese Fresken und auch der meisterhafte Rotundenbau der Kirche selbst sind in ihrer Art so großartig, daß sie sogar in Florenz oder Rom die Wirkung nicht versagen würden. Freilich, in die Fremdenbücher von Bädeker etc. hat sich noch keine Silbe darüber verirrt, geschweige denn gar ein Sternchen. Bekannter, aber ebenfalls noch nicht genügend gewürdigt, sind die Fresken von Pozzo8, dem größten Meister seiner Zeit, in der Universitätskirche u.s.w.; die Rottmayer9 Fresken von St. Peter und so vieles Andere. Auch

7

[Der Maler Franz Anton Maulbertsch (1724–1796) kam 1739 aus seiner schwäbischen Geburtsstadt Langenargen nach Wien, wo er an der Akademie der bildenden Künste studierte. Sein Wiener Hauptwerk ist die Ausgestaltung der 1751–1753 durch den Architekten Matthias Franziskus Gerl umgebauten Piaristenkirche Maria Treu, bei der er u.a. die Decke der Hauptkuppel („Marienkrönung“, „Kreuzaufrichtung“ u.a.), das Chorgewölbe („Verklärung Mariae“) und die Querarmkuppeln („Guter Hirte“, „Jakob und Rahel“) freskierte.]

8

[Der Maler, Architekt und Kunsttheoretiker Andrea Pozzo (1642–1709) wurde nach Ausführung der illusionistischen Deckenmalereien in der römischen Kirche Sant’ Ignazio (1691–94) 1702 durch Kaiser Leopold I. nach Wien berufen. Hier leitete er zwischen 1703 und 1709 die Umgestaltung der Jesuitenkirche (Innenbau, Turmhelme) und schuf deren Deckenfresken. Pozzos originellste Bildschöpfung ist die im zentralen Gewölbefeld des Langhauses aufgemalte Scheinkuppel, die – in Anwendung der in seinem Traktat aufgestellten Perspektivkonstruktionen – von einem bestimmten Standpunkt betrachtet als gebaute Tambourkuppel erscheint.]

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[1696 kam der im oberbayerischen Laufen geborene Maler Johann Michael Rottmayr (1654–1730) nach Aufenthalten in Venedig und Salzburg nach Wien. Zunächst schuf Rottmayr vornehmlich Altarbilder (Paulanerkirche, Stephansdom, Hietzinger Kirche). Später wurde er vor allem durch seine großflächigen Deckenmalereien bekannt, die er für das alte Wiener Rathaus (1712), für die Kuppel der Karlskirche (1725–1730) oder das Schloss Schönbrunn anfertigte. Das Kuppelfresko „Mariä Himmelfahrt“ in der nach Plänen ­Gabriele Montanis von Johann Lucas von Hildebrandt 1703–1708 errichteten Peterskirche wurde 1713–1717 ausgeführt.] Stadterweiterung und Fremdenverkehr (1891)

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in neuester Zeit war Wien eine hohe Schule der Wiederbelebung der Freskotechnik. Es sei da nur an die im größten Style von Meister Führich geleitete Konzeption und Ausführung des Freskozyklus der Altlerchenfelder Kirche10 erinnert, an die Meisterwerke von Schwind und Anderen. Aber über alledem schwebt ein Unstern. Es lastet wie ein Fluch auf den Kunstleistungen Wiens, daß sie nimmer und nirgends zur Geltung kommen. Warum ist die Geschichte dieser Werke und ihrer Meister noch nicht geschrieben? Warum besitzen wir noch kein Freskowerk Wiens in mustergiltigen Lichtdrucken? Zu alledem kommt noch das allgemeine Uebel der schlechten Zugänglichkeit, der Verzettelung in entlegene Stadtwinkel und der Mangel einer entsprechenden Umgebung. O! wenn sich das Alles zusammen fassen ließe, das gäbe schon ein Stadtbild, das jeden Vergleich aushielte, das man gesehen haben müßte. Man denke sich, daß alle diese Werke und die prachtvollen Palastbauten, wie der von Fischer von Erlach in der Wipplingerstraße, wo ihn niemand aufsucht, oder der herrliche alte Eugen-Palast in der Himmelpfortgasse, wo er nicht zur Wirkung kommt, das feine Deutsch-Renaissanceportal der Salvatorkapelle, der schönste und originellste aller Barockthürme von der Stiftskasernkirche des alten Barock-Architekten Henrici, das Abendmahlmosaik der Minoritenkirche, das Christinen-Monument von Canova, das prunkvolle Gebäude der Akademie der Wissenschaften mit seinen GuglielmiFresken in der Aula und noch so vieles Andere um einen einzigen gut komponirten forumartigen Platz vereinigt wären – welche Fülle! welche Pracht! Ja, das müßte man schon auch gesehen haben und kein Fremder würde vorher Wien verlassen können. Derlei liegt nur einzig nun allein am Stadtplan, der aber bei uns zu jeder Zeit unkünstlerisch, gedankenlos, nüchtern, philisterhaft gemacht wurde, ohne Spur großer Ideen, ohne Spur starken Wollens, ohne Spur von Begeisterung, ohne Spur jenes wahren edlen Patriotismus, der aus Liebe zur Heimat stets das Höchste anstrebt. Müssen wir uns nicht geradezu schämen, einen Fremden vor die an sich trefflich gelungenen Monumente von Anastasius Grün und Lenau hinzuführen, welchen den ganzen 10 [Die im 7. Wiener Gemeindebezirk gelegene Altlerchenfelder Kirche wurde 1848 durch den Architekten Paul Sprenger (1798–1854) begonnen, durch Johann Georg Müller weiter geführt und nach dessen Tod von Camillo Sittes Vater Franz (1808–1879) unter der Leitung Eduard van der Nülls 1861 vollendet. Nach dem Gesamtentwurf des Malers Joseph von Führich (1800–1876), seit 1834 zweiter Kustos der Wiener Akademiegalerie und 1840–1851 Professor für historische Komposition an der Akademie der bildenden Künste, entstand 1854–1861 ein von der „Schöpfung“ bis zum „Jüngsten Gericht“ reichender Freskenzyklus, der das bedeutendste Werk der Nazarener in Wien darstellt.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Tag über die Sonne nur aufs Hinterhaupt scheint? Ist in diesem neuesten Stücklein nicht wieder nur ausschließlich der Stadtplan Schuld und die echt geometrische Idee, daß auf dem Schillerplatz alles nach der Hauptverkehrsader, der Ringstraße, sich richten müsse? Aus ähnlichen Gründen steht auch das Beethoven-Monument verkehrt, mit dem Rücken gegen das Sonnenlicht und derlei ließe sich noch Vieles anführen. Eine schier wunderbare Ausnahme von all’ dieser Unzulänglichkeit machen nur die Hofburgbauten. Wenn diese dereinst vollendet sind, werden sie ein Ensemble geben, wie es in neuerer Zeit schöner und großartiger nirgends erstanden ist. Das mag uns neuen Muth und neue Hoffnung geben, daß noch nicht alles verloren ist. Noch ist die Stunde der Entscheidung nicht vorüber. Noch wird das neue, große Wien erst auf dem Papier gebaut; noch ist es Zeit, so hohe Ziele ins Auge zu fassen, wie sie der Bedeutung des Werkes, wie sie der Größe des wahrhaft kaiserlichen Geschenkes entsprechen. Überall aber sollte die schwere Verantwortung schon jetzt gefühlt werden, die jeder auf sich lädt, der mithilft, der künstlerischen Zukunft Wiens schon jetzt einem nüchternen Netz von geometrischen Baufluchtlinien die Hände zu fesseln. Wird der richtige Moment, Großes und Schönes zu gestalten, auch dieses letzte Mal versäumt, dann wäre es wohl für immer zu spät, denn eine Summe hierhin und dorthin verzettelter und schlecht situirter Kunstwerke gibt ebensowenig eine schöne Stadt, als eine Fuhre vom Steinmetz abgeladener Steine ein Bauwerk zu nennen ist.

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Station Wien (1891) Neues Wiener Tagblatt, 25. Oktober 1891. Sign. SN: 224–435.

Es kann als ausgemachte Sache gelten, daß eine Großstadt auch nach Außen repräsentationsfähig sein muß. Wenn der Palast eines Fürsten oder das Familienhaus eines wohlhabenden Bürgers nebst Festsälen und Empfangszimmern auch noch ein entsprechendes Entrée (Hauptportal, Vestibule, Treppenhaus, Vorzimmer) benöthigt; so ist es aus ganz gleichen Rücksichten der Repräsentation auch für eine große Stadt von Belang, außer öffentlichen Prachträumen (sogenannten Kunst- oder Architekturplätzen) im Zentrum auch ein möglichst günstiges Entrée zu besitzen. Es ist ein großer Unterschied, ob man zum Beispiel in Genua zur See ankommt, wobei man schon von Ferne das prächtige Schauspiel der terrassenförmig aufgethürmten Stadt genießt und im Hafen gleich mitten in das regste Leben und die schönsten Stadttheile vom Palazzo Doria mit seinen herrlichen Gärten angefangen, bis zum südlichen Hafenende mit seinen zahlreichen Hotels kommt, oder ob man in einem entlegenen Bahnhof absteigt und sich von da aus vorerst durch endlose Winkelgassen voll Dürftigkeit und Schmutz hindurchzwängen muß, bis man zu den schöneren Stadttheilen gelangt. Wegen dieses wohlbekannten schwer wiegenden Unterschiedes möchten die meisten Reisenden auch bei Neapel es vorziehen, zur See einzutreffen, wenn die Seefahrt selbst nicht wieder ihr Mißliches hätte. Die Ankunft zur See hat überhaupt stets etwas Erfreuliches, sogar Aufregendes, aber trotzdem ist auch bei Seestädten die Ankunft zu Land oft nicht minder fesselnd. Wie wunderbar großartig wirkt, zum Beispiel, die Ankunft in Triest, wenn man am frühen Morgen, bei aufgehender Sonne, zum ersten Male des weitgedehnten Meeres ansichtig wird und endlich die Stadt mit ihren Thürmen und zahllosen Schiffsmasten dahinter erblickt. Da packt selbst den müdesten Nachtfahrer das Reisefieber, und es ist da eine wahre Lust, die Gehänge des Karst mit Windesschnelle hinabzusausen in das herrliche sonnige Land. Landstädte verfügen nun allerdings nicht über solche Mittel, aber auch bei ihnen ist die Art der Ankunft und des ersten Eindruckes sehr verschieden und nichts weniger als gleichgiltig. Wer in Rom mit der Nordbahn Abends anlangt, genießt bei schönem Wetter und richtiger Jahreszeit ein Schauspiel von solcher Erhabenheit in der Wirkung, daß man es zeitlebens nicht mehr vergißt. Schon von Ferne hebt sich die Riesenkuppel von St. Peter in zartesten Lufttinten, wie ein Luftgebilde, wie ein Feenpalast von dem abendlich glü-

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

henden Horizonte ab. Niemals mehr erscheint die gewaltige Kuppel so groß, so herrlich, als in diesem Augenblicke, nicht einmal, wenn man sie auf der Kirchendachterrasse stehend unmittelbar vor sich hat. Auch zu Wagen durch die Porta del Popolo, wo man gleich mitten auf einen der schönsten Plätze und in eine der vornehmsten Straßen gelangt, ist der Eintritt in Rom bedeutend und einnehmend; ebenso durch die Porta S. Pancrazio auf Trastevere, wegen des sofortigen herrlichen Rundblickes über die ganze Stadt sammt Ruinenfeld von großer Wirkung. Wer dagegen auf einem der kleinen schmutzigen Südbahnhöfe absteigt, der ist auf sein eigenes pathetisches Gefühl, den Boden Roms zu betreten, allein angewiesen. Bei größeren Binnenstädten, wenn nicht die Natur selbst Gunst oder Ungunst unerbittlich zugetheilt hat, ist es dann meist die Hand des Städtebauers, welche da nachhilft und ein mehr weniger stattliches oder anmuthiges Entrée mit Absicht konstruirt. Die gewöhnlichste Form, in der dies erreicht wird, besteht darin, daß hart am Bahnhof ein großer möglichst imposanter Platz angelegt und das Bahnhofsgebäude selbst dieser Absicht entsprechend situirt und durchgebildet wird. Dieser Platz ist für eine ganze Stadt dann dasselbe, was für das Einzelhaus oder den Palast das Vestibule ist.1 Ferner wird Sorge getragen, daß von diesem Bahnhofplatz aus eine möglichst breite und prächtige Straße direkt ins Zentrum der Stadt geführt wird, und diese entspricht sonach dem Treppenhaus und den Gängen des Wohnhauses. So wie es aber beim Wohnhaus oder Palast ein grober ästhetischer Fehler wäre, den Eingang in den Salon oder die Empfangssäle unmittelbar vom Gange her geschehen zu lassen, ebenso verfehlt wäre es, diese breite Bahnhofstraße selbst ohne Zwischenlage auf den Hauptplatz der Stadt münden zu lassen, weil dies den weihevollen geschlossenen Effekt des letzteren vollständig zerstören und seine ganze in sich allein konzentrirte Wirkung aufheben würde. Auch dieses Motiv des Städtebaues hat nicht nur

1

[Der Vergleich von Stadträumen mit den Zimmern eines Hauses findet sich bereits in Leon Battista Albertis (1404–1472) 1485 posthum in Florenz erschienenem Traktat De re aedificatoria. Im zweiten Kapitel des fünften Buchs parallelisiert Alberti unter der Überschrift „Das Öffentliche des Hauses“ die öffentlichen Räume einer Stadt mit Lage und Anordnung von Hausinnenräumen: „Und wie man in der Stadt das Forum und die Plätze, so wird man im Hause das Atrium, den Saal und die Räume dieser Art haben, die nicht an abgelegener, verborgener und enger Stelle liegen, sondern vollkommen zugänglich sein müssen, daß auf sie die übrigen Räumlichkeiten ganz unbehindert münden können.“ Siehe Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst. Ins Deutsche übertragen, eingeleitet und mit Anmerkungen und Zeichnungen versehen durch Max Theuer. Wien u.a.: Heller 1912, S. 224.] Station Wien (1891)

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seine Ästhetik, sondern auch seine Geschichte, die aber hier nicht weiter verfolgt werden kann. Nur so viel sei gesagt, daß auch hierin die Neuzeit allenthalben weit hinter der Antike zurücksteht, ja selbst hinter dem Mittelalter, dessen Befestigungswerke und Stadtthore an sich schon ein geradezu handgreiflich deutliches Entréemotiv abgaben, dessen künstlerische Ausgestaltung aber noch obendrein mit einem gewissen Stolz gepflegt wurde und geradezu Meisterwerke ausdrucksvoller Architektur zur Reife brachte. Freilich! Wer denkt heute bei Verfassung eines Stadtplanes an Bürgerstolz und Vaterlandsliebe, an die ästhetische Heranbildung der Jugend, an die Wirkung des Stadtganzen auf den Fremden? Da ist nur immer die Rede von Häuserflucht und Verkehrsrichtung, Baublöcken und Kanaltracen, als ob es überhaupt eine besondere Kunst wäre, derlei höchst simple Dinge regelrecht und fehlerlos aufzuzeichnen, sobald man nur einmal die zwar unbändig mühselige, aber doch phantasie- und geistlose Arbeit des Aufsammelns aller einschlägigen Daten hinter sich hat. Demzufolge sehen unsere modernen Stadtanlagen allenthalben aber auch danach aus. In dieser Frage des Stadtentrées auf die besonderen Verhältnisse von Wien eingehend, sei gleich vorweg erklärt, daß die Natur und die ältere sich selbst überlassene Bauentwicklung ganz vortreffliche Bedingungen hiezu geschaffen haben, daß dieselben aber weder erkannt noch gewürdigt wurden, seitdem Straßen und Bahnhöfe zuerst auf dem Reißbrette entstehen. Weder bei Konzeption des Süd- und Staatbahnhofes noch bei dem Projekt des Westbahnhofes noch auch beim Bau des Nordbahnhofes hat man an eine derartige Forderung auch nur gedacht. Zuerst wurden vielmehr die Schienenstränge reißschienengerade so lange fortlinirt, bis es nicht mehr weiterging, und dort war jetzt Station Wien. Aber noch mehr! Das Bahnhofgebäude selbst wurde nun einfach mit seinen Wänden parallel und senkrecht zu der vorhandenen zufälligen Schienenrichtung angelegt, ohne jede Rücksicht auf die Umgebung, ohne jeden Zusammenhang mit den nächsten Bauten. Während also diese großen Bauten unter Einem hätten benützt werden können zur Verschönerung der Stadt, zur Bildung schöner Eintrittsplätze, wurde an alles das gar nicht gedacht und ihre Situirung von ein paar hundert Metern Bahngeleise abhängig gemacht, das man leichtlich hätte nach allen Richtungen drehen und wenden können, also von einer höchst untergeordneten Sache, lediglich aus Gedankenlosigkeit. Wie das alles hätte gemacht werden können, ja noch gemacht werden könnte, soll gleich gesagt werden, damit derlei vielleicht nicht allzuoft noch übersehen wird.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Am klarsten liegen die Bedingungen zu Tage beim N o r d b a h n h o f . Hier ist die breite Bahnhofstraße bereits vorhanden, in welcher man wunderbarer Weise noch obendrein beim Hereinfahren das Wahrzeichen Wiens, den Stefansthurm, stets gerade vor sich hat. Hier ist auch der Eintrittsplatz schon vorhanden und obendrein noch geschmückt mit einem der schönsten und großartigsten Monumente; aber wo steht da der Bahnhof? Was ist das zu so einem kostbaren Monument für eine unruhige, würdelose, armselige Umgebung! Zudem ist die Art der Umgebung durch das weithin den Raum beherrschende Denkmal schon ganz genau vorgezeichnet. Solche Säulenmonumente eignen sich vor allem für Rundplätze, wegen der stark zentralen Form der Säule selbst und da wieder für Aufstellung in der Mitte des Platzes, weil dort eine breit auseinander fließende Anlage ein Verkehrshinderniß wäre und eine niedrige am Boden gehaltene Darstellung nicht gesehen würde. Auf einem Rundplatz kann man also als günstigsten Fall gerade nur ein solches Säulenmonument wirkungsvoll aufstellen, und umgekehrt gehört zu einem solchen wieder ein architektonisch äußerst streng und symmetrisch ruhig durchgebildeter Rundplatz. Am Stadtplan ist die runde Platzform wohl da, aber welcher geradezu augenbeleidigende Wust von unzusammenhängenden Silhouetten, von unpassenden Farben und Gegenständen bildet da die wirkliche Platzwand! Man denke sich dagegen hier in der Runde den Bahnviadukt entlang bis möglichst knapp beiderseits an die Häuserflügel eine in großen Formen, etwa wie an den Hofmuseen, durchgeführte Steinarchitektur gerade hoch genug, um alles Störende zu verdecken mit triumphbogenartigen Durchlässen für die einzelnen Prateralleen, so hat man den schönsten Rundplatz der Welt, und dieses Gebäude könnte schon längst der Nordbahnhof sein, wenn eine gleichzeitige Verwerthung solcher Gebäude zur Hebung des Stadtganzen üblich wäre, oder es könnte als Zentralbahnhof, Ringbahnhof oder zu sonst einem geeigneten Zweck noch erstehen. Gewiß wäre die Verwendung einer Million hier viel entsprechender als die Vergeudung von Dutzenden von Millionen in zwecklosen Ziegelblöcken am Wienflusse2. Mannigfaltiger gestalten sich die möglichen Lösungen bei dem freien Terrain vor dem S ü d b a h n h o f .3 Die Bahnhofgebäude selbst sind gar nicht so 2

[Sitte spielt hier auf die Regulierung und die partielle Einwölbung des Wienflusses auf einer 17 Kilometer langen Strecke von Weidlingau bis zum Donaukanal an, die im Zuge des Baus der Stadtbahn (Wiental-Bahn) 1895–1906 ausgeführt wurde.]

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[Der Wiener Südbahnhof, bis 1893 außerhalb des Linienwalls gelegen, wurde 1869–1873 nach Plänen Wilhelm von Flattichs (1826–1900) als Endstation der Südbahn errichtet. Das Stationsgebäude, das formale Bezüge zu Bauten Karl Friedrich Schinkels (1781–1841), insStation Wien (1891)

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übel; tüchtig konstruirt und ausgeführt und charakteristisch, kernhaft in der Formenbildung, aber wie steht das Alles wieder da! Schiefwinklig, zusammenhanglos! Da kann man es ja mit Händen greifen, daß an eine schöne Gruppirung, an Silhouetten, an den Zusammenhang mit der Stadt und Bildung eines ansprechenden Eintrittsplatzes nicht einmal gedacht wurde. Jetzt, wo der Wall fällt und eine ungeheure Fläche hier zur Verbauung frei wird mit zahlreichen Straßenendigungen, hätte der Städtebauer hier eine höchst anziehende Aufgabe zu lösen. Heugasse, Alleegasse und Favoritenstraße bilden hier nicht weniger als drei große Einbruchstellen, und das allein schon gibt Anlaß genug zu eigenartigen vielfachen Lösungen. Die Bahngebäude müßten untereinander architektonisch verbunden werden, damit sie nicht so unvermittelt schief dastehen, wie Schubladkasten bei einem Tandlerausverkauf, denn daß ihre Hauptaxen fächerförmig in gleichen Winkeln zusammenlaufen (eine höchst geistreiche geometrische Idee), das merkt man ja nur auf dem Papier, auf dem Plan, aber nicht in Wirklichkeit. Das allein würde aber noch lange nicht genügen, um diese Gebäude und ihre Stellung erträglich zu machen. Es müßte eine Ergänzung zu einer mindestens auf drei Seiten, also hufeisenförmig, geschlossenen Platzwand angelegt werden durch Erbauung von Markthallen mit offenen Loggien oder sonst hieher passenden Gebäuden. Das dürftige Bäumchen- und Strauchwerk, das nur den Ausblick hindert, ohne jemandem Erquickung zu gewähren, müßte abgeräumt und in der Nähe lieber zu einer geschlossenen Gartenanlage vereinigt werden, wo es dann behaglich wäre zu verweilen, wo sich Trinkhallen, Cafés und Restaurants in freundlicher Lage einnisten könnten. Für die zahlreichen Wagen müßte ein auch äußerlich sich charakteristisch abhebender Standplatz geschaffen werden mit gerade diesem Sonderzweck angepaßter Brunnenanlage. Wie viel schöne nachahmenswürdige Muster gäbe es für einen solchen an den berühmten Pferdeschwemmen von Salzburg, an den langen steinernen Pferde- und Kameeltränken orientalischer Städte und Karavanenstraßen! Durch eine solche, durchaus nicht allzu kostspielige Anlage allein schon käme eigenartiges Leben und Schwung in die Sache. Dazu eine würdige Durchbildung des Stadteinganges an den drei genannten Straßen. Wenn darüber eine engere Konkurrenz veranstaltet würde, gäbe es sicher

besondere zum Berliner Schauspielhaus (1818–1821), aufwies, wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt und schließlich abgerissen. An seiner Stelle entstand ab 1951 ein neues Bahnhofsgebäude, in dem die Gleisanlagen des Süd- und Ostbahnhofs zusammengeführt wurden.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

originelle Lösungen in Menge, denn wo derart freie Bahn zur Bethätigung der Phantasie offen steht, wie hier, müssen dem Fachmanne sofort Dutzende von Varianten einfallen, die alle ausführbar wären und bestens wirken müßten; nur ernstlich wollen müßte man einen Aufschwung Wiens auch nach dieser Richtung der öffentlichen Repräsentanz. Wieder ganz anders und eigenartig gestaltet sich dasselbe Problem bei der westlichen Eintrittsstelle, beim W e s t b a h n h o f e . Hier ist die Situation nach Auflassung der Mariahilfer Linie und Wegfall des Linienwalles die folgende: Drei Bauobjekte sind es, welche hier das Stadtbild beherrschen: der Bahnhof, die Fünfhauser Kirche und die Elisabethkirche; diese müßten in Verbindung und zur Geltung gebracht werden. Vor die höchst originelle und in ihrer Art wundervoll gelungene Fünfhauser Kirche gehörte schon längst ein atriumartiger Vorplatz. Auf diesem gäbe es dann passende Stellen genug für Brunnen und Monumente. Von hier bis zur Elisabethkirche hinüber müßte sich eine möglichst breite und vornehmer gehaltene Avenue erstrecken von anziehender, auffallender Durchbildung durch was immer für geeignete Motive. Die Avenue würde durchschnitten von der vom Bahnhofplatz herabkommenden Einfahrtsstraße, und nun folgte die ohnehin als Stadteinfahrt sehr günstige volkreiche Mariahilferstraße. Drei günstige, auch monumental ausgestaltete Ankunftslinien von den Hauptbahnhöfen her, mehr braucht Wien nicht; diese drei benöthigt es aber unbedingt, wenn es als Weltstadt, als Kunststadt dereinst eine Rolle ersten Ranges spielen will. Dagegen ist vom ästhetischen Standpunkte aus ganz gleichgiltig die Neubildung einer Wienflußstraße. Welche Kosten wären da nöthig um ein Nichts! Die große Verkehrsader dieser Richtung ist die eben besprochene nebst ihrer Verlängerung bis Schönbrunn und bis zum neuen großartigen Volkspark als monumentaler Endstation hervorragendster Art. Hier allein sind alle Mittel und Kräfte zu konzentriren, aber nicht durch ewige Zersplitterung zu bewirken, daß weder da noch dort etwas Entscheidendes, etwas Großes zustande kommt. Gewiß! Die Wienflußeinwölbung ist weder eine Kunstfrage, noch eine Verkehrsnothwendigkeit, sondern nur eine riesige finanzielle Frage. Die erste Berechnung des Projektes ergab 16,9 Millionen; der Gemeinderathsbeschluß vom November 1887 nahm schon 28,2 Millionen an; die jetzige Berechnung nur des Widerlags- und Gewölbmauerwerkes allein ergab 33 Millionen und kosten würde das Werk sicher weit über 40 Millionen; gegen eine einfache Sanirung ihres Gewässers, welche nur 11,5 Millionen in Anspruch nimmt, also 28,5 Millionen mehr. Wer wagt es einmal 28 Millionen für die Kunst in Wien zu fordern? Der käme sicher ins Narrenhaus! Station Wien (1891)

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Allerlei Papier (1891) Neues Wiener Tagblatt. Laut handschriftlichem Vermerk erschienen am 15. November 1891. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 164–369,2.

Vor etlichen Jahren brachten Fachblätter für die Papierindustrie die statistische Mittheilung, daß im gegenseitigen Verhältnisse Frankreich das meiste L u x u s p a p i e r erzeugt und verbraucht, während England weitaus obenan steht im Konsum von P a c k p a p i e r und Deutschland im Konsum von K a n z l e i - K o n z e p t s t o f f . Prächtige Notiz das! Welche Perspektiven ins Reich der Kulturgeschichte und Völkerpsychologie eröffnen sich da! Ist es nicht begreiflich, daß England, welches ganz Afrika von allen vier Seiten her einzupacken hat, das meiste Packpapier braucht? Bekannt in aller Welt ist auch das französische Luxuspapier, nicht blos das wirkliche, sondern im übertragenen Sinne auch alle die zahllosen gefälligen Äußerlichkeiten des bonton und der Mode mit ihren Spezialitäten und Novitäten im Benehmen, Frisiren und Coiffiren, womit der moderne Mensch sich umgibt, wie mit Passepartous oder buntpapierenen Luxuskassetten, bis zuletzt die feine Emballage dann manchmal mehr werth ist als der Inhalt. Aber nicht blos in Fragen gesellschaftlicher Repräsentanz, des point d‘honneur der Etikette hat sich Frankreich zum Zeremonienmeister ersten Ranges emporgeschwungen; alle künstlerische und industrielle Thätigkeit ist durchsättigt von diesem Geiste. Die kleinsten Nippes müssen Chic haben und das kleinste Figürchen seine elegante Pose. Pose-t-il bien? ist eine Frage an den Menschen, der Karriere machen will; aber auch an jede Figur, jeden Plan, der aus Künstlerhand hervorgeht. So gibt es nicht blos galante Abenteuer, sondern auch Ledergalanterie und Galanterietischler; ja sogar die französische Literatur besitzt neben ihren großen ernsten Leistungen eine erstaunliche Fülle von charmanten geschriebenen Nippes an ihren zahllosen Causerien, Memoiren, Bonmots, Anekdoten u. dgl. m. Was in den Kleinkünsten der Chic, das ist hier der Esprit, mit dem Alles gemacht sein soll, und eine gewisse feinfühlige Gereiztheit gegen alles Rohe, Plumpe, Abgeschmackte, Täppische gehört mit zu den ersten Anforderungen, welche man an den Künstler stellt. Dies die herrschende Empfindung im Lande des höchsten Bedarfes an Luxuspapier. In P a c k p a p i e r l ä n d e r n dagegen ist alles kommerziell, selbst die Kunst und es wird dort ebenso in Musik gemacht wie in Weizen und Archi­tek­tur

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

oder in Tragödien und Kohle. Während es in Paris eine förmliche marchande de modes-Architektur gibt mit kokardenartig angenähten Ornamentgruppen, von denen allerlei unsymmetrisch wegflatterndes Zeug spitzen- und bänderartig ausläuft, gibt es hier eine zweifellose Packpapier-Architektur. Die Wohnhäuser ähneln häufig in auffallender Weise großen Lagerhäusern, Tabakspeichern und dergleichen; unübertroffen sind die Hoteleinrichtungen, die Docks- und Quaianlagen, kurz Alles, was auf den Verkehr sich bezieht, und hierin, wie auch im Tramwaybau etc., ist die englische Welt stets bahn­ brechend vorangeschritten. Wieder anders gestalten sich die Verhältnisse in den K o n z e p t s t o f f l ä n d e r n . Da ist auch der Dramatiker angestellt, wie ein Rechnungsbeamter; der Symphoniker strebt nach einer fixen Anstellung; der Mime läßt sich pensioniren, wenn es nicht mehr recht geht; der Schriftsteller schreibt sich hier nicht aus, sondern hat sein dreißigstes Dienstjahr hinter sich, und der Sänger singt sich nicht aus, sondern erhält den blauen Bogen. Während in der Zone des Packpapieres die Reiseliteratur aller Sorten einen großen Theil der gesammten Bücherei ausmacht und auf jeder Seite eines Antiquariatskataloges mindestens die Hauptländer des ganzen Globus zu finden sind; konnte die deutsche Buchhandelsstatistik schon vor etwa zehn Jahren den Triumph der pädagogischen Literatur verkünden. Damals erreichte die Zahl aller Neuerscheinungen auf diesem Gebiete die höchste Ziffer, während bisher diese erste Stelle von der dogmatischen und philosophischen Literatur besetzt war. Klassifiziren, rubriziren und paragraphiren ist ja eine anerkannte Hauptstärke deutscher Denkweise. Es hat dies zweifellos seinen besonderen Werth und wurde hierin schon manch gutes Stück Arbeit geleistet zum allgemeinen Nutzen; aber gleich sicher steht fest, daß man hierin auch zu weit gehen kann und daß dann trotz vieler Mühe nicht viel Brauchbares dabei herauskommt. Der massenhafte Konsum von Konzeptstoff allein macht es nicht aus, am wenigsten in Kunstangelegenheiten, bei denen Inhalt und Gesammtwirkung denn doch das Entscheidenden bleiben. Gut ist es, daß die Nationen in ihrem kulturellen Wettlaufe voneinander lernen; wenn aber aus Betrachtungen hierüber für die eigene Thätigkeit Nutzen gezogen werden soll, so müssen auch Vortheile und Nachtheile und deren innere treibende Ursachen erkannt werden. Gerade das geschieht aber verhältnißmäßig zu wenig. Unsere Architektur, wie unsere Kleinkunst, zeigen nur wenig Fühlung mit der englischen Produktion, obwohl diese vermöge ihrer Verwandtschaft nach Klima, Lebensweise und Race uns näher steht, als die Kunstweise der SüdlänAllerlei Papier (1891)

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der. Dagegen befinden wir uns mehr weniger [sic!] theils in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnisse, theils in Konkurrenz mit der älteren italienischen oder neueren französischen Kunst. Nachahmung und Wetteifer beziehen sich aber häufig nur auf Äußerlichkeiten, womit kein bleibender großer Erfolg erzielt werden kann. Unsere Hofmuseen4 stehen heute so gewaltig da, weil sie von innen heraus einer großen Idee folgend, organisch entwickelt wurden, was nicht der Fall wäre, wenn sie dem Louvre oder sonst einem Muster nur nachempfunden wären. Ebenso verhält es sich mit dem Stadtplane. Äußerlichkeiten allein nachzuahmen, würde hier nicht Gleichwerthiges erstehen lassen. Einige Boulevards und Avenuen anzubringen, wohl aber könnte noch Vollkommeneres entstehen, wenn auch hier Eigenartiges von innen heraus entwickelt würde, geradeso, wie dies bei unseren großen Monumentalbauten geschehen ist. Von innen heraus aber mit dem schon oft als Muster zitierten Paris in Wettkampf treten, heißt zunächst einen Kampf der Prinzipien ausfechten; vor Allem die historischen und nationalen schaffenden Kräfte erfassen, welche diese äußere Erscheinung hervorbrachten. Von zwei Trieben zeigt sich die gesammte französische Produktion beherrscht, von dem Triebe nach R e p r ä s e n t a t i o n und von dem Verlangen nach L e b e n s f r e u d e . Beides Eigenschaften, welche schon Julius Cäsar als Charakter der Gallier zukommend erkannte; beides aber auch Eigenschaften, welche tief in der Kunst und in der Weltanschauung der Antike wurzeln. Edler sinnlicher Genuß ist der Himmel der antiken Mythe, und die Kunst wurde unter diesem Losungsworte ausschließlich zur Darstellung des Schönen. So lange diese Sinnesart sich unbeengt bethätigen konnte, so lange die höchsten Probleme menschlichen Daseins ihrem Kreise einverleibt waren, wurden von diesem Gesichtspunkte aus auch die höchsten Fragen der Kunst gelöst; eine Schaar [sic!] herrlicher Götter- und Heldengestalten wuchs aus diesem Boden empor und hielt seinen [sic!] Einzug in Olympia und auf der Akropolis von Athen. Als in späten Jahrhunderten diese ganze Welt erstorben war, und die Räthsel des Lebens andere Lösungen gefunden hatten, blieb diesem Schönheitsideale nur die niedere Sphäre der künstlerischen Ma4

[Mit „Hofmuseen“ sind die einander gegenüber liegenden Gebäude des Kunsthistorischen und des Naturhistorischen Museums an der Wiener Ringstraße gemeint, die 1872–1881 von Gottfried Semper und Karl von Hasenauer im Stil der italienischen Hochrenaissance errichtet wurden. Sitte lobt die Anlage der Hofmuseen auch in seinem Buch Der StädteBau. Siehe Sitte, Camillo: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Wien: Graeser 1889 (Reprint der 1. Aufl. von 1889 in: CSG, Bd. 3. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2003), S. 127–129.]

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che und des gewöhnlichen Lebens übrig. Daraus erklärt es sich, daß Mode und Etikette, Pose und Eleganz fast allein noch Gebiete zur Bethätigung dieses Triebes geben, höher strebend gelangt man nicht mehr in den alten Olymp, sondern nur mehr zur Verherrlichung des Individuellen, zur Repräsentanz, zur Gloire. Vielleicht ist in diesem Fehlen der letzten höchsten Ziele auch noch der Umstand begründet, daß der französischen Kunst bei so viel Können, so viel Genie dennoch Künstler allerersten Ranges fehlen. Daß Lebensfreude die andere Triebfeder antiker Spekulation und Kunst war, hängt mit ihrem Schönheitsideale aufs Innigste zusammen. Aber auch diese beherrscht heute nicht die obersten Sphären des Dichtens und Schaffens, vielmehr muß auch hier die Kunst sich mit Minderem begnügen, mit Amusement, mit dem Effektvollen, Pittoresken, Kuriosen, Heiteren; aber diese Heiterkeit des Südens erglänzt wie Sonnenschein über den Werken der Kunst noch heute, wenn auch der innere Zusammenhang mit dem übrigen Denken und Schaffen sich gelockert hat. Frohsinn und klare Faßlichkeit, das sind die Triebfedern der äußeren Erscheinung des Pariser Städtebaumusters. Und warum sollten wir diese nicht nachahmen? Gerade dort, wo die Natur ewigen Sonnenschein und ewig heiteren Himmel versagt hat, sollten sie ganz besonders gepflegt, wie Südfrüchte importirt werden. Lediglich so aufgefaßt braucht auch das vorliegende Muster nicht blos kopirt zu werden, sondern den gegebenen Bedingungen entsprechend kann und soll hier Eigenartiges erstehen. Die heitere Anschaulichkeit selbst aber muß zielbewußt angestrebt und zum Programmpunkt erhoben werden. Das Wie? sei getrost den Künstlern überlassen; die werden das schon treffen und brauchen hiezu nicht erst nach Paris zu gehen, da die älteren Quellen der Antike und selbst des Orients auch uns unmittelbar zugänglich sind und die eigene Phantasie noch jedesmal zureichte, wenn nur die Aufgabe einmal richtig und klar gestellt war. Diese lautet aber klar und bündig so, daß es zweifellos nicht erwünscht wäre, diesen Zukunftsplan auf Konzeptstoff zu zeichnen, auch nicht auf Packpapier, vielleicht auch nicht einmal auf Luxuspapier, wohl aber auf solidem, gut geleimtem AtelierZeichenstoff.

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Die Ausweidung Wiens (1891) Neues Wiener Tagblatt, 6. Dezember 1891. Im Nachlass befindet sich eine handschriftliche Abschrift mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 223–439 und 223–479.

Nicht Ausweitung lautet der übliche Terminus technicus sondern Ausweidung, so wie man einen todten Hasen ausweidet, wenn man die allenthalben in Schwung befindliche Erweiterung der Straßen und Plätze, alle die zahllosen Straßendurchbrüche, Geraderichtungen und was Alles sonst damit zusammenhängt, bezeichnen will. Sämmtliche Altstädte Europas werden gegenwärtig ausgeweidet, und diese Art bautechnischer Metzgerei stellt bereits ein wohlgegliedertes Geschäft dar, mit festbegründeten Unterabtheilungen, als da sind: das sogenannte „Herausschälen“ alter Kirchen und sonstiger Baudenkmäler aus ihren Zu- und Anbauten; das Freilegen von Stadtthoren; das Zurückrücken der Häuserfluchten u.dgl.m. Wegräumung aller Verkehrshindernisse, Gewährung von Luft und Licht, das sind die Ziele, welche dabei angestrebt werden und damit ist auch alle Welt höchst einverstanden. Nicht ganz einverstanden ist man aber allenthalben mit der Art und Weise, wie im besonderen Falle dieses einmüthig erwünschte Ziel zu erreichen gesucht wird. Da gehen die Meinungen stracks nach den entgegengesetztesten Richtungen auseinander. Auf der einen Seite stehen die Männer des Meßtisches und der Reißschiene, auf der anderen die Naturfreunde, Künstler, Archäologen, Historiker und Patrioten, kurz Alle, die auch Sinn für Schönheit haben und Pietät vor den Erbstücken unserer Vorfahren. Richtscheit und Wasserwage sind kalt und herzlos, dagegen Aesthetiker und Kunstfreunde voll Empfindsamkeit; trauernd, wenn wieder irgendwo im Norden oder in Rom oder sonstwo ein Stück Alterthum der Spitzhacke zum Opfer fällt; voll Jubel wenn es glückte, dem Dämon Reißschiene ein Opferlamm zu entwinden. Mit welch’ inniger Freude wurde da die Nachricht aufgenommen, daß es der Genueser Künstlerschaft gelang, durch eine Petition die bereits beschlossene Demolirung des aus dem dreizehnten Jahrhunderte stammenden Palastes von S. Giorgio1 zu verhindern; welche freudige Stimmung erweckte allenthalben die Nachricht, daß Vendig der Welt in seiner jetzigen Gestalt er1

[Der am Porto Antico gelegene, um 1260 errichtete dreistöckige Palazzo San Giorgio wurde seit dem 15. Jahrhundert mehrfach erweitert; 1570 errichtete man einen neuen Bauteil am Hafen, dessen Fassade in den Jahren 1606–1608 freskiert wurde. Nachdem zunächst geplant war, den Palast abzureißen, wurde dieser seit 1883 durch den portugiesisch-italienischen Architekten Alfredo d’Andrade (1839–1915) restauriert.]

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halten bleiben soll und man dort den modernen Verkehr lieber nach Mestre (Neu-Venedig) verlegen wolle. Ebenso ging die Frage der Nürnberger Stadtthordemolirungen den Kunstfreunden aller Welt zu Herzen und nicht bloß denen von Nürnberg allein. Daß in Fällen, wo so bedeutende weltberühmte Werke in Frage kamen, die Fanatiker des Städteausweidens schließlich doch den Kürzeren zogen, ist wohl nicht zu verwundern. Man kann es heute als allgemein feststehenden Lehrsatz betrachten, daß Werke ersten Ranges um jeden Preis zu schonen seinen. Mit dieser allgemeinen Regel ist aber die Frage noch lange nicht entschieden, denn nun wüthet der Kampf wieder um die Grenze ihrer Anwendung. Hierüber ist die Einigung noch weit schwerer zu erzielen, als vorher über das Prinzip selbst. Ein Beispiel hiezu bietet die Prager Karlsbrückenfrage2. Alle Kunstfreunde sind sich seit jeher darüber einig, daß diese wundervolle Brücke ohne Zweifel zu denjenigen Werken gehört, welche um jeden Preis erhalten werden müssen; die Männer der Ziffern und Linien aber betrachten die Nothwendigkeit ihrer Restauration als günstige Gelegenheit, um dieses alterthümliche Verkehrshinderniß durch ein schnurgerades, breitspuriges Eisengespreitze zu ersetzen. Was helfen da die schönsten Lehrsätze, wenn deren Anwendung im wirklichen Leben nicht zugegeben wird? Aber noch mehr. Während die Einen für Erweiterungen und für Bloslegung der Monumentalbauten schwärmen, auch dort, wo Verkehrsbedürfnisse nicht zu befriedigen sind, geben die Anderen das Ersprießliche dieser Herausschälungen in keiner Weise zu. So hat man sich von der Bloslegung der Langseite des Kölner Domes Wunder von Wirkung versprochen;3 nach Vollendung des kostspieligen Unternehmens war aber die Enttäsuchung sehr groß, und der feinfühlige Direktor des Breslauer Museums, J. Janitsch4, 2

[Die Karlsbrücke in Prag, ab 1357 unter Karl IV. (Kaiser 1355–1378) durch Peter Parler (1330/33–1399) errichtet, wurde am 4. September 1890 schwer beschädigt. Durch ein Hochwasser waren drei der 17 Gewölbebögen eingestürzt und fünf Pfeiler in Mitleidenschaft gezogen worden. Ab August 1891 wurde der Wiederaufbau der zerstörten Brückenteile in Angriff genommen und im November 1892 abgeschlossen.]

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[In Köln begann man bereits in napoleonischer Zeit mit dem Abriss von Kirchen- und Klosterbauten in unmittelbarer Umgebung des Doms. Die allseitige Freilegung der 1880 vollendeten Kathedrale erfolgte seit Mitte der 1880er Jahre. Insgesamt wurden zwischen 1826 und 1893 im Umfeld des Domes zwei Kirchen und 69 Häuser abgebrochen. Anstelle der alten Bebauung entstand 1890–1893 u.a. der historistische Bau des Domhotels am neu geschaffenen Roncalliplatz. Bereits kurz nach Abschluss der Neugestaltung wurden die „Leere“ und „Kälte“ der Platzgebilde kritisiert und Vorschläge zu einer engeren Umbauung des Domes gemacht.]

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[Der deutsche Kunsthistoriker Julius Janitsch (1846–1921) wirkte in den 1890er-Jahren als Die Ausweidung Wiens (1891)

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schildert in einer diesbezüglichen Kritik diesen verkehrten Erfolg in drastischer Weise folgendermaßen: „Die südliche Langseite liegt nun ganz frei an einem großen, öden Platze da, also in einer nach modernem Schema idealen Lage. Und doch thut sie nicht die erwartete Wirkung, sie wirkt nicht groß, zieht nicht empor; es dauert eine Weile, bis der enttäuschte Beschauer ihr gerecht werden kann.“ Man sieht, daß diese Angelegenheit durchaus nicht so einfach liegt, daß es vielmehr häufig genug Geschmackssache, Modesache ist, ob die Lösung in dem einem oder andern Sinne erfolgt, und dies soll vorläufig konstatirt sein zur späteren Verwerthung. Wie sieht es nun in Betreff dieser allgemein europäischen Epidemie bei uns zu Hause, in Wien, aus? Eigentlich sehr traurig. Jedes Jahr vermehrt dem Kunstfreunde seine Todtenliste; das Schlimmste aber besteht darin, daß bei uns die Sucht des Niederreißens und Umbauens nicht erst in jüngster Zeit ihren Einzug in die Stadt hielt, sondern sichtlich zu allen Zeiten ihre verheerende Wirkung äußerte. Wohin ist es entschwunden das stämmige Wien der Babenberger aus romanischer Bauzeit, von dessen Blüthe in Handel und Gewerbe noch alte Sagen singen? – Fast spurlos verschwunden niedergerissen! Wo ist es hin das Wien der gothischen Bauweise aus der Zeit Rudolf’s IV? – niedergerissen, umgebaut. Wo ist es hin das Wien der deutschen Renaissance? – umgebaut, ausgeweidet! Man sage nicht, daß wir deshalb aus allen diesen Bauperioden fast nichts mehr erübrigten, weil auch früher nichts Besonderes da war, weil die Werke der Vorfahren der Erhaltung nicht werth waren. Das ist ein fauler Trost, nichts weniger als entsprechend der Verehrung unserer Vorfahren, nichts weniger als historisch glaubwürdig. Man denke an die Bedeutung und den Reichthum Wiens schon im Mittelalter; man denke an die Tüchtigkeit der Steinmetzhütte von St. Stefan in gothischer und schon in romanischer Zeit, mit ihrer reichlichen Ausbeute der besten Steinbrüche des Wiener Beckens und prüfe im Zusammenhalt damit einmal die Annahme, daß es damals in Wien außer der Domfaçade nur elendes Hüttenwerk gab, keine romanischen und gothischen Steinhäuser mit künstlerisch werthvollen Portalen, Giebeln, Erkern, mit steinernen Loggien in den Höfen; keine reich geschnitzten und bemalten Riegelwandhäuser; kurz, nichts von alledem, was sich anderwärts noch erhalten hat. Diese an sich unhaltbare Annahme verstößt aber auch gegen alle literarischen Nachrichten, welche ein Streiflicht

Direktor des Schlesischen Museums der bildenden Künste in Breslau. Janitsch beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit Malerei und Druckgraphik der deutschen und italienischen Renaissance.]

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auf das Aussehen der Stadt in frühren Zeiten werfen. So soll zum Beispiel bei den Schotten noch im vorigen Jahrhundert ein romanischer Kreuzgang vorhanden gewesen sein,5 ähnlich denen von Stift Heiligenkreuz und Lilienfeld, also noch aus der romanischen Bauzeit des durch Jasomirgott 1158 gestifteten Schottenklosters stammend. Dieser hätte also nur noch wenige Jahrzehnte der Ausweidungsepidemie zu widerstehen gebraucht und er hätte die Zeit der Wiederbelebung mittelalterlicher Stylrichtungen erlebt und wäre, gerettet, heute eine Perle der Wiener Alterthümer. Wie die beinahe letzten Reste deutscher Renaissance gefallen sind, das charakteristische Haus am Graben mit seinen steinernen Hofarkaden und steinerner Wendeltreppe und das prächtig wirkende Eckhaus gegenüber dem fürsterzbischöflichen Palais, das haben wir selbst noch miterlebt.6 Aus allen diesen älteren Bauperioden hat sich nunmehr fast nichts bis auf uns erhalten, und die Zerstörung der neuesten Zeit kehrt sich gegen die Werke der Barocke. Von der Mariahilferkirche sieht man auf einem Kupferstich von 1724 noch ein ummauertes Atrium mit stadtthorähnlichem Portal gegenüber der Kirchenfaçade. Dieses Werk ist schon lange als Verkehrshinderniß beseitigt, und ebenso blieb von den alten baroken Stadtthoren, theilweise höchst charakteristischen kraftstrotzenden Konzeptionen, nicht ein Stein über dem anderen. Eine geschickte Wiederverwendung wäre nicht unmöglich gewesen, aber derlei war damals noch nicht Zeitfrage, und so fiel alles glatt weg ohne Bedenken. Überblickt man diesen rastlosen Kampf des jungen Lebens gegen das Alte, so wird man schier erfaßt von leisem Grauen, und auch in den kaum erstandenen Werken meint man Todtgeweihte zu sehen. Es ist wahr: das gewaltige Ringen und Kämpfen um die Existenz in großen Städten verträgt keine Sentimentalität. Es ist aber nicht wahr, daß man eine Lösung für die Verkehrsfragen nur dann

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[Das bis um 1200 zunächst außerhalb der Stadtmauern gelegene Schottenstift wurde um 1155 vom Babenbergerherzog Heinrich II. Jasomirgott (Markgraf 1141–1156, Herzog 1156–1177) gegründet und mit irischen Benediktinermönchen, die aus dem St. JakobsKloster in Regensburg berufen worden waren, besiedelt. Der nördlich an die Stiftskirche anschließende gotische Kreuzgang wurde erst 1828 zugunsten des nach Plänen von Josef Kornhäusel (1782–1860) errichteten Neubaus der Konventsgebäude abgerissen.]

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[Das sogenannte „Arkadenhaus“ an der Ecke Graben/Bräunerstraße, ein viergeschossiger Bau mit mehrstöckigem Arkadeninnenhof (1566), wurde 1873/1874 abgerissen und durch den von Otto Thienemann (1827–1905) und Otto Wagner (1841–1918) entworfenen Bau des Grabenhofs ersetzt. Auch das 1560 zweistöckig errichtete und bereits 1568 umgebaute „Bauernfeindsche Haus“ am Stephansplatz wurde 1874 im Zuge der Regulierung der Brandstätte abgetragen.] Die Ausweidung Wiens (1891)

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finden kann, wenn man vorher jede Pietät, jeden Schönheitssinn von sich abgeschüttelt hat; es ist nicht wahr, daß man dies und jenes nicht hätte besser überlegen können; es ist auch nicht wahr, daß man auf der einmal betretenen Bahn unbeirrt bis zu Ende fortgehen müsse. Hiezu noch einige Beispiele, denn aus Fehlern lernt man, und die Erfahrungen der letzten fünfzig Jahre im Stadtbauwesen sollten deshalb überall eifrig gesammelt werden. So recht mitten hinein in alle möglichen Bedenken kann man aber kommen bei Betrachtung u n s e r e r K ä r n t n e r s t r a ß e - R e g u l i r u n g .7 Das ist ein wahres Prachtexemplar von Beispiel. Der Verkehr ist hier der stärkste von ganz Wien; die Straße selbst gehört zu den schmalsten. Trotzdem ist der Verkehr hier nicht geradezu unangenehm und bei schlechtem Wetter, Wind und Schneegestöber geht gewiß Jeder zehnmal lieber durch die Kärntnerstraße als durch die Straßen der Neuanlage beim neuen Rathhause, wo man vom Winde durch und durch geblasen wird und der Frost bis auf die Knochen dringt. Das Fahren, allerdings nur heraus, geht ununterbrochen trabend ganz flott von statten; kommt man aber aus dem engen Schlunde heraus in die prächtige, riesige Weite der Neuanlage, dann geht es auf einmal nicht mehr so gut; da muß bei der Ringstraße, am Albrechtsplatz, bei der Elisabethbrücke und sonst noch alle Augenblicke im Schritt gefahren werden, so daß man in seinem Komfortable oder Fiaker rasend werden möchte, wenn man Eile hat. Platz zum Schnellfahren wäre freilich überreichlich da; aber man darf nicht wegen der vielen gefährlichen Fahrbahnkreuzungen, welche das moderne Schachbrettmuster des neuen Stadtplanes verursacht. Man sieht: die Breite der Straßen allein macht es noch nicht aus, sondern zu einer wirklich guten, naturgemäßen Straßenführung gehört noch viel eingehendes Detailstudium der Bedingungen und Schwierigkeiten des Verkehres und weit mehr Witz und Nachdenken, als das bloße Abliniren paralleler und senkrechter Straßennetze erfordert. Die Kärntnerstraße ist viel zu eng, aber trotzdem nicht ganz schlecht, weil sie naturgemäß entwickelt und nicht von gleichwerthigen Verkehrsadern durchschnitten wird. Gerade dasjenige, was bei der Ausweidung unserer Altstädte angestrebt wird, ihre natürlich gewachsene, stromartige Verkehrsstruktur allmälig in die moderne Schachbrett-

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[Die Kärntner Straße, heute eine der am stärksten frequentierten Einkaufsstraßen Wiens, wurde von 1873 bis in die 1890er Jahre in mehreren Etappen von neun auf 17 Meter verbreitert. Dieser Maßnahme fiel die bestehende Bebauung der Westseite zum Opfer, die durch historistische Geschäftsneubauten – u.a. Warenhaus Neumann, 1895 nach Plänen Otto Wagners errichtet – ersetzt wurde.]

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struktur überzuführen, gerade das ist schlecht. Das genauere Studium der Einmündung von Seitenstraßen zeigt, daß Kreuzungen eben die schlechteste Variante sind; eine solche Kreuzung wurde aber bereits künstlich mit großen Kosten herbeigeführt durch die Verbindung von Graben und Singerstraße. Während früher der vom Graben kommende Wagen sich zuerst sachte in den Verkehrszug der Kärntnerstraße einfügte und dann nach einer kleinen Strecke des Mitfahrens ohne Störung in die Singerstraße abbog, kreuzen sich jetzt die Fahrrichtungen und müssen die Einen immer warten, bis die Querdurchfahrenden vorüber sind. Das führt wieder zur Verordnung des Schrittfahrens und zur Aufstellung eines Wachmannes, der den Verkehrt kommandirt. Am schlimmsten daran ist an solchen Stellen der Fußgänger. Während er früher nur je einmal die Fahrbahn zu überschreiten und nur auf einen Wagen zu achten hatte, soll er jetzt rechts und links, vorne und rückwärts zugleich seine Augen haben, denn von allen Seiten droht gleichzeitig die Gefahr des Überfahrenwerdens. In einsichtsvoller Erkenntniß solcher Mißlichkeit wird denn auch mitten in das Getümmel der Wagen dann die bekannte Rettungsinsel gestellt. Richtiger wäre es, diese Zwangslage gar nicht erst herauf zu beschwören und von vorneherein der goldenen Regel zu folgen, daß sich Hauptverkehrsrichtungen eben nicht durchkreuzen sollen. Wie sieht es nun aber mit der Durchführung der Verbreiterung aus. Dabei handelt es sich um Zweierlei. Erstens soll die Verbreiterung auf einmal oder allmälig durchgeführt werden, zweitens soll dieselbe der vorhandenen Krümmung folgen oder soll zugleich eine Geradrichtung des Straßenzuges angestrebt werden? Die gleichzeitige sofortige Durchführung einer kompletten Neubildung könnte man füglich das französische System nennen, weil danach im großen Style in Paris und nach dessen Vorbild auch in anderen französischen Städten vorgegangen wurde. Das allmälige Zurückrücken blos im Falle freiwilligen Neubaues wurde bei uns angenommen. Jedes dieser Systeme hat seine Vortheile und auch Nachtheile, deren Überwiegen aber nicht vom System selbst, sondern, wie fast immer in solchen Fällen, von der Art der Durchführung abhängt. Will man bei einem Minimum von Kosten und von Verantwortung für die Zukunft ein Maximum der Wirkung erzielen, so muß man in einer großen Stadt beide Methoden gleichzeitig, die eine da, die andere dort in Anwendung bringen, aber nicht im Inneren der Stadt und in allen Vorstädten gleichzeitig mit Straßenverbreiterungen und Geradrichtungen beginnen. Was das jährlich kostet, wissen wir; daß es bisher noch nichts genützt hat und noch lange nichts nützen wird, wissen wir gleichfalls, weil zwischen den zurückgerückten Häusern immer noch alte übrigbleiben Die Ausweidung Wiens (1891)

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mit der alten Bauflucht; ob aber dieses ganze System von jetzt allmälig festgesetzten Baulinien nach hundert Jahren noch den Bedürfnissen und den Anschauungen der Zeit entsprechen wird, das wissen wir durchaus nicht. Vorläufig stehen nur zwei Dinge fest, nämlich: daß die Inangriffnahme des Erweiterns an allen Punkten der Stadt zugleich sehr viel kostet, in vielen Fällen ganz zwecklos, d e n n e s k ö n n t e n S e i t e n g a s s e n g e n u g a n g e führt werden, deren alte Breite in alle Ewigkeit genügt h ä t t e und kein Kreuzer da für Grundabtretung hätte verbraucht werden müssen und dann nachträglich noch für Straßenerhaltung und Reinigung, und ferner steht fest, daß die Vor- und Rücksprünge in allen Straßen nichts weniger als angenehm und schön sind. Hierin gehen wir dem Maximum der Unzukömmlichkeit aber erst entgegen und muß dies mit der Zeit ein Gesammtjammerbild der Altstadt geben, entweder zum Verrücktwerden oder zum Todtlachen. Einen Vorgeschmack davon bietet jetzt schon die Kärntnerstraße. Bald auf der einen, bald auf der anderen Seite verbreitert, dann wieder eine Strecke Engpaß, an dessen Ende dem Beschauer eine Riesenfeuermauer entgegenstarrt mit beinahe mannshohen rohen Buchstaben Cacao, Liebig, Kalodont und Bodega ankündigend! Kein Zweifel: an manchen Stellen schadet das billigere allmälige Einrücken nicht; an den meisten Stellen hätte es aber vorläufig ganz unterbleiben können, und ist es nur zwecklose Prinzipienreiterei, wenn es überall angewendet wird; an einer so hervorragenden Stelle wie der Kärntnerstraße, hätte man aber die Kosten und auch die Schwierigkeiten der Expropriation nicht scheuen sollen, um da mit einem Schlage geordnete Zustände zu schaffen. Noch ist die Summe aller Lehren nicht voll, die aus dieser einzigen Regulirung gezogen werden können. Es wurde nämlich auch gleichzeitig möglichste Geraderichtung des Straßenzuges angestrebt, und wenn es dabei bleibt, fällt da der Reißschiene nichts Geringeres als der alte, von F i s c h e r v o n E r l a c h erneuerte Prachtbau des „Hotel Munsch“ 8 zum Opfer, dessen Façade den Neuen Markt dominirt. Durch die hiemit zusammenhängende Einrückung aller anderen Gebäude derselben Seite wird auch das Platzbild 8

[Das von Sitte genannte Gebäude, die ehemalige „Mehlgrube“ am Neuen Markt, entstand ab 1698 anstelle eines bereits im 14. Jahrhundert unter gleichem Namen urkundlich erwähnten Hauses. Der großzügige barocke Neubau wurde möglicherweise nach Plänen Johann Bernhard Fischers von Erlach (1656–1723) durch die Baumeister Georg Powanger und Christian Oedtl errichtet und diente u.a. als Wohn- und Ballhaus. Das Gebäude wurde 1897 abgerissen und an seiner Stelle ein Neubau nach Entwürfen Franz Kupkas (1855–1924) und Gustav Orglmeisters (1861–1953) errichtet.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

zerstört und die Aufstellung des Donner-Brunnens beeinträchtigt. Noch mehr: es liegt bereits ein Projekt vor zur Durchbrechung breiter Straßenzüge an den Ecken dieses schönen alten Platzes, wodurch die Bedingung seiner jetzigen ruhigen Wirkung, die Geschlossenheit seiner Platzwand vollständig zerstört wird. So etwas greift dem Kunstfreunde, dem Patrioten wirklich ins Herz, denn da stehen wir wieder vor der Zerstörung von Kunstwerken und Stadtbildern ersten Ranges. Und diese Zerstörung wird kommen, sie muß kommen, weil in der endlich doch einmal gänzlich erweiterten Kärntnerstraße dieses eine Gebäude nicht als Hervorragung wird stehen bleiben können. Diese Zerstörung könnte nur jetzt aufgehalten werden durch Änderung der bereits vom Gemeinderathe seinerzeit genehmigten neuen Baulinie und durch Abbiegung derselben. Kann man aber so Unerhörtes ernstlich verlangen? Das ist eben, wie eingangs erörtert, Sache des Geschmacks, und wenn sich dieser im Allgemeinen nicht ändert, wird auch die Ausweidung Wiens, wie bisher, lustig weiter betrieben.

Die Ausweidung Wiens (1891)

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Neu-Wien – Ein Willkomm (1891) Neues Wiener Tagblatt, 20. Dezember 1891. Sign. SN: 225–434.

Man muß selbst ein alter Wiener geworden sein, um Neu-Wien aus der Wurzel von Alt-Wien heraus richtig verstehen zu können. Was hat sich alles verändert in der kurzen Spanne Zeit von 1851 bis 1891! Die gewaltige Umwälzung ist so riesig, so plötzlich über uns gekommen, sozusagen über Nacht, daß Frau Vindobona selbst sich nicht gleich drein finden konnte und anfangs noch halb schlafestrunken nicht wußte, ob dies alles Wirklichkeit wäre oder nur ein sonderbarer Traum. Welches Aufsehen erregte anfangs der Fünfzigerjahre der erste Konrath’sche Stellwagen, der vom Hof nach Dornbach ein paarmal des Tages abging! Die Leute liefen zusammen, das Mirakel zu begucken und darunter gab es Manchen, der den armen Konrath bedauerte, daß er sein Geld in so gewagter Spekulation einsetze, denn, sagten sie, es wird ein jeder nur einmal fahren, damit er sagen kann, er hat es auch probirt, und bald wird der ganze Rummel vorüber sein. An so geringfügigen Dingen kann man es so recht ermessen, wie gewaltig der Umschwung sich gestaltete. Zuerst lebte sich das Begonnene immer mehr und mehr ein, dann kam eine nächsthöhere Stufe der Verkehrspflege durch den konzentrirten Gesellschaftsbetrieb der Omnibusfahrten, durch Pferdebahn und Dampftramway, heute aber stehen wir wieder vor einer neuen Epoche: vor der Inangriffnahme der Ringbahnen und der Frage unterirdischer Verkehrsadern. Auch das wird sich Alles in Wirklichkeit umsetzen und Wien zu dem machen, was eben kommen muß, was Paris und London schon einige Dezennien früher geworden sind. Frau Vindobona aber hat sich endlich den Schlaf aus den Augen gerieben, sieht, daß es kein Traum, sondern leibhaftige Wirklichkeit ist, daß jetzt der letzte Ringwall falle und die letzte große Ausbildung Wiens zur modernen Weltstadt anheben soll, und wenn auch anfangs beklommener Stimmung, denn sie liebt ihre Leute und ihr gewohntes behagliches Hausen, muß ihr doch das Herz lachen vor heller Freude darüber, daß Alles so gekommen ist! Ja! es ist kein Kleines, was sich bei uns in so kurzer Zeit geändert hat, und noch stehen wir mitten in der Stromschnelle des Werdens. So wie sich bei den Verkehrsmitteln ein stetiger Zug unschwer erkennen läßt, dessen Ende wir noch lange nicht erreicht haben, so verhält es sich auf allen Gebieten unseres städtischen Lebens. Die ersten Gasbeleuchtungsversuche gehören gleichfalls den ersten Fünfzigerjahren an, und wie wurden sie bewundert! Heute schon stehen wir vor

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

der Nothwendigkeit, die Unterbringung zahlreicher Rohrnetze für elektrische und vielfache andere Leitungen in unterirdischen gangbaren Kanälen ernstlich in Erwägung zu ziehen. Anfangs der Fünfzigerjahre gab es nicht mehr als sechzehn bis zwanzig Neubauten in ganz Wien; gegenwärtig schon seit 1884 jährlich über dreihundert und noch ebenso viele Zu- und Umbauten; als ein schlechterdings unglaubbares Hirngespinst hätte es aber dem Wiener von 1850 vorkommen müssen, wenn ihm Jemand die Möglichkeit der Währinger Cottageanlage9 geschildert hätte oder gar den prächtigen Villengürtel, der ganz Wien, das Gebirge entlang von der Donau bis zur Südbahnstrecke umzieht. „O mein! Geht’s dem Armen schon so schlecht,“ hieß es damals, wenn Einer einmal über Sommer auf ein paar Wochen aufs Land ging, „da wird er’s wohl auch nicht mehr lang’ machen, Schad’ um ihn!“ Ebenso glaubte anfangs Niemand an die Lebensfähigkeit unseres Künstlerhauses, das seither schon zweimal erheblich vergrößert werden mußte und erst so eben recht ist; Niemand glaubte an die Möglichkeit eines Museums für Kunst und Industrie, denn Österreich sei und bleibe ein Agrikulturstaat und habe mit Kunst und Industrie viel zu wenig zu schaffen, als daß man dafür auch noch ein Museum brauche. Endlich gar unser neues Rathhaus! Wie Vielen erschien das viel zu groß und viel zu prächtig, zu monumental. Mag sein, daß ein Rathhaus für eine Stadt von vierhunderttausend Einwohnern auch weniger monumental sein könnte, für die Millionenstadt, für Groß-Wien ist es aber gerade so, wie es ist, erst recht, und diese Voraussicht für die Zukunft war dabei zur rechten Zeit und am rechten Platze angebracht. Diese Voraussicht für die Zukunft muß auch jetzt der Leitstern sein, nach dem sich alle unsere Maßnahmen richten, und das können wir auch ohne Besorgniß vor Überstürzung, ohne Furcht vor Enttäuschung; denn die Ursachen der Erweiterung und Neugestaltung Wiens liegen nicht in Zufälligkeiten, sondern in bleibenden organischen Änderungen des Weltverkehrs.

9

[Der Bau des im 18. und 19. Wiener Gemeindebezirk gelegenen Währinger Cottageviertels wurde seit 1872 durch den Cottageverein, dem ab 1873 der Architekt Heinrich von Ferstel vorstand, durchgeführt. Ziel war es, dem Wiener Bürgertum ein familiäres Wohnen im Grünen nach englischem Vorbild zu ermöglichen. Im ersten Bauabschnitt 1873–1874 wurden 50 Einfamilienhäuser nach Entwürfen des Stadtbaumeisters Karl von Borkowski (1856–1923) errichtet. Später entstanden individuelle Villenbauten, die u.a. von den Theaterarchitekten Hermann Gottlieb Helmer (1849–1919) und Ferdinand Fellner (1847–1916) entworfen wurden.] Neu-Wien – Ein Willkomm (1891)

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Wenn es bedenklich sein mag, bei kleinen Städten das plötzliche wie enorm starke Anwachsen der Bevölkerung in die Zukunft hinein hypothetisch zu verlängern und darauf allein Maßnahmen zu Stadterweiterungen zu gründen; bei Wien kann dies nicht zweifelhaft sein, daß die Bevölkerungsziffer wie bisher stetig wachsen wird. Danach wurde bereits berechnet, daß Wien schon 1920 zwei Millionen Einwohner zählen wird, und das wird auch zutreffen. Wieder nur eine kleine Spanne Zeit und Wien steht neuerdings auf höherer Stufe. Diese Überzeugung kann man mit Zuversicht schöpfen, da sie sich auf naturnothwendige Erscheinungen des modernen Weltverkehres gründet. Dieser bringt es mit sich, daß die Zahl der tonangebenden Kulturzentren sich erheblich verringert und das vorwärtstreibende Leben sich nur in wenigen Weltstädten zusammenballt. Zu diesen Weltstädten zählt aber Wien. Es sind deren in Europa nicht mehr viele; etwa nur sechs oder sieben, die auf einen solchen ersten Posten Anspruch erheben können. Unter diesen nimmt Wien nicht einen letzten sondern einen mittleren Rang ein, und in der Zukunft kann es eher auf eine erste Stelle vorrücken, als zu einer letzten herabsinken, denn es ist ihm von Natur aus die Aufgabe zugefallen, das Thor Europas nach dem Osten zu bilden, und diese seine Weltstellung wird umso deutlicher hervortreten, je mehr sich das Weltnetz des Bahnenverkehrs nach dem Osten hin ausbaut. Alt-Wien gehörte Österreich; Neu-Wien gehört der Welt und auch der Altwiener, welchem es noch immer sympathischer ist, gemüthlich daheim zu bleiben und zu wirken, wird sich daran gewöhnen müssen, seinen Blick in die weite Ferne zu richten. Das sind Verhältnisse, welche weder künstlich emporgeschraubt wurden, noch auch in ihrer großen Entwicklung aufgehalten werden können. Ein wunderbares Geschenk ist es aber, daß durch hohe Maßnahmen, welche der Größe der hier zu lösenden Aufgabe entsprechen, freie Bahn geschaffen wurde zur Entfaltung aller Kräfte. An uns ist es jetzt, diese neue Ära muthigen Herzens und schaffensfroh zu begrüßen, daß die Geschichte uns dereinst nicht zu klein finde im Verhältniß zu unsern großen Aufgaben; der Erfolg wird uns sicher nicht täuschen.

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Gutachten über den neuen Baulinienplan für Teschen (1892) Manuskript. 5 Seiten, 4°. Vorder- und rückseitig beschriftet. Datiert 22. Januar 1892. Am Ende gezeichnet „Camillo Sitte mp.“, die Signatur nachträglich gestrichen. Kleinere Blaustiftredaktionen vorhanden. Sign. SN: 236–482.

Der vom 20. Dezember 1891 datierte Stadterweiterungs-Plan, welcher für die Bauertheilung des Gefertigten vorliegt, wurde am hochlöbl. städt. Bauamte verfasst, auf Grund der seinerzeitigen Begehung des gesammten Stadtgebietes und der detaillierten Besprechung aller früheren Pläne sammt aller einschlägigen Verhältnisse. Jetzt, wo dem Gefertigten die darauf basierte neueste Ausarbeitung des Herrn Stadtingenieurs Halek vorliegt, kann derselbe zunächst im Allgemeinen konstatieren, dass dieser Plan in tadelloser Weise im Detail durchgeführt wurde, mit vollem Verständnis aller besprochenen Grundsätze, ja mit Liebe und Herz für die Ausgestaltung der so schön gelegenen Stadt. Der Gefertigte steht keinen Augenblick an für die Durchführung dieses Projektes, nach allen seinen decennienlangen Erfahrungen und Studien, die volle Mitverantwortung zu übernehmen, in der sicheren Überzeugung, dass daraus etwas Praktisches und allgemein Befriedigendes zu Stande kommen wird. Die allgemeinen Grundsätze, nach denen vorgegangen wurde, zu motivieren, das muss allerdings dem vom Gefertigten herausgegebenen Buche: „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“1 überlassen bleiben und können dieselben hier nur in Kürze angeführt werden; dieselben sind: 1 . A n l a g e g u t e r H a u p t v e r k e h r s r i c h t u n g e n , m i t Vo r b e halt der Anbringung engerer Gassenmaschen [?] in der Zukunft. Darnach sind in jedem ersten allg. Baulinien-Plan, wie in dem vorliegenden nur möglichst große Verbindungsblöcke festzusetzen. Das ist von eminenter Wichtigkeit, denn man soll der Zukunft (ihren Bedürfnissen und Geschmacksrichtungen:) nicht ohne Noth vorzeitig die Hände binden und hiedurch der freien lebendigen Entwicklung unnöthigerweise Hindernisse bereiten. Gerade die Freiheit der Entwicklung im Detail ist ein unschätzbares 1

[Sitte, Camillo: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Wien: Graeser 1889 (Reprint der 1. Aufl. von 1889 in: CSG, Bd. 3. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2003).] Gutachten über den neuen Baulinienplan für Teschen (1892)

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Gut, eine Gewähr des Gelingens. Gerade die großen Baublöcke sind aber auch an sich wertvoller, weil nur hiedurch allen den zahlreichen Übelständen des modernen Schachbrettmusters ausgewichen werden kann. Es wäre daher erwünscht, für deren möglichste Erhaltung auch für die Zukunft jetzt schon Vorsorge zu treffen, damit Luft und Licht bei großen inneren Hof- und Garten-Räumen erhalten bleibt [sic!] und die Gassenfronten nicht unschön und auch unzweckmäßig zerschnitten werden. Dieser für eine Stadt geradezu wohlthätigen, für die Allgemeinheit wertvollen, größe [sic!] von Parzellen wirkt als stetige Kraft die Privatspekulation entgegen durch Ansuchen um Straßendurchbrüche etc. Hier wo die Werthsteigerung der Bauplätze durch solche Privatunternehmungen erst in 50 bis 100 Jahren zu erwarten steht, bis wohin die Bauplätze schon längst ihre Besitzer mehrfach werden gewechselt haben, wäre es möglich, jetzt im Interesse der Allgemeinheit, der Gesundheit, Schönheit und Annehmlichkeit, der Stadt Vieles zu retten, wie es bei anderen Städten, mit nicht so vortrefflicher Situierung nicht möglich wäre. Es wäre zu diesem Zweck, wo möglich, festzusetzen, dass bei Untertheilungen in der Regel nur schmälere Gassen gemacht werden mit dementsprechend niedrigeren Häusern, oder dass die Hauptfronten mit Thorbögen geschlossen bleiben und innere Vorgärten angeordnet werden müssten. Hiedurch wäre der Schönheit, der Behaglichkeit des Wohnens und den sanitären Anforderungen Rechnung getragen, allerdings auf Kosten der zukünftigen Bauplatzwerte. Es hat aber doch keinen Sinn, den Zukunftsbesitzern über 50 oder 100 Jahren jetzt ein Geschenk zu machen auf Kosten der Stadt, auf Kosten der Gesammtbewohner. Aber auch abgesehen davon, sollten möglichst große Parzellen jetzt festgesetzt werden, weil der Detail-Verbrauch sich immer nach besonderen Bedürfnissen richtet und daher stets erst dann geregelt werden sollte, wenn solche Fragen einmal vorliegen. Erfahrungsgemäß ist es auch für den hochl[öblichen] Gemeinderath einer Stadt in solchen Fällen möglich, keine freie Entscheidung mehr zu besitzen. 2. V o r s o r g e g u t e r S t r a ß e n m ü n d u n g e n In dieser Beziehung ist vor allem der schädlichen Kreuzungen von Straßen, besonders von Hauptstraßen auszuweichen und ebenso sorgfältig das keilförmige Zusammenlaufen mehrerer Straßen auf einen Punkt zu vermeiden. Die Gründe hiezu sind in dem eingangs citierten Buch und in diversen Artikeln von Tageblättern bereits eingehend von dem Gefertigten erörtert worden.

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3. Erhaltung vorhandener Schönheiten (alte schöne Bäume, schöne Fernsichten etc.) und eventuell Geltend­ machung derselben durch Anlage passender Plätze oder Avenuen vor Denkmälern oder schöneren Gebäuden etc. 4 . H u f e i s e n f ö r m i g e A n l a g e g e s c h l o s s e n e r Plätze u. ebenso abgeschlossener Gärten, welche nicht an der Straße liegen sollten, wo sie Wind und Staub preisgegeben sind; während gleichzeitig die für den Hausbau und Verkehr kostbare Straßenflucht ungenützt bleibt. Im Besonderen wäre zu dem vorliegenden Plan noch das folgende zu bemerken: Die S e r p e n t i n e n - S t r a ß e vom Mühlgraben zur Gärtnergasse ist unvermeidlich und wird als willkommene Abwechslung gegen das gewohnte und deshalb schon langweilige Straßengatter sehr gut wirken, besonders, wenn dort möglichst buschige Gartenanlagen gepflanzt werden. Der am oberen Eck derselben reservierte B a u p l a t z f ü r e i n ö f f e n t l i c h e s G e b ä u d e sollte grundsätzlich hufeisenförmig und nicht nach dem Blocksystem verbaut werden mit eventueller Thorbogen-Passage (wenn auch nur für Fußgänger) in den Trakehner [?]. Nach dieser Anordnung sind die prächtigsten wirkungsvollsten Lösungen für den Architekten einer hier zu errichtenden Schule oder Markthalle etc. schon bestens vorbereitet bei einem Minimum an Kosten und einem Maximum an Luft, Lust und Möglichkeiten origineller architektonischer Wirkungen mit bescheidensten Mitteln, während leider nach dem heute üblichen Blocksystem immer nur dieselben abgedroschenen Häuserkästen u. drgl. Übelständen mehr, wie man es überall schon kann. Die

prächtige

Bauanlage

neben

der

evangelischen

K i r c h e sollte um jeden Preis unverändert erhalten bleiben, dazu aber noch auf die Hauptfacade eine Avenue mit breiter Freitreppe angelegt werden, wie es der Plan anzeigt. Die in den Verhältnissen imposante Haupt-Facade dieser Kirche wäre in dem Sinne zu restaurieren, dass die allerdings unschönen Halbkreisfenster umgeändert würden, (theils vermauert, theils zu Langfenstern ausgestaltet), was leicht und ohne große Kosten durchführbar wäre. Die P a r k a n l a g e B . (neben der Dampfsäge) sollte der Zukunft zur Ausgestaltung vorbehalten bleiben, bis das für die Parkanlage A. in Vorschlag gebrachte System seine vielfachen Vorzüge vor der Öffentlichkeit dargethan und beliebt gemacht hat. Diese P a r k a n l a g e A . in der oberen Vorstadt ist so concipirt, dass die Fernsicht gegen das herrliche Gebirge offen bleibt, dass der Garten selbst sammt Kinder-Spielplatz vor Wind und Wetter geschützt wird, dass der kostGutachten über den neuen Baulinienplan für Teschen (1892)

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bare Straßenrand der dem Oberring so nahen Seiten der Verbauung durch Häuser nicht entzogen wird, dass der Garten trotzdem von allen Seiten frei zugänglich bleibt und zugleich leicht abgesperrt und überwacht werden kann. Alle diese wertvollen Eigenschaften ergeben sich sofort wie von selbst, wenn man nur den Muth hat dazu, wenn man nur einfach dem modernen Baukasten-System den Rücken kehrt und den alten Meistern des Städtebaues folgt. Darnach ist eine möglichst große Parzelle zu wählen und deren Rand für Bauplätze zu verwenden mit einer derartigen Tiefe, dass noch kurze Hoftrakte und genügend Haushöfe möglich sind. Diese Parzellen werden doppelt wertvoll sein wegen der guten Lage an frequenten Verkehrsrichtungen in der Nähe des Stadtzentrums, wegen der guten Luft und freien Aussicht nach rückwärts gegen den Garten und das Gebirge bei fallendem Terrain und wegen der unmittelbaren Nähe des zur öffentlichen Benutzung freistehenden Gartens obendrein. Zugleich entstehen ästhetisch höchst willkommene längere Häuserfronten und das stets reizende Motiv von überwölbten (eventuell auch überbauten) Thorbögen als leicht sperrbare Eingänge in den Garten. Die Höfe müssten durch eine etwa 3 m. hohe Mauer gegen den Garten abgeschlossen werden, und diese so wie etwaige Feuermauern müssten mit grünem Lattenwerk und Schlingpflanzen bedeckt und durch kleine Hügel mit Aussichtspunkten etc. markirt werden. Eine Restauration (Hotel etc.) und ein Caffé könnte Ausgänge in den Garten zu Wirtschafts-Annexen erhalten, was beiderseits von Wert wäre, ein Musik-Pavillon könnte noch angebracht und der Kinderspielplatz im Winter als Eislaufplatz eingerichtet werden, um so das Ganze mit geringen Mitteln zu einem beliebten effektvollen Volksgarten zu gestalten, der in seiner Art einzig dastehen würde, denn heute pflegt man alle Gärten ausnahmslos an die Straße zu setzen, wodurch aller Erfolg von vorne herein vereitelt wird. Der M a r k t p l a t z hinter der evangelischen Kirche könnte auf der so gestalteten Parzelle gleichfalls schön, praktisch und mit geringen Mitteln ausgestaltet werden, nur käme da alles auf das betreffende Projekt an. Eine schwierige Stelle ergibt sich bei der Z i e g e l e i K a m e t z a m S t a d t e n d e d e r K i e l i t z e r - K a u f s t r a ß e . Dort laufen drei Straßen spitzwinklig in eine Ecke zusammen, was aber an dieser Stelle nicht gut zu vermeiden ist. Ein einziges spitzes Hauseck ist schon abscheulich genug; aber zwei solche nebeneinander wirken geradezu unausstehlich. So gibt es keine andere Lösung, als die mittlere Straße mit einem Thorbogen zu überwölben, wo möglich mit Aufbau von einem oder zwei Stockwerken noch darüber. Hiedurch entsteht eine geschlossene breite Front und das würde wegen der Schönheit und Halt-

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

samkeit des Thorbogen-Motives den Übelstand sogar in eine Stadtschönheit verwandeln, falls die architektonische Konzeption der Facade in die richtigen Häuser kommt. Zur Verwirklichung dieser Idee wäre nur nöthig, beide Eckbauplätze als einzigen zu normiren und das Servitut des Thorbogenbaues darauf zu intabuliren. Im schlimmsten Falle würde dies eine kleinere Entwertung dieses Bauplatzes nach sich ziehen. In der F r e i s t ä d t e r V o r s t a d t handelt es sich vorläufig nur darum, der Zukunft nicht vorzugreifen, d. h. große Baublöcke mit wenigen Hauptstraßen und richtig geformten Plätzen anzuordnen. Der mittlere größere Platz wurde soweit als sogenannter Turbinen-Platz (wegen der in der Richtung von Turbinen-Armen einmündender Straßen) ausgebildet und alles Übrige möglichst dem Vorhandenen sich anschließend und möglichst allgemein gehalten. Die P a r z e l l i r u n g a m l i n k e n O l s a - U f e r gibt nach dem bisher Erörterten nicht mehr viel zu erklären. Mit Beibehaltung verschiedener vorhandener Wege erscheinen da zunächst möglichst direkte Verbindungen vom Bahnhof zu den vier Brücken über die Olsa angeordnet, wie sie auch früheren Plänen schon eigen waren. Beim Bahnhof wurde ein Stadt-EntreePlatz herausgeschnitten mit Wagen-Standplatz und dazu gehöriger Brunnen- (Tränke-) Anlage. Entsprechend der dereinstigen Nothwendigkeit eines Kirchenbaues wurde für diesen eine möglichst günstige Situirung und Platzanlage formiert. Dass die Kirche hiebei eingebaut gedacht ist, erscheint in dem eingangs citierten Werke eingehend motiviert als ästhetisch und praktisch weitaus günstigste Variante. Dass die G a r t e n a n l a g e n e b e n d e r S c h i e ß s t ä t t e nach denselben Grundsätzen wie die Parkanlage B. gestaltet ist und somit ähnlich, wenn auch nicht gleich geformt ist, kann direkt aus dem Plan ersehen werden. Das Wesentliche der Gesammtanlage besteht darin, weder dem Verkehre noch der Schönheit und Behaglichkeit (Gesundheit etc.) noch auch der Zukunft Hindernisse zu bereiten. Dieser negative Vorzug, nirgends das Gute zu verhindern, schließt nicht nur alle wesentlichen Anforderungen an einen brauchbaren Parzellierungs-Plan in sich, sondern enthält auch den inneren Grund der Nothwendigkeit solcher Pläne. Würde man nämlich solche Bebauungspläne nicht ausarbeiten, so würde die Privat-Laune alles derart in Unordnung bringen, dass ein vernünftiges organisches Ganzes gar bald unmöglich gemacht wäre. Ebenso wird aber eine glückliche Lösung gründlich vereitelt durch die in neuerer Zeit üblich gewordenen Quadrat-Kasten. In Gutachten über den neuen Baulinienplan für Teschen (1892)

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glücklicher Weise die richtige Mitte zwischen Bindung einerseits und freier Entwicklung andererseits zu finden, das ist die wahre Aufgabe eines guten Baulinienplanes. Diese Aufgabe erscheint nach allen Reisestudien und praktischen Erfahrungen des Gefertigten in vorliegendem Plan gelöst und kann derselbe mit voller Beruhigung dessen Annahme anrathen. Wien, 22. Jänner 1892 Camillo Sitte mp.

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Ferstel, Hansen, Schmidt (1892) Neues Wiener Tagblatt, 30. Januar 1892. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 165–370/1.

Wer die merkwürdige Zeit der ersten Wiener Stadterweiterung miterlebt hat, der geht heute mit gar eigenartigen Empfindungen durch jene Räume des Künstlerhauses, in welchen die Pläne und Skizzen der drei großen Meister dieser mächtigen Bauperiode ausgestellt sind. Es ist Allerseelenstimmung, von der man da ergriffen wird: durch die Huldigung der Abgeschiedenen; durch die Erinnerung an vergangenes Schaffen und Streben; ja sogar durch das trübe herbstliche Gefühl, daß die thatenkräftige Zeit selbst mit ihrer hell aufflammenden Begeisterung für Kunst und große ideale Schöpfungen zu Grabe gegangen ist. Wenn man diese Entwürfe, diese Konkurrenzen, zu einem letzten Mal aus den Mappen vor die Öffentlichkeit gebracht, wieder sieht, auf seither verstaubtem und vergilbtem Papiere, da tauchen mit ihnen vor der Erinnerung auch die Bastionen der alten Stadt und die leeren grünen Glacis wieder auf und die ganze Hoffnungsfreude der damaligen Zeit, in welcher an allen Ecken und Enden neue Ideen aufleuchteten, schimmernd und glitzernd wie Morgenthau. Und frisch und rüstig gings ans Werk, der Gedanke wurde zur That, es war eine Freude zu leben. Schaffende und Zuschauer waren gleichmäßig erfüllt von Begeisterung für alle diese großen Unternehmungen und die Zuversicht des Gelingens sprach sich in dem gleichen Wunsche aus: es noch zu erleben, das alles vollendet vor sich zu sehen. Heute stehen sie nun wirklich alle vollendet da, diese vor nur wenigen Dezennien projektirten Riesenbauten, kraftstrotzend und prächtig; aber die Stimmung der Beschauer ist nicht mehr dieselbe geblieben. An die Stelle kühner Schaffensfreude und froher Hoffnungen auf die Zukunft ist eine gewisse Nüchternheit getreten, eine gewisse leere Alltagsgeschäftigkeit; es ist so, als ob die Volksseele allen in ihr einst schlummernden Drang nach künstlerischer Bethätigung bereits in Thaten umgesetzt hätte und nun eine natürliche Reaktion, eine Zeit der Ermüdung darauf gefolgt wäre. Die Fragen, um deren Beantwortung sich gegenwärtig Alles dreht, wurden kurz und bündig zusammengestellt vom Niederösterreichischen Gewerbeverein, indem er zwölf Beratungskomités organisirte mit zwölf Referenten, und die Tafelrunde dieser zwölf brennenden Fragen lautet: „Stadtbahnfrage und Baulinienplan; Bauordnung; Expropriationsgesetz; Arbeiterwohnungen; Donauschifffahrt; Wienregulirung; Wasserversorgung; Stadtbeleuchtung; Kanalisirung; Verkehrsmittel; Verzehrungssteuer; Armenwesen.“ Ferstel, Hansen, Schmidt (1892)

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Wo blieb da die große öffentliche Kunstpflege? Wo unsere umfangreiche Wiener Kunstindustrie? Es ist wahr; Rathhaus, Parlament und Opernhaus kann man nicht noch einmal bauen. Auch das Stylstudium liegt bereits hinter uns und der Streit um die Berechtigung der Gothik oder Renaissance erhitzt nicht mehr die Geister, denn was dabei herauskommt, weiß man schon Alles ganz genau; ja sogar Phantasien über einen neuen finanziellen Aufschwung verfangen nicht, denn diesem könnte leicht wieder Überspekulation folgen, und was dabei herauskommt, weiß man auch schon Alles ganz genau. Kurz! Wir sind keine Neulinge mehr im Stadterweitern und nachdem das große Werk nun endlich angefangen wurde in wahrhaft großem Style und Besorgnisse neuerlicher Verschleppungen nicht vorhanden sind, so wird ruhig zugesehen, wie die Sache regelrecht in Gang kommt, ruhig zwar, aber nicht theilnahmslos, nicht blasirt, denn ein ganzes Volk ist das nie seinen wichtigsten Lebensbedingungen gegenüber. Die Stimmung wird schon lebendiger werden, sobald nur endlich die Projecte, die Worte zur That werden und endlich die ersten Früchte reifen. Bei den ersten Erfolgen werden dann auch die Herzen höher schlagen und dann wird man gewiß auch wieder der Kunst gedenken. – Ob es dann aber nicht zu spät sein wird? Ob der Poet dann nicht, wie in der Fabel von der Theilung der Erde, alles schon in festen Händen finden wird, so daß nichts mehr für ihn zu thun übrig bleibt, weder in der Donaustadt, noch am Quai, noch an der Wien oder sonst wo? Es ist nicht richtig zu glauben, daß bei unserer zweiten Stadterweiterung Kunstfragen ganz Nebensache sind. Vom national ökonomischen Standpunkte aus ist die stetige öffentliche Kunstpflege in einer großen Kunst- und Industriestadt unerläßlich. Nicht blos Teichgräber und Ziegelstreicher wollen zu thun haben, sondern auch Kunsttischler, Schnitzer, Maler, Tapezierer, Bronzearbeiter, Kunstschlosser, Bildhauer u.s.w. und gerade die Werke der großen öffentlichen Kunst sind es, die sich täglich und stündlich verzinsen. Gerade die an fleißige künstlerische Hände gespendeten Summen fließen wie durch feinstes Äderwerk in alle Schichten der Bevölkerung, besonders in die besseren, und ihre Werke sind ein bleibender Gewinn. Glücklich die Stadt, welche viele große Meisterwerke der Kunst ihr Eigen nennen darf zur Erhebung der Jugend, zur Freude der Alten, zur Stütze der Industrie. Die stetige Pflege der monumentalen Kunst im Dienste des Städtebaues ist aber auch nöthig aus patriotischen Rücksichten: zur Hebung des Selbstgefühles, des nationalen Stolzes, zur Stadtrepräsentanz.

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Man sage nicht, daß bei uns in dieser Beziehung schon alles geschehen ist. In dieser Beziehung ist niemals alles geschehen, denn Kunstpflege ist ein öffentliches Bedürfniß, dessen Befriedigung keine Zeit vernachlässigen darf. Wenn es wirklich nichts mehr zu thun gäbe, müßte man eigens neue Aufgaben ersinnen, denn man kann nicht ohne Kunst leben, ohne geistig tiefer zu sinken. Es ist aber auch nicht richtig, zu glauben, daß bei uns große Kunstaufgaben nicht mehr vorhanden sind. Es sind noch Kirchen, Theater und Museen zu bauen und noch Manches, was die stete Vermehrung der Bevölkerung mit sich bringt; gar nicht zu gedenken des Umstandes, daß der eigentliche architektonische Stadtbau bei uns noch nicht die geringste Pflege gefunden hat. Während das kleinere München schon längst seine Arkaden, seine Feldherrenhalle, Siegesthor, Propyläen, Ruhmeshalle und selbst die Kolossalstatue der Bavaria und sogar einen Obelisken besitzt, fehlt uns all’ dieser Hausrath des Städtebaues noch gänzlich und der Mangel an Monumentalplätzen ist bei uns so unerhört groß, daß man nicht einmal ein einziges Figürchen in der ganzen Stadt passend aufstellen kann. Eine ganze Kategorie des Städtebaues fehlt uns gänzlich, nämlich diejenige des Städtebaues an sich, in welchem die Motive desselben bis zu rein empfindungsmäßiger Höhe emporgehoben, endlich Selbstzweck werden. Es fehlt uns der S t ä d t e b a u a l s K u n s t w e r k . Das ist aber geradeso, als ob uns Musik als Kunstwerk an sich fehlen würde und sie nur bis zu derjenigen Grenze geduldet wäre, bis zu welcher sie den Nützlichkeitsnachweis zu erbringen vermag; also höchstens noch bis zu Tanzmusik und Marsch, in der Regel aber doch nur als Signalpfeife, Trommel oder Hausthorklingel, überhaupt nur dort, wo sie dem gemeinen Leben als Hausmagd dient, aber beileibe nicht dort, wo musikalische Töne sich anmaßen, als höherer künstlerischer Selbstzweck zu gelten. Man sage ja nicht, die Zeiten wären nicht danach, sich so theuren Luxus zu vergönnen. Kunstpflege ist kein Luxus, sondern ein unentbehrliches geistiges Nahrungsmittel; sonst könnten wir einmal auf ein paar Jahre alle Theater und Konzertsäle sperren und dabei Millionen ersparen, oder hat vielleicht der Stefansthurm oder der Rathhausthurm einen andern als blos künstlerischen Selbstzweck? Oder wäre denn das menschliche Leben überhaupt werth, gelebt zu werden ohne höhere ideale Weihe, wenn es so ganz nur auf den Boden alltäglichster Nüchternheit, auf die unterste Linie eines geistigen Existenzminimums gestellt würde? – Auf diese unterste Linie Stadterweiterungsprojekte zu stellen, ja sogar mit förmlich absichtlicher Vermeidung aller Kunstfragen, ist aber heute geradezu Mode, und wenn es dabei bleibt, so werden die Verkehrswege und Baulinien jetzt eine Fixirung erlangen, welche Ferstel, Hansen, Schmidt (1892)

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der Kunst in alle Zukunft hinein Schranken setzt bis zur thatsächlichen Unüberwindlichkeit derselben. Ein Gang ins Künstlerhaus zu den großen Meistern der ersten Stadterweiterung konnte unser Ehrgefühl in dieser Richtung aufstacheln. Welche Schaffensfreude, welches Ringen nach höchsten Zielen! Und können wir nicht zufrieden sein mit dem Erfolge dieser Thatkraft? Sollen wir den paar Millionen nachweinen, die das gekostet hat? Die Meister Ferstel, Hansen und Schmidt haben aber noch etwas Anderes hinterlassen außer ihren Monumentalbauten, nämlich: ihre Schüler. Eine ganze Generation von Künstlern aller Fächer wurde großgezogen in ihrer Schule, auf ihren Bauten. Sollen diese alle jetzt feiern, wo es so Vieles zu thun gäbe zur würdigen Ausgestaltung des großen Ganzen? Das Wissen und Können, das sie in ihren Schülern hinterlassen haben, ist wahrlich kein geringer Theil ihres künstlerischen Nachlasses. Sollen wir diese Erbschaft nicht antreten? Sollen wir ungenutzt dieses Kapital todt liegen lassen? Ist es denn vernünftig, derart mühsam errungene Schätze an edelster Volkskraft wieder zu vergeuden? Man vergleiche den Erfolg der letzten größeren Konkurrenz zu dem Bau der Frucht- und Mehlbörse mit den ersten Konkurrenzen aus den Fünfzigerund Sechzigerjahren. Wie mühsam mußten sich damals die bedeutendsten Talente aus sich selbst heraus erst emporwinden, und welche Menge gereiftester Kunstschöpfungen tritt bei gleichem Anlasse heute zu Tage! Es ist dies die Frucht des großen Schaffens; wo bleiben aber heute die zahlreichen Konkurrenzen, die großen künstlerischen Aufträge? Lediglich an den majestätischen Hofbauten spinnt sich der Faden des Kunstschaffens im großen Style noch fort; die bürgerliche Stadtverwaltung aber kennt Kunstfragen nicht, sondern nur andere Streitigkeiten von wahrlich oft nichts weniger als ebenbürtiger Wichtigkeit. Das ist es, was uns das Herz zusammenschnürt und eine Allerseelenstimmung erzeugt, wenn wir wie zum letzten Male von den verblichenen und vergilbten Plänen der großen Meister Abschied nehmen. Möge es anders werden! …

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Auf gleicher Höhe (1892) Neues Wiener Tagblatt, 15. Februar 1892, Abendausgabe. Im Nachlass befindet sich eine handschriftliche Abschrift mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 226–433. Abgedruckt in: Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1998, S. 203–206.

Wenn es einmal recht stürmt und wettert, am Morgen darauf uns aber wieder ein heiterer Himmel freundlich anlacht, so reden alle Leute davon, trotz hochgradiger Abgedroschenheit dieses Gesprächsstoffes; Niemandem fällt es bei, das Wetter ändern zu wollen, denn das wird hoch droben über den Wolken gemacht. Gerade so passiv verhält man sich gegenüber der Zumessung von Licht und Luft und freier Beweglichkeit in modernen Städten, denn das sind Dinge, welche auch hoch droben über den Wolken in der Sphäre der höchsten Mathematik und Geometrie ausgerechnet werden, und dem Laien schwindelt es, wenn er nur daran denkt. Merkwürdig! Ein neues Drama gilt sofort nach der ersten Aufführung für gut oder schlecht; ein neues Bild glaubt jeder rechtmäßig beurtheilen zu können, wenn er auch nie im Leben einen Pinsel in der Hand hatte und selbst das wundersam verschlungene Gewebe einer Symphonie zu loben oder zu tadeln, gilt als allgemeines gutes Recht, sogar, wenn man nicht einmal selber bei der Aufführung war. Wenn aber der Geometer-Mann sagt: „Das muß so sein“, ja! dann muß es so sein. Und wenn er sagt: „Das geht nicht anders“, dann geht es eben nicht anders; denn wo die böse Mathematik anfängt, hört die Kourage des Laien auf. Nur im Lichte dieser Beobachtung läßt es sich begreifen, wie geduldig, in ihr Schicksal ergeben, die Bevölkerung moderner Städte alle die großen, tief ins bürgerliche Leben, tief in den ganzen sozialen Verband einschneidenden Maßregeln des Städtebaues hinnehmen, ohne Kritik, ohne Bedenken, lediglich mit dem Gefühl, daß das eben so sein müsse und eben nicht anders gehe und daß man das eben nicht verstehe. Styl und Bauweise eines einzelnen Hauses, eines Theaters, einer Kirche werden kritisirt und reichlich besprochen; aber die Grundaustheilung selbst, die Bestimmung der Baufluchten, welche thatsächlich meist eine Hauptursache geringerer Wirkung der Gebäude sind, werden wie eine unabänderliche Naturerscheinung hingenommen, an der sich nichts ändern läßt. Ebenso verhält es sich mit den zahllosen N i v e a u - R e g u l i r u n g e n , welche heute an allen Ecken und Enden durchgeführt werden, ohne Zustimmung, ohne Widerspruch. Oder war es nicht sprachlose Resignation, welche die mächtige Niveau-Ausgleichung vom ehemaligen Salzgries bis zur Mündung der Rothenthurmstraße Auf gleicher Höhe (1892)

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begleitete? Heute noch kann man es sehen, wie die Leute verwundert stehen bleiben, bald tief in einen Schlund hinabsehend, wo das Trottoir mit entwertheten Geschäftslokalen sich menschenleer und düster hinzieht, bald hoch hinaufschauend an riesiger Böschungsmauer, wo wieder hoch droben die Häuser stehen, worauf sie kopfschüttelnd weiterziehen, zwischen Geländern und Sackgassen, zwischen Stiegen rechts und Stiegen links von allerlei Breiten und Tiefen und Längen. Eine öffentliche Diskussion hat dieses wunderliche Werk des Städtebaues noch nicht hervorgerufen, denn – das ist Alles so ausgerechnet, und was ausgerechnet ist, muß sein. Anno 1980, wenn es gut geht, wird diese Stadtsanierung zu Ende geführt sein und dann endlich vom gleichmäßig erhöhten Kanalufer alles schön bretteleben bis ins Innere der Altstadt hinein verlaufen. Bis dahin bleibt alles provisorisch. Die Erhöhung der Straßen wird sukzessive vorgeschoben, je nachdem es einzelnen Hausbesitzern beliebt, einen Neubau zu führen. Die Stützmauern und Stiegen werden dementsprechend immer wieder vom Neuen verändert, je nach Bedarf. Was das Alles kostet, braucht man jetzt noch nicht zu bedenken, denn es vertheilt sich auf eine unabsehbare Reihe von Jahren. Wie herrlich großstädtisch das Alles hundert Jahre lang aussieht, braucht man aber auch nicht zu bedenken, denn derlei beanständet erfahrungsgemäß Niemand. Ob es schließlich möglich sein wird, bei diesem echten Wiener System des stückchenweisen Regulirens zu beharren, da es denn doch kaum denkbar ist, die Häuser sprungweise einzeln zu erhöhen, wie man sie bei Straßenverbreiterungen einzeln sprungweise tiefer rückt, darum braucht man sich jetzt auch noch nicht zu kümmern, denn dieser Fall liegt noch nicht vor. Der Muth, ein solches Monstrum von Niveauregulirung zu schaffen, mit weiter Bindung auf lange Jahrzehnte hinaus, mit großem Vorhaben und kleinen Mitteln, ist nur allmälig bis zu dieser Stärke herangereift. Die ersten Versuche auf diesem Gebiete waren klein an Umfang, aber sehr nützlich für den Verkehr. Hieher gehört die noch sehr mäßige Abgleichung des sogenannten Esterhazy-Bergels in der Gumpendorferstraße, wo nicht viel geschah, aber dieses Wenige mit großem Nutzen für den Verkehr und ohne Schaden für die Hausbesitzer. Diesem folgte in gleichem Style die Verbesserung des Anlaufes der Mariahilferstraße und der Wiedener Hauptstraße. Aber der Mensch wächst mit seinen höheren Zielen und so brachte denn die Regulirung des Anlaufes der Nußdorferstraße schon eine stattliche Reihe von Böschungsmauern, Treppen, Geländern, Trottoirschlünden und von allen den sonstigen Folgen, welche eben unvermeidlich sind, wenn man sich einmal dazu entschlossen hat, eine Straße bedeutend zu heben, aber die Gebäude

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daran in ihrer Tiefe stehen zu lassen. Die Berechtigung dieser bereits energischen Maßregelung der von Natur aus gegebenen Bodenbeschaffenheit kann hier noch zugegeben werden, wegen der verhältnißmäßigen Geringwerthigkeit der dortigen Nebenstraßen und alten Häuser im Vergleiche zu der Bedeutung des Hauptverkehres an den Tramwayzügen; aber bei der Rothenthurmstraße, im Zentrum des Verkehres, mußte man sich entweder mit Geringerem begnügen oder, wenn dies nicht anging, das Ganze mit entsprechenden Mitteln um jeden Preis ordentlich zu Ende führen. So steht es aber heute: Alle diese Städteausweidungen und Geradrichtungen nach der Breite und nach der Höhe sind nicht bloß eine Nothwendigkeit, sondern vielfach auch blos eine Modekrankheit unserer Zeit. Alles Gute wird ja in Kunst und Mode und Leben so lange weiter gebildet und schließlich übertrieben, bis endlich die Karikatur handgreiflich zu Tage liegt und dann erst ein Besinnen, Umkehr, Mäßigung wieder eintreten. In anderen Städten ist dies hie und da noch viel ärger als bei uns. Da gibt es Straßendämme bis zu sechs Meter Höhe und Einschnitte bis zu fünfzehn Meter Tiefe. Als Regel hat sich eben allmälig herausgewachsen, daß Hauptstraßen nicht steiler als höchstens 1:50 und Nebenstraßen nicht steiler als 1:40 sein sollen. Überall wo eine stärkere Steigung entdeckt wird, glaubt man nicht eher ruhen zu dürfen, bis dieser offenkundige, bereits theoretisch feststehende Übelstand beseitigt ist. O du armes Genua! wie übel bist du daran, denn an dir ist Hopfen und Malz verloren, und nie wird es deinen bedauernswerthen Bürgern gelingen, die schöne, normale Straßensteigung zu erreichen. O du noch viel ärmeres Venedig! ohne Tramwayverästelung, ohne Ringbahn, ohne Omnibusse, ohne Tiefbahn gar und sonstige Dinge, die unerläßlich sind, um gut und behaglich leben zu können! Dennoch gibt es Menschen, denen es in Venedig besser gefällt als in Mannheim, und welche Genua schöner finden als Darmstadt; das sind aber nur Verblendete. Verblendete, welche Kunst und Mannigfaltigkeit lieben ohne Verständniß für die schöne Genauigkeit des fabriksmäßig Gleichartigen; Verblendete, welche noch immer glauben, daß die Wohnstätten der Menschen sich der Natur anpassen und eigenartig wie die Werke dieser großen Lehrmeisterin dastehen sollen. Fabrikswaare, das ist der Stempel des modernen geometrischen Städtebaues nach Normalien und Paragraphen, denn nur bei Fabrikswaare wird ebenso alles gleichartig aus demselben Model herausgestanzt. Wenn aber den Bedingungen des Lebens und der Natur entsprochen werden soll, dann verlangt beim Städtebau jeder einzelne Fall, wie eben bei jedem KunstAuf gleicher Höhe (1892)

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werke, eine besondere eigenartige Lösung. Hiezu noch ein hieher gehöriges Beispiel. Wenn man zum oder vom Südbahnhof fährt, findet man, daß die Kutscher, mit Vermeidung der Alleegasse, die Favoritenstraße oder Heugasse wählen. Auf die Frage nach dem Grund erhält man die Antwort, weil sie zu steil ist. Fährt Jemand zum Bahnhof, so sei er ungeduldig und wolle gleichmäßig schnell fahren, was in der Alleegasse nicht so gut ginge. Vom Bahnhof aber sei es wegen des schweren Gepäckes und der Eile ebenfalls mißlich. Thatsächlich ist nun weder die Steigung allzu bedeutend, noch der Unterschied irgend erheblich. Bei dem nervösen Bahnhofverkehr genügen aber die allerkleinsten Unterschiede um sie empfindlich zu machen. Man kann also nicht kurzweg normiren: Hauptstraßen sollen diese Steigung haben, Nebenstraßen jene; sondern das ändert sich so sehr nach der Art des Verkehres, der Art der Pflasterung und nach so vielem Anderen, wie Gewohnheit, Art der Wagen, der Pferde, Temperament des Kutschers und der Passagiere etc., daß es schließlich reine Gefühlssache wird, richtig zu entscheiden, ob im gegebenen Falle eine gewisse Steigung noch zulässig ist oder nicht und durchaus nicht bloßes Normalienexempel. An anderen Stellen der Stadt kann selbst eine an sich bedeutende Steigung ohne Schaden belassen werden und ist es bloße Manie da einzuschreiten. Hieher gehört bei uns die Niveauregulirung der Waisenhausgasse im neunten Bezirke. Diese ist überhaupt ein wahres Unikum und verdient, persönlich angesehen zu werden. Der Verkehr ist dort beinahe gleich Null, und wenn jeden zweiten Tag ein Komfortable und jede dritte Woche einmal ein Fiaker durchfährt, so soll das hochgegriffen sein. Von der Gemeinde hat auch gewiß Niemand diese geradezu klassische Regulirung verlangt, weder die Tramway noch die Lohnfuhrinhaber, noch der Thierschutzverein, noch sonst wer, am wenigsten die Natur des Objektes selbst, sondern sichtlich nur die moderne Geradrichtungsmanie. Was kam nun dabei heraus? An der Stelle des früheren Niveaubruches befindet sich die stärkste Abgrabung von mehr als drei Metern. Hiedurch wurde das frühere Erdgeschoß der beiden Häuser rechts und links zum ersten Stock und die Hausthore schwebten hoch oben in der Luft, ein Stockwerk über dem Trottoir. Auf der einen Seite half man sich, natürlich unter Genehmigung der Gemeinde, dadurch, daß eine hühnersteigartige Freitreppe roh aufgemauert wurde, um ins Hausthor zu gelangen. Das hatte wieder zur Folge, daß die Parteien wegen Gefährlichkeit und Unbequemlichkeit des Aufganges kündigten, eine Zinsreduktion nachfolgen mußte und der Eigenthümer schwer geschädigt in dem Werthe seines Besit-

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zes nun vor einer Besitzstörungsklage steht. Auf der anderen Seite wurde das frühere Kellergeschoß in ein Ebenerdgeschoß verwandelt mit neuem Haus­ thor und Vestibule. Nun sind aber die Keller verloren und das Gebäude hat kein ordnungsmäßiges Fundamentmauerwerk mehr. Auch ein schöner Fall. So geht der Eingriff in den Besitz von Haus zu Haus und von Nr. 5 liegt die wirklich eingebrachte Klage bereits der dritten Instanz vor. Und warum das alles? – wegen einer Normalienschrulle. Ob hier und anderwärts die Klagen wegen Besitzstörung wirklich vor Gericht gebracht werden, das ist für die Grundsätze des Städtebaues ebenso gleichgiltig wie der weitere Umstand, ob die Gemeinde den Prozeß gewinnt oder nicht; denn in jedem Falle haben die Bürger den Schaden; im einen Fall der Einzelne, im andern Falle die Gesammtheit. Dem Fanatiker des Geraderichtens ist das aber alles gleichgiltig, wenn nur sein Ideal erreicht wird, wenn auch erst nach hundert Jahren das alles auf gleicher Höhe steht.

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Die Bauwerke der Ausstellung (1892) Neues Wiener Tagblatt, 7. Mai 1892. Mit handschriftlichen Streichungen. Sign. SN: 167–372/1.

Wen durchrieselt nicht süße, frohe Kindheitserinnerung, wenn ihm zufällig wieder einmal die Verse unterkommen aus König Nußknacker: Doch Reinhold setzte sich sofort Und stellte Häuschen hübsch in Reih’ Und grüne Bäume auch dabei. Wer erinnerte sich nicht gerne der wonnigen Neugierde und schier athemlosen Verwunderung, als es dann weiter hieß: Sie fangen an sich auszustrecken, Sich links und rechts hinauszurecken. Süßer Traum der ersten Kindheitsphantasie! Hier stehst du nun verwirklicht für kleine und große Kinder. Hier stehen sie alle die Papphäuschen der Spielwaarenschachtel, aber alles naturgroß, daß man dazwischen herumspazieren und hineingehen kann: in die mit prächtigen Waaren gefüllten Kramladen, in die lauschigen Kneipleins; und lebensgroße Bäume rauschen rings herum und scheinen die kindliche Freude der kleinen Menschen mit elterlichem Behagen mitzuempfinden. Traun! Es kommt aber noch besser, denn auch an Mummenschanz und Puppenspiel wird es hier auf offener Bude nicht fehlen, wie männiglich bekannt. Es kommt ein Rother und ein Grüner, Die machen ihren Diener. Doch all’ diesem frohem Leben, dieser Schaustellung der Schaulust, diesem Theater des Theaterspielens sei nicht vorgegriffen; sondern diesmal nur der bauliche Rahmen geschildert, in dem sich das Ganze kindlich heiter und doch auch bedeutungsvoll bewegen wird. Eine so harmonische Verbindung zwischen ernster wissenschaftlicher Arbeit und ungetrübter Fröhlichkeit, wie sie dem Programme dieser originellen Ausstellung1 zugrunde liegt, mag archi1

[Die „Internationale Ausstellung für Musik und Theaterwesen“ fand vom 7. Mai bis 9.

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tektonisch schwer faßbar erscheinen; hier ist sie gelöst. Den ernsteren Bauten, wie dem auch für große Opern und Tragödien bestimmten Theater fehlt es nicht an liebenswürdiger Leichtigkeit in Formen und Farben; während dem Zentrum der reinen Ausstellungslust, dem naturgroß modellirten a l t e n S t a d t p l a t z 2 , durchaus nicht ernstere Bedeutung abgesprochen werden kann. Nach Zweck und Ausführung eine plastische Theaterdekoration ersten Ranges, in welcher das Publikum gleichsam selbst mitzuspielen berufen ist, dient dieses Schaustück doch zugleich anderen ernsteren Fragen des Bauwesens. Wegen der unmittelbaren Nähe mit der wirklichen modernen Stadt wird unwillkürlich die Vergleichung angeregt und so wie man dabei handgreiflich finden wird, daß die moderne Nüchternheit des Städtebaues weit zurücksteht hinter dem simpelsten Bild eines alten Platzes in Bezug auf malerischen Reiz und gemüthliches Behagen; ebenso wird man mit einem Blick einsehen, daß anderseits diese kleinbürgerlichen Verhältnisse und Formen einer modernen Großstadt doch wieder nicht einverleibt werden könnten. Es wäre wohl nützlich, wenn recht Viele und besonders solche, welche in Fragen unserer Stadterweiterung mitzuarbeiten haben, sich dieses Stadtplatzmodell darauf hin ansehen würden. Eines dürfte dabei noch als zutreffend erkannt werden, nämlich daß der schon vor Jahren aufgetauchte Vorschlag schwierige Probleme der Stadterweiterung dadurch zur Lösung vorzubereiten, daß projektirte Monumentalanlagen (forumartige Plätze, Arkaden etc.) bei Gelegenheit von Ausstellungen naturgroß als Ausstellungsgebäude modellirt werden sollten, ausführbar sei. Die Möglichkeit und Ersprießlichkeit eines derartigen Vorganges ist durch dieses gelungene Beispiel hinlänglich erwiesen. Statt bei Ausstellungsbauten der Phantasie frei die Zügel schießen zu lassen, wären jeweilig geeignete Zukunftsstadtplätze naturgroß zu model­ November 1892 im Wiener Prater statt. Initiiert von der Fürstin Pauline von MetternichWinneburg, die den 100. Todestag Mozarts über die üblichen Gedenkfeiern hinausgehend würdigen wollte, wurde die Veranstaltung in Form einer groß angelegten internationalen Ausstellung realisiert, an der sich neben Deutschland, das im Verbund mit Österreich-Ungarn ausstellte, Italien, Spanien, Frankreich, Großbritannien und Irland, die Niederlande, Schweden, Russland, Polen und die USA mit eigenen Fachausstellungen beteiligten. Siehe: Schneider, Siegmund (Hg.): Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen Wien: 1892. Wien: Perles 1894.] 2

[Die Pläne für das „Alt-Wien“-Ensemble mit inkludierter Gastronomie und einer „Hanswurst“-Bühne in der Mitte stammen vom Chefarchitekten der Ausstellung, Oskar Marmorek. Es ist eine Rekonstruktion des Hohen Markts in Originalgröße auf Grundlage der 1683 erschienenen 3. Auflage von Jacob Hoefnagls Vogelschau der Stadt Wien im Jahre 1609, die allerdings nur die Fassaden an der Südseite des Platzes zeigt.] Die Bauwerke der Ausstellung (1892)

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liren und hiedurch unter Einem gleich Zweierlei zu erreichen. Wenn man für Erlangung bloßer Konkurrenzpläne sich entschließen kann, siebzigtausend Gulden aufzuwenden, so könnte die Herstellung solcher Naturmodelle am Ende sogar subventionirt werden, nachdem man jetzt weiß, wie leicht dieser Vorgang bei Ausstellungen zu verwirklichen wäre. Dem Modell des Hohen Marktes wurde der Stich Vischer’s vom Jahre 1650 zu Grunde gelegt nach der Originalaufnahme des Kammermalers Hufnagel. Sehr gut und zugleich echt alterthümlich wirken die im Platzraum stehen gebliebenen Baumgruppen und auch der Mangel einer Pflasterung des Platzes, wozu bemerkt werden muß, daß auf alten Kupfern selbst die wichtigsten Plätze von Rom und Paris noch ungepflastert erscheinen bis tief ins vorige Jahrhundert hinein und darüber, sowie man es im Orient und in Konstantinopel heute noch antrifft. Macht sich sehr gut und kostet wenig, ist aber nicht Mode. Den Zwecken der Theatervorstellungen und Konzerte dient das am Westende erbaute Theater und die neben der Rotunde stehende Musikhalle. Bei den kleineren Neubauten für das chinesische Schattenspiel und Anderes kommt mehr der Inhalt in Betracht als das Gebäude; Ein hervorragendes Stück ersten Ranges, welches gleichfalls noch der bildenden Kunst angehört, ist das Panorama des berühmten Hamburger Marinemalers Hans P e t e r s e n .3 Dieses Rundgemälde gehört zu den größten und ist vielleicht das gelungenste von allen, eine wahre Sehenswürdigkeit. Es stellt die Ankunft des Bremer Dampfers „Lahn“ im Hafen von New-York vor. Die Betrachter des Panoramas befinden sich auf dem Hinterdeck des Schiffes, fahren also selbst mit, und diese drastisch wirkende Idee ist so trefflich durchgeführt, daß nirgends ein nur stecknadelgroßes Ding zu sehen ist, das die Illusion stören könnte. Die Treppen des Auf- und Ausganges zum Ansichtsraum sind als Kajütentreppen dekorirt, das Geländer wahres Schiffsgeländer, an Deck eine Boussole und alles Übrige, wie es dort auf großen Dampfern zu sein pflegt; die Oberlichtblende ist als Schiffsplache gegen die Sonne gedacht und das Publikum gehört somit selbst zum Bild, denn es stellt die Passagiere vor. Dabei sind die zahlreichen Dampfer und Segelbote, die im Nebel bläulich wie ein Luftbild dastehende Freiheitsstatue und alles Übrige so drastisch

3

[„Einfahrt eines Lloyddampfers in den Hafen von New York“ vom Marinemaler Hans Petersen (1850–1914). 1890 in Bremen entstanden wurde das Panorama in der Folge auch in Frankfurt und Berlin ausgestellt. Vgl. Oettermann, Stephen: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt/M.: Syndikat 1980, S. 213f. Oettermann erwähnt nicht, dass das Panorama auch in Wien ausgestellt war.]

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naturwahr dargestellt, daß man es in Wirklichkeit zu sehen glaubt und das leicht bewegte Meer glitzert durch die von Kohlendampf erfüllte Luft derart, daß es sich zu bewegen scheint. Das ganze ist ein Meisterwerk in seiner Art. Außer Petersen ist aber noch ein Wiener Meister zu nennen mit einem eigenartigen, trefflich zur ganzen Ausstellung passenden Werk. Maler J . H o f f m a n n , welcher die gesammten Dekorationen zum Nibelungenring für Bayreuth geschaffen hat, faßte die Idee und führte sie auch aus, einen eigenen Ausstellungspavillon zu errichten für die auf Richard Wagner bezughabenden Ausstellungsobjekte, und zwar in Form der Halle des Königs Gunther (der sogenannten Gibichungenhalle), wie sie in der Götterdämmerung vorkommt.4 Dieser Bau aus riesigen Stämmen urweltlich schwer und derb gezimmert, voll prähistorischer Ornamentik in Farbe und Schnitzerei, wird nebst einem offenen Vorraum enthalten eine große viereckige Halle mit dem Thron und Ehrensitzen und den Sitzen der Sippen, in welchem sich eine zum Nibelungenring gehörige Ausstellung von Theaterkostümen und Waffen, bildliche Darstellungen der Dekorationen, eine große Büste Wagner’s und sonst Passendes befinden wird. Um die drei rückwärtigen Seiten legt sich ein breiter Gang mit der Wagner-Ausstellung, bestehend aus Partituren, Briefen, Porträts etc. Das Ganze steht in einer waldigen Ecke, so daß beim Ausblick aus dem Innern der Halle nur Gebüsch und Wald sichtbar wird. Das Ganze ist eben als dekoratives Kunstwerk lediglich auf Stimmung berechnet, geradeso wie die Bühnendekoration selbst, welche diesem naturgroßen Modell zugrunde liegt. Die urweltlich gewaltige Stimmung ist trefflich erreicht und anderes wurde naturgemäß hier nicht erstrebt. Irrig aufgefaßt wäre die Absicht daher auch, wenn man glauben würde, daß eine archäologische Rekonstruktion altgermanischer Holzbauten versucht wurde. Nicht um das handelt es sich hier, sondern um eine sozusagen musikalisch richtige Stimmung. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei erwähnt, daß Reste altgermanischen Holzbaues eben nirgends vorhanden sind, auch nicht in Zeichnungen, und daher derlei nur sehr schwierig hypothetisch konstruirt werden kann. Am meisten lagen Anhaltspunkte vor zu 4

[Für eine Beschreibung und fotographische Dokumentation des Projekts siehe: Hoffmann, Josef: Die Gibichungen-Halle in der Internationalen Musik- und Theaterausstellung. Wien: o.V. 1892. Über den Maler Josef Hoffmann (1831–1904) siehe Mönninger, Michael: „Camillo Sitte als Kunstkritiker“, in: CSG, Bd. 1 (= Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2008), S. 47–85. Im selben Band sind auch mehrere Besprechungen Sittes zu Hoffmanns Landschaftsgemälden und Bühnenbildern für Richard Wagner dokumentiert.] Die Bauwerke der Ausstellung (1892)

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der Dekoration mit den häufigen Drachen- oder Lindwurmbildern und dem bekannten nordischen Riemenflechtwerk und Ähnlichem. Ebenso gibt es für die gewählte dreischiffige Hallenanlage Anhaltspunkte in der Konstruktion der ältesten sächsischen und friesischen Bauernhäuser. Dagegen weisen alle Nachrichten, sonstige Spuren, Klima, Lebensweise, die späteren Bautriebe der nordischen Völker und ihnen eigenthümliche, den Südländern fremde Konstruktionen darauf hin, daß ihre Häuser nicht durchaus Blockwandbauten (wie in der Schweiz) gewesen sind, sondern Auszimmerungen zwischen stehen gelassenen gewachsenen Bäumen, und daß sie bereits steile Sparrenstühle hatten und nicht flache Dächer mit Pfettenstuhl, wie die Südländer. Endlich haben sie bestimmt keine Oberlichten (ähnlich den griechischen Hypetralanlagen) gehabt, sondern kleine Seitenlichtöffnungen, und zwar wahrscheinlich schon reihenweise unmittelbar unterm Hauptgesimse, welches Motiv in der frühen romanischen Architektur so beliebt war, was hiedurch verständlich würde. Eine hochinteressante Beschreibung einer altnordischen (gothischen) Burg stammt von dem Römer Priscus, der als Gesandter am Hofe Attilas sich aufhielt. Nach dessen Beschreibung hatte dieser Bau himmelanstrebende Thürme, bestand aus Hölzern, die wunderbar schön polirt und genau aneinander gefügt waren, daß sie nur ein einziges Stück zu bilden schienen und das Dach ruhte auf sorgsam behauenen Ständern, zwischen denen eine Reihe zierlicher Holzbögen sich wölbte, die auf Säulchen gestützt, gleichsam die Arkaden einer Galerie bildeten. Da meint man doch die Beschreibung eines frühromanischen Domes vor sich zu haben und gar Manches von diesen frühesten nordischen Steinbauten muß auch nothwendigerweise von altgermanischem Holzbau abstammen, weil es sich als bloße Weiterbildung aus der spätrömischen Architektur heraus schlechterdings nicht erklären läßt. Mit diesem Typus stimmen auch die Holzkirchen Schwedens noch gut überein. In den ältesten derselben kommen auch gewachsene Standsäulen im Boden noch wurzelnd vor. Das hochstrebende Sparrendach ergibt sich auch aus der Konstruktion, derzufolge die Sparren auf einem First, auch Anspann oder Riesenbaum genannt, auflagen, der wieder von einer Firstsäule getragen war, wie dies aus der ältesten lex bajuvariorum hervorgeht. Auch die Ruinen der ältesten deutschen Herzogspaläste und Kaiserpfalzen enthalten in Steinbau übersetzte Holzkonstruktionen ältester Art, welche diese Annahmen bestätigen, so der Kaisersitz von Goslar, die Barbarossaburg zu Eger und zu Gelnhausen und die Burg Dankwarderode in Braunschweig.

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Als archäologische Studie ist also die hier vorgeführte Gibichungenhalle mit ihren starken Anklängen an den griechischen Tempelbau gewiß nicht aufzufassen, sondern eben nur als das, was sie ist und sein will: eine plastische, massive Theaterdekoration. Die streng wissenschaftlichen Bestandtheile der Ausstellung, welche außergewöhnlich viel versprechen, sind in der Rotunde untergebracht. Die Installation hat hier Architekt B a r t e l m u s geleitet und den Innenraum der Rotunde, diesmal frei von allem Kastenwerk, in ein reizendes Gartenparterre verwandelt. So bietet also schon der äußere Rahmen der baulichen Unterbringung allenthalben Neues und Anziehendes mit dem gemeinsamen Charakterzug des musikalisch Stimmungsvollen, des theatralisch Heiteren; die ganze Ausstellung selbst hat Stimmung, sie ist wie ein schwungvolles Musikstück selbst in einer bestimmten Tonart komponirt, und zwar in einer fröhlich sonnigen.

Die Bauwerke der Ausstellung (1892)

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Über die Erhaltung des Gurker Domes und dessen Malereien (1892) Sonderdruck, Wien: k.k. Hof- und Staatsdruckerei, o.J., S. 1–8 (Erstveröffentlichung in: Mittheilungen der k. k. Central-Commission zur Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmäler, Neue Folge, Jg. 18 (1892), S. 53–56; S. 75–80). Sign. SN: 191–452/3. Acht Abbildungen.

Die Inangriffnahme von Restaurations-Arbeiten an dem herrlichen Dom zu Gurk ist in keiner Weise dringlich, indem derzeit nirgends Gefahr droht. Ein wohl erhaltenes Dachwerk gibt oben den nöthigen Schutz und einige in neuerer Zeit angelegte Entwässerungsgräben besorgen die Trockenhaltung des Mauerwerkes. Gegen Unbill im Inneren ist dadurch vorgebeugt, dass sich bereits in der ganzen Bevölkerung ein gewisser Begriff von dem hohen Kunstwerthe des Ganzen festgesetzt hat. Einzig und allein müßte man vor einer Restaurirung zittern, denn diese Unglücksunternehmungen haben noch fast überall geschadet und das zehnfache von dem zerstört, was sonst dem Zahne der Zeit verfallen ist. Bekanntlich werden, dem Gange der sich immer mehr entwickelnden Einsicht in das Wesen alter Kunstschöpfungen folgend, alle Restaurirungen mit der Zeit barbarisch gescholten, wenn sie auch vor zehn oder zwanzig Jahren noch als Musterleistungen bewundert wurden. Demgemäß erscheint es zweckmäßig, von Zeit zu Zeit eine allgemeine Umschau auf diesem Gebiete zu halten und den momentanen Stand der Restaurationsfrage als solchen zu definiren. Hiezu gibt nun der Gurker Dom mit seiner merkwürdigen Ausstattung an Malereien und sonstigen Kunstwerken ein treffliches Demonstrations-Object ab und in diesem Sinne seien denn die folgenden Beobachtungen und Ansichten zur Mittheilung gebracht.

I. Die architektonische Restauration. Was zunächst die Restauration der großen constructiven Bestandtheile betrifft, so ist man endlich darin einig geworden, dass es sich hiebei nur um das „Erhalten des Vorhandenen“ handeln sollte, demzufolge jede Art eigener Zuthaten ausgeschlossen sein soll. Nach dieser guten Regel können eine Menge von Arbeiten ohne jedes Bedenken stets vorgenommen werden, z.B. Reconstructionen von Dachwerken, falls die alte Form und Construction beibehalten wird; Auswechslung von Stiegenstufen, Gesimstheilen und sonstigen Werkstücken aller Art, falls sie genau nach vorhandenem Muster gemacht werden können.

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Man sollte es kaum glauben, dass alles sofort bedenklich und zweifelhaft wird, was über diesen knappesten Rahmen hinausgeht, welcher so enge Gränzen zieht und dass es in jedem vorliegenden praktischen Fall kaum möglich ist, sie nicht zu überschreiten. Sobald zu bauen angefangen wird, beginnt schon nothwendigerweise das Zerstörungswerk des historisch Gewordenen und wäre es auch nur das Abschlagen eines alten Mörtelverputzes oder die Veränderung irgend eines bisherigen Gesammt-Effectes. Das oft aus technischen Gründen kaum zu umgehende Wegnehmen irgend eines alten Bestandes wird stets und auch mit Recht den Historiker bedenklich machen, der Beispiele genug kennt von wichtigen Aufschlüßen über die Vergangenheit aus unscheinbarsten Dingen heraus; selbst ein Mörtelstück kann in seiner Zusammensetzung, Schichtung und mehrmaligen Tünchung Aufschluß geben über die Zahl und Zeit verschiedener früherer Restaurationen und mit einem halb zerstörten Gesimsstückchen kann ein wichtiges Steinmetzzeichen oder eine letzte Farbspur ältester Bemalung verworfen worden sein. Vielleicht war auch sonst noch bedeutendes an diesem Stück zu sehen, das wir heute aus Unkenntnis noch gar nicht beachten. Der allzuängstliche Historiker müßte jedes Denkmal unter einen Glassturz stellen und überhaupt keine Hand daran rühren lassen. Allzuängstlich! Ein gefährliches Wort; denn die Unmöglichkeit damit praktisch auszukommen hat schon manchen verleitet, allzu wenig ängstlich zu sein und gerade im flotten Zuge der Arbeit hat schon manche Restaurirung mit kecken Neuerungen geendet, die mäßig nach dem Grundsatze der bloßen Erhaltung des Vorhandenen begonnen wurde. So zieht die lebendige Natur immer wieder einen frischen grünen Teppich über die Ruinen der Vergangenheit. Leichter als das Verbot des Wegnehmens scheint das Verbot des Hinzu­ thuns ausführbar und doch dürfte dessen Verletzung weniger gefährlich sein. Der zukünftige Historiker wird es ja wissen, wo der alte Bestand aufhört und der neue beginnt. Dem entsprechend ist es hier auch meist nur die Sentimentalität der Zeitgenossen, welche den gewohnten Effect des Ganzen nicht missen will. Eines der berühmtesten Beispiele hiezu ist die schon längst nicht mehr neue Restaurations-Streitfrage, ob zu Wien am Stephansdome der zweite Thurm ausgebaut werden dürfe oder nicht. Wie sich ein zweifellos unbedenkliches Erhalten ohne jedes Wegnehmen und Hinzuthun praktisch gar nicht durchführen läßt, kann an dem dermaligen Bauzustande des Gurker Domes deutlich gezeigt werden. Eine theilweise Deformirung des Hauptgesimses an der Südseite stellt Fig. 1 dar. Wie hier vorzugehen wäre, ist klar. Der Pflanzenwuchs muß beseitigt, die geborstenen Über die Erhaltung des Gurker Domes und dessen Malereien (1892)

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Fig. 1

Steine müßen durch neue ersetzt, die verschobenen wieder an ihre Stelle gerückt und bereits gänzlich abhanden gekommene Stücke nach dem Muster der alten neu aufgesetzt werden. Form, Steinschnitt und Ornamentation sind noch scharf erhalten und das herrliche Material des alten Baues ist heute noch zu haben, es stammt offenbar aus Pörtschach am Wörthersee aus dem alten Römerbruch; denn dieser marmorartige Stein ist unter allen körnigen Urkalken Kärnthens, wie sie in 26 Arten zu Klagenfurt in der Gewerbehalle zu sehen sind, der einzige, welcher genau dem Materiale des Gurker Domes entspricht. Zweifellos sind die ganze Südseite und die Absiden weder abzustocken noch zu putzen (woran selbst in früheren schwungvollen Verputzperioden niemand dachte), sondern in ihrer jetzigen herrlichen Wirkung unberührt

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Fig. 2

zu belassen. Ein heiteres Stückchen ist hier einem älteren RestaurationsKreuzköpfchen aber doch passirt, indem die alten Gerüstlöcher mit Mörtel verstopft wurden. Es drängt sich unwillkürlich die Idee auf, nun auch die Haupt-Façade und die Nordseite aus dem dicken Mörtelputz herauszuschälen und in dem prächtigen Quadergefüge der Südseite erscheinen zu lassen. Der Tradition nach soll dieser Verputz nach dem großen Brande von 1803 angelegt worden sein. Vielleicht liegt hierin der Grund, warum nur die vom Brande heimgesuchte und beschädigte Nordseite derart restaurirt wurde; über den Zustand des darunter verborgenen Mauerwerkes muß man aber trotzdem nachdenklich werden. Eine Probe des heutigen Aussehens bietet Fig. 2. In dieser ist a ein alter Friesrest; b Putz gröbster Sorte; c ist Putz mit gemalten Quadern wie am Thurm und d schöne romanische Quaderschichtung wie an der Südseite. Aus Über die Erhaltung des Gurker Domes und dessen Malereien (1892)

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Fig. 3

dieser Mischung erhellt, dass nicht durchaus reines Quaderwerk vorhanden sein kann, denn sonst würde man alles unverputzt gelassen haben, wie an den Apsiden und der Südseite. Es erhellt dies besonders daraus, dass die Steinquadern in Farbe nachgeahmt wurden und somit weder der Sinn für deren Schönheit noch auch für das wünschenswerthe eines gleichartigen Effectes rings herum gefehlt hat. Wahrscheinlich passten einzelne Stellen nicht und wer weiß, wie elend das schlechte Mauerwerk derselben gegen die wohlgefügten alten Parthien abgestochen hat, so dass der Wunsch nach Mörtelverhüllung entstand. Um hievon möglicherweise Spuren zu entdecken, wurde die Zeit des Sonnenunterganges zu nochmaliger Betrachtung gewählt, zu welcher Zeit die Lichtstrahlen beinahe parallel an der Nordwand entlang streichen. Da zeigte sich nun an der Seitenschiffwand das überraschende Phänomen einer Abschattirung der Wand, wie es in Fig. 3 dargestellt ist. Die dunklen Stellen sind hervorgerufen durch Unebenheiten, welche bei vorbeistreichendem Licht eine Menge kleiner Schatten werfen und das Bild, das sie geben, zeigt, dass sich hier einmal ein Säulengang befand, der mit seinen Gewölben in die Seitenschiffmauer eingebunden war, nach dessen Demolirung die Rauhigkeiten der Mauerstellen sich durch den Mörtel hindurch noch merkbar machten, vielleicht erst im Laufe der Zeit durch Schwinden oder Wachsen desselben bei unregelmäßiger Dicke. Bringt man dies in Zusammenhang mit

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Fig. 4

Fig. 5

dem Umstande, dass durch die Malereien des Nonnen-Chores nachträglich Thüren ausgebrochen wurden, aber nach ihren Formen doch schon in sehr früher Zeit (Fig. 4 und 5), so kann man kaum anders, als anzunehmen, dass für die Nonnen hier nachträglich ein Gang angebaut wurde, um direct aus ihrem Klostertract in ihr Oratorium zu gelangen. Hier dürften also arge Zerstörungen des alten schönen Quaderwerkes unter Putz und Tünche verborgen liegen. Noch schlimmer dürfte es an der Haupt-Façade mit den Thürmen bestellt sein. Nach Angabe Schellanders (nach nicht citirter Urkunde) wurden die Thurmhelme in jetziger Gestalt 1678–1682 von Adam Tellacher, HofkammerZimmermeister zu Graz, hergestellt um 1200 fl. und 12 Reichsthaler Trinkgeld. Dem Baustyle nach gehören auch die oberen Geschoße dieser Zeit an, wie aber das Mauerwerk derselben beschaffen ist, läßt sich ohne genauere Untersuchung nicht sagen. Schwerlich gleicht es dem altromanischen Quaderwerk der Südseite. Worauf liefe also die Idee hinaus alles im ursprünglichen Geiste der ersten großen Anlage im alten romanischen Style wieder erstehen zu lassen? Auf einen förmlichen Neubau ganzer Partien, Cassirung der späteren Thurmgeschoße etc., also auf diejenige berüchtigtste Art des Restaurirens, wobei man glaubt, sich zum Stylrichter der Vergangenheit aufwerfen zu dürfen und dasjenige einheitlich zusammenmodeln zu können, Über die Erhaltung des Gurker Domes und dessen Malereien (1892)

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was im Laufe des geschichtlichen Werdens eben gar verschiedenartig gera­ then ist. So weit gehende Consequenzen blos wegen des Wunsches den unschönen Mörtelputz zu beseitigen! Höchstens als akademische Aufgabe, lediglich am Papiere zu lösen, könnte eine rein romanische Durchbildung versucht werden, wozu die alten Siegelabdrücke, welche die Thürme noch mit zwei Stockwerken, romanischen Doppelfenstern und niederem pyramidalen Dach zeigen und über den Conchen steile Kugeldächer, herangezogen werden könnten wobei zugleich berücksichtigt werden könnte, dass die alte Bedachung der Seitenschiffe nicht so steil war, wie aus der Bearbeitung der Mittelschiffmauer geschlossen werden kann u. dgl. mehr. Der Restaurator wird aber auf allen solchen zweifelhaften und obendrein kostspieligen Ruhm verzichten müßen und jeweniger er sich zu schaffen macht, desto besser. Zu diesem Wenigen sollte überall die sofortige Aushebung von Grabplatten aus dem Fußboden gehören und deren Aufstellung an der inneren Kirchenwand oder an sonst geeigneter Stelle. Im Gurker Dom befinden sich eine Reihe solcher Steine mit Relief und Inschrift im linken Seitenschiffe unter den Sitzbänken, welche unter diesem Schutz noch gut erhalten sein dürften. Im rechten Seitenschiff sind noch fünf gut erhalten, während die Inschriften der neun im Mittelschiff befindlichen schon abgetreten sind.

II. Die alten Dom-Fresken. Außer den berühmten Fresken des Frauen-Chores und der Vorhalle finden sich fast überall an den Wänden unter der Kalktünche noch Spuren von Fresken. Ein leises Abklopfen lockerer Stellen, denn gewaltsam durch Kratzen etc. soll derlei nie geschehen, hat überall farbigen Grund zu Tage gebracht und zwar an verschiedenen Stellen Spuren romanischer (?) ConsecrationsKreuze, bei welchen das Aussparen mit den späteren Tünchen ersichtlich ist; ferner im rechten Seitenschiff vom Portal aus unterm vierten Fenster Spuren einer lebensgroßen Maria-Krönung nach Technik und Styl aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; darunter Spuren einer weitläufigen Inschrift, überzogen mit einer älteren Weißigung aus zwei Lagen und einer späteren. Unter dieser doppelten Weißigung ist fortlaufend überall harter alter FrescoGrund mit spiegelnder Oberfläche noch zu constatiren bis zur Conchenstiege über der Unterkirche. Hie und da kommen Spuren einer Sockel-Burdure mit Stoffbehang-Muster wie Fig. 6 zum Vorschein und auf dem oberen 0,11 M. breiten Streifen Spuren einer Inschrift, die sich vielleicht noch weiter verfolgen läßt, von der aber vorläufig nur das Wort PRIMVS in dem aus Fig. 7 ge-

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nau ersichtlichen Schriftcharakter zu Tage liegt. Am Pfeiler bei der Kanzel kamen Reste einer Figur mit plastischem Nimbus und mit Schwert-(?) Gürtel zum Vorschein, auch hier überdeckt mit zwei ÜbertünchungsSchichten, von denen die ältere eine derbe rothe Bemalung zeigte in barockem Charakter. Der nächste Pfeiler gegen das Portal zeigt nur zwei dünne Kalkschichten und wieder der nächste Pfeiler, zwischen Mittel- und Seitenschiff, die Quaderfugen mit Ockererde ausgekittet. An sonstigen Stellen der unteren Wandflächen besteht die obere Tünchung aus vier dünnen Blättern, die tieferliegende

Fig. 6

ältere theilweise farbige aber immer aus zwei Lagen. Der ganze Befund lehrt, dass der Dom in der Zeit des romanischen bis Ende gothischen Styles allmählig

Fig. 7

(vielleicht ziemlich stetig) einen immer reicheren Schmuck an Wandmalereien erhielt, welche aber doch zuletzt noch immer, wie es scheint, nicht complet alle Wände füllten. Die technische Herstellung mag im Laufe der Zeiten eine verschiedene gewesen sein; die Richtigkeit der schon von Haas1 ohne Analyse gewagten Behauptung, dass die Bilder des Nonnen-Chores mit Harzfarben gemalt seien und die öfter sonst ausgesprochene Behauptung, dass die Malereien der Vorhalle Tempera-Bilder seien, konnten nicht erschöpfend geprüft werden. Nur so viel steht auch nach dem bloßen Ansehen fest, dass die spät-gothischen Malereien echten krystallinisch glasigen Fresco-Grund zeigen, und dass die Malweise nicht stets die gleiche war.

1

Heider und Eitelberger: Mittelalterl. Kunstdenkmale d. ö. K. II. Bd. S. 14 u. ff. [Heider, Gustav Freiherr von/Eitelberger von Edelberg, Rudolph von/Hieser, Joseph: Mittelalterliche Kunstdenkmale des Österreichischen Kaiserstaates, 2 Bde. Stuttgart: Ebner und Seubert 1858–1860.]  Über die Erhaltung des Gurker Domes und dessen Malereien (1892)

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Hierauf scheint eine Periode des Stillstandes eingetreten zu sein, in der wohl manches in Verfall gerathen sein mag; denn in barocker Zeit wurde alles complet zugestrichen, wohl auch aus Mangel an Verständnis und Pietät, und das ganze Innere neu gemalt. Auch diese Erscheinung im Geschmacke des vorigen Jahrhunderts büßte bald den Zauber der Neuheit und Wohlerhaltenheit ein und verschwand unter den zwei bis vier neuesten Weißigungen. Versucht man dasjenige, was sich an kümmerlichen Resten der Baugeschichte erhalten hat, hiemit in Verbindung zu bringen, so zeigt sich, dass es wenigstens an guter Übereinstimmung nicht fehlt. 1203 muß der Nonnen-Chor und 1216 auch das Langhaus vollendet gewesen sein, laut Stiftungs-Urkunden.2 Die folgenden Zeiten scheinen laut Schenkungen und Stiftungen und entsprechend dem allgemeinen Zeitbild eine Periode stetigen Aufschwunges gewesen zu sein, bis endlich der Gipfelpunkt erreicht wurde im Jahre 1466 als dem Jahre der Zeugenvernehmung betreffs Heiligsprechung der Stiftsgründerin Gräfin Hemma. Kaiser und Kaiserin, Bischöfe und Stände hatten die Jahre vorher schon wiederholt Bittschreiben an den Papst und die Cardinäle wegen dieser Heiligsprechung gerichtet und nachdem endlich durch Friedrich III. am 22. Juli 1466 zwei Procuratoren zur Durchführung der Heiligsprechung ernannt waren3 kam es noch in diesem Jahre zu einem Strom von Wallfahrern nach Gurk, welche diesem seltenen Geschehnisse beiwohnen wollten. Es ist klar, dass unter solchen Verhältnissen schon vorher alles aufgeboten wurde, dass die ganze Stiftung, vor allem aber der Dom bei solchem Anlasse in vollem Festschmucke prangen konnte. Viele der spät-gothischen Arbeiten und besonders Malereien mögen daher dieser Zeit der Vorbereitung der großen Bewegung angehören. Darauf aber scheint eine Zeit der Abspannung gefolgt zu sein und auch der Enttäuschungen. Durch ein Breve von Papst Paul II. von 1468 wurde die Heiligsprechung auf unbestimmte Zeit verschoben. Außerdem hatte das Land 1473–1493 durch sechs verheerende TürkenEinfälle zu leiden. Eine geraume Zeit ist weder durch Denkmäler noch durch Urkunden belegt. Sucht man weiter herauf nach Anhaltspunkten zu einer Bauthätigkeit am Gurker Dom, so sind das nächste erst die Verträge über die Einwölbung

2

S. Mitth. d. Centr.-Comm. 1857. [= Mittheilungen der k. k. Central-Commission zur Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmäler, Bd. 2 (1857).]

3

S. „Die selige Hemma von Gurk“, anonym von Domherr Gregor Schellander, Verlag d. fürstb. Gurker-Consist. Klagenfurt 1879.

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des Langhauses von 1598 und dann die Herstellung der Thurmhelme von 1678–1682. In beide Perioden kann unmöglich jene vorher erwähnte zweite barocke Bemalung des ganzen Kircheninneren fallen. Dagegen stimmt der Zeit nach die neuerdingliche Betreibung der Heiligsprechung in der Mitte des vorigen Jahrhunderts vollkommen. Neu aufgenommen wurde diese Bewegung 1724 auf Grund der vom Capitel aufbewahrten Abschriften der alten Acte von 1466, und zwar wegen der bevorstehenden siebenten Säcularfeier. Zu dieser Gelegenheit wurde auch das Hemma-Grabmal erneuert 1745 durch Bildhauer Antonio Coradini. Auch das Gitter herum und die Ölgemälde, welche jetzt in der Kirche an der Nordwand hängen, stammen nach Schellander aus dieser Zeit. Vollkommen in Einklang mit dieser Zeit stehen aber die allenthalben in der Kirche über den alten Malresten liegenden Spuren einer barocken Gesammtbemalung des Inneren. Nach diesem allen entsteht der Wunsch, die Sache näher zu untersuchen, besonders da es vielleicht noch gelingen könnte, die chronologische Reihe der Malweisen, die Stylentwicklung, sogar noch manches über den Inhalt der Darstellungen und vielleicht auch einen Meisternamen oder eine Jahreszahl aufzudecken. In den Acten des Canonisations-Processes wird bei Beschreibung des alten Grabmales der seligen Hemma einer hölzernen Tafel gedacht, auf welcher Hemma mit der Kirche in der Hand und Graf Wilhelm als Krieger mit der Lanze in der Hand dargestellt waren. Heute noch tragen die Gurk-Wallfahrer ein Hemma- und ein Wilhelm-Bild mit. Alles dreht sich hier um diese Legende und so könnten leicht die zahlreichen alten Wandbilder eine merkwürdige Illustration voll Abwechslung, Reichtum an Motiven und Leben gewesen sein, wie dies Spuren von Rüstungs- und Waffendarstellungen auch andeuten. Unter denen, welche bei dem Canonisationsverhöre Wunder bezeugten, wird ein „Primus“ aus Dorf Weinzirl genannt. Je weniger man berechtigt ist, daraufhin allein schon anzunehmen, dass dieser Primus in dem Schriftrest, der vorher Fig. 7 vorgeführt wurde, enthalten ist, umso mehr wächst die Begierde, von diesen verborgenen Schriftzeichen und Gemälden noch mehr heraus zu schälen. Hiemit ist die Summe aller bisherigen Entdeckungen und Vermuthungen zu Stande gebracht und frägt es sich noch, wie viel von der einstigen Herrlichkeit da unter der kahlen Tünche neuerer Zeit noch verborgen liegen könnte und wie dieser Schatz zu heben sei. Darauf kann ziemlich genau selbst blos auf Grund äußerer Beschau geantwortet werden, dass es nur äußerst wenig sein wird, was noch gefunden werÜber die Erhaltung des Gurker Domes und dessen Malereien (1892)

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den kann; denn schon in alter Zeit wurden die Malereien sammt dem damals schon theilweise verbandlos gewordenen Putz mit Hammer und Kratzeisen herabgeschlagen. Dieser Vorgang war und ist allgemein üblich und seine Spuren sind allenthalben zu sehen. Überall dort wo die barocke Malschichte und die noch späteren Tünchungen in Blasen aufstehen und herabzufallen drohen, befindet sich darunter glatter glasiger Fresco-Grund in der Technik des späten Mittelalters, wie derjenige bei den Fresken Giotto’s und seiner Zeitgenossen; dort aber, wo die neueren Lagen fest sitzen, befinden sie sich unmittelbar auf dem Mauergrund. Der bloße Anblick der Wand gewährt also ein beiläufiges Bild aller der wenigen unregelmäßig vertheilten Reste der mittelalterlichen Fresken und zeigt, dass keine Hoffnung vorhanden ist, irgendwo noch ein ganzes Bild oder eine ganze Inschrift herauszubringen. „Folglich ist die ganze Geschichte werthlos; kann getrost gänzlich herabgeklopft werden und einem eleganten Neuputz sammt landesüblicher Leimfarbpatronirung nach bewährten Mustern Platz machen“. Nein! Nein! Und abermals nein! Und wenn es nur eine Hand, eine Kniescheibe, ein halbes Gesicht, ein Ohr wäre, was hie und da noch zum Vorschein käme, so wäre es unendlich viel mehr werth als die gesammte handwerksmäßige gemeine Sudelei, welche die restaurirten und neu gebauten Kirchen der ganzen Welt gegenwärtig befleckt. Es möge dieses harte Urtheil nicht als unbedachter Ausfluß momentaner Erregung angesehen werden; die Sache ist genau und kalten Blutes überlegt; es ist so! Der arme Malergehilfe, welcher heute mit der Patrone in der Hand das Gerüst besteigt, ist nur der lebende Bestandtheil einer Maschinerie und die Erzeugnisse dieser Maschine sind Massenproducte, Industrie-Artikel mit allen Merkmalen derselben: der Frostigkeit, Gemüthlosigkeit, die nie und nirgends zum Herzen spricht, auch wenn der bombastische Aufwand noch so groß ist. Diese ganze Schablonen-Malerei ist Maschinenkunst, ist Drehorgelmusik und geradeso wie das dürftigste Orgelspiel eines wenig musikalischen Dorfschulmeisters und der Chorgesang rauher Bauernkehlen dazu noch immer ein lebendiges Kunstwerk ist, wenn auch voll Fehlern und von rohester Sorte; während es jedermann dem gegenüber ganz richtig als eine Entheiligung des Ortes empfinden würde, wenn statt dessen hier eine Drehorgel gehandhabt würde; gerade so sind die Fabriks- und Dutzend-Waare unserer Kirchenpatronirungen unwürdig und nichts weniger als Kunstwerke, die zum Herzen sprechen und den Geist erheben. Wahre Kunstwerke sind aber immer die Hervorbringungen der Alten trotz aller Zeichenfehler und wenn es auch hie und da nur Bauernkunstwerke

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niedersten Ranges sind, wie die Chormusik einer Dorfkirche, so sprechen sie doch voll und ganz zum Herzen, weil sie voll und ganz vom Herzen kommen. Dazu gesellt sich noch der hohe historische Werth solcher Überreste. Noch immer ist das Geheimnis des buon fresco nicht entdeckt und so tief ist unsere Unwissenheit darin, dass es heute noch immer in der Praxis der Wandmalerei als Hauptverdienst des Fresco gepriesen wird, dass es eben matt und glanzlos sei; während wir doch wissen, dass die Alten im Gegentheil gerade den Glanz der Fresken schätzten, dass sie es priesen, wenn dieselben die Rüstungen der vor ihnen stehenden Ritter abspiegelten und noch Cesare Cesariano die Fresken im Castell zu Pavia rühmte, weil man sich vermöge ihrer Klarheit und Glätte darin bespiegeln konnte.4 Unglaublich ist es, den Streit über die Maltechnik zu Pompeji noch immer nicht endgiltig entschieden zu sehen, in dessen Verlauf es möglich war, so verschiedenartiges wie die Behauptungen: Fresco, Enkaustik, Tempera als Object der Meinungsverschiedenheit zu erleben. Wer aber möchte es heute schon wagen, eine Geschichte der monumentalen Maltechnik zu schreiben? Die letzten spärlichen Materialien hiezu werden aber fort und fort überall von den Mauern geschlagen und weggeworfen, weil es eben nur mehr Bruchstücke sind, nicht mehr geeignet, auch dem Laien zu gefallen. Hiemit ist die Untersuchung an dem entscheidenden Punkt angelangt. Das Laien-Publicum, das in viel größerer Zahl die Kirchen besucht als Kunstforscher und Künstler, hat eben auch ein Recht befriedigt zu werden. Es geht eben schlechterdings nicht an, die Bedürfnisse des Tages zu vernachlässigen und archäologischen Studien zu Liebe aus Kirchen Museen zu machen oder gar einen unerläßlichen Neubau zu verweigern, weil bei dieser Gelegenheit eine Mauer mit alten Fresco-Resten zum Abbruch käme. Bisher wurde in solchem Falle das archäologische Gewissen befriedigt, indem man vorerst noch eine Aquarell-Copie oder eine photographische Aufnahme veranlasste, bevor das Ganze in Schutt verwandelt wurde. Etwas ist damit immerhin genützt und falls Zeit und Geld mangeln, wird sich noch in vielen Fällen kaum mehr thun lassen; dem eingehenden Studium nützen aber diese kümmerlichen Reproductionen fast nichts. An beiden Aufnahmen können Untersuchungen über Maltechnik, Zusammensetzung der verwendeten Farbe, Schichtung und sonstige Beschaffenheit der Übertünchungen des Untergrundes etc. nicht

4

Frimmel: Anonimo Morelliano S. 59. [Frimmel, Theodor von: Der anonimo Morelliano (Marcanton Michiel’s notizia d’opere del disegno). (= Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, n.F. 1). Wien: Braumüller 1888.] Über die Erhaltung des Gurker Domes und dessen Malereien (1892)

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vorgenommen werden. Zudem fehlt der Photographie die Farbe und dem Aquarell wieder die Möglichkeit absoluter Treue in Bezug auf Zeichnung, Pinselführung, kurz die ganze Mache des Originales. Auf Grundlage von solchen zeichnerischen Copien Studien zu machen, z.B. über die geschichtliche Entwicklung des perspectivischen Zeichnens bis zur figuralen Detail-Verkürzung (Muskel-Perspective der Alten etc.) oder über den Stand der KunstAnatomie in verschiedenen Zeiten oder über die Pinselführung etc. des alten Meisters zum Behufe eine Gruppe von gleichartigen Werken zusammen zu bringen, ist schon desshalb ein Ding von höchster Unverläßlichkeit, weil man nicht einmal den Grad der Treue kennt, mit dem copirt wurde. Nur wenn es sich ganz allgemein darum handelt, zu erkennen, was dargestellt wurde, genügen solche Copien; über dieses erste Stadium der Kunstforschung sind wir aber heute bereits hinaus und darnach hat sich folgerichtig die Methode des Conservirens und Restaurirens zu richten. Der Conflict zwischen den Anforderungen des täglichen Lebens und archäologischen Studien ist, soweit es den vorliegenden Fall von Fresco Resten betrifft, aber leicht lösbar. Man gebe, speciell bei Kirchen-Restaurationen, Gott was Gottes ist und den Museen was historisch ist; das heißt, man erneuere getrost den gesammten Wandschmuck in harmonischer Gestaltung, so gut es geht, säge aber vorher alle Fresco-Reste ab und übergebe sie wohlgeordnet und nach Fundstellen bestimmt dem Kirchenschatz, dem LandesMuseum oder sonst einer geeigneten Stelle. Nur verbiete man grundsätzlich ein für allemal jedwede Restauration alter Fresken, denn diese ist bisher noch immer vernichtend ausgefallen, falls sie nicht auf jenes seltene Minimum des blos trockenen Reinigens von Schmutz und Staub und des Retouchirens kleinster Stellen mit Wasserfarben beschränkt blieb, obwohl unter Umständen sogar dieses gelindeste Verfahren Schaden bringen kann. Die Idee, auf diese Weise förmliche Museen oder Galerien von Wandmalereien zusammen zu bringen, ist nicht neu. In Neapel entstand so aus den zu Pompeji gehobenen Schätzen eine weltberühmte Sammlung und in der Brera zu Mailand eine herrliche Fresco-Galerie aus Werken Luini’s und anderer Meister. An beiden Orten wurde die Fülle angesammelter Erfahrungen im Abnehmen und Conserviren der Wandmalereien geradezu schulbildend.5

5

Kritiken und Mittheilungen über verschiedene Methoden können unter anderem in Keim’s Mittheilungen nachgelesen werden. [Technische Mittheilungen für Malerei. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Rationelle Malverfahren Adolf-Wilhelm-KeimGesellschaft in München, unregelmäßig erschienen ab 1884.] 

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Manches ähnliche wurde auch schon für andere Museen geleistet, so für das Städel’sche Institut zu Frankfurt a.M. und für das Berliner Museum (Fresken der Villa Massimi) etc. Überfliegt man nun in Gedanken die große Menge werthvoller Fresken in österreichischen Landen besonders südlich der Donau und hauptsächlich in der Nähe Italiens, so muß es jedem Kunstsinnigen das Herz zusammenschnüren, an den hoffnungslosen Zustand und die vogelfreie Preisgebung aller dieser Schätze zu denken. Wäre es demgegenüber denn durchaus nicht möglich, an die Gründung eines Fresco-Museums und einer Restaurir-Schule hiefür zu denken? Die Kosten könnten im Verhältnisse zu dem Werth der Sammlung gar nicht in Betracht kommen. Nur die Zustimmung zu der thatsächlichen Bedeutung eines solchen Unternehmens und etwas guter Wille zur Überwindung des allem Neuen entgegenstehenden Trägheitsmomentes wäre nöthig. Der Erfolg müßte glänzend sein. Man denke sich z.B. nur das Milstätter Fresco in irgend einer Galerie; welche Wirkung! Wären aber all’ die zahlreichen Madonnen, von der altromanischen zu Friesach angefangen; die Kreuzigungen und jüngsten Gerichte, die vielen Todtentänze, Christoph-Bilder und alles sonstige, auch diverse interessante Profan-Wandmalereien, chronologisch und nach Schulen vereinigt – welch’ ein Museum! Das wäre eine Sammlung alter Schulen wie keine zweite in der Welt, da könnte man mittelalterliche Kunst, Malweise, Technik, Empfindung und Lebensanschauung studiren. Statt so dem Vergleiche und eingehendem Studium zugänglich und zugleich vor Zerstörung möglichst geschützt zu sein, sind diese Werke jetzt, wie herrenloses Gut, Wind und Wetter preisgegeben, höchstens mit unzulänglichen Dächelchen nothdürftig geschützt, dem Bekritzeln ausgesetzt und schweben täglich in der Gefahr – was das schlimmste von allem – restaurirt zu werden. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die Gründungsmodalitäten eines solchen Museums zu erörtern; nur auf zwei Dinge sei noch kurz hingewiesen: darauf, dass der Bestand an hieher gehörigen Werken jährlich, ja täglich kleiner wird, und auf den weiteren vielleicht nicht unerheblichen Umstand, von welch mächtigem Einfluß ein solches Museum monumentaler Malerei sammt zugehöriger Technik- und Conservir-Schule auf die Bildung des künstlerischen Nachwuchses sein müßte. Überblicken wir einmal vorurtheilsfrei die Lage der modernen Kunst. Überall sehen wir Talente ersten Ranges unter den gereiften Künstlern und in der Schaar der Kunstjünger von einer Feinheit des Auges, Sicherheit der Über die Erhaltung des Gurker Domes und dessen Malereien (1892)

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Hand und Schärfe der Naturbeobachtung, dass nichts zu wünschen übrig bleibt und dennoch haben wir keine große monumentale Malerei mehr. Der Einzelne vermag eben nicht gegen den Strom zu schwimmen, der Einzelne vermag nicht Dinge zu leisten, deren gewaltiger Größe nur die Gesammtheit gewachsen wäre. Wer wagt es heute, seine Arbeiten neben die von Leonardo, Holbein oder Rubens zu stellen? Seine angeborenen Fähigkeiten mögen ebensogroß oder noch bedeutender sein als die der alten Meister, aber die Übung, die Methode gewaltiges zu schaffen ist verschrumpft, wofür der Einzelne nicht verantwortlich gemacht werden kann, weil hier ein Degenerirungs-Process vorliegt, der sich über mehr als ein Jahrhundert schon erstreckt. Diese Entwicklung läuft aber genau parallel mit der Ausbreitung der Alleinherrschaft der Öltechnik und Staffelei-Malerei. Trügt nicht alles, so liegt gerade hierin eine der wichtigsten Ursachen dieses Processes. Gerade der feinfühlige Künstler kann ja gar nicht anders schaffen als so, dass er Inhalt, Form und Material seiner Darstellungen zu geschlossener Harmonie bringt. Die Öltechnik aber begünstigt das durchgebildete, Detailirte, Genrehafte, Kleine und kann nicht recht hinan zum Großen, Einfachen, Erhabenen. Wenn dem wirklich so wäre, dann könnte es ja sein, dass angehende Künstler in diesem Museum für Monumental-Malerei ihre Vorstellungen erfüllen mit einfach großen Motiven, zum Studium alter Maltechnik angeregt werden und die Mittel kennen lernen, mit welchen große Flächen beherrscht, Wirkungen auf große Distanzen ausgeübt und ein Verschmelzen zwischen Architektur, Plastik und Malerei herbeigeführt werden kann. Denkt man sich dazu noch eine Restaurir-Abtheilung, in welcher die alten Malweisen erprobt werden, in Verbindung mit Studienreisen zum Behufe des Mithelfens beim Abnehmen alter Wandgemälde und dass sie dabei ebenso die alten Monumental-Werke der Malerei studieren und aufnehmen, wie dies schon längst für Architektur-Schüler überall eingeführt ist, dass sie dann zu Hause große Restaurations-Programme als akademische Schularbeiten zu lösen bekommen, z.B. gleich die Wiederherstellung der Gurker Dommalereien sowohl aus der gothischen als auch aus der barocken Periode, so dürfte das doch wohl größere Anschauungen vermitteln und tiefgehendere Studien anregen, als wenn nur genrehafte Staffeleibildchen copirt und lediglich die Öltechnik geübt wird. Wer nur Grassamen sät, darf sich nicht wundern, wenn kein Eichenwald aufgeht. Doch genug davon! Sicher ist, dass die Gründung eines solchen Museums an sich eine That wäre; sicher ist aber auch, dass nur hiedurch das Räthsel der

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Freskenfrage gelöst werden kann. Überall, wo Fresken oder selbst nur Reste von solchen wegen Bauherstellungen etc. abgeschlagen oder, was beiläufig auf dasselbe hinauskommt, restaurirt werden sollen, nämlich so, dass die Sache wieder „wie neu“ aussieht und den Leuten gefällt, sollten sie von der Wand abgenommen und dafür etwa eine ganz neue Copie an deren Stelle gesetzt werden. Falls diese Copien wieder in gesunder alter Fresco-Technik durchgeführt werden, so müßten sie nothwendigerweise besser gelingen als die bisherigen bloßen Übermalungen, da man das alte Original bis zu Ende der Arbeit immer noch unverändert neben sich hätte und, wie es nöthig ist, durchaus auf frischem Grund arbeiten könnte. Der Besitzer bekäme hiedurch sicher etwas besseres als durch das bloße Übermalen des Originales; sein Name würde noch überdies in die Reihe der Kunstförderer einzutragen sein, statt in die Reihe der Vandalen, und wenn er billig denkt, würde es ihm genügen, eine unentgeltliche oder wenigstens im Preise ermäßigte Copie zu erhalten gegen Hintangabe der alten Fresco-Reste. Diese wäre zugleich der naturgemäße Kaufpreis für die zu sammelnden Bilderschätze und zugleich eine mächtige Förderung der monumentalen Malerei durch eine Menge stets vorhandener Aufträge von wohl größerer Bedeutung als der in neuester Zeit bereits betretene Weg: an Private Staats-Subventionen zu verleihen zum Behufe der Anregung zu monumentalen Malaufträgen. Werden diese Grundsätze auf die Restauration des Gurker Domes nun angewendet, so wird kaum mehr viel zu sagen sein. Zunächst wäre alles an Übertünchungen schichtenweise bei fortlaufender Notirung des Befundes abzunehmen und dann zu sehen, was an Resten des alten Bilder-Cyclus sowohl der Barocke als auch der Gothik noch da ist. Diese Reste wären dann abzusägen und könnten die größeren Stücke, welche noch ein Bild geben, aufgestellt werden, während die noch irgendwie lehrreichen Bruchstücke in Laden und Schränken wie Münzsammlungen aufzubewahren wären. Hievon sind die blosliegenden Fresken des Nonnenchores und der Vorhalle ausgenommen, weil diese an Ort und Stelle beinahe eben so gut geschützt sind, wie in einem Museum und somit an dieser Stelle, für die sie geschaffen wurden nach Raum und Licht etc. von noch weit größerer Bedeutung sind, als sie es in einem Museum wären. Nur müßten sie auch hier museumsmäßig behandelt, d.h. grundsätzlich unberührt als Ruinen belassen werden. In der ganzen übrigen Kirche käme man bei dieser Arbeit schließlich überall auf die nackte Mauer-Construction und würde aus diesem Befund dann sehen, was weiter zu geschehen habe.

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III. Verschiedenes. Bei Gelegenheit der Besichtigung des Gurker Domes ergaben sich noch etliche kleine Aufklärungen und Richtigstellungen älterer Ansichten, welche hier zum Schluß noch Platz finden mögen. Es ist bekannt, dass man den ursprünglichen Zweck und Aufstellungsort der sechs großen geschnitzten Tafeln, welche Begebenheiten aus der Hemma-Legende darstellen, nicht weiß. Die Betrachtung der Nordwand (Fig. 3), welche lehrte, dass hier für die Stiftsdamen ein spitzbogiger gedeckter Gang bestand, läßt nun vermuthen, dass besagte Tafeln ein Wandschmuck dieses Ganges waren. Ihrem Format nach scheinen sie hinzupassen und zwar in die oberen spitzbogigen Endigungen der Wandflächen unmittelbar unter den Kreuzgewölben des Bogenganges. In diesem Falle hätte zu den Tafeln noch irgend ein Untersatz gehört, ferner etwa noch eine Umrahmung und zu oberst ein decoratives Kopfstück. Daraus würde sich das Format der Bilder erklären und auch ihre verschiedene Breite, denn auch die Schattenspuren der Nordwand zeigen erheblich verschiedene Breiten der einzelnen Säulengang-Joche. Die Ausschmückung dieses Klosterganges durch eine fortlaufende Illustration der Hemma-Legende hat etwas ungemein ansprechendes, so dass nach alledem die ursprüngliche Bestimmung des ganzen Tafelwerkes als sinnreicher erhebender Schmuck dieses nicht profanen Zwecken, sondern lediglich dem Kirchenbesuch gewidmeten Ganges nicht unwahrscheinlich erscheint. Offenbar kommt alles darauf an, ob die Maße beiderseits stimmen. Auch das ist der Fall. Die unteren Breiten der Tafeln sind nach der Reihe die folgenden: Tafel I

Ermordete Söhne ist breit l.53 M.

Tafel II

Abschied der seligen Hemma ist breit 2.61 M.

Tafel III

Münsterbau ist breit 1.38 M.

Tafel IV

Einzug der Chorfrauen ist breit 2.57 M.

Tafel V

Wunderbare Heilungen ist breit 2.62 M.

Tafel VI

Wunderbare Heilungen ist breit 1.55 M.

Die obere Breite, wo der Spitzbogen abgestutzt ist, beträgt im mittleren Durchschnitt 1.44 M. und schwankt proportional mit den unteren Breiten; die Höhe schwankt nur zwischen 1.39 und 1.44 M. Nicht ganz so große Differenzen zeigen die noch sichtbaren Bogenspuren; es muß aber bemerkt werden, dass bei solchen fortlaufenden Felder-

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Füllungen sehr häufig die Rahmenbreiten wechseln und dass daher eine gewisse Ausgleichung durch die heute nicht mehr vorhandenen Rahmen ganz gut angenommen werden kann. Es kommt also hauptsächlich auf das Zusammenstimmen der mittleren Durchschnitte der Maße an und zwar umsomehr, als man ja nicht angeben kann, an welcher Stelle des Ganges der Bildercyclus begann und ob nicht dereinst noch mehr als blos diese sechs Tafeln vorhanden waren. Eines fällt zudem auf, dass gerade zwei größte Breiten (IV und V) sowohl bei den Tafeln als auch beim Gang unmittelbar aufeinander folgen. Der mittlere Durchschnitt der unteren Bildbreite beträgt 2.043 M.; der mittlere Durchschnitt eines Bogenjoches von Axe zu Axe beträgt (allerdings nur gemessen mit Hilfe der kleinen mit Maßstab publicirten Grundriße) 3.008 M. Auf den Zwischenraum von Bild zu Bild (also auf den Gewölbfuß sammt beiderseitiger Rahm) kommt somit im Durchschnitt 0.965 M., ein Maß, welches vollständig richtig proportionirt ist. Man wird es also für wahrscheinlich halten dürfen, dass sich diese Bildschnitzereien ursprünglich hier befanden. Die von G. Haas aufgestellte Hypothese, dass sie zu einem im übrigen verschwundenen Lettner gehört haben könnten, muß jeder entschieden zurückweisen, der sich vorstellt, wie so ein Lettner ausgesehen haben müßte nach den gegebenen Dimensionen des Mittelschiffes und diesen Tafeln. Ebenso muß die Ansicht von C. Haas berichtigt werden, dass die Malerei ober den Gewölben den Charakter des 16. Jahrhunderts trage und ebenso seine Vermuthung, dass am Gewölbe des Nonnen-Chores ursprünglich Kreuzrippen vorhanden gewesen sein dürften. Keine Rede von alledem. Man sieht das Unzutreffende dieser Annahme sofort, wenn man nur einen einzigen Blick vom Dachbodenraum her auf das alte schwere Bruchsteingefüge fallen läßt, aus welchem diese Nonnenchor-Überwölbung besteht. Haas ließ sich zu dieser auch sonst höchst unpassenden Annahme lediglich durch das echt romanisch derbe Vorspringen der Gewölbfüßel-Consolen verleiten, woran diese aber unschuldig sind. Auch Quast glaubte in einzelnen Ornamenten des Nonnen-Chores „gothische“ Formbildung erkennen zu sollen, was gleichfalls als ein Missverständnis bezeichnet werden muß. Der Zustand der Malereien des Nonnen-Chores muß heute schon als sehr traurig bezeichnet werden. Die Farben sind bereits durchweg stark ausgeblasst. Die stärksten Beschädigungen sollen von dem Brande von 1803 herrühren, was richtig sein könnte, weil die durchgehende Feuchte des Löschwassers fast immer ein Abstoßen der Farbe bewirkt. Schon Professor Klein Über die Erhaltung des Gurker Domes und dessen Malereien (1892)

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Fig. 8

fand die Malereien in ähnlichem Zustand und hat auf den leeren Flächen die Furchen der am frischen Malgrund vorgepausten Zeichnung mit Bleistift nachgefahren, um wenigstens die Wirkung der Zeichnung wieder vor sich zu haben. Der an Stelle abgefallenen Malgrundes eingefügte Verputz ist nicht neueren Datums, sondern selbst schon alt und rissig. Die an der Südseite des Thurmsockels befindliche theilweise kaum lesbare Inschrift wurde zu verschiedenen Tageszeiten, also bei verschiedenem Lichteinfall und aus verschiedener Entfernung betrachtet und konnte endlich das folgende Bild von Fig. 8 derselben sammt zugehörigem Steinschnitt gewonnen werden, womit denn auch die Reihe der kleineren Beobachtungen geschlossen sei.

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Die Regulirung des Stubenviertels (1893) Neues Wiener Tagblatt, 5. März 1893. Sign. SN: 228–428.

Heute und die ganze folgende Woche, bis nächsten Sonntag sind die dreißig Pläne der ersten theilweisen Stadterweiterungskonkurrenz1 ausgestellt im Rathhause von 9 bis 2 Uhr. Das Ergebniß wurde mit Spannung erwartet, da schon lange, Dezennien hindurch, bei uns eine solche Gelegenheit, den Stand der Errungenschaften und der vorhandenen Kräfte auf dem öffentlich und künstlerisch so wichtigen Gebiete des Städtebaues zu ermessen, nicht geboten war. Auch sollte diese kleine Vorkonkurrenz eine willkommene Probe für die kommende allgemeine Stadtplankonkurrenz sein. Die allgemeinen Gesichtspunkte überbieten daher an Interesse noch die besonderen der Regulirung dieses zwar wichtigen aber doch verhältnißmäßig kleinen Stadttheiles und sollen daher vorerst erörtert werden. Auf den ersten Blick sieht man, daß unter allen dreißig Kompetenten kein Einziger sich die Aufgabe rein künstlerisch dachte. Zwar ist sichtlich die Zahl der konkurrirenden Architekten weitaus überwiegend über die Zahl der Ingenieure, und das ist an sich schon eine Verrückung des in den letzten Dezennien Gewohnten; aber kein Einziger, so sehr auch Jeder sich denn doch veranlaßt sah, der künstlerischen Seite der Frage seinen Anstandsgruß zu entbieten, hat sich selbst die Aufgabe gestellt, hier ein Kunstwerk des Städtebaues zu konzipiren; kein Einziger stelle sich die Aufgabe: hier auf diesem weiten leeren Platz im Zentrum der Hauptstadt eines großen Reiches etwas Großes, etwas baukünstlerisch Erhabenes zu schaffen, das die Welt gesehen haben müßte, wenn es dereinst vollendet wäre; was bewundert würde, was jedem Wiener in patriotischem Stolze das Herz höher schlagen ließe und den Neid jedes Fremden erweckte. Kein Einziger hat es unternommen, etwas an sich Großes zu schaffen. Warum das nicht? – Weil es verboten war. – Ja wohl! Weil es verboten war, und zwar durch die Normen der Konkurrenzausschreibung selbst und die ganze Absicht derselben, welche nur eine Aufschnittelung von Bauparzellen verlangte, damit sobald als möglich mit ihrem Verkauf 1

[Die „theilweise […] Stadterweiterungskonkurrenz“ bezeichnet den Wettbewerb zur Regulierung des zwischen Franz-Josephs-Kai, Dominikanerbastei und Stubenring im Osten der Wiener Innenstadt gelegenen Stubenviertels. Der Wettbewerb wurde im Oktober 1892 ausgeschrieben und lief bis 18. Januar 1893. Das Projekt der Brüder Karl, Rudolf und Julius Mayreder erhielt den ersten Preis, Otto Wagners Projekt „Civis“ wurde angekauft.] Die Regulirung des Stubenviertels (1893)

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an beliebige Bauherren begonnen werden kann; damit sobald als möglich dafür soviel Geld hereinkommt, daß dafür außen irgendwo eine neue Kaserne gebaut werden könne; damit dann endlich die jetzige entbehrlich wird und niedergerissen werden kann. Diese ganze Konkurrenz an diesem herrlichen Punkt des innersten Wien hat daher von vorneherein keinen idealen Boden gehabt, sondern nur den der gemeinen Ausschrotung von möglichst vielen Zinshausparzellen. Na, das hätte das städtische Bauamt schon auch noch allein treffen können, ohne erst an die öffentliche Mildthätigkeit der Künstler Wiens zu appelliren. In diesem Sinne wurde die Konkurrenz auch thatsächlich von den ersten künstlerischen Kräften Wiens aufgefaßt. Zum Beispiel einer derselben antwortete auf die Bemerkung, daß man sein Konkurrenzprojekt nun bald werde bewundern können: „Sie glauben doch hoffentlich nicht, daß ich mir Zeit nähme, für den Papierkorb des Stadtbauamtes zu arbeiten?“ Entsprechend dieser Situation ist unter den dreißig Konkurrenten denn auch eine überwiegende Anzahl junger Herren, eben erst flügge gewordener Akademiker und Techniker; aber trotzdem auch etliche ältere Fachmänner und auch solche ersten Ranges. Der jugendliche Idealismus stirbt eben nicht aus und hält sogar bis in die reifsten Jahre vor. In diesem besonderen Falle verdankt ganz Wien diesem auch unter den ungünstigsten Verhältnissen emporwuchernden Idealismus die glückliche Lösung einer Frage seiner baulichen Entwicklung. Das mit dem ersten Preise gekrönte Projekt der Brüder Mayreder2 stellt in der That diese glückliche Lösung dar. Weit entfernt, eine ideal künstlerische Lösung zu bieten – denn das war ja verboten – rettet es zweifellos Alles, was unter den gegebenen Verhältnissen, nach dem dermaligen Stande der Alltagsmeinung, in diesem besonderen Falle zu retten war, und so wurde dieses Projekt, wenigstens vorläufig, thatsächlich zum

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[Die Brüder Karl (1856–1935), Julius (1860–1911) und Rudolf (1864–1937) Mayreder gewannen 1893 den ersten Preis im Wettbewerb zum Regulierungsplan für das Wiener Stubenviertel. Karl und Julius hatten bei Heinrich von Ferstel an der Technischen Hochschule Wien Architektur studiert und anschließend in dessen Büro gearbeitet. In der Folge errichteten sie gemeinsam eine Reihe von Mietshäusern, Villen sowie die in orientalisierenden Formen ausgeführte Mottenpulverfabrik Zacherl in Wien. Karl Mayreder fungierte seit 1894 als Berater des neu gegründeten Regulierungsbüros der Stadt Wien. Seit 1885 Honorardozent für „Propädeutik der Baukunst“, wurde er 1893 zunächst außerordentlicher Professor und 1900 schließlich Ordinarius für Baukunst der Antike an der Technischen Hochschule Wien. 1922–1923 war er kurzzeitig deren Rektor und initiierte die Gründung des Lehrstuhls für Städtebau.]

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rettenden Engel; denn wenn es nicht mit solch’ eminenter vielseitiger Sachkenntnis, mit so bewundernswerther Geschmeidigkeit, mit so hingebendem Fleiße ernst und detaillirt durchstudirt und genau dargestellt wäre, hätte es schwerlich sich bis auf den ersten Platz durchgerungen. Es fragt sich aber, ob es deshalb auch ausgeführt wird, denn schon sind eifrige Stimmen thätig, welche in entscheidenden Kreisen die Ausführung des mit dem zweiten Preise bedachten Entwurfs empfehlen. Dieser zweite Entwurf vom städtischen Ingenieur Goldemund3 könnte als der offizielle Konkursplan bezeichnet werden. Alle bisherigen Baulinienbestimmungen und Wünsche des Stadtbauamts sind darin berücksichtigt, die stets von dieser Stelle festgehaltene Ablenkung der Ringstraße vom Österreichischen Museum in gerader Richtung zur Ferdinandsbrücke, an welcher Stelle dieser Idee zuliebe auch im Unterlagsplan die Baulinien fehlen, also eine energische Neuerung prädestinirt ist, wurde als grundlegende Idee des Ganzen aufgefaßt; eine Anlage eines Donaukanalhafens mit Spornbau gegen die Wien-Hochwässer genau so wie dies amtlich im Schoße der Donauregulirungs-Kommission schon projektirt wurde, aber privatim nirgends weiter bekannt wurde und daher bei allen anderen Projektanten fehlt, ist hier detaillirt eingezeichnet; die sternförmigen Brückenkopfplätze und Quairampen finden sich hier in ähnlicher Weise, wie sie der Schreiber dieses auf Stadtbauamtsprojekten schon vor etwa acht Jahren gesehen hat und natürlich fehlt auch die bekannte Lieblingsidee nicht: der eingewölbte Wienfluß. Dies ist also ein Projekt, welches die Ideenkreise des Stadtbauamts widerspiegelt. Seine Ausführung wäre geradezu ein Unglück, denn die gewaltsamen Neuerungen wären sehr theuer, besonders weil die Ringstraßenablenkung durch eine vom Stefansplatz ablaufende Hügelzunge eingeschnitten werden müßte und daher zu einer Menge kostspieliger, bekanntlich so beliebter und famoser Niveauregulirungen nach dem Salzgriesmuster zwingen würde. Außerdem aber wären die grundsätzlich verwerflichen Sternplätze, deren hier zwei an den Brückenköpfen und einer vor dem österreichischen Museum projektirt sind, für alle Zeit inkurabel, denn aus einem solchen Wind und Staub und Verkehrsstockungen preisgegebenen 3

[Heinrich Goldemund (1863–1947), an der Technischen Hochschule Wien ausgebildeter Bauingenieur, war seit 1890 Mitarbeiter im Bauamt des Wiener Magistrats. Im Büro zur Bearbeitung des Generalregulierungsplans, in das er 1894 eintrat, avancierte er 1898 zum Oberinspektor, 1908 zum Oberbaudirektor. Von 1913 bis 1920 bekleidete Goldemund das Amt des Wiener Baudirektors. Von besonderer Bedeutung war u.a. sein Eintreten für die Erhaltung des Wald- und Wiesengürtels um Wien.] Die Regulirung des Stubenviertels (1893)

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Platz mit seinen keilförmigen Häusern und nebeneinander dicht gereihten Straßenlöchern läßt sich, selbst wenn Millionen aufgewendet würden, niemals ein künstlerischer Effekt herausbringen. Das Übrige besteht aus bloßer Hausblockabrastrirung. Das ist eben gerade das Vorzügliche an dem Mayreder’schen Projekte, daß die drei konzipirten größeren Plätze einer künstlerischen Ausbildung fähig sind. Der große Brückenkopfplatz ist in Skizze ohnehin schon nahezu vollendet; das glücklich hier eingeführte Motiv der Schwebebögen müßte nur noch mehr Fläche bekommen, ein ganzes oder sogar zwei mächtige Geschoße; die Fontainen oder Monumente müßten aus der Diagonalaxe an den Trottoirrand geschoben werden, wo sich dann noch Platz daneben für eine Anzahl kleinerer Monumente fände, und so könnte unter Umständen ein ganz prächtiger Platz daraus werden, eine wirkliche Zierde Wiens, wenn zum Beispiel für diesen Platz nun besonders wieder eine Konkurrenz ausgeschrieben oder den Meistern des Projektes selbst ein besonderer Detailauftrag ertheilt würde. Auch die Platznoth für Monumente würde sich hiebei unter Einem bekämpfen lassen; alles aber unter der idealen Voraussetzung des guten Willens hiezu, d.h. daß nicht sofort die Bauplätze einfach als gemeine Marktwaare verkauft und dann beliebige Modefaçaden errichtet würden ohne Zusammenhang, ohne höheres Streben. Die Baublöcke werden aber schlechtweg an den Meistbietenden verkauft werden; zweifeln wir nicht daran. Ebenso ließe sich der andere große Hauptplatz vor dem projektirten Handelsministerium ausgestalten. Auch dieser huldigt bereits theilweise den neueren künstlerischen Grundsätzen des Städtebaues; aber nur zur Hälfte, gleichsam, um es sich mit der bisherigen Tradition nicht ganz zu verderben, und er könnte doch durch etwas mehr Muth, ohne daß es einen Heller mehr kostete, zu einem vollendet schönen Platz emporgehoben werden. Dasselbe gilt von dem zweiten Brückenkopf: Platz des Mayreder’schen Plans bei der Ferdinandsbrücke. Ausbildungsfähige oder überhaupt gute Platzformen kommen sonst noch hie und da vor; so ein paar gute Platztypen und gute Gassenführungen auf dem Projekte Nr. 24, ferner noch auf Nr. 3 und Nr. 9; wirkungsvolle Brückenkopfplätze, welche sich ausgestalten ließen auch auf Nr. 25, Nr. 26 und Nr. 28; ein imposanter, großartig gedachter Platz auf Nr. 14 mit dem wichtigen Vortheile der Absonderung von der Ringstraße, deren Vorbeiströmen jeden Platzeffekt todtschlägt, und endlich ein gut komponirter und pompös gedachter Brückenkopfplatz auf Nr. 17.

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Merkwürdig ist, daß kein einziger Projektant das Gebäude des Österreichischen Museums zum Ausgangspunkt einer Platzanlage gemacht hat, noch dazu, nachdem schon so viel über eine Museumsgruppe hier gesprochen wurde, das Handelsmuseum nach einem Neubau sich sehnt und nach einem entsprechenden Platz auslugt, über Gründung eines Gypsgußmuseums schon so viel gesprochen und geschrieben wurde u.dgl.m. Statt diese naheliegende Idee zu ergreifen, stellen einige Projekte ein neues Stadttheater neben das Museum, eine in Anbetracht der Feuersgefahr offenbar nicht besonders glückliche Idee. Geradezu eine kulturhistorische Denkwürdigkeit, weil bezeichnend für den Geist unserer Zeit, ist die Behandlung der innern Stadt. Sämmtliche Projekte ohne Ausnahme vernichten den in seiner stillen, ländlichen Einsamkeit ein Unikum von Wien bildenden Heiligenkreuzerhof.4 Dieses Idyll! Dieses lauschige Stückchen Paradies mit seiner nervenberuhigenden Wirkung mitten im Tumulte der Großstadt! Was hat das an unsern Stadtbaukünstlern verbrochen? Nichts; aber Alle legen quer durch eine sogenannte schöne, breite, gerade Straße, blos weil am Normalplan des Stadtbauamtes, das bekanntlich für solche Dinge nur ein Herz von Kieselstein besitzt, das so vorherbestimmt ist. Man sage nicht, daß solche Sentimentalität für unsere Zeit kindisch sei. Wie weit diese Nichtbeachtung von Altwien, diese Nichtbeachtung der weltberühmten Wiener Gemüthlichkeit in geradezu vernichtender Weise geht, kann man hier auf mehr als einem einzigen Projekte sehen. Zwei Projektanten demoliren auch die als Werk vollendeter Barocke prächtige Dominikanerkirche, weil die in der Reißschiene liegenden Baublöcke hier gerade anders liegen. Das Projekt Nr. 26 demolirt aber außer diesen zwei Objekten noch die alte ehrwürdige Aula, eines der herrlichsten architektonischen Kunstwerke Wiens, und stellt die alte Universitätskirche auf eine Terrasse, weil auch das Niveau durch die ganze innere Stadt bretteben gedacht wird. Man möchte meinen, daß so etwas nur ein Mann, der Wien nie gesehen hat, machen könnte, ein Mann aus Sumatra oder Borneo, aber nein! derlei ist die letzte Konsequenz unserer jetzigen Mode auf dem Gebiete des Städtebaues. Zwei Projekte fassen ja überhaupt die ganze Fläche zwischen Rothenthurmstraße,

4

[Die zwischen Schönlatern- und Grashofgasse in der Inneren Stadt gelegene, aus einem Stiftshof des Zisterzienserklosters Heiligenkreuz hervorgegangene Anlage geht in ihrem Kern auf das 13. Jahrhundert zurück. Der von Stiftshof, Prälatur, Kapelle und Zinshaus umgebene Hof ist bis heute in der Gestaltung von 1771 erhalten.] Die Regulirung des Stubenviertels (1893)

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Quai, Ring und Singerstraße als ein einziges zur Demolirung bestimmtes Ganzes auf, das haareben planirt und dann durch Kreuz- und Querstraßen neu gegliedert wird. Wo bleibt da die Lokalgeschichte, die Achtung vor den Werken der Väter! Und was kostete das? – Schwere Milliarden; sagt man ja doch, daß für die Regulirung, respektive Abtretung des Dominikanerbesitzes allein schon drei und eine halbe Million begehrt wird, und man braucht keinen Zoll breit davon, wenn man sich nicht unnöthigerweise einbildet: alle Straßen linealgerade haben zu wollen, was erfahrungsgemäß weder schön noch praktisch ist, sondern nur Modethorheit. Es wird auf diese wichtigen und interessanten Fragen der Stadtbaukonkurrenz noch zurückgekommen werden, und hier sei nur noch die Frage erlaubt, ob sich kein Verleger entschließen könnte, sämmtliche Arbeiten zu publiziren, denn interessant sind sie alle, wenn auch die Vorstellung einer praktischen Verwirklichung hie und da das Herz erstarren macht.

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Der Wille des Stadtbauamtes (1893) Neues Wiener Tagblatt, 12. März 1893. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 229–427/1.

In dem knappen Rahmen des ersten Artikels vom Sonntag, den 5. d. M., über die partielle Stadterweiterungskonkurrenz konnten nur einige Hauptfragen, wie sie jeden Wiener zunächst interessiren, beleuchtet werden. Eine vielbesprochene Frage, nämlich die der Eröffnung der inneren Stadt für den Ringverkehr durch Eindringen irgend eines Tramway- oder Bahnstranges bleibt noch zu erörtern und ebenso der jetzt bereits gewonnene Ausblick auf die bevorstehende allgemeine Stadtplankonkurrenz.1 Die energischeste Lösung der ersteren Frage brachte das Projekt Nr. 14, indem hier vom Schwarzenbergplatze zunächst durch Verlängerung der Schwarzenbergstraße bis hinter die Stefanskirche und von da, das Häusermeer durchquerend, bis auf den Quai hinaus ein bogenförmig geschwungener breiter Straßenzug angenommen erscheint. Hiemit ist die Forderung des Verkehrs bereits graphisch zu Papier gebracht und unterliegt es keinem Zweifel, daß diese und ähnliche Lösungen in ihren ökonomischen und künstlerischen Konsequenzen detaillirt zu studieren wären. Einige schätzenswerthe Beiträge hiezu brachte auch die dermalige Konkurrenz, und zwar in mehreren Varianten so ziemlich auf derselben Fährte, aber nur nicht so radikal vorgehend, sondern dem Gegebenen sich anschließend. Als besonders gelungen wäre hier die vorzügliche Lösung des Projektes Nr. 25 („Aspern“) hervorzuheben und zur wirklichen Ausführung bestens zu empfehlen. Dieses Projekt führt nämlich mit einem tadellos richtig angelegten rückwärtigen Domplatz, der ohne große Kosten eine Zierde Wiens werden könnte, so unscheinbar er sich auch auf dem Plane ausnimmt, beginnend eine breite Hauptverkehrsader auf der vorhandenen Fährte des Strobel- und Essiggäßchens über den Laurenzerberg zum Quai. Eine noch bessere Lösung derselben Idee gibt das preisgekrönte Mayreder’sche Projekt, indem es mit diesem neuen Straßenzug bis zur Rückseite der Aula südlich abbiegt und dort zur Vermittlung mit schon vorhandenen Wegen einen kleinen Platz anlegt. Am Stefansplatz bleibt jedoch die Palme dem Projekt Nr. 25 und ebenso in

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[Sittes Artikel erschien während der Laufzeit des Wettbewerbs zum Generalregulierungsplan für Wien. Zu diesem siehe Sitte, Camillo: „Die neue Stadterweiterung (1891)“, S. 319, Anm. 1 in diesem Bd. sowie insbesondere ders.: „Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)“, S. 422–447 in diesem Bd.] Der Wille des Stadtbauamtes (1893)

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der Lösung des Universitätsplatzes und des Platzes vor der Dominikanerkirche. Diese Detailfrage hat hier eine geradezu klassische, mustergültige Lösung gefunden, welche sofort angenommen und zur Durchführung vorbereitet werden sollte, denn hiedurch entstünden ohne große Kosten und ohne Schwierigkeiten zwei herrliche Plätze mitten in der innern Stadt nach allen Regeln der Kunst des Städtebaues richtig konzipirt, für Aufstellung von Monumenten geeignet und Bauparzellen bietend, für die es eine Freude der Architekten sein müßte, Façaden zu entwerfen, deren Wirkung schon im Vorhinein sichergestellt erscheint. Sonderbar ist es, daß dem gegenüber die Lösungen desselben Projekts draußen am Ring so verhältnißmäßig schwach ausfielen. Neugierig und gespannt darf man aber sein, wie sich dem Allen gegenüber die Machthaber unserer Stadtverwaltung verhalten werden. Was hier zu geschehen hat, liegt klar zu Tage, nämlich: Projekt Nr. 25 wäre noch anzukaufen und danach die Regulirung: Stefansplatz, Universitätsplatz, Dominikanerplatz unverändert und ungesäumt auszuführen; nach Projekt Mayreder wäre die Hauptstraße: Strobelgasse, Aula, Laurenzerberg anzulegen und auf den Stadtbauamtsvorschlag der ganz unnöthigen und nur sehr kostspieligen Durchquerung des Heiligenkreuzer Hofes wäre zu verzichten. – Ob das auch geschehen wird? Nur Eines noch in Kürze. Wenn man schon dem Wunsche nach langen Perspektiven in der Straßenführung, sogenannte Avenuen, weil sie gegenwärtig Mode sind, ja so ziemlich das Gesammtinventar des derzeitigen öffentlichen Kunstbedürfnisses auf diesem Gebiete ausmachen, Rechnung tragen will, dann frette man sich nicht mit Kleinigkeiten durch, denn eine große Weltstadt braucht jedes dieser Motive nicht allzuhäufig in vielen kleinlichen Beispielen, aber wohl wenigstens einmal in monumentaler großartiger Durchführung; dann, wenn man schon eine solche Avenue ersten Ranges schaffen will, fasse man den heroischen Muth, die bereits mehrfach besprochene weltstädtische Riesenavenue Praterstern-Stefansplatz2 durchzuführen nebst Weiterführung über den Graben durch den erweiterten Kohlmarkt durch das herrliche neue Burgportal über die entsprechend monumental auszugestaltende Mariahilferstraße bis nach Schönbrunn hinaus. Diese Riesenstraße müßte einzig dastehen in der ganzen Welt und eine Fahrt vom Nordbahnhofe bis Schönbrunn dann einen so gewaltigen Eindruck machen von Größe 2

[Zu der Planung einer Avenue „Tegetthoff–St. Stephan“ siehe Sittes „Stellungnahme im Donauclub zur Frage der Avenue (1895)“, S. 454–459 in diesem Bd.]

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und Herrlichkeit unserer Stadt, daß keine Stadt der Welt hiemit wetteifern könnte! – Wird man sich in den Kreisen unserer Stadtväter bis zu solchem Heldenmuthe aufschwingen können? Schwerlich; denn in diesen Kreisen herrscht Detailkrämerei und behagliches Simpeln in Kunstfragen, und gegen Philisterei kämpfen bekanntlich Götter selbst vergebens, um wie viel mehr erst eine Handvoll armer Künstler und Kunstfreunde. In diesen Kreisen gilt nur der Wille des hochlöblichen Stadtbauamtes als suprema lex, und dieser Wille schreckt instinktiv vor jeder großen Idee zurück. Dieser Wille ist traditionell nur auf das Kleine gerichtet, auf das Alltägliche, Normalmäßige, Protokollirte und Paragraphirte. Man schweige doch endlich einmal mit der konventionellen Lüge, daß große künstlerische Ideen nicht zu verwirklichen seien, weil das zu viel kosten würde und unpraktisch wäre. Die wahre große Kunst ist niemals unpraktisch und trägt die höchsten Zinsen. Dagegen kostet unserer Stadt die unnöthige kleinliche Prinzipienreiterei ungezählte Millionen, ja Milliarden; nur nicht auf einmal und nicht so, daß sie als besonderes Belastungskonto aufscheinen. Was kostet das ewige Geraderichten aller Straßen? Was kostet die Marotte, jedes entlegenste Winkelgäßchen auf die vorschriftsmäßige Normalbreite zu bringen? – Wenn man nur einen kleinen Theil dieser alljährlich nichtig verzettelten Summe einmal konzentriren wollte, man könnte Wunder wirken. Gerade das ist es aber, was man nicht will; man will das Große nicht, sondern man will in seinem Alltagsgeleise nicht gestört sein. Danach wird Alles sorgsam eingerichtet, und für diese traurige Wahrheit liefern gerade unsere Stadtplan-Konkurrenzen den Beweis. Es ist nothwendig und hoffentlich ersprießlich, diesen Beweis endlich einmal vor der Öffentlichkeit anzutreten. Was mußte alles in Bewegung gesetzt werden, um endlich eine solche Konkurrenz überhaupt zu erreichen! Noch 1890 glaubte man sich dieser immer lästiger an die Thüre klopfenden Forderung erwehren zu können. Es wurde damals noch vom Gemeinderathe verlangt, ein Projekt im amtlichen Wege studiren und ausarbeiten zu lassen, und als äußerste Konzession galt es, vom Ingenieur- und Architektenverein innerhalb zweier Jahre sich Vorschläge zum Generalbaulinienplan erstatten zu lassen auf dem Wege der bekannten beliebten Kommissionen. Ja, der Wiener Hausherrenverein erklärte in seiner „Hausherren-Zeitung“ sogar rundweg, daß er die Nothwendigkeit eines solchen Planes überhaupt nicht begreife, denn es sei bisher mit den Baulinienbestimmungen von Fall zu Fall recht schön gegangen! Damit ist in beschränktem Sinne auch das Richtige getroffen, denn ein Detailregulirungsplan, der alle Gassenfluchten vorschreibt, ist nicht nur unmöglich zu konzipiDer Wille des Stadtbauamtes (1893)

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ren für einen Einzelnen, sondern unmöglich auszuführen, weil sich bei einem großen rasch lebenden Stadtkörper die Bedingungen hiefür täglich ändern. Solches kann thatsächlich nur das städtische Bauamt leisten, das alle Behelfe zur Hand hat und vor Allem über die in diesem tausendfach verschlungenen Gewirre von Einzelinteressen allein erfahrenen Fachleute verfügt. Aber um das handelt es sich auch nicht, sondern um große allgemeine Gesichtspunkte, gleichsam um die Regeln, nach denen bei dieser täglich wiederkehrenden Arbeit verfahren werden soll. Dies wurde denn nach Fallenlassen der älteren Formel, nach welcher „mit größter Beschleunigung“ durch das städtische Bauamt ein General-Regulirungsplan ausgearbeitet werden sollte, in die neue klassische Formel gebracht: „Der freie Wettbewerb solle den Ideenschatz erbringen, aus dem das Beste entnommen werden kann.“ Die Angst vor diesem gefährlichen Spiele mit dem freien Wettbewerbe spiegelt sich in einer Reihe von Sicherheitsmaßregeln, mit denen dieses Zugeständniß an die Öffentlichkeit, an die Künstlerschaft umgeben wurde. Als Grundsatz wurde aufgestellt: „Der Ausbildung der Verkehrsmittel m ü s s e n alle anderen baulichen Anordnungen sich unterordnen.“ So, So? Ist denn das nicht gerade Aufgabe der Konkurrenten: Kunst, Verkehr und Stadtgeschichte in einen harmonischen Zusammenklang zu bringen? wobei selbstverständlich bald hier der wichtigeren Verkehrsforderung, bald dort der wichtigeren Kunstforderung das Ihre zugemessen wäre? Aber gemach! Als hochwichtige Forderung wurde durchgebracht die höchst einseitige Bestimmung, daß von der Konkurrenz perspektivische Bilder oder gar Modelle grundsätzlich auszuschließen seien, und in dem mit 26. November 1890 sanktionirten Anhang zur Wiener Bauordnung, in welcher zum ersten Male amtlich von einem Generalregulirungs- und Baulinienplan die Rede ist, wurde eigens bestimmt, daß diese Pläne vom Gemeinderathe festgesetzt werden müssen. Das ist ja doch ohnehin selbstverständlich, und es ist in der ganzen Welt noch Niemandem eingefallen, einen prämirten Stadtplan ohneweiters ausführen zu lassen, weil das eben gar nicht geht. Wozu also so viel Sorge und Angst? – Die Hauptsorge wendete sich aber der Zusammensetzung der Jury zu. Hier sollte einem Unglück von vorneherein begegnet werden, und so kam es, daß trotz energisch motivirter Gegenvorstellung im Gemeinderathe selbst, trotz Resolution der Künstlergenossenschaft, daß mindestens die Hälfte der Juroren jeder Konkurrenz aus Fachmännern bestehen soll, dennoch Bürgermeister, Stadtbaudirektor und eine überwiegende Zahl von Gemeinde- und Stadträthen in die Jury beordert wurden, während die restlichen Stimmen der Stadterweiterungs- und Donauregulirungs-Kom-

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mission, der Künstlergenossenschaft und dem Ingenieurvereine zugetheilt wurden, wo man noch einen oder den andern Wahlerfolg erwarten durfte. Wo bleiben da die anerkannten Spezialisten, wo die von den Konkurrenten Gewählten, wo bleiben die Vertreter des Auslandes? Wenn man, wie bei der Gesammtplankonkurrenz, auch auf Konkurrenz hervorragender Ausländer rechnet, so darf man – einfach aus Anstandsrücksichten – nicht eine Kirchthurmjury zusammensetzen. Jeden Einzelnen in Ehren; aber in eine solche allgemeine Konkurrenz, welche 70,000 fl. Preise vertheilt, gehörten unbedingt auch die ersten Kapazitäten des Auslandes; aus Deutschland: Baurath Maertens, der Verfasser des ersten bahnbrechenden Werkes über Städtebau; Architekt Henrici, Professor der technischen Hochschule zu Aachen, durch seine mustergiltigen Stadtpläne für Breslau, Hannover etc. berühmt, und der Stadtbaudirektor von Köln Stübben. Aus Italien gehörte Boito3 in die Jury, der Venedig vor dem Fluche moderner Regulirung gerettet hat, und in Paris wäre doch auch noch eine Kapazität ersten Ranges zu finden gewesen. Der Bürgermeister gehört grundsätzlich nicht in die Jury, denn er ist der Hausherr, der Besteller, der ja eben ein vorurtheilsfreies Fachmännerurtheil sucht und dann nachträglich ohnehin damit machen kann, was beliebt und durchführbar erscheint. Aus demselben Grunde gehören Gemeinderäthe als solche nicht hinein, und der Stadtbaudirektor und andere Amtsvertreter gehören als Informatoren, aber nicht als erbgesessene Majorität hinein. Dieses Mißverhältniß zeigt deutlich, mit welchen scheelen Augen noch immer diese Konkurrenz angesehen wird, deren Resultat man sichtlich so wünscht, daß den bisherigen Plänen und Absichten des Stadtbauamtes kein allzubreiter Strich durch die Rechnung gemacht werde. Wenn man den Muth hätte, das vor der Öffentlichkeit einzugestehen, so wären die 70,000 fl. hiefür zu ersparen. Wenn man große neue Ideen fürchtet, könnte am besten das Stadtbauamt in seiner bisherigen Unfehlbarkeit und Allmacht weiter arbeiten, denn was den täglichen Dienst anbelangt, so verdient es ja alle Anerkennung, und wer Gelegenheit hatte, die Mitglieder desselben einzeln bei der Arbeit kennen zu lernen, der wird unbedingte Hochachtung haben, besonders auch

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[Der italienische Architekt, Restaurator und Kunstschriftsteller Camillo Boito (1836–1914) lehrte zwischen 1860 und 1908 als Nachfolger Friedrich von Schmidts Architektur an der Mailänder Accademia di Belli Arti di Brera. Von großem Einfluss waren seine Beiträge zur Denkmalpflege, vor allem die Charta del Restauro, die – von Boito verfasst – 1883 auf dem Kongress der italienischen Ingenieure und Architekten beschlossen wurde.] Der Wille des Stadtbauamtes (1893)

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vor unserem mit Recht verehrten Baudirektor.4 Das entkräftet aber nicht die Behauptung, daß ein Amt eine künstlerische Konzeption nicht fertig bringen könne. Der Amtsschimmel ist eben kein Pegasus, und es heißt ihm von vorne­ herein die Flügel binden, weil man sich vor seinem Fluge fürchtet, wenn solche außerordentliche Vorsichtsmaßregeln beliebt werden. Wie ein Alp lagerte dies auf der kleinen Konkurrenz; wie ein Alp lagert es auf der großen, für welche bisher erst z e h n Konkurrenten angemeldet sind! Dieser jetzige engherzige Geist brächte kein Wiener Rathhaus mehr zustande, und es bleibt nur die eine Hoffnung, daß das Werk besser gelingt, als es vorbereitet wurde. Hat ja trotz aller Schwierigkeit auch die erste Konkurrenz eine unerwartet günstige Lösung gefunden. Schreiber dieses empfing dieser Tage einen Brief des Herrn Stadtbaudirektors, in welchem er mittheilt, daß er für die Ausführung des Mayreder’schen Projekts einsteht. Schön das! Das ist eine der vielen trefflichen Eigenschaften an Berger, daß er nicht starrsinnig ist und das Gute nimmt, wo er es eben findet. Wenn doch unser Herr Bürgermeister auch diese seltene Eigenschaft besäße, dann wäre der Wille des Stadtbauamtes in manchem vielleicht auch nicht so halsstarr, als es leider wirklich der Fall ist.

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[Der Architekt Franz Berger (1841–1919), ausgebildet am Wiener Polytechnikum, wirkte von 1883–1908 als Wiener Stadtbaudirektor. Berger prägte maßgeblich die bauliche Entwicklung der Stadt Wien in der Zeit nach der Errichtung der Ringstraße. In seine Amtszeit fallen u.a. die Eingemeindung der Vororte (1890/1892), die Generalregulierungsplanung (ab 1892/1894), der Bau von Gas- und Elektrizitätswerken sowie die Errichtung umfangreicher Verkehrs- und Versorgungsanlagen.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Wiener Villenzone (1893) Neues Wiener Tagblatt, 3. September 1893. Sign. SN: 230–426. Abgedruckt in: Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1998, S. 206–208.

Nun ist es herausgebracht, wofür die Leute ihr vieles Geld ausgeben: Im ­Wienerwald-Gürtel allein im mittleren Duchschnitte der letzten zwanzig Jahre werden 183,6 Villen jährlich neugebaut zu Zwecken der Sommerfrische. Das ist höchst überraschend selbst für denjenigen, der das Belegmaterial hiefür stückchenweise unter seinen Händen wachsen sah. Nahezu zweihundert Villen jährlich! – das bedeutet, daß ebenso vielen Wiener Familien es jährlich gelang, sich zu ausgesprochener Wohlhabenheit emporzuschwingen. Die Glücklichen sind meist Fabrikanten und Kaufleute; auch berühmte Ärzte, Advokaten, Notare, Baumeister und Bauunternehmer; aber auch solche welche die eigene ständige Landwohnung hätten früher schon erschwingen können, die jedoch erst jetzt den unwiderstehlichen Drang, sich der Natur in die Arme zu werfen, in ihrer Brust entdeckten. Das ist der Naturalismus des Geldausgebens und nun begreift sich unter Einem, warum in unserer Zeit verhältnismäßig immer weniger Kleingeld erübrigt wird zur Füllung der Theaterkassen, zum Ankaufe werthvoller Gemälde oder gar zur Bestellung von Statuen und Bronzen, zur Anlegung kostbarer Büchereien und sonstigem idealen Luxus. Der moderne Großstädter strebt mit all’ seiner Sehnsucht ans Meer, ins Gebirge, in die Wälder; an Bildung und Kultur hat er schon genug im Magen. Der angegebene jährliche Villenzuwachs beschränkt sich dabei nur auf den Wienerwald nebst den unmittelbar anschließenden Alpenthälern, also auf die eigentliche Wiener Villenzone mit der beiläufigen äußeren Grenze von Klosterneuburg über Neulengbach, Hainfeld, Gutenstein bis Gloggnitz. Nicht gerechnet ist dabei die Gruppe um den Bisamberg und Alles, was nach Ungarn zu liegt, wo die Sommerfrischen-Besiedlung von Wien aus um Bruck herum, am Leithagebirge, am Neusiedler-See gleichfalls schon begonnen hat; nicht gerechnet sind die Bebauungen der Donaugelände, wo besonders von Krems stromaufwärts und in die schöneren Thäler der Nebenflüsse (Kamp, Krems etc.) hinein schon sehr viel geschehen ist; nicht gerechnet sind die vielen vom Wiener Kapital geschaffenen Villengruppen an den oberösterreichischen Seen, an den Kärntner Seen und in zerstreuten Gebieten. Wiener Villenzone (1893)

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Diese Villenbau-Statistik, welche merkwürdigerweise bisher noch keine Bearbeitung fand und daher noch schwierig zustande zu bringen ist, bietet viel des Interessanten; vor Allem dadurch, daß sie einen Einblick in die ungeahnte Ausdehnung dieser bautechnischen Spezialität gewährt. Man kann selbst auf Grund eines blos beiläufigen Überblicks kühn behaupten, daß die gesammte Leistung des ganzen vorigen Jahrhunderts auf diesem Gebiete heutzutage binnen Jahresfrist überboten wird. Diese gewaltige Leistung ist das echte Kind der neuesten Zeit, eine Frucht des Großstadtwachsthums, des Bahnenbaues, der immer mächtiger schwellenden Natursehnsucht. Andererseits aber ist die große nationalökonomische Seite dieser Unternehmungen nicht zu verkennen; der in aufreibender Arbeit erschöpfte Großstädter findet neue Kraft; tausende von Arbeitern der zahlreichen Baugewerbe finden angemessene Beschäftigung und bis in entlegene Thäler dringt erhöhter Wohlstand. Die streng tabellarischen Nachweisungen aller dieser Verhältnisse sollen seinerzeit fachmäßig veröffentlicht werden; hier nur vorläufig einige der wichtigeren Ergebnisse: Diese gesammte Baubewegung hängt zeitlich und örtlich mit dem Ausbau des Schienennetzes zusammen und eine geographische Übersichtskarte, in welcher alle Orte, in denen die Besiedlung im gleichen Jahre begann, mit Linien untereinander verbunden sind, gewährt einen Anblick, wie eine Karte mit Terrainkurven, geradeso als ob ein vielgestalteter gebirgiger Erdtheil allmälig aus der Oberfläche des Meeres hervorgehoben würde; zuerst scheinen hie und da einige Spitzen (Baden, Vöslau etc.) um die sich immer weitere Ringe anschließen, bis endlich fast alles Land in die Villenregion emporgehoben erscheint. Gleichsam als Hauptgebirgsstock steht Wien selbst da mit einer sanften Abdachung gegen Westen, indem hier zuerst das nächstgelegene Land (Dornbach, Währing, Ober-Döbling bis an den Fuß des Kahlenberges) mit zwar spärlichen, aber in ihrer Art reizenden und mustergiltigen kleinen Barockbauten sammt Gartenanlagen besteckt wurde, worauf die weitere Hinaus­schiebung seit den Fünfzigerjahren stetig erfolgte; von Dornbach nach Neuwaldegg; von Döbling nach Grinzing, Sievring, Gersthof, Pötzleinsdorf, Neustift am Walde; von Klosterneuburg nach Kirling und so fort. Mit Erbauung der Westbahn schießt ein Villenstrang dieser neuen Fährte entlang immer weiter hinaus und ebenso geht es von Mödling immer tiefer nach Hinterbrühl hinein und ähnlich auf allen anderen Punkten nach Westen. Das Naturgemäße dieses stetigen Hinausschiebens des Wiener Villengürtels ist unschwer einzusehen; die richtige Würdigung dieser Erscheinung ist

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aber von bestimmendem Einfluß auf die Richtung einer gesunden Bauspekulation. Der älteste engste Sommerhausstreifen in nächster Nähe hat heute seine Bedeutung bereits geändert, er ist bereits ein Bestandtheil der Stadt geworden. Das gleiche steht dem nächst anliegenden Ring in nicht allzuferner Zukunft bevor. Demzufolge müssen die jetzigen Villen dieses Streifens sich in Wohnhäuser umgestalten und ihre Besitzer müssen sich neue Villen weiter draußen erbauen. Einen bedeutenden ruckweisen Antrieb wird dieses Hinausschieben aber erhalten durch den unmittelbar vor uns stehenden Ausbau der Wiener Ringbahnen, die es ermöglichen werden, rasch und bequem weiter hinaus zu kommen. Mit allen diesen elementaren Vorgängen ist noch überdies die Stimmung des Publikums aufs engste verwachsen. Noch in den Fünfzigerjahren konnte man bei einer Stellwagenfahrt nach Dornbach die Leute regelmäßig die Stelle bezeichnen hören, an welcher die schwüle Stadtluft aufhöre und die köstliche Landluft beginnt. Heute finden schon übertriebene Leute die Luft in Dornbach, Mauer, Liesing kaum mehr erquickend und die Nase des wahren Luftfeinschmeckers gibt sich mit armseligen Luftschichten unter tausend Metern Meereshöhe überhaupt nicht mehr ab. So gibt es jetzt schon „kritische“ Köpfe genug, denen in diesem Sinne Wöllersdorf ein Greuel, Piesting eine Unmöglichkeit und erst Gutenstein denkbar ist, wo denn auch in der That ein prächtiges Villenbouquet (die tonangebenden, besten durchaus Werke des bekannten Architekten Deininger1) wie Kressensamen aufgeschossen ist, sammt reizender Badeanstalt mit dampfgeheiztem offenen Schwimmbassin und allen sonstigen neuesten Einrichtungen. So hat sich der Wiener Villengürtel bereits bis Hainfeld vorgeschoben und wird sich stetig in diesem Sinne weiter schieben, während in den engeren Kreisen die Jahreswohnungen sich mehren, wie schon jetzt in Hietzing und Penzing, eine Erkenntniß, welche für Bauspekulation und Bahnenprojektirung von nicht geringer Wichtigkeit ist.

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[Der Architekt Julius Deininger (1852–1924), ausgebildet in Wien am Polytechnikum bei Heinrich von Ferstel sowie an der Akademie der bildenden Künste bei Friedrich von Schmidt, lehrte ab 1883 als Kollege Camillo Sittes an der Wiener Staatsgewerbeschule. Schon während seiner Ausbildung war Deininger 1872 Mitarbeiter im Baubüro des Währinger Cottageviertels. Ab 1876 arbeitete er im Atelier Schmidts am Bau des Wiener Rathauses. Deininger machte sich in den 1880er und 1890er Jahren vor allem als Architekt von Villen und Landhäusern in Wien und Niederösterreich einen Namen. Im Sommerfrischeort Gutenstein südwestlich von Wien errichtete er zwischen 1887 und 1890 vier herrschaftliche Villen im historisierenden Stil sowie ein Grabmal und ein Schwimmbad.] Wiener Villenzone (1893)

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Das Beispiel von Gutenstein führt dazu, noch von einer andern Seite das Ganze zu besehen. Die Betrachtung der einzelnen Sommerfrischen zeigte nämlich, daß die Besiedlung anfangs meist langsam und schwierig vor sich geht und sich erst dann bedeutend steigert, wenn eine gewisse Summe von Erfordernissen (gute Verpflegung und Kommunikation, Geselligkeit, Bad, Arzt etc.) erreicht ist. Erst dann steht der betreffende Ort auf der Höhe seines Berufes und nun geht es rasch vorwärts, denn die Zahl derjenigen, welche geneigt sind, als Bahnbrecher in Einsamkeit und Wildniß zu ziehen, ist offenbar verhältnißmäßig sehr gering. Die Grenze zu dieser Wendung zum Besseren erscheint gegeben bei etwa dreihundert Sommergästen. Erst diese Zahl schließt die nötige Menge von Bedürfnissen einerseits und von Geldmitteln anderseits in sich, damit alles Erforderliche in genügender Menge und Güte geboten werden kann. Es ist dies wieder ein Fingerzeig der Statistik für die Wege der Bauthätigkeit, das belangreichste Ergebniß dieser Untersuchung bleibt aber doch immer die Feststellung des überraschend großen Umfanges dieser Bauspezialität. Dem allem gegenüber muß man sich füglich wundern, daß sich die großindustrielle Spekulation noch nicht eines so ausgiebigen Arbeitsfeldes bemächtigte. Allerdings, solche Luftschlösseranlagen, wie die seinerzeit sogar durch öffentliche Konkurrenz beabsichtigte Kahlenberg-Parzellirung und Ähnliches lassen das vorsichtige Kapital kalt, aber wenn bei einer solchen Fülle von Bedürfnissen fast nirgends etwas Großes geschaffen wird, so beweist das doch einen betrübenden Mangel tieferer Studien und schöpferischer Ideen. Als Ausnahmen leuchten da heraus die Unternehmungen der Südbahn und diese verdienen es, als Muster studirt zu werden zur allgemeinen Anregung. Da ist zuerst die elektrische Bahn Mödling-Brühl zu nennen. Warum gedeiht diese? Einfach weil sie der naturgemäßen Hinausschiebung des Wiener Sommerfrischen-Gürtels entspricht. Dann die Semmering-Station.2 Eine glän2

[Infolge des Baus der Semmeringbahn, 1848–1854 unter der Leitung von Carl von Ghega (1802–1860) als erste Gebirgsbahn Europas mit zahlreichen Tunneln und Viadukten errichtet, entwickelten sich die am Semmeringpaß gelegenen Gemeinden ab den 1860er Jahren zu Ausflugs- und Erholungsorten der Wiener Gesellschaft (Sommerfrische, Wintersport). Maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung zum Tourismusgebiet hatte die Südbahngesellschaft, die unter der Leitung Friedrich Julius Schülers (1832–1894) ab den 1880er Jahren an der Semmeringbahn große Eisenbahnhotels wie das Grand Hotel Südbahn errichtete. In Gemeinden wie Payerbach und Gloggnitz entstand eine Reihe von Landhäusern und Villen des Wiener Großbürgertums.]

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zende Idee, weil sie die bedeutende Höhenlage in unmittelbarer Nähe von Wien ausnützt, und die Folge davon ist, daß dort nicht genug gebaut werden kann; aber warum hat diese gerade für die geistig aufreibend arbeitende Gesellschaft zur momentanen Erholung so wichtige Stelle noch keine Telephonverbindung nach Wien? (Wird sie nächstens erhalten. Die Red.) Endlich: Abbazia.3 Es gibt kein passenderes Beispiel für die Macht der hier geschilderten Verhältnisse, als das Aufblühen dieses ehemals elenden Nestes zu einem glänzenden Kurort, gleichsam über Nacht. Noch 1883 bei Beginn der Arbeiten gab es dort für die Ingenieure keine Verpflegung und selbst in dem eine halbe Stunde entfernten Volosca nur zwei- bis dreimal in der Woche, wenn es gut ging, warme Küche. Ausflügler aus Fiume nahmen damals kalte Küche und Wein mit; dem einzigen Krämer waren einmal die Zündhölzchen ausgegangen und das anderemal das Petroleum, so daß es auch kein Licht mehr gab; eine Fensterscheibe mußte von Laibach aus eingeschnitten werden. Gegenwärtig besitzt dieser wie in einem Zaubermärchen verwandelte Ort alle Bequemlichkeit in zahlreichen Hotels und Villen, eine Wasserheilanstalt, alle Arten Seebäder, Spielplätze, herrliche Gartenanlagen und Promenaden, Gasbeleuchtung, Kanalisation, Wasserleitung (von besonders tüchtiger Durchführung durch Ingenieur Meese), eine Dampfwäsche mit allen Maschineneinrichtungen, über vierzig Zweispänner, eine Menge Barken, zum Lustfahren von früheren Fischern des Ortes gehalten, neun Ärzte, eine Buchhandlung, drei Leihanstalten für Bücher und Musikalien, zwei Photographen; alle nöthigen Bauhandwerker, darunter drei ständige Steinmetze, einen Bazar, Ziergärtnereien, allerlei Krämereien und, was das Bemerkenswertheste ist, auch bereits ein Konkurrenzunternehmen (Wiener Konsortium), das die Parzellirung eines größeren Terrains bei S. Nicolo plant. Auch dieses Unternehmen wird zweifellos gedeihen, wenn es geschickt und energisch genug angefaßt wird. Diese Beispiele zeigen genugsam, wie lohnend es ist, auf diesem Gebiete zu arbeiten;4 sie zeigen aber auch, worauf es ankommt. Irgend eine verschol3

[Das nordadriatische Seebad Abbazia (Opatija) an der Westküste Istriens, bis 1918 österreichisch-ungarisch (Küstenland), heute kroatisch, entwickelte sich infolge des 1873 abgeschlossenen Ausbaus der österreichischen Südbahn nach Fiume (Rijeka) vom kleinen Fischerdorf zum mondänen Kurort. Wie am Semmering errichtete die Südbahngesellschaft 1884 auch in Abbazia ein Eisenbahnhotel, das Hotel Quarnero.]

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[Sitte arbeitete zum Zeitpunkt des Erscheines seines Artikels am Projekt einer Villenkolonie in Mariental (1887–1896). Siehe hierzu CSG, Bd. 6.] Wiener Villenzone (1893)

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lene Waldlehne parzelliren und dann alles sich selbst überlassen, das führt nicht zum Ziele. Das erste unumgängliche Erforderniß ist eine naturgemäße bahnbrechende Idee, das zweite eine rasche energische Durchführung. Noch ein Beispiel kann hier angeführt werden, nämlich die Anlage des Währinger Cottageviertels, bei welchem wieder eine gesunde Grundidee, nämlich die Übertragung des englischen Wohnsystems, die Lebensfähigkeit sicherte. Weil aber dieses System unserer Bevölkerung noch fremd war, bedurfte es doch der ganzen zähen Ausdauer des ersten Unternehmungsdirektors Borkowsky5 und der ganzen Tüchtigkeit des Chefarchitekten Müller6, um dieses System bei uns auch zum Sieg zu führen. Ein wenig mehr Herz für solche gemeinnützliche Unternehmungen von Seite unserer Kommunalverwaltung wäre vielleicht auch nicht schlecht. Sicher steht das Eine, daß alle Schätze der herrlichen Umgebung Wiens noch nicht gehoben sind. Ein wenig mehr Unternehmungsgeist, als blos diese paar allerdings rühmlichen Muster zeigen, wäre eben auch wieder nicht schlecht.

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[Der Architekt und Stadtbaumeister Karl von Borkowski (1835–1905), nach einem Studium am Wiener Polytechnikum und an der Nürnberger Kunstschule im Atelier Heinrich von Ferstels in Wien tätig, konnte seine beim Bau einer „Cottageanlage“ in Kassel-Wilhelmshöhe gemachten Erfahrungen auch in Wien anwenden. Er war 1872 an der Gründung des Wiener Cottage-Vereins beteiligt, der den Bau des Cottageviertels organisierte und durchführte. Borkowski trat 1895 von seiner Tätigkeit als Direktor des Bauvereins zurück und leitete in der Folge ein eigenes Atelier.]

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[Der Architekt Hermann Müller (1856–1923) studierte bei Friedrich von Schmidt an der Akademie der bildenden Künste sowie bei Heinrich von Ferstel am Polytechnikum in Wien. Nach Mitarbeit im Atelier Schmidts war Müller ab 1884 in der Baukanzlei des Cottage-Vereins beschäftigt. Infolge des Austritts Karl von Borkowskis übernahm er 1895 dessen Amt als Direktor. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger erlaubte er die Beteiligung anderer Architekten an der Bebauung des Areals. Müller selbst konnte – neben dem mit Borkowski entworfenen Clubhaus des Cottage-Eislaufvereins und dem Aussichtsturm im nahe gelegenen Türkenschanzpark – einige Villen im Cottageviertel errichten.]

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Das Waldviertel einst und jetzt (1893) Neues Wiener Tagblatt, 25. August 1893. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 168–137.

Unter den österreichischen Topographien ragt hoch hervor als überhaupt merkwürdiges Werk ersten Ranges die schon so vielfach ausgeschriebene Darstellung Niederösterreichs von Schweickhard.1 Ein Quellenwerk. Schweick­ hard sammelte für seine einundfünfzig Bände das Materiale theils aus allen möglichen Chroniken, theils aber, und darin liegt das Monumentale, indem er selbst von Hof zu Hof ging und überall die Reste alter Überlieferungen, Sagen und auch eine wahre Unmasse statistischer und wirthschaftlicher Details zusammenraffte. Ein kompletter Schweickhard steht auch stolz auf seinem Regale in den heiligen Flüsterhallen der Hofbibliothek. In einem seiner Bände findet sich in Bleistiftnoten ein Gespräch von vier verschiedenen Lesern sehr zart und höchst abgekürzt geschrieben, woraus man erkennt, daß diese Bibliothekserfahrenen sich der Verletzung des Gesetzes, keine Randnoten einzutragen, in seiner ganzen Wucht bewußt waren, daß sie aber trotzdem den unwiderstehlichen Drang nicht meistern konnten. Die Sache ist auch zu wichtig, denn es handelt sich dabei um nichts Geringeres, als um die Frage, ob es bei Burg Hartenstein, also in der Nähe von Krems, noch wilde Bären gibt oder nicht. Schweickhard selbst sagt in dem Texte, daß es in den Schluchten der Krems bei Burg Hartenstein noch Luchse und Bären gibt. Der erste Glossar mit Datum Juli Fünfundfünfzig bemerkt hiezu, daß es dort zwar Luchse, aber keine Bären gibt; die nächste Bemerkung vom August desselben Jahres läßt auch die Luchse nicht gelten. Darüber offenbar bereits erheitert, merkte ein Dritter im Jänner 1866 die noch mögliche Variante an, daß es dort wohl Bären, aber keine Luchse gäbe. Das war einem vierten Leser, vom März 1867, denn doch endlich zu toll und auch er trat die Bibliotheksordnung mit Füßen aus Ingrimm seines Herzens und schrieb hin: „Jawohl, aber blos angebundene.“ Also eine solche Gegend ist das um Hartenstein herum! In der That! An dem harten Fels, auf dem hoch oben die prächtige Ruine steht mit ihrem riesigen, dicken Rundthurm vorne beim Thorweg und einem sehr hohen, schlanken Luginsland rückwärts auf der obersten Felshöhe, an diesem harten Stein

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[Schweickhardt Ritter von Sickingen, Franz Xaver: Darstellung des Erzherzogthums Österreich unter der Enns durch umfassende Beschreibung aller Burgen, Schlösser, Herrschaften, Städte (…), 37 Bde. Wien: Schmidl 1831–1841.]  Das Waldviertel einst und jetzt (1893)

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stößt sich die Krems und sie muß rauschend eine Schlinge herum bilden, sich noch lange zwischen Felsschluchten hindurchzwängend. Da gibt es keine Mühlen mehr, obwohl Wasser und Gefälle reichlich vorhanden wären, ja selbst die Fischersteige verlieren sich und wer sich vornimmt, den Flußlauf grundsätzlich nicht zu verlassen, der muß seine Fährte mitten durchs Wasser nehmen. In der Vorzeit, als noch ringsherum Urwald lagerte, muß es hier noch wilder ausgesehen haben. Den strategischen Werth dieser Schlucht erkannte aber schon der Urbewohner der ältesten Steinzeit, wie die hier entdeckte sogenannte Gudenus-Höhle zeigt, in der sich Knochen des vorweltlichen Höhlenbären mit merkwürdigen Resten ältester menschlicher Kultur vereinigt vorfanden. Welch’ weiter Weg von da an bis zur prächtigen Ausgestaltung der einstigen Ritterburg! Schweickhard sagt von ihr: Hartenstein sei eine der großartigsten Ruinen im ganzen Lande, das selbst das so sehr gepriesene Starhemberg übertrifft. Bei alledem war aber Schweickhard nach dem Stande der Alterthumsforschung seiner Zeit, nicht einmal in der Lage, den archäologischen Hauptwerth dieser Ruine zu erkennen. Dieser liegt darin, daß es nirgends in Österreich oder in Deutschland eine zweite Ruine gibt, welche so haarscharf zu den Burgenbeschreibungen der mittelalterlichen höfischen Dichtkunst und selbst des Nibelungenliedes paßt, wie diese. Gleich der Eingang mit seinem „Slegetor“ paßt wie kein zweiter zu der Burg des schwarzen Ritters im Iwein. Dieser ganze Vorbau ist so typisch klar, als ob er wie ein Paradigma aus allen Beschreibungen und zerstreuten Beispielen zusammengetragen wäre; er ragt als Quadrat aus der übrigen Grundfläche des Burgbaufelsens hervor in eine natürliche Bodensenkung, über deren tiefste Stelle eine Brücke ging, über sechs gemauerte Pfeiler. Den Kern dieses Vorbaues bildet jener in alten Geschichten berüchtigte erste Burghof, in welchen die überhitzigen Stürmer listigerweise gelockt werden sollten zur nachherigen Niedermetzelung, was auch dem Ritter Iwein trotz all’ seiner übermenschlichen Tapferkeit begegnet wäre, wenn ihn nicht die Zaubersalbe der klugen Kammerfrau Laudinens unsichtbar gemacht hätte. Den Hintergrund dieses Vorwerkes bildet der schon erwähnte gewaltige runde Thurm, neben dem nur ein schmaler Thorweg mit doppeltem Thorschluß übrig blieb, um in den innern großen Burghof zu führen. Der Anblick dieses Burghofes muß seinerzeit geradezu überraschend gewesen sein. Linkerhand, schräg in die Tiefe laufend und die ganze Ansicht des Ankommenden beherrschend die Langseite des Palastes mit dem großen Rittersaal und einer mächtigen Freitreppe zu dessen Eingang. Genau so muß

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die Gebäudestellung gewesen sein auf der Burg Gunther’s als Siegfried zu Gast erscheinend, sein Roß zur Verwahrung abgab und seinen Speer an die Treppenmauer lehnte. Auch hier befindet sich rechter Hand, gegenüber dem Hauptgebäude eine Menge niederer, gewölbter Räume an die Burgmauer angelehnt, welche am ehesten wirklich Stallungen waren, während im Winkel links hin, neben dem großen Thurm die Rüstkammern und Wohnräume der Reisigen zu suchen sind. Der Festsaaltrakt erinnert auch lebhaft an die Situation auf der Etzel-Burg, wie sie aus der erschütternden Beschreibung der geradezu erhaben furchtbaren Waffenthaten zu ersehen ist, die hier sich, dem Kampffluche folgend, so unerhört trotzig und grimmig abspielten. Alles Übrige deckt sich mit den alten Dichtungen gleichfalls so genau, daß nirgends etwas zu wenig oder zu viel, irgend ein Detail verschoben oder willkürlich umgebildet erscheint. Es müßte eine wahre Lust sein für einen archäologisch gebildeten Architekten, das Alles in altem Gefüge wiederherzustellen. Hinter dem Hauptbau folgen die Wohnräume der Familie, die Frauenkemenaten und hinter diesen das Burggärtlein, selbst gegen das Beschießen bei einer Belagerung gesichert auf überhängendem höchsten Felsvorsprung und so lauschig, wie es in den mittelalterlichen Gesängen geschildert wird. Aus Allem sieht man deutlich, daß hier ein kriegserfahrener, aber auch kunstsinniger Bauherr das Ganze anordnete. Die Burg hat sich auch lange erhalten. Nach den von Schweickhard aufgesammelten Sagen wurde sie 1645 von den Schweden scharf belagert, konnte aber nicht zur Übergabe gebracht werden. Aus diesem Sagenkreis hat Dr. Robert Weißenhofer eine anmuthige Erzählung geformt: „Der SchwedenPeter“, welche sich in den Händen aller Sommerfrischler der ganzen Umgegend befindet. Dieser kleine Roman ist nach dem Vorbild von Walter Scott gedacht, aber bis auf das Niveau der Schriften „für die reifere Jugend“ herabgedrückt. Sicherlich steckt in den einundfünfzig Bänden von Schweickhard mindestens ein halber Walter Scott drinnen, nur die Feder des großen Briten müßte einer wieder finden, um das Alles herauszuschreiben. Der Verfall der Burg datirt erst aus unserem Jahrhundert. Seither wurde wieder ein nibelungenhaft gewaltsamer Recke für sie bemerkenswerth, aber nicht ein ritterlicher Rüdiger, sondern Rudigier, der berühmte Bischof von Linz. Dieser wollte das in tiefer Thalschlucht versteckte einsame Felsennest an sich bringen und gedachte nach Plänen des Ingenieurs Fiedler eine Art Carcer oder Strafanstalt für minder gefügige Alumnen etc. daraus zu machen, aber diese Sache zerschlug sich begreiflicherweise. Das Waldviertel einst und jetzt (1893)

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Das neueste Verwerthungsprojekt besteht darin, eine – Kaltwasserheilanstalt daraus zu machen, und der bereits in seinem Fach berühmte Wasserdoktor, welcher diese Idee faßte, erklärt, ganz Österreich persönlich abgelaufen zu haben, ohne eine noch geeignetere Stelle je gefunden zu haben. So ändern sich die Zeiten. Da möchte wohl der Urmensch aus der Gudenus-Höhle gar verwundert dreinschauen, wenn er das mitansehen könnte, wie da gedoucht und kalt eingepackt wird! Das Trostreiche für ein archäologisches Gemüth ist aber der Umstand, daß die kunstsinnigen Besitzer der Feste (dieselbe steht seit 1699 in ununterbrochenem Besitze der Freiherren von Gudenus) nicht nur kontraktlich darauf bestehen, daß alle noch vorhandenen Reste der alten Burg erhalten bleiben und geschützt werden, sondern auch die Ausführung dieser Bedingung genau überwachen. Das ist auch noch das Beste, was sich thun läßt; denn die Neuherstellung solcher bereits in Trümmer verfallener Bauwerke ist doch blos am Papier vernünftig, in wirklicher Ausführung aber läuft sie zuletzt doch nur auf eine angenehme Phantasiebeschäftigung des bauleitenden Architekten hinaus, womit weder der Kunstgeschichte, noch der in die Zukunft strebenden lebendigen Kunst gedient ist. Schier noch mehr als in dieser versteckten Schlucht hat sich in unserem lieben Waldviertel Alles im offenen Lande draußen auffallend verändert, und zwar erst in den letzten Dezennien. Jetzt wimmelt es auch hier schon überall von Wiener Sommergästen, für welche allenthalben Wirthshaustrakte angebaut, Bauernhäuser adaptirt und Stockwerke aufgesetzt werden, aber auch der Villenbau setzt sich hie und da schon fest. Hand in Hand damit geht eine wahre Revolution in Küche und Keller. Die Wirthstöchter haben alle in Wien kochen gelernt, die Wirthssöhne alle ebenda die Metzgerei, um die verschiedenen „Kruschpel-“ und andere Spitze genau unterscheiden zu können; auf der Tafel gibt es feine neue Wäsche und auch schon mehr Geschirr als zu essen; kurz Alles, was eben zum Fortschritt gehört. Das ist alles recht schön, aber die alte Landesordnung war auch nicht von Pappe. Da kostete ein tadelloses Nachtlager acht Kreuzer; ein Pfund Forellen am Markte in Zwettl alle Freitage zwölf Kreuzer; ein saures Fleisch, die Lieblingsspeise der Heimischen, durfte der Städter allerdings nicht versuchen, denn es war in purem Essig gekocht, damit ihnen der beinahe ebenso saure Wein milder vorkäme, und richtig: wer den schärfsten Essig hatte, der war auch berühmt durch das „mildeste Weindl“. Außerdem gab es hie und da noch freie Bewirthung bei Förstern und Pfarrern für fahrende Studenten, denn andere Leute kamen überhaupt

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nicht, und einen lebendigen wirklichen Einsiedler am Sandelberg bei Krems. Das war doch noch Romantik des Reisens. So stand es noch Ende der Fünfzigerjahre, aber den Höhepunkt erreichte diese Richtung für den Schreiber dieses, als er 1867 zu Senftenberg wegen des Besitzes einer Generalstabskarte als Spion eingesperrt wurde, mit Nachtwächter, Bürgermeister und großem Hund vor der versperrten Thür. Das dauerte mehrere Stunden, bis der Herr Pfarrer, die einzige Vernunftinstanz des ganzen Ortes, an welche aber vor der Hinrichtung die Appellation noch gnädigst angenommen war, nach Hause kam. Der Herr Pfarrer, der natürlich die sofortige Setzung auf freien Fuß verfügte, sagte dann schmunzelnd beim Glase Wein: „Wissen’s, bei uns sind die Bauern solche Kerle, die alle Tage in der Früh noch die Lederhosen mit der Beißzange anzieh’n.“

Das Waldviertel einst und jetzt (1893)

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Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894) Neues Wiener Tagblatt, 6./8./14./31. März 1894. Sign. SN: 217/619, 227–430/2, 227–431, 227–432.

„Und sie bewegt sich doch” – dieses Wort Galilei’s möchte man freudig bewegt ausrufen, denn es geht doch vorwärts mit unserem lieben alten Wien, und so sind wir denn wieder einmal hoffnungstrunken und zukunftsfreudig gestimmt. Die Stadtplankonkurrenz, wenn auch noch so verklausulirt und zögernd begonnen, so daß sie im Keime zu verderben drohte und auch in der That nur spärlich beschickt wurde, hat trotz Allem eingeschlagen und die wenigen Männer, welche sich der Aufgabe mitzuthun, nicht scheuten, verdienen daher nur umso vollere und herzlichere Anerkennung. Diese Konkurrenz gestaltete sich zu einem Ereignisse für die Ausgestaltung unserer Stadt und ihre Anregungen werden nicht früher von der Tagesordnung verschwinden können, bis die so geradezu massenhaft erbrachten Ideen gehörig verarbeitet und ausführungsreif geworden sind. Dadurch allein schon kommt Leben in die ganze Angelegenheit und zeigt sich neuerdings, wie wichtig es ist: öffentliche Kunstangelegenheiten auch öffentlich und im Wege der Konkurrenz zu behandeln. „Ideen zu erbringen“ war die Aufgabe dieser Konkurrenz und diese Forderung ist reichlich erfüllt, denn Stoff zur weiteren Erörterung gibt es nun an allen Ecken genug. Nachdem die Verfasser der Projekte1 schon einzeln das Wort hatten, sollen nun die wichtigsten dieser nach Verwirklichung ringenden Ideen vorgeführt werden, so weit dies zur Erklärung des momentanen Standes erwünscht und ohne Pläne möglich ist. Während nun die Frage der Bahnlinien sich in einer gewissen Stagnirung befindet, weil alle Projektanten den momentanen Stand und die offiziellen Programme ziemlich unberührt ließen, kam die Frage der Wasserstraßen gewaltig in Fluß und zeigt sich, daß hier in der That hochwichtige Interessen zu vertreten sind, deren Behandlung nicht leicht mehr von der Tagesordnung abzusetzen sein wird. Die Steigerung des Donauverkehrs bringt dies mit sich, und die Verbindung der Donau mit der Oder und mit der Elbe, wodurch vor allem die große Kohlenfracht den Weg zu Wasser antreten würde. Von hieher gehörigen Projekten wären zu nennen: das schon ältere eines großen 1

Siehe „N. Wr. Tagblatt“ vom 25. v. M.

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Donauhafens in Verbindung mit Bewässerungskanälen durch das Marchfeld, verfaßt von dem Zivilingenieur J. v. Podhagsky;2 ferner mehrfache große Hafenanlagen theils am rechten Ufer der Donau, theils am Donaukanal, erstere unter mehrfacher Wiederbenützung des alten Donaubettes. Damit im Zusammenhange steht die Umgestaltung des Donaukanales, die Idee der Wienbettbewässerung, so daß auch dieses Gerinne zur Frachtschiffahrt (besonders für billigen Kohlentransport) verwendet werden kann und endlich die Herstellung einer schiffbaren Verbindung von da zum Neustädter Kanal. Von diesem wichtigen Verkehrsstandpunkte aus betrachtet, erscheinen manche Fragen in ganz anderem Lichte, zum Beispiel die Idee der Wieneinwölbung, die Gestaltung des Nordbahnhofes und die weitere Ausbildung der Donaustadt. Wer seinen Blick in die Zukunft wendet, der kann nie und nimmer damit einverstanden sein, daß gerade die große Donaustadt, dieser bedeutendste Stapelplatz des großen Stromes, wie mit einer chinesischen Mauer gerade gegen die Donau hin verrammelt ist und daher hauptsächlich gegen den Wienerwald zu wächst, was doch bekanntlich nicht die Seite des Weltverkehres von Wien ist. Wer seinen Blick in die Zukunft wendet, der sieht vielmehr gerade hier die großartigste Ausgestaltung der Stadt erblühen, die bisher nur gewaltsam zurückgehalten wurde, der fühlt sich bei dem Gedanken an das zukünftige Wien mit seinen drei Millionen Einwohnern an dem großen Wasserstraßenknotenpunkt geradezu bemüssigt, an die Seine bei Paris und an die Alster von Hamburg zu denken. Statt solcher Bilder sieht man aber gegenwärtig, daß nur mit Mühe eine kümmerliche Besiedlung der Donaustadt zu erreichen ist, und zwar infolge der gänzlich ungenügenden Verbindung mit der Altstadt. Der Prater bildet in diesem Zukunftsplane einen riesigen prachtvollen Stadtpark, ringsherum verbaut und sollte um jeden Preis als solcher und in seinem jetzigen originellen und reizvollen Zustande erhalten bleiben; die Bahnhöfe aber, welche sich in ihrer mißlichen Querlagerung dem Verkehre widersetzen, müssen zweifellos über kurz oder lang weichen, so wie dies auch anderwärts bereits unter oft ungeheueren Kosten der Fall war, wie zum Beispiel jüngst in Basel. Die unerbittliche Nothwendigkeit dieser Veränderungen liegt denn auch bereits sozusagen in der Luft und wurde in dem einen Projekt der Nordbahnhof bis tief unter das bahnhöfliche Existenzminimum herab beschnitten, während ein anderes Projekt den Nordwestbahnhof als überflüssig aufläßt, um hin2

[Podhagsky, Josef: Bericht über die Regulierung der March und ihrer Nebenflüsse in Mähren. Wien: o.V. 1877.] Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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durch eine Durchbruchstelle zur Donaustadt zu gewinnen. Man sieht, das sind Früchte, welche die Zeit reift, und dann wird auch einmal der Tag kommen, an welchem die schon vor Jahren angeregte Idee der monumentalen Ausgestaltung des Pratersternplatzes zeitgemäß sein wird. Darauf können und müssen wir warten; nur vorgegriffen sollte den Nothwendigkeiten der Zukunft nicht werden durch ungeschicktes Zutappen, und darin besteht die Weisheit und die Pflicht der Gegenwart. Leider rechnet der gegenwärtig bereits in Ausführung begriffene Regulirungsplan der Donaustadt mit diesen Faktoren gar nicht, und die Projektanten ließen ihn alle respektvoll so liegen, statt hier als Propheten ein Zukunftsbild zu schaffen zur Warnung für die Gegenwart. Eines geht aber mit zwingender Deutlichkeit aus der ganzen Erörterung hervor, daß Bahnhofanlagen grundsätzlich nie quer über die Radialstraßenzüge gelegt werden sollten, denn diese sind stets die Hauptadern des Verkehrs, die nicht unterbunden werden dürfen. Bahnhöfe, sowie größere Fabriksanlagen oder Spitäler mit ihren weitläufigen Gärten und dergleichen sollten nur neben oder zwischen den Radialstraßen eingeschoben werden, wie dies zum Beispiel beim Westbahnhof und beim Staatsbahnhof der Fall ist. Die schlechte Querstellung großer Gebäude wurde an anderer Stelle auch dem Radialverkehre zwischen der inneren Stadt und dem dritten Bezirke hinderlich, weshalb zur Sanirung dieser Stelle eine Menge von Vorschlägen erbracht wurde. Wieder an noch einer Stelle gab die Querstellung des langen Hofstallgebäudes zu Kopfzerbrechen Anlaß, weshalb allerlei Umbauprojekte zu Tage kamen (auch in besonderer anonymer Broschüre). Als einfachste und natürlichste Lösung erscheint aber doch diejenige, welche diese Stallgebäude ruhig stehen läßt und nur die Endigung der Siebensterngasse hinter ihnen gabelt. Als Gegenprobe dieser Regel kann die merkwürdige Thatsache angeführt werden, daß noch Niemand die Durchbrechung der doch erheblich langen Mauer des Schwarzenberggartens der ganzen Heugasse entlang verlangte zum Behufe der Eröffnung eines Ringverkehres. Unter allen Projekten verlangt auch nur Eines einen unterirdischen Gehweg unter dem Schwarzenberggarten mit Luftschächten. Es wäre interessant, wenn dies zur Genehmigung und Durchführung käme, denn dann würde man einmal handgreiflich sehen können, wie geringfügig dieser Querverkehr ist im Verhältniß zu dem riesigen Radialverkehr. Man kann jede Wette eingehen, daß dort wegen mangelhafter Frequenz und daher etwa auch Unsicherheit ein ständiger Wachtposten eingeführt würde. Mit dem Verkehre einer großen Stadt verhält es sich nämlich genau so wie mit der Blutzirkulation im lebenden Körper; Alles strebt von außen zum Herzen und von diesem wieder zurück nach außen.

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Es kommt einem bedeutsamen Umschwunge in den Ansichten gleich, daß in diesem Sinne schon vorwiegend der zentrale oder Radialverkehr ausgebildet wurde. Nur die Minorität der Projektanten legt noch ein Gewicht auf eine strenge Durchbildung zahlreicher Ringe, deren Einer, dessen Erläuterungsbericht sonst geradezu strotzt von einer Fülle gesunder Ideen, mit seiner letzten beinahe kreisförmigen Ringstraße bis über Groß-Enzersdorf geht. Allen diesen Ringen gegenüber bleibt uns aber der Trost, daß sie ohnehin gar nicht ausgeführt werden können, wegen zu großer Anlage- und Erhaltungskosten. Selbst ein kleinerer Außenring würde bei der Länge von rund dreißig Kilometern und bei der meist angenommenen Breite von etwa 40 Metern sammt Baumpflanzung einen Flächenraum von über einer Million Quadratmetern bedecken, also beiläufig so viel wie der ganze erste Bezirk. Ja! wer soll denn einen solchen zum dünnen wirkungslosen Bandstreifen ausgewalzten Riesenstadtpark in Herstellung und Erhaltung bezahlen? Und das alles noch obendrein blos zu dem Zweck, daß sich an der Peripherie einzeln herumwimmelnd alle Jahre einmal ein paar Gevattersleute besuchen können. Ringe nehmen rasch an Zweckmäßigkeit ab, je mehr sie nach außen rücken, und gleichzeitig nehmen dabei ihre Kosten unverhältnißmäßig zu. Die großen Kosten solcher langgestreckter verkehrsloser Querverbände lassen auch die sonst so verlockende Idee einer Hügelstraße vor dem Waldrande der Wienerberge von Hütteldorf an über Dornbach bis Nussdorf, welche in mehr oder weniger ausgeprägter Weise in zwei Projekten vorkommt, in anderem Lichte erscheinen.3 Das weltberühmte Muster aller dieser Hügelstraßen ist Viale dei colli4 bei Florenz, an welcher Florenz aber finanziell gar wenig Freude erlebte. Solche Dinge, so schön sie auch sind, dürften also lieber zweimal überlegt werden. Die Idee ist übrigens nicht neu, sondern geht bis in das Ende der Sechzigerjahre zurück, wo solche Hügelstraßen, Wienerwaldbah-

3

[Der Bau der Wiener Höhenstraße, einer Aussichtsstraße auf den Hügeln des Wienerwaldes, wurde bereits 1905 im Rahmen der Schaffung des Wald- und Wiesengürtels geplant. Das Projekt stammte vom Stadtplaner Heinrich Goldemund (1863–1947), der seine Vorstellungen 1905 publizierte. Goldemund, Heinrich: Generalprojekt eines Wald- und Wiesengürtels und einer Höhenstraße für Wien. Wien: Selbstverlag 1905. Erst im Mai 1934 wurde der Bau der Straße in Angriff genommen und bis 1940 in mehreren Abschnitten zwischen Neuwaldegg und Leopoldsberg/Klosterneuburg fertig gestellt.]

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[Der zwischen Porta di Roma und Ponte San Niccolò gelegene Viale dei Colli in Florenz wurde bis 1871 als Hügel- und Aussichtschaussee ausgeführt. Die Anlage entstand im Rahmen der durch den Architekten Giuseppe Poggi geplanten Erweiterung der Stadt, die von 1865 bis 1871 kurzzeitig als Hauptstadt des Königreichs Italien fungierte.] Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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nen und dergleichen mehrfach projektirt wurden, welche Bewegung endlich in einer Kahlenberg-Parzellirungskonkurrenz gipfelte vom Jahre 1872. Ähnlich wie die Außenringe sind auch die Diagonalstraßen, zum Prinzip erhoben, nur eine theoretische Schrulle, denn es ist einfach nicht wahr, daß man von jedem beliebigen Punkt des Stadtganzen zu jedem beliebigen andern Punkt in Kürze soll gelangen können, denn die Menschen haben der Quere nach nur in seltenen Ausnahmefällen etwas zu thun, und da sollen sie sich zu Gunsten anderer viel wichtigerer Stadtbaufragen nur einen kleinen Umweg ausnahmsweise einmal gefallen lassen, und sie lassen sich ihn auch gefallen. Es wurde berechnet, daß die jetzige Wiener Bevölkerung, wenn auf den Kopf täglich nur fünf Minuten Umweg gerechnet werden, im Jahr über 20 Millionen Arbeitsstunden dadurch verliert. Das wäre freilich schauderhaft, aber so ist es in Wirklichkeit nicht, denn die fünf Minuten Umweg sind nicht von der acht- oder zehnstündigen Arbeit abzuziehen, sondern von der größeren Hälfte der vierzehn- bis sechzehnstündigen freien Zeit und da gehören bekanntlich diese zwangsweisen täglichen Märsche vom häufig dumpfen Arbeitsraum zur neuerdings sitzenden Lebensweise zuhause meist sogar zu den Gesundheit erhaltenden Mitteln. Diese Gattung mathematischer Verkehrstechnik ist übrigens seit einigen Jahren im Aussterben begriffen und auch bei der jetzigen Konkurrenz zeigen sich gleichsam nur letzte Nachzügler davon, während die Straßenzüge meist naturgemäß gewählt und sowohl dem Bedürfniß als auch der Bodenbeschaffenheit angepaßt sind. Ebenso kommen Barbareien des Straßendurchlegens über ehrwürdige alte Kunstdenkmale nur mehr vereinzelt vor, sodaß man die heutige Verkehrstechnik überhaupt als auf einer höheren Stufe angelangt bezeichnen kann. Die schwierigsten Fragen waren hier aber bei der Verkehrsregulirung der innern Stadt zu lösen. Einzelne gingen dabei so weit, daß selbst der Volksgarten und der Kaisergarten, ja auch die Augustinerkirche und die Augustinerbastei den vom Innern herausstrebenden Straßenzügen zum Opfer fallen sollten. Die Lösung ist hier allerdings geradezu verzweifelt schwierig und von all’ dem vielfach Vorgeschlagenen, das noch viel mehr Debatte hervorrufen dürfte, wird voraussichtlich wenig übrig bleiben und zu diesem Wenigen dürfte die schon vielfach erörterte Durchquerung vom Laurenzerberg bis hinter die Stefanskirche und zur Akademiestraße5 gehören und ebenso auch 5

[In den 1890er Jahren wurde ein ost-westlicher Straßendurchbruch durch die Innere Stadt diskutiert. Die hier angesprochene Trasse Laurenzerberg–Stephansplatz–Akademiestraße

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eine verbreiterte Hauptverbindung von der Freyung über den Hof bis auf den Graben. In dem ersteren Falle ist derjenige Weg betreten, der in denkmalreichen Altstädten der richtige ist, nämlich: die altehrwürdigen Straßen stehen zu lassen und hinter ihnen quer durch die Häusermasse neue für den modernen Verkehr durchzubrechen. Dadurch wird, wie es nothwendig ist, sofort Abhilfe geschafft, und zwar ausgiebig und ohne Zerstörung von historischen und Kunstwerthen, wie dies bei bloßen Straßenverbreiterungen unausweichlich ist, welche (siehe Kärntnerstraße) obendrein erst dann fertig werden, wenn die neue Breite schon wieder nicht mehr genügt. Also auch hier fangen die richtigen Ideen hervorzusprießen an, und aus den hin- und herwogenden Meinungen beginnen bereits ausgereifte Formen sich abzukrystallisiren.6 Was nun die Vorstädte betrifft und endlich gar die Vororte, so sind hier günstige Lösungen weit leichter zu finden, weil die Anforderungen nach Verkehr gegen die Peripherie zu immer mehr abnehmen und nicht so viele historische und Kunstwerthe Schonung erheischen. Hier ist auch allerlei Gutes gefunden worden, aber doch eigentlich nichts von hervorragender Bedeutung, nichts was Einen in Aufregung versetzen könnte. Als belangreich könnte etwa erwähnt werden das überall zutage tretende Bestreben über die Wien, über den Donaukanal und auch über die große Donau eine größere Anzahl neuer Brücken zu spannen; ferner die förmlich als Zeitfrage bereits dastehende Ausgestaltung der Wienthaltrace; die gleichmäßige Vertheilung von Stadtbahnstationen in Verbindung mit Zentralfrachtstellen und besonderen durchgebildeten Sammelplätzen für die Masseneinfuhr und Massenausfuhr und endlich in prinzipieller Hinsicht die Beobachtung, daß hier viel auf dem altbeliebten Wege der bloßen Straßenverbreiterung zu saniren gesucht wird und daß dieses System hier meist am Platze ist, weil keine großen Kunstwerthe ihm im Wege stehen und weil die Zeit nicht gar so nach sofortiger Hilfe drängt, wie in dem innersten Stadtkern. Als eine Schwäche der gesammten Konkurrenz muß es bezeichnet werden, daß sich Niemand mit Energie der Ausmündung der Wiedner Haupttaucht in veränderter und verkürzter Form im Projekt „Avenue Tegetthoff–St. Stephan“ wieder auf, das 1895 durch den Ingenieur Alfred Riehl vorgeschlagen wurde. Dieses Vorhaben fand Sittes Unterstützung und wurde von ihm in einem Vortrag verteidigt. Siehe hierzu Sitte, Camillo: „Stellungnahme vor dem Donauclub über die Frage der Avenue (1895)“, S. 454–459 in diesem Bd.] 6

[Ende Teil 1. Teil 2 beginnt mit folgendem Satz: „Es wurden bereits in dem ersten Artikel die Grundgedanken beleuchtet, nach welchen die Donaustadt mit der Altstadt zu verbinden und diese letztere dem Verkehre nach außen zu erschließen wäre.“] Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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straße angenommen hat. Es ist überhaupt merkwürdig und zeigt von der unermeßlichen Geduld der Bevölkerung in solchen Dingen, daß diese Angelegenheit nicht schon längst als brennende Frage auf der Tagesordnung steht. Hier, wo drei Hauptstränge (Favoritenstraße, Wiedner Hauptstraße und Margarethner Hauptstraße) sich vereinigen, was an sich schlecht ist, hätte man doch verschiedene Versuche einer Auflösung dieses Knotens, einer Dezentralisirung erwarten können, umsomehr, als die Neuparzellirung der Freihausarea und die allenthalben hier beliebte Wienüberwölbung dazu einlädt und vor allem dadurch die besondere Weiterführung der Margarethnerstraße gestattet worden wäre, worauf es besonders ankäme, weil diese den Hauptstrom mit sich führt. Diese Frage muß also, wie man sieht, erst in Fluß kommen, erst anfangen die Bevölkerung mehr und mehr zu beschäftigen. Das Gegentheil steht zu wünschen gegenüber der Frage der Wienthal­ einwölbung. Diese schon sehr alte Idee wurde zuerst von dem für unser Bauwesen und besonders den Bahnbau so hochverdienten ehemaligen Südbahn-Baudirektor Flattich7, bei dem sie sich als Nebenprodukt seiner Bahnbauprojekte wie von selbst entwickelte, aufgestellt und in die Öffentlichkeit gebracht. Anfangs wich man dieser Idee wie einer Ungeheuerlichkeit aus, dann fand sie einzelne und immer mehr Freunde bis sie den Höhenpunkt ihres Ruhmes in dem Kampfe des Bürgermeisters gegen die Ansichten der Regierungskreise erreichte, um seither allmälig immer mehr wieder an Zugkraft zu verlieren. Dieser Standpunkt ist denn auch markirt durch die jetzige Konkurrenz. Ein Theil der Konkurrenten hält sich noch daran, eben wie an etwas Gegebenes, an dem zu rütteln nicht opportun ist, während andere aber doch ihren eigenen Weg gehen und den Wienlauf blos saniren wollen. Ein recht geringes Vertrauen wird dabei der Einwölbung von einer Seite entgegengebracht durch folgende Bemerkung in dem Motivenbericht: „Wenn je Anzeichen einer Gefahr (Reservoirbruch etc.) entstehen, so kann die A b l e i t u n g d e r W i e n über den Wienerberg durch die Überwölbung nicht behindert werden.“ – So, so! also auf eine so unsichere Sache hin meint man beiläufig vierzig Millionen so blos auf Probe ausgeben zu dürfen, um dann 7

[Der Architekt Wilhelm von Flattich (1826–1900), ausgebildet am Stuttgarter Polytechnikum bei Hofbaumeister Christian Friedrich von Leins (1814–1892), wirkte bis 1880 als Hochbaudirektor der österreichischen Südbahngesellschaft. In dieser Funktion leitete Flattich die bauliche Ausgestaltung der seit 1873 von Wien nach Triest führenden Südbahnstrecke. Unter der Vielzahl an Bahnhofsbauten Flattichs ragen der 1869–1873 errichtete Wiener Südbahnhof, der Hauptbahnhof in Triest und die Erweiterung des Grazer Bahnhofs heraus.]

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das ganze Werk als verfehlt wieder leer stehen zu lassen und die Riesenfläche nicht einmal als Baugrund verwerthen zu können, weil sie unterwölbt ist? Es droht aber im Falle der Einwölbung noch eine ganz andere nähere Gefahr als die eines Elementarereignisses, und zwar in folgender Weise. Das hiezu benöthigte Baumateriale wäre in so ungewöhnlicher Menge nöthig, daß der Ziegelbedarf allein durch mehrere Jahre zwischen zweihundert und dreihundert Millionen betragen würde. Falls vorwiegend anderes Materiale gewählt würde, wäre dieses wieder nur mit äußerster Anstrengung zu beschaffen und die Folge davon jedenfalls eine unerhörte Preissteigerung. Es ist geradezu selbstverständlich, daß die Kommune in Voraussicht solcher Umstände sich dagegen kontraktlich sicherstellen würde; aber mit umso unerbittlicherer Wucht fiele dann nothwendig die ganze Last auf die Privatbauthätigkeit. Was das zu bedeuten hätte, dafür fehlt uns durchaus nicht der Maßstab. Als im Jahre 1872 und 1873 blos wegen der weit geringeren Weltausstellungsbauten der Ziegelbedarf von den damals normalen rund hundertfünfzig Millionen auf dreihundert Millionen stieg, ging der Preis von normal sechzehn Gulden per Tausend bis auf fünfunddreißig und vierzig Gulden und während einiger Monate bis auf fünfundvierzig hinauf. Was also geschehen müßte, wenn unser jetziger Konsum von rund dreihundert Millionen bis auf nahezu das Doppelte anwächst, kann man sich an den Fingern abzählen. Den Herren des Ziegelringofens8 könnte das allerdings recht sein, aber die Privatbauthätigkeit würde sich unter solchen Verhältnissen auf das absolut Unerläßliche beschränken und unsere zahlreichen Baumeister hätten voraussichtlich nichts zu thun; das gäbe also den schönst ausgewachsenen Baukrach. Dagegen müßten ganz besondere gewaltige Vorkehrungen getroffen werden, was bei kluger Voraussicht gewiß möglich ist, aber wozu denn derartige Opfer an Geld und allerart Anstrengungen zur Ausführung einer Idee von ohnehin so zweifelhaftem Werth. Die Wienthaltrace muß unbedingt eine Verkehrsader werden und wenn das gegenwärtig schon bereits bis zum Überdruß aufdringliche Rasseln mit dem Schlagworte von dem „großstädtischen Zug“, der in einer großstädtischen Anlage sein müsse, irgend einen richtigen Inhalt haben soll, so muß man vor Allem zugeben, daß die gesammte Vorwärtsbildung unserer Kultur in einer fortgesetzten Arbeitstheilung besteht und

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[Der sogenannte Ringofen, 1858 vom Ingenieur Friedrich Eduard Hoffmann (1818–1900) entwickelt, wurde 1859 in Preußen und Österreich patentiert. Hoffmanns Erfindung revolutionierte die Ziegelproduktion: Im Gegensatz zu den bis dato üblichen Kammeröfen war es nun möglich, rund um die Uhr Ziegel gleicher Qualität zu erzeugen.] Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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daß die Durchführung dieses großen weltbewegenden Prinzipes eben auch in der Anwendung auf Stadtpläne ein gesundes, naturnothwendiges Motiv des wahrhaft Großstädtischen ist. Der großstädtische Kaufmann ist Spezialist, der kleinstädtische dagegen aber Krämer, bei dem man Alles bekommt; der großstädtische Arzt ist Spezialist, der Landarzt aber muß in Allem Hand anlegen. Ebenso ist der einzige Platz eines kleinen Städtchens zugleich Rathhausplatz, Kirchenplatz, Marktplatz und Raum für Volksfeste, und die Straßen dienen ebenso Allem zugleich; während in der Millionenstadt sich das Alles spezialisiren kann und muß. Eine gute Idee in diesem Sinne war es bei uns daher, neben der Ringstraße als Repräsentanzstraße eine Lastenstraße anzulegen; geradeso, wie man in großen Gebäuden Haupttreppen und Diensttreppen nebeneinander unterscheidet; geradeso, wie man in vornehmeren Haushaltungen zwischen Salon und Arbeitszimmern, Luxusmajolika und Gebrauchsporzellan unterscheidet u.s.w. Dieser Grundsatz der Arbeitstheilung muß bei einem Großstadtplan als einer der wichtigsten immer im Auge behalten werden, denn nur dann werden unlösbare Widersprüche gleich von vorneherein vermieden, und dieses Verfahren ist zugleich das fruchtbarste, ja geradezu die einzige Rettung, um die Monotonie eines endlos gleichartigen Häusermeeres zu bändigen und eine organische, gesunde Mannigfaltigkeit hinein zu bringen. Trotz Abgliederung der Lastenstraße verbleiben unserer Ringstraße noch immer zu vielerlei Aufgaben, als da sind: Kaufladenstraße, Korso, Tramwayring, Reitsteg, Festzugstraße, Alleestraße, und nur deshalb wird keines dieser Bedürfnisse mustergiltig befriedigt, weil eines das andere hindert. Die Festzüge sind von den Fenstern der Paläste und Häuser aus nicht sichtbar wegen der Baumkronen; die Allee wird nicht zum Promeniren benützt, wegen der zwischen ihr und den Häusern liegenden Straße; von der Tramway aussteigend muß man zwei Fahrbahnen überschreiten, um bis zu den Häusern zu gelangen; auf die Reiter heißt es aufpassen, und diese wieder müssen zu ihrem Verdruß alle Augenblicke mit größter Vorsicht über glattes Pflaster zwischen dem stärksten Wagenverkehr hindurch im Schritt reiten, so zwar, daß es viele vorziehen, zu Wagen in den Prater zu fahren und dort erst die Pferde zu besteigen. So entspricht unsere Ringstraße keinem ihrer Zwecke und das handgreiflich nur deshalb, weil sie so vielem Rechnung tragen soll, was eben nicht zusammenpaßt, außer in der Kleinstadt, wo alles so kleine Dimensionen hat, daß es leicht vereinbart werden kann und auch muß, weil dort wieder für die Trennung das Bedürfniß und die Mittel fehlen.

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Die Durchführung dieser Arbeitstheilung ist also einer derjenigen wahrhaft großstädtischen Züge, auf die es ankommt. Das Gesagte auf die Wientrace angewendet, ergibt sich die richtige Lösung ganz von selbst. Die jetzt schon vorhandene und in entsprechender Verbreiterung begriffene Hauptader des Verkehres: Mariahilferstraße durch den Knotenpunkt Westbahnhof, Fünfhauserkirche und Lazaristenkirche, wo eine entsprechend ausgebildete Platzgruppe die wünschenswerthe künstlerische Lösung bieten soll, hindurch bis nach Schönbrunn hinaus, diese schon bestehende Hauptstraße soll es auch bleiben, und die Wienthalstraße soll nicht eine gerade ausgestreckte Kopie unserer Ringstraße werden, das hat gar keinen Zweck und würde nur ungeheure Summen verschlingen, die, besser angewendet für die Neugestaltung Wiens, geradezu Wunder wirken könnten. Wird in logischer Weiterverfolgung die Wientrace aber nur als Nebenstrang der Mariahilferstraße aufgefaßt, dann kann ganz gut die Wien als offenes Gerinne bestehen bleiben und eventuell sogar schiffbar gemacht werden. Hier Lastwagen und etwa sogar auch Lastschiffe und dazu ein rühriges Arbeitstreiben; auf der altehrwürdigen Mariahilferstraße aber die Kirchen, Monumente, prachtvolle Kaufläden und der Fremdeneinzug vom Westen her, das ist die einzige naturgemäße Lösung. Hiedurch wieder bei Besprechung einer Wasserstraße angelangt, sei, bevor zur Besprechung der Platzfragen und künstlerischen Anregungen der Konkurrenz übergegangen wird, noch einer Reihe von Ideen gedacht in wassertechnischer Richtung, welche Beachtung verdienen. Die schon früher durch Oberingenieur A. Waldvogel9 ausgeführte Projektirung einer Wiederbewässerung der todten Wasserbette im Prater wurde mehrfach aufgegriffen und gehört zweifellos zu denjenigen, die dereinst verwirklicht sein werden, besonders, wenn einmal die Umbauung des Praters an dem Punkte angelangt sein wird, daß Eislaufflächen dringend in der Nähe gesucht werden und auch sonst jedes Fleckchen kostbar geworden ist. Ebenso wurden mannigfache Verwendungen des alten Donaubettes vorgeschlagen und als eine Möglichkeit dem Unterlauf der Wien innerhalb des 9

[Der Ingenieur Anton Waldvogel (1846–1917) beteiligte sich seit den 1870er Jahren mit einer Reihe von Vorschlägen an der Wiener Verkehrsplanung. Seine Publikationen umfassen Beiträge zur Frage von Donauregulierung und Donauhafen sowie Studien zum Wiener Stadt- und Lokalbahnnetz. Siehe u.a. Waldvogel, Anton: Über die Ausgestaltung der Verkehrsanlagen und die Schaffung von Donauhäfen für Wien. Wien: Selbstverlag 1893; Ders.: Projektskizzen für die definitive Lösung der Donaufrage bei Wien. Wien: Selbstverlag o.J.] Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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Stadtparkes schönheitshalber genügendes Wasser zuzuführen, muß der Projektirung eines Rohrstranges vom Neustädter Kanal zum Stadtpark Erwähnung gethan werden. In Verbindung mit terrassenförmigen Promenaden entsteht hier ein anmuthiges Parkbild, was zur Vergrößerung des vorhandenen ganz willkommen wäre. Außerdem werden noch im regulirten Donaukanal Strombäder und in verschiedenen Bezirken Volksbäder vorgeschlagen. Die Erneuerung oder Verlegung der wegen unzulänglicher Breite und Tragfähigkeit nicht mehr ausreichenden Aspernbrücke kann als bereits ziemlich spruchreif bezeichnet werden. Zur Lösung des Gesammtverkehres wird mit Nachdruck allgemein ein einheitlich organisirtes Wagenverkehrswesen verlangt, und zwar für die innere Stadt meist in Form eines Omnibus-Bahnkorrespondenzdienstes. Dabei darf man sich nicht verhehlen, daß dies nur einen Nothbehelf bedeutet, aus Verzweiflung die Schwierigkeiten in der innern Stadt zu bewältigen. Diese Schwierigkeiten müssen aber überwunden werden, koste es auch was immer; denn so lange der Verkehr nicht bis ins Zentrum, als welches nur der Stefansplatz (vorne oder rückwärts) angesehen werden kann, in genügender Breite geführt ist, bleibt alles andere Stückwerk und Halbheit. Hier muß zielbewußt, energisch und mit großen Mitteln vorgegangen werden und auch je eher je lieber. Dieses ewig Weiterfretten in der innern Stadt mit Häuserfront­ abhobeln, Verbreitern, Geraderichten, Plätzezerstören, Denkmälervernichten, Böschungsmauern, Stiegerl auf Stiegerl ab, massenhafter Feuermauern- und Straßenwinkelerzeugung ist schon geradezu eckelhaft; da gibt es keinen anderen Ausdruck dafür, denn es ist geradezu eine Schande für Wien. Zwei gewaltige Straßen sind da nöthig: eine parallel zur Rothenthurmund Kärntnerstraße und eine zweite beiläufig senkrecht darauf. Beide sollten grundsätzlich quer durchgeschlagen werden durch die Häusermasse nur mit Berücksichtigung der vorhandenen Denkmäler und auch schönen alten Plätze. Die eine Trace Laurenzerberg-Akademiestraße ist bereits gefunden und auch die vortreffliche Anlage eines hinteren Stefansplatzes, von dem aus die Choransicht des Domes erst zur Geltung käme. Die hiedurch wiederbelebte Frage des Thurmbaues10 stünde dann in zweiter Linie. Die hierauf bei10 [Im Zuge der Restaurierungsarbeiten am Wiener Stephansdom kamen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Pläne auf, den 1450/1467 begonnenen und bereits 1511 eingestellten Bau des Nordturms zu vollenden. Ein 1864 vom Architekten August Sicard von Sicardsburg im Wiener Gemeinderat eingebrachter Antrag wurde aus Kostengründen abgelehnt. Auch eine anlässlich der Wiener Weltausstellung 1873 gezeigte Ausbauplanung des Dombaumeisters Friedrich von Schmidt, welche vorsah, die Gestaltung des Nord-

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läufig senkrechte zweite Hauptrichtung sollte grundsätzlich, wenn möglich, nicht über den Graben führen, denn dieser einst so schöne Platz ist ohnehin schon halb todtgeschlagen und würde seine Einbeziehung in diesen Verkehrsstrang ihn vollends todtschlagen, denn dann müßten die letzten Reste seiner Schönheit und Behaglichkeit fallen, die schönen Brunnen, die herrliche Pestsäule und auch die noch immerhin an das frohe liebe Altwien gemahnenden Kaffeehäuschen. Man verschließe sich nicht der Wahrheit, daß diese zwei Hauptstränge nicht kleinlich kouragelos angelegt werden dürften, sondern wahrhaft großstädtisch, das ist, von genügender Breite. Hier ist es am Platz, Millionen zur Hand zu nehmen, aber nicht draußen in Margarethen; diese Millionen würden sich aber auch sofort fruktifiziren, denn der Platzwerth an diesen zwei Hauptstraßen des Zentrums würde die höchste Stufe erreichen von dem, was in Wien da jemals vorgekommen ist, so zwar, daß sich auf Ausführung dieser Straßendurchbrüche unter Umständen sogar eine Finanzunternehmung aufbauen ließe. Ein solches mächtiges Straßenkreuz würde aber auch genügen und demgegenüber könnte die übrige Altstadt in ihrem historischen und künstlerischen Werthe getrost unangetastet bleiben. Alle Versuche, einer solchen radikalen Lösung auszuweichen durch Untergrundbahnen etc. sind Flickwerk. Daß hier nur an elektrischen Bahnverkehr gedacht werden kann mit möglichstem Ausschluß alles bloßen Korrespondenzdienstes, also des unglückseligen ewigen Umsteigens, das zu dem Allerlästigsten in unserer nervösen Zeit, wo man mit einem Kopf voll Grübeleien und Sorgen einsteigt und nicht dazu noch immer aufs Umsteigen aufpassen will, gehört, das ist selbstverständlich. Die Projektanten geben auch in der That dem elektrischen Verkehr den Vortritt, und dieser Grundsatz dürfte somit auch zu den für die Zukunft gesicherten Beständen gehören.11 Die Betrachtung ist bei der Lösung der Kunstfragen unserer Stadtbaukonkurrenz angelangt. Bezeichnend für die, wie soll man doch sagen, Gefügigkeit oder Muthlosigkeit der Konkurrenten ist es, daß keiner eine durchschlagend neue mo-

turms an die Ausführung des Südturms anzulehnen, fand keine Umsetzung. Vorbilder für die Wiener Turmplanungen waren die stilgerechten Ausbauten der Westtürme des Kölner Doms (auf Grundlage existierender mittelalterlicher Risszeichnungen 1880 fertiggestellt) oder des Ulmer Münsters (1890 fertiggestellt).] 11 [Ende Teil 2.] Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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numentale Lösung der S t u b e n v i e r t e l - P a r z e l l i r u n g versuchte. Hier wäre es wieder am Platz gewesen, Millionen zur Hand zu nehmen, statt draußen im Wienthal; hier hätte die Konkurrenz ein einziger feierlicher Protest sein sollen gegen die kommune bloße Platzausschrotung nach Quadratmetern. Statt dessen hat man sich einhellig den an sich verwerflichen Forderungen der ersten partiellen Konkurrenz gefügt und blos belanglose kleine Änderungen vorgenommen. Um das handelt es sich hier nicht. Ob die Ringstraße nur ein Knie oder zwei hat; ob ihr Brückenkopfplatz rund oder polygon ist; ob irgend ein Platz weiter links oder rechts steht, das sind so nichtige Fragen, daß es schade ist, darüber auch nur fünf Minuten nachzudenken. Wenn schon nur Baugrund, ohne jedes höhere Ziel als nur Geld hereinzubringen, hier ausgeschrotet werden sollte, so hätte man diese Parzellenmetzgerei getrost dem Stadtbauamte überlassen können, statt sich darüber erst lange den Kopf zu zerbrechen, ob nicht die eine Variante denn doch ein Bischen besser wäre. Sie sind allesammt gleich schlecht, allesammt ohne Ausnahme der gleiche Plunder; denn an diese wichtige Stelle gehören überhaupt keine Zinskastenblöcke, sondern anschließend an das edel monumental gebaute Österreichische Museum ein M u s e u m s - F o r u m ; daneben, beiläufig parallel zur Wollzeile, eine mächtige neue Hauptverkehrsader zur Aufschließung der innern Stadt und zu deren Verbindung mit dem bisher abgesperrten dritten Bezirk; das Übrige wäre als hier nothwendiges Luftreservoire zu retten und in passender Weise als geschlossene Gartenanlage zu behandeln gewesen. Die Gefügigkeit gegenüber den Wünschen des Stadtbauamtes gibt sich auch sonst noch überall deutlich kund. Da heißt es alle Augenblicke in den beigegebenen Erläuterungsberichten: „anschließend an den bestehenden Stadtbauamtsplan“ oder „in Berücksichtigung des momentan Möglichen“ oder „laut Bauordnung von 1890“ oder „dem Vernehmen nach dürfte hier ohnehin schon dies und jenes geplant sein“ oder „diese Trace behalten wir ganz so bei, wie“ etc. Nun, das heißt doch deutlich eingestehen, daß man sich vor Urwüchsigkeit, vor Originalität, vor seinem eigenen besseren Ich förmlich selbst fürchtete, um nicht Anstoß zu erregen; daß man in letzter Linie gar nicht darauf ausging, seiner Phantasie die Zügel schießen zu lassen und sein Wissen und Können ganz zusammen zu nehmen, um etwas Unerhörtes, etwas so Großartiges als nur möglich zu machen; sondern, daß man eben – – das m o m e n t a n M ö g l i c h e erstrebte. Das momentan Mögliche! Ist dies nicht geradezu ein Richtwort unserer Zeit? Jawohl, es charakterisirt das alternde, greisenhaft schwächliche Ende des Jahrhunderts. So war es aber nicht immer und besonders niemals in

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denjenigen Zeiten, in welchen die Kunst blühte, neue Stylrichtungen erfunden und diejenigen Meisterwerke geschaffen wurden, an denen die Welt sich heute noch erfreut. Man denke doch, ob jemals in der Welt ein großes Kunstwerk eine große, Menschen erhebende und Menschen beglückende That überhaupt unter der Fahne des momentan Möglichen erstand? Niemals. Der Gemeinderath von Florenz, am Beginne der Renaissancebewegung, verlangte bei der Dombaukonkurrenz12 ausdrücklich: Die Künstler sollten etwas unerhört Großes und Schönes erfinden, wie es die Welt noch nicht gesehen habe. So ist es recht! Da erstehen Meisterwerke, aber nicht wenn man von vorneherein die Flügel beschneidet und die Konkurrenten, welche mitthun, sich das auch gefallen lassen. Die sich so etwas nicht gefallen lassen, die haben eben nicht mitgethan… Etwas unerhört Großartiges an rechter Stelle zu leisten, das ist eben auch einer jener Züge des w a h r h a f t G r o ß s t ä d t i s c h e n; ein Luxus, den eine große Millionenstadt nicht missen kann, wenn sie nicht zu einem großen Dorf, zu einem bloßen Häusermeer herabsinken will. Hier an der richtigen Stelle war dies aber, wie gesagt, förmlich verboten und somit wurde der ganze Rummel großer A r c h i t e k t u r p l ä t z e v o r u n d n e b e n d e r K a r l s k i r c h e losgelassen, wo also, um beim zeitgemäßen Terminus zu bleiben, eine „momentane Möglichkeit“ dazu vorhanden schien. Es ist wirklich merkwürdig, zu sehen, daß trotz so kleiner Konkurrentenzahl hier, w o F r e i h e i t d e s S c h a f f e n s b e s t a n d , eine solche Fülle von Lösungen erbracht wurde. Die seinerzeitige Aufstellung der Technikfront13 ist derart mißlich, daß es hier eine sehr harte Nuß aufzubeißen galt. Die einzige Möglichkeit, eine architektonische Rhythmik hier zu gewinnen, schien darin zu liegen: die Axe der Karlskirche zur Hauptaxe eines ganz oder theilweise symmetrischen

12 [Im August 1418 wurde im Namen der Florentiner Dombauhütte (Opera del duomo) ein Wettbewerb zu Konstruktion und Gestaltung der Vierungskuppel des Doms Santa Maria del Fiore, der seit 1296 errichtet wurde, ausgeschrieben. Infolge des Wettbewerbs beauftragte man Filippo Brunelleschi (1377–1446), Lorenzo Ghiberti (1378–1455) und Battista d’Antonio mit der Errichtung der technisch innovativen, auf hohem Tambour ansetzenden doppelschaligen Kuppel.] 13 [Mit „Technikfront“ ist der nördlich der Wiener Karlskirche gelegene, 1816–1818 nach Plänen der Wiener Hofbaudirektion unter Leitung von Josef Schemerl von Leythenbach (1754–1844) errichtete Ursprungsbau des Wiener Polytechnikums (Technische Hochschule/ Technische Universität) bezeichnet.] Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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Platzgebildes anzunehmen, und diese Idee haben auch alle Projektanten aufgegriffen und merkwürdigerweise beinahe alle Varianten erschöpft, welche aus diesem Gedanken logisch abgeleitet werden konnten, je nachdem dann in zweiter Linie mehr oder weniger Gewicht auf die Erhaltung der jetzigen Technikfront oder auf die Perspektiven zur Kirche gelegt wurde oder auf die Bildung eines für sich abgeschlossenen ideal richtigen Platzes. Alle stimmen darin überein, die Karlskirche nicht von den Seiten her frei zu legen, sondern sie in die Mitte einer durch Kolonnaden oder Neubauten herzustellenden Exedra zu bringen, was auch das allein Mögliche und Richtige ist. Der eine Halbbogen der Exedra läuft von dem Gebäude der Technik herüber, wo er bald an der Spitze des Baues beginnt, bald tiefer hinten in der Straße anläuft, in jedem Falle aber die unerläßliche Verbindung zwischen Technik und Kirche herstellt. Der andere symmetrische dazu auf der andern Seite der Kirche gelegene Halbbogen wird in dem einem Projekt nicht ganz ausgebaut gedacht, damit die zwar schlecht ausgebildete, aber doch selbst in dieser Verkümmerung noch schöne Perspektivansicht auf die Kirchenkuppel vom Schwarzenbergplatz her durch die Canovagasse nicht verschwindet. Dadurch mußte nun allerdings wieder der Übelstand der auf der einen Seite nur halb ausgebauten Exedra in den Kauf genommen werden, was wieder in anderen Entwürfen vermieden ist, die lieber die genannte Perspektive opferten. Diese Perspektive einmal als der kleinere Reiz aufgegeben, was lediglich individuelle Geschmacksache ist, gelangten noch weiter Gehende dazu, sogar die Technikfront symmetrisch herüber zu projiziren, und nachdem die Axe der Technik und der Karlskirche in ihrem Winkelabstande soweit einem halben Rechten sich nähern, daß nach dem freien Augenmaß in der Natur die Differenz nicht mehr auffiele, so ergibt diese Lösung einen nahezu rechtwinkeligen Platz, dessen eine Langseite die alte Technikfront bildet, dessen zweite Langseite an der Stelle des heutigen Wienbettes entstünde, durch Neubauten vor dem Künstlerhaus oder durch dieses selbst nebst seinen Nachbarn gebildet, dessen kürzere Seite neben der Karlskirche parallel zur Verlängerung der Canovagasse läge. Auch diese Lösung hat aber noch einen Haken und das gefühlsmäßig Widerhaarige, Unrhythmische liegt darin, daß die von der Kirche ausgehende Hauptaxe, welche die symmetrische Anordnung des Ganzen beherrscht, eben nicht parallel zu den Platzwänden liegt, wie es sein sollte, sondern schief über den Platz hinübergeht, also die dominirende Kirche nicht in der naturgemäßen Symmetrale eines viereckigen Platzes, nämlich in der Mitte einer Seite steht, sondern im hintern Winkel schief in einer Ecke. Dieser Übelstand,

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der natürlich nur empfunden werden kann, wenn man sich die Sache recht lebendig ausgeführt vorstellt, würde in der Natur umso peinlicher auffallen, als da der Menschenstrom schief vorbeiginge in der Richtung der heutigen Elisabethbrücke und die Verwirrung der Symmetrieaxen und Perspektivrichtungen da auch unbewußt empfunden würde. Demzufolge haben sich wieder Einige lieber gar dazu entschlossen, auf alle diese Perspektiven zu verzichten und haben die ganze verzweifelt situirte Fläche hier mannhaft zugebaut, theils indem für die Technikfront ein eigener kleiner Platz formirt wurde und ebenso für die Kirche, theils indem ein größerer Rundplatz nur für die Karlskirche allein projektirt wurde bei gleichzeitiger gänzlicher Umbauung und Verbauung der technischen Hochschule. Dieser äußerste Gewaltakt hat manches für sich, denn erstens gewinnt hiedurch das Gebäude der technischen Hochschule hinlänglich Raum zur dringend nöthigen Vergrößerung und anderseits können so, nach Beseitigung aller Schwierigkeiten, nach der Methode des Zerhauens des gordischen Knotens auch die Plätze wahrhaft ideal symmetrisch und streng regelrecht ausgebildet werden. Der Kaufpreis dieser Art Lösung wäre aber das Aufgeben jeder größeren Perspektive zur Karlskirche und das wäre ein so hoher Preis, daß ein paar kleine, wenn auch lauschige und schöne Plätze einen solchen Preis denn doch nicht werth sein dürften. Förmlich als ob sämmtliche Konkurrenten sich untereinander beredet hätten, alle denkbaren Varianten hier zu erschöpfen, legt wieder Einer gerade ausschließlich auf eine große Perspektive zur Karlskirche hin Gewicht, und zwar mit förmlich demonstrativer Gewalt. Eine volle Befriedigung würde auch diese Lösung nicht geben, weil sie sich, wie man an der Hand des Planes deutlich sehen kann, in das übrige Stadtganze ringsherum nicht organisch verwachsend eingliedern läßt. Man würde durch die Ausführung dieser Variante gleichsam immer und immer förmlich mit der Nase daraufgestoßen werden, was für ungeheure Dummheiten hier in früheren Zeiten gemacht wurden. Wollte man auch diesen Übelstand beseitigen, so käme man wieder auf eine der früher genannten Lösungen; man hat also eine der schönsten Zwickmühlen, die man sich in einem Stadterweiterungs-Gesellschaftsspiel denken kann, hier vor sich. Und gibt es denn da wirklich nach keiner Seite hin ein Entrinnen? Gemach! Etwas kaltes Blut und nicht gleich verzweifeln. Die Ursache, daß die Rechnung nirgends Null für Null aufgehen wollte, liegt darin, daß eine symmetrische Anordnung auf bereits gänzlich unsymmetrisch durch­ Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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einandergeworfener Grundlage schlechterdings nicht möglich ist. Sogar jeder tüchtige Ornamentiker kennt die Regel, daß unsymmetrische Flächen nur mit unsymmetrischen Motiven gefüllt werden können, und jeder Architekt weiß sich im Falle verschobenen Terrains und sonstiger der strengen Symmetrie widerstrebender Bedingungen an deren Stelle durch bloßes Massengleichgewicht zu helfen. Ebenso ist der Städtebauer hier darauf angewiesen, auf die symmetrische Platzbildung zu verzichten und eine allerdings viel schwierigere freie Lösung zu versuchen. An herrlichen Beispielen solcher freier Lösungen fehlt es nicht im alten Rom, Florenz u.s.w., nur scheint der Schwung der alten Zeit und das Genie der alten Meister hiezu vonnöthen zu sein, eine Kleinigkeit, die man freilich nicht überall so zur Hand haben kann. Nachdem so dieses wichtigste Platzzentrum eingehend besprochen ist, dürfte es wohl erlaubt sein, das Übrige kürzer abzuthun, besonders da das Erbrachte mehr oder weniger Zukunftsmusik ist, von der voraussichtlich nicht allzuviel ausgeführt werden dürfte. Beim S c h w a r z e n b e r g p l a t z halten die Meisten die Perspektive bis zum Schwarzenbergpalais offen, nur etwa noch rechts und links durch Gebäude koulissenartig gerändert. Die Verbauung dieser Perspektive durch ein quer dazwischen gestelltes Gebäude, wie sie auch vorkommt, wäre geradezu eine Barbarei, denn Wien ist ohnehin arm genug an solchen Perspektiven, obwohl Fixpunkte für solche hinlänglich vorhanden wären, nur weil man beim Stadtreguliren nie darauf Rücksicht nahm. Hier heißt es also, Versäumnisse der Vergangenheit nachholen und nicht den letzten Rest von Perspektiven auch noch verbauen. Die F r e i h a u s a r e a u n d d e r N a s c h m a r k t wurden theilweise als Riesenplatz freigelassen, theils durch eine kolossale Markthalle oder durch Bäder, Ausstellungs- und Vergnügungslokale, wie dies schon wiederholt früher vorgeschlagen wurde, bedeckt, theils parzellirt. Das ist wohl Alles noch recht wenig spruchreif. Um hier vollkommen freie Hand zu bekommen, wurde die Verlegung des Obstmarktes in eine neu zu errichtende Markthalle am Heumarkt vorgeschlagen. Die schon ältere Idee eines stylgemäßen und für Volksfeste geeigneten R a t h h a u s p l a t z e s wurde gleichfalls wieder aufgegriffen und ebenso wie in einer anonym erschienenen Broschüre, d e r U m b a u d e r k . u n d k . S t a l l u n g e n zum Behufe des Abschlusses des Museumsplatzes. Es ist geradezu unbegreiflich, wie man das innerlich Unwahre und daher geradezu Unästhetische einer fast noch pompöseren Diensttraktfaçade als an den ­Museen

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selbst nicht empfinden kann, blos wegen der leidigen Symmetrie und gleichmäßigen Fortbewegung der architektonischen Effekte. Hier ist die alte Idee einer bloßen Arkadenverbindung der Museumsenden noch immer das Beste, auch schon deshalb, weil hiedurch der Lastenverkehr von dem wahrhaft majestätischen äußeren Burgplatz abgetrennt würde. Daß nebst diesen wichtigsten Hauptplätzen auch die Ausgestaltung einer Menge P l a t z z e n t r e n i n d e n ä u ß e r e n B e z i r k e n vorgeschlagen wurde, ist selbstverständlich. Eine Menge gelungener Lösungen wäre da anzuführen, was aber hier, wo nur in großen Zügen ein allgemeines Bild von den Errungenschaften der Konkurrenz gegeben werden kann, entschieden zu weit führen würde, denn da wimmelt es allenthalben von Kinderspielplätzen, Turnplätzen, Eislaufplätzen, Marktplätzen u. dergl. mehr; durchaus fruchtbare Fragen für spätere Einzelkonkurrenzen. Nur zwei Dinge sollen noch näher ins Auge gefaßt werden: Die Erweiterung oder, wie man jetzt sagt: Aufschließung des a l t e n U n i v e r s i t ä t s p l a t z e s und die im hohen Grade beherzigenswerthe Idee eines vom Autor sogenannten „V o l k s r i n g e s “, d.h. eines breiten, grünen Angers rings um die jetzige Häusermasse, theils zur Erholung, theils als R e s e r v e t e r r i t o r i u m f ü r d i e Z u k u n f t . Dieser besonders in letzterer Beziehung geradezu hochwichtigen Anregung wären mächtige Freunde zu wünschen, damit aus ihr heraus eine schöne That entspränge. Die verkehrstechnisch zwecklose Aufschließung des Universitätsplatzes wäre aber geradezu ein ästhetisches Unglück, denn nur in dem jetzigen Verbande haben die eigens für diesen Raum dimensionirten Gebäude ihre richtige Wirkung. Hieher gehörten auch die Monumente von Mozart und Goethe, knapp vor die herrliche Façade der Aula14 beiderseits vom Portal und nicht zu weit gegen die Mitte des Platzes, wie die Obelisken vor einem altegyptischen Tempelthore, während dann die Eckbrunnen in dieser altehrwürdigen und erprobten Gruppenbildung die Stelle der Pharaonenbilder innehätten. Mit

14 [Das Gebäude der Aula am Universitätsplatz (Dr. Ignaz-Seipel-Platz), 1753–1755 nach einem Entwurf des französischen Architekten Jean Nicolas Jadot de Ville-Issey (1710–1761) errichtet, ist eines der ersten Beispiele einer sich am französischen Barockklassizismus orientierenden Fassadengestaltung in Wien. Die zum Platz ausgerichtete fünfachsige Hauptfassade des dreigeschossigen Gebäudes besitzt eine klare Gliederung: Über einem genuteten Erdgeschoss mit Rundbogenöffnungen erhebt sich eine hohe Beletage, die von einem kräftigen Gebälk abgeschlossen wird. Rhythmisiert wird die Fassade durch zwei einachsige Seitenrisalite, die das mittig gelegene, zurückspringende und durch eine vorgelagerte Doppelsäulenkolonnade akzentuierte Fassadenfeld flankieren.] Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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diesem herrlichen Hintergrunde würde auch die Kunst unseres Meister Tilg­ ner15 kongenial harmoniren.16 Es erübrigt noch den Strich unter die Rechnung zu setzen und die Summirung abzuschätzen; aber auch die prämiirten Projekte noch einzeln zu würdigen. Die mit den beiden ersten Preisen ausgezeichneten Arbeiten überragen die anderen durch ihre bestimmt ausgesprochene Einseitigkeit, so daß jedes in seiner Art allerdings unübertroffen dasteht; das Projekt von W a g n e r in architektonisch dekorativer Beziehung, das von S t ü b b e n in verkehrtechnisch-konstruktiver Richtung.17 So weitläufige Dinge sind allerdings schwer mit ein paar Worten zu fassen, und deshalb hinken bekanntlich alle Gleichnisse, die dazu herhalten müssen; aber, um wenigstens dem Kern der Sache nahezukommen, könnte man O. Wagner mit seinen breit angelegten Façaden und seinem ausgesprochenen Talent für architektonische Dekoration etwa den Wiener Zinspalast-Makart18 nennen. Von einem solchen dekorativen Standpunkt aus hat er auch seinen Stadtplan aufgefaßt, ähnlich, wie seine schon früher durch Ausstellungen und Publikationen bekannt gewordenen, rein chimärischen Stadtplanphan15 [Der Bildhauer Viktor Tilgner (1844–1896), ausgebildet an der Wiener Akademie der bildenden Künste, war als Hauptvertreter des Neobarock der Wiener Bildhauerschule der 1880er und 1890er Jahre wesentlich an der Ausgestaltung der Ringstraße beteiligt. Tilg­ ners Hauptwerk ist das in seinem Todesjahr 1896 auf dem Albertinaplatz aufgestellte Mozart-Denkmal. Daneben war Tilgner, der 1883 zum Honorarprofessor der Wiener Akademie ernannt wurde, an der bauplastischen Ausstattung von Votivkirche, Rathaus, Hofmuseen und Neuer Hofburg beteiligt. Zum Mozart-Denkmal siehe Sitte, Camillo: „So geht’s nicht! (1891)“, S. 309, Anm. 1 in diesem Bd.] 16 [Ende Teil 3.] 17 [Otto Wagners Projekt, unter dem Motto „Artis sola Domina necessitas“ eingereicht, konnte beim Wettbewerb zum Generalregulierungsplan für Wien einen der beiden ersten Preise gewinnen. Das Projekt des Kölner Stadtbaumeisters Hermann Josef Stübben, das ebenfalls einen ersten Preis im Wettbewerb zum Generalregulierungsplan erhielt, stand unter dem Motto „Die Wienerstadt“.] 18 [Das Verhältnis zwischen Camillo Sitte und Otto Wagner war spätestens ab 1894 belastet. Infolge von Sittes scharfer Kritik im hier abgedruckten Artikel äußerte Wagner 1894 gegenüber Josef Stübben, Sitte habe in Wien einen Ruf „als hohler Schwätzer“. Die Bezeichnung „Wiener Zinspalast-Makart“ spielt auf den Wiener Maler und Dekorationskünstler Hans Makart an, der – ausgebildet an den Kunstakademien in München (bei Carl Theodor von Piloty) und Wien (bei Christoph Christian Ruben) – die Wiener Gründerzeit als Professor an der Akademie der bildenden Künste (seit 1879) künstlerisch maßgeblich prägte.]

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tasien. Es ist das alles schlechterdings unausführbar und die vor allem den Laien blendende äußere Form zerrinnt einem förmlich unter den Händen, wenn man der Sache näher an den Leib rückt; so auch hier. Die mit pompösen Namen versehenen Plätze vor und neben der Karlskirche wären, dereinst ausgeführt, gar keine Plätze, sondern nur eine gleichsam zerplatzte Riesenstraße mit kolossalen Ausbuchtungen hierhin und dorthin; es würde das in der Natur noch schlimmer aussehen, als das ungefüge Platzmonstrum vor der Votivkirche. Merkwürdig ist außerdem noch das Verhältniß Wagner’s zu Stübben, dessen Buch19 er offenbar gar zu autorativ angenommen hat, denn diese sehr fleißige und mit genauester Kenntniß des städtischen Bauamtsdienstes gemachte Kompilation ist zwar für den Praktiker als Nachschlagebuch über alles Mögliche sehr werthvoll, aber durchaus nicht geeignet, sich daraus Prinzipien zu holen, denn diese hat eben Stübben selbst nicht. Stübben ist der reinste Kompilator und als solcher ändert er selbst mit jedem Jahre seine Grundsätze, je nach den neuesten Vorkommnissen, schwimmt dabei als routinirter Geschäftsmann immer obenauf und hält sich so für den ersten Städtebauer der Welt von Fach. Für die genauen Kenner dieses Faches in Literatur und Praxis wurde Stübben’s Projekt daher allenthalben geradezu mit Spannung erwartet, denn diese Großhandlungsfirma zeigt die neueste, wenn auch nicht selbst erfundene Mode an. Und in der That! Die Überraschung war keine kleine. Stübben hatte versucht, Henrici’s preisgekröntes Münchener Projekt20 zu kopiren, respektive ins Wienerische zu übersetzen; dasselbe, das er noch vor kaum einem Jahre literarisch so heftig angriff. Man traut seinen Augen nicht! Auf seinem Projekte hier allenthalben dieselben lauschigen Platzgruppen, von denen er Henrici gegenüber früher behauptete, daß die Konterfeis solcher malerischer Winkel sich nicht für Großstadtanlagen eignen; ferner dieselbe Gruppirung nach einzelnen Vororten, von der er Henrici gegenüber meinte, daß eine Summe vieler kleiner Städte keine große ausmache; endlich sogar die von ihm früher so energisch bekämpfte Krummziehung neuer Straßen, um dadurch gute Ausmündungen zu erzielen, eine ureigenste Erfindung Henrici’s, die vor ihm Nie-

19 [Stübben, Josef: Der Städtebau (= Durm, Josef/Ende, Hermann/Wagner, Heinrich/Schmitt, Eduard (Hg.): Handbuch der Architektur, Teil 4: Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude, Halb-Bd. 9). Darmstadt: Bergsträsser 1890.] 20 [Zu Henrici und dessen Münchener Projekt siehe Sitte „Wien der Zukunft (1891)“, S. 303, Anm. 4, 5 in diesem Bd.] Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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mand je plante, die seit seiner Anwendung und Begründung derselben aber bereits dem Formenschatze der modernsten Städtebaukunst einverleibt ist. Da Stübben sich nicht blos damit begnügt, in seiner Großhandlung immer auch das Neueste gleich auf Lager zu haben, sondern auch bestrebt ist, auf alles die Etikette seiner Firma zu kleben, so ist es zur Wahrung des geistigen Eigenthums nöthig, ihm literarisch stets ein wenig auf die Finger zu sehen. Geradezu prachtvoll ist die Formel, die Stübben sich zurecht gelegt hat, um seine Stadtplanhandlung in diesem Style zu führen. Nach dieser Formel ist der „schlimmste Fehler im Städtebau die Einseitigkeit“. „Also keine Einseitigkeit, denn ein allein seligmachendes Prinzip gibt es in den Äußerungen der Kunst nicht.“ Es ist nöthig, hier auf diesen innersten Kern des Stübben’schen Geistes einzugehen; nicht um dieses Projekt durch eine so lange Kritik über Gebühr auszuzeichnen, sondern, weil hierin eine unserer Wiener Stadtbauverwaltung kongeniale Richtung eingeschlagen ist und es daher geradezu als ernste kritische Pflicht erscheint, zu zeigen, wo dieser Weg hinführt und vor diesem Abwege eine Warnungstafel aufzustecken. Wie wird es da angefangen, Alles ohne Ausnahme herbeizuschleppen zur Herstellung der nöthigen Mannigfaltigkeit und des sogenannten „großen Zuges“? Es wird einfach jede Gattung von Straßenführung fast ohne Ausnahme, wie sie schon je aufgestellt wurden, irgendwohin versetzt, auch solche, die nachweislich unter allen Umständen schlecht sind und nirgends aus dem Bedürfniß oder der Örtlichkeit her organisch abgeleitet werden können. Das ist genau so, als ob Einer glauben würde, gleichsam die große Symphonie oder Oper einer Millionenstadt im Gegensatze zum einfachen Liede eines Marktfleckens so ihrer Größe entsprechend komponiren zu können, daß er alle möglichen musikalischen und dekorativen Einzelmotive einfach auf einen großen Haufen zusammen trüge; hier einen Trauermarsch und da ein Ballet, hier ein Schmachtliedchen und dort ein Kouplet u.s.f.; nein, meine Herren! so macht man keine WagnerOper, keinen „Fidelio“, keinen „Don Juan“, und ebensowenig macht man auf diese Art ein großes Stadtbaukunstwerk; sondern durch die Größe der Motive selbst, durch ihre Originalität, ihre ureigene Wucht, durch wahre künstlerische Phantasie in Größe des Könnens und Größe des Wollens; nicht mit Pappe und Löthe elend zusammengeflickt, nicht in zwangvoller Plage zusammengetappert als Zwergentand, sondern in einem Guß aus innerer Nothwendigkeit des Schaffens heraus ganz und groß erfunden, so muß das wahrhaft Großstädtische erdacht werden; nicht durch eine leere Phrase ersetzt, zu welcher die entsprechende That fehlt.

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Die Übereinstimmung zwischen der Zusammenstoppelung Stübben’s und der Flickmethode unseres eigenen Stadtbauamtes ist sogar durch den Wortlaut der Preisausschreibung festgenagelt, welche als Zweck der ganzen Konkurrenz: die Einbringung von Ideen angab, welche dann das Bauamt zur bunten Jacke des Wiens der Zukunft zusammenzunähen hätte. Ach ja! Ideen wurden thatsächlich eine schwere Menge erbracht; so von Architekten B a c h u n d G e n o s s e n 2 1 allein zahlreiche zu schönen und guten Detaillösungen; vom Architekten F a ß b ä n d e r 2 2 , dem Erbauer des Kursalons in Baden, etliche vortrefflich herausgefundene Wege von Nußdorf und Döbling herein und die schon besprochene schöne Idee des „Volksringes“, wofür derselbe auch mit überzeugenden, ja geradezu begeisternden Worten einzustehen verstand, weil er selbst von diesem Gedanken wahrhaft ergriffen war; ferner von L a s n e u . H e i n d l 2 3 aus München ein vortrefflicher rückwärtiger Stefansplatz, eine Hügelstraße, und zwar besser als die von Stübben, und beachtenswerthe Teichanlagen im Prater; hauptsächlich in Bahnen und sonstigen Verkehrsanlagen brachten Beherzigenswerthes die

21 [Der Architekt Theodor Karl Bach (1858–1938), ausgebildet an der Technischen Hochschule Wien bei Heinrich von Ferstel und Karl König, seit 1884 Chefarchitekt und stellvertretender Baudirektor der Wiener Baugesellschaft und 1888–1889 Sittes Kollege als Hilfslehrer an der Wiener Staatsgewerbeschule, nahm in Kooperation mit den Architekten Leopold Simony (1859–1929) und A. Reinhold am Wettbewerb zum Wiener Generalregulierungsplan teil. Bach wurde 1908 als Professor an die Deutsche Technische Hochschule in Prag berufen.] 22 [Der Wiener Architekt Eugen Fassbender (1854–1923), Schüler Heinrich von Ferstels an der Technischen Hochschule und Friedrich von Schmidts an der Akademie der bildenden Künste in Wien, errichtete 1885–1886 das spätklassizistische Kurhaus in Baden bei Wien. Außer dem mit einem zweiten Preis ausgezeichneten Beitrag für den Wettbewerb zum Wiener Generalregulierungsplan entwarf Fassbender Stadterweiterungs- und Bebauungspläne für eine Reihe von Städten der Habsburgermonarchie (wie Brünn (1902), Villach (1905–1908), Wiener Neustadt (1912) oder Bad Vöslau (1913)). Vielfach gelobt wurde Fassbenders Idee, eine das Wiener Siedlungsgebiet umgebende Anlage als begrünten „Volksring“ auszuführen und diesen der Bevölkerung als Naherholungsgebiet zur Verfügung zu stellen. Eine Umsetzung fand diese Idee in dem von Heinrich Goldemund 1905 konzipierten Wiener Wald- und Wiesengürtel. Siehe hierzu Anm. 3.] 23 [Die Münchener Architekten Otto Lasne und Josef Heindl konnten mit ihrem Beitrag zum Wiener Generalregulierungsplan einen dritten Preis erringen. Lasne, ausgebildet am Münchener Polytechnikum, schuf 1886–1888 die Ausstattung des Café Luitpold in München, wandte sich in der Folge aber vornehmlich dem Städtebau zu. Er entwickelte Stadterweiterungs- und Bebauungspläne für eine Reihe bayerischer Städte wie Erlangen (Stadterweiterung Erlangen-Süd 1907) oder Regensburg (Generalverkehrsplan 1912).] Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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beiden Eisenbahntechniker von Berlin, ferner der in Stadtbaufragen sichtlich berufsmäßig vorzüglich eingearbeitete Stadtingenieur von Plauen, F r ü h w i r t h , und Architekt B a u m a n n 2 4 , der Erbauer des Krupp’schen Schlosses in Berndorf. Eine besondere Stelle gebührt dem Entwurfe der Gebrüder M a y r e d e r. Diese Preisgekrönten von der Stubenviertel-Konkurrenz haben sich diesmal offenbar zu wenig vorgewagt, und ihr Wurf gelang, aus Ängstlichkeit, die Grenze des momentan Möglichen einzuhalten, nicht so kräftig und weit, als ihnen zugetraut werden durfte. Immerhin stellt ihr Entwurf auch diesmal ein wohldurchdachtes, abgerundetes Ganze vor nach einheitlichen Grundsätzen. Besonders zu erwähnen wären noch verschiedene gut gelungene Anschlüsse der Vororte und schöne Verwerthung der Gruben bei Döbling und auf der Türkenschanze nach dem bekannten Pariser Muster der Buttes Chaumont.25 Nimmt man zu diesen planmäßig erbrachten Ideen noch hinzu eine Menge Anregungen der textlichen Einbegleitungen, zum Beispiel über Dichte der Verbauung, Höhe der Häuser, Zonenbildung, weitere Detailkonkurrenzen, gesonderte Baulinien für Portalfluchten, Trottoirunterkellerungen für allerlei Rohrlegungen und dergleichen mehr, was meist zur Bauordnung und Stadtbauverwaltung gehört, so hat man endlich das Gesammtresultat vor sich, und nun kann man auch sagen, was es mit diesem E r b r i n g e n d e r I d e e n für eine Bewandtniß hat. Alle diese Ideen haben schon in Literatur und Praxis jede ihre reiche geschichtliche Entwicklung hinter sich, selbst die zündende Idee des „Volksringes“ ist nichts anderes als die Festsetzung eines Reservestreifens um die Vororte, so wie es früher die Glacis um die innere Stadt waren. Nicht in der originalen Erfindung einer noch nicht dagewesenen Idee besteht also das 24 [Der Architekt Ludwig Baumann (1854–1936), ausgebildet am Polytechnikum in Zürich u.a. bei Gottfried Semper, arbeitete zwischen 1875 und 1877 in Wien bei Heinrich von Ferstel (u.a. Mitarbeit am Chemischen Laboratorium, an der Universität sowie an der Votivkirche), anschließend bis 1882 im Büro Viktor Rumpelmayers (1830–1885). Baumann war einer der Initiatoren der Neuentdeckung des Barock in Wien. Nach seiner Arbeit als Chefarchitekt für Arthur Krupp (1856–1938) in Berndorf (1884– 1894, u.a. Palais Krupp) errichtete Baumann am Wiener Stubenring den monumentalen Neubau des Reichskriegsministeriums (1909–1913).] 25 [Der 1885–1888 an der Stelle einer Sandgrube angelegte Türkenschanzpark, ein Volkspark im englischen Stil auf hügeligem Gelände im 18. Wiener Gemeindebezirk, geht auf eine Idee des Architekten Heinrich von Ferstel zurück. Vorbild war der ebenfalls als Landschaftsgarten konzipierte Parc des Buttes-Chaumont im Nordosten von Paris, der nach Plänen des Garteningenieurs Jean-Charles Alphands (1817–1891) 1867 realisiert wurde.]

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Verdienst des Autors, sondern darin, daß er erkannte, daß sich das neuerdings wiederum anwenden ließe und daß es gut wäre, dies auch wirklich zu thun. Genau so verhält es sich mit allem anderen. Zu jeder der erbrachten Ideen könnten zahlreiche Muster bei uns, in Italien, Deutschland, Paris genannt werden und eine zugehörige zum Theile sehr streitsüchtige Literatur. Der Fachmann des Städtebaues muß das alles kennen und für diese einzelnen Ideen sogar seine Notizblätter-Faszikeln und Sammelkasten angelegt haben, damit er im gegebenen Falle gleich alles zur Hand hat, was er braucht. Sollte unser Stadtbauamt ein solches Ideen-Lexikon erst jetzt sich anlegen wollen? Das wäre denn doch zu schlimm geurtheilt. Nein! Die Ideen selbst wollte man nicht erbracht haben, sondern nur deren Anpassung an die Wiener Verhältnisse und daraus wird jetzt der eigentlich traurige Stand dieser Frage klar, trotz allem freudigen Aufleuchten der Hoffnung. Dieses Anpassen denkt man sich offenbar stückchenweise; die eine Lösung aus diesem Plan, die andere aus jenem und dieses Flickwerk ohne leitenden Grundgedanken, ohne durchsättigender Empfindung soll nun in einem eigenen Nebenbureau des Stadtbauamtes zusammengestoppelt werden. Zweifeln wir nicht daran, daß als Leiter dieses für die ganze Zukunft Wiens so hochwichtigen Bureaus ein Ingenieurbeamter von richtigem Schrot und Korn bestellt wird, denn ein Anderer ließe sich eine solche Flickarbeit gar nicht zumuthen. Das wird dann genau das alte Lied geben, und die Öffentlichkeit wird wieder durch kurze Krankenbulletins über die Vorgänge in dieser orthopädischen Stadtheilanstalt von Fall zu Fall unterrichtet werden, wie man es bereits seit Dezennien gewohnt ist; endlich wird man erfahren, daß bereits Konzilium gehalten wurde, wobei es sicher wieder heißen wird: „Die Verhandlungen, ü b e r d e r e n V e r l a u f i m R a t h h a u s e s t r e n g s t e s S t i l l s c h w e i g e n b e o b a c h t e t w i r d , werden im Laufe der nächsten Wochen fortgesetzt werden“, und zuletzt wird der Partezettel ausgegeben. Ach, wenn es nur nicht gar so schmerzlich wäre für ein armes Wiener Herz, das so dumm ist, sich sein liebes Wien so groß und so herrlich zu denken, wie ein Freier seine Geliebte; so majestätisch und gewaltig, daß sie als Krone der Städte genannt würde; es wäre gar kurzweilig, diesen Mummenschanz mit anzusehen und mit zu tollen in dem allgemeinen Trubel. Wer das aber nicht kann, dem sollte man seine düstere Miene verzeihen; die Gesinnungsgenossen aber sollten nimmer ruhen, sondern zu retten suchen mit Wort und That, was noch zu retten ist; sollten jede gegebene Hoffnung ergreifen und zur Verwirklichung drängen. Und ganz hoffnungslos ist die Lage ja doch noch Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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immer nicht. Die Anschauungen über den Städtebau sind rings um uns in den letzten Dezennien wesentlich andere geworden, und es wird kaum möglich sein, sich diesem wohlthätigen Einflusse ganz zu entziehen. Es sei da nur auf die bahnbrechenden Arbeiten von Professor K. Henrici und vom Stadtbaudirektor Rettig von München verwiesen. Solche Werke müssen ja endlich, hoffentlich nicht zu spät, ihren Einfluß auf die Wiener Stadterweiterung äußern. Aber bei uns selbst steht es auch nicht so schlimm, als daß nicht Männer vorhanden wären, die gleichfalls an der Spitze der Errungenschaften einherschreiten; es sei da nur genannt Professor Rziha26 mit seiner monumentalen Studie über die Wasserversorgung Wiens und Hofrath Architekt Gruber27 mit seinem epochemachenden Werke über die hygienischen Fragen des Städtebaues, respektive der Bauordnungen. Wo solche Kräfte sich finden, da ist es noch immer nicht allzuschlimm bestellt, nur herangezogen, benützt sollten sie werden, und dazu wäre vor Allem ein steter Verkehr mit der Öffentlichkeit und mit der Künstlerschaft, den Kunstfreunden und Kunstkennern nöthig. Muß es schon als großer Fortschritt bezeichnet werden, daß bei den neues­ten Konkurrenzen den Architekten ein hervorragender Antheil zufiel; so wären in gleicher Weise der Rath und die Phantasie der Bildhauer und Maler heranzuziehen; denn wer soll über die Aufstellung eines Monumentes oder Brunnens besser urtheilen können als derjenige, dessen Werk es ist? Wer soll über die perspektivischen Wirkungen, über Silhouetten, über die Einfügung des Naturschönen von Baum und Strauchwerk, Rasenplätzen und erfrischendem Gewässer ein gewandteres Urtheil haben als das Auge des Malers, dessen Lebensaufgabe es ist, solche Dinge von allen Seiten her aufzufassen und künstlerisch zu verarbeiten?

26 [Der Ingenieur Franz Rziha (1831–1897), ausgebildet an der Technischen Hochschule in Prag, arbeitete ab 1874 als Oberingenieur im österreichischen Handelsministerium, bevor er 1878 Professor für Eisenbahn- und Tunnelbau an der Technischen Hochschule Wien wurde. Von Rziha stammt die Studie Das Problem der Wiener Wasserversorgung. Wien u.a.: Hartleben 1894.] 27 [Der Architekt Franz von Gruber (1837–1918), 1855–1859 ausgebildet an der Klosterbrucker Genie-Akademie, seit 1877 Professor an der Technischen Militärakademie in Wien, wurde 1888 Mitglied des Obersten Sanitätsrats und gehörte von 1892–1895 dem Vorstand des Österreichischen Ingenieur- und Architektenvereins an. Gruber organisierte 1887 den sechsten „Kongress für Hygiene und Demographie“ in Wien. 1893 verfasste er gemeinsam mit Max Gruber den Bericht Anhaltspunkte für die Verfassung neuer Bau-Ordnungen in allen die Gesundheitspflege betreffenden Beziehungen. Wien: o.V. 1893.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Was da nothwendig wäre, das ist ein Heranziehen und Zusammenschließen dieser Kräfte, etwa in der Form eines Stadtbauklubs in der Genossenschaft, welche Idee schon vor zwei Jahren auftauchte, oder sonst wie. Ein Wunsch kann hiebei nicht unterdrückt werden, nämlich der nach Drucklegung, der, wie man hört, außerordentlich gewissenhaften und umfangreichen Jury-Protokolle sammt Reproduktion der prämiirten Pläne. Diese Drucklegung oder doch wenigstens Abschrift für die Hofbibliothek gäbe zweifellos ein wichtiges Nachschlagewerk und dereinst historisches Denkmal, und wie wäre es möglich, daß hiefür die Mittel nicht reichten, da man doch für diese Konkurrenz die Kleinigkeit von siebzigtausend Gulden glaubte bewilligen zu dürfen. Das sollte doch nicht abschreckend für die Zukunft wirken? Das Eine steht fest: Billiger hätte man es haben können, denn zum Beispiel zehntausend Gulden für den bloßen Versuch einer Übertragung der Florentiner Hügelstraße auf den Wienerwald ist doch entschieden nobel bezahlt.

Das Wien der Zukunft. Zur Ausstellung der Regulirungsprojekte (1894)

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Erklärung einiger bautechnischer Ausdrücke (1895) Sonderdruck, Wien: Schroll & Co. 1895 (Erstveröffentlichung: Der Architekt, Jg. 1 (1895), S. 37f.). Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN:196–476.

Bekannt ist der Streit um das Wort „Polier“. So mit o geschrieben, soll es nach einigen richtig sein; nach Ansicht der meisten aber sollte es Palier oder Parlier heißen, bald aus dem Italienischen kommen, bald aus dem Französischen u.s.w. Hiezu noch etliche andere Beispiele: In vorliegenden gedruckten Prospecten heißt es: „Die Pfeilhöhe des Bogens oder seine R a m e n a d e n h ö h e “. Unsere Maurer reden auch von einem „R a m e n a d b o g e n “ oder schlechtweg vom „Ramaneder“. Was ist das? – Das ist ein Stichbogen, also ein flacher Kreisbogen von etwa gleichem bis doppeltem Krümmungshalbmesser im Verhältnis zur Spannweite. Noch zu Anfang unseres Jahrhunderts hießen sie (zufolge mündlicher Tradition) an der Wiener Akademie „Ravennatische Bogen“, das ist „B o g e n v o n R a v e n n a “ oder vom Grabmal des Gothenkönigs Theodorich [sic!], weil man dieses Beispiel für das älteste dieser Gattung Bögen hielt und daher Ravenna auch für den Ort, wo diese Bogengattung erfunden wurde; nebenbei also auch ein lehrreiches Beispiel darüber, wie solche Erfindungssagen entstehen. In Kostenvoranschlägen heißt es gelegentlich: „Das Mauerwerk am F r a n k e n s p i t z “ misst soviel… Dieser Ausdruck ist wohl sehr durchsichtig. Aus dem ihm unverständlichen Ausdruck Frontispice (nach dem Lateinischen Frontis speculum, also wörtlich Stirnansicht) hat der Volksmund sich seinen ähnlich klingenden Frankenspitz gebildet. Der neue Begriff Spitz aber veranlasste wieder die Zurückziehung der Bezeichnung von der ganzen Façade nur auf das Mauerwerk des Giebels. Fehlt hier noch die Weiterbildung der neu gewonnenen Wortbedeutung bis zu dem Schluss, dass diesen „Spitz“ die Franken erfunden haben müssen, denn sonst könnte er offenbar nicht so heißen und die schönste Erfindungslegende, wie sie zu Dutzenden im Herodot lobesam, Plinius u.s.w. auferbaulich zu lesen sind, wäre fertig. Die moderne Archäologie könnte aber in ihrer, derzeit üblichen gewundenen Redeweise sagen: „Wenn schon keine sicheren Anzeichen bisher gefunden wurden, welche es unwiderruflich deutlich machen, dass solche Giebel thatsächlich zuerst bei den Franken ausgebildet wurden, so widerspricht einer solchen Annahme doch auch nichts, und im Zusammenhang mit der bekannten späteren Fertigkeit in der Baukunst gerade

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bei den Franken liegt es nahe, bei ihnen eine uralte Übung hierin vorauszusetzen. Man kann also sagen, dass es nicht ganz abzuweisen sein dürfte, auch hier die Spuren alter Volkstradition zu erkennen. Dass damit die traditionelle Wortbezeichnung so glücklich übereinstimmt, erscheint uns als ein nicht zu übersehender Fingerzeig. Von allen Seiten schließen sich also die Gründe harmonisch zusammen und gerade diese Einhelligkeit der Erscheinungen macht unsere Annahme, wenn schon vorläufig noch nicht zur Gewissheit, so doch in hohem Grade wahrscheinlich.“ Der nächste Forscher sagt dann bereits: „Wie Herr N . N . i n ü b e r z e u g e n d e r W e i s e d a r g e t h a n hat, stammt die Bauweise mit Façadengiebeln von den Franken.“ Zuletzt heißt es nur mehr „bekanntlich…“ Auch der Ausdruck „S u t t e “, z.B. „eine Sutten anschütten …“, ist sehr häufig; er bedeutet eine seichte Grube, eine Senkung, wie sie z.B. bei frisch angeschüttetem und geebnetem Boden gerne nach Regengüssen eintritt. Der Ausdruck hängt also etwa mit Worten zusammen, wie Souterrain, die zurückgehen auf sub terra mit der Bedeutung „unter Erdfläche“, also modern technisch gesprochen „unter Straßenniveau“. Im übertragenen Sinne werden auch andere Senkungen zuweilen Sutten genannt, z.B. eine Deckenputzsenkung und noch ähnliches. S u t t e könnte auch ohne viel Umbildung von Soute (Vorrathskammer) herrühren, wobei aber die Verschiebung der Wortbedeutung nicht recht klar wäre, während nach dem ersteren Versuch die Bedeutung stimmt, aber allerdings die Verbildung der Wortform gewaltsam und regellos erscheint. Gerade das ist es aber, was die Verballhornungen technischer Ausdrücke im Volksmunde kennzeichnet, dass ihre Bildung allen Regeln der Lautverschiebung, der Betonung, kurz jedwedem Sprachbildungsgesetze spottet, denn sie sind keine allmählich gewachsenen Naturproducte des Sprachbodens, sondern eben Eruptiverscheinungen. Sehr naheliegend scheint die Erklärung aus dem italienischen di sotto, was von dem lateinischen subter (unterhalb) abstammt, und würde diese Ableitung recht gut mit dem Umstande stimmen, dass in allen deutschen Landen südlich der Donau gerade beim Baufache stets viele Italiener beschäftigt waren, welche bekanntlich eine Menge ihrer eigenen technischen Ausdrücke hier einbürgerten. Dem steht aber entgegen, dass Sutte ein im Gebiete nördlich der Donau alther gebräuchlicher Ausdruck ist, wohin italischer Einfluss nicht mehr belangreich einwirkte. Erklärung einiger bautechnischer Ausdrücke (1895)

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„Da unten in da Sutten“ heißt es in dem aus dem Waldviertel stammenden Gedichte: „Da Naz“; Suttner ist ein häufiger Bauernname und bedeutet den, der seinen Hof in der Sutten hat, also im Waldgraben. Darnach hat man sich also zunächst an das bayerische Wörterbuch von A. Schmeller zu halten und daraus erfährt man, dass Sutte soviel wie „P f ü t z e “ bedeutet, mit Sott, Sutt, Sid zusammenhängt und eine zu sieden gehörige Form zu sein scheint. Wie ehrwürdig altdeutsch dieses Geschlecht ist, lehrt das althochdeutsche und mittelhochdeutsche Wörterbuch, wo Sutte als das Siedende, Wallende erklärt wird, auch als Quelle, Brunnen, feuchte Senkung u.s.w. Auch „Höllenpfuhl“ bedeutet es in: „Der tiufel hât si hergesant ûz sîner helle sutten.“ Und endlich heißt der Geistliche, der im Spital predigt: der „P r e d i g e r i n d e r S u t t e n “. Dies wurde zu erklären versucht (von Wagenseil) aus der Stellung der Kanzel nach Süden; von anderen, weil eine bestimmte Spitalkirche, wo sich der Ausdruck findet, an Stelle einer ehemaligen Pfütze errichtet sein könnte; endlich aus einer etwa ehemals vorhandenen Aufschrift S. V. D., das heißt: „Sancto Vito Dicatum.“1 Eine natürliche Erklärung ergab sich aber aus dem althochdeutschen suth (häufig statt suht geschrieben), was Sucht, d. i. Siechthum, bedeutet. Also wieder eine neue Wurzel. Um sich demgegenüber der Wurzelbedeutung: S i e d e n nochmals anzunehmen, sei erinnert an die Art des prähistorischen Kochens. Im flachen Boden wurde eine Grube gemacht, diese mit Lehm ausgeschlagen, damit sie wasserhältig wurde und dann glühende Steine hineingeworfen, welche das Wasser zum Sieden brachten. Das wäre also die Pfütze, der Höllenpfuhl, die Sutte unserer Maurer. Aber nicht nur die Bedeutung, sondern auch die Wortwurzel könnte man davon herleiten, natürlich unter gehöriger Wahrung der landesüblichen Respectlosigkeit gegen alle diese onomatopoetischen Erklärungsversuche, nämlich so: Fällt der glühende Stein in die Wasserpfütze, so z i s c h t er zuerst; das gibt den Laut S oder Si, Se; dann beim Untersinken steigen ober ihm Dampfblasen mit k l u k s e n d e m Getöne auf, das gibt O, V oder Au u.dgl.; zuletzt s t ö ß t er an den Boden, an die dort schon liegenden Steine und das gibt einen harten Ton, etwa P oder T, gerade so wie diese Buchstaben in den von Tonmalerei durchsättigten Worten: zischen, klucksen, 1

[Eigentlich Sub verbo Domini.]

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stoßen ebenfalls enthalten sind. Die Zusammenfassung in Eins gibt das Wort Sut. Doch genug des bösen Spieles! Trotz alledem könnte die b a u t e c h n i s c h e Sutte vom italienischen sotto kommen, nur fehlen die Belege hiefür; die Belege, auf die hier einzig und allein alles ankommt; denn eben deshalb, weil sich aus Worten alles herauslesen lässt, was man wünscht, hat die aus ihnen herausgelesene Geschichte kein Recht, Glauben zu heischen. Derlei Dinge muss man wissen; errathen lässt sich da nichts, denn wer könnte es errathen, dass Ramaneda von Ravenna kommt u.s.w. Hiezu noch ein Beispiel: Die bei Vergoldern, Anstreichern, Zimmermalern etc. so häufig vorkommende „B i e r k r e i d e “ ist nichts als Bergkreide, hat mit Bier rein nichts zu thun und ist das Wort Bier lediglich aus Sprechfaulheit entstanden, da g k nebeneinander zu mühsam auszusprechen sind und aus dem sinnlosen Ber das wohlgefälligere Bier von angenehmer Bedeutung gemacht wurde.

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Zur Bebauung des Wasserthurmplatzes (1895) Laut handschriftlichem Vermerk Neue Badische Landeszeitung, 27. Juni 1895. Mit handschriftlichen Redaktionen (orthographische Verbesserungen, die Rückseite des Artikels ist durchgestrichen). Sign. SN: 235–484. Grundlage ist ein Brief Sittes an Georg Freed vom 19. Juni 1895, von dem keine Abschrift im Sitte-Nachlass-Archiv existiert. Derselbe Brief wurde ein weiteres Mal publiziert in der Süddeutschen Bauzeitung, 8. August 1895 (Sign. SN: 235–70). Sittes Brief wird zu Beginn vom Schrfitführer in drei Absätzen redaktionell wie folgt eingeleitet: Von sachverständiger Seite wird uns geschrieben: Vor einiger Zeit erschien in der „Süddeutschen Bauzeitung“ (München) eine Besprechung des „Preisausschreibens behufs Erlangung von Plänen für eine einheitliche, künstlerische Durchbildung der Facaden der den Wasserthurmplatz in Mannheim umschließenden Straßenzüge“ aus der Feder des Architekten Georg Freed-Mannheim. Unter den dem Verfasser infolge dessen mehrfach zugegangenen zustimmenden Schreiben befindet sich eines, das ganz besonders deßhalb von hoher Bedeutung ist, weil es von einem Manne herrührt, der auf dem Gebiet des modernen Städtebaues in erster Reihe steht, und dessen vor mehreren Jahren erschienenes Werk „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ der Ausgangspunkt aller neueren derartigen Bestrebungen geworden ist. Es ist dies der in weiten Kreisen bekannte Architekt und k. k. Regierungsrath Camillo Sitte in Wien. Mit ausdrücklicher Genehmigung seitens des hochgeschätzten Herrn Absenders entnehmen wir dem Schreiben das Nachfolgende in der Hoffnung, damit zur Klärung der Ansichten beizutragen, besonders deßhalb, weil gerade aus Fachkreisen die schwerwiegendsten Bedenken darüber laut geworden, ob der zur Erreichung des großen und unsere Stadt auf Jahre hinaus beschäftigenden Ziels eingeschlagene Weg der richtige ist. Herr k. k. Regierungsrath Camillo Sitte schreibt

„Wien, 19. Juni 1895. Hochgeehrter Herr! Besten Dank für die freundliche Sendung! Zu dem interessanten Wettbewerb hatte ich mir das ConcurrenzProgramm erbeten und erhalten. Nach Lesung der Bedingnisse war mir vollkommen klar, dass man da gar nicht mitthun kann und folgte ich daher Ihren treffenden Auseinandersetzungen mit Interesse und vollkommener Zustimmung. F ü r d i e s e A n g e l e g e n h e i t i s t z w e i f e l l o s b e r e i t s d i e G r u n d l a g e v e r f e h l t u. zw. in zweifacher Hinsicht: 1. Ist der vorliegende Parcellirungsplan geradezu scheußlich. Nichts als sogenannte „Verkehrsplätze“, die ja gerade wegen ihrer Widersprüche gegen die Bedingungen des Verkehrs und wegen ihrer künstlerischen Unauflösbarkeit grundsätzlich und bedingungslos vermieden werden sollten, u. dgl. mehr. 2. Ein m o n u m e n t h a l e r Wasserthurm1 und dazu Kafe’s, Säulenhallen, 1

[Der Mannheimer Wasserturm wurde 1886–1889 nach Plänen des Stuttgarter Architekten Gustav Halmhuber (1862– 1936) auf einer Freifläche vor dem Heidelberger Tor errichtet. Prominent am Ende der nord-südlich verlaufenden Hauptachse der Innenstadt – dem Stra-

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Kaufläden, Restaurationen, Gewerbemuseum, Terrassenanlagen, Kunstmuseum und Festhalle. Fehlt nur noch: der Kölnerdom, die Peterskirche, die Akropolis von Athen und allenfalls eine ägyptische Pyramide! Hilf Himmel! ist denn ein bloßer Wasserthurm eine das Menschenherz in der tiefsten Tiefe seiner Triebe aufwühlende Idee? Ist das etwas Nationales? Religiöses? Ethisches?…..Wasser! So ein Wasserthurm darf gar nicht hoch künstlerisch behandelt werden; das ist an sich unästhetisch, weil ein Widerspruch zwischen Inhalt und Form; das gibt nothwendigerweise einen in Versen gedichteten und in Musik gesetzten Speisezettel. Vorläufig ist die Sache aber noch nicht verfahren, denn dieser Wasserthurm ist zwar monumental in Material und Ausführung, was ganz richtiig [sic!] ist, aber die sehr geschickte Formgebung ist mit richtiger künstlerischer Feinfühligkeit weder kirchlich noch palastartig monumental, weder im Sinne eines Grab-Monumentes noch eines Siegesmonumentes, sondern nur rein technisch kräftig und kraftbewußt, weiter nichts und das ist hier gerade das Richtige. Gerade so sollte auch die Umgebung gelöst werden, also z. B.: als mustergültiges besseres Arbeiter-Cottage-Viertel mit Kinderspielplatz, Turnhalle, Volksbad, Volkslesehalle, Baumschule, eine moderne Thermenanlage… etc., alles gerade so wie der treffliche Wasserthurm voll kräftigem gerechten Bürgerstolz, voll gesund pulsirendem sozialem Leben. So etwas hinzustellen, wäre doch auch eine der Stadt würdige Aufgabe. Da müsste aber vor Allem mit vollständiger Verwerfung des jetzigen gänzlich verfehlten Lageplans begonnen werden. Die jetzige Facaden-Concurrenz ist aber geeignet, jede gesunde Idee von vorneherein unmöglich zu machen, denn sie steht bereits auf der Basis des Unrichtigen. In erg. Hochachtung C a m i l l o S i t t e .“

ßenzug „Planken“ – gelegen, diente der 60 Meter hohe Turm der Trinkwasserversorgung Mannheims. Auf dem umgebenden Gelände wurde bis zum 300-jährigen Stadtjubiläum im Jahr 1907 der halbkreisförmig geschlossene Friedrichsplatz angelegt, der von den Jugendstil-Bauten der Kunsthalle (Hermann Billing, 1907) und des Veranstaltungszen­ trums Rosengarten (Bruno Möhring, 1903) umstanden wird.] Zur Bebauung des Wasserthurmplatzes (1895)

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Stellungnahme vor dem Donauclub über die Frage der Avenue (1895) Vortrag gehalten am 7. März 1895 im Leopoldstädter Donauclub. Druck: Paul Gerin, Wien o.J. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 233–480/2.

Herr Regierungsrath C a m i l l o S i t t e ergriff, mit lebhaftem Beifall und Händeklatschen begrüßt, das Wort und sagte: Ich habe die Anschauung, daß jeder echte Wiener, der ein Herz für seine Stadt hat, wenn er sich über die Frage der Avenue1 genügend und richtig informirt hat, geradezu aus Patriotismus verpflichtet ist, für diese Sache einzustehen. (Beifall.) Es ist erfreulich, daß die Debatten über diese schöne Idee, bei uns eine so große Dimension annehmen. Wir haben derlei seit Decennien nicht erlebt, wir sind nicht mehr gewohnt, daß bei uns große Dinge mit großem Schwunge besprochen werden. (Lebhafter Beifall.) Im Besonderen handelt es sich aber nicht bloß um ein allgemeines Lob der Idee, sondern bereits um die Frage der Durchführbarkeit. In dieser Beziehung wurde von Fachleuten besonders die Kreuzung der Avenue mit der Ringstraße als gefährlicher Punkt bezeichnet. Hier ist in der That sowohl vom verkehrstechnischen als auch vom ästhetischen Standpunkt Manches bedenklich, und deshalb versuche ich hier eine Lösung, welche ich auch gefunden zu haben glaube. Diese Lösung kann ich aber leider heute nicht vorführen, weil ich sie schon vor einigen Wochen unserer neuen Fachzeitschrift „der Architekt“ zur Publication übergehen habe und vor derselben daher kein Verfügungsrecht darüber mehr besitze2. So viel kann ich aber sagen, daß zum mindesten diese eine Lösung (vielleicht auch noch bessere) hier möglich ist, und das genügt auch vorläufig, wo es sich momentan nur um die erste wichtige Entscheidung handelt: „Kann und soll die Sache gemacht werden oder nicht?“ (Richtig.) Diese Lösung zeigte aber auch, daß man hiezu die Verbauungsart der Kasernengründe3 mit in Erwägung ziehen muß. Da wäre ich denn bei mei-

1

[1895 wurde das Projekt der sogenannten „Avenue Tegetthoff–St. Stephan“ vom Praterstern zum Stephansplatz intensiv diskutiert. Die schnurgerade Prachtstraße sollte den Donaukanal auf einer breiten Brücke kreuzen und zwischen Lugeck und Universitätsplatz durch das dicht bebaute Stubenviertel geschlagen werden. Die ab 1890 aufgekommenen Vorschläge – auf den Wiener Ingenieur Alfred Riehl zurückgehend – sahen am Donaukanal u.a. ein monumentales Eckgebäude mit hoher Kuppel vor.]

2

[Handschriftliche Anmerkung: „nicht erschienen“.]

3

[Die Kasernengründe bezeichnen das Areal zwischen Stubenring, Dominikanerbastei und Franz-Josephs-Kai. Nach der Revolution 1848 wurde hier – im Bereich der Festungsanla-

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nem heute angekündigten Thema, das also nicht selbständig aufgefaßt werden soll, sondern im Zusammenhang mit der uns heute vorliegenden Tagesfrage. Ich weiß recht wohl, daß ich mich durch nochmalige rein akademische Erörterung einer bereits rettungslos verfahrenen Frage als einen recht herzlich naiven, politisch ganz unprakticablen Menschen hinstelle; es wird aber, wie die geehrten Herren gleich sehen werden, doch etwas Positives dabei heraus kommen. Also: meine Meinung über die Verbauungsart dieser großen Fläche ist, daß uns hier das bischen [sic!] Luft überhaupt nicht verbaut werden sollte, sondern daß hierher ein großer gut angelegter Volksgarten gehört. (Sehr richtig.) Wien ist gegenwärtig leider auf dem Punkte angelangt, ein endloses, ununterbrochenes Häusermeer zu werden, in welchem es gar keine Erholung der Athemwerkzeuge, des Gemüths, der Nerven, sowie der Augen mehr gibt, so daß uns unsere Nachkommen einmal verfluchen werden, und eine so schwere Verantwortung zu übernehmen, sollten wir uns doch zweimal überlegen. Nun gibt es da nur ein einziges Gegenargument, und das ist das finanzielle. Das stimmt aber nicht. Gesetzt den Fall: die paar Millionen, welche die Freihaltung braucht, wären wirklich unerschwinglich. Ja! Warum verschleudert man denn das Zehnfache anderwärts in ganz zweckloser widersinniger Weise? Eine so schwere Beschuldigung bedarf der Begründung und auch der Vermeidung persönlicher Gereiztheit. Betreff des Letzteren erkläre ich, daß es mir nicht beifällt irgend Jemanden für die begangenen und noch immer geradezu in Mode stehenden groben Fehler verantwortlich zu machen, weder einen Gemeinderath noch einen Bürgermeister, weder von jetzt noch von früher, am allerwenigsten den hochgeachteten, ja wegen seiner vielseitigen Kenntnisse, seiner colossalen Arbeitskraft und sonstiger trefflichen Eigenschaften geradezu bewunderten Stadtbaudirector. (Bravo.) Die Ursache aller der groben Fehler, die beim modernen Städtebau gemacht werden, liegt in den dermalen fast allgemeinen üblichen Grundsätzen, nach denen derlei Fragen allüberall schablonenmäßig gelöst werden, so zwar, daß man überall glaubt, man könne das einfach nicht anders machen.

gen – der Bau der Franz-Josephs-Kaserne nach Plänen Baron von Scholls 1854–1857 ausgeführt, die man bereits 1900–1901 wieder abriss. An ihrer Stelle entstanden Mietshäuser sowie das Gebäude der Österreichischen Postsparkasse (1904–1906) von Otto Wagner.] Stellungnahme vor dem Donauclub über die Frage der Avenue (1895)

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Man kann es aber anders machen und sollte es auch anders machen, nicht bloß vom verkehrstechnischen, vom hygienischen und vom künstlerischen Standtpunkte aus, sondern vor Allem vom finanziellen. Alle Welt weiß, daß im Centrum einer großen Stadt die Gassenfront für jede Bauparcelle von größtem Werthe ist. Jeder muß einsehen, daß eine Straße, welche nur auf einer Seite mit Häusern besetzt ist, während auf der anderen Seite ein Canal, ein Flußgerinne, ein Bahneinschnitt oder ein Stadtpark sich befindet, bei gleichen Herstellungs- und Erhaltungskosten nur den halben Verkehrswerth besitzt und geradezu menschenleer sein muß. Jeder weiß es aus eigener Erfahrung, daß rings herum verbaute Gartenanlagen, wie bei uns der Schwarzenberg- und Liechtensteingarten, sehr beliebt und angenehm sind, während die modernen, frei an der Straße liegenden kostspieligen Anlagen, wie bei uns vor der Votivkirche, die nach dem bodenlos talentlosen englisch-amerikanischen Muster errichtet sind, keine Erholung gewähren und daher vom Publicum gar nicht oder nur wenig benützt werden, weil Wind und Staub von den Straßen her darüber hinfegen, und zudem kommt noch das unerträgliche Gerassel der Wagen, das Klingeln der Tramway u. s. w. Trotzdem findet man es ganz selbstverständlich, daß auch unser Stadtpark rings herum von Straßen begrenzt ist, obwohl es auf der Hand liegt, daß diese Unüberlegtheit den Park schädigt, die Ringstraße schädigt und zugleich schwere Millionen kostet. Wenn man sich jetzt noch dazu entschließen könnte, da an der Ringstraße einen etwa bloß 14 Meter tiefen Streifen zu verbauen, so hätte man sogleich die nöthigen Millionen, um die KasernenGründe als prächtigen zweiten Stadtpark stiften zu können. Auch dieser wäre umbaut herzustellen, damit jene idyllische Ruhe in ihm gesichert wäre, wie sie z. B. den Heiligenkreuzerhof auszeichnet und wie sie zur Erholung gereizter Großstadtnerven eine wahre Labsaal ist. Die Häuser ringsherum hätten rückwärts hinaus in den schönen grünen Garten ohne Lärm und ohne Staub geradezu ideale Arbeits- und Schlafzimmer; etwaige Amtsgebäude könnten da mustergiltige Arbeits- und Sitzungssäle erhalten; die Zugänge zum Park, etwa vier monumental überwölbte Thorwege, wären leicht zu überwachen und zugleich eine Zierde der Stadt. Außer der Stadtpark-Grenze gibt es aber noch andere Werthe, die brach liegen. Wer würde z. B. etwas verlieren, wenn der geradezu lächerlich sogenannte Gartenfleck hinter dem Börsengebäude verbaut würde? oder kann man etwa den gänzlich verunglückten Dreieckzwickel zwischen Parlamentshaus und Justizpalast anders saniren als dadurch, daß man ihn verbaut?

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Man soll uns Idealisten, wenn wir ein Stück Garten oder sonst etwas Schönes für Wien haben wollen, also nicht immer mit Ziffern kommen. In der heutigen Nummer des „Tagblatt“ ist mir kurz bevor ich zum Vortrag aufgerufen wurde, der Artikel „Umbau des Lobmeyrhauses“ gezeigt worden. Da kostet die Straßenentschädigung 105.000 fl. Die Kärtnerstraße hat gegen 50 Häuser, die Kärntnerstraßen-Verbreiterung kostet also circa 5 Millionen und wir haben davon nichts, weil rechts und links doch Häuser stehen bleiben, wo man durch einen Engpaß gehen muß und in 50 Jahren wird man damit noch nicht fertig sein. Dieses bloße Abhobeln der Straßen im I. Bezirke allein, ist jedenfalls verfehlt. Die sämmtlichen Verbreiterungen im I. Bezirke kosten, nach einer beiläufigen Rechnung, die ich mir einmal gemacht habe, rund 100 Millionen. Die Steuerfreiheit, welche als Prämie gegeben wird, wird zweifellos mehr als 100 Millionen betragen. Das Abhobeln kostet also dem Staat wahrscheinlich 200 Millionen und vielleicht noch mehr. Man spricht darüber nicht, man sagt einfach, das muß sein. Warum? Weil darob auch vor keiner Wählerversammlung ein Mandat wacklig werden kann, weil diese Kosten in den laufenden Jahresrechnungen verschwinden und kein Mensch von diesen Riesensummen etwas merkt. Auch die 70.000 fl. Für die Stadtplan-Concurrenz hätten recht wohl gespart werden können, denn heute liegen ja alle die schönen Projecte schon im Papierkorb, wie es vor der Concurrenz auch voraus gesagt wurde. Um nun zum Schlusse zur Nutzanwendung zu kommen, sei nochmals gesagt, daß wir ein veraltetes Stadtregulirungsprincip haben, das sich im Laufe der Zeit von selbst gemacht hat. Das ist das System des bloßen Verbreitern von Straßen, und das ist ganz unhaltbar. Es kostet viel mehr als andern radikalere Mittel, ist aber auch ganz undurchführbar, weil es wie z. B. in der verlängerten Herrengasse und so noch an vielen anderen Orten auf schließlich unüberwindliche Hindernisse stößt. Ich habe die Überzeugung, daß die Avenue nicht nur eine glänzende Idee ist, sondern daß sie in directem Gegensatze zu dieser erbgesessenen, jetzt gekennzeichneten Systeme steht und daß die Entscheidung über die Avenuefrage, zugleich eine Farbenbekennung ist, für oder gegen dieses System, und deshalb möchte ich dafür sein, und ich sage, daß jeder Wiener, der es mit der Zukunft, der Größe, der Schönheit Wiens, mit der Ausgestaltung der sanitären und Verkehrs-Verhältnisse ernst meint, mit ganzer Kraft für die Avenue eintreten muß. (Beifall.) Wenn man einmal in die Festung des alten Herkommens Bresche geschossen, so geht das dem alten System an den Lebensnerv, so haben wir mit einem Federstrich das System des Abhobelns der alten Straßen beseitigt; denn ist der Stephansplatz Stellungnahme vor dem Donauclub über die Frage der Avenue (1895)

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nur erst erschlossen, so brauchen wir alle diese Flickarbeiten nicht mehr. Es verhält sich im Gemeindewesen einer großen Stadt und eines großen Volkes ähnlich, wie im gewöhnlichen Leben. Der kleine Bürger, der sich nach und nach durch fleißige Arbeit und durch Darben emporgebracht hat, der mit allen Fasern seines Herzens an seiner Werkstätte hängt, baut, wenn er eine Vergrößerung derselben braucht, etwas dazu, und es ist jedem bekannt, daß dieses ewige Herumflicken mehr kostet als Niederreißen und Aufbauen. So ist es auch im Leben größerer Städte. Man scheut sich, aus Liebe zum Alten und Gewohnten tabula rasa zu machen und einen neuen Bau auszuführen, da dies aber zu nichts Gutem führt, so ist es für eine Großstadt am besten im Großen zu arbeiten, und hier hätten wir ein Beispiel, wo zum ersten Male in Wien im großen Stile gearbeitet wird, und schon darum begrüße ich das Project mit Freuden. (Beifall.) Meine Herren! Trotz aller unversiegbarer Begeisterungsfähigkeit bin ich aber dennoch ein ungeheurer Pessimist in solchen Dingen. Ich habe mit Bewunderung gesehen, mit welchem Eifer und mit welcher reinen Begeisterung der Erfinder dieser Idee sein Leben derselben opfert. Meine Überzeugung ist, daß die Agitation und die Stimmung für dieses Project noch lange nicht ihren Höhepunkt erreicht haben, aber trotzdem fürchte ich, daß es nicht ausgeführt wird. Ich habe vor einem Jahre mit R i e h l 4 eine Wette in diesem Sinne eingegangen und ihm gesagt, er solle das Verfolgen dieser Idee stehen lassen, denn er würde seine Gesundheit, sein Leben opfern und eines schönen Tages, wenn er doch nichts erreicht hat, entweder zum Revolver greifen oder im Irrenhause enden, und ich halte diese meine Wette noch heute aufrecht. (Bewegung.) Angenommen, die Idee wäre als durchführbar erkannt und zur Ausführung bestimmt, dann kommt erst noch der Fluch unseres Jahrhunderts über sie: die parlamentarische, comissionelle, amtsmäßige Behandlung, und in dieser modernen Folterkammer wird sie, wie schon ungezählte andere schöne und gute Einfälle zu Tode gequält werden, bis nichts mehr von ihr übrig bleibt. (Bewegung.) Ich bin alt genug und welterfahren genug, um zu wissen, daß das parlamentarische System eine Nothwenigkeit höherer Culturstufen ist; aber ein Kunstwerk kann parlamentarisch nicht geschaffen werden; eine Symphonie kann nicht von einem Comité componirt werden; eine solche Symphonie der Baukunst ist aber das großartige vielgestalte Werk einer Stadtanlage. 4

[Zu Alfred Riehl siehe S. 454, Anm. 1.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Hier handelt es sich darum, ob man das Wien der Zukunft als ödes Häusermeer sich wünscht oder als herzerfreuendes stolzes Kunstwerk. Soll das letztere zur That werden, dann müssen solche großen Ideen siegreich durchbrechen, welche alle Nörgeleien von Commissionen, alle Comité-Bedenken über den Haufen rennen. Sollte ich also meine traurige Wette verlieren, dann wahrlich könnte nicht leicht Jemand froher sein als ich. Wollen Sie Alle dasselbe, wollen Sie Alle, daß Bresche gelegt werde in den Mauerring veralteter Traditionen, daß frische Lebenskraft einzieht in unseren Stadtbau, dann bitte ich Sie Alle, voll und mit ganzer Kraft für diese Sache einzutreten. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.)

Stellungnahme vor dem Donauclub über die Frage der Avenue (1895)

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Thurm-Freiheit (1896) Neues Wiener Tagblatt, 1. März 1896. Sign. SN: 231–425.

Wien will seinen großen Gefangenen befreien – den Stephansthurm. Schon als er vom Neumarkt her kurze Zeit blos zur Hälfte sichtbar war, während der Demolirung des Eckhauses an der Kupferschmiedgasse, konnte man beobachten, wie Passanten gefesselt von dem überraschenden Anblick stehen blieben und das seltsame Phänomen bewunderten. Zum Durchbruche kam diese Stimmung damals aber noch nicht, obwohl für den Kenner auch das schon aufregend genug war, etwa so, wie wenn man hinter hundertjähriger Tünche plötzlich ein altes werthvolles Frescogemälde hervorlugen sieht oder hinter der schwarzen Anstrichfarbe eines werthlos scheinenden Schildes kunstvollste Goldtauschirung von höchstem Werthe entdeckt. Bei solchen seltenen Gelegenheiten packt auch den Laien das Alterthumsfieber, und es gibt da Niemanden, der nicht für die Enthüllung des verborgenen Kunstschatzes einträte. So geht es jetzt allen Wienern, da nun plötzlich der ganze herrliche Thurm in seiner majestätischen Größe dasteht. Nun fühlt es Jeder, daß es geradezu Barbarei wäre, diesen Anblick wieder zu vernichten; im Gegentheil, der Kunstwerth soll herausgeschält werden, dieser kostbare Schatz soll enthüllt, soll ins rechte Licht gestellt werden. So ist es recht, und an diesem Beispiele kann Jedermann ersehen, auf welche Art in alten Zeiten die herrlichen Stadtbilder alter Städte zu Stande kamen. Sie wurden alle an Ort und Stelle in freier Natur erfunden und nach dem Augenschein ausgeführt, aber niemals am Reißbrett ersonnen, denn Reißbrett und Schiene wirken immer ernüchternd, ja gefühlsmörderisch, wenn sie nicht vom großen Meister blos als allerniedrigste Sclaven behandelt werden. Solche wahre Meister sind aber selten und werden stetig seltener und so haben wir denn in der That allenthalben bereits eine Architektur, welche zwar entzückend flott aussieht auf dem mit raffinirtester Zeichenkunst dargestellten Plan, aber alle erhoffte Wirkung vermissen läßt, wenn das Werk in freier Natur fertig dasteht. In erhöhtem Maße gilt dies auf dem Gebiete des Städtebaues. Wie es in der Poesie endlich zum sogenannten „L i t e r a t u r d r a m a “ kam, so haben wir heute eine „R e i ß b r e t t a r c h i t e k t u r “, die, wie jenes, sich nur auf dem Papier gut ausnimmt, bei der Aufführung aber die Wirkung versagt. Die Anwendung dieser Vorbetrachtung auf den vorliegenden Fall ist ganz einfach.

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Studirt man sich an der Hand des Stadtplanes die Lösung eines solchen Falles aus, so läuft man stets Gefahr, bald hier eine Straßenflucht zu finden, welche verlängert auf irgend ein Schauobject ginge; bald dort eine symmetrische Platzfigur und so fort. In Wirklichkeit zeigt sich aber, daß mit diesen schönen Liniennetzen und Straßenfluchten die Naturwirkung gar nicht zusammenhängt, sondern alle Wirkung lediglich nur bedingt ist durch die gegenseitige Massenwirkung der aufrechtstehenden Baufronten, und das ist etwas ganz Anderes. So wie der echte Bühnendichter die Mittel seiner Kunst sich nicht aus Büchern sammelt, sondern auf der lebendigen Bühne, so der Städtebauer nicht in Plänen und Protokollen, sondern in ausgeführten Städten, in diesen Dramen und Epen der bildenden Kunst. Die Betrachtung dieser ausgeführten Werke des Städtebaues lehrt aber Folgendes: Nicht enge Straßenfluchten sind es, welche ein Schauobject zur Geltung bringen, am allerwenigsten, wenn sie wie eine Gebirgsschlucht, wie eine sogenannte Klamm beiderseits mit vierstöckigen himmelragenden Zinscolossen begrenzt sind; sondern nur ein gut componirter Platz von genau entsprechender Größe, nicht zu klein, aber auch ja nicht zu groß und von richtiger Grundrißform. Solch’ ein Platz gestattet hie und da ruhig stehen zu bleiben zum Behufe des Schauens, was in der Verkehrsstraße zum Mindesten mißlich ist; ein solcher Platz allein gibt den nöthigen Luftraum und einen passenden Bildrahmen für das große architektonische Schaustück und auch zugleich den wünschenswerthen, ja nothwendigen Contrast der Breitendehnung gegen das Höhenobject des Thurmes. O! wenn man das Alles doch einmal naturgroß modelliren könnte! Da würde es sofort Jedermann begreifen, während es schwer geht, die richtige Vorstellung zu erwecken mit bloßen Worten oder mit leicht trügerischen Perspectivbildern. Ein langaufragender Thurm, der den ebenso schmalen Schlitz einer Straße zustöpselt, ist sicher nicht das Richtige, und nur mit Worten lassen sich auch darüber schöne Phrasen machen. Das hier einzig Richtige wäre die Niederlegung des ganzen Hausblockes zwischen Stephansdom, Singerstraße und Churhausgasse, und das gäbe dann allerdings einen Platz, der vermöge der überwältigenden Macht des Eindruckes, welchen dann der Dom und der Thurm machen würden, einzig in seiner Art dastünde und zu den merkwürdigsten und schönsten aller Städte der Welt zählen würde; von erhabenster Schönheit, aber auch merkwürdig, ja seltsam, weil schon die seltene Seitenstellung des Thurmes und nicht minThurm-Freiheit (1896)

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der sein ganz eigenartiger Aufbau einen Anblick gewähren würden, den man mit nichts Ähnlichem von anderswo vergleichen könnte. Dazu würde die ebenfalls aparte Seitenlage des Platzes kommen und sich so zur tadellosen Schönheit noch die Originalität gesellen, eine Eigenschaft, die ja gerade heutzutage, wo fast alles abgedroschen erscheint, von besonderem Werth ist. Es gehört aber viel Muth zu dem Wagniß, eine so einfache klare Forderung bei uns überhaupt auszusprechen. „Ja! Ist denn dieser Mensch erst seit gestern aus Kamtschatka oder Californien eingewandert, daß er noch nichts weiß von u n ü b e r w i n d l i c h e n H i n d e r n i s s e n ?“ Die wahren inneren Gründe dieser Unüberwindlichkeit seien hier mit Stillschweigen bedeckt. Der bei solchem Anlaß aber stets vorgeschobene Scheingrund der angeblich unüberwindlichen financiellen Schwierigkeiten soll hier beseitigt werden. Wie macht man es anderwärts, ja auch bei uns! Überall werden alte Denkmäler frei gelegt, koste es was immer, und in diesem förmlichen Freilegungswahn thut man meistentheils sogar zu viel des Guten, trotz ungeheurer Kosten. So wurde vor etlichen Jahren erst mit größten Opfern der Kölner Dom frei gelegt und die erzielte Wirkung war eine gerade entgegengesetzte von der erwarteten, weil man einen z u g r o ß e n leeren Platz geschaffen hat.1 Dieses Verfehlen der beabsichtigten Wirkung schildert der Kunsthistoriker J. Janisch treffend folgendermaßen: „Die Hauptfaçade übt noch ihre alte überwältigende Macht aus, weil wir einstweilen noch nicht z u w e i t von ihr zurücktreten können. Wie anders aber, wenn wir der ebenso reichen Langseite gegenüber treten. Diese liegt nun ganz frei an einem großen öden Platz da, also in einer nach modernem Schema idealen Lage. Und doch thut sie nicht die e r w a r t e t e Wirkung, sie wirkt nicht groß, zieht nicht empor; es dauert eine Weile, bis der e n t t ä u s c h t e Beschauer ihr gerecht werden kann.“ Ist das nicht ganz so, als ob jemand von unserer Votivkirche spräche? – Gewiß! Unsere prächtige Votivkirche ist durchaus nicht so filigran, wie sie auf diesem unsinnig großen leeren Raum aussieht; Platz ist das eben nicht, denn dieses Monstrum hat keinerlei ästhetische Gliederung; es ist aber auch

1

[Sitte verweist hier auf die im 19. Jahrhundert erfolgten „Freilegungen“ gotischer Kathe­ dralen, so geschehen in Deutschland beispielsweise in Regensburg, Ulm oder Köln. Zur Freilegung des Kölner Doms in den Jahren nach 1880 siehe Sitte, Camillo: „Die Ausweidung Wiens (1891)“, S. 349, Anm. 3 in diesem Bd.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

kein Garten, wie er sein soll, weil Wind und Staub und Straßenlärm darüber hinwegziehen und den Aufenthalt unleidlich machen. Was St. Stephan zu wenig hat, das hat die Votivkirche reichlich zu viel. Da könnte nun beiden geholfen werden. Man verbaue diesen widerwärtigen Raum um die Votivkirche herum, wozu ohnehin schon ein Project publicirt vorliegt, das lediglich von der Absicht ausgeht, die Größe und Schönheiten dieses Prachtbaues zur Wirkung zu bringen und einen ruhigen, gesunden, behaglichen Garten davor zu schaffen, so bekommt man reichlich diejenigen Geldmittel heraus, welche die entsprechende Freilegung von St. Stephan benöthigen würde. Es wäre beiden geholfen. Das könnte gewiß gemacht werden, wenn an entscheidender Stelle der nöthige gute Wille dazu vorhanden wäre: so aber kann es sich momentan nur darum handeln, d i e Z u k u n f t z u r e t t e n und mit allen Mitteln die Wiederverbauung der offenen Lücke zu verhindern. Es ist im Augenblicke dem gegenüber ganz gleichgiltig, was da gemacht wird; ob eine bloße Feuermauerdecoration nach Art der Fontana Trevi in Rom, wie es schon vorgeschlagen wurde, oder eine niedere Terrasse oder eine geradlinig schräge Verbauung der jetzt klaffenden Lücke oder sonst noch Anderes; das ist Alles Nebensache. Dasjenige Project, das gegenwärtig die meiste Hoffnung hat, durchzudringen, das soll von Allen nach Möglichkeit gefördert werden, damit die Sache nicht auf die lange Bank kommt und die Freihaltung der Bresche (etwas anderes ist es nicht) gerettet wird. Gelingt dies, so können Alle, die noch ein Herz für Wien haben, in ihrem Innersten aufjubeln, daß ein solcher Schatz uns erhalten blieb. Es wäre aber der erste Fall, daß das eiserne Schicksal, das seit einigen Decennien über allen unseren Stadtbaufragen lastet, nachgeben würde; das unerbittliche Schicksal, dem nach der Lehre der alten Griechen selbst die Götter unterthan sind. Hochgeehrter Herr Redacteur!2 Hier der gewünschte Artikel. Ihrem anderen Wunsche, auch über die kürzlich ausgestellten Regulirungspläne meine Meinung öffentlich darzustellen, kann ich aber leider nicht entsprechen. Was soll das Reden und Kritisiren über eine Sache, die nicht mehr zu ändern ist? So lange ich noch einen letzten Schim-

2

Vorstehendes Schreiben unseres sehr geschätzten Mitarbeiters Regierungsrath Camillo Sitte glaubten wir der Öffentlichkeit nicht vorenthalten zu sollen und haben daher seine Genehmigung zum Abdrucke dieser bemerkenswerthen Äußerungen eingeholt. Die Red. Thurm-Freiheit (1896)

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mer von Hoffnung hatte, daß sich das unserem lieben Wien drohende Schicksal noch beschwören ließe, habe ich es für meine Pflicht gehalten, meine schwache Einzelkraft bedingungslos in den Dienst der Vaterstadt zu stellen. Heute hat das keinen Zweck mehr, wo die Würfel gefallen sind. Vom Standpunkte des naturgemäßen Städtebaues, der die historischen Denkmäler ehrt, der die wahren Verkehrsbedingungen kennt, nicht blos geometrische Einbildungen, und der auch ein behagliches bürgerliches Wohnen und die Weihe der Kunst nicht mißachtet; von diesem Standpunkte aus ist das Wien der Zukunft eine verlorene Stadt. Es schnürt einem das Herz im Leibe zusammen, das mitansehen zu müssen, ohne helfen zu können. Das einzige Schema, dem Wien bis in den letzten Winkel hinein entsprechen soll, ist das Schachbrettmuster. Daß in der Altstadt die Hausblockwürfel nicht alle genau rechtwinkelig zugehobelt werden können, das ändert an dem Wesen dieses schlechtesten aller Stadtbauschemata gar nichts. Diese geradezu fürchterliche Maßregelung der innern Stadt wird alle Behaglichkeit des Wohnens daselbst zerstören, denn ohne Staub, Wind und Wagengerassel wird es da keine einzige Gasse mehr geben; sie wird aber auch dem Verkehre nicht nur nichts nützen, sondern sogar schaden, weil die senkrecht sich kreuzenden Verkehrsadern an der wichtigen Kreuzungsstelle gerade sich gegenseitig den Verkehr unmöglich machen, weil das ebenso unnatürlich ist, wie die Vorstellung, daß zwei Flüsse sich in ihrem Laufe irgendwo senkrecht durchschneiden. Und welche Opfer kostet diese zweifellose Verschlechterung gegen den jetzigen Zustand! Nach beiläufiger Berechnung bei 60 Millionen an Grundablösungen und Steuerfreiheit und derzeit noch unabsehbare Opfer an historischen und Kunstwerthen, denn die kürzlich publicirten Todtenlisten sind nur eine erste oder vielmehr zweite Serie von Todtenopfern, die dem Moloch des Unverstandes und Starrsinnes gebracht werden. Wer hält das Alles aber jetzt noch auf? Es ist zu spät. Die Carlskirche wird genau mit einem weiten, durch breite Straßenlöcher zerstückelten Kranz von Zinsblöcken umgeben, wie die Votivkirche. Die den Effect des großen Kunstwerkes möglichst herabdrückende Wirkung muß sich auch da einstellen. Wer hält das jetzt noch auf? Es ist zu spät. Die Wien wird überwölbt, wenn auch nur stückchenweise, die Wienthalreservoirs werden bei günstiger Gelegenheit folgen. Wie kann man so etwas

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

verantworten! Ist denn die Katastrophe von Bouzey3 nicht mehr in Erinnerung, welche 115 Menschenleben kostete? In den Zeitungen las man: „D i e Ingenieure

stehen

noch

immer

einem

Räthsel

gegen-

ü b e r.“ – Ja, weiß man denn nicht, daß jedweder Wasserdamm einmal in seinem Bestehen reißt, so wie bekanntlich jedes Theater einmal abbrennt, und zwar laut Statistik durchschnittlich innerhalb zehn Jahren? Wenn das hier bei überwölbter Wien dereinst geschähe, kostet es ein ganzes Stadtviertel und hunderttausende von Menschenleben. Wer wagt das zu verantworten? Der bloßen Möglichkeit eines solchen Ereignisses gegenüber genügt doch nicht die hundertfache Sicherheit beim Baue, auch nicht die tausendfache, sondern nur die absolute, und diese hat man nur, wenn man so etwas überhaupt gar nicht macht. Wer hält das stete Werden dieses Werkes aber jetzt noch auf? Wer ist da mächtig genug, ein Quousque tandem Catalina4 zu rufen? Es ist zu spät. Und welche ungeheure Geldopfer auch hier wieder, und zwar für ein Werk, das weder schön, noch praktisch, noch nothwendig ist! Denn die Wienthal-Avenue wird stets menschenleer sein und niemals die Concurrenz der alteingebürgerten Mariahilferstraße zunichte machen. Doch was geht das uns mehr an? Es ist zu spät. Da kann man nur die Flinte ins Korn werfen, wenn man nicht zu einem lächerlichen Helden herabsinken will, der gegen unfaßbar hinziehende Wolken kämpft, die auf uns nichtige Erdenwürmchen gleichgiltig gelassen herabblicken. Bitte mich also zu entschuldigen, wenn ich künftighin nur noch zu Kleinigkeiten etwa das Wort ergreife, wo vielleicht eine Kleinigkeit noch zu retten ist. In ergebener Hochachtung Camillo Sitte.

3

[Die 1879–1882 erbaute Staumauer von Bouzey in den Vogesen (Frankreich) klappte im April 1895 infolge falscher statischer Berechnungen auf einer Länge von 171 Metern um. Der Talsperrenkatastrophe fielen mindestens 86 Menschen zum Opfer.]

4

[Der von Sitte wiedergegebene Ausspruch Ciceros (106–43 v. Chr.: „Wie lange eigentlich, Catilina, wirst du unsere Geduld mißbrauchen?“) leitete die erste „Catilinarische Rede“ ein, die Cicero in der Sitzung des römischen Senats am 8. November 63 v. Chr. hielt. In der Rede wandte er sich gegen den einen Staatsstreich planenden römischen Senator Lucius Sergius Catilina (um 108–62 v. Chr.) und forderte diesen zum freiwilligen Verlassen der Stadt Rom auf.] Thurm-Freiheit (1896)

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Discussion über den General-Regulirungsplan von Wien (1896) Auszug aus einem Artikel in der Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines, Jg. 48 (1896), Nr. 27, S. 410 (Juni 1896). Der Beitrag Sittes stammt aus einer Diskussion, geführt am 1. April 1896 im Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Verein. Der Text ist nicht im Nachlass enthalten. An der mehrteiligen Diskussion beteiligten sich außerdem Karl Mayreder, Arnold Lotz, Hauptmann Schindler, Franz R. von Gruber und Carl König. Sittes Beitrag wird vom Schriftführer eingeführt mit: „Reg.-Rath Camillo Sitte erklärte zu Beginn seiner Rede, sich nicht auf Details einlassen zu wollen, er müsse vielmehr das ganze Princip der beantragten Regulirung tadeln. Da seine anderwärts darüber gesprochenen Worte vielfach irrig aufgefasst wurden, sehe er sich veranlasst, seine Anschauungen in nachfolgenden 12 Sätzen niederzulegen:

1. Es wird Alles uniformirt, lauter gleichbreite Straßen von 12 bis 16 m. Das ist für die vielen alten Seitengässchen viel zu breit, für die zwei oder drei Hauptgeschäfts- und Verkehrsstraßen viel zu wenig. Dafür sollten nur einige wichtigste Verkehrsadern geschickt eingeführt werden; aber diese mindestens 30 m breit – alles Andere soll bleiben. 2. Alle diese viel zu zahlreichen neuen Durchzüge folgen dem SchachbrettSchema. Die wenigen Hauptschlagadern müssen dabei unbedingt radial angelegt werden. 3. Alle diese vielen Parallelstraßen zerfallen nach dem Stadtbauamtsplane in zwei Systeme, die im Wesentlichen senkrecht aufeinanderstehen, was überall Verkehrsstörungen gibt. Jede Verkehrskreuzung muss bei Hauptadern unbedingt vermieden werden. 4. Damit hängt eine Uniformirung aller Baublöcke, daher aller Wohnungsund Gewölbsverhältnisse zusammen, was dem auch im ersten Bezirke nöthigen kleinen Manne das Hausen daselbst unmöglich macht. Der Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse muss durch eine dementsprechende Mannigfaltigkeit der Zinsforderungen Rechnung getragen werden, das heißt, man muss den gesunden, geschichtlich gewachsenen Status quo möglichst erhalten. 5. Nach dem Projecte muss beinahe die ganze Altstadt niedergerissen und neu aufgebaut werden. Das ist ganz unnöthig und ein nationalökonomisches Unding. 6. Das bedarf ungeheuerer finanzieller Opfer an Grundablösung und Steuerfreiheit. Das ist zum Fenster hinausgeworfenes Geld. 7. Es kostet ebenso ungeheuerliche Opfer an alten Kunstschätzen und historisch denkwürdigen Werken. Das ist einfach Vandalismus.

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8. Die alten Plätze werden als Verkehrscentren benützt und daher geradeso zerstört, wie bereits der alte Mehlmarkt; es trifft dies den Hof, Hohen Markt und Graben. Gerade diesen ehrwürdigen, schönen, ruhigen werthvollen Plätzen müssten die neuen Hauptschlagadern des Verkehres g r u n d s ä t z l i c h ausweichen. 9. In der Ausführung wird stückchenweise Alles zugleich angefangen, aber nicht in kurzer Zeit erledigt; es darf nur zugleich eine Hauptlinie in Angriff genommen werden, diese muss aber energisch sogleich fertiggestellt werden. 10. Von den künstlerischen Schönheiten ist nirgends eine Spur zu finden. Künstlerische Wirkungen sind überall anzustreben, wo sie sich ohne Sonderkosten erreichen lassen. 11. Die Karlskirche wäre vernichtet. Der gesammte Raum vor dieser darf nur die einzige Aufgabe erfüllen, dieses Kunstwerk ersten Ranges zur möglichsten Geltung zu bringen. 12. Die Gartenanlagen sind durchwegs schlecht erdacht. Diese müssen reinlich und vor Allem wind-, staub- und lärmfrei sein.

Discussion über den General-Regulirungsplan von Wien (1896)

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Albert Ilg (1896) Neues Wiener Tagblatt, 2. Dezember 1896. Mit handschriftlichen Redaktionen. Sign. SN: 170–139.

„Weißt Du, wir Österreicher sind blos zu bescheiden, zu gutmüthig. Wenn man uns nur etwas mehr Arroganz eintrichtern könnte, dann würden wir ganz anders in der Welt dastehen! Was haben wir alles für die europäische Cultur geleistet, von den Zeiten, als das Nibelungenlied bei uns gedichtet wurde, bis auf unsere Tage, wo die neue deutsche Musik inner den Mauern Wiens geschaffen wurde! In der Werkstatt unseres großen Raphael Donner ist der Gedanke antiker plastischer Formenreinheit zum ersten Male wieder lebendig geworden und von da aus nach Deutschland gekommen, von uns sind die größten Romantiker in der Malerei ausgegangen, bei uns wurde zuerst der Kampf gegen die allmächtige Pariser Mode aufgenommen: das alles wird aber todtgeschwiegen, gilt nichts, blos weil es aus Österreich kam und das ist ja auch begreiflich; denn wenn wir selbst nicht soviel eigenen Stolz in uns haben, das zu fühlen, wer anders soll das anerkennen?“ Diese Worte, ein Lebensprogramm für ihn, hat Albert Ilg gesprochen als junger Student, der noch keine Zeile hatte drucken lassen. Zuerst unentschieden zwischen Jus und Germanistik, hatte er angefangen die kunstgeschichtlichen Collegien von Eitelberger zu hören und da wurden wir miteinander bekannt und aufs engste befreundet. Unser gemeinsam verehrter großer Meister war damals gerade mit der Organisation des Österreichischen Museums mit ganzer Kraft beschäftigt. Es war eine schöne Zeit aufstrebenden großen Schaffens auf allen Gebieten der Kunst und der Kunstforschung. Eitelberger hatte sein Werk im größten Style begonnen mit dem allumfassenden Blick eines zielbewußten großen Feldherrn. Seine allgemein anziehenden Collegien über Leonardo, Raffael und Michelangelo waren überfüllt von Hörern aller Facultäten und diese absichtlich so vorbereitete Gelegenheit benützte Eitelberger dazu, die kunstsinnige Jugend um sich zu schaaren und die Empfänglichsten darunter durch allgemeine Anregungen und auch in Einzelbesprechungen dazu anzuleiten, in den nächsten Semestern sich eingehender mit kunstgeschichtlichen Studien zu befassen. Diese zweite Stufe des Lehrganges bildeten die Collegien über „Quellenliteratur zur Kunstgeschichte“ und über „Geschichte der einzelnen Zweige der Kunstindustrie“. Die Hörer waren eine bereits ausgewählte Gruppe von nur mehr zwanzig bis dreißig aus welchen dann in derselben Weise etwa ein Dutzend für die dritte

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Stufe bereits praktischer Seminararbeiten im folgenden Jahre übrig blieben. Diese letzten Studien umfaßten selbständige Bestimmungen und Beschreibungen alter Kunstwerke und die Vorarbeiten zu der von Eitelberger gegründeten Ausgabe der „Q u e l l e n s c h r i f t e n z u r K u n s t g e s c h i c h t e “. Aus diesem kleinen und intimen Kreise sind hervorgegangen: B r i n k m a n n , der Director des Hamburger Museums, dessen Erstlingsarbeit über Benvenuto Cellini hier entstand; S c h e s t a g , der schon lange heimgegangene erste Bibliothekar des österreichischen Museums und erste Redacteur des gleichfalls von Eitelberger begründeten „Repertoriums für Kunstwissenschaften“; J a n i t s c h e k , der Nachfolger in der Redaktion des Repertoriums und zuletzt Professor der Kunstgeschichte in Leipzig; C h m e l a r, der zweite Bibliothekar des österreichischen Museums, jetzt Director des Kupferstichcabinets der Hofbibliothek; R . V i s c h e r, Professor der Universität Göttingen und nebst vielen Anderen als einer der Jüngsten Albert I l g . Als erster Band der eine neue Richtung der Kunstgeschichte eröffnenden Quellenschriftenausgabe erschien „Das Buch von der Kunst des Cennino Cennini, übersetzt und erläutert von A . I l g “.1 Diesem folgte als vierter Band Ilg’s Heraclius-Ausgabe und als siebenter Band dessen Bearbeitung der Schedula diversarum artium des Theophilus2, in welchem hochwichtigen Werke Ilg bereits seine damals schon ungewöhnliche Belesenheit und scharfe Kritik in glänzender Weise zeigte. Nach dem Tode Eitelberger’s stockte das Weitererscheinen einige Jahre, bis es durch Unterstützung des Unterrichtsministeriums gelang, diese wichtigen Publicationen unter der Leitung von A. Ilg in neuer Folge wieder in Gang zu bringen. Diese herrliche Zeit jungen erfolgreichen Schaffens hatte eine Reihe idealer Lebensprogramme, idealer Berufsfreundschaften im besten Sinne des Wortes ersprießen lassen. In uns allen gährten die großen Ideen der Zeit und

1

[Cennini, Cennino: Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei des Cennino Cennini da Colle di Valdelsa. Übersetzt und hg. von Albert Ilg. Wien: Braumüller 1871. (= Eitelberger von Edelberg, Rudolph (Hg.): Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 1). Albert Ilg (1847–1896) war von 1873–1876 Kustos am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie.]

2

[Heraclius: Von den Farben und Künsten der Römer. Übersetzt und hg. von Albert Ilg. (= Eitelberger von Edelberg, Rudolph (Hg.): Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 4), Wien: Braumüller 1873; Theophilus Presbyter: Schedula diversarum artium. Übersetzt und hg. von Albert Ilg. (= Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 7.) Wien: Braumüller 1874.] Albert Ilg (1896)

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jeder war von dem mächtig drängenden Gefühle beherrscht, nun die Formel für die Arbeit seines Lebens zu finden. Ilg’s Meinung war dabei die, daß es die große deutsche Culturarbeit sei, der wir unzweifelhaft unser Leben zu widmen haben; aber bitter sei es, daß gerade die österreichischen deutschen Stämme, die sich im Kreise der übrigen wahrhaftig nicht zu schämen brauchten, nicht entsprechend zur Geltung kämen und geradezu empörend, daß die Werke ihrer größten Männer entweder nicht als österreichisch anerkannt oder mißgünstig zur Seite geschoben oder gänzlich todtgeschwiegen würden. Vom Standpunkte dieser tief empfundenen Empörung wollte er vor Allem Österreicher sein, ja eigentlich: Wiener. Danach hat er gestrebt, danach seine Lebensstellung gesucht und auch gefunden; ein steter Mahner und Warner vor der Öffentlichkeit, ein unermüdlicher erfolgreicher Arbeiter auf seinem eigenen Posten. Was ihm dabei alles reichlich gelang, hat ihm herzliche, wohlverdiente Freude bereitet; so die Installation der seiner Hand anvertrauten Abtheilung der k.k. Hofmuseen, zahlreiche glückliche Berathungen hoher Kunstfreunde u.dgl.m. Die Vielfältigkeit seiner Thätigkeit in Vereinen, als Kunstreferent; die Mitbegründung der Broschüren – Publication „Gegen den Strom“, seine Verbindung mit dem leider gleichfalls viel zu früh heimgegangenen trefflichen Kabdebo, seine Bestrebungen, eine concentrirtere Gesammtmuseumsverwaltung herbeizuführen u.dgl.m., das alles hängt mit dieser Grundabsicht seines Lebens zusammen, ja auch seine leidenschaftliche Vorliebe für die Wiener Barocke, deren Bannerträger er durch seine zündende Broschüre: „D i e Z u k u n f t d e s B a r o c k s t y l e s “.3 Wurde und ebenso seine begeisterte Zuneigung zu dem allerdings echtest wienerischen und wahrhaft künstlerischen Genius, dem uns gleichfalls zu früh entrissenen Tilgner. Aus derselben Quelle gingen aber auch zahllose polemische Kundgebungen hervor und mit ihnen eine wahre Sintfluth von Ärger und Verdruß. Es liegt ein Stoß seiner Briefe vor mir. Ein ganzes Lebensbild. Eine herzerschütternde Erinnerung. Welche innige, übersprudelnde Freude konnte er da ausschütten, wenn ein österreichisches Kunstwerk siegreich bestand! Mit welchem Stolz kehrte er heim von Reisen und Ausstellungen, wenn er sagen konnte: das machen wir besser! 3

[Vgl. Sittes Rezension „Offenes Schreiben an Dr. Ilg (1879)“, S. 185–187 in diesem Bd.]

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Aber immer mehr, je älter er wurde, immer bitterer auch werden seine Ausbrüche des Unmuthes. „Ich sehne mich, Dir mein Herz auszuschütten, das voll ist von Zorn, Ärger und wahrem Kummer.“ „Es ist zu toll, die ehrliche, die gerne und begeistert geopferte Kraft wie Sand in einen Abgrund leeren zu sehen.“ „Immer und immer sich überzeugen, daß man noch immer zu grün sei, daß alles Enttäuschung sei, macht Einen ordentlich verzweifelt. Unsere Ideale reichen doch nicht über 1550.“ Trotzdem dazwischen hinein ewige Klagen über endlose Zersplitterung aller Kräfte durch kleinliche und unnöthige, aber nicht zu umgehende Nebenarbeiten mitunterlaufen und die Verdrossenheit stetig zunimmt, reichen doch die Ideale weit über 1550, und zwar bis zu seinem letzten Athemzuge, denn im jüngsten Schreiben heißt es noch: „Mein Ideal war der Gedanke, dass auf kunstwissenschaftlichem, künstlerischem und gewerblichen Boden Österreich zur Führerschaft in Deutschland gelangen werde. – Das ist nebelhaft zerronnen. Trotzdem ist nicht der Muth zu verlieren. Unsere Zeit kommt noch. Nur hinaus einmal mit dem vielen Fremden, das sich bei uns sättigt und die Werke der Einheimischen annectirt. Erst unserem Volke der Muth eingeflößt, zu bekennen: Das ist mein Eigen­ thum, mein Verdienst, meine Ehre allein! Dann werden auch die Kraft und Schaffensfreude nicht fehlen, Großes und Höchstes zu leisten.“ Die zunehmende Aufregung, Überanstrengung und zweifellos Überbürdung des ganzen Nervensystems hat auch von innen heraus seine Kraft verzehrt, ihn frühzeitig aufgerieben. So schloß sich sein Leben ab zur Einheit einer scharf geprägten Individualität. Eine große Genugthuung war ihm aber noch vergönnt zu erleben: die Vollendung des Hauptwerkes seines Lebens, seines Buches über Fischer von Erlach4 und seine Zeit. Freilich auch das wieder nicht so, wie es geplant war, nämlich als Prachtwerk ersten Ranges mit zahlreichen großen vornehmen bildlichen Darstellungen, sondern nur als eben noch hinreichend ausgestattetes Textwerk und auch das gelang wieder nur durch die einsichtige Hilfe des Unterrichtsministeriums.

4

[Ilg, Albert (Hg.): Die Fischer von Erlach, Bd. 1: Leben und Werke Joh. Bernh. Fischer‘s von Erlach des Vaters. Wien: Konegen 18995. Von der geplanten Reihe ist nur der erste Band erschienen.] Albert Ilg (1896)

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Es ist in der That zum Verzweifeln. Ja! wo sollen denn wahre echte Vaterlandsliebe und Begeisterung zu eigener Bethätigung herkommen, wenn die Thaten unserer größten Männer nicht gewürdigt werden? Hat doch Fischer v. Erlach, vielleicht der größte Architekt aller Zeiten, gewiß aber einer der größten, der nur mit Brunelleschi, Bähr und Semper in Vergleich gestellt werden kann, noch immer weder in seiner Geburtsstadt Graz noch in der Stadt seines Wirkens in Wien ein Monument (die Decorationsfigur der Elisabethbrücke kann doch als solches nicht gerechnet werden) außer den herrlichen Monumenten die er durch seine Werke sich selbst gesetzt hat und auch die sollen theils zerstört, theils um ihre Wirkung gebracht werden. Das ist allerdings so, dass es Einem das Herz zusammenschnürt, und das hat Ilg tief empfunden; auch paßt es ganz in sein Lebenswerk, daß er dem großen Wiener Meister ein seiner würdiges literarisches Denkmal setzte. Es ist dies eines der merkwürdigsten Bücher der kunstgeschichtlichen Literatur. Ein Werk, das man nicht lesen, das man nur studiren kann; ein Werk, das nach vielen Decennien erst voll und ganz wird gewürdigt werden als unentbehrliches Quellenwerk, als ein Bild der Zeit Fischer’s und auch unserer Zeit. Die Natur des Materials und seiner bisherigen Bearbeitungen brachte es mit sich, daß die durchgehende Hauptschilderung alle Augenblicke durch mehr oder weniger lange Excurse unterbrochen werden mußte, welche theils dem Aufräumen von literarischem Schutt, theils dem Vorführen und Zergliedern neuer Quellen oder dem Ausarbeiten wichtigen Beiwerks gewidmet werden mußte. So gleicht das umfangreiche Buch einem langen periodischen Satzgebilde voller Nebensätze und Einschübe, das man zweimal lesen muß, um es ganz deutlich zu verstehen. Dieses Buch muß man auch zweimal lesen, ja excerpiren, denn es umfaßt eine ganze Sammlung von Monographien über die österreichische Kunst des vorigen Jahrhunderts. Der Fachmann hat aber hier eine ganze Nachschlagebibliothek und möchte alle Augenblicke aufjubeln über diese Fülle von Aufhellungen bisher dunkler Punkte. Es fällt eine ganz dicke Kruste von Unverstand und Unwissenheit vor unseren Augen von dem Gemälde dieser künstlerisch so großen Zeit herab, als ob wir der Reinigung eines ganz schwarzen Ölbildes zusehen würden, das sich nun zu unserer Überraschung als ein herrlicher alter Meister entpuppt. Diese Reinigungsarbeit allein ist für sich schon eine kunstgeschichtliche That. Was mußte da Alles durch neue Belege und kritische Sichtung corrigirt werden!

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Die ganzen älteren unkritischen Arbeiten von Hefner, Dlabacz, Tschischka, Schlager, Mosel und Anderen, von denen leider auch zu Vieles aus Mangel besserer Quellen in neuere Werke herüber sich erhalten hat, eine Menge Verwechslungen, zwischen Architekten, bloßen Bauleitern oder Werkmeistern, Zahlmeistern, Controlbeamten oder Baucomité-Präsidenten, wie man heute sagen würde, mußte aufgeklärt werden, was zu ganzen Monographien Anlaß gab, wie zu der classisch durchgeführten Untersuchung über die verschiedenen Martinelli, deren Bruchstückangaben sich zu einer förmlichen MartinelliSage verdichtet hatten. Ebenso mußten auch über einzelne hervorragende Bauten besondere Untersuchungen eingeflochten werden, um schließlich zu entscheiden, ob sie Fischer v. Erlach zugeschrieben werden dürfen oder nicht. Ein solches Einschiebsel ist unter Anderem die wichtige Monographie über die Peterskirche von Wien. In geradezu bewundernswerther Weise wußte Ilg, der selbst unermüdlich war in der Durchforschung von öffentlichen und Privatarchiven, hiezu Mitarbeiter zu werben, welche theils für sein Unternehmen ihm Beiträge lieferten, wie Archivar Pirckmayer in Salzburg, Professor Hörmann und Custos Fischnaler in Innsbruck, Dr. Pacaunek in Prag, Dr. Müller in Reichenberg, Professor Brausewetter, Consistorialrath Kornheisl und Conservator J. Grauß und Andere, theils sich zu eigenen Detailarbeiten und Publicationen anregen ließen, wie J. Wastler in Graz und Andere. Außerdem hat er auch alte Quellenliteratur von Bedeutung erst zur Geltung gebracht, so: den Grundriß einer Kunstgeschichte von A. Roschmann von 1742 und Schriften von J. Wagner v. Wagenfels u.dgl.m. Sein eigenes Urtheil über diesen mühevollen Theil seiner Arbeit ist daher voll berechtigt, wenn er Seite 302 sagt: „Ich schreibe ja hier zum ersten Male etwas Eingehenderes über die berühmten Künstler, und meine Aufgabe ist es daher, den Urwald von verworrenen, falschen Überlieferungen nach Möglichkeit vorerst zu lichten, bevor auf offenem Plan der Bau ihrer Geschichte kann aufgeführt werden“ … „Mögen dann Andere weiterschaffen.“ Und Seite 683: „Meine Arbeit ist vielfach die des Gärtners, der nicht nur Nutz- und Zierpflanzen anzubauen, sondern auch genug Unkraut auszujäten hat, um den Boden rein zu machen.“ Erstaunlich ist die Fülle von Specialforschungen über gleichzeitige Künstler und Kunstmäcene, welche da nebenher eingewebt erscheinen. So über die Fontana, über die Künstlerfamilie der Carlone, über die Strudel und die ebenso durch Generationen hindurch beschäftigten Baumeister, Maler, Bildhauer, wie die Bibiena, Lunghi, Orsi, Allio, Pozzo, Loraghi, die Burnacini, Die Familie Schorr, die Stuccatore: Bussi, Henrici, Camesina u.dgl.m. Albert Ilg (1896)

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Dazu gesellen sich noch Einzelarbeiten von Bedeutung für sich allein, wie die Aufhellung des Stammbaumes der Künstlerfamilie Gump, die Schilderung von J. L. Hildebrand, von Daniel Gran, Rottmayr, eine ganze Reihe von Künstlernennungen zu bisher undatirten und unbenannten Werken, Angaben des Schulzusammenhanges der Künstler und über dieses trockene aber unerläßliche Archivstudium hinaus eine Reihe glänzender Charakteristiken, denn Ilg war auch feiner Kunstkenner und ist seinen Leuten überallhin nachgereist, um ihre Werke selbst zu sehen und beurtheilen zu können. Auch diese Charakteristiken fallen meist original und häufig gegen die landläufige Anschauung aus, aber meist überzeugend, denn sogar die Quellen der herkömmlichen Mißverständnisse werden nachgewiesen bis zu einer derartig schneidigen Abfertigung des alten Milizia, daß Einem der Ärmste völlig leid thut. Er ist allerdings eine Hauptquelle verschrobener Ansichten. Zu den gelungensten Charakteristiken gehört die der barocken Parkanlagen in Bezug auf Platzwahl, Anordnung und Styl, ferner die der Kunstrichtung des Bernini, des Maratta und schließlich von Allem des Fischer v. Erlach selbst. Diese Richtigstellungen des allgemeinen Urtheils sind oft geradezu herzerfrischend; man fühlt sich wie von einem langen Alpdruck befreit, daß endlich Ansichten wegfallen, die man nach Anblick der Werke nicht zu glauben, aber auch aus Mangel an Belegen bisher nicht zu beseitigen vermochte. So ist der Gegensatz, in den er Fischer’s echt constructive monumentale Kunstweise zu der herkömmlichen Schnörkelbarocke seiner Zeit setzt, wahrhaft erfrischend. Neben constructiver Klarheit und großer Massenwirkung bezeichnet er ganz richtig einfache Linienwirkung und Vermeiden des blos decorativen Maskirens als die Hauptelemente seiner Architektur. In besonders klaren Zusammenhang hiezu wird das große theoretische Werk Fischer’s „Entwurf einer historischen Architektur“5 gebracht und natürlich auch seine Entstehung und Bedeutung eingehends geschildert. Daß die äußeren Lebensverhältnisse Fischer’s und der Seinen, sowie die Geschichte jedes einzelnen seiner Werke eine eingehende Beschreibung erhielten, ist wohl selbstverständlich. Die geradezu geniale Art der Entdeckung

5

[Fischer von Erlach, Johann Bernhard: Entwurff einer Historischen Architectur, in Abbildung unterschiedener berühmten Gebäude des Alterthums, und fremder Völcker […] alles mit großer Mühe gezeichnet, und auf eigene Unkosten, 4 Bücher. Wien: Selbstverlag 1721.]

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seines Geburtsortes Graz, welche seinerseits vielfach besprochen wurde, ist wohl allgemein bekannt. Nicht zu übersehen ist auch die lebensvolle Schilderung des mächtigen Einflusses der großen adeligen Familien auf die Kunstentfaltung der Zeit; in erster Linie des kunstsinnigen und im größten Style schöpferischen Kaiserhauses, dann aber auch der Familien Liechtenstein, Colloredo-Mansfeld, Schönborn, Batthyany, Althan und des Prinzen Eugen. So hellt sich die bedeutsame Geschichte dieser Zeit vor unseren Blicken auf und es entsteht in uns das Gefühl, daß hier ein kostbarer Schatz geschichtlichen Wissens gehoben ist, vielleicht gerade noch rechtzeitig, um der Vergessenheit nicht für immer anheim zu fallen. So hat Albert Ilg seinen Fahneneid gehalten, den größten österreichischen Baukünstler für alle Zeiten ins rechte Licht gestellt, ja geradezu eine Geschichte österreichischer Kunst des vorigen Jahrhundertes geschaffen, eine Leistung, die Schule gemacht hat, vorläufig freilich nur in engem Kreise. Aber die Sache wird und muß zum Durchbruch kommen; denn eine große Zeit, einmal als solche erkannt, kann nicht mehr der Vergessenheit anheim gegeben werden, nicht ständig ohne Nachwirkung bleiben, und dann wird der Name Ilg, losgeschält von aller Schelsucht des Tagesgetriebes, mit derjenigen Verehrung genannt werden, die ihm gebührt.

Albert Ilg (1896)

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Aus der Burg Kreuzenstein (1898) Kunst und Kunsthandwerk. Monatsschrift des k. k. Österr. Museums für Kunst und Industrie, Jg. 1 (1898), S. 3–15; S. 95–104; S. 155–164. Im Nachlass befinden sich Teile als Autograph, datiert 1897 (Sign. SN: 194–412/1 und 2, Sign. SN: 194–412/4–6) sowie eine handschriftliche Abschrift (Sign. SN: 194–412/3), jeweils mit handschriftlichen Redaktionen. Weiters befinden sich im Nachlass handschriftliche Vorstudien zum Text sowie zahlreiche Skizzen (Sign. SN: 194–413/1–13). 20 Abbildungen.

„Stünde diese Burg mit ihren Kunstschätzen in Spanien oder England, so müsste man eigens dorthin reisen, um das alles zu sehen; umso erfreulicher ist es, daß ein solches Werk bei uns entsteht in nächster Nähe von Wien.“ In diese Worte fasste Seine kaiserliche Hoheit der kunstsinnige Erzherzog Franz Ferdinand sein Urtheil zusammen, nach eingehender mehrstündiger Besichtigung. Was ist nun dieses merkwürdige Bauwerk? Die erste Anregung zum Beginn des Baues gab die Absicht zur Errichtung einer neuen Familiengruft. Hiezu wählte der Erbauer Graf Hans Wilczek den Ort der eine Stunde nordwestlich von Korneuburg gelegenen, in altem Familienbesitz befindlichen Burgruine Kreuzenstein, wegen ihrer eigenen Denkwürdigkeit und auch wegen ihrer herrlichen Höhenlage mit prächtiger Aussicht über die ganze Donaugegend, wie sie sich zu Füssen des Kahlenberges ausbreitet. Die Gruft selbst wurde der Lage nach kryptenartig angelegt, unter der ehemaligen Burgkapelle, deren Fundamente mit deutlich gothischem Achteck-Chor noch vorhanden waren. Darüber erhob sich in neuer Gestalt, aber im Grundrisse verschiedene Unregelmässigkeiten der alten Anlage beibehaltend, eine gothische Kapelle von so eigenartiger Erfindung und Durchführung, daß man es nicht empfindet, hier einem Werke neuester Zeit gegenüber zu stehen. Schon die Unregelmässigkeiten in der Haupteintheilung widersprechen der starr symmetrischen Reissbrettarchitektur unserer Zeit, noch viel mehr aber die naturwüchsige Art des Aufbaues, die reiche, ungemein feine Farbenstimmung, die Gliederung der Einzelheiten und die Fülle von merkwürdigen Kunstwerken, welche allenthalben immer neu entdeckt werden, je länger, je öfter man irgend einen Theil des Ganzen betrachtet. Nirgends eine Wiederholung, nirgends blosse Raumfüllung oder blosse architektonische Gemeinplätze; nirgends ist auch nur eine Spur von jener hastigen Eile zu sehen, mit der gegenwärtig selbst Monumentalbauten höchster

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Burg Kreuzenstein

Bedeutsamkeit emporgejagt werden. Im Banne dieses so eigenartig dastehenden Kunstwerkes überkommt jeden Beschauer eine seltene weihevolle Stimmung, wie sie nur von echten Kunstwerken ausströmt, eine Stimmung des reinen Sichhingebens an die mächtige Wirkung dieser Raumgestaltung. Die grosse Menge von kunstgeschichtlich höchst wertvollen Figuren, Bildern, Glasmalereien, Arbeiten in den verschiedensten Materialien und Techniken, die man hier vereinigt sieht, ist nicht blos mit feinstem Kunstsinn zusammengetragen, sondern auch in künstlerischer Schaffensfreude zusammengebaut und diese Liebe zur Sache, diese Begeisterung für das eigene Werk ist es, welche hier ein so harmonisches Ganzes entstehen liess. Die ganze Sammlung, welche nur zum Theile jetzt schon auf Burg Kreuzenstein untergebracht wurde, ist so umfangreich und zählt so viele Stücke von kunstgeschichtlicher Bedeutung, ja eine so stattliche Reihe von sehr seltenen Stücken, dass selbst von öffentlichen Kunst- und Kunstgewerbemuseen nur die hervorragenderen damit verglichen werden können, wozu noch als im besonderen wertvoll der Umstand kommt, dass die Sammlung nur auf mittelalterliche Kunst beschränkt blieb, also auch vom wissenschaftlichen Standpunkte aus ein geschlossenes Ganzes bildet. Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Von diesem Standpunkte aus soll dieser Sammlung und ihrer künstlerisch so wertvollen Unterbringung vorläufig eine kurze Schilderung in allgemeinen Umrissen hier gewidmet sein. Eine erschöpfende Monographie wird nach Vollendung des Baues erscheinen. Unser erstes Bild stellt die Westansicht der Burg dar nach dem Bauzustande, als noch der Saalbau an der linken Seite fehlte, weshalb hier die reich gegliederte Silhouette noch nicht im vollen Gleichgewichte erscheint. Trotzdem ist auch so schon die Wirkung höchst malerisch und erinnert der Gesammteindruck lebhaft an den, in der alten höfischen Dichtung (Parsival) beliebten Vergleich, wonach stattliche schöne Burgen so aussehen, als ob hier Thurmsamen aufgegangen wäre. Eine äußere zinnenbewehrte Vormauer zieht sich quer über die ganze Breite bis zu dem runden Thorthurm rechter Hand, architektonisch als ruhige fensterlose Basis des ganzen Aufbaues wirkend. Ihre linke Hälfte besteht aus einer vorgeschobenen geraden Mauerflucht, an welcher blos die Endigungen durch beiderseitige Brustwehrerker hervorgehoben sind mit unauffälliger, aber gefühlsmässig nothwendiger und wohlthuender Unsymmetrie in der Durchbildung. Die rechte Hälfte ist im Gegensatz dazu hufeisenförmig einspringend angeordnet und befindet sich im geschützten Mittelgrunde das Haupteingangsthor zu der Burg mit dem ganzen mittelalterlichen Vertheidigungsapparat regelrecht ausgestattet, theils getreu nach alten Motiven, theils aus echten alten Bestandtheilen zusammengebaut. So ist unter Anderem der mächtige Fallgatter ein altes Stück; ebenso der Eisenbeschlag über der Zugbrückenstreu, während die ganze Hebevorrichtung von Brücke und Fallgatter, von Herrn Stefan von Götz ausgeführt, den Mechanismus alter Werke vor Augen stellt. Der runde Thorthurm ist im Stile und der Befestigungsart der maximilianischen Zeit gedacht, also Ende fünfzehntes Jahrhundert. Sein von mächtigen Consolen und Steinbogen getragener Wehrgang, aus stärksten Balken gezimmert, ist mit alten, theilweise aus Basel stammenden, glasirten Ziegeln gedeckt. Oberm Thor ragt eine geschlossene Pechküche mit Pechnase hervor, nebst beiderseitigem gedecktem Wehrgang. Das links in die Burgmauern eingelassene Steinrelief stellt den heiligen Martin vor und stammt aus der Gegend von Bamberg; Thor und Thürl selbst sind nach altem Vorbilde der Burg Schaumburg bei Linz gemacht. Innerhalb dieses äusseren Befestigungsgürtels ragen hoch empor diejenigen Bautheile der inneren Burg, welche den oberen Burghof gegen Westen begrenzen; in der Mitte: die Aussenwände der Burgkapelle mit dem grossen gothischen Orgelchorfenster, einem kleineren Doppelfenster mit Wim-

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berg darüber zu dem Oratorium und dazwischen der zierliche, gothische Glockenthurm, rechts der grosse viereckige Hauptthurm, der Bergfried oder Wartthurm; links ein im Grundriss dreieckiger Thurm, der Nordwestthurm; also wieder, wie bei der vorspringenden Brüstungsmauer darunter, eine im Grunde symmetrische Anordnung, jedoch nur mit sozusagen unbewusst wirkender, zur Einheit bindender Gewalt, weil ausser der symmetrischen Massenvertheilung alles Übrige nach grösster Mannigfaltigkeit gedacht ist, zum Beispiel: ein runder, ein dreieckiger, ein viereckiger, ein sechseckiger Thurm noch obendrein von denkbarster Verschiedenheit nach Grösse, Proportion, Einbindung in das übrige Mauerwerk, Dachbildung u.s.w. Sowie in diesen Grundzügen der Conception ist auch im Einzelnen mit unendlich feinem Kunstgefühle die grosse Regel alles künstlerischen Schaffens, nämlich: strengste Einheit bei möglichster Mannigfaltigkeit, in so mustergültiger Weise verkörpert, dass man bei der Analyse dieses architektonischen Meisterstückes allzugerne länger verweilen möchte, wenn es die hier einzuhaltende Absicht, die Burg und ihre Schätze zunächst als Museum mittelalterlicher Kunst zu schildern, gestatten würde. Nur Eines sei noch kurz erwähnt: die Bindung zu einheitlicher Wirkung geschieht noch, ausser durch das gelungene Massengleichgewicht, durch wohlthuende Stetigkeit eines nicht gegliederten kräftig wirkenden Quadermauerwerkes, ohne irgend welche Störung durch den architektonischen Schulkram von Lesenen, Strebepfeilern, Masswerken, Fialen und dergleichen. Auf dieser ruhigen Mauerfläche heben sich die günstig vertheilten reicheren Einzelheiten naturgemäss sehr wirksam ab. Es sind dies meist alte Originale oder Copien nach solchen und soll vorläufig nur auf Folgendes besonders aufmerksam gemacht werden: Die weithin sichtbare Kreuzgruppe unter dem grossen gothischen Musikchorfenster in überlebensgrossen Figuren stammt aus der Meraner Gegend und ist ein Werk ersten Ranges der alten Tiroler Plastik; die gründliche Anatomie und vortreffliche Proportion der Figuren, der schöne Faltenwurf und die virtuose Behandlung alles Technischen zeigen dies auf den ersten Blick. Geradezu sprechend ist der Gesichtsausdruck der drei Figuren, aber ganz besonders merkwürdig die ungewöhnliche Auffassung der beiden Schächerfiguren: der zur Rechten von Christus, der im letzten Augenblicke reuig in sich kehrt, hebt gnadeflehend, soweit es seine Fesselung gestattet, beide Arme in anbetender Stellung Hilfe erbittend gegen den Himmel. Seine Stellung ist die der antik-griechischen Adoranten, also so typisch gemeinverständlich und schön ausdrucksvoll als möglich, zugleich rhytmisch symmetrisch. Der der Hölle verfallene Häscher, der selbst im Augenblicke des Todes sich nicht Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Kreuzgruppe

bekehrt, wird gemeiniglich als thierisch verworfenes Individuum, unfähig jeder höheren geistigen Regung, dargestellt mit mehr weniger abstossenden Gesichtszügen, zuweilen sogar absichtlich in gleichfalls rohen gemeinen Körperformen und durch die gewaltsamen unschönen Windungen seines Körpers und den blos ärgerlichen, zornigen Gesichtsausdruck andeutend, dass er,

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folgend seiner steten thierischen Lebensgewohnheit, nur die augenblickliche Ungunst seiner Lage missliebig empfindet. Nichts von alledem in der Figur des unbekannten Tiroler Meisters. Eine schöne Gestalt mit zwar unsymmetrischer, aber gleichfalls schöner Arm- und Handstellung und von einer so packenden Deutlichkeit in dem Ausdrucke dessen, was dieser Mensch am Todesholze jetzt kalten Blutes denkt und sagt, dass es Einen kalt überläuft. Das ist kein gemeiner Mörder, das ist ein Mörder der eigenen Seele, des eigenen beseeligenden Glaubens an eine höhere Bestimmung des Menschen, an eine höhere Weltenordnung. Man hört ihn sprechen: „Du so grosser Gott! Zeige jetzt, was Du kannst! Befreie Deinen eigenen Sohn jetzt von dem schmachvollen Marterholz! Zeige Dich allmächtig! Zeige Dich allgütig! Aber nicht wahr, Du kannst nicht, weil Du nicht willst, und Du willst nicht, weil Du nicht kannst, und so kannst Du auch mir den Himmel nicht spenden, weil Du nicht willst, und die Hölle nicht geben, weil Du nicht kannst.“ Solcher Hohn höllischer Verneinung liegt in dieser Figur. Dieser Sterbende ist die Personification des Unglaubens, der Verspottung aller menschlichen und göttlichen Weltordnung und dafür gibt es allerdings keine Gnade, keine Erlösung, auch nicht einmal in unmittelbarster Nähe des Weltenerlösers selbst, als dessen Leidens- und Sterbensgenosse. Wer solches unzweideutig und sofort sicher erkennbar zu sagen vermochte in einer holzgeschnitzten Figur, das war ein grosser Künstler, ein grosser Philosoph, und wenn es auch nur ein Tiroler Herrgottschnitzer, nur ein Bauernphilosoph war, so war es Einer, der in der Tiefe und Gewalt seines Fühlens, Denkens und auch Könnens hinanreichte bis an Dante und Michelangelo. Was sein Können anbelangt, so steht er beiläufig auf der Höhe von Veit Stoss oder des gleichfalls noch unbekannten Schnitzmeisters des Pacher’schen St. Wolfgang-Altares. Ein solches Werk vor dem Untergang oder mindestens der Verschleppung gerettet zu haben, ist allein schon ein grosses Verdienst, umsomehr, da ihm hier ein so schöner Platz angewiesen ist. Die sehr gut dazu passenden Figuren von Maria und Johannes sind nicht von derselben Hand. Die gesamte Gruppe ist vor Regen und Schnee sicher geschützt durch ein mächtiges Vordach, dessen glasirte Ziegel vom Baseler Münster stammen, und zwar wahrscheinlich von dessen 1380 nach einem vorhergegangenen Brande erfolgter Neueindeckung. Die feinsculptirte Säule des spätromanischen Oratoriumfensters besteht durchaus aus alten Bestandtheilen, die trotz der verschiedensten Herkunft vortrefflich zusammenpassen; die Basis mit Löwen aus rothem Salzburger Marmor stammt Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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aus Berchtesgaden; das Capitäl aus Pola, der Verdeantico-Schaft aus Neapel. Die zwei Wasserspeier am Wimberge darüber vom Dome zu Kaschau gehören dem Ende des XIV. Jahrhunderts an. Der zierliche gothische Glockenthurm enthält drei alte italienische Glocken von Serravalle aus dem XIV. Jahrhundert; die Säule vor der Nische ist von Sienit aus Konopischt. Ein merkwürdiges Werk ist die den Thurm krönende Gestalt des Erzengels Michael. Die Statue selbst ist alt (XVI. Jahrhundert) und stammt aus Trier; Flügel, Nimbus, Schild und Schwert sind nach Zeichnungen von Graf Hans Wilczek in Bronzeguss ausgeführt von dem Bronzegiesser und Galvanoplastiker Haas in Wien; als Auflager der Figur, die so wuchtig ist, dass zum Vergiessen ihrer Helmstange und aller Verankerungen über hundert Pfund Blei erforderlich waren, dient Erzengel Michael

eine 156 Kilo schwere kupferne Locomotivkesselplatte aus der Fabrik

von Chaudoir und Zipper, deren Spezialität solche Platten sind. Die ganze Figur ist also auch in technischer Beziehung eine Merkwürdigkeit. Einen wieder eigenartig von allem Übrigen sich abhebenden Schmuck erhielt der dreieckige, an den Ecken abgefaste Nordwestthurm in einer stattlichen Reihe von Wappen der älteren Burgherren und Landesfürsten, so die Wappen der Fornbacher aus dem XI. Jahrhundert, der Erbauer des Schlosses; der Waserburger aus dem XII. Jahrhundert, der Babenberger, als älteste Landesfürsten, ferner Ottokars von Böhmen und der Habsburger. Unter den Wappen befindet sich auch ein Türkenkopf, sogenannter Trutzkopf, weil die Burg 1529 von den Türken nicht eingenommen werden konnte. Eine Fortsetzung findet die Wappenreihe im Oratorium.

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Burghof

Der vierte und grösste Thurm, der Bergfried, kommt noch besser zur Geltung in der Innenansicht des oberen Burghofes. Er lehnt sich an die Formen der Thürme von Perchtoldsdorf und Freistadt in Oberösterreich an. Das riesige Zifferblatt aus dem XV. Jahrhundert mit der Devise: „Wer rastet, rostet“ auf streng stilistisch durchgeführtem Spruchband stammt aus Überlingen am Bodensee. Der im Zubau begriffene Tract wird Bibliothek und Archiv umfassen. Das gothische Gitter an der zugehörigen Ecke ist eine alte Tiroler Arbeit, und der Eingang in die Halle links unterm Thurm hat ein gothisches Portal aus Wels. Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Unmittelbar davor, im Hofe unter dem Bretterdach befindet sich der 58 Meter tiefe Brunnen der ehemaligen Burg, bei dessen Ausräumung zu unterst in Wasserhöhe ein jüdischer Grabstein aus dem XIII. Jahrhundert gefunden wurde. Hiezu wäre daran zu erinnern, dass damals in dem benachbarten Korneuburg sich eine starke Judengemeinde befand. Der Brunnenschacht hat zwei Meter Durchmesser. Neben demselben, gegen die Mitte des Hofes zu, steht ein von Graf Wilczek selbst hieher verpflanzter Lindenbaum. An der Mauer entlang lehnen eine Reihe noch unterzubringender Grabsteine, theilweise von bedeutendem künstlerischen Wert, deren Namensträger den Geschlechtern von Kreuzenstein angehören oder zur Geschichte von Niederösterreich in Beziehung stehen. Der an der Ecke des Kapellenschiffes eingemauerte Marmorlöwe ist eine alte Venezianer Arbeit. Die Loggia im Hintergrunde des Hofes gegen Westen hat im Untergeschosse zwei mächtige Bogen auf mittlerer Granitsäule, deren Capitäl aus der Basilika von Padua herrührt, während das Obergeschoss fünf Bogenöffnungen zählt über theilweise gleichfalls alten Säulen. Der ornamentirte Bogenfries darüber ist neu ausgeführt nach Zeichnungen von Graf H. Wilczek, von Bildhauer Spira aus Venedig. Die an der Wandfläche verwendeten Ziersteine und Zierplatten sind altromanische italienische Arbeit. Das darüber befindliche Pultdach im Stile des XIV. Jahrhunderts wurde ausgeführt von Zimmermeister Österreicher und gedeckt mit alten Original-Hohlziegeln des XV. Jahrhunderts aus der Gegend von Meran. Das Materiale zum Thurm-Mauerwerk ist Tuffstein von einem am Inn demolirten alten Thurm und wurde dasselbe auf einer Plätte den Inn und die Donau heruntergebracht, und auch das Holz der Plätte zum Bauen verwendet. Von beiden Stockwerken dieser Loggia aus gelangt man in die Kapelle theils ebenerdig, theils auf den Musikchor und das Oratorium. In der Kapelle befindet man sich in dem künstlerischen Centrum des Ganzen. Eine derartig weihevolle Stimmung, wie sie hier jeden Beschauer beherrscht, vermögen nur architektonische Kunstwerke ersten Ranges im Vereine mit Sculptur und Malerei hervorzurufen. Es ist schwer, den Anfang und Faden zu einer Beschreibung aufzugreifen, die nothwendigerweise unverhältnismässig weit hinter dem Selbstgesehenen zurückbleiben muss. Dasjenige, was zuerst den Blick fesselt, ist der Hochaltar mit seiner nächsten Umgebung. Eine Symphonie von Farbe und Helldunkel, das ist der erste Eindruck und es ist auch das letzte Wort, das man mit Bewusstsein darüber

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ausspricht nach Kenntnisnahme aller Einzelheiten und aller Hilfsmittel, welche hier angewendet wurden, dieses Meisterstück zu schaffen. Das Ungewöhnliche und in der neueren Kunst einzig Dastehende des hier Erreichten nöthigt dazu, hier weiter auszuholen, um die Eigenheit des Geleisteten recht deutlich zu machen. Die hier erzielte Farbenstimmung mit irgend einer der nach Hunderten und Tausenden zählenden neueren gothischen Kirchen mit ihrer Innenbemalung und Vergoldung zu vergleichen, geht schlechterdings nicht an; der Unterschied ist zu gross, zu principiell. Nur wenige Werke besonders hervorragender Art können da zur Vergleichung herangezogen werden, und zwar besonders solche, bei denen es von vornherein Aufgabe war, die Freiheit und Harmonie alter Künstler nachahmend zu erreichen; also polychrome Restaurirungen alter Kapellenräume von hervorragendem Kunstwerte. Es wären dies etwa für Italien die theilweisen Restaurirungen von Wandmalereien von Giotto, besonders in den Querschiffkapellen von Santa Croce zu Florenz; in Frankreich die polychrome Ausschmückung der Sainte-Chapelle zu Paris, in Deutschland die Restaurirung und Ausmalung der Marien-Kirche zu Nürnberg. Die italienische Leistung wird in der Geschichte der italienischen Malerei von Crowe und Cavalcaselle1 als mustergiltig gepriesen; wenn man aber bemerkt hat, wie die Köpfe weichlich modernisirt wurden, so dass sie für den Historiker die so charakteristischen Verkürzungsfehler einbüssten, zugleich aber den, Giotto eigenen, geradezu dramatischen Ausdruck; ebenso die Hände etc. und wie endlich die Ornamentstreifen in eintönigen Farben so echt modern fabriksmässig angestrichen sind, ja sogar mit Beihilfe von Patronen, so kann man diesem Lobe nicht beipflichten. Dasselbe gilt von der Ausmalung der Sainte-Chapelle, die niemand Geringerer leitete, als der als Architekt wie als Archäolog gleich hervorragende Viollet-le-Duc. Auch dieser vermochte den Bann moderner fabriksartiger Technik nicht zu brechen. Am deutlichsten trat aber der Zwiespalt zwischen innerer Absicht und Erfolg der Ausführung wohl bei dem Nürnberger Beispiele hervor. Leiter dieser Arbeit war der Director des germanischen Museums, der hervorragende Architekt und Archäolog Essenwein. Wohl selten ist zu einem solchen Werk eine geeignetere Person gefunden worden, selten hat wohl ein Künstler mit grösserem Feuereifer 1

[Crowe, Joseph-Archer/Cavalcaselle, Giovanni Battista: Geschichte der Italienischen Malerei, 5 Bde. Leipzig: Hirzel 1869–1876.]  Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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sein Werk begonnen. Wer das umfassende Wissen und Können Essenweins auch in malerischer Richtung und selbst auf figuralem Gebiete, wozu sein Bildercyklus für St. Gereon in Köln einen grossartigen Beleg bietet, zu würdigen verstand, der musste sich einen ausserordentlichen Erfolg versprechen. Der Mann, der sich zunächst diesen Erfolg versprach, war Essenwein selbst und so arbeitete er an seinem Werke mit innerster Liebe, mit Hingebung, mit Leidenschaft. Es war geradezu berückend, ihn in dieser Begeisterung seine Absichten an Ort und Stelle auseinandersetzen zu hören. Als aber das Werk fertig war, wollte er nichts mehr davon wissen; die Erwartungen der mit geistigem Auge gesehenen Farbenwirkung hatten sich nicht erfüllt. Die Ursache davon liegt aber auch hier wieder in der modernen maschinellen, fabriksmäßigen Herstellungsart. Essenwein hätte nicht nur alle Figuren und Decorationen zeichnen, alle Farben angeben müssen, sondern er hätte selbst den Pinsel ergreifen, sich etwa nur einen oder zwei geeignete Gehilfen suchen, an diese einzige Arbeit seine Lebenszeit daranwenden müssen. Alles das, was in unserer fieberhaft rasch producirenden Zeit nirgends geschieht und nirgends geschehen ist, das gelang hier zu Kreuzenstein. Was bei den genannten Arbeiten dem leitenden Künstler vorschwebte, hier wurde es erreicht, und zwar offenbar mit förmlich spielender Leichtigkeit, weil alles ebenso naiv, ebenso der reinen Empfindung folgend, in nothwendiger Musse gemacht wurde, wie bei den Werken der Alten. Zur näheren Begründung nur ein Beispiel. Die Gewölbszwickel über dem Hochaltar enthalten feines Goldlinien-Ornament auf blauem Grunde. Diese Idee, in gewöhnlicher, moderner Fabriksmanier ausgeführt, gäbe, trotzdem sie gut ist, ein widerwärtiges Resultat, wie zahllose goldbesternte Blaugründe auf modernen Kirchengewölben bezeugen. Der blaue Grund würde einförmig gestrichen, wobei die Fleckenlosigkeit der Stolz des modernen Handlangers wäre; die Verzierung würde glatt in Vergoldung darauf gesetzt, wobei die Spiegelung in einer gewissen Beziehung blenden, nach anderer das Gold aber gar nicht wirken würde. In Kreuzenstein wurde das Blau verschieden gedämpft, theils ins Grünliche, theils ins Weisse und vom Dunkelsten beim Schlussstein beginnend, bis zum Lichtesten herunter abgetönt; ausserdem mittelst Schablonenschnitten die richtige Grösse, Stärke und Raumfüllung der Ornamentirung ausprobirt und für dieselbe dann vorher ein Wachsgrund aufmodellirt und nach allen Seiten gebuckelt und gefurcht, so dass die vergoldeten Striche nach allen Seiten hin einen milden Goldschimmer werfen und überall gleichmässig sichtbar bleiben.2 2

[Ende Teil 1.]

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Ungemein viel findet der Kunsthistoriker in der Kapelle zusammengetragen. Auch für die Museumsidee bildet diese mit ihren Nebenräumen das Centrum. Die Bilder des Altarschreines St. Sebastian und St. Barbara stammen aus Obersteiermark; alle Figuren und Reliefs sind alt; sie gehören dem XV. Jahrhundert an. Der heilige Hubertus, eine der Seitenfiguren, stammt aus Gmunden, und die andere, der heilige Georgius, obwohl eine deutsche Arbeit, aus Madrid. Der Altar zählt im Ganzen 47 Holzschilde und Bilder, aus welchen derselbe zusammengebaut wurde, vom Bildhauer Grissemann aus Imst; gefasst wurde er vom Maler Alois Müller aus München; die Vergoldung ist von Emler in Wien. Der Elfenbein-Christus stammt aus Barcelona; das Innere des Tabernakels ist geschmückt mit Goldstickereien der Tochter Lucia des Grafen Wilczek. An den Seitenwänden der Absis befinden sich sechs Stück Holzreliefs von St. Pantaleon aus Niederösterreich. Der gemalte Wandteppich hinter dem Altar ist eine Nachahmung des bekannten Regensburger Teppichs, ausgeführt vom Maler Müller aus München. Die Glasmalereien der 30 Felder der drei schlanken Spitzbogenfenster, biblische und andere kirchliche Vorstellungen enthaltend, sind Arbeiten des XV. Jahrhunderts, theilweise aus der Grazer Schlosskapelle. Die Altardarstellungen, alle im Zusammenhang gesammelt, stellen eine Verherrlichung Mariens dar. Es sind dies die unbefleckte Empfängnis; die Geburt Christi; die Anbetung der heiligen drei Könige; auf der Thüre des Sacramenthäuschens der Weg nach Golgatha; darüber eine Pietà und zu oberst Christus Salvator; als Seitenfiguren Johannes der Täufer und der heilige Ambrosius; meist Tiroler Schnitzwerke. Unsere Abbildung zeigt hinlänglich, wie harmonisch alle diese Bildwerke zusammenpassen, als ob sie für dieses Altarwerk, wenn auch von verschiedenen Händen gearbeitet wären. Das Räthsel dieses Zusammenpassens löst sich aber Jedem, dem es verstattet war, die überraschend umfangreiche Sammlung von mittelalterlichen geschnitzten Figuren und Reliefs zu sehen, welche Graf Wilczek in seinem benachbarten Schloss Seebarn für Kreuzenstein im Laufe der Jahre zusammengebracht hat. Da stehen in langen Gängen rechts und links dicht aneinandergereiht mittelalterliche Schnitzbilder zu Hunderten aufgestapelt, in mehrfachen Reihen übereinandergeschichtet bis zur Decke hinan, mehrfach vor- und hintereinander; ein ganzes Museum mittelalterlicher Schnitzerei vom ältesten Romanischen an bis zu den letzten Ausläufern der Gothik, die mannigfachsten kirchlichen Stoffe und Heiligenlegenden behandelnd, in jeder Art Staffirung und Vergoldung, in jeder Grösse. Es dürfte dies die reichste Sammlung dieser Art sein und aus einer solchen, die überdies schon Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Altar in der Kapelle

im Hinblick auf ihre Verwendung mit wohlbedachtem, unermüdlichem Fleiss erworben wurde, Zusammenpassendes nach Darstellung, Grösse und Stil zu finden, mochte bei steter Vergleichung und Gruppirung endlich gar wohl gelingen.

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Romanisches Taufbecken

An diese Gallerie schliesst sich noch eine Bildschnitzer-, Tischler- und Reparatur-Werkstätte an, in welcher von einem tüchtig in Charakter und Technik eingearbeiteten Werkmeister Jahr aus, Jahr ein ergänzt, reparirt und zusammengebaut wird bis zu ganzen Altarwerken. Der Meister in diesen Räumen, der alles angibt, alle Skizzen und, wenn nöthig, Naturdetails zeichnet und Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Modelle anordnet und corrigirt, ist der schaffensfreudige Bauherr Graf Wilczek selbst und das Ganze gemahnt in überraschender Weise an die alten Klosterwerkstätten, wo in glücklicher Abgeschiedenheit vom Drängen und Stossen der Welt nur um der Sache selbst willen Schönes geschaffen wurde und die Arbeiten selbst eine Freude, Andacht und Lebensgenuss zugleich waren. Von hier aus begreift man auch die Möglichkeit der Entstehung von Kreuzenstein. Schloss Seebarn und die umliegenden herrschaftlichen Wirtschaftshöfe sind ausserdem in allen verfügbaren Räumen bis auf die Dachböden hinauf derzeit angefüllt mit alten Kunstgegenständen, Möbeln aller Art, Bildern, Gläsern und Krügen, Kachelöfen, Bronzegegenständen, Schmiedearbeiten u.s.f., ein vorläufig noch zerstreutes Museum. Das alles soll in Burg Kreuzenstein geeignete Aufstellung finden. Als besonders beachtenswerte Stücke seien hier noch folgende angeführt: An der nördlichen Kapellenwand ein romanisches Taufbecken auf Löwen stehend, eine vorzügliche altitalienische Arbeit noch in Form der antiken Bronze-Cisten, wie sie mit ihren Gravirungen bekanntlich bis in ältest etruskische Zeit reichen. Selbst der Gravirstil an der senkrechten Cistenwand hat sich hier noch in Form von ornamentalen Flachreliefs erhalten. Ober diesem höchst seltenen Stück befindet sich in die Mauer eingelassen ein wohl noch mehr zum Nachdenken anregender Gegenstand: ein frühchristliches Relief aus parischem Marmor in Mosaikeinrahmung mit der Darstellung einer Taufe, aber noch mit antikisirend griechischem Costume, Waffenschmuck und stilistischer Behandlung der Figuren, aus der Gegend von Padua stammend. Schade, dass der Mangel einer Inschrift das offenbar nach Padua nur durch Verschleppung gekommene Stück geschichtlich nicht näher bestimmen lässt. Die Abbildung auf Seite 100 stellt den westlichen Abschluss des Kapellenschiffes dar; das Chorgestühl daselbst mit der Jahreszahl 1475 ist eine alte Tiroler Arbeit; der grosse Christus am Kreuz darüber, aus dem XIV. Jahrhundert, befand sich früher in der Heiligen Blutkapelle zu Friesach; Maria und Johannes daneben stammen aus Norddeutschland. Was sonst auf diesem Bilde zu sehen: Luster, Leuchter und Processionsfiguren auf hohen Stangen etc., sind durchaus Antiquitäten. Der eiserne Fahnenhälter rechter Hand, aus dem XV. Jahrhundert, trägt in der Regel die Fahne der Nordpolexpedition von Payer und Weyprecht, welche Graf Wilczek ausgerüstet und bis Spitzbergen und Nowaja-Semlja begleitet hatte.

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Frühchristliches Relief

Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Westlicher Abschluss des Kapellenschiffes

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Heiliger Florian Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Die Orgelchorbrüstung darüber aus rothem Salzburger Marmor ist eine neue Arbeit im Stile des XIV. Jahrhunderts. Das grosse Fenster des Orgelchores, das schon auf dem ersten Bilde der Burgansicht von Westen her auffällt, ist in seinem Masswerke so durchgebildet worden, dass es die deutschen Glasmalereien aus dem XIV. Jahrhundert, die aus einem Kloster in der Nähe von Gross-Tapoltschan in Ungarn erworben wurden, aufnehmen konnte. Die Orgel ist eine vom Orgelbauer Keller in Limburg an der Lahn ausgeführte Copie der schönen Orgel aus dem XV. Jahrhundert von Kiedrich im Rheingau. Als interessantes Einzelstück ist noch zu erwähnen die vortrefflich gelungene Steingusscopie des heiligen Florian nach wahrscheinlich französischem Original aus dem XIII. Jahrhundert im Besitze des Stiftes St. Florian. Wendet man sich nun gegen die Südwand der Kapelle, so hat man einen Anblick magischer Farbenwirkung. Aus dem Dämmerlicht eines Hemicyklus leuchtet der Goldgrund eines den ganzen Kugelausschnitt des Gewölbes bedeckenden Mosaikbildes herab, das in der Technik alter Venezianer Mosaiken von Conte Morolin aus Venedig ausgeführt wurde mit vorbildlicher Benützung einer Madonna aus der Absis der Marcuskirche und zweier Engel aus Torcello. Die halbkreisförmige Steinwand ist in ruhiger Bogenstellung ausgebildet, deren Säulen aus Granit vom Kitzsteinhorn gearbeitet sind, während die Capitäle aus Kärntner Marmor hergestellt wurden, von einem verlassenen römischen Steinbruch, und zwar einige aus noch in römischer Zeit gebrochenen Werkstücken; der Steinplattenfussboden enthält den Einlass in die Familiengruft, eine mächtige Porphyrplatte mit eingravirtem Familienwappen. Die beiden Spitzbogenöffnungen gegen das Kapellenschiff sind getrennt durch eine Granitsäule mit romanischem Capitäl, und das in seiner einfachen Gliederung merkwürdig ernst wirkende Gitter ist von Graf Wilczek entworfen in Anlehnung an ein altes Motiv von der Kathedrale von St. Denis und mit einem leisen Hauch von Vergoldung überzogen, so dass es zu den Goldgründen der Mosaiken dahinter harmonisch stimmt. In der Gruft unter diesem Hemicyklus befindet sich der aus interessanten alten Stücken zusammengesetzte Altar. Die Mensa wird gebildet von einem Sarkophag aus rothem Marmor, aus Ravenna. Die Predella stammt aus Augsburg, die zwölf Apostelfiguren aus Innsbruck; das Kreuz aus Köln, die Leuchter aus Hamburg. Um diese Haupträume der Kapelle und Gruft gruppiren sich eine Menge anderer, wie Sakristei, Pfaffenstube, Glöcknerstube, Durchgänge und sonstiges, was alles gleichfalls zu geeigneter Unterbringung von Antiquitäten verwendet ist.

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Hemicyclus in der Kapelle

Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Eingang in die Sakristei

Zunächst am Eingange in die Sakristei fällt die prächtige Thürglocke auf, die man entschieden für eine Antiquität halten würde, wenn ihre Herstellung durch den Burgschmied Reginato aus Fansollo bei Castelfranco nach Entwurf und Naturdetail von Graf Wilczek nicht bekannt wäre. Hier muss eines Seitenstückes zu der Altarbau-Werkstätte von Schloss Seebarn gedacht werden; es ist das die Schlosserwerkstätte auf Burg Kreuzenstein.

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Paramentenschrein

Etwas Eigenartigeres in dieser Art wird man nicht leicht irgendwo finden. Das Rohmateriale besteht aus alten Fensterstangen ohne Kunstwert und sonstigem alten Eisen. Das mag dem Laien vielleicht wunderlich vorkommen, aber gerade das ist nichts Neues, sondern Jahrhunderte altes Eisen wird bereits allenthalben von Kunstschlossern, welche wirkliche Kunstschmiedearbeit fertigen, zur Verarbeitung gesucht, weil es für solche Arbeiten thatsächlich tauglicher ist, als moderne Walzwerkware. An Werkzeugen findet sich hier auch nur der Vorrath alter Schmieden; auch das ist schon anderwärts gebräuchlich, weil gediegene Kunstarbeit nur die schlichte Hammertechnik verträgt; dass aber ganze Reihen von Versuchsund Musterstücken absichtlich primitiv, sozusagen auf Stimmung geschmieAus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Pfaffenstube in Kreuzenstein

dete Nagelköpfe in ganzen Serien, Bänder, Beschläge etc., aufgestellt werden; dass die Gehilfen das alles so stilgerecht hier erst gelernt haben und zwar nicht vom Zunftmeister, sondern vom Bauherrn, dass diese Schmiedekünstler, die so vortrefflich alte Arbeiten nachzuahmen verstehen, die Schüler und Lehrlinge des Bauherrn selbst sind, das ist allerdings neu. Unterhalb dieses Probestückes eigenartiger Schmiedekunst steht ein Weihbrunnstein des XV. Jahrhunderts von Kreutzen bei Grein in Oberösterreich. Die Sakristeithür hat alte Beschläge des XV. Jahrhunderts aus Tirol mit einem Bronzelöwenkopf aus Neustift bei Brixen; die 14 Nothhelfer ober der Thür sind eine feine süddeutsche Holzsculptur. Nahezu gänzlich als Museumsraum kann die Sakristei bezeichnet werden. An den Wänden ist eine Fülle von Reliquiarien auf Consolen angebracht, die Rippenträger gehörten vor dem einer zerstörten Kirche am Inn; die Piscina ist altitalienisch; der Ofen zwar neu, aber alten, auf Kreuzenstein gefundenen Kacheln nachgebildet; ein kleiner Kasten für Kirchengeräthe befand sich früher in der Sammlung des Bildhauers Hans Gasser. Das Prachtstück der Sammlung bildet aber der grosse Paramentenschrein aus Tamsweg von 1455.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Glöcknerstube im grossen Thurm

Dieser ist bereits beschrieben im XIX. Jahrgange der Mittheilungen der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale; die Inschriften auf den Spruchbändern lauten: „das werchk habent geardent ze machen dye – zechleint der chirchen her Jörg hofmann die zeyt vicari anstatt maister Casparn pfarrer zw – Tamssweg und hans griespeck und chrueg petburg zu Temssweg, Anno domini millesimo quadringentesimo quadragesimo quinto finitum est hoc opus per magistrum petrum pistatorem de Leinssniza in honorem s. Leonhardi efessor (is).“ Wie die Sakristei, sind auch die anderen vorher genannten Räume wahre Fundgruben mittelalterlicher Kunstgegenstände, so die Pfaffenstube. Sie enthält einen Schrank des XV. Jahrhunderts aus Klagenfurt mit dem Namen des Verfertigers Wolfgang Pirsther Plebanus in Velach 1503, in Röthel geschrieben; ein wohlerhaltenes, interessantes gothisches Bett; ein Relief des heiligen Marcus aus Süddeutschland; einen Betschemel mit italienischem Trip­tychon; in der Fensterecke einen alten Armstuhl; einen alten gusseisernen Ofen aus der Hofapotheke von Innsbruck; in den Wandnischen eine kleine Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Halle, Innenansicht

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Bibliothek aus durchwegs merkwürdigen alten Bänden zusammengesetzt. Die Wand- und Deckenvertäfelung ist aus altem Holz neu zusammengefügt und fällt dabei der schön geschnitzte und bemalte alte Durchzug besonders auf. Der Vorplatz ist mit alten Fliesen ausgelegt, aus der Nicolauskirche in Korneuburg. Ähnlich, nur weniger reichlich, ist die im grossen Thurm befindliche Glöcknerstube ausgestattet, und zwar mit einer alten Vertäfelung aus der Meraner Gegend. Der Christus am Kreuze in der Ecke ist eine meisterhafte Arbeit des XV. Jahrhunderts; der Lichterweibchen-Luster stammt aus dem Anfange des XVI. Jahrhunderts; in der Ecke befindet sich eine alte eiserne Uhr aus dem XV. Jahrhundert; Tellerstellen mit alten Töpfen und Tellern und ein grüner einfacher Kachelofen von trefflicher Farbenwirkung sind noch zu nennen. Jedem Besucher fällt die neben dem Fenster aufgehängte Karte von Spanien auf und der Beschauer fragt unwillkürlich, warum hier eine so grosse Karte von Spanien hänge. Es ist eine weihevolle Erinnerung an eine unvergesslich herrliche und auch historisch denkwürdige Reise des Burgherrn durch Spanien. Zur Bewirtung froher Gäste ist diese lauschige Ecke ein Lieblingsplätzchen, und in der That: hier plaudert es sich gar wohlgemuth über all das Schöne, was es im Hause gibt und weit draussen in der grossen Welt.3 An der Südseite der Burg liegt neben dem grossen Wartthurm noch eine zweite Loggia, und zwar im Gegensatze zu der nach dem Hof sich öffnenden schon eingangs beschriebenen mit ihren Bogenöffnungen nach Süden ins Freie hinaus sich erschliessend. Sie ist noch in Fertigstellung begriffen und daher noch nicht eingerichtet. Von den drei Steinsäulen, welche die vier Bogen tragen, ist die mittlere eine doppeltheilige aus dem XIV. Jahrhundert, aus Murano; die zwei Säulen daneben haben Knotenschäfte, nach dem Typus, wie er sich von der langobardischen Zeit an bis in die Renaissance hinein erhielt; die eine derselben ist alt und die andere eine getreue Copie. Die in derber Zickzackornamentation dazu gestimmten Bögen sind eine Arbeit des Bildhauers Spira. Derselbe hat auch die in der Nordwestecke der Halle in einem Erkervorsprung aufsteigende Wendeltreppe nach der Zeichnung des Grafen Wilczek ausgeführt. Der Grabstein daneben, aus dem XV. Jahrhundert, gehört der Familie der Poitzenfurter an, aus der Radstädter Gegend. An den Wänden herum sind ausserdem folgende alte Kunstwerke angebracht: Zweimal der Einzug Christi in Holzsculpturen des XV. Jahrhunderts vom Bodensee; eine Gruppe der Frauen unter dem Kreuze, ein Holzschnitzwerk der 3

[Ende Teil 2.] Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Stiege in der Halle

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Loggia von Aussen mit Söller

Ulmerschule aus dem XV. Jahrhundert und aus derselben Zeit ein Ecce homo in alter Fassung aus der Augsburger Schule und eine grosse, bleierne Wandlaterne aus Köln. Der Durchzug, der die schwere Balkendecke tragen wird, stammt aus dem Schloss Biebersburg in Ungarn, ist 10 Meter lang, 60 Centimeter breit und 70 Centimeter hoch; die beiden Sturzträger der einen Seite sind Figuren des XIV. Jahrhunderts aus Florenz, das Paar der entgegengesetzAus der Burg Kreuzenstein (1898)

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ten Seite darnach ergänzt. An den Bogenöffnungen ist noch die Anbringung von Ambonen beabsichtigt. Ganz besonders malerisch und künstlerisch bedeutend ist die Aussenseite dieser Loggia, ein weiter Söller mit mächtigem, reich decorirtem Bogen überspannt. So muss man sich die Söller der reichsten Burgen vorstellen, von denen in den höfischen Dichtungen berichtet wird, dass von ihnen aus die edlen Damen den Turnieren und reckenhaften Zweikämpfen der fahrenden Ritter zugesehen haben. Zwei kleine Treppen führen auf den Balkon hinaus, dessen Balustrade aus rothem Marmor theilweise alt, theilweise ergänzt ist. Der obere Hauptbogen wird getragen von zwei grossen Säulen aus Venedig. Die figurale Ausschmückung, wieder eine Arbeit des trefflichen Spira, stellt eine Weinlese dar; alles, Bogen und Capitäle, im Stile des XIV. Jahrhunderts. Den Abschluss der Steinwand darüber bildet ein romanischer Bogenfries aus theilweise alten, theilweise ergänzten Stücken. An der Wand befinden sich Ziersteine, darunter wohl der bedeutendste ein byzantinischer heiliger Georg des VIII. oder IX. Jahrhunderts aus parischem Marmor. Zur architektonischen Durchbildung dieses, wie alles übrigen, vom Bauherrn selbst concipirten Ensembles war der Architekt Karl Gangolph Kaiser ausersehen und es ist dies jedenfalls seine bedeutendste Leistung auf Burg Kreuzenstein. An dieser Stelle erscheint es nothwendig, das ganz eigenartige Verhältnis des Bauherrn zu seinem Architekten zu erörtern, denn es handelt sich hier um nichts geringeres, als um die Scheidung des geistigen Eigen­ thumsrechtes an einer hervorragenden Kunstschöpfung. Es hat sich schon im Vorhergehenden einigemale die Gelegenheit ergeben, zu betonen, dass Graf Wilczek nicht blos die Ideen angab oder dem Künstler blos auftrug, was gemacht werden solle, sondern dass er auch selbst die Entwürfe zeichnerisch herstellt, ja selbst die Naturdetaile regelrecht in allen Ansichten mit allen constructiven Angaben eigenhändig ausführt und persönlich eingreift bei Herstellung von Maquetten und von Modellen. Auch am Bauplatz trifft Graf Wilczek selbst die wichtigsten Anordnungen; kurz er ist sein eigener Architekt, sein eigener Bauleiter. Das ist auch geradezu nothwendig, wenn ein Bau wie dieser gelingen soll; denn die innere Conception des Baues begann ja schon mit dem Ankaufe all der ungezählten Bautheile und Einzelkunstwerke, die hier ihre Verwendung finden. Die einheitliche Stimmung des Ganzen muss aber gleichfalls von hier aus schon ihren Ausgangspunkt nehmen. Dazu kommt aber noch, dass Graf Wilczek infolge seiner umfassenden litterarischen und Museumsstudien, seiner vielen Reisen und steten Beobachtungen thatsächlich eine solche Kennerschaft mittelalterlicher Kunst und Kunsttechnik und insbesondere des mittelalterlichen

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Heiliger Georg

Burgenbaues nach jeder Richtung hin sich erworben hat, dass ihm hierin nur Spezialisten wie Viollet le Duc oder Essenwein zur Seite gestellt werden können. In der intimsten Kennerschaft des mittelalterlichen Burgenbaues überragt Graf Wilczek ohne Zweifel alle lebenden Architekten und was die regelrechte Erlernung der Baukunst als besonderen Beruf betrifft, so wurde das bischen Schulbildung und Atelierpraxis reichlich ersetzt durch decennienlange Übung im Bauen selbst. So ist Graf Wilczek gleichsam ein Architekt und Baumeister von dem Schlage früherer Zeiten, als derjenige, der Kathedralen und Schlösser zu bauen wusste, noch nichts verstand von Graphostatik und Geometrie der Lage. Trotzdem war für die Ausführung des Werkes ein Berufsarchitekt noch erforderlich, als dasjenige stetig ziehende Gewicht im Uhrwerk, das immer Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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da ist, immer anordnet, immer alles überwacht, damit die Arbeit nicht stille steht und alles klappt. Dieser Architekt durfte aber kein blosser Bauführer sein, sondern er musste gleichfalls aus eigener Kraft einem solchen Werk gewachsen, musste vor allem selbst ein ganzer Künstler sein und diesen Künstler hatte Graf Wilczek in der That an dem Architekten Kaiser gefunden. Kaiser war ein phantasievoller Künstler, selbst Romantiker durch und durch und gerade zu einem solchen Bauwerke von einem solchen Bauherrn berufen zu sein, war seine Freude, sein Lebensglück. Wie sehr er hier auch am Platze war, wie er sich mit dem Werke verwoben hat und ihm dies auch in herzlichster Weise anerkannt wurde, bestätigt seine in der Südhalle aufgestellte Portraitbüste, ein Werk Tilgners, und der Umstand, dass er nach seinem Wunsch unter den Stufen des Gruftaltares seine Ruhestätte finden wird, wenn die Exhumirung und Übertragung zulässig sein wird. Ein heute seltsames Verhältnis zwischen Künstler und Bauherrn. Dieser poetisch schöne Zug geistigen Zusammenwirkens und rein menschlichen Fühlens steht zu Kreuzenstein nicht vereinzelt da, er bildet vielmehr ein Bindemittel, welches alle an ihrer Arbeit theilnehmen, allen ihre Arbeit nicht als widerwärtige Nothwendigkeit um leben zu können, sondern als die Freude des Tages empfinden lässt. Hier gibt es keine sociale Frage, keine Accordarbeit, keine Schleuder-, keine Zwangsarbeit; hier wird die Arbeit um ihrer selbst willen gethan, weil es so schön ist, das alles werden zu sehen, weil es fesselnd ist, so milde geführt und belehrt, so freundlich belobt zu werden, so angenehm untergebracht zu sein. Dieser Umstand verdient und fordert eingehende Besprechung, weil er wesentlich zum Gelingen des Werkes beiträgt, und auch weil diese Verhältnisse im Gegensatze zur modernen socialen Zerfahrenheit deutlich zeigen, dass auch heute noch echtes, frohes, künstlerisches Schaffen möglich ist, wenn die Sache nur richtig angefasst wird. Ein lebendiges Beispiel hiezu ist in erster Linie der schon erwähnte Venezianer Bildhauer Spira. Seine Vorfahren sind bis zum Grossvater als Bildhauer bekannt und haben nach alter Familientradition im XV. Jahrhundert am Kölnerdome gearbeitet; sein Bruder ist Professor der Plastik an der Akademie in Venedig; er selbst arbeitete früher fast nur in italienischer Renaissance, aber kurze Zeit auch am Kölner Dombau und bei den Restaurirungen am Dogenpalaste; in den romanischen Stil und in deutsche Gothik hat er sich erst zu Kreuzenstein unter Führung des Grafen Wilczek so eingearbeitet, dass er Figurales und Decoratives gleichmässig beherrscht, Modelle und Ausführung gleichmässig besorgt, wobei vieles alla prima in Stein gehauen wird. Diese

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Art der Thätigkeit regt ihn auch so sehr an, dass er einige besonders verlockende Angebote zwar ab und zu schon angenommen hatte, aber stets wieder aufgab und zu seiner ihm bereits ans Herz gewachsenen Kreuzensteiner Arbeit zurückkehrte. Dabei arbeitet er wie ein Steinmetz von 6 Uhr früh bis 6 Uhr abends und hält gemeinsamen Mittagstisch mit den Steinmetzen und anderen Werkleuten. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Bildhauer Milani aus Padua, der vor neun Jahren durch Spira als dessen Gehülfe an den Bau gebracht wurde und sich bereits ebenso eingearbeitet hat. Der jetzige Verfertiger der Tischlerarbeiten, der Täfelungen, Ergänzungen etc., Angelo Furlani, war Matrose und trat nach vollendeter Dienstzeit bei der österreichisch-ungarischen Kriegsflotte in die Dienste des Grafen Wilczek; er hat als jüngster die zweite Wilczek’sche Polarexpedition von 1881– 1883 mitgemacht. Da er grosses Talent für Tischlerarbeiten zeigte, wurde er dazu verwendet und ist heute hierin ein Meister, besonders im Ergänzen und Copiren alter Stücke. Der schon genannte Burgschmied Reginato von Fansollo wurde zunächst nur als Werkzeugschmied aufgenommen, infolge seiner grossen Begabung für stilgerechte Ergänzungen jedoch wurde er bei diesen Arbeiten belassen und ist heute im Stande Leistungen hinzustellen, wie das Gerüste der Sakris­ teiglocke. Als Baumeister steht den Arbeiten Klass vor, der seit Beginn des Baues hier thätig war, zuerst als Polier, später als Baumeister. Diese Angaben nur als Probe. Eine Art Künstlergenossenschaft, besser gesagt Gefolgschaft, denn sie sind, wie eben gezeigt, alle nicht bloss das vom Bauherrn aus aller Welt, meist aber aus Italien zusammengeworbene, sozusagen künstlerische Landsknechtsfähnlein, sondern die hier am Bau freigewordenen Lehrlinge, die Schüler des Bauherrn. Untereinander in steter bester Freundschaft, theilweise verschwägert, auch Italienerinnen sind bereits hier angesiedelt, während sich Milani eine Österreicherin heimgeführt hat, welche, wie die anderen Frauen, für Küche und Hauswirtschaft sorgt, sind diese glücklichen Leute sogar wie zu einer Familie zusammengewachsen. Man muss mit eigenen Augen den Frohsinn dieser kleinen Künstlergemeinde bei der Arbeit, das ganze sorglose Behagen ihres Daseins gesehen haben, um ein heutigen Tages so ungewöhnliches Bild zu begreifen. Hat man das gesehen und bewundert, dann erkennt man aber auch den hervorragenden Einfluss dieser Verhältnisse auf das Gelingen des Werkes selbst; man sieht hier neben alten echten Kunstwerken auch ein Stück alten gesunden Kunstlebens, ein Stück alten Bauhüttenlebens vor sich wiedererstanden. Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Dies alles wäre aber nicht möglich geworden, wenn der einzig in seiner Art dastehende Bauherr nicht ebenso wie er unermüdlich und zielbewusst Alterthümer sammelte, auch Menschen zu sammeln verstünde und diese mit seiner eigenen Begeisterung für sein Werk zu erfüllen und durch tiefe Herzensgüte zu fesseln wüsste. Wie die Eisenspäne am Magnet, so haften die hier Beschäftigten an ihrer Aufgabe, an ihrem Auftraggeber. Der Führer der Truppe und Leiter der Arbeiten nach dem Hingange von Karl Kaiser ist der junge Architekt Walcher von Moltheim, selbstverständlich eine verjüngte Auflage des alten Meisters in Verständnis und Liebe zur Sache, wie das hier ja nicht anders möglich wäre. Noch ist des schon genannten Grissemanns zu gedenken, dessen letzte Arbeit der Hauptaltar in der Kapelle war. Er war eine Schule bildende Persönlichkeit, wenn auch ohne Titel und ohne Anstellung. Unter seinen zahlreichen Schülern der bekannteste ist der Lehrer für Holzplastik an der Kunstgewerbeschule des k.k. Österreichischen Museums Professor Klotz. Im Begriffe nach Vollendung seiner Arbeit heimzukehren stürzte er in Seebarn, als er den Fuss auf den Wagentritt setzte, bewusstlos zusammen und war in wenigen Minuten verschieden. Am Friedhofe der Seebarner Pfarrkirche zu Harmannsdorf liess ihn Graf Wilczek begraben und eine Säule als Denkmal setzen. Zu der blos in allgemeinen Umrissen gegebenen Beschreibung der Burg, ihrer Entstehung und ihrer Kunstschätze erübrigt nur noch die Erwähnung von einigem Wenigen. In dem nördlichen Hoftracte ebenerdig ist eine bedeutende Waffensammlung aufgestellt, und zwar so, wie vermuthlich die Rüstkammern im Mittelalter angeordnet waren, nicht decorativ, sondern wie zum Gebrauch. Ober der Thür befindet sich eine Trophäe aus eroberten orientalischen Waffen; alle übrigen stammen aus mittelalterlicher Zeit bis zum Beginn der Renaissance. An den Wänden stehen zahlreiche gothische Truhen nach alter Gepflogenheit zur Aufbewahrung von Waffen bestimmt. Von hier aus den Weg wieder zum Eingangsthor zurücknehmend, überschreitet man zunächst die Baustelle des künftigen ersten Hofes und ausserhalb des Burgthores die steinerne Brücke, welche neu gebaut ist, aber auf alten Pfeilerfundamenten. Schon von hier aus sieht man wie in einen Felsenschlund hinab. Es ist dies der Steinbruch, auch eine Besonderheit von Kreuzenstein. Der natürliche Fels, auf welchem die Burg steht, bildet nämlich zugleich das vortreffliche Baumaterial für dieselbe. Das Materiale wird aber nicht in gewöhnlicher Art offenliegend abgebrochen, sondern nach Art eines Bergwerkes wurde zuerst das

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Rüstkammer

grosse Schachtloch ausgebeutet und dann im Inneren des Berges stollenartig weitergebrochen. Zu Beginn des Stollenganges befindet sich eine grosse, hallenartige Höhle, wo bei einem lustigen Feuer die Werkstücke behauen werden; an der rauchgeschwärzten Decke hängen an mächtigen Eisenklammern ein riesiger Walfischkiefer und zwei grosse Knochenschädel von der Insel Jan Mayen, von der schon genannten Nordpolfahrt als Beute mitgebracht. Das Ganze macht einen geradezu prähistorischen, cyklopenartigen Eindruck. Die Burg steht übrigens wirklich auf prähistorisch denkwürdigem Boden. Sie ist umgeben von einem prähistorischen Ringwall und sonach eine spätere Ansiedelung, in der Mitte desselben nach dem Princip der von Essenwein beschriebenen Mottas. Prähistorische Fundstücke, Steinbeile etc. vom Burghügel und seiner Umgebung sind den Sammlungen einverleibt. Zum Abschiede nur noch wenige Worte über die Stilrichtung des Ganzen. Der Erbauer hat sich nicht die Aufgabe gestellt, für einen einzigen Stil ein Musterbauwerk zu errichten, denn grosse Bauten, wie eine bedeutende Burg, wurden durch mehrere Jahrhunderte hindurch gebaut und verändert, so dass der romanische und der gothische Stil, ohnehin nur gleichsam Jugend und Alter derselben Individualität, vollkommen berechtigt nebeneinander Aus der Burg Kreuzenstein (1898)

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Ruine Kreuzenstein im Jahre 1824

zum Ausdruck gebracht werden konnten. Gewiss stammen auch die schweren Mauern der nun im Neubau verschwindenden ehemaligen Burgruine aus der frühmittelalterlichen Zeit, während zum Beispiel die noch vorhandenen Theile des Presbyteriums der Kapelle dem Ende des XV. Jahrhunderts angehören. So folgte auch der Neubau dem in der Natur unausweichlich gegebenen, in den Resten der alten Burg noch sichtbaren Wandel der Zeiten, Stile und Stimmungen. Durch die Combination beider Stile konnte sich der Bau auch interessanter und für die Lösung architektonischer Fragen praktischer gestalten; auch entspricht er nur in dieser Weise dem auf das gesammte Mittelalter sich erstreckenden Umfange der hier untergebrachten Kunstsammlungen. Unsere Abbildung stellt die Ruine Kreuzenstein dar nach einem Aquarell von J. Alt aus dem Jahre 1824, und zwar in der Ansicht von Osten her. Von den Schweden 1645 in die Luft gesprengt, haben die Trümmer der alten Burg seither als Steinbruch für die angrenzenden Dörfer gedient. Eine Geschichte der alten Burg und ihrer Herrengeschlechter von Dr. K. Fronner dargestellt, so weit diese urkundlich zu ergründen war, enthalten die Berichte und Mit­ theilungen des Alterthumsvereines zu Wien vom Jahre 1869.

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Gutachten über die Platzwahl für den Theaterbau von Bielefeld (1900) Manuskript, vermutlich Abschrift. 2 Seiten, 8°. Vorder- und rückseitig beschriftet. Datiert 8.12.1900. Am Ende: „(gez.) Camillo Sitte“, dies nachträglich gestrichen. Blaustiftredaktionen vorhanden. Sign. SN: 237–483.

Nach meinem Urtheile ist für den Theaterbau der Bauplatz an der VictoriaStrasse entschieden dem an der verlängerten Hermann-Strasse vorzuziehen und zwar sowohl aus Gründen der Schönheit als auch der Zweckmäßigkeit und der Ökonomie des Baues. Vom Standpunkte schöner monumentaler Wirkung unterliegt es nicht dem geringsten Zweifel, dass der höchste Erfolg nur durch Gruppenbildung erzielt werden kann, wenn sowohl mehrere Monumentalgebäude als auch mehrere größere und kleinere Plätze zu einem organisch wohlgeordnetem Ganzen vereinigt werden. Nur eine solche Zusammenlegung gestattet auch eine gute sowohl praktisch empfehlenswerte als auch künstlerisch wirkungsvolle Aufstellung von Denkmälern, Brunnen, Musiktribünen, malerischen und zugleich nicht kostspieligen Baum- und Strauchgruppen. Hierüber sind hinlänglich Beispiele erläutert in meinem Buche über den Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen und in beiliegendem Separatdruck: „Großstadt-Grün“.1 Vom Standpunkte der Zweckmäßigkeit ist der Platz an der Victoria-Strasse auch sicher groß genug für eine Erweiterung des Rathauses, wie für den Neubau eines Theaters; und was etwaige Bedenken wegen Feuergefahr betrifft, so ist diese hier entschieden nicht größer, als bei dem Platz an der HermannStrasse. Zur Verhütung der Weiterverbreitung eines von einem Theater etwa ausgehenden Brandes ist vollständige Freilegung des Theaterbaues rings herum durchaus nicht das einzige, ja nicht einmal das unter allen Umständen zweckmäßigste Mittel. In meinem Lageplan für Mährisch-Ostrau, wo auf großer leerer Fläche vollständige Freiheit der Anordnung gegeben war, habe ich trotzdem aus praktischen und Schönheitsgründen an das Theater auf zwei 1

[Sitte, Camillo: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Wien: Graeser 1889 (Reprint der 1. Aufl. von 1889 in: CSG, Bd. 3. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien: Böhlau 2003). Sittes Schrift „GroßstadtGrün“ zuerst veröffentlicht in: Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für deutsche Cultur, Jg. 1 (1900), Nr. 5, S. 139–146 (Teil 1); Nr. 7, S. 225–232 (Teil 2). Danach als Sonderdruck: Sitte, Camillo: Großstadt-Grün. Separat-Auszug aus der hamburgischen Wochenschrift für deutsche Cultur „Der Lotse“. Wien: Reißer 1901.] Gutachten über die Platzwahl für den Theaterbau von Bielefeld (1900)

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Seiten Verbindungstrakte anlaufen lassen; allerdings nicht in Verbindung des Dachwerkes, sondern mit feuersicheren Terassen [sic!] in halber Höhe des Theaterbaues, welche mit Hydranten versehen als wirksamste Stützpunkte zur Bekämpfung eines Theaterbrandes dienen würden und zugleich als Rettungsterassen durch stets offene Notausgänge mit dem Zuschauerraum verbunden, dienen sollen. (Der Bau steht erst besser.) In dieser oder anderer Weise lässt sich die Feuergefahr zweckmäßig bekämpfen. Jedenfalls gehören derlei Erörterungen erst der Planverfassung des Theaterbaues an. Die bloße Platzwahl an dieser Stelle kann keinerlei Bedenken erwegen [sic!]. Als weitere wesentliche Vortheile bei Vereinigung von Theater und Rathaus müssen aber angegeben werden, dass sich dabei, wie von selbst ein geschlossener, von der Straße getrennt liegender und somit Staub- und Lärm-freier Restaurations-Garten ergibt für Theater und Rathauskeller von behaglicher künstlerischer Wirkung schon einfach in Folge seiner Lage und Umgebung, ohne dass er erst besonders mit kostspieligen Schutzmauern, Gittern und Portalen braucht umschlossen zu werden. Auch ein Magazinsgebäude oder sonstige Nebengebäude für den Theater-Bedarf können zwanglos in bequemer Nähe nur errichtet werden, wenn die vorhandene Gruppirung mehrerer Gebäude dies von vorneherein ermöglicht. Daß schließlich ein freistehendes Theater erhöhte Baukosten fordert, ergibt sich von selbst aus der Notwendigkeit, in diesem Falle rings herum eine würdige architektonisch plastische Decoration anzubringen, während im Falle der Gruppenverbindung mit anderen Gebäuden nur die freiliegende Hauptseite eine reichere Ausgestaltung fordert. Vom ökonomischen Standpunkte aus kommt noch zu bedenken, dass dann der Bauplatz an der Hermann-Strasse für eine andere Verwertung frei bliebe. Wenn dessen Verbauung aber abgelehnt wird, so entstände daraus der Vorteil, dass der größere freie Luftraum bewahrt bleibt und der richtige Gegensatz von monumentaler Bau- und Denkmal-Gruppe einerseits und freier Fläche reichlich mit Grün bepflanzt andererseits die Wirkung beiderseits verstärken wird. Wien, 8. Dezember 1900. (gez.) Camillo Sitte

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Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1901) Laut handschriftlichem Vermerk Bielefelder Zeitung, 6./7. März 1901. Sign. SN; 240–985/1,2. Vom Schriftführer eingeleitet: „Vortrag des Herrn Geheimraths Camillo Sitte, Direktor der K. K. Staatsgewerbeschule in Wien, über den Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, gehalten am 2. Februar d. Js. im Saale der ‚Eintracht.‘“

Hoch ansehnliche Versammlung, geehrte Damen und Herren. Das heutige Thema des Städtebaues erscheint deshalb so ganz besonders interessant, weil sich seit 10 Jahren in allen deutschen Landen, besonders im deutschen Reiche eine neue große Schule herausgebildet hat, welche die Durchbildung des Städtebaues nach künstlerischen Gesichtspunkten verfolgt. Wegen des schnellen Anwachsens der Städte in den letzten 50 Jahren mußten überall Lagepläne mit großer Hast verfertigt werden, und es ist erklärlich, wenn dieselben so ausgefallen sind, daß Niemand recht zufrieden ist. Schon in den ältesten Zeiten, in denen man angefangen, Städte künstlich nach vorgefaßten Plänen zu bauen, traten dieselben Erscheinungen wie heute zu Tage. Auch in der griechischen und italienischen Antike haben wir den Unterschied zwischen natürlichen und Kunstanlagen. Die natürlichen Städteanlagen sind überall schön, zweckentsprechend und gut und die künstlichen sind im ersten Anlauf schlecht. Ein mustergültiges Beispiel einer natürlichen, künstlerisch vollendeten Anlage giebt uns A t h e n mit seiner Akropolis, auf der sämmtliche Kunstwerke vereinigt wurden, seinen künstlerisch geschmückten Stadtplätzen und seinen bescheidenen einfachen Wohnhäusern. Dasselbe Bild zeigt das a l t e R o m ; auf dem Forum alles vereinigt, das kostbarste, was Rom an Kunstschätzen besaß, die Stadt durchzogen von einigen Hauptstraßen mit reichen, ganz besonders ausgeschmückten Palästen, aber die Masse des Volkes in einfachen Häusern lebend, die keinen Anspruch auf künstlerische Vollendung machten. Es war ein Zustand in diesen antiken Städten Rom und Athen, den wir heute noch in Konstantinopel sehen. In K o n s t a n t i n o p e l hat man so herrliche Straßen, Paläste und Moscheen, daß man sich nicht satt sehen kann, aber die Häuser, in der die Masse des Volkes lebt, sind von einer ungemeinen Dürftigkeit. So war es in der Antike. Aber auch in der Antike hat man angefangen, Städte planmäßig anzulegen, und so ist A l e x a n d r i e n planmäßig angelegt worden, so sind neue Viertel in Rom und eine große Anzahl Städte in Kleinasien angelegt worden, die dasselbe unendlich langweilige Schachbrettmuster zeigen, wie z. B. Mannheim und die amerikanischen Städte. Mir sagte eine Reisender, daß er droh sei, aus Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1901)

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Mannheim heraus zu sein, und daß er nicht begreife, daß Schiller dort 5 Tage habe zubringen und in einer solchen Stadt habe dichten und künstlerisch empfinden können. Ein zweites System, welches in unserer Zeit unter dem Druck des Reißbrettes und der Reißschiene entstand, ist das F ä c h e r - o d e r R i n g s t r a ß e n s y s t e m ; auch das kann sich der Natur nicht angliedern und hat seine vielfachen argen Fehler. Man hat versucht, diese beiden Systeme zu vereinigen und ist auf das D i a g o n a l s y s t e m gekommen, wobei bis zu 8 Straßen auf einem runden Platze zusammenlaufen und dort einen Verkehrsplatz bilden, sogenannt, weil dort der Verkehr sich konzentriert. Wenn man indessen nur eine einzige Straße in eine andere einmünden läßt, entsteht schon durch die sich kreuzenden Wagen eine Störung des Verkehrs, welche sich erheblich verschlimmert, wenn noch mehrere Straßen an gleicher Stelle münden. So findet man z. B., daß bei 2 Straßen 16 Kreuzungen, bei 3 Straßen 30 Kreuzungen, bei 4 Straßen 80 Kreuzungen, bei 5–6 Straßen in die Hunderte von Wegkreuzungen der Fuhrwerke und Passanten entstehen können, wodurch dann der Verkehr einfach auf solchen Verkehrsplätzen unmöglich ist. Um wenigstens der äußersten Noth abzuhelfen, wird in der Mitte durch einen runden Fleck, Bürgersteig, eine kleine Rettungsinsel geschaffen, in deren Centrum als Leuchtthurm in den brandenden Wogen des Wagenmeeres ein schöner schlanker Gaskandelaber emporragt. Diese Rettungsinsel mit der Gaslaterne ist die großartigste Erfindung des modernen Städtebaues. Ich weiß nicht recht, ob das ernst gemeint ist, aber da hat Jemand vorgeschlagen, dieses Diagonalsystem noch zu verbessern und eine einzige S p i r a l s t r a ß e anzulegen, von der man in die ganze Stadt kommen könnte. Es ist unglaublich, daß solche Dinge noch übertroffen werden; ich habe es nicht gesehen, aber aus Broschüren gelesen, daß in A m e r i k a noch ein System verwerthet wird, bei welchem die Straßen als regelmäßige S e c h s e c k e aneinander gereiht ein Maximum von Hausfronten bei einem Minimum von Höfen ergeben. Das sind die geometrischen Systeme, die bei uns abgethan werden müssen. Wir dürfen den Städtebau nicht mehr als Reißschienensache betrachten, sondern als künstlerische Aufgabe. Die Vertreter der alten geometrischen Systeme haben eine ganze Reihe von Schlagwörtern, eins dieser Schlagwörter heißt der große Zug, der durch eine Stadt gehen muß. Unter diesem Zug versteht man eine große Straße, die von der einen Seite der Stadt zur anderen gehen muß. So hat man bei uns in W i e n regulirt und mit großen Geldmitteln eine derartige Straße geschaffen und einen prachtvollen Platz

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

mit herrlichen alten Brunnen sowie das alte Rathhaus mit seinen werthvollen Fresken dafür geopfert. Ein Üeberschreiten dieser Straße ist aber an Kreuzungspunkten des Wagenverkehrs überhaupt unmöglich und man hat einen Wachposten hingestellt, der von 11–2 Uhr den Verkehr ordnen und überwachen muß. Das ist das Ergebnis der Verkehrstechnik, daß eine Straße mit großen Opfern geschaffen und nachher der Verkehr wieder polizeilich verboten wird. Ein Ingenieur hat berechnet, daß unsere Regulirungen rund 30 000 000 Gulden an Grunderwerb und 30 000 000 an 18jähriger Steuerfreiheit kosten und wenn diese 60 000 000 ausgegeben sind, kann man nicht mehr ruhig gehen und schlafen? Ich selbst wohnte in einer kleinen engen Gasse, und da war es wunderbar, wir konnten in der warmen Zeit bei offenem Fenster schlafen, aber das Haus mußte abgebrochen werden. Jetzt darf man vor Wind und Staub kein Fenster öffnen, man kann des Morgens mit den Fingern im Staube schreiben. Ein zweites Schlagwort ist die F r e i l e g u n g sämmtlicher D e n k m ä l e r. Die alten Kirchen sind mit Anbauten mannigfacher Art umgeben. Die Freilegung des Kölner Domes hat Millionen gekostet und was ist dadurch erreicht? Daß der Kölner Dom jetzt um die Hälfte kleiner aussieht, es wäre zweifellos für Köln des gescheuteste [sic !], wenn es den Domplatz wieder zubaute.1 (!!!) [sic!] Ein weiteres Lieblingsmotiv der geometrischen Schule ist der an die Stelle eines Häuserblocks gelegte, mit spärlichen Baumanlagen bepflanzte E r h o l u n g s p l a t z oder Square. Wie kann in einer solchen von Straßenlärm umgebenen verstaubten Anlage von Erholung die Rede sein. Die Antike kennt keine Verkehrsplätze, sondern sie betrachtet den Platz als das, was er ist, als V e r s a m m l u n g s r a u m des V o l k e s . Umgeben von den prächtigen öffentlichen Gebäuden und Tempeln, waren an den Seiten Reiterstatuen, Bildsäulen und Brunnen aufgestellt. Was für einen herrlichen Anblick muß dies gewährt haben. Wir befolgen eine ähnliche Regel ja auch in unseren bürgerlichen Wohnungen; die Bilder, Familienportraits, kostbaren Möbel und Kunstgegenstände vertheilt man nicht auf die ganze Wohnung, das eine hier, das andere dahin, sondern man vereinigt sie im gemeinschaftlichen Salon. Es ist ganz naturgemäß, daß auf einem Platze die Denkmäler

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[Das zuvor dicht bebaute Umfeld des Kölner Doms wurde seit Mitte der 1880er Jahre baulich „bereinigt“, um den 1880 fertig gestellten Dombau allseitig freizustellen. Die im Norden, Westen und Süden neu angelegten Plätze wurden bereits kurz nach Abschluss der Arbeiten als „kalt“ und „leer“ kritisiert und von verschiedenen Seiten Vorschläge zu einer neuerlichen Umbauung gemacht.] Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1901)

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an den Seiten stehen müssen; nur so kommen sie zur Geltung und nur so ist man in der Lage, viele Denkmäler auf einen Platz zu stellen und die Wirkung des Platzes zu steigern. Handgreiflich tritt die Freihaltung der Mitte des Platzes beim römischen Forum in Erscheinung, wer das nicht merkt, merkt überhaupt nichts. Sogar im Vitruv kann man es lesen, dass die Mitte nicht den Statuen, sondern den Gladiatoren gehörte.2 Von Monumentaufstellungen dieser Art ist eine der lehrreichsten die des Reiterbildes des Gattamelata von Donatello vor S. Antonio zu Padua.3 Diese merkwürdige, total unmoderne Aufstellung kann gar nicht eindringlich genug dem Studium empfohlen werden. Zunächst ist man frappirt wegen des groben Verstoßes gegen unsere ewig gleiche, einzig moderne Mittelplatzwahl. Hierauf merkt man die vortreffliche Wirkung des Monuments an dieser sonderbaren Stelle, und endlich überzeugt man sich, daß, im Mittelpunkt des Platzes aufgestellt, die Wirkung nicht entfernt so groß sein könnte. Die Wegrückung aus der Mitte aber einmal zugegeben, folgt alles Uebrige, auch die Herausdrehung auf die Straße von selbst. Zu der antiken Regel, die Monumente am Rande der Plätze herum zu stellen, gesellt sich also die weitere echt mittelalterliche und mehr nordische, M o n u m e n t e , besonders aber M a r k t b r u n n e n auf den t o d t e n P u n k t e n des Platzverkehrs aufzustellen. Wie häufig gegen diese Regeln gefehlt wird, mögen einige Beispiele erläutern. In einer Stadt stand in einer Ecke des Platzes ein alter Brunnen, dies störte die symmetriebedürftigen Leute und man stellte ihn in die Mitte. Nun konnte Niemand des Verkehrs halber an den Brunnen kommen, so daß Alles unzufrieden war, und man den Brunnen wieder auf den alten Platz setzen mußte. Vielleicht das drastischste Beispiel moderner Verkehrtheit bildet die Geschichte des Davidkolosses von Michelangelo, welche zu F l o r e n z , der Heimath und hohen Schule alter monumentaler Pracht, sich ereignet. Dort stand das riesige Marmorbild an der Steinwand des Palozzo vecchio [sic!] links neben dem Haupteingange auf der von Michelangelo selbst gewählten Stelle. Keine moderne Kommission würde diesen Platz gewählt haben, dafür könnte 2

[Vitruvs Hinweis, „daß auf dem Markt Gladiatorenspiele veranstaltet werden“, weshalb „rings um den Schauplatz die Säulenzwischenräume (Interkolumnien) weiträumiger angelegt werden“ sollen, findet sich in seinem Werk De Architectura Libri Decem (Buch V, Kapitel 1).]

3

[Zum Standbild des Gattamelata siehe Sitte, Camillo: „Über alte und neue Städteanlagen mit Bezug auf die Plätze und Monument-Aufstellung in Wien (1889)“, S. 255, Anm. 3 in diesem Bd.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

man getrost sein Haupt zum Pfand setzen; die öffentliche Meinung würden den Vorschlag dieses anscheinend geringfügigsten und schlechtesten Platzes entweder für Scherz oder Wahnwitz halten. Michelangelo wählte ihn aber, und Michelangelo soll einiges von solchen Dingen verstanden haben. Dort stand das Bildniß von 1504–1873. Alle jene, welche das merkwürdige Meisterwerk an dieser merkwürdigen Stelle noch gesehen haben, geben Zeugniß von der ungeheuren Wirkung, welche es gerade hier auszuüben vermochte. Im Gegensatz zur verhältnismäßigen Beschränktheit des Platzes und leicht vergleichbar mit den vorbeigehenden Menschen schien das Riesenbild noch in seinen Abmessungen zu wachsen; die dunkle, einförmige und doch kräftige Quadermauer des Palastes gab einen Hintergrund, wie er zur Hervorhebung aller Linien des Körpers nicht besser hätte ersonnen werden können. Seither steht der David in einem Saale der Akademie unter Gypsgüssen, Photographien und Kohledrucken nach Werken Michelangelos. Es gehört eine besondere Vorbereitung dazu, alle die Empfindung ertödtenden Momente eines solchen Kunstwerkes, Museum genannt, zu überwinden, um endlich zu einem Genuß des erhabenen Werkes sich durchzuarbeiten. Damit war dem kunsterleuchteten Zeitgeiste aber noch nicht Genüge gethan. David wurde auch in Bronze gegossen in der Größe des Originals und auf weitem Ringplatz, haarscharf im Centrum des Cirkelschlages außerhalb Florenz auf hohem Postament aufgestellt; voran eine schöne Aussicht, rückwärts Kaffeehäuser, seitlich ein Wagenstandplatz, querdurch ein Korso, ringsherum Bädeckerrauschen [sic!]. Hier wirkt das Standbild gar nicht, und man kann oft die Meinung verfechten hören, daß die Figur nicht viel über Lebensgröße sein könnte. Michelangelo hat es also doch besser verstanden, seine Figur aufzustellen, und die Alten haben dies durchweg besser verstanden als wir heut zu Tage.4 Aber nicht blos den Monumenten und Brunnen gegenüber gilt die Regel der Freihaltung der Platzmitte, sondern auch in Bezug auf Gebäude, besonders K i r c h e n , welche gleichfalls heute fast ausnahmslos in die Mitte der Plätze gestellt werden, ganz entgegen der älteren Gepflogenheit. Rom hat gegen 300 Kirchen, wovon nur 2 in der Mitte des Platzes freistehen, nämlich die neue protestantische und die englische Kirche, die anderen Kirchenstehen entweder an Platzrändern oder sind an 2 oder 3 Stellen eingebaut. Wir scheinen es gar nicht anders für möglich zu halten, als daß jede 4

[An dieser Stelle endet der Artikel. Der Schluss wurde einen Tag später, am 7. März 1901, in der Bielefelder Zeitung unter gleichem Titel abgedruckt.] Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1901)

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neue Kirche mitten auf ihren Bauplatz gestellt wird, damit sie rings herum freiliegt. Diese Auffstellung [sic!] hat aber nur Nachtheile und keinen einzigen Vor­theil. Für das Bauwerk ist diese Aufstellung die ungünstigste, weil die Wirkung sich nirgends konzentriert, sondern ringsherum gleichmäßig zersplittert. So ein freigelegtes Bauwerk bleibt ewig eine Torte auf dem Präsentierteller. Eine derartige Aufstellung zwingt ferner dazu, mit großen Kosten ringsherum die langen Fassaden architektonisch auszuführen. Wenn man durch theilweises Einbauen das Alles sparen würde, so könnten alle unsere bei Kirchen übrig bleibenden Hauptfassaden von oben bis unten aus Marmor ausgeführt werden, und es bliebe Geld zu figuralem Schmucke übrig. Das wäre denn doch ganz etwas anderes, als die monotone Herumführung derselben, vielleicht wegen Sparens dürftiger Gesimse rings herum in endlosem Umgang. Am allerschlechtesten kommt aber bei dieser Anordnung der Platz selbst weg, von welchem in den meisten Fällen nichts übrig bleibt als eine bestenfalls etwas breitere Straße ringsherum; die Benennung als Platz wirkt dann nahezu komisch. Aber nicht nur ist uns das Gefühl für richtige Aufstellung der Denkmäler, Brunnen und Kirchen und das Empfinden für die Gewinnung schöner Plätze abhanden gekommen, sondern wir haben es auch verlernt, die Erweiterungen der Städte naturgemäß und schön zu bewirken. Es schnürt einem das Herz zusammen, wenn man sieht, wie Florenz und Rom durch Nachahmung pariser [sic!] Theatereffekte ruinirt werden, wie Athen eine bayrische Stadt geworden ist, wie man versucht hat, Berlin und München griechisch zu machen; wie auch Wien den verschiedensten fremden Einwirkungen unterworfen wurde. Nur Hamburg und manche der anderen Hansastädte [sic!] sind sich selbst treu geblieben, an ihnen sind alle äußeren Einflüsse, wie an einem wasserdichten Oelrock abgetropft. Allgemein müssen wir wieder dazu kommen, uns frei zu machen von dem Zwang der Reißschiene und künstlerisch schaffen in voller Freiheit. Hier haben 2 Männer bahnbrechend gewirkt: H e n r i c i in Aachen und G o e k e [sic!] in Berlin.5 Ihre Bestrebungen gehen darauf hinaus, die Forderungen großstädtischer Verkehrsbedürfnisse mit dem Verlangen nach stillen Wohnplätzen für arbeitsame sowie ruhebedürftige Menschen zu verbinden. Sie unterscheiden zwischen V e r k e h r s s t r a ß e n und W o h n s t r a ß e n . Die Wohnstraßen sind mit einer Breite von 10 Meter hinlänglich bemessen, und

5

[Zu Karl Friedrich Wilhelm Henrici (1842–1927) siehe Sitte, Camillo: „Das Wien der Zukunft (1891)“, S. 303, Anm. 5 in diesem Bd. Zu Theodor Goecke (1850–1919) siehe Mönninger, Michael: „Die Zeitschrift ‚Der Städtebau‘“, S. 81, Anm. 1 in diesem Bd.]

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ihre winkelige Auseinanderfügung wird das beste Mittel sein, sie dem durchgehenden Verkehr zu versperren. Bei den Baublöcken in diesen Wohnstraßen wird es durch geeignete Baupolizeivorschriften oder durch geeignete Abmessung der Blocktiefen zu erstreben sein, große g e m e i n s a m e H ö f e und G ä r t e n zu erzielen, in denen die Menschen Ruhe und Erholung finden können. Wir müssen uns wieder befreien von der Unsitte, den nicht bewohnten Repräsentationsräumen die einzige licht- und luftbringende Front auszuräumen und die Schlafzimmer nach hinten hinaus an enge, übelriechende Höfe, die kein Sonnenlicht erreicht, zu bannen. Auch die M a r k t h a l l e , diesen Liebling der geometrischen Baukunst, sollte man nicht als üblichen Glas- und Eisenkäfig ausbilden, in welchem die zusammengepferchten Lebensmittel einen widerlichen Geruch nach Allem und Jedem annehmen, sondern als offene einen Platz umschließende Halle. Bei wirklicher Vertiefung in die einzelnen Aufgaben wird es möglich sein, trotz weitgehendster Rücksichtnahme auf die Forderungen des neueren Bauwesens, der Hygiene und des Verkehrs auch beim modernen Städtebau künstlerische Lösungen zu finden. Und man sollte meinen, dass gerade bei Städteanlagen die Kunst voll und ganz am Platze sei, denn dieses Kunstwerk ist es vor Allem, das bildend auf die große Menge der Bevölkerung täglich und stündlich einwirkt, während Theater und Concerte doch nur den bemittelteren Klassen zugänglich sind. Jede kleinste Stadtgemeinde könnte sich eines prächtigen originellen Platzes erfreuen, wenn alle belangreichen Bauten und alle Monumente wie zu einer Ausstellung vereinigt und wohlgeordnet aneinander gefügt wären. Hier in B i e l e f e l d i s t n o c h n i c h t s v e r d o r b e n , und es handelt sich darum, dass es so fortgeht. Insbesondere ist in den Lageplänen und Entwürfen, welche die beabsichtigte Zusammenlegung des R a t h h a u s e s und T h e a t e r s darstellen, gegen keinen einzigen künstlerischen Grundsatz verstoßen, und ich freue mich, dieses hier aussprechen zu dürfen. Es ist eine große Freude, wenn wieder eine aufstrebende Stadt für diese neue künstlerische Richtung, welche ausschließlich deutscher Kulturarbeit entsprossen ist, gewonnen wird. Wenn Alles nach den vorliegenden Plänen ausgeführt wird, werden sie einen Platz schaffen, zu vergleichen mit einer großen Symphonie, in der alle Einzelheiten, schön für sich, doch nur in ihrer Gesammtheit die höchste Wirkung erstreben. Ich gratuliere zu diesen Plänen. Sie werden der Stadt zu Stolz und Zierde gereichen. Ich würde mich unendlich freuen, sie in einigen Jahren verwirklicht zu sehen. Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1901)

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Eine Kunstfrage (1901) Neues Wiener Tagblatt, 22. November 1901. Mit zahlreichen handschriftlichen Redaktionen und Streichungen. Sign. SN: 177–361.

Einen der größten Contraste in der Geschichte unserer Stadt bildet die Zeit, in welcher die Carlskirche gebaut wurde und die Zeit, in der jetzt der architektonische Rahmen dazu geschaffen werden soll. Damals ein Höhepunkt baukünstlerischen Lebens; heute ein Tiefpunkt. Es ist daher von vornherein zu beklagen, daß gerade jetzt, bei einer derart ungünstigen Richtung der künstlerischen Zeitströmung, an ein solches Werk geschritten wird. Die Carlskirche ist und bleibt nicht nur ein höchstes Werk der Wiener Baukunst, sondern eines der hochragendsten Denkmäler der Bau- und Kunstgeschichte überhaupt. Die jetzige Generation von Wien nimmt daher in dem Augenblick, wo sie die Umgebung dieses Meisterwerkes gestalten will, eine ungeheure Verantwortung auf ihre Schultern, nicht nur vielleicht dem Stadtsäckelwart gegenüber, daß die Sache nicht zuletzt mit einer Kostenüberschreitung endet; nicht nur etwa dem Stadtbauamte gegenüber, daß nicht am Ende gar ein unterirdischer Canallauf bei der Projectirung nicht genug respectirt würde; nein! der Kunstgeschichte, der Geschichte überhaupt gegenüber, allen kommenden Generationen gegenüber. Diese ungeheure Verantwortung wird jedem Fühlenden ganz besonders deutlich bei der Betrachtung der ausgestellten Concurrenzprojecte. Welche Fülle von Talent und erprobtem technischen Können; welche Menge von Einfällen, von herrlichen Architekturgruppen, von pikanten Details voll Geschmack und feiner Empfindung! Man kann da förmlich schwelgen in pompösen Säulenhallen, großartigen Vestibulen und Portalanlagen, herrlichen Treppenanlagen und prächtigen, wenn auch meist geflissentlich aus Rücksicht auf das Dominiren der Carlskirche bescheiden zurückhaltenden Façadeneffecten; gar nicht zu reden von den derzeit üblichen Virtuosenstücken zeichnerischer Ausstattung. Wahrlich, Wien verfügt heute förmlich über ein Heer von ausgezeichneten Architekten, und trotzdem, welche Armuth an Grundgedanken! Welche Sterilität in Bezug auf das, um was es sich hier gerade handelt. Hier kann man es handgreiflich sehen, was gleich eingangs behauptet wurde: trotz allem Talent und Können der Einzelnen stehen wir auf einem Tiefpunkte des allgemeinen öffentlichen künstlerischen Schaffens, weil die Richtung, in der wir arbeiten, verfehlt, weil das Wollen, das unser Schaffen lenkt, ein falsches, weil das Milieu, in dem wir unbewußt mitwirken, krank ist.

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Das Milieu! Mit diesem Schlagworte wird man verständlich, denn es ist einer der Lieblingsausdrücke der „Moderne“, obwohl wir auch dafür seit Langem schon einen selbstgeprägten Ausdruck besitzen: „Wiener Luft.“ Gerade diese Wiener Luft hat sich seit den Zeiten Fischer v. Erlach’s gar vielfach verändert und baukünstlerisch sicher nicht zu ihrem Vortheile. Wenn daher schon nach dem ersten Überblick der die zahlreichen Projecte Einem geradezu ängstlich wird und unwillkürlich der Gedanke aufsteigt, es sollte die Ausgestaltung des Carlsplatzes in so stylverworrener, mit sich selbst unklarer Zeit lieber gar nicht in Angriff genommen werden, so droht anderseits sofort die Überzeugung, daß dann, wie die Dinge schon einmal liegen, auf die schrecklich situirten Baublockflächen Zinskasernen gebaut würden, also ein Seitenstück zum Votivkirchenplatz erstünde von womöglich noch elenderer Gesammtwirkung. Von diesem äußersten baukünstlerischen Unglück könnte nun allerdings der Museumsbau uns retten, vorausgesetzt, daß er nicht selbst in der Strömung des Wiener Zinshausschemas untergeht. Das aber ist es gerade, was diese Concurrenz so eigenthümlich charakterisirt: daß sämmtliche Projecte vom Grundgedanken des Wiener Zinshausblockes und seinen Symmetrieachsen beim Entwerfen ausgegangen sind und aus dem Bannfluch dieses Reißbrettschemas nicht herauszukommen vermochten. Der Gedankengang beim Entwerfen sämmtlicher Projecte, mit nur zwei Ausnahmen, welche noch erwähnt werden sollen, war der vollkommen gleiche, und zwar folgender: Zuerst wurde, wie beim Zinshauseintheilen, die sogenannte Haupttracttiefe angenommen und rundherum von allen vier Gassenfronten aus aufgetragen, wodurch mindestens rund sechs Meter entfernt von der Gassen-Hauptmauer oder höchstens etwa bis zwölf Meter entfernt von ihr die bei allen Wiener Zinshäusern landesübliche Mittelmauer als festgesetzt erscheint. Nunmehr ließ sich für die Geschosse auch die Gesammt-Bodenfläche und Hängefläche von den Wänden und etwaigen Scheer- und Zwischenwänden ermitteln, wo­ raus sich ergab, daß das Auslangen gegenüber den hohen Anforderungen des Programms nicht gefunden werden kann. Somit blieb nichts Anderes übrig, als die große, bisher leergebliebene Innenfläche des Baublockes gleichfalls zu verbauen, und zwar meist für Vestibules und Treppenanlagen, nebst einigen Zwischentracten, Gängen, Seitensälen und Nebenlocalitäten aller Art. Nun kam der zweite Schritt des Entwerfens, den sämmtliche Concurrenten identisch ausführten, was aber durchaus nicht nöthig gewesen wäre. Es wurde die Hauptfaçade gegen den zukünftigen Carlsplatz halbirt, und Eine Kunstfrage (1901)

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in ­diesen Halbirungspunkt nicht nur die Mittellinie des Hauptportals gelegt, sondern von diesem Punkt aus auch im Grundriß eine Senkrechte auf die dortige Straßenflucht gezogen und diese als wichtige Hauptachse für alle übrigen Anordnungen winkelrecht festgelegt. Wäre die Bauparcelle ein genaues Rechteck, so würde diese Symmetrieachse zugleich die Symmetrieachse des gesammten Baublockes sein, und sämmtliche Projectanten wären, weil dies dem derzeitigen Wiener Architekturmilieu so entspricht, damit einverstanden und gar wohl zufrieden gewesen. Der Baublock ist aber unsymmetrisch, weil es bei uns derzeit ebenfalls landesüblich ist, bei Lageplanfestsetzungen nicht von der Verbauung und deren Anforderungen auszugehen, sondern vom Straßennetzentwerfen, wobei man meint, daß jede Straße, auch bloße Wohnstraßen ohne jeden belangreichen Verkehr, beiderseits glatt fortlaufen müsse, und daß Dasjenige, was zwischen diesem, einem blos theoretisch angenommenen Verkehr dienenden Straßennetz restlich übrigbleibt, Baublöcke sind. Die derart gefundene Hauptachse zerschneidet daher den Bauplatz unsymmetrisch, womit sämmtliche Projectanten derart nicht einverstanden waren, daß sie sogar in ihren Baubeschreibungen darüber mehr oder weniger scharfe Verwerfungsurtheile kundgaben. In Wirklichkeit ist so etwas ganz gleichgiltig, weil man derartige Reißschienenlinien nur am Reißbrett sieht, niemals aber am ausgeführten Bauwerk. Im Verfolge solcher Reißbrettideen gingen einige Concurrenten so weit, zu dieser vermeintlich unerläßlichen Hauptachse einen streng symmetrischen Grundriß zu schaffen durch Aufgeben der im Lageplan vorgezeichneten hinteren Straßenfluchten. Daß dabei rückwärts runde, kreisförmige Abschlußlinien gewählt wurden, ist begreiflich, weil bei geradlinigen Abschlüssen ein allzu unangemessener Widerstreit zu den dort bereits festgelegten übrigen Straßenfluchten entstanden wäre. Ein Project schrieb einen symmetrischen Halbkreis blos in den verfügbaren Hofraum ein und vermittelt so ganz geschickt die Symmetrie der Hauptfront mit den dagegen schräg stehenden drei rückwärtigen Tracten. Daß runde Grundrißformen am geeignetsten sind, in tangirende Seitentracte von verschiedener Richtung ohne erheblich merkliche Störungen der Symmetrie überzuführen, ist bekannt, und es wurde daher von der Mehrzahl der Projectanten dieses Motiv runder Hofeinbauten in der verschiedensten Weise ausgebildet. Wieder eine Gruppe anderer Projecte nimmt die Portalachse als Symmetrale eines rechteckigen Hauptraumes mit rückwärts geradem oder segment-

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förmigem Abschluß an. Dabei verbleiben von dem großen Innenraum dann rechts und links je ein größerer und ein kleinerer Rest, welche für Nebenräume, Seitentracte, Treppenanlagen etc. verwendet wurden. Wieder eine andere Gruppe behält dieselbe Auftheilung des Hofraumes bei, stellt aber den rechteckigen Hauptraum mit seiner Symmetrieachse nicht senkrecht zur Hauptfaçade, sondern zur rückwärtigen Façade. Manchen genügten aber auch diese Hilfsmittel erzwungener Reißbrettsymmetrien noch nicht, sie wünschten eine ehrliche, volle Symmetrie in der Gesammtordnung und gingen daher nicht einmal vom Mittelpunkte der Hauptfaçade aus, sondern construirten zunächst die Mittellinie des ganzen Baublockes, also die Mittellinie zwischen der Hauptfront und der dazu schräg gestellten Langfront des Hintertractes. Dadurch erhielten sie eine rein imaginäre Constructionslinie von keinerlei sinnlichen Wahrnehmbarkeit im ausgeführten Bauwerke, eine nur am Reißbrett ersichtliche Leitlinie für die Gesammtanordnung, hier allerdings von klarer, durchschlagender Correctheit. Einige davon wählten in dieser Längen-Symmetrale, welche, mitten durch die drei Baublöcke gehend, gegen die Carlskirche hinstrebt, sogar an der Wienflußseite einen Mittelpunkt von Zirkelschlägen, welche, mitten durch den Innenhof gehend, so genau symmetrische, krumme Wände für den Längensaal des Inneren bilden, deren Anordnung auch wieder nur am Reißbrett begriffen werden kann und in Wirklichkeit geradezu unverständlich bleiben müßte. Ein Projectant faßte sogar den Muth, die auf diese Linie gegründete Symmetrie fehlerlos durchzuführen und änderte ihr zu Liebe selbst die Lageplanlinien der Baublöcke. Das Project entbehrt nicht einer gewissen ansprechenden Kühnheit und hat unter allen die freieste Silhouette und eine fein empfundene Anpassung derselben an die einzig herrlich dastehende Silhouette der Carlskirche. Gerade an diesem Project läßt sich aber eben wegen seiner bis zum Äußersten gehenden Consequenz die künstlerisch sinnliche Werthlosigkeit des ganzen hier eingeschlagenen Verfahrens zeigen. Das Ganze sieht im Grundriß entfernt einem Linienschiff ähnlich, das gerade auf die Carlskirche lossteuert, mit einer Abschrägung vorne heraus auf den Platz, mit einer genau symmetrischen Abschrägung hinten. Nun bedenke man einmal ruhig, ob diese auf dem Plane so herrlich strenge Symmetrie in Wirklichkeit auch nur irgendwie sinnlich zur Geltung kommen könnte. Die vordere Abschrägung könnte bei ihrer gefälligen Hinneigung zur Kirche ganz wohl derart durchgebildet werden, daß hier ein schöner Gesammteindruck zustande käme; aber wie müßte da die Durchführung anEine Kunstfrage (1901)

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gepackt werden, damit eine wahrhaft befriedigende Lösung zum Vorschein kommt? Vor Allem dürfte die Lösung nicht am Reißbrett versucht werden; sie müßte modellirend gefunden werden, wie ja Fischer von Erlach selbst alle seine Architekturen modellirend entworfen hat und nur in dieser Weise auch finden konnte. Zu einem kleinen, wenn auch noch so flüchtigen, aber maßgerechten und wirkungsrichtigen Modell der Kirche müßte die schräge Bauwand sammt ihrem Vorsprung im Modell nach Höhe und Stockwerks­ theilung richtig dazu gestimmt und alle großen Details, Säulenstellungen, Gebälke, Risalite, Dachwerke etc. so dazu gepaßt werden, daß Alles harmonisch zu einander stimmt. Gesetzt, dies wäre gelungen, so fordert die leidige Symmetrie der Gesammtanordnung genau dieselbe Façade nun auch hinten. Das kann aber dort nie und nimmer passen, und zwar umso weniger, je vollkommener vorn das Werk gelungen ist; denn dort hinten sind ja alle Bedingungen andere, dort hat man weder den riesengroßen Platz vor sich, noch auch die einzig dastehende Hauptansicht der Kirche; dort müßte dieselbe Museumsfaçade mit der ganz anders gearteten Seitenfaçade der Kirche, mit bloßen hier und dorthin verlaufenden Straßen zusammenstimmen, was doch nie und nimmer zutreffen würde. Es gibt aber keinen einzigen Augpunkt, wo man, auch ganz abgesehen vom Zusammenstimmen mit der Umgebung, diese beiden schrägen Façaden auf einmal gut sehen, als ein zusammengehöriges Ganzes auf einmal überschauen könnte. Im geraden Gegentheil zu solchen bloßen Reißbrettschablonen müßte hinten wieder ebenso frei auf Wirkung modellirend vorgegangen werden, und das gäbe dort gewiß eine andere Lösung, selbstverständlich mit Einhaltung gemeinsamer Stockwerkhöhen, gemeinsamer Hauptmotive und dergleichen mehr, aber gewiß mit Anwendung anderer frei zu der hier ganz anders vorhandenen Umgebung gestimmten Straßenfluchten. Es zeigt sich also deutlich, daß gerade das leidige Ausgehen von Reißbrettsymmetrien für die Naturerscheinung des Baues nicht nur werthlos, sondern sogar grundsätzlich verwerflich ist. Was hat also diese Vorconcurrenz zur Einbringung von Ideen an solchen wirklich erbracht? Mehr oder weniger großartige Einzelanordnungen, die dem Talent und dem Können der concurrirenden Architekten eine ehrenvolle Stellung sichern, aber keinen einzigen ausführbaren Grundgedanken, der aus dem derzeit bei uns geltenden Geleise des Zinshausschemas heraustritt. Also: tüchtige Architekten haben wir in Hülle und Fülle, aber alle ersticken förmlich in dem derzeit die Geister bannenden Milieu, in der seit Decennien eingelebten Zinskasernenbauerei, in dem gänzlich unkünstlerischen ertöd-

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tenden Einerlei der Baublockrastra unserer seit Decennien landesüblichen Lageplanfabrik. Ist es ja doch äußerst bezeichnend, daß selbst Meister wie Friedrich Schmidt, Ferstel, Hansen für ihre drei großen Monumentalbauten, Rathhaus, Universität, Parlament, jeder, trotz denkbar verschiedenster Stylrichtung und Individualität, ganz denselben Grundriß erfanden mit je einem großen Mittelhof und je zwei symmetrischen Seitenhöfen. Der Baukundige weiß, daß diese noch obendrein nichts weniger als glückliche uniforme Lösung einfach durch die ganz gleichen Baublöcke nach dem einzig beliebten Grundschema erzwungen war. Daß dem aber nicht blos so sein müsse, sondern auch nicht so sein sollte, kann ein kurzer Hinblick auf die gänzlich verschiedene Art der Lösung solcher großer Architekturfragen zeigen, wie sie derzeit zum Beispiel in München an der Tagesordnung ist; nicht deshalb, weil etwa München über bedeutendere architektonische Kräfte verfügt, nein! weil Jeder dort in einer anderen Luft künstlerischer Grundsätze lebt und schafft. Wie kam in München die Conception des Nationalmuseums zustande? Weder Blockschemata noch auch Symmetrieachsen beengten die Freiheit des Schaffens; Alles wurde auf sinnliche Wirkung hin entworfen, und so trat diese auch im vollendeten Werk voll in Erscheinung. Zuerst wurden die aufzustellenden Kunstschätze in kleinen Maßskizzen nach Sälen geordnet, dann diese Säle selbst einzeln so schön und zweckmäßig als möglich dimensionirt und beleuchtet, von allen möglichen Formaten, wie es der Sonderzweck forderte. Dann wurden diese aneinandergereiht, organisch verbunden, und so entstand von innen heraus ein Gesammtbau von möglichster Mannigfaltigkeit in der Silhouette, in der Grundrissanordnung, und damit dieser Bau nun auch mit der Umgebung harmonisch verwachse, wurde selbst diese verändert und frei dazucomponirt. Das ist ja doch das gerade Gegentheil von dem Wiener Reißbrettverfahren und zugleich ein Vorgang, wie er einzig und allein auch bei uns eingehalten werden sollte, wo es sich gleichfalls um die Unterbringung von bereits vorhandenen Sammlungen und um die harmonische Angliederung an einen unsymmetrischen Platz, dessen Platzwände daher symmetrisch gar nicht zupassend gelöst werden können, und um die Zupassung zu einem nun einmal unwiderruflich unsymmetrisch dastehenden großen Kirchenbau von denkbarst genialer Silhouette handelt. Das ist es, was Einem förmlich die Kehle zusammenschnürt bei dem Gedanken, daß hier an diesem derart wichtigen und in seinen gegebenen Bedingungen so seltsam schwierig zu behandelnden Platze gerade heute, in der Zeit vollständiger Entartung architektonischen Stylgefühles, eine Lösung Eine Kunstfrage (1901)

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geschaffen werden soll, die Jahrhunderte die Kritik nachkommender Generationen soll bestehen können. Noch Eines kommt dazu, um das Herz folgenschwer zu drücken: die Stylfrage. Die Mehrzahl der concurrirenden Künstler hat sich in ihren Arbeiten an den Styl der Carlskirche im Großen und Ganzen gehalten und auch in ihren Begleitschreiben die Überzeugung ausgesprochen, daß hier an dieser Stelle nicht anders gebaut werden dürfe. Daneben aber concurrirten auch nicht weniger als zehn Secessionisten, von denen zwei unter die acht Auserwählten kamen, die zum entscheidenden zweiten Wettbewerb nun berufen sind. In dieser Stylrichtung, eigentlich Moderichtung, sind wir leider der allgemeinen Weltströmung erst um gut ein Decennium zu spät nachgefolgt und tragen jetzt die Schuld dieses Versäumnisses dadurch, daß wir auch im Aufgeben dieser Moderichtung hinter den Ereignissen erst wieder nachhumpeln. Das ist ja Alles bekannt, wird aber von den Secessionisten selbst grundsätzlich nicht zugegeben, weil der echtfärbige Secessionist überhaupt nichts zugibt, denn der Geist, der ewig verneint, der in Allem das Gegentheil von dem sagt und schafft, was er im innersten Winkel seiner Seele selbst für naturgemäß und allein richtig hält, ist ja der Drehpunkt seines ganzen Systems. Die Wiener Secessionisten behaupten daher, daß ihr System nichts weniger als bereits verbraucht sei, daß es erst beginne, sich die Welt zu erobern, und zwar eben von Wien aus und da hauptsächlich in der Architektur, und daß nur Eines vorläufig noch die allgemeine Bewunderung und Anerkennung zurückhalte, daß es noch Keinem von Ihnen vergönnt war, sich an einem Monumentalbau ersten Ranges ganz zu zeigen, und daß es daher geradezu Pflicht der Wiener Gesellschaft wäre, ihnen bei diesem Museumsbau eben diese nothwendige Gelegenheit zu ihrem Triumph zu gewähren. Selbst zugegeben, daß ihnen ein erster Monumentalbau gewährt werden solle, damit sie endlich wirklich einmal voll zu Worte kommen, so fragt es sich aber doch sehr ernstlich, ob dazu die Stelle neben der Carlskirche geeignet wäre. Gar Manches an der Secession muß jeden künstlerisch warmfühlenden Menschen entschieden sympathisch berühren, so der Muth, mit dem Stylcopiren brechen und grundsätzlich Neues schaffen zu wollen; es fragt sich nur neuerdings, ob gerade zu solchem Experiment die Nähe der Carlskirche wieder der geeignete Platz sei. Von secessionistischer Seite kann als etwaiger Erbauer des Museums nur Oberbaurath Otto Wagner in Frage kommen. Sein Project, zwar gleichfalls der Wiener Symmetrieschablone und dem Zinspalastschema folgend, hat im

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Rahmen dieser momentanen Wiener Gesammtrichtung unleugbare Vorzüge, vor Allem, was praktische Einrichtungen in Bezug auf den zukünftigen inneren Dienst des Museums betrifft. Gegen Fischer v. Erlach und sein großes Werk befindet sich aber Wagner selbst, wie auch sein Project, in denkbar größtem Gegensatz. Ganz überzeugend geht dieser Gegensatz schon aus seiner gedruckt vorliegenden Projectbeschreibung selbst hervor. Er sagt da Seite 11: „Der enorme Einfluß der modernen Constructionen genügt allein schon, um die Wahl eines historischen Styls nicht zuzulassen.“1 Unter diesen modernen Constructionen sind hauptsächlich die mit Eisen und Glas verstanden, aber gerade deren Verwendung muß in seinem Project an sich (nicht blos in Bezug auf die Carlskirche) als entschieden verfehlt erklärt werden. Jedwede künstlerisch angewendete Form löst nämlich unwillkürlich und mit zwingender, nicht abzustellender Naturgewalt Ideenassociationen aus. Mit diesen muß der Künstler rechnen, er darf sie nicht vernachlässigen, denn er schafft sein Werk nicht für sich und sein gefügiges Reißbrett, sondern fürs Volk, das dem Banne dieser Ideenassociationen nicht auszuweichen vermag. Die Empfindungsmomente dieser Associationen mischen sich unbewußt in den Gesammteindruck des Werkes und verletzten da möglicherweise in geradezu zerstörerischer Weise seine Wirkung, seinen Charakter. Solche schädliche Ideenassociationen würden sich zweifellos nach der Ausführung an seine Überbrückungen der Straßenöffnungen mit luftigen Eisenconstructionen und an seine riesige Glashalle des kleinen Baublockes heften. Die Überbrückungen sind wörtlich im Eisenbahnstyl gehalten, eben modernste Eisenconstruction, man kann daher bei ihrem Anblick die schädliche Nebenidee an einen Eisenbahnzug, der auf der einen Seite ins Museum hineinfährt und auf der anderen Seite wie aus einem Tunnel wieder herauskommt, um dann bei dem Glashaus zwischen assyrischen Pylonen jählings abzustürzen, mit allerbestem Willen schlechterdings nicht unterdrücken, und eben deshalb darf der echte Künstler, der selbst schon Alles vorausfühlen muß, was das Volk später fühlen wird, solche Formen einfach nicht verwenden. Ebenso verhält es sich mit seinem allerdings riesig monumental großen Glaskasten, hinter dem er das Figurenmuseum auch von der Straße her sehen lassen will. Das ist doch die reine Kleiderauslage! Wagner hat das offenbar selbst empfunden und deshalb hat er ostentativ die rundbauchige Form dieser Glasfläche gewählt. Das ist aber wieder die Form eines Palmenhauses. Blos um Neues zu 1

[Wagner, Otto: Der Karlsplatz und das Kaiser Franz Josef-Stadtmuseum. Beitrag zur Lösung dieser Fragen. Wien: Holzhausen 1903.] Eine Kunstfrage (1901)

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bringen, kann und darf man als Monumentalkünstler eben nicht zu solchen Mitteln greifen. Wagner’s nicht blos bei dieser Gelegenheit, sondern wiederholt schon oft ausgesprochenes Glaubensbekenntniß geht vom Z w e c k b e g r i f f e der Architektur aus. Die Architektur aller Zeiten als Monumentalkunst ging aber immer den gerade entgegengesetzten Weg; sie läßt den Beschauer keinen Augenblick im Zweifel über ihre Werke als reinen k ü n s t l e r i s c h e n S e l b s t z w e c k gerade dadurch, daß sie jedem Zweckbegriff geradezu ostentativ ausweicht, und gerade hiefür stellt die Carlskirche eines der glänzendsten Beispiele. Ihre Thürme in Säulenform enthalten nicht einmal mehr die Glocken, sie sind reinster architektonischer Selbstzweck. Ebenso sind die in allen alten Städteanlagen häufigen freien Säulenhallen aus unserem modernen, gar so zweckmäßigen Städtebau verschwunden, weil man sie als Kunstformen an sich ohne sonstigen Zweck nicht mehr versteht; desgleichen die herrlichen Freitreppen aller alten Kirchen, Paläste, Rathhäuser, weil sie uns Zweckmenschen zur Begehung besonders im Winter oder bei schlechtem Wetter nicht zweckmäßig genug erscheinen. Alle diese Dinge gefallen uns bekanntlich in alten Städten ganz außerordentlich, und unsere Carlskirche hat die schönsten und großartigsten dieser reinen Kunstformen alle wie zu einem mächtigen Accord vereinigt. Eine secessionistische Umgebung würde zu ihr nie und nimmer passen. Aber selbst angenommen, daß dies nicht ganz so sicher ausgemacht wäre, und daß die Secessionisten denn doch vielleicht recht haben könnten, daß alle derlei Befürchtungen übertrieben seien: darf man auf derart unsicherer Basis neben der Carlskirche bauen? darf man an dieser bereits kunstgeheiligten Stelle ein unsicheres Lotteriespiel in Scene setzen? Hoffen wir, daß der gute Genius von Wien uns davor bewahre, hier einen nie wieder gutzumachenden Fehler zu begehen.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Kundmachung des Ersten Wiener Beamten-Bauvereines. Vorwort zur ­bautechnischen Ausführung (1902) Hg. von der Vereinsleitung. Wien: Selbstverlag 1902. Sign. SN: 291–772,3. Unterschrieben mit: „Der Obmann des Baucomités, Camillo Sitte m.p.“ Der hier wiedergegebenen Schrift folgt eine Darstellung und Beschreibung der von Sitte angesprochenen Bautypen sowie ein exemplarischer Verbauungsplan von Siegfried Sitte. Insgesamt sieben Abbildungen im Heft.

Als leitende Grundsätze für die bautechnische Ausgestaltung wurden angenommen, dass, um allen Bedürfnissen der in ganz Wien zerstreut lebenden Beamtenschaft zu entsprechen, auch überall, wo es die Grundpreise und sonstigen Verhältnisse gestatten, gebaut werden soll. An Bautypen sind ebenfalls alle Hauptformen je nach Bedarf in Aussicht genommen, also das frei im Garten stehende Ein- und Zwei-Familienhaus, das Vierfamilienhaus; das Reihen-Cottagehaus und endlich, wenn sich ein Bedarf danach herausstellt, auch das Zinshaus, jedoch mit denjenigen Verbesserungen und Besonderheiten, wie sie dem vorliegenden Bedürfnisse entsprechen. Anpassend an verschiedene Vermögensverhältnisse, Einkünfte und Rangclassen wird bei jeder dieser drei Grundformen ein Unterschied gemacht zwischen grösserem, mittlerem und bescheidenstem Wohnen. Aber jede Wohnung (auch die kleinste) soll ein Vorzimmer haben und Wasserleitung, Closet und womöglich eigene Badegelegenheit innerhalb des Wohnungsverschlusses; ferner bei der Küche eine Speisekammer und eine Putzterasse mit Kehrichtschlott. Die Einfamilienhäuser (einzeln oder in Reihen) erhalten dazu noch eine besondere Waschküche und selbständigen Garten oder auch einen Gartenanteil. Die Mehrfamilienhäuser erhalten gemeinsame Waschküche und Trockenboden im Unterdach. Um auch den ledigen Beamten und Lehrern, sowie den Beamtinnen und Lehrerinnen diese Wohlfahrtseinrichtung zugänglich zu machen, sollen bei genügend zahlreicher Beteiligung auch einzelne möblierte oder unmöblierte Zimmer mit oder ohne Vorraum und etwa dazukommendem Kabinet eingerichtet werden, sei es nach dem System der Hotel garni oder unter entsprechend standesgemässer Angliederung an grössere Wohnungen bei vollständig getrenntem Eingang vom Stiegenhaus her. Wo es möglich sein wird eine grössere Anzahl von solchen Beamtenhäusern zu einem kleinen Cottageviertel zu vereinen, wird auch für Unterbringung der nötigsten Geschäftslokale, falls diese in der Nähe nicht ohnehin vorhanden wären, und für Wohlfahrtseinrichtungen (KinderKundmachung des Ersten Wiener Beamten-Bauvereines

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spielplätze, Bibliothek, Vereinsarzt etc.) nach Möglichkeit und Wunsch gesorgt werden. Einen allgemeinen Begriff von dem Erstrebten geben die bisher ausgearbeiteten Typen der hier folgenden Darstellungen.

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Am Carlsplatz. Das Kaiser Franz Joseph-Museum der Stadt Wien (1902) Neues Wiener Tagblatt, 12. Juni 1902. Sign. SN: 178–417.

Jeder Wiener, der sich für diesen neuesten Monumentalbau und somit auch für die Ausgestaltung des Carlskirchenplatzes interessirt, ist in Erregung über den Ausgang der engeren Concurrenz zu diesem Werk, und die von nächstem Sonntag an beginnende Ausstellung der Pläne wird allgemein mit äußerster Spannung erwartet. Das Urtheil des Preisgerichtes (Schachner 13 Stimmen, Pecha 12, Kraus und Tölk 7, O. Wagner 6, Hegele 4) wirkte überraschend. Ebenso überraschend hatte bereits auf das Preisgericht die Eröffnung der Entwürfe gewirkt. Die Ausstellung wird die Ursachen davon enthüllen. Während Otto Wagner offenbar in fast jeder Beziehung hinter sich selbst zurückblieb, hatten die Projecte Pecha und Kraus nur mäßige Fortschritte erreicht. Schachner’s Entwurf hingegen erscheint bis zu wahrer künstlerischer Größe emporgewachsen. Ihm ist diesmal ein voller Wurf gelungen, wenn auch die Änderungen gegen seine Vorconcurrenz nicht zahlreich sind; sie sind aber wesentliche und rücken nun alle Einzelheiten derart zu einem geschlossenen Ganzen unter sich und mit der Carlskirche zusammen, daß es eine Freude ist, sich das ausgeführt zu denken. Alles beherrschend, liegt in der Mitte des Hauptbaues, das ganze Innere des Baublocks erfüllend, eine große, monumental ausgestaltete Halle. Diese ist ringsher umschlossen von einem offenen Säulenumgang, in großangelegten Formen und Dimensionen, geschmückt mit den für solchen decorativen Zweck vortrefflich sich eignenden Waffen und Trophäen der städtischen Waffensammlung. An der rechtsliegenden Schmalseite ist die Aufstellung der Originalfiguren des Donner-Brunnens angenommen, gleichfalls eine sehr glückliche Idee, und an der linken Schmalseite liegt die Haupttreppe des Gebäudes. Diese mächtige Halle ist taghell erleuchtet durch eine über den ganzen Raum gespannte Glasoberlichte, welche außen nur mäßig über die Façade des Hauptgebäudes emporragt und in der nun vorliegenden neuen Durcharbeitung als attikaartiger Aufbau sich darstellt. Hierin liegt eine der wesentlichen Verbesserungen des Vorconcurrenzentwurfes, der hier eine elliptische flache Kuppel zeigte, welche vielleicht nicht ganz zur Carlskirche gestimmt hätte, während die jetzige Form jeden Conflict mit der Kuppel der Kirche vermeidet und trotzdem die riesige Halle des Innern schon im Äußern andeutet. Eine zweite, wesentliche Verbesserung des ersten Projects besteht in der jetzt vortrefflichen Anordnung der Empfangsräume für den Besuch des Am Carlsplatz. Das Kaiser Franz Joseph-Museum der Stadt Wien (1902)

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Kaisers. Es ist hiezu programmgemäß der kleine Bauplatz verwendet, der, durch die Lastenstraße vom Hauptgebäude getrennt, gegen die Ringstraße zu liegt, und die Vorfahrt ist an der breiten, gartengeschmückten Seite gegen das Musikvereinsgebäude zu angenommen. Von hier aus gelangt der ­Monarch in gerader Richtung über eine prächtige Treppe und durch eine kurze Überbrückung direct in den ersten Stock der Haupthalle, gerade an diejenige Stelle, welche gegenüber den Figuren des Donner-Brunnens den schönsten Überblick über das Ganze gewährt und von wo aus überallhin ein freier Zugang zu den Ausstellungssälen besteht. Für das Publicum dagegen befindet sich der Haupteingang in der Mitte der Hauptfaçade vom Carlskirchenplatz her, wo sich eine imposante Vorhalle befindet mit einer Reihe vortrefflicher Einrichtungen, von denen nur erwähnt werden sollen: die sehr geschickt zwischen den Säulen angebrachten Windfänge, die mehrfachen breiten Portaldurchgänge in die Haupthalle und die seitlich sehr zweckmäßig gelegenen Garderoben. Die Communication ist überallhin eine ungezwungen freie und reichliche, trotz Vermeidung überflüssiger Corridore, und die Ausstellungssäle entsprechen nicht bloß allen Bedingungen des Programms, sondern haben geradezu Charakter besonderer Individualität, so daß man in jedem Raum sich bewußt sein wird, an welcher Stelle des Ganzen man sich befindet. Diese leichte Orientirung, in vielräumigen Museen eine für den Besucher höchst angenehme Sache, ergibt sich eben aus der klaren, großgedachten Gesammtanordnung; sie fiel gleichsam als reife Frucht dem Projectanten wie von selbst in den Schoß. Kanzleien, Arbeitsräume und sonstiger Nebenbedarf sind vollkommen zweckmäßig untergebracht. Ebenso großräumig und übersichtlich ist das kleinere Gebäude gegen die Carlskirche zu durchgebildet. Es erübrigt noch die Beschreibung und Schätzung des Äußern. Auch hierin ist eine noch geschlossenere Zusammenfassung und noch bessere Angliederung an die Carlskirche gelungen. Säulen und Pilasterstellungen im Styl ruhiger, an die Barocke anklingender Hochrenaissance sind in abwechselnden Größen verwendet, und zwar am Hauptgebäude in ganz bedeutenden Dimensionen, was aber geradezu unerläßlich ist wegen der ungeheuren Größe des davorliegenden leeren Platzes. An dieser Stelle müssen Pilaster eines Monumentalbaues durch mehrere Stockwerke durchgehend in solchen Dimensionen gehalten werden, wenn sie nicht kleinlich abfallen sollen. Die Übereinstimmung mit den Pilastern an der Carlskirche ist dadurch hergestellt, daß an dem Zwischenbau zwischen Carlskirche und Hauptgebäude eine Pilasterstellung gewählt wurde, welche ganz genau der an der

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Carlskirche selbst entspricht. Bedenkt man noch, daß die Vorhalle der Kirche wegen ihrer hohen, breiten Freitreppe und der offenen Stellung der Säulen mit starken Hintergrundschatten eine so starke Wirkung macht, daß dagegen die Wirkung eingeblindeter Säulen und flacher Pilaster, auch wenn sie höher sind, nicht aufkommen kann; bedenkt man ferner, daß die zwei riesigen Thurmsäulen unter allen Umständen den ganzen Platz beherrschen werden, so bleibt keine Sorge mehr übrig, daß die mächtige Pilasterstellung des Mittelbaues der Museengruppe den Eindruck der Kirche schädigen könnte. Im Gegentheil; wenn man sich das Alles ausgeführt denkt, so sieht man, daß hier eine wahre architektonische Symphonie von Säulen und Pilastern in allen Größen gleichsam vom Fortissimo herab bis zum Mezzoforte entstünde, und man hat das Gefühl, daß zu diesem Project unser großer Fischer von Erlach selbst Ja und Amen sagen würde. Dieser Bau würde uns eine würdige Lösung der so unendlich schwierigen Carlsplatzfrage bringen. Der Hauptsaal im Innern, schon außen entsprechend angedeutet, würde einer der großartigsten Säle werden, die seit Langem irgendwo erstanden sind: ein Saalbau, auf den Wien stolz sein könnte, der sich gleichfalls dem weltberühmten Saale Fischer’s in der Hofbibliothek anreihen würde. So ist es denn wahrhaft erfreulich, daß dieses Schmerzenskind unserer Wiener Baufragen endlich doch eine derart glückliche Lösung gefunden hat, und nebenbei auch deshalb erfreulich, daß es unserem echten Wiener Künstler Schachner gelungen ist, diesen Wurf zu thun. Schachner gehört ja zu unserer guten alten Schule. Vieles und stets Gutes hat er geschaffen, so erst jüngst das Sparcassegebäude in Prag mit seinem imposanten Cassenhof und in der Metternichgasse das Palais Bratmann, ferner in früherer Zeit die Palais Nako, Erlanger und Pranter. Aber seine jungen Jahre fielen in die Zeit, in welcher der Wiener Monumentalbau ausschließlich durch das Dreigestirn Ferstel, Schmidt und Hansen beherrscht wurde. Einen Mann von solcher Phantasie und solchem Können endlich zu einem Monumentalbau ersten Ranges in voller Reife durchgedrungen zu sehen, muß doppelt befriedigen. Demgegenüber ist es fast peinlich, daß Otto Wagner diesmal so gänzlich versagte. Auch Wagner ist kein Jüngling mehr, er ist ein Mann von Phantasie und bedeutendem Können und gerade so wie Schachner, auch ein echter Wiener, dem man gern einmal einen Wiener Monumentalbau gönnen würde. Aber um Alles in der Welt nur diesmal nicht, nicht mit diesem Project und nicht gerade an diesem Platz neben der Carlskirche, an so altehrwürdig kunstgeweihter Stätte! Am Carlsplatz. Das Kaiser Franz Joseph-Museum der Stadt Wien (1902)

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Otto Wagner ist selbst schuld an seinem Niedergang; denn um Alles in Allem gleich zu sagen, so ist dieser darin begründet, daß Wagner sich immer mehr und mehr fanatisch doctrinär in die Secession verbohrt. Nur aus diesem inneren Grunde, der ihn wie auf schiefer Ebene unerbittlich abwärtszieht, fiel sein letztes Project bedeutend schlechter aus, als das der Vorconcurrenz, welches ohnehin auch schon erheblich schwächer war, als das aus eigenem Antriebe schon vor der Ausschreibung der Concurrenz verfaßte und im Pavillon der Secession seinerzeit ausgestellte allererste Project. Und – zweifeln wir nicht daran – wenn O. Wagner die Ausführung errungen hätte, diese würde wieder schlechter ausfallen als selbst das dritte Project, denn es würde neuerdings einen Fortschritt nach abwärts auf der schiefen Ebene bedeuten. Daß Wagner selbst mit dieser Formulirung seines künstlerischen Werdeganges durchaus nicht einverstanden sein wird, ist klar, und ebenso klar, daß auch seine Anhänger und überhaupt alle fanatischen Anhänger der Wiener Secession dagegen heftigen Widerspruch erheben. Das ist ja selbstverständlich. Aber in solchen Dingen muß man denn doch, trotz Nietzsche und allen Doctrinären der Moderne, die in der Kunst nur mehr die Impression, die Suggestion, die Inspiration, das Unbewußte, das Unbegreifliche und Unbegriffene gelten lassen, noch etwas kaltes Blut, offene Augen und ein denkfähiges Gehirn sich bewahren und sehen können, wie die Dinge eigentlich liegen. Es ist ja gar nicht wahr, daß diese sogenannte Kunst, die man gegenwärtig Secession nennt, aus dem innersten Triebe der Seele entspringt; aus dem Urquell des reinen Fühlens der modernen Menschheit und so weiter. Ganz im Gegentheil hat es noch nie und noch nirgends ein Kunstschaffen gegeben, das derart nur verstandesmäßig erpreßt, schablonenhaft und mühselig erarbeitet, eklektisch zusammengeflickt war, wie dieser angebliche moderne Styl. Doch darüber eingehend ein andermal. Hier seien blos die Fäden bloßgelegt, woher O. Wagner die Grundsätze zu seinem dritten Museumsproject hat und was demzufolge davon zu halten ist. Es war schon im Jahre 1879, als Zola seine Salonberichte gesammelt heraus­gab, daß, davon inspirirt, der Architekt Dubuche wiederum, zum soundsovielten Male, eine n e u e A r c h i t e k t u r verkündete. Diesmal sollte sie demokratisch sein und jenes gewaltige Etwas ausdrücken, das in der modernen Seele des modernen Menschen noch ungehoben schlummert und sich vorläufig nur in Fabriksschloten, Maschinen- und Markthallen, Bahnhöfen und dergleichen als eine neue Welt der Baukunst ankündigt. Die neuen Ma-

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terialien, Glas und Eisen, werden der neuen Baukunst die Wege weisen und, gesteigert durch Schönheit, ein bisher noch nie erreichtes Etwas der Welt schenken. Das ist geradeso, als wenn Einer durch Erfindung neuer Blasinstrumente einen neuen Beethoven erzeugen wollte. Aber item, die blasse Theorie machte ihre Runde um die Welt, und man fing allenthalben an, mit Eisen und Glas herumzudoktern, um daraus eine neue Architektur zu erquetschen. So kam es denn sehr bald danach, noch in den Achtzigerjahren zum Bau des Hotel Beranger in Paris, dessen Architekt der phantastische Erfinder genau desjenigen Eisenstyls war – wenn man solche materialwidrige und haltlose Formen überhaupt stylistisch nennen darf – , welchen seither O. Wagner an den Staatsbahnstationen etc. copirt hat. In seiner 1896 erschienenen Broschüre „Moderne Architektur“ sagt Wagner selbst, Seite 58: „S e m p e r hatte, wie auch D a r w i n , nicht den Muth, seine Theorien nach oben und nach unten zu vollenden (so!) und hat sich mit einer bloßen Symbolik der Construction beholfen, statt die Construction selbst als die Urzelle der Baukunst zu bezeichnen!“1 Darin hatte aber Semper vollkommen recht, denn er sprach von BauK u n s t und nicht von Bau-T e c h n i k . Weiters sagt aber O. Wagner ebenda S. 84: „Größere Festigkeit und Bequemlichkeit bei g e r i n g e r e n K o s t e n und vor Allem k ü r z e r e r H e r s t e l l u n g s z e i t sind die T r i e b k r ä f t e d e r m o d e r n e n A r c h i t e k t u r.“ Das ist stark: Das hat ja Alles mit Kunst rein gar nichts zu thun, sondern nur mit dem Fabriksbau, dem Erwerbsbau, dem leidigen Geldverdienen, aber nie und nimmer mit Kunst, mit dem Welträthsel, mit den innersten, heiligsten Gefühlen der Menschheit. In den beiden Erläuterungsberichten zu den Museumsprojecten weist Wagner neuerdings auf Glas und Eisen, als die Hauptelemente der neuen Architektur, hin. Da haben wir es also. Es steht da ein stylistisches Glaubensbekenntniß, eine innere Erregung der Empfindung, rein künstlerische Phantasie gar nicht in Frage; sondern nur eine doctrinäre vorgefaßte Meinung. Und dieser Schablone zu Liebe opferte Wagner sein eigenes besseres Ich, seine eigene Empfindung, sein eigenes in der That großes Können. Es ist jammervoll, das mit ansehen zu müssen! 1

[Wagner, Otto: Moderne Architektur. Seinen Schülern ein Führer auf diesem Kunstgebiete. Wien: Schroll 1896.] Am Carlsplatz. Das Kaiser Franz Joseph-Museum der Stadt Wien (1902)

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So entstand sein neuestes Museumsproject. Eine krumme, riesenhafte Glasfläche mit dicken, ausgebauchten Eisenstreben à la Hotel Beranger durchsetzt, bildet die große Breitwand der Empfangshalle für den Besuch des Kaisers. Man lasse sich durch die geschraubten Gründe des Motivenberichtes nicht irre leiten. Alle diese Gründe sind erst nachträglich dazu gestimmt worden. Die Wurzel der ganzen Conception ist ausschließlich, ganz allein, das Schlagwort: G l a s u n d E i s e n . Nur deshalb mußte die Vorfahrt Seiner Majestät in die hiezu unpassende Lastenstraße verlegt werden, weil man ja durch eine Glaswand nicht durchgehen kann; nur deshalb stehen in dieser Halle die versammelten Gemeinderäthe von hinten beleuchtet höchst unpassend da, weil es schlechterdings nicht anders geht; nur deshalb, weil dieser Saal so groß und breit sein muß wie die doctrinär beabsichtigte Glaswand, bleibt kein Platz für eine nur halbwegs würdige Treppenanlage und käme man nur winkelig, im Zickzack, in seitliche Ausstellungsräume, was neuerdings unpassend wäre. Nur deshalb weil Glas und Eisen um jeden Preis das Ganze beherrschen müssen, wurden die Überbrücken zuerst ganz im Eisenbahnstyl der Wiener Verkehrsanlagen durchgebildet, im letzten Entwurf aber durchwegs sogar aus senkrechten Eisenträgern und Glas zusammengesetzt. Eine solche Geschmacklosigkeit kann bei einem wirklichen Künstler nur noch pathologisch erklärt werden, als bedauerliche Folge der Verbohrung in eine theoretische Annahme. Es möge mir erlassen bleiben, alle übrigen Abirrungen dieses Projectes des Weiteren zu erläutern; dergleichen wäre eine zu unerfreuliche Aufgabe. Daß eine solche Verirrung aber, selbst wenn ihr Autor ein Otto Wagner ist, der Gemeinde nicht zur Ausführung empfohlen werden konnte – noch obendrein unmittelbar neben der Carlskirche – , ist wohl einleuchtend.

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Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz JosephMuseums der Stadt Wien (1902) Sonderdruck, Wien: Verlag Waldheim 1902 (Erstveröffentlichung: Allgemeine Bauzeitung, Jg. 67 (1902), S. 61–66, Taf. 28–30). Sign. SN: 260–57. 34 Abbildungen.

Es wird sich selten eine Gelegenheit finden, das Werden architektonischer Gedanken von ihrem ersten Keimpunkte an bis zum fertig ausgereiften Plane an einer so stattlichen Reihe von Entwürfen tüchtiger Künstler, die alle denselben Vorwurf behandelten, so eingehend studieren zu können, wie dies die vorliegende Concurrenz ermöglicht. Nur ein einziger Concurrent, der meist in Florenz lebende Maler und Architekt Richard S c h n e i d e r, hat sich ganz dem Rahmen des gegebenen Programmes entzogen und eine freie, rein künstlerische Lösung geboten. In dieser hat er allerdings ein Stück Alt-Rom aus den besten Tagen des Cinque Cento uns vorgezaubert, eine Lösung, wie sie auch voll und ganz unserem herrlichen Meisterwerke, der Karls-Kirche, entspräche, aber seine Schöpfung ist ein Entwurf, der gänzlich unausführbar wäre, weil er eben der bereits genehmigten Parcellierung nicht entspricht, nach welcher auch die Untergrundbahn und die Canalisierung neben dem überwölbten Wienflussbette bereits ausgeführt ist, so dass an eine Änderung derselben nicht mehr gedacht werden kann. Der reine Künstler kommt also wieder einmal zu spät, wie dies dem in fernen seligen Zonen träumenden Dichter bei der praktisch irdischen Theilung der Erde zu ergehen pflegt. Wenn man aber die Beziehung zur Karls-Kirche und die rein künstlerische Angliederung ihrer nächsten Umgebung als das allein Ausschlaggebende in der ganzen Angelegenheit anerkannt hätte, dann hätte man auch nur in diesem Sinne projectieren dürfen, wie es S c h n e i d e r gethan hat, nämlich eine rein architektonisch-malerische Umgebung zur Kirche hinstellen müssen, also die Bauflächen zuerst festsetzen müssen, neben welchen dann das Übrigbleibende als Platz und Straßen sich nebenher ergeben hätte. Dies ist die Methode, nach welcher die Schönheiten der alten Städtebilder entstanden sind. Nach gerade entgegengesetzter Methode wird heute bei der Lageplanverfassung aller modernen Großstädte verfahren, wobei umgekehrt zuerst nur das Straßennetz festgelegt wird in Rücksicht auf die Annahme eines nach allen Richtungen hin ungehemmten freien Verkehres. Man kann sich keinen größeren Gegensatz denken. In dem einen Falle werden Bauflächen entworfen nach den Grundsätzen ihrer eigenen künstlerischen Ausgestaltung, und was nebenher übrigbleibt, ist Straße; in dem Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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anderen Falle werden Straßenzüge entworfen, und was zwischen ihnen als Rest übrig bleibt, ist Baufläche. Selbstverständlich darf und kann keiner dieser Grundsätze mit starrer Rücksichtslosigkeit gegen den anderen durchgeführt werden, aber in dem einen Falle werden die Bedingungen der Schönheit, der Monumentalität und des gesunden behaglichen Wohnens in erster Linie berücksichtigt und die nur zu oft bloß eingebildeten, bloß theoretischen Forderungen des Verkehres in zweiter Linie; während in dem anderen Falle die Rücksicht auf einen als nothwendig angenommenen, allhin freien Verkehr allein maßgebend ist. Lediglich die strenge Durchführung dieser Verkehrstechnik verleiht allen modernen Städten ihr nüchternes Gepräge mit all ihrem Wind und Staub und nirgends rastenden Wagengerassel, so dass dem ewig und überall abgehetzten Großstädter nirgends ein ruhiges, das ist eben v e r k e h r s l o s e s P l ä t z c h e n übrig bleibt zu behaglichem Wohnen, Arbeiten, Ausruhen, Genießen. Bei derartig durchgreifendem Gegensatze im Verfahren bei Stadtanlagen darf man sich schlechterdings nicht wundern, wenn in modernen Großstadtanlagen alle liebe Mühe und alle Millionenopfer bei Monumentalbauten vergeblich sind, und immer wieder derselbe geschraubte, nüchterne, maschinenmäßige Eindruck herauskommt. Will man die Wirkung alter monumentaler Stadtbilder, so muss man auch die Mittel ihrer Hervorbringung genehmigen, denn sie sind als Ursache und Wirkung naturnothwendig miteinander verbunden. Dass dem so ist, geht gerade aus der vorliegenden Concurrenz augenscheinlich hervor, denn es zeigt sich hier deutlich, wie die Blockbildung und Zerschneidung der Baufläche durch Straßen die Entwürfe sämmtlicher Concurrenten bis in die Einzelheiten beherrschte, so dass eine freie Bewegung, eine frische Entfaltung künstlerischer Phantasie von vorneherein gehemmt war. Es ist ja doch merkwürdig, und nur von diesem Standpunkte der Gebundenheit aus lässt es sich erklären, dass sämmtliche Projecte, mit einziger Ausnahme des eben angeführten und noch eines zweiten, das noch besprochen werden soll, nur Variationen desselben, eben durch den Lageplan bereits gegebenen Grundgedankens sind. Sämmtliche Entwürfe gehen daher aus von dem bekannten Schema des Wiener Zinshausbaublockes. Es blieb ja auch gar nichts anderes übrig, denn eine freie, den Einzelzwecken entsprechende Gruppierung großer und kleiner Säle, ferner von Höfen, Loggien, Gängen u.s.w., wie im Cluny-Museum von Paris oder im Germanischen Museum Nürnbergs, oder dem neuen Münchener Nationalmuseum und endlich dem so rasch berühmt und beliebt gewordenen Museum der Stadt Reichenberg war ja auf diesem echten Zinshaus-

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Figur 1: Project von Karl Freitag

block von vorneherein gänzlich ausgeschlossen. Es blieb gar nichts anderes übrig als zu den vier Hauptmauern vier Mittelmauern parallel zu legen, in den innen verbleibenden Raum die Treppen, Corridore und verschiedene Nebenräume, auch ab und zu große Vestibule etc. zu legen, die Hauptfaçade am Karlsplatz symmetrisch zu theilen, in die Mitte das Hauptportal mit einem Risalit zu setzen und alles übrige danach so gut es gieng anzugliedern. Ein einziger Umstand veranlasste hiebei die Möglichkeit vielfach verschiedener Detail­lösungen, nämlich, dass der Baublock kein reguläres Rechteck ist, sondern eine schiefwinklige Figur, so dass genaue Symmetrien und strenger Paral­ lelismus der Wände bei Treppen, Vestibulen, Sälen und allem Sonstigen nun auf gar mannigfache Art angestrebt und auch erreicht werden konnte. Die Fülle der Ideen, welche in dieser Richtung erbracht wurde, ist staunenswert; immer wieder sieht man bei jedem einzelnen Entwurfe eine interessante Lösung dieser Frage vor sich, und das ist es, was das Studium dieser Concurrenz, rein bautechnisch genommen, auch ersprießlich macht. Diesen Gedanken der darin so fruchtbaren Concurrenten soll daher hier nachgegangen werden. Zunächst können da einige Entwürfe vorgeführt werden, welche eine volle Symmetrie anstreben auf Grundlage einer vom Haupteingange ausgeDie Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Figur 2: Project von K.K. Prof. P. A. Leger

henden Symmetrieachse. Um diese strenge Grundrissform zu ermöglichen, mussten die unsymmetrischen Ecken des Bauplatzes abgeschnitten werden und damit dadurch wieder keine unschönen Contraste zu den gegenüberliegenden schief verbleibenden Häuserfluchten herauskämen, wurde die beiderseitige Abrundung gewählt, was diesen Zweck auch gewiss erreichen würde. Wegen Platzverlustes musste der mittlere Hofraum möglichst vollständig verbaut und für Treppenanlagen nicht allzuviel Raum verwendet werden. Daraus ergibt sich mit fast zwingender Nothwendigkeit der Grundriss von Figur 1. Ein ähnlicher Gedankengang ist aus Figur 2 zu ersehen. Der schiefe Block ist an der Bauflucht beim Trottoir noch beibehalten, aber die abgestoßenen Zwickel mit kleinen Gartenanlagen geziert, die Rundung in einen vollen Halbkreis übergeführt. Nachdem so dieser Halbkreis zu einem Grundgedanken der ganzen Anlage wurde, folgte diesem mit gleichem Mittelpunkte und parallelem Zirkelschlage die Bildung eines centralen Kuppelraumes als

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Figur 3: Project von F. Drobny

Ausstellungsraum für Plastiken; die Anordnung zweier symmetrischer großer Prachtsäle (Kaisersaal und Rittersaal) an den Ecken der Hauptfaçade, die Verlegung der Haupttreppe in die Verlängerung der Hauptachse des Gebäudes und die Unterbringung der zahlreich nöthigen kleinen Nebenräume und Diensttreppen in den übrigbleibenden Zwickeln. Bei dieser Anordnung ergaben sich auch zwei so große symmetrische Höfe, dass sie zur Beleuchtung von sechs Ausstellungsräumen im Anschlusse an die größeren Vorderräume ausreichen, wodurch auch zugleich ein freier Rundgang ohne besondere Corridore ermöglicht wird. In Figur 3 erscheint die Halbkreisform in das Innere verlegt. Hierdurch wird die innere Symmetrie aller Haupträume, soweit sie dem Auge des Besuchers erkennbar sein kann, ermöglicht; trotz der Beibehaltung der äußeren Baufluchten. Die restierenden ungleichen Zwickel werden wieder für Nebenräume und Diensttreppen verbraucht und der große, halbkreisförmige Hof durch die große Haupttreppe symmetrisch getheilt. Die Kreisform, bekanntlich besonders geeignet die unmerkliche Ausgleichung zwischen schiefwinkelig zu einander stoßenden Tracten zu bewirken, wurde für das Innere auch bei dem Entwurfe von Figur 4 gewählt; jedoch nicht Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Figur 4: Project von R. Dick

Figur 5: Project von R. Hartinger und M. Kühn

Figur 6: Project von E. Waneček und E. Tomek

in einem einzigen Zirkelschlage, sondern in Form von drei mächtigen Halbkreisconchen, in deren mittlere rückwärtige die Haupttreppe verlegt wurde. Für die große mittlere Halle ist die Aufstellung der Waffensammlung angenommen und für die breit vorlagernde mächtige Vorhalle die der Sammlung von Sculpturen. Einen ähnlichen Gedanken mit fast ebenso großer rennbahnartiger Mittelhalle, jedoch mit Weglassung der dritten Concha, führte Freih. v . W i e s e r in seinem Projecte durch. Ganz die gleiche Idee zeigt Figur 5, nur wurde die beiderseits abgerundete Halle wesentlich kleiner gehalten, so dass rechts und links noch je ein größerer Hof übrig bleibt. Die Haupttreppe ist an derselben Stelle angenommen, wie bei Figur 4, nur im Detail anders durchgebildet. Ein Hauptgewicht wurde offenbar auf die Erzielung möglichst geraumiger Ausstellungssäle gelegt, die auch in geschlossenem Rundgange begehbar sein sollten. Einen kleinen Kreis als Centrale zur Vermittlung der schiefliegenden Tracte zeigt Figur 6, und zwar in der Mitte eines Keiles, auf den die ganzen Unsymmetrien gehäuft wurden. Die Lösung erfolgte durch unsymmetrische Verlegung der Haupttreppe in das rechtsseitige breitere Ende des Keiles, was immerhin bei einer Wendung des Besuchers nach rechts wieder eine durchDie Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Figur 7: Project von Karl Troll

aus symmetrische Anlage ergibt. Nach Innen zu ist, an die Mittelmauer anschließend, ringsherum ein Corridor gelegt, so dass jeder Ausstellungssaal besonders erreicht und wieder verlassen werden kann. Wiederum zu einer keilförmigen Baugruppe vereinigt erscheinen alle unsymmetrischen Zwickel in dem Entwurfe von Figur 7, nur bleibt dabei die Haupttreppe in der Mitte der Gangrichtung, wenn auch in einem Knigg, mit der Hauptportalachse, was jedoch beim Besuche sicher nicht bemerkt würde, da der Übergang nur in der Thürlaibung liegt und man beim Durchschreiten in solchen Fällen stets die Orientierung verliert. Zur Einzelerreichung aller Säle sind auch Hofsäle verwendet, so dass der Zweck erreicht wird, ohne einem Übermaß von sonst wenig verwendbaren Corridoren. Neu gegen die bisher behandelten Varianten ist dagegen die Lösung von Figur 8. Das ganze Innere des Baublockes ist in eine einzige große Säulenhalle verwandelt, mit segmentbogenförmigen Langseiten. Zum Zwecke vollkommen harmonischen Anschlusses ist die rückwärtige Baufront parallel dazu gleichfalls segmentförmig gehalten. Die Haupttreppe konnte bei dieser Anordnung nicht gut mehr in der Portalachse bleiben, da nunmehr die Achse des mächtigen Hauptraumes unter einem rechten Winkel nach links

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Figur 8: Project von Friedrich Schachner

abbiegt, wo denn auch naturgemäß die Haupttreppe liegt. Erstrebt sind wenige, aber groß wirkende Ausstellungssäle von drastisch wirkender Form und demzufolge leichter Übersicht und Orientierung. Die Begehung ist durch die große Säulenhalle überallhin erschlossen und die restierenden Bauplatzzwickel selbstverständlich wieder für Nebenräume verwendet. Ebenfalls das Motiv einer möglichst großen Säulenhalle, aber elliptisch und in der Richtung der Portalachse gelegen, bietet Figur 9. Der leere Raum links wurde als Hof belassen, der kleinere Raum rechts dagegen vollständig verbaut, und zwar größtentheils durch eine opulent ausgebreitete Haupttreppe. Dem Grundgedanken nach auf derselben Fährte, wie Figur 8, geht der Entwurf von Figur 10; aber in der Durchbildung gänzlich anders aufgefasst. Der große Saal mit den Segmentseiten ist statt länglich mehr quadratisch dimensioniert, die Haupttreppe in der Portalachse und alles übrige gleichfalls grundverschieden von Figur 8, so dass man sich füglich wundern muss, derart Verschiedenes aus derselben Idee hervorgewachsen zu sehen. Die Ellipse von Figur 9 sehr verkleinert, aber in derselben Weise zur Vermittelung der nicht parallelen Tracte verwendet, findet sich in Figur 11. Hinter Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Figur 9: Project von H. Giesel

Figur 10: Project von Freih. v. Kraus und E. Tölk

Figur 11: Project von Georg Roth

dem Haupttracte liegt noch ein zweiter, in welchem zwei symmetrische Treppen rechts und links angeordnet sind. Denkt man sich den Doppeltract weg und an Stelle der kleinen Ellipse einen etwas größeren Kreis, an dessen Wandung rechts und links die Treppen liegen, und gleichfalls um den ganzen Hof einen Corridor gelegt, so entsteht das Project von Architekt Fritz M a h l e r. Eine größere Anzahl von Concurrenten entschloss sich dazu, die Portal­ achse bis zum rückwärtigen schiefen Tracte als formgebend festzuhalten. An die dadurch sich zusammenfassenden streng rechtwinkeligen Räume des Vordertractes und um die ins Hofinnere eingebauten Räume herum liegen dann die drei schief gestellten Tracte, so wie es eben geht, und die Verbindung wird in jedem einzelnen Falle in verschiedener Weise gesucht. So in Figur 12 durch seitliche Anbauten. Die Stiegen liegen rechts und links symmetrisch hinter dem Haupttracte. Im wesentlichen dieselbe Anordnung der Treppen und des Innensaales, der zur Aufstellung der Waffen bestimmt ist, bietet Figur 13, aus welcher Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Figur 12: Project von Brüder Drexler

Figur 13: Project von Prof. A. Schurda

Darstellung auch die bei noch einigen anderen Entwürfen vorkommende Verbindung der drei Baublöcke durch Straßenüberbrückungen zu sehen ist, eine höchst wichtige Anordnung, damit die durch die gänzlich unnöthigen Straßenzüge unschön aufgerissene Platzwand wenigstens einigermaßen ihre Geschlossenheit wieder erhält.

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Figur 14: Project von Otto Wagner jun.

Figur 14 verbindet dieselbe Idee mit dem Motive des rings herum laufenden Corridors und legt seine Haupttreppe in die Verlängerung der Portal­ achse. Auch Figur 15 bringt dasselbe Motiv nur bei segmentierter Vorhalle, ausgeweitet größerer Hofhalle, größeren zusammenhängenderen Ausstellungssälen, einer unsymmetrisch links liegenden großen Haupttreppenanlage und Verbindung der ringsum laufenden Corridore noch durch zwei Gänge neben dem Mittelsale, so dass hier unter sämmtlichen Projecten das Maximum von Gängen erreicht ist. Wieder dieselbe Anordnung bei bloß veränderter Durchführung in den Detailen ist zu sehen in Figur 16 und ebenso in Figur 17, bei welcher das Aneinanderstoßen der parallelen Tracte an die schiefen im Plane sehr auffällt, während es am ausgeführten Baue bei einer Begehung in keiner Weise bemerkt werden könnte. Es ist das eine wahre Wohlthat für den Architekten, dass dem so ist, denn sonst wäre es wahrscheinlich oft recht schwer zu bauen; es beweist das aber auch zugleich, wie undankbar es ist, sich am Reißbrett so entsetzlich abzuquälen, um ja recht tadelfreie Symmetrien herauszubringen, die man auch wieder nur am Plane sieht und deren vermeintliche Schönheit Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Figur 15: Project von Prof. Otto Wagner

Figur 16: Project von Karl Hulanicki

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Figur 17: Project von Johann Zagler

Figur 18: Project von Heinrich Wolf Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Figur 19: Project von Wilhelm Luksch

in der Natur gar nicht zur Geltung kommt, weil man in der Natur alle diese Wunder der Reißbrettspeculation gar nicht merkt. Eine neuerdingliche Variante zu dieser Gruppe bietet Figur 18. Einen sonderbaren und höchst originellen Eindruck macht auf den ersten Blick die Lösung von Figur 19. Man sieht aber bald, dass auch diese Variante streng logisch aus den gegebenen Verhältnissen sich wie von selbst entwickelte. Man sieht, dass die eine schiefe Langseite des f ü n f e c k i g e n großen Mittelraumes parallel zum rechten Seitentract gehalten wurde, und die linke Bugseite in die Mittelmauer des Hintertractes verlegt wurde, was beides seine Vortheile hat und bautechnisch logisch gedacht ist. Klappt man nun beide so erhaltenen Seitenwände symmetrisch um die Portalhauptachse um, so ergibt sich von selbst dieser anscheinend sonderbar originelle fünfeckige Raum. Gerade dieser Raum ist compositionell streng logisch; würde aber ausgeführt dennoch unlogisch verblüffend wirken, weil man die Lösung des Räthsels nur aus dem Plane ersehen kann, niemals aber in der Bauausführung, weil man beim ausgeführten Plane niemals einen Überblick über dessen Grundriss hat.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Figur 20: Project von Adolf Reinhold

Vor einer kleinen Serie neuer Lösungen stehen wir bei Figur 20, 21 und 22. Der Grundgedanke dieser Entwürfe besteht darin, auch eine Hauptsymmetrieachse vom Hintertracte her anzunehmen, so dass die den nunmehr zwei Symmetrieachsen folgenden Innenräume an irgend einer Stelle zusammenstoßen und dort, so gut es eben gehen will, ausgleichend verbunden werden. Figur 20 erreicht dies durch Aneinanderstoßen zweier Conchen; Figur 21 durch Einschaltung eines Kreises an der Achsenbruchstelle und Figur 22 durch Einschaltung eines kleinen Keiles, in dem der Thürübergang aus einer in die andere Achsenrichtung, zugleich unter Abweichung von der Mitte an die Seite, liegt. Sehr interessante Lösungen in allem und jedem enthält Figur 23. Die Vermittlung zwischen der nichtparallelen vorderen und hinteren Front wird dadurch erreicht, und zwar wirklich erreicht, voll und ganz, dass die starken Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Figur 21: Project von Ignaz Sowinsky

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Figur 22: Project von Robert Raschka

Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Figur 23: Project von Friedr. Schön

Figur 24: Project von Max Hegele Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Figur 25: Project von Adolf v. Infeld

Scheidemauern fürs erste nicht genau senkrecht auf den Hauptmauern stehen und dann in durchaus unmerklichen Brüchen fächerförmig auseinanderstreben. Es ist so, als ob ein regelrecht aus senkrechten und parallelen Linien bestehender Plan, auf elastischer Kautschukfläche gezeichnet, auseinandergezerrt worden wäre, bis die äußeren Mauerflächen nicht mehr parallel zu einander stehen. Dieser Grundriss wurde nicht mit dem leidigen Winkelbrett und der alles verderbenden Reißschiene entworfen, sondern in elastischer Freihandskizze und dazu kam dann hinterher als bloßer Sclave Reißschiene und Winkelbrett an die Reihe. Dieser Plan muthet so an, als ob die Schiefwinkeligkeit des Baublockes gar nicht vorhanden wäre und genau so würde der Bau nach seiner Ausführung wirken. Außerdem ist dieser Entwurf der eingangs angeführte zweite, welcher sich auch durch Vermeidung durchlaufender Mittelmauern vom Wiener Zinshausschema losmacht und durch freie Gruppierung großer und kleiner Säle einen eigenen Museumstypus darstellt. Gegenüber dieser souverän freien und nicht ängstlichen Lösung kommt noch eine Gruppe von Concurrenten in Betracht, welche im Gegentheile dazu sich vor allem zuerst die wahre Symmetrieachse des gesammten Bau-

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Figur 26: Project von Otto Richter

Figur 27: Project von Albert Pecha

blockes geometrisch construierten, und danach möglichst pedantisch streng vorgingen. Die Gesammtachse ist aber die Winkelhalbierung der Vorder- und Hinterfront des gesammten Baublockes. Danach rein geometrisch constructiv vorgegangen, bleiben bei Figur 24 nur einige belanglose Zwickel zur Ausfüllung mit Nebenräumen übrig; bei Figur 25 geht alles Null für Null auf, bis auf die nicht ganz gleiche Gestalt und Größe einiger sonst sich gegenseitig entsprechender Ecksäle; bei Figur 26 bleiben wieder nur wie bei Figur 24 einige unsymmetrische Zwickel übDie Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Figur 28: Project von Max Fabiani

rig. Derselben Eintheilung folgt auch das Project von Figur 27, das sich aber durch hervorragend gute Verbindung der drei Baublöcke zu einer einheitlich geschlossenen Baufront auszeichnet. Geradezu auf die Spitze getrieben wurde dieser Gedanke in dem Entwurf von Rudolf T r o p s c h , in welchem der nun wirklich gänzlich fehlerfreien Symmetrie zu liebe sogar die Lageplanlinien der Baublöcke geändert wurden. Gerade in folge dieser bis zum äußersten gehenden Consequenz lässt sich die künstlerische Wertlosigkeit des ganzen hier eingeschlagenen Verfahrens erkennen. In Wirklichkeit ausgeführt oder selbst nur in kleinem Maßstabe modelliert, würde man sofort erkennen, dass das alles nur Reißbrett-Architektur ist und solches Mühen und sich Abquälen nach Symmetrien eine ganz zwecklose Plage ist. Noch erübrigt die Anführung einiger weniger Entwürfe, welche sich die Aufgabe der Erhaltung eines einheitlich zusammenhängenden Museumshofes stellten. Eine dieser Lösungen ist aus Figur 28 zu ersehen; eine andere brachte Architekt Karl K r a h l . Architekt Rudolf K r a u s e s Entwurf zeichnete sich durch die Anlage guter Straßenüberbrückungen aus und der Grundriss von Figur 29 zeigt ebenso, wie es schon bei Figur 23 bemerkt wurde, in allem die Ablehnung des Zins­

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Figur 29: Project von Rich. v. Schneider

hausschemas. Die eingangs erwähnte eigenartige Lösung der Gesammtbau­ frage macht aber den inneren künstlerischen Wert dieses Entwurfes aus, der leider betreffs Ausführung gar nicht in Discussion gebracht werden kann. Wie sehr das bei uns landesübliche Baublocksystem alle künstlerisch geschlossene Platzwirkung von vorne herein ausschließt, ist deutlich aus der von Prof. A . v . S c h u r d a der Concurrenz beigegebenen Vogelperspective zu ersehen gewesen, wobei nicht vergessen werden darf, dass derlei gezeichnete Vogelperspectiven immer einen angenehmen Eindruck machen wegen der Freude an der Kunst der Darstellung und weil man alle symmetrischen Entsprechungen deutlich wahrnehmbar vor sich am Papiere liegen hat, was alles aber bei einem Rundgange zwischen den ausgeführten Baublöcken spurlos verschwindet. Das ist es ja eben, auf was bei Lageplanverfassung heute immer wieder vergessen wird, dass nämlich die symmetrische oder sonstwie geometrisch regelrechte Anordnung von Baublöcken nur am Plane ersichtlich wird, während in Wirklichkeit ganz andere Momente in Betracht kommen. Ebendeshalb sind uns Modernen die alten naiven Meister des Städtebaues künstlerisch und praktisch so riesig überlegen, weil sie an Ort und Stelle spazierengehend entworfen haben, während wir alles am Reißbrett mit Zirkel und Lineal uns herausquälen. Auf Taf. 1 ist die Wichtigkeit der in Aussicht genommenen Straßenüberbrückungen deutlich zu erkennen und wäre noch eine Schließung der beiden unmittelbar neben der Karls-Kirche Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Taf. 1: Ansicht des Karls-Kirchen-Platzes nach dem Entwurfe des Architekten Robert Raschka

Taf. 2: Ansicht des Karls-Kirchen-Platzes nach dem Entwurfe des Architekten Rudolf Dick

Taf. 3: Hauptfaçade des Museums nach dem Entwurfe der Gebrüder Drexler

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Figur 30: Project von Max Hegele

mündenden Straßen dringend nöthig, und zwar nicht wiederum durch einen überbauten Bogen, sondern hier durch eine mächtige Säulenstellung, wie sie sich in Rom an der Peters-Kirche anschließt, deren Eckpavillon mit der Durchfahrt sich ja F i s c h e r v . E r l a c h bei seiner Karlskirche direct zum Muster genommen hatte. Diese Säulenreihe müsste auf beiden Seiten der Kirche die decorative Schließung der Platzwand und den Verband mit dem nächsten Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Taf. 4: Hauptfaçade des Museums nach dem Entwurfe des Architekten Ignaz Sowinsky

Gebäude herstellen. Die Herstellung dieser ästhetisch geradezu nothwendigen Verbindung kann aber der Zukunft vorbehalten bleiben; heute handelt es sich darum, wenigstens die Isolierung der drei Museums-Baublöcke hintanzuhalten und von diesem Standpunkte aus muss man auch für die Errichtung des Stadt Wien-Museums gerade an dieser Stelle stimmen; denn, wenn auf diesen hier gegebenen drei Baublöcken isolierte Zinskasernen erstünden, wäre jede auch bloß erträgliche Wirkung des Karlsplatzes für immer gänzlich ausgeschlossen. Eine in der Gesammtwirkung sich frei und gut an den Stil der Karls-Kirche anschmiegende Hauptansicht zeigt die Perspective auf Taf. 2. Während die Architekturformen des auf Taf. 1 dargestellten Projectes sich in einer gewissen Verwandtschaft mit F e r s t e l s Universität bewegen, so strebt die Façade der Gebrüder D r e x l e r, Taf. 3, die Wirkung eines Pendants zur TechnikFaçade an. In diesem Rahmen der Angleichung, wenn auch durchaus nicht sclavischen Nachahmung zu dem Stile der Kirche, der Technik und der tonangebenden Wiener Stilrichtung älterer Zeit, bewegen sich die überwiegende Mehrzahl der Entwürfe, und zwar meist auch mit zielbewusster Anmerkung dieses Standpunktes in den beiliegenden Begleitschreiben. Dass einige Anhänger der Secession selbst im Angesichte des Meisterwerkes von F i s c h e r v . E r l a c h der Ansicht Ausdruck gegeben haben, dass auch in dessen unmittelbarer Nähe ein stilfremdes Gebäude auch ganz gut Platz finden könnte, war vorauszusehen. Manche dieser Arbeiten sind allerdings sehr gemäßigt und somit nicht ohne Wert, so die Façade von Figur 30 und die letzte auf Taf. 4.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Eine bedeutsame Förderung dürfte die ganze Angelegenheit durch die detaillierte Verfassung eines Programmes für die zweite entscheidende Concurrenz erhalten haben, bei welcher die Erfahrungen der Vorconcurrenz, wie sie sich bei den eingehenden Berathungen des Preisgerichtes ergaben, breite Verwendung fanden. Auch die Ausstellung der Pläne mag ja manche Förderung geboten haben und somit dürfte sich das System der Vorconcurrenz hier neuerdings bewährt haben und kann ein schließlich glücklicher Ausgang erhofft werden.

Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz Joseph-Museums

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Sezession und Monumentalkunst (1903) Neues Wiener Tagblatt, 5./6. Mai 1903. Mit handschriftlichen Redaktionen, Sign. SN: 179–359/2. Teile des Textes abgedruckt in: Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1998, S. 192–198.

„Groß willst du und auch artig sein? Marull, was artig ist, ist klein.“ Lessing. Als in den Sechzigerjahren auf allen künstlerischen Gebieten die Stilreinheit, und zwar streng nach alten Mustern, als allein seligmachender Grundsatz aller bildenden Kunst galt, entstand im Zusammenhange damit das Streben, die großen Stilgrundsätze auch auf die Kleinkünste anzuwenden. Eine dieser in Wien seit langem blühenden Kleinkünste war die der Meerschaumschnitzerei, hauptsächlich für Pfeifenköpfe und Zigarrenspitzen. Diese blühende Kleinkunst Wiens sollte stilistisch gehoben, veredelt, zu etwas Bedeutsamen gemacht werden. Als Mittel hiezu wurde eine allgemeine Meerschaumkonkurrenz ausgeschrieben, mit dem Grundsatze, daß sowohl in zeichnerischen Entwürfen als auch in Modellen nur Stilreines, Klassisches erbracht werden sollte. Der Erfolg war höchst überraschend. Ganz Wien schüttelte sich vor Lachen und am meisten die geistreichen Veranstalter des Unternehmens selbst. Es war handgreiflich dargetan, daß für solche Nippes, für solche Kleinkünste der große Stil der monumentalen Kunst nicht verwendbar ist. Damit war die Sache aber auch abgetan. Gegenwärtig sind wir im Verlaufe der Stilentwicklungsfragen sonderbarerweise gerade in den entgegengesetzten Fehler verfallen. Jetzt pflegen wir geradezu mit Leidenschaft den Kunstcharakter der kleinen Gegenstände, des Hausrates etc. und stehen vor dem Versuche, diesen Kleinkunststil auf die große Monumentalkunst zu übertragen. Dies ist zwar nicht theoretisch zugegeben, aber tatsächlich der Grundgedanke unserer sogenannten Sezession. Wir alten, so viel verlästerten, sogenannten „Stilphilister“ sind durchaus nicht so engherzig, als man es uns vorwirft. Wir anerkennen das viele Reizende, das von der Sezession bereits geschaffen wurde, voll und ganz und auch gerne. So zum Beispiel haben sich die modernen Spitzenkompositionen, wie sie von der Abteilung für Spitzenindustrie am Österreichischen Museum unter der Leitung von Frau Hrdlicka hinausgegeben werden und, in „Art et

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Décoration“ und im „Studio“ publiziert, bereits gerechtes Aufsehen erregt haben, sofort unseren Beifall erobert. Es ist ganz erstaunlich, wie reizend diese oft durch und durch sezessionistischen Kompositionen hauptsächlich in der Ausführung als Spitzenkragen etc. wirken. Man fühlt sich förmlich freudig erregt, ja man fühlt ein förmliches Lustgefühl im Auge, wenn man diese modernen Spitzen betrachtet. Daneben können selbst die fein durchkomponierten alten Venetianer- und sonstigen berühmten Spitzen tatsächlich nicht standhalten. Woher kommt das? Diese frappierenden Wirkungen dürften nicht allzu schwer erklärt werden können: alle früheren Spitzenkompositionen halten strenge fest an geometrischen Grundteilungen, Dreiecke, Quadrate, streng reguläre Achtecke und Sechsecke bilden das Kompositionsnetz. Das entwickelt sich in der Zeichnung oft zu äußerst interessanten, ja geistreichen Kombinationen. Aber bei der ausgeführten Spitze wirkt das alles wesentlich anders. Jede kleinste Fältelung, jede kleinste Verzerrung der feinen, elastischen Fäden zerstört die strenge Regelmäßigkeit des Grundschemas, die Symmetrie der ganzen Anordnung. Ganz anders bei der modernen Spitze mit ihren schön leichthin und frei verlaufend komponierten Gefühlslinien, in Richtung und Krümmung nicht an ein geometrisches Schema gebunden und somit auch leise Verrückungen, Faltenbildungen mit Leichtigkeit vertragend. Dazu kommt noch, daß diese modernen Spitzen sich strenge an den Flächenstil, der auch in der modernen englischen Tapete so vorzüglich ist, halten und demzufolge lediglich darauf ausgehen, eine fein empfundene Linienführung mit einer anmutigen Massengruppierung und Abwechslung von stark durchbrochenen Flächen im Gegensatze zu stark gefüllten Flächen hervorzubringen. Ähnlich verhält es sich mit vielen Gegenständen der Kleinkünste, welche in den letzten Jahren zu einer erfreulichen Blüte gebracht wurden und durch hervorragende Leistungen wohlverdiente Erfolge erzielten. Es sei da nur erinnert an die Tiffany-Gläser, die Schmuckgarnituren von Lalique u.a., an die oft genug zwar bloß phantastischen, aber dabei ebenso oft auch äußerst gelungenen modernen Töpfereien unserer keramischen Fachschulen und Industrien, an die ungemein material- und stilgerechten Kupfertreibarbeiten (Weinkühler etc.), an die neuen Lösungen von Beleuchtungskörpern, wie sie für das ebenfalls ganz neue Bedingungen stellende elektrische Licht geradezu erfordert werden. Ganz besonders kann auch erinnert werden an die vielen reizenden Bucheinbände, welche nach dem Schema einfacher Gefühlsliniendekors bereits von Wiener, englischen und Berliner Firmen, zum Beispiel von Collin etc., geliefert wurden. Allgemein bekannt sind ja auch unSezession und Monumentalkunst (1903)

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sere neuesten erheblichen Fortschritte auf dem Gebiete der Schrift, der Typographie, des Buchschmuckes und der ganzen Buchausstattung. Aber gerade hier ist es auffällig, daß das Losungswort der Sezession: „Weg mit den alten Stilen und ihrer Nachbetung!“ nicht gilt; denn gerade alle die bei der modernen Buchausstattung eingeführten derben Holzschnitt-Typen und sonstigen Neuerungen schließen sich den alten Mustern des 15. und 16. Jahrhunderts an. Wir haben also gerade auf diesem Gebiete wieder das Erwachen alter Stiltraditionen zu verzeichnen. Eigentümlich verhält sich die Moderne beim Möbelbau. Hier mischt sich Gutes und Schlechtes bunt durcheinander; ebenso auch bei der gesamten Interieureinrichtung. Über die Herleitung dieser ganzen Stilströmung bei uns aus der englischen Quelle und aus dem Stil der Biedermeierzeit ist schon so viel gesagt und geschrieben worden, daß es hier nicht wiederholt zu werden braucht. Wir wissen ja, um was es sich dabei hauptsächlich handelt: man erstrebt hiebei das Intime der Einrichtung, das Individuelle, und nimmt dabei eine ganze Reihe von Verstößen gegen den guten Geschmack, gegen Material und Konstruktion, gegen den Zweck der Möbel, gegen die wirklichen, ewigen Schönheitsgesetze in den Kauf. Würde man diese das Auge oft geradezu beleidigenden Fehler im Sinne feiner Kunstübung verbessern, kein Zweifel, es verlöre sich mit den Fehlern zugleich alles heute auf diesem Gebiete so sehr gerühmte Intime, Individuelle. In der Tat, so wie jeder Mensch seine Fehler hat, seine Schwächen und Schattenseiten, so kann ein Interieur nur intim – also auch behaglich – aussehen, wenn es seine menschlichen Schwächen, seine Fehler hat. Würden wir es in einem Freundeskreise aushalten, der aus den lebendiggewordenen Idealfiguren der Odyssee, des Nibelungenliedes, der Shakespeareschen Tragödien bestünde? Nimmermehr! Es wäre die Hölle selbst, wenn wir unser kleines Alltags-Ich immer neben den übermenschlichen Maßstäben dichterischer Monumentalkunst fühlen müßten. Von diesem Standpunkte aus ist es vollkommen richtig, daß auch ein ganzes Familienhaus nur dann behaglich, bürgerlich wirken kann, wenn es grundsätzlich den strengen Stilformen der großen Monumentalbaukunst aus dem Wege geht. Aber eben deshalb schließt sich dieses intime Interieur, dieses Einzelhäuschen mit seinem individuellen Grundriß von der großen Kunst aus und reiht sich der bereits besprochenen Kleinkunst an. Ist dieser Unterschied zwischen Monumentalkunst und Kleinkunst einmal aufgegriffen, so erklären sich sofort manch andere Erscheinungen, zum Beispiel, daß die sezessionistischen Schmiedegitterkompositionen ausnahmslos gänzlich abscheulich sind. Denn hier ist die Eisenkonstruktion so sehr mit strengen

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Stilgesetzen verwachsen, daß man sehr ernst und strenge komponieren m u ß und der Laune die Zügel nicht schießen lassen kann. Noch schwieriger wird das Verhältnis, wenn man den Boden der wirklichen Architektur als Kunst, als große Kunst, betritt. Wir müssen uns ja klar sein, daß dasjenige, was man im allgemeinen unter Baukunst oder Architektur versteht, kein einheitlich geschlossenes Wesen ist. Die Architektur ist gleichsam eine Sphinx, halb Tier und halb Mensch. Das, was der Baukünstler schafft, dient teilweise nur dem gemeinen Bedürfnisse und nur teilweise wirklich den hohen Idealen der Kunst als künstlerischer Selbstzweck. Als r e i n e Kunst kann nur der Kirchen- und Denkmalbau gelten; als halbe Kunst, das heißt, teilweise Lebenszwecken, teilweise idealer Kunststimmung dienend, sind der Burgen- und Palastbau, der Rathaus-, Museums- und Theaterbau zu erwähnen. Das Warenlager, das Massenzinshaus, die ganze sogenannte landwirschaftliche Baukunst, der Kasernenbau etc. haben mit reiner, idealer Kunst ebensowenig zu schaffen, als ledigliche Gebrauchsgegenstände, wie etwa eine Dampfmaschine, ein Ackerpflug oder irgend ein Werkzeug. Es liegt in der eigenartigen Stimmung und Richtung unserer Zeit, daß die reine, große Kunst: der Kirchenbau, die Tragödie, das große monumentale Freskobild, gegenwärtig nicht diejenige hohe Pflege und allgemeine Beachtung finden, welche ihr in früheren, idealer angelegten und nicht so sehr auf blos praktische Ziele gerichteten Zeitaltern zuteil wurden. Da aber der Monumentalbau und die monumentale Plastik denn doch auch heute nicht entbehrt werden können, so ist es der allgemein einreißenden Strömung, die Grundsätze der Kleinkunst auf die Monumentalkunst zu übertragen, gegenüber gewiß von großer Wichtigkeit, einmal diese Grundsätze der kleinen und der großen Kunst einander scharf gegenüberzustellen. Auf dem gesamten Gebiete der Kleinkunst gelten tatsächlich alle die Schlagworte der Sezession, die mit oft jubelnder Freude in jüngster Zeit entdeckt und zu Grundsätzen des modernsten Kunstschaffens gemacht worden sind. Alle diese Grundsätze gelten aber für die monumentale Kunst durchaus nicht. Wenn zum Beispiel in der Kleinkunstdichtung unserer impressionistischen Lyriker es gepriesen wird, daß ihr Gedanke zarter als der farbenflimmernde Staub auf den Flügeln eines Schmetterlings und ihre Sprache feiner als der Sang eines träumenden Vogels sei, und wenn die portugiesischen intimen Dichter sich selbst Nevelibates, das ist Wolkenwandler, nennen und man geradezu ekstatisch sich in das Mimosengefühl versenkt, das den Weltäther riecht und eine Sublimierung des seelischen Ausdruckes darstellt, so sind auf Sezession und Monumentalkunst (1903)

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einer solchen Grundlage kleine lyrische Novitäten von etwa momentan berauschender Art gewiß möglich. Aber was soll man mit solch momentanem Kleinzeug anfangen gegenüber Homer, Sophokles, Shakespeare, Richard Wagner? Ein ganzes Volk braucht gesunde, gewaltige Kunst; vom Weltäther kann es nicht leben; es braucht nahrhaftere Kost, geistige Volksnahrung! Zu derart feinen impressionistischen Kunststückchen gehören aber auch derart feine, empfindsame Nerven, so daß ein gewisses solches Problemchen immer nur ein dafür besonders begabter Künstler lösen kann. Dieser eine Einzige ist dann ein Unikum, sein Werk ein Unikum, und der Liebhaber, der es um hohen Preis erwirbt, wünscht eben ein solches Unikum. Und da tritt dann sachgemäß die Individualität des Künstlers in ihre Rechte. Da wird sie zur allein maßgebenden Norm. Ganz anders beim idealen Volkskunstwerk. Das kann jeder reproduzieren, wenn es einmal geschaffen ist. Schaffen aber kann es niemand, am allerwenigsten der einzelne Individualist, weil es nur aus der Tätigkeit der Gesamtheit des Volkes hervorwächst. Ein Volkskunstwerk wie die Homerschen Gesänge konnte nie und nimmer auf der Novitätenjagd erhascht werden, daran dichtete das ganze Volk durch viele Jahrhunderte. Die monumentale Volkskunst verlangt vor allem Stetigkeit der Entwicklung, starke Gesetzlichkeit, Stil und ein Zurücktreten des Autors hinter seinem Werke, so daß man nach ihm gar nicht fragt, an ihn gar nicht denkt. Das echte, große Volkskunstwerk ist naiv und weiß nichts von Autor und Zuhörer. Es ist keine Marktware, keine Modesache, sondern ein – scheinbar – Ewiges, wie die Natur selbst. Dem gegenüber ist die Kleinkunst, besonders auch in der Literatur, eine Unterhaltungssache von vorübergehendem, kurzlebendem Werte. Diese Unterhaltungskunst verlangt vor allem Beweglichkeit, Abwechslung, Neuheit, Individualität, Hervortreten des Autors. Die naturalistische Kleinkunst verhält sich somit zur idealen Monumentalkunst wie vereinzelte Wahrnehmungen und witzige Gedankensplitter zu einem geschlossenen philosophischen Weltanschauungssystem. In der großen Kunst ist, wie Goethe in „Wahrheit und Dichtung“ sagt: „der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes Anfang und Ende aller Kunst.“ In der Kleinkunst ist der Stoff Nebensache; das Wie der Darstellung, die Mache ist die Hauptsache. Sie schafft alle die literarischen und kunstgewerblichen Nippes, bei deren Anblick man momentan angenehm erregt wird, oft unwillkürlich herzlich lachen muß, weil es zu drollig ist, was wir da vor uns sehen. Und gerade das Individuelle erfreut hier hauptsächlich, regt an, macht Spaß, erscheint preiswürdig. So auch verhält

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es sich mit der Kleinbaukunst. Diese bürgerliche Baukunst ist gar nicht Kunst im eigentlichen Sinne, sondern gewerbliche Modesache, und dem zufolge ist ihr allerdings der Zweckbegriff, die Rücksicht auf Material und Konstruktion Hauptsache; ja sogar der Preis (an Geld) und die Herstellungszeit werden da ausschlaggebend, im Gegensatze zum monumentalen Kirchenbau, bei dem es zu allen Zeiten sogar Grundanforderung war, daß der Mensch, der hier sich flehend an das Höchste der Welt, an die Gottheit wendet, sein Bestes zu geben verpflichtet ist, das Kostbarste, das er besitzt. Also gerade hier ist es grundsätzlich verwerflich und g e g e n den inneren Sinn des Kunstwerkes, wenn man demjenigen Kirchenprojekt, wie bei einer gemeinen Marktware, den Vorzug geben wollte, welches das billigere ist. Das große Volkskunstwerk ist daher immer auch ein einziges, allein dastehendes, für das ganze Volk geltendes, während die kleinen Kunstwerke des alltäglichen Momentgebrauches sich schon durch die großen Ziffern, in denen sie erscheinen, als Marktware für den kleinen täglichen Gebrauch charakterisieren. So zählt zum Beispiel Wien gegenwärtig rund 34,000 Zinshäuser. Wenn das durchwegs – im Sinne unserer sezessionistischen Zinshauserbauer – Individualwerke sein sollten, so gäbe das auf sämtlichen Straßen und Plätzen ein derartiges Sich-gegenseitig-Überschreien und Brüllen, daß es für den Wanderer in einer Straße zum Verrücktwerden sein müßte. Ebenso sollen gegenwärtig in ganz Europa rund 40,000 Romanschriftsteller und Romanschriftstellerinnen leben, welche bereits mindestens einen Roman oder eine Novelle gedruckt haben. Dagegen besitzen wir seit mehr als hundert Jahren nur einen einzigen Goethe und einen einzigen Richard Wagner und seit mehreren Jahrhunderten keinen Shakespeare mehr. Ebenso hat vor etlichen Jahren der Sekretär der Düsseldorfer Künstlergenossenschaft herausgerechnet, daß Jahr für Jahr in ganz Europa, auf Kunstausstellungen neu ausgestellt rund 80,000 Ölbilder erscheinen. Solchen Ziffern gegenüber wird es begreiflich, daß diese einen Kauferfolg nur dann haben können, wenn sie individualisieren, wenn es dem Einzelnen gelingt, durch ganz besondere Mache, durch ganz besondere Impression als etwas Besonderes hervorzustechen. So ist denn auch in der Tat für die Kleinkunst seit jeher und zu allen Zeiten die Ungebundenheit, die Freiheit, Laune, Individualität eine wesentliche Eigenschaft gewesen, während umgekehrt die Haupteigenschaft monumentaler Kunst seit jeher die Objektivität, das Festhalten an der Tradition, der Stil gewesen ist. So zeigt es sich denn auch, daß das, was wir heute Sezession nennen, nicht im entferntesten etwas Neues ist, sondern zu allen Zeiten vorSezession und Monumentalkunst (1903)

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handen war, nur hat es sich nicht so sehr in den Vordergrund gedrängelt wie heute. Dieser zu allen Zeiten vorhandene Kleinstil hatte auch schon lange her einen bestimmten Namen. Es ist das der sogenannte Phantasiestil der Musterzeichner. Als auf der Pariser Weltausstellung vom Jahre 1878 zum ersten Mal die Musterzeichner zur Ausstellung berufen und in einer eigenen Klasse XI vereinigt wurden, da wurde diese Ausstellungsnovität von der Ausstellungsleitung mit ganz besonderem Nachdrucke als etwas Wichtiges in allen Aufrufen und Publikationen hingestellt. Da hieß es: „Diese bisher nur im Verborgenen arbeitenden Musterzeichner sind die Führer der Kunst­ industrie, in Wahrheit der Generalstab des kunstindustriellen Heeres.“ Diese Abteilung gab auch in der Tat ein interessantes Bild der Verhältnisse auf diesem Gebiete. Für unsere Frage beachtenswert ist nun der Umstand, daß die Mehrzahl dieser damals ausstellenden Musterzeichner oder, wie sie sich lieber nennen, „Dekorationsarchitekten“ oder „Dessinateure“ neben ihren Ausstellungsobjekten auch noch ihre Visitkarten samt Adresse anbrachten und in der Mehrzahl der Fälle eine Kundgabe ihrer Bereitwilligkeit beifügten, alle in ihr Fach einschlägigen Arbeiten zu übernehmen, und zwar in den verschiedensten Stilen, sowohl antik, als auch gothisch, romanisch, Renaissance und auch, wie die meisten ausdrücklich dazusetzten, im „Phantasiestil“. Diese Bezeichnung kommt auch heute noch in den Musterbüchern kunstgewerblicher Etablissements für Möbel, für Bucheinbände, für Bronzen etc. vor. Alle diese alten kunstgewerblichen Institute kennen noch den alten Phantasiestil der Musterzeichner des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie haben die Entdeckung noch nicht gemacht, daß man dafür heute Sezession sagt. Und es ist begreiflich, denn der alte Musterzeichner, der ja auch mit seinem Phantasiestil nur auf der Jagd nach Novitäten um jeden Preis sich befindet, unterscheidet sich wesentlich von dem dasselbe tuenden modernen Sezessionisten durch seine Bescheidenheit. Er wußte, daß er neben den großen Künstlern seiner Zeit eine kleine, bescheidene Rolle zu spielen habe. Nicht so der moderne sezessionistische Musterzeichner. Der ist, wenigstens in seiner eigenen Meinung, geradezu Kunstgott. Er redet nur von der Offenbarung des modernen Kunstgeistes, und wenn man zusieht, wovon soeben die Rede ist, so ist es ein Boudoir oder ein sezessionistischer Toilettetisch oder sogar bloß ein – Spucknapf, in dem diese neue Offenbarung in Erscheinung tritt. Er redet nur von Inspiration, aber die Inspiration, die da der Welt dargebracht wird, ist in Wirklichkeit eine sezessionistische – Seifenschale. Er redet von genialer Erfindung und sie ist – ein Photographierahmen oder ein Blumentopf. Von seinen eigenen Werken redet er nie anders als von Schöpfungen, und die

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Weltschöpfung ist ein Paravent, vulgo: Ofenschirm, nach der Terminologie der alten bescheidenen bloßen Musterzeichner. Aber selbst das Wort „Schöpfung“ ist ihm für seine erstaunlichen, himmelragenden Werke noch viel zu gering, er „gebiert“ sie. Man redet zwar schon lange und allgemein von der „Wiedergeburt“ der antiken Kunst, man kann auch reden von der Geburt der Tragödie oder vielleicht auch von der schweren Geburt eines neuen Zolltarifs, aber wenn schließlich sogar gemeine Zinshausfassaden geboren werden, dann hört sich die bürgerliche Gemütlichkeit endlich auf. Das Mißverhältniß zwischen Wollen und Können, zwischen innerer Absicht und Begeisterung einerseits und zwischen den wirklich künstlerischen Taten anderseits kann man sich bei der Sezession nicht groß genug vorstellen. Jedermann weiß es ja, wie unter diesem gemeinsamen Schlagworte „Sezession“ Wahres und Falsches, Schönes und geradezu sinnlich Abstoßendes, Gesundes und geradezu Wahnwitziges auf einen Haufen zusammengetragen ist, Weizen und Spreu durcheinander, daß man eine Schar Märchentauben brauchte, das alles ordentlich auseinanderzuklauben. Ja sogar bei einzelnen Künstlern zeigt es sich, daß sie, in das Fahrwasser der Sezession geratend, Verrücktestes neben ihre früheren guten Kunstwerke zu setzen sich nicht scheuen. Was für herrliche Werke haben wir zum Beispiel von unserem Klimt! Und trotzdem waren seine Beethoven-Tempelmalereien doch wahrlich moralisch und ästhetisch schlechtweg scheußlich. Soll man denn, weil man Klimt verehrt, auch so etwas verehren müssen? Oder umgekehrt, weil man in diesem letzteren Falle schlechterdings nicht mehr mitgehen kann, jetzt wieder den ganzen Klimt verwerfen? Ganz genau so verhält es sich mit Otto Wagner. Dieser ist gewiß ein bedeutendes Talent und hat uns oft genug ausnahmslos entzückt. Sein Museumprojekt steht aber ganz auf dem gleichen Standpunkte wie die Beethoven-Tempelmalereien von Klimt und würde, ausgeführt, ebensowenig zur Karlskirche passen wie Klimts Malereien zu einer etwaigen Wiederaufrichtung des Zeustempels von Olympia.1

Die Modelle für das Museum der Stadt Wien. Die seinerzeit so viel umstrittene Frage, ob überhaupt Modelle gemacht werden sollen, ist glücklich gelöst. Sie waren wichtig und sind ungemein wertvoll vor allem anderen zur Überraschung der Majoritätsjuroren. Diese erlebten 1

[Ende Teil 1.] Sezession und Monumentalkunst (1903)

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heute eine herzliche Freude; denn nun sind sie zweifellos vor der ganzen Öffentlichkeit mit ihrem seinerzeitigen fachlichen Urteil gerechtfertigt. Das Modell Schachners fesselt die Aufmerksamkeit und allgemein ist das Urteil, daß hier derjenige Wurf gelungen ist, der von der Konkurrenz erhofft wurde. Dagegen fällt das Otto Wagnersche Projekt wesentlich ab, und zwar in demselben Sinne, wie dies bereits im „Neuen Wiener Tagblatt“-Feuilleton vom 12. Juni vorigen Jahres vorhergesagt wurde, wo es hieß: „Nur weil sich Wagner immer mehr und mehr in die Sezession verbohrt, fiel sein letztes Projekt bedeutend schlechter aus als das der Vorkonkurrenz, das ohnehin auch schon erheblich schwächer war als das aus eigenem Antriebe vor der Ausschreibung verfaßte. Und – zweifeln wir nicht daran – wenn Otto Wagner die Ausführung errungen hätte, diese würde wieder schlechter ausfallen als selbst das dritte Projekt; denn es würde neuerdings einen Fortschritt nach abwärts auf der schiefen Ebene bedeuten.“ Das ist nun in Wirklichkeit eingetroffen; dieses vierte Projekt ist neuerdings schlechter als das dritte. Die krummlinig geschwungene Glaswand ist senkrecht gestellt und mit denselben geraden Eisensprisseln konstruiert wie im dritten Projekt, die bereits allen Beschauern – mit alleiniger Ausnahme der Sezessionisten – mißfallende Eisenüberbrückung. Dadurch bekommt der ganze Vorbau der Empfangsräume den Charakter eines Kanarienvogelhauses. Die noch sezessionistischeren Goldbronze-Engeln hocken derartig massenhaft auf den Dächern herum, daß dieses Motiv ebenfalls noch schlimmer wirkt als die früheren Engelmodelle. An vier Eckpavillons ist das Motiv der durchbrochenen vergoldeten Kuppel vom Ausstellungshause der Sezession wiederholt. Das übrige ist so massenhaft mit vergoldeten Bronzen und Treibarbeiten überhäuft, daß dadurch die Gesamtwirkung eines putzigen Spielwarenkastens zur Erscheinung kommt. Die Wirkung ist derart aufdringlich, daß Wagner selbst es fühlte, daß man einen derartigen Kontrast nicht einseitig neben die Karlskirche stellen könne, weshalb er mit ebenso reichlicher Vergoldung und demselben Gesamteffekt einen großen Zinspalast auf die entgegengesetzte Seite der Karlskirche hinüberstellte. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß für einen derartigen Bau sich an dieser Stelle kein Bauherr findet; denn es wäre nur als Warenhaus ersten Ranges zu denken, wozu hier die Verkehrsverhältnisse durchaus nicht gegeben sind. Man hatte also in diesem Modell ein trauriges Beispiel vor Augen, bis zu welchem Extrem die grundsätzliche Stilverachtung führen muß, wohin man gelangt, wenn man der Ansicht huldigt, daß Museen und Kunstbibliotheken zugesperrt werden sollen, damit die Kunstjünger die veralteten Kunstformen

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

nicht sehen und daher in der Schaffung des Neuen nicht beirrt werden; wohin man gelangt, wenn man glaubt, daß niemanden Neues einfällt, der die Alten studiert hat, sondern daß das Kunstneue nur aus nervöser Impression entspringen könne; wenn man absolute Schönheitswerke nicht mehr anerkennt und daher eine so nervöse Angst vor dem bloßen Wortspiel hat, daß man schließlich selbst den sezessionistischen sogenannten Stil nicht mehr als Stil anerkennt, sondern den ewigen Modewechsel von Jahr zu Jahr als das allein Richtige bezeichnet. Bis zu diesem Punkt ist ja die Moderne bereits vorgedrungen. Wie reimt sich das nun aber zusammen mit dem anderen Schlagworte der Sezession, daß sie die lebendige Baukunst in unserer Zeit sein will, indem sie die Behauptung aufstellt: Die Erkenntnis habe sich endlich Geltung verschafft, daß die Baukunst nicht länger von dem Stilraub leben kann, dem die Architekten einer absterbenden Generation fröhnten, daß sie vielmehr sich um den Ausdruck ihrer eigenen Zeit bemühen müsse? Wechselt denn der Inhalt unserer Zeit, als Kunstepoche betrachtet, auch Jahr für Jahr? Nein! Wir weisen es mit aller Entschiedenheit zurück, daß dieses Sammelsurium, Sezession genannt, überhaupt ein neuer Stil ist; ebenso, daß gerade diese vergängliche Modeerscheinung der künstlerische Ausdruck unserer Zeit sei. Unsere Zeit müßte sich geradezu schämen, wenn derartige Kunstformen, die bar sind allen Ernstes, aller Tiefe, alles großen Inhaltes, der Ausdruck unserer Zeit sein sollten, die es in ihren großen Bestrebungen und ungeheuren Leistungen wahrlich nicht verdient, derartig niedrig taxiert zu werden. Und nun stehen wir vor der Frage, wie ein solches Bauwerk neben die Karlskirche paßt. Das hauptsächlichste Schlagwort der Sezessionisten, womit sie vor allem auch die Zugehörigkeit eines sezessionistischen Bauwerkes zur Karlskirche beweisen wollen, ist ja gerade der Trugschluß, daß dieser Stil der Stil unserer Zeit sei, und daß wir daher nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet seien, unserer Zeit die Ehre zu geben, neben den Dokumenten früherer Jahrhunderte zu erscheinen. Aber dem gegenüber ist dieser von allen Seiten her kompilatorisch und schemenhaft zusammengestoppelte Stil nicht nur durchaus nicht der Ausdruck unserer Zeit, sondern er entbehrt auch den Charakter des Monumentalen; denn er ist nicht naiv, nicht historisch gewachsen, nicht bodenständig, nicht ehrlich. Und diese Unaufrichtigkeit, diese Unehrlichkeit ist gleichfalls ein charakteristisches Merkmal der Sezession. In keiner Kunstschule von was immer für einer Zeit kann man eine derartige Fülle von Widersprüchen zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem, was man angeblich will und anstrebt und zwischen dem, was man wirkSezession und Monumentalkunst (1903)

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lich weiß, finden. Es ist daher auch bezeichnend, daß man selbst mit einem gebildeten Sezessionisten in aller Ruhe ein Gespräch über Kunst schlechterdings nicht führen kann; denn, wenn zehn Leute vor einer roten Wand stehen und sie für rot erklären, so ist ein Moderner im stande, zu behaupten, daß sie grün sei. Wenn man ihn fragt, was soll dieser Buchschmuck hier bedeuten, so sagt er: „eine Laune“, „eine momentane Eingebung“, „ein Kunstwerk also“, weiter nichts. Nun ja, sagt man, ich möchte aber wissen, warum einem so etwas Sinnloses gefallen soll. Man möchte wissen, worin da das Schöne liegt. Darauf stolz der Sezessionist: „Das Schöne erklären, was soll das heißen? Ein Werk, dessen Schönheit man erklären kann, ist ja überhaupt gar kein Kunstwerk; denn am wahren, lebendigen Kunstwerk läßt sich niemals etwas erklären, weil es nur Ausdruck der unbewußten Triebe und Empfindungen der künstlerisch erregten Seele ist.“ Findet man ein sezessionistisches Kirchenprojekt in der ganzen Stimmung nicht kirchlich, so sagt er entrüstet: „Gerade das ist der Ausdruck des echtesten Kirchlichen, nur hat sich die Welt und das philiströse Publikum noch nicht daran gewöhnt, aber der Klerus selbst fängt bereits an, es allmählich zu begreifen.“ Wenn man staunend vor einem Theaterprojekt eines Modernen steht und es für ein Ausstellungsgebäude oder eine Markthalle, aber durchaus für kein Theater hält, so sagt er mit mitleidigem Lächeln: „Gerade so muß ein Theater sein, nur verstehen das die alten Stilzöpfe noch nicht.“ Wundert man sich wieder, daß ein anderer Modebazar als Fürstenpalast betitelt ist, so spricht der Sezessionist tief empört: „Entschuldigen sehr, gerade das ist echt fürstlich, nur geht derlei unseren veralteten Kunsthistorikern noch nicht ein.“ Sagt man ganz erstaunt: Das ist doch kein Justizgebäude, sondern ein lustig florierendes Unterhaltungsetablissement, so heißt es wieder: „Gerade das zeigt uns förmlich hypnotisch-suggestiv empfunden das innerste Wesen der Rechtsprechung.“ Natürlich der modernen, welche die konservativen Rückschrittler nur noch nicht zu fassen vermögen. Und wenn man dann endlich wieder auf die leidige Stilfrage zurückkommt und sich zu erwähnen erlaubt, daß Stilbildung mit Verwerfung von Traditionen überhaupt gar nicht möglich ist, so stimmt er emphatisch zu: „Ganz richtig, wir werden auch, wir sind noch nicht, wir erreichen aber das Ziel zweifellos; denn auch wir haben Tradition, aber nur unsere eigene.“ Und so gibt er wieder sämtliche großen Natur- und Kunstgrundsätze zu, jedoch mit der Behauptung, daß gerade darin die Stärke der Sezession bestünde. Solche Diskussionen sind geradezu qualvoll, auch zwecklos und man gibt es endlich vollständig auf, mit einem Modernen sich auseinanderzusetzen.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Dasselbe gilt auch hier. Fortwährend lesen und hören wir immer dieselben Schlagworte für das sezessionistische Projekt und gegen das Barockprojekt Schachners. Immer wieder die schon bis zum Überdrusse gehörte Phrase von der lebendigen Baukunst unserer Zeit. Immer und immer wieder dieselben längst schon entkräfteten Vorwürfe gegen das Schachnersche Projekt, daß seine Pilasterstellung höher sei als die vom Portikus der Karlskirche. Längst schon wurde darauf hingewiesen, daß die Säulenstellung dieses Portikus dennoch viel stärker wirkt in der Natur als jede noch so große Pilasterstellung, wegen der Freistellung der Säulen und der tiefen Hallenschatten hinter ihnen. Das nützt natürlich nichts; denn der Sezessionist ist mehr Advokat als Künstler und gibt grundsätzlich nichts zu, was ihm nicht in den Kram paßt. Nun stehen Museumbau und Karlskirche wenigstens im Gipsmodell vor unseren Augen, und da zeigt sich sogar in dem verkleinerten Maßstabe die weit stärkere Wirkung des herrlichen Portikus der Karlskirche im Gegensatze zu bloßen Mauerpilastern und eingeblindeten Säulen. Noch stärker wird zuverlässig das Übergewicht des freien Portikus in der Naturausführung sein. Dazu kommt noch, daß die Modelle in drastischer Weise die Notwendigkeit vor Augen legen, die Straßenlöcher rechts und links neben der Karlskirche architektonisch zu schließen, was später einmal leicht durch Herüberführung einer Säulenarkade bewerkstelligt werden kann. Die hiebei verwendeten Säulen müßten unbedingt niedriger sein, als die freistehenden Säulen des Kirchenportikus. Es wäre sehr erwünscht, eine derartige Kolonnade dem Gypsmodell noch einzufügen; denn dann würde die volle Harmonie sämtlicher Säulen und Pilaster der Karlskirche und des Schachnerschen Projekts erst recht in die Augen springen. Die kleinsten Säulen wären die der Arkaden, die nächst größeren und besonders wirkungsvollen die vom Kirchenportikus, noch größere die Pilaster am Kirchenschiff, mit denen die Pilaster an den Museums-Nebentrakten genau übereinstimmen. Noch etwas größer die Pilaster am Mittelbau des Museums und am weitaus größten, alles überragend und beherrschend, die zwei turmförmigen Kolossalsäulen der Karlskirche. Es zeigt sich also deutlich, daß die Säulenstellungen der Kirche doch das Ganze weitaus beherrschen und an Effekt überragen, daß aber daneben der stilistisch so ausgezeichnet harmonisch zur Karlskirche passende Museumbau auch in Dimensionen gehalten ist, welche groß genug sind, um auf dem ungeheuer mächtigen Platze nicht kleinlich zu erscheinen. Und das ist ja gleichfalls notwendig; denn dieser Museumbau ist ja für den vom vierten Bezirk herabströmenden Massenverkehr zunächst über den weiten Platz hin allein sichtbar. Es muß daher notwendigerweise getrachtet werden, daß er auch alSezession und Monumentalkunst (1903)

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lein künstlerisch zur Geltung kommt. Daß dies ohne jedwede Schädigung der Karlskirche bei dem Schachnerschen Projekt der Fall ist, kann jeder auch aus der Wirkung der beiden Durchfahrten unter den Museumbrücken einerseits und der beiden Durchfahrten durch die Glockentürme der Karlskirche sehen. Die Durchfahrten unter den Museumbrücken haben Straßenbreite, die Durchfahrten der Karlskirche sind bedeutend schmäler, und trotzdem wirken sie weit mächtiger, packender wegen ihrer Überhöhung, ihrer Proportionalität, ihrer ganzen architektonischen Ausstattung und wegen des großzügig komponierten Zusammenhanges mit allen übrigen Teilen des herrlichen Kirchenbaues. Ähnliche Beziehungen günstigster Art zeigt das Modell in Bezug auf die Kuppel. Die niedrige Flachkuppel des Museums kommt wegen ihrer gänzlich verschiedenen Form so gar nicht in Vergleich mit der hochaufragenden mächtigen Kirchenkuppel, daß es geradezu unbegreiflich erscheint, wie daran Anstoß genommen werden konnte. Zudem wird die Wirkung in Natur eine noch verschiedenere und günstigere sein; denn die Museumkuppel ist eine Glasoberlichte im Gegensatze zur dunkelfarbigen kupfergedeckten Kirchenkuppel. Noch soll nicht unerwähnt bleiben, daß diese Kuppel, wie es besonders das Modell drastisch zeigt, in einer Weise schon von außen her die Grundrißlösung des Inneren deutlich erkennen läßt, wie dies eine Hauptforderung konstruktiv streng gedachten Monumentalbaues ist, so daß man anerkennen muß, daß hier dem Künstler ein Wurf ersten Ranges gelungen ist. Allen solchen Vorzügen gegenüber Vogel Strauß-Politik spielen zu wollen, geht doch auf die Länge nicht an, besonders da an der Hand der Modelle jetzt auch das große Publikum in der Lage sein wird, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Nicht vergessen soll jedoch werden, daß die Ausgestaltung des leeren Platzes in dem Modell von Otto Wagner eine vorzügliche ist; sowohl die Wegräumung alles höheren Baum- und Buschwerkes als auch die Terrainsenkung und das allmähliche Ansteigen desselben gegen die Karlskirche ist fein empfunden und zeigt uns noch den alten, respektive jungen Otto Wagner, der uns seinerzeit ja manche architektonische Freude bereitet hat.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

An unsere Leser (1904) Vorwort der Herausgeber Camillo Sitte, Theodor Goecke, in: Der Städtebau, Jg. 1 (1904), Heft 1, S. 1–4. Der Text ist nicht im Sitte-Nachlass enthalten.

Jede Wissenschaft, jede technische Fachgruppe ist seit jeher bestrebt, sich über die Ziele ihrer ganzen Tätigkeit vollkommene Klarheit zu verschaffen, die geschichtliche Entwicklung des Faches zu ergründen, alle Hülfsmittel einer gedeihlichen Weiterentwicklung zusammen zu fassen und eine entsprechende Abgrenzung gegen die Nachbargebiete herzustellen. Dazu dienen nicht bloß Einzelstudien, sondern, wenn bereits ein Heer von Mitarbeitern im Dienste einer bestimmt abgegrenzten Forschung oder praktischen Betätigung steht, vor allem die großen Sammelbecken der Fachzeitschriften, Archive und Jahrbücher, in welchen sich die tausendfältige Einzelarbeit zu einem zusammenschließenden Ganzen vereinigt. Ein solches großes Gebiet technischer, künstlerischer und volkswirtschaftlicher Tätigkeit ist der Städtebau, allerdings als eine in sich abgerundete Einheit erst in jüngster Zeit erkannt und gepflegt. Der Städtebau ist die Vereinigung aller technischen und bildenden Künste zu einem großen geschlossenen Ganzen; der Städtebau ist der monumentale Ausdruck wahren Bürgerstolzes, die Pflanzstätte echter Heimatsliebe; der Städtebau regelt den Verkehr, hat die Grundlage zu beschaffen für ein gesundes und behagliches Wohnen der nun schon in überwiegender Mehrheit in den Städten angesiedelten modernen Menschen; hat für günstige Unterbringung von Industrie und Handel zu sorgen und die Versöhnung sozialer Gegensätze zu unterstützen. So wie das gesamte staatliche, bürgerliche und individuelle Leben den Inhalt des täglichen Gebahrens und Gehabens einer städtischen Bevölkerung bildet, so ist die bauliche Anlage und Ausgestaltung der Stadt hierfür die äußere Form, das Gefäß, das diesen Inhalt einschließt und deshalb gehört dessen naturgemäße richtige Entwicklung mit unter die wichtigsten Aufgaben moderner Kulturarbeit; der Städtebau hat nicht bloß individuellen und kommunalen Interessen zu dienen, sondern hat geradezu volkstümliche und allgemein staatliche Bedeutung. Der Städtebau ist eine Wissenschaft, der Städtebau ist eine Kunst mit ganz bestimmten Zielen der Forschung, ganz bestimmten großen Aufgaben praktischer Ausführung. Und dieses große Fach, in dem eine ungezählte Menge von Technikern, Künstlern, Nationalökonomen, Hygienikern, Sozialpolitikern, Verwaltungsbeamten und Mitgliedern gesetzgebender Körperschaften tätig ist, an dem, wenn auch An unsere Leser (1904)

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nur gleichsam als Nutznießer alle Bewohner unserer Städte Anteil haben, dieses wichtige und in sich abgeschlossene Fach besitzt noch nicht einmal eine ihm allein dienende Zeitschrift. Dieser geradezu unglaubliche Zustand wird nur begreiflich, wenn man bedenkt, daß die Befreiung des Städtebaues aus dem Banne des bloßen gedankenlosen Herabliniierens schematischer Straßennetze und die Zusammenfassung aller der vielen hier einschlägigen wichtigen Fragen künstlerischer, gesundheitlicher, wirtschaftlicher und auch volkstümlich ethischer Natur und das Studium der alten Meisterwerke der Städtebaukunst, also auch seiner Geschichte, erst unserer jüngsten Zeit, erst den letzten Jahrzehnten angehört. Diese Lücke soll durch unser Unternehmen nun ausgefüllt werden. An überreichlichem Stoff wird es uns wahrlich nicht fehlen, denn, wie jeder Eingeweihte weiß, befinden wir uns mitten in einem Übergange von alten und nicht mehr haltbaren Annahmen, Lehrmeinungen und Schlagworten zu neuen nach Ausdruck und Betätigung ringenden Grundsätzen; mitten in einem heftigen Widerstreit der Ansichten auf theoretischer Seite und der Ausgangspunkte des Schaffens auf praktischer Seite. Im allgemeinen sind zwar für eine große Menge von Fragen die rein wissenschaftlichen Unterlagen bereits erörtert, ja sogar soweit geführt, daß mit hinlänglicher Sicherheit Schlußfolgerungen für eine richtige naturgemäße Art des Städtebaues daraus abgeleitet werden können; aber es ist dies wohl nur hier und da auch wirklich geschehen, weil jeder einzelne Fachmann vorläufig meist noch auf seinem eigensten Gebiete denkt und schafft und vielfach uns noch der Zusammenhang, die Vereinigung aller der schon in Ordnung gebrachten Einzelheiten zu einem festgefügten Ganzen fehlt. Es sei hierzu nur einiges als Beleg in Erinnerung gebracht. Z.B. die Frage der Straßenanlage. Da gilt ja bekanntlich noch heute in weitesten Kreisen, welche die Entwicklung auf diesem Gebiete nicht mitgemacht haben, das Schlagwort von den schönen gleichbreiten und schnurgeraden Straßen. Die Unterlage hierfür gab seinerzeit die bahnbrechende Schule der Hygiene des großen Pettenkoffer [sic!], seiner Schüler und Zeitgenossen, denen wir die Untersuchung über die Wichtigkeit von Trockenheit, Wärme, Luft und Licht für unsere Gesundheit verdanken. Diese Forschungsergebnisse stellen Wahrheiten dar, welche als solche somit heute auch noch gelten und wohl immer gelten werden. Nicht so die in der Eile daran geknüpften Folgerungen, daß man, um möglichst viel Licht und Luft in die Wohnungen zu bringen, durchgängig möglichst breite Straßen oder überall zwischen den Häusern Bauwi-

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

che anlegen müsse zur Durchlüftung auch des Inneren der städtischen Baublöcke, was sich dann schließlich zu dem geradezu packenden Schlagworte verdichtete, daß die schönen breiten Straßen und Plätze die Luftbehälter, ja die Lungen der Stadt seien. Heute dagegen weiß man, daß gesundheitsschädliche Spaltpilze in der Luft gerade am Straßenstaub, der an sich selbst auch schon schädlich genug ist, haften und bei dessen Aufwirbeln in den windigen breiten Straßen überall hin und durch die Bauwiche sogar schädlicherweise in die Hausgärten verbreitet werden, und der moderne Hygieniker sagt, daß „vom hygienischen Standpunkte aus die Straße nur gewissermaßen ein notwendiges Übel sei.“ Das bedeutet doch eine volle Frontänderung, wie sie nicht deutlicher gewünscht werden könnte. Von eben solchen Frontänderungen wimmelt es aber geradezu auf dem Gebiete des Städtebaues und fast überall stehen sich auch die denkbar verschiedensten Anschauungen schroff gegenüber: so in der Frage der Zonenbauordnung, welche von den einen als das Allheilmittel gegen allen Bauwucher, gegen alle Miethaus- und Zinsspekulation, gegen alles Wohnelend gepriesen und daher in möglichster Ausdehnung verlangt wird, während die andern sie als Zutreiberin der Grundspekulation und der Bauringe verwerfen. Ebenso steht es mit der Einführung der Enteignungsgesetze und der Grundsteuerreform, welche von der einen Seite so strenge als möglich gefordert, von der anderen Seite als Rechtsbruch und Vermögensbereicherung geradezu leidenschaftlich bekämpft werden. Ganz ebenso verhält es sich mit der Erbpacht, mit der kommunalen Bodenpolitik, mit der Frage der Ausnutzung städtischen Baugrunds überhaupt; mit den Bauerleichterungen der Bauordnungen; mit den Grundsätzen der Besiedelung, ob nach Berufsvierteln oder nach althergebrachter Bevölkerungsmischung; mit der Unterbringung öffentlicher Bauten, den zulässigen Grenzen der Erhaltung alter Denkmäler und der Pflege moderner Kunst. Mindestens ebenso bedeutsam wie diese Umkehrung von Anschauungen und Grundsätzen in jüngster Zeit ist auch die allenthalben platzgreifende Vertiefung in die Einzelheiten der vorliegenden Aufgaben. So wird die früher übliche Normalbreite der Straßen immer mehr und mehr fallen gelassen. Man sieht ein, daß auch schmale Straßen für besondere Zwecke, wie für ruhige Wohnviertel, zwischen niederen Einfamilienhäusern, ihre Vorzüge haben, daß auch an Straßengrund überhaupt gespart werden müsse, daß man im Gegensatz zu wenigen Normalbreiten besonders in großen Städten eine Fülle von Abstufungen machen muß von außergewöhnlich breiten Hauptverkehrsstraßen, bis sogar gelegentlich zu bloßen Gehwegen; An unsere Leser (1904)

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man verlangt nicht mehr, daß man vor jedem Kellerloch vierspännig vorfahren kann. Man verlangt vielmehr eine weitgehende Teilung des Verkehres und des Straßentypus, man verlang Zählungen des Fußgänger- und Wagenverkehres, nach Bedarf gesonderte Radfahrwege, Reitsteige, Lastenstraßen, in Fabrikstädten besondere Arbeiterwege mit Baumschatten, Ruhebänke, Ausweitungen für Wartehallen, geräuschloses Pflaster, hie und da Brunnen und Pflanzungen von Strauchwerk und Bäumen u.dgl.m. Diese liebevolle Vertiefung in die Einzelheiten brachte auch das Aufwerfen von einer Menge besonderer Fragen mit sich, an die man vor nicht allzu ferner Zeit einfach gar nicht dachte, so die Frage nach der richtigsten Ausbildung von Straßenkreuzungen, der Straßenführung in hügeligem Bauland, der Durchbildung konkaver und konvexer Straßen, der Verkehrsentlastung durch Paral­ lelstraßen, der Führung von Wassergerinnen entweder an offener Straße oder mitten durch die Baublöcke, der Berücksichtigung der Wohndichte an beiden Seiten, der Berücksichtigung des Klimas, der Winde, der Besonnung, des Ortsüblichen, der Aussichtspunkte und Perspektiven, der Herstellungsund Erhaltungskosten, der Spaziergänge und sogar der Möglichkeit stärkerer Ansammlung von Schaufenstern ohne Verkehrsstörung, der besonderen Bedingungen der Straßenführung bei Brückenköpfen und Bahnhofplätzen, der Eignung für Straßenbahnen und von noch vielem anderen. Das alles führte zu der Überzeugung, daß mit dem hergebrachten geometrischen Schematismus des Straßenanlegens ganz gründlich gebrochen werden muß, daß möglichste Freiheit im einzelnen zu gewähren ist und daß nicht nur krummlinige Straßenzüge anerkannt werden müssen, sondern auch ungleiche Breiten, unsymmetrische Querprofile nebst gelegentlichen Unregelmäßigkeiten der Baufluchten und der Bürgersteigbreiten, wenn örtlich ein entsprechender Grund dazu vorhanden ist. Überall soll Natur und Kunst, geschichtliche Erfahrung und frisch pulsierendes Leben Hand in Hand gehen und die trockene langweilige Schablone gebrochen werden, so daß auch wieder jede Stadt je nach ihrer Lage und nationalen Eigenart auch ihren besonderen Charakter nach Anlage und Bauart erhält und nicht alle Neustädte in der ganzen Welt denselben nüchternen Ausdruck bekommen, wie aus demselben Fabriksmodell herausgestanzt. Während also auf der einen Seite die Vergangenheit der Städte zu berücksichtigen, in ihrem Sinne weiter zu schaffen ist, soll auch der andern Seite, auch den veränderten Verhältnissen Rechnung getragen werden, die sich namentlich in der Tatsache äußern, daß heute der eigene Bau durch den Besitzer seltener, die gewerbsmäßige Herstellung der Miethäuser und damit auch eine gewisse Gleichartigkeit des Äußern fast die Re-

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

gel geworden ist, die in den Straßenwandungen auch einen entsprechenden Ausdruck verlangt. Hier kommt es auf eine entsprechende Gruppierung der Massen an. Von nicht minderer Bedeutung sind aber noch eine Reihe von Fragen, die erst im Auftauchen begriffen sind, deren Bearbeitung noch kaum in Angriff genommen ist. Es sei da nur erwähnt die Frage nach der Form und der absoluten Größe der Baublöcke. In der Zeit der Normalstraßen von gleicher Breite und Lage entwickelte sich folgerecht damit zusammenhängend auch eine Normalform und Normalgröße der Baublöcke und dabei ist es im ganzen und großen bis heute auch geblieben. Gerade dieser Schematismus war aber für eine naturgemäße Entwickelung des Städtebaues von noch unheilvolleren Folgen wie der Schematismus des Straßennetzes. Gestaltet man überall dieselben Blockgrößen und Blockformen und kommen dazu noch obendrein die gleichen Bauordnungsvorschriften, dann darf man sich schlechterdings nicht wundern, daß dann bei der Bebauung nichts anderes entsteht, als das öde Einerlei des Häusermeeres von unabsehbar sich aneinanderreihenden Mietkasernen; dann muß nicht nur die Wohnung des Reichen ebenso wie die des Armen in die Mietkaserne, sondern auch der kleine Handwerkbetrieb mitsamt seinen etwaigen Kleinmotoren wandert in den Mietkasten; der Kaufladen und der Spediteur ziehen in den Mietkasten und wo ein Umladehof nicht zur Verfügung steht, verstellen und unterbinden die schweren Lastwagen den Straßenverkehr; selbst der Großhändler und Großindustrielle, wenn sein Geschäft an das Stadtinnere gebunden ist, muß in den Mietkasten hinein und sogar Schulen, Ämter und allerlei Vereine und wer weiß, was sonst noch alles, steckt fest im Mietkasten. Dieses einförmige Städtebausystem bietet doch wahrlich kein ideales naturgemäßes Entgegenkommen gegen die so verschiedenartigen Bedürfnisse der Bevölkerung dar? Ebenso schlimm steht es bei diesem Baublockschema mit der zweckmäßigen und zugleich wirkungsvollen Unterbringung aller öffentlichen Gebäude, Brunnen und Denkmäler und was sonst noch eine individuelle Behandlung von vornherein fordert. Der freie natürliche Städtebau braucht unbedingt nebst der Individualisierung des Straßennetzes auch eine Individualisierung der Baublockformen und -größen. Dieses wichtige Kapitel des Städtebaues ist noch vollständig neu zu bearbeiten. Es schließt das die andere Frage nach der Verwertung der bedeutenden Innenfläche großer Baublöcke in sich. Auch dieses fruchtbare Gebiet ist noch kaum in Angriff genommen worden, vorerst nur angeregt durch die hie und da vorgenommene Einführung der sogenannten „inneren, rückwärtigen Baulinie“. Auch solcher Fragen, die für uns ganz neu sind, obAn unsere Leser (1904)

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wohl die Geschichte des alten Städtebaues auch hier bereits mustergiltige Lösungen enthält, gibt es genug und da diese eben überhaupt neues fordern, so werden wir hier auch mit der vielfach beliebten Durchschnittsmethode auf Grund von Fragebogen nicht auskommen, denn darnach schallt es aus dem Wald nur ebenso zurück, wie wir hineingerufen haben. Hier aber wird es heißen: selbst forschen, selbst denken, selbst schaffen. Wir stehen an einem Wendepunkte auf diesem Gebiete und alles hängt davon ab, daß wir die richtige Lösung finden und nicht neuerdings auf Abwege geraten. Bei solcher Erkenntnis ist es geradezu bedrückend zu wissen, daß gerade jetzt laut und dringend der Ruf erschallt nach Neuverfassung von Bauordnungen, nach möglichst strengen und tief in alle Grund- und Bauverhältnisse einschneidenden Enteignungsgesetzen; daß gerade jetzt der Entwurf staatlicher Wohnungs- und Fluchtliniengesetze mit bindenden Verfügungen für den Städtebau in Vorbereitung sich befindet. Können denn diese Gesetze und Verordnungen jetzt, in dieser Übergangsperiode, in diesem Wirrsal der Meinungen das Richtige treffen; jetzt, wo die wissenschaftlichen Vorarbeiten noch nicht abgeschlossen, manches noch gar nicht einmal in Angriff genommen ist, wo praktische bewährte Erprobungen noch so wenige vorliegen, wo alles in Schwebe steht, wo alles erst im Ausreifen begriffen ist?! Und doch kann man sich der Anerkennung der Notwendigkeit, daß diese Gesetze und Verordnungen erscheinen müssen, nicht verschließen, denn die jetzt noch zu Recht bestehenden sind in manchen Einzelheiten denn doch schon nicht mehr zweckmäßig, sondern entschieden veraltet, entschieden verbesserungsbedürftig, entschieden schädlich. Es muß besseres an ihre Stelle gesetzt werden. So bleibt denn nichts anderes übrig, als mit geschlossener Kraft, mit dem Aufgebote äußerster Energie noch in letzter Stunde so viel als möglich zu erledigen und ins Reine zu bringen; und dazu eine Sammelstätte für die Einzelarbeiten aller mitbeteiligten Fachmänner zu schaffen und zugleich ein Organ zur Belehrung und Anregung aller Mitbeteiligten: das ist der Zweck unserer Monatsschrift: Der Städtebau. Wir werden alle Teile des Städtebaues behandeln: Geschichtliches, Bibliographisches, Besprechungen neuester Veröffentlichungen und Entwürfe, Wettbewerbe, Personalien, Beantwortungen von Anfragen des Städtebaues, alles jedoch nur in Hinblick auf die eigensten Aufgaben des Faches, also hauptsächlich im Hinblick auf Lageplanverfassung mit Einschluß der Haustypen und deren passender Unterbringung in den Baublöcken und was sonst

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

noch damit zusammenhängt, also nur mit Ausscheidung aller derjenigen Einzelheiten, die ohnehin schon in großen Ingenieurfachzeitschriften oder Kunstblättern oder in den Zeitschriften für Wohnungswesen eine Stätte besonderer Behandlung finden. Wir erhoffen die Mitarbeit aller unserer Fachgenossen und die Kenntnisnahme unserer Untersuchungen und Mitteilungen durch alle an der Sache Beteiligten, und wenn uns dies in hinreichendem Maße zu erringen gelingt, dann sind wir überzeugt, daß dadurch Ersprießliches und Segensreiches geleistet werden wird auf diesem großen herrlichen Gebiete des Städtebaues.

An unsere Leser (1904)

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Die Sammlung von deutschen Stadtplänen auf der Dresdner Städteausstellung (1904) Der Städtebau, Jg. 1 (1904), Heft 9, S. 137–139. Der Text ist nicht im Sitte-Nachlass enthalten.

Jeder, der auf was immer für einem Sondergebiete städtischer Fürsorge vergleichende Studien anstellen will, kommt im Verlauf seiner Arbeit irgend einmal dazu, möglichst zahlreiche Stadtpläne vergleichen zu sollen. Daher ist der Wunsch nach Anlegung eines „D e u t s c h e n S t a d t p l a n b u c h e s “ schon so vielfach in jüngster Zeit ausgesprochen worden und die Leitung der Dresdner Städteausstellung hat sich auch in dieser Richtung ihrer Aufgabe bewußt gezeigt, daß sie die Zusammentragung einer solchen Stadtplansammlung in die Hand genommen hat. Diese Sammlung, in großen Klebebänden in einem eigenen Schrank der I. Abteilung Gruppe A untergebracht, gewährte zugleich ein Spiegelbild der ganzen Ausstellung und auch des dermaligen Standes der Städtebauforschung, der Theorie und Praxis dieses großen Faches. Sowie die Dresdner Ausstellung selbst ein so mächtiges Bild aufrollte, daß man ihm zunächst überrascht und gefesselt gegenüberstand, bei eingehendem näheren Zusehen sich aber alsbald zeigte, daß im Verhältnis zu der ungeheuren Menge des Vorhandenen hier sozusagen nur Stichproben vorliegen; ebenso verhält es sich mit der hier in verdienstvollster Weise z u m erstenmal

versuchten

Zusammenbringung

eines

deut-

schen Stadtplanbuches. Abgesehen davon, daß als Unterlage für alle die vielfach wünschenswerten vergleichenden Stadtplanstudien nicht bloß deutsche Stadtpläne gesammelt werden müssen, sondern ebenso englische, französische, amerikanische, italienische usw. und nicht minder von europäischem Einflusse noch freie orientalische, so ist es gleichfalls eine sehr ausgiebige Beschränkung der Arbeit, wenn bloß die neuesten Pläne vereinigt werden, während zur Ergründung der Geschichte des Städtebaues auch alte Pläne der Renaissance, des Mittelalters bis ins Altertum zurück aufgesammelt werden müßten, eine Arbeit, die noch nirgends im großen Stile in Angriff genommen wurde. Nur örtliche Geschichtsund Altertumsvereine, Städtische und Provinzialmuseen, Archive u.dgl. besitzen ein meist zufällig zusammengebrachtes Inventar von alten Stadtplänen, Stadtansichten und Darstellungen von Plätzen und wichtigen Straßen aus älterer Zeit, aber an eine Verwertung dieses zerstreuten Materials, das auch nur durch die Ortsforschung aufgeschlossen und nutzbar gemacht werden kann,

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

ist man nur äußerst selten hier und da herangetreten, und die G e s c h i c h t e d e s S t ä d t e b a u e s ist ein heute noch ungeschriebenes Buch. Aber auch in dieser Beschränkung zeigt diese erste Sammlung vor allem nur, daß wir gedruckte, für jedermann erhältliche, Pläne in genügender Zahl und Ausstattung noch gar nicht besitzen. Auch der Berliner Pharus-Verlag, der seinen Städteatlas auf der Ausstellung als im Erscheinen begriffen anzeigen konnte, steht ja erst am Anfange dieses Unternehmens. So wie an der ganzen Ausstellung sich zwar in rühmlicher, ja mehrfach mustergiltiger Weise nur 128 Städte beteiligten, ebenso zählt die ganze Planmappe an in Druck ausgegebenen Plänen nur 214 Städte gegenüber von nahezu 3000 Städten, welche das deutsche Reich gegenwärtig zählt. Die Mehrzahl dieser Pläne stammt aber nur aus Reisehandbüchern und Fremdenführern, ja selbst aus Adreßbüchern, aus denen sie auch im Sonderabdruck erhältlich sind. Daneben besitzen aber alle Groß- und Mittelstädte bis zu Kleinstädten, also gewiß mindestens 500 Städte, ihren in großem Maßstabe genau veranlagten und stets nach dem neuesten Stand am Laufenden gehaltenen Lageplan auch mit besonderer Einzeichnung der Kanalanlagen, Wasser- und Gasleitung u.dgl.m., wovon so viele schöne Beispiele auf der Ausstellung zu sehen waren; aber im Druck gelegt ist das alles erst in den allerseltensten Fällen und da nur bruchstückweise in Ingenieur- und Bauzeitschriften, also sehr verstreut und schwer auffindbar. Die öfters benützten Meßtischblätter der Generalstabskarte sind ebenfalls für viele Zwecke zu klein im Maßstab und mühselig zu benützen. Nach alledem ist also die für die Ausstellung zusammengebrachte Stadtplansammlung trotz ihrer Dürftigkeit dennoch von großem Wert und soll ihr Ergebnis somit hier festgehalten werden. Die im folgenden hier angeführten Pläne sind auch mit dem Bezugsort (Verleger, Druckerei usw.) bezeichnet. Ohne Angabe eines Verlegers befanden sich in den Dresdner Sammelbänden Pläne von: Colmar, Crimmitschau, Crossen, Einbeck, Elbing, Erlangen, Germersheim, Glogau, Grimma, Grünberg, Güstrow, Hamm, Havelberg, Herne, Karlsruhe, Landsberg, Landshut, Lauban, Lauenburg, Lüneburg, Markirch, Meiningen, Mühlheim, München, Neuwied, Osnabrück, Paderborn, Pforzheim, Pirna, Poßneck, Pyrmont, Rastatt, Reichenbach, Rheydt, Rudolstadt, Saarbrücken, Saarburg, Saargemünd, Schlettstadt, Schwerin, Solingen, Stargard, Straßfurt, Straßburg, Straubing, Tuttlingen, Wernigerode, Wiesbaden, Worms, Zeitz. Es wäre sehr erwünscht, wenn uns von städtischen Bauämtern, Verlagsfirmen usw. Mitheilungen über Bezugsorte von gedruckten Stadtplänen zukäDie Sammlung von deutschen Stadtplänen auf der Dresdner Städteausstellung (1904)

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men zur Richtigstellung und Erweiterung dieses Planverzeichnisses. Der hier vorzuführende erste Ansatz zu einem solchen besteht in dem folgenden:

Stadt

/

Bezugsort des Planes

Altenburg

/

Hofbuchdruckerei Pierer.

Amberg

/

Pustet’s Buchhandl.

Annaberg

/

Weißbach & Waengler, Lithographie.

Ansbach

/

C. Brügel & Sohn.

Apolda

/

Birkner, Buchhandl.

Arnstadt

/

Otto Böttger.

Aschaffenburg

/

Krebs, Buchhandl.

Aschersleben

/

Ludwig Siever.

Augsburg

/

Schmid, Buchhandl.

Bamberg

/

Woerl’s Reisebücher-Verlag.

Barmen

/

Schwarze & Oberhoff.

Bautzen

/

E. M. Monse.

Berlin

/

Geographisch – lithograph. Institut.

Bernburg

/

Woerl’s Reisebücher-Verlag.

Beuthen

/

M. Immerwahr, Druckerei.

Bielefeld

/

Eilers Geschäftsbücher-Fabrik.

Blankenburg

/

L. Koch, Graphisch. Kunstanstalt.

Bonn

/

J. F. Karthaus.

Braunschweig

/

H. Meyer.

Bremen

/

R. Landmann.

Bremerhaven

/

L. v. Vangerow.

Breslau

/

Wagner & Debes (Leipzig).

Bromberg

/

Paul B. Jaeckel, Druckerei.

Bruchsal

/

O. Katz.

Buchholz

/

E. Schmidt, Druckerei.

Cannstatt

/

J. Mann, Lithogr. Anstalt.

Cassel

/

L. Döll.

Celle

/

Capaun & Karlowa.

Chemnitz

/

Stadtvermessungsamt.

Coblenz

/

Aubeldruckanstalt C. F. Kaiser (Cöln).

Coburg

/

Dietz’ Hofbuchdruckerei.

Cöln

/

Ant. C. Greven.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Coethen

/

C. H. Kaemmerer & Co. (Halle a. S.).

Cottbus

/

H. Differt.

Danzig

/

A. W. Kafemann.

Darmstadt

/

Druckerei C. Welzbacher.

Dessau

/

Aubeldr.: C. F. Kaiser (Cöln).

Diedenhofen

/

G. Hollinger.

Döbeln

/

H. Meltzer.

Dortmund

/

Jaeger & Co. Druckerei.

Dresden

/

Giesecke & Devrient. Druck. (Leipzig).

Düsseldorf

/

F. Rangetta & Sohn. Druckerei.

Duisburg

/

J. Ewich.

Eisenach

/

H. Kahle, Hofbuchdruckerei

Elberfeld

/

J. H. Born, Adreßbuch.

Emden

/

W. Haynel.

Ems

/

Chr. Sommer.

Erfurt

/

O. Füßli, Artist. Inst. (Zürich).

Eschweiler

/

J. Dostall.

Essen

/

Adreßbuch-Verlag.

Esslingen

/

C. Rübsamen, Druckerei.

Flensburg

/

N. H. Eggert, Adreßbuch.

Forst

/

Th. Brede, Adreßb.

Frankenberg

/

C. S. Roßberg.

Frankenthal

/

Hildebrand & Knecht, Adreßbuch.

Frankfurt a. O.

/

Trowitzsch & Sohn, Hofbuchdruckerei.

Freiburg

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M. Wachter, Nachf.

Fürth

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A. Schmittner.

Gardelegen

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J. Könecke.

Gelsenkirchen

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Woerl’s Reisehandb.

Gera

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K. Bauch.

Gießen

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Münchhow.

Glogau

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Glogauer Druckerei, G. m. b. H.

Görlitz

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Adreßbuch.

Göttingen

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L. Horstmann.

Graudenz

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J. Goebel, Buchh.

Greifswald

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J. Abel.

Greiz

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E. Schlemm.

Großenhain

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O. Berger.

Guben

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A. König.

Die Sammlung von deutschen Stadtplänen auf der Dresdner Städteausstellung (1904)

587

Hagen i. W.

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Hinnerwisch, Adreßbuch.

Hagenau

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Adreßbuch.

Halberstadt

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L. Koch.

Halle a. S. 

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O. Hendel.

Hamburg

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Hermann’s Erben, Adreßbuch.

Hameln

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Th. Fuendeling.

Hanau

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Lechleder u. Stroh.

Hannover

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B. Pokrantz, Druckerei.

Harburg

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G. Elken.

Heidelberg

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O. Petters.

Heilbronn

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A. Landerer, Lithographische Anstalt.

Helmstadt

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G. Westermann, Druckerei (Braunschweig).

Hildesheim

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Fr. Hammer, Lithographische Anstalt.

Höchst

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A. Remy. Lith. Anst.

Hoerde

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Landmesser Röllinghoff, Selbstverlag.

Hof

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R. Lion (G. A. Gran & Co.).

Ingolstadt

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B. Zeitrög, Lith. Anstalt (Nördlingen).

Jauer

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O. Hellmann.

Jena

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Kaiserslautern

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Klemm & Beckman.

Kattowitz

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F. Borst, Lithograph. Anst. (Würzburg).

Kempten

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Königsberg

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H. Schwarz, Lithographische Anstalt.

Königshütte

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Pausia-Druck von P. de Terra (Berlin).

Konstanz

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A. Pecht.

Krefeld

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Klein’sche Druckerei, M. Busther.

Lahr

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Stadtbauamt.

Landau

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K. Bechthold.

Langensalza

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F. Kummer.

Leipzig

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Universitäts-Buchh.

Leisnig

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H. Ulrich.

Lüneburg

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Lüneburger Anzeiger.

Ludwigshafen a. Rh.

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Seitz, Lith. Anstalt, (Mannheim).

Ludwigsburg

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Magdeburg

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C. R. Kieß.

Mainz

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J. Diemer.

Mannheim

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Dr. Haß, Druckerei.

Marburg

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Ewert, Univ.-Buchh.

588

Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Meerane

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Curt Herrmann, Lith. Anstalt.

Meiderich

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A. Heiland.

Merseburg

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Metz

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G. Lang, Deutsche Buchhandlung.

Minden

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Mühlhausen i. Th.

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Wenz & Peters.

Mühlheim

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Aubeldr. Anst., C. F. Kaiser (Köln).

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E. Schellmann.

Münster i. W.

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Neustadt a. H.

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W. Dörlamm, Adreßbuch.

Neuß

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J. van Haag.

Nordhausen

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Nürnberg

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Beilage z. Adreßbuch.

Oberhausen

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Offenbach

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Osterode

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L. Woerl (Würzburg und Wien).

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Regensburg

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Schleswig

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Siegen

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Stendal

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Franzen & Grosse.

Die Sammlung von deutschen Stadtplänen auf der Dresdner Städteausstellung (1904)

589

Stettin

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Stralsund

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Stuttgart

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Wismar

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Hinstorff.

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Würzburg

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Beilage z. Adreßbuch.

Wurzen

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Zittau

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Zweibrücken

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H. Reiselt.

Zwickau

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Förster & Borries.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Enteignungsgesetz und Lageplan (1904) Der Städtebau, Jg. 1 (1904), Heft 1, S. 5–7; Heft 2, S. 17–19; Heft 3, S. 35–37. Im Anhang (S. 37–39) ein Leserbrief des Hannoveraner Stadtbaurats C. Wolff und des Stadtbauinspektors G. Aengeneyndt sowie die Antwort der Redaktion. Der Text ist nicht im Sitte-Nachlass enthalten. Sechs Abbildungen, im Anhang zwei Tafeln.

Die Einführung mehr oder weniger scharfer Enteignungsgesetze ist bekanntlich eine noch viel umstrittene Frage. Während die einen alles Heil der Stadtverwaltung, der Bodenreform, ja sogar der zweckmäßigen und schönen Ausgestaltung unserer Städte in einem denkbarst strengen und weitausgreifenden Enteignungsgesetz erblicken, so daß die Stadtgemeinde den Bebauungsplan auf möglichst große Flächen auszudehnen habe und seine Feststellung und Ausführung ausschließlich nach öffentlichen Interessen erfolgen soll und dazu die Zustimmung der Grund- und Hausbesitzer grundsätzlich nicht erforderlich wäre, bezeichnet die Gegenpartei sogar weit geringfügigere Eingriffe in die freie Verfügung über das Privateigentum an städtischen Liegenschaften geradezu als Vermögensschädigung. Beachtenswert ist dabei schon die Zusammensetzung der Anhänger der beiden Ansichten nach ihrem Berufe. Auf Seite der Forderung möglichst strenger Enteignungsgesetze stehen nämlich fast alle Bürgermeister und Bauamtsleiter, also alle diejenigen, welche jahraus jahrein unter dem Mangel an solchen Gesetzesbestimmungen schwer zu leiden haben, denn alle Bebauungspläne sind bloße Luftgebilde, wenn die Rechtsmittel zu ihrer Durchführung fehlen, und wenn oft genug sogar bloßer Eigennutz oder absichtliche Widerspenstigkeit die wohlmeinendsten Ansichten der Gemeindeverwaltung vereitelt und zu einer nie versiegenden Quelle von Verdrießlichkeiten für sie werden. Wenn eine nach monatelangen Verhandlungen endlich geglückte gütliche Vereinbarung im letzten Augenblick wieder gestört wird, weil sich ein einzelner doch noch beeinträchtigt fühlt und noch um etliches höher auskaufen lassen will; wenn überall Baulücken entstehen, wegen zu kleiner für sich allein unverbaubarer Besitztumsrechte; wenn ein einzelner sich entschließt sein Grundstück, trotz dessen Schieflage gegen den neuen Straßenzug, zu verbauen und dadurch die Umlegung unmöglich macht und die Anreiher der ganzen Straße zwingt, nun gleichfalls schief anzubauen; dann wird es begreiflich, daß dem Stadtingenieur und Bürgermeister endlich die Geduld reißt und sie im Gesetzeszwang das einzige Mittel sehen, dieser Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)

591

heillosen Verwirrung zu entgehen. Zu den Freunden der Enteignung gehören noch der „Bodenreformer“, aber aus ganz anderen Gründen. Diese erhoffen nämlich durch zwangsweise Umlegung, Zusammenlegung und Zonenenteignung die Aufschließung des Baulandes und dadurch ein starkes Herabgehen der Bauplatzpreise infolge des nunmehr großen Angebotes und dadurch in weiterer Folge eine Steigerung der Baulust und ein Herabgehen der Mietpreise, also nichts geringeres als die Belebung der städtischen Wohnungsnot mit allen ihren hygienischen und sozialen Folgeübeln. Lauter Phantasien und Trugschlüsse, die bereits als solche theoretisch erkannt sind und praktisch als durchaus nicht zutreffend sich herausgestellt haben. Zu den Gegnern der Enteignungsgesetze gehören in geschlossener Reihe sämtliche städtische Grund- und Hausbesitzer und deren Vereine nebst den ihnen nahestehenden Gruppen in den gesetzgebenden Vertretungskörpern und außerdem noch die Rechtsgelehrten. Die einen aus praktischen die anderen aus theoretischen und rechtsgeschichtlichen Gründen verwerfen den hierdurch bedingten zu großen Eingriff in das persönliche Eigentum. Darin haben sie wenigstens den weitest gehenden Enteignungsgesetzen gegenüber auch sicher Recht, denn bei diesen (wie z. B. dem neuesten für Budapest) wird in der Tat das städtische Privateigentum auf Gnade und Ungnade der Gemeinde preisgegeben, was besonders gegenüber den kleinen Leuten besonders schwer ins Gewicht fällt, auf deren unbedeutenden Hausbesitz oft genug der Betrieb ihres Geschäfts angewiesen ist und somit die Zukunft des Familienbestandes ruht. Bedenken dieser Art werden allerdings beschwichtigt durch den Hinweis darauf, daß das allgemeine Wohl höher stehe als die Wünsche und Bedürfnisse des Einzelnen; aber dennoch haben sich besonders die gesetzgebenden Faktoren dadurch nicht beruhigen lassen, sondern die Schaffung von allgemeingültigen und strengen Enteignungsgesetzen bisher vermieden oder vorläufig bloß örtlich und unter bedeutenden Beschränkungen zögernd zugelassen. Somit steht im wesentlichen die ganze Angelegenheit noch in Schwebe und soll hier ein Beitrag zur Lösung insofern gegeben werden, als untersucht werden soll, ob es denn wirklich wahr ist, daß man ohne Enteignungsgesetz mit den Stadtregelungen und Erweiterungen nicht vom Fleck kommen kann. Auch darüber sind ja die Ansichten geteilt. Während viele behaupten, daß man den Straßen neuer Stadtteile eine solche Richtung geben m u ß , daß ihre Fluchtlinien mit den Grenzen der anstoßenden Grundstücke in spitzen oder stumpfen Winkeln zusammentreffen und für die zweckmäßige Bildung des Straßennetzes ohnehin schon derart viele Bedingungen

592

Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

sich häufen, daß nicht noch außerdem die Anpassung der neuen Straßen an die zufälligen Grundstücksgrenzen gefordert werden kann und s o m i t e i n e U m l e g u n g a l s u n a u s w e i c h l i c h erscheint, sagt A. Abendroth in seinem 1901 erschienenen Buche: „Der Landmesser im Städtebau“, S. 17 ganz richtig: „D a s w i c h t i g s t e a b e r i s t e i n e t u n l i c h s t g ü n s tige Lage der neuen Straßen zu den vorhandenen Priv a t b a u t e n u n d G r u n d e i g e n t u m s g r e n z e n . “ Dazu kann noch die Bemerkung eines Praktikers, des Oberbürgermeisters Bötticher von Magdeburg, hinzugefügt werden, welcher in der 4. Sitzung der damit befaßten Herrenhaus-Kommission erklärte: „W i r i n M a g d e b u r g h a b e n d a s Bedürfnis nach einem solchen Enteignungsgesetz bisher n i c h t e m p f u n d e n , sind vielmehr mit dem Fluchtliniengesetz vom 2. Juli 1875 immer ausgekommen, obschon wir so viele Straßen durchbrochen und Straßenverbreiterungen durchgeführt haben, wie kaum eine zweite Stadt.“ Endlich Bücher (Die wirtschaftlichen Aufgaben der modernen Stadtgemeinde 1898) geht noch weiter und hält von diesen Regelungen überhaupt nicht viel, indem er sagt: „Basel ist glücklicherweise verschont geblieben von jenen Straßendurchbrüchen, welche durch andere alte Städte ihren verheerenden Einzug gehalten haben.“ Der Kernpunkt der ganzen Frage liegt in Wirklichkeit darin, ob man die neuen Straßenzüge tatsächlich so legen m u ß , daß sie unter spitzen Winkeln querüber die Eigentumsgrenzen durchschneiden, oder ob es möglich ist, sie an diese anzupassen. Wäre das letztere durchführbar, dann könnten auch alle Zwangsmaßregeln bis auf wenige besondere Fälle wegfallen. Die grimmige Not, ohne scharfe Enteignungsgesetze nicht durchkommen zu können, läge dann lediglich in den nach alter geometrischer Schablone schlecht verfaßten Lageplänen. Und so ist es auch, und das folgende gilt dem Nachweise dieser Tatsache. Abbildung 1 gibt das bekannte Lehrschema wieder, welches zuerst schon von Rud. Baumeister1, dem Altmeister der Städtebauliteratur,

1

[ Sitte meint hier Reinhard Baumeister (geb. 19. März 1833 in Hamburg; gest. 11. Februar 1917 in Karlsruhe). Sein Hauptwerk Stadt-Erweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung (Berlin: Ernst & Korn 1876) gilt als einer der Grundsteine des wissenschaftlichen Städtebaus in Deutschland und wird von Sitte lobend erwähnt, im Gegensatz zu den Schriften von Hermann Joseph Stübben, dessen Hauptwerk Der Städtebau (= Durm, Josef/Ende, Hermann/Schmitt, Eduard/Wagner, Heinrich (Hg.): Handbuch der Architektur, Teil 4: Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude, Halb-Bd. 9. Darmstadt: Bergstrasser 1890) erschien, ein Jahr nach Sittes Städtebau-Buch. Über Baumeister siehe: Höffler, Karl-Heinz: Reinhard Baumeister (1833–1917). Begründer der Wissenschaft Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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Abb. 1

aufgestellt wurde (seither vielfach nachgedruckt) zu dem Behufe, die Unerläßlichkeit von Enteignungsgesetzen an einem Beispiele deutlich zu zeigen. Von diesem Standpunkte aus ist dieses Beispiel auch vortrefflich erfunden, denn z. B. der Eckbauplatz des mittleren Verbauungsblockes rechts unten besteht aus nicht weniger als einem größeren und drei kleineren Baugrundzwickeln, von denen jeder einem anderen Grundeigentum angehört, drei davon verschiedenen Äckern, einer dem alten Fahrweg. Was folgt aber aus diesem drastischen Beispiel? Daß man ein Enteignungsgesetz nicht entbehren kann? Mit nichten! Sondern ganz im Gegenteil, daß man vernünftigerweise einen solchen Lageplan nicht machen darf, der keinerlei Rücksicht auf die vorhandenen Wege und Eigentumsgrenzen nimmt. Es fragt sich nur, ob das auch geleistet werden kann, und diese Möglichkeit soll Abbildung 2 dartun. Ganz selbstverständlich muß die Richtung des alten Fahrweges als Straße beibehalten werden, denn jeder solche alte Weg hat seine meist mehrhundertjährige Geschichte hinter sich und bedeutet eine natürliche Verkehrsnotwendigkeit. Die zweite schon von Natur aus gegebene Linie ist die das Grundeigentum trennende Linie mn. Diese Linie muß in einen neuen Straßenzug

vom Städtebau (= Schriftenreihe des Instituts für Städtebau und Landesplanung der Fakultät für Bauingenieur- und Vermessungswesen, Heft 9). Karlsruhe: Institut für Städtebau und Landesplanung 1976. ]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Abb. 2

hineingelegt werden, entweder in die Mitte desselben oder, wenn man einen mehr senkrechten Stoß der Ackerparzellen gegen die Straßenflucht wünscht, in einen S-förmig geschwungenen Straßenzug. Die Ausgleichung kann auch durch keilförmige Vorgärten geschehen oder durch Abtreppung der Straße mit Einschiebung eines kleinen sogen. Turbinenplatzes. Diese letzte Variante ist in Abbildung 2 gewählt, um zu zeigen, wie gerade hierdurch vorteilhaft verwendbare Bauplätze entstehen. Der Eckbauplatz B hat 17 m Breite auf der Schmalseite des vorhandenen Baugrundes, also gerade dasjenige Maß, welches eine gute Eckhauslösung mit guter Zimmerteilung und Treppenanlage zuläßt. Die Eckbauplätze A und C haben 18 m Breite und D sogar 25 m. Außerdem haben die Zimmerfenster in der Richtung der eingezeichneten Pfeile die sehr angenehme und daher wertvolle Aussicht in die gegenüberliegende Straßenflucht und eben deshalb keine unmittelbar herüberschauende Nachbarschaft. Grade diese Vorteile bekommt man nur durch das Versetzen der Straßenarme so, daß sie nicht nach der strengen, aber gänzlich zwecklosen Regel des geometrischen Städtebaues in einer steten graden Flucht durchlaufen. Würde man eines der vier Eckhäuser noch obendrein um 4 bis 5 m zurückversetzen und dort einen Vorgarten anordnen, an dessen Ecke auch ein Brunnen oder ein Standbild oder eine kleine Wartehalle gestellt werden könnte, so würde der kleine Platz mit geringfügigen Mitteln auch noch den Reiz des Grünen und der künstlerischen Ausgestaltung gewinnen und zweifellos auch so zur leichten Orientierung im Häusergewirre beitragen, was Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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alles der bloßen Abliniierung regelmäßiger rechteckiger Baublöcke mangelt. Die Seitengasse EF kann gemacht werden oder auch wegbleiben, je nach dem Zusammenhange mit den übrigen Stadtgrenzen. Nun sehe man diesen Plan daraufhin an, ob da nicht sofort überall gebaut werden kann oder auch nicht, ohne Rechtsstreit, ohne Beeinträchtigung des Privateigentums, ohne Zwangsmaßregeln. Es ist sicher: zu dieser Straßenführung und Baublockbildung ist keinerlei Enteignungsgesetz nötig, jeder behält seine Eigenbestimmung, und jeder hat seinen Vorteil dabei. Genau so wie bei diesem Beispiele verhält es sich ausnahmslos mit sämtlichen bisher überall durchgeführten und veröffentlichten Umlegungen und Zusammenlegungen mittelst Enteignung in Mainz, Heidelberg, Zürich, Manchester, Florenz, Neapel, Budapest, Agram, Ostrau, Bielitz, Brüssel u.s.f.2* Nirgends ist man bei der Planverfassung von den Eigentumsgrenzen und sonstigen von Natur aus gegebenen Bedingungen ausgegangen, sondern überall wurde schon bei der Aufstellung des Straßennetzes mit reiner Willkür verfahren, und nur deshalb mußte auch bei der Ausführung Willkür das Werk leiten und das Zwangsverfahren eingreifen. Nur ein willkürlicher Lageplan braucht Enteignungsgesetze, ein naturgemäßer praktischer kann sie entbehren. Man kann es oft gar nicht begreifen, bis zu welchem Widersinn das geometrische Konstruieren von Lageplänen kommen kann. Als Beispiel hierzu sei eine von berufsmäßigen Parzellierungsgeometern verfaßte und v e r ö f f e n t l i c h t e Straßenführung in Olmütz der von der Stadtgemeinde festgesetzten und ausgeführten gegenübergestellt in Abbildung 3 und 4. In beiden Abbildungen bedeutet die punktierte Linie am oberen Rande die Grenze des Stadtgebietes an einer Stelle im Norden von Olmütz. Die von der Stadtverwaltung angenommene Parzellierung (Abb. 4) folgt dieser Gebietsgrenze, was doch unbedingt nötig und gradezu selbstverständlich ist. Der ältere Plan (Abb. 3) nach geometrischer Schule liniiert aber seine Baublockrechtecke auch über die Stadtgebietsgrenze fort. Soll man so etwas noch für möglich halten? Wer soll denn auf einem Bauplatz bauen, der zur Hälfte in der Stadt zuständig ist und zur Hälfte in der Nachbargemeinde? Wo soll man da Steuer zahlen? wo sein Wahlrecht ausüben? u.s.w.

2

Eine grössere Anzahl solcher Umlegungsentwürfe ist in dankenswerter Weise veröffentlicht in dem 1897 erschienenen Werke von R. Baumeister, J. Claassen und J. Stübben: „Die städtischen Grundstücke und die Zonenenteignung“ und in dem vortrefflichen Werke von E. Genzmer: „Die städtischen Strassen 1897“.

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Abb. 3–4

Interessant ist es zu sehen, wie stetig nach der Straßenführung nach Eigentumsgrenzen Straßennetze ganz von selbst entstehen, die ganz den Typus unserer unregelmäßig gegliederten Altstädte zeigen, neben denen dann die schematischen Regelungen grade in ihrer gewaltsamen Willkür höchst auffallend erscheinen. Dies zeigt sich deutlich an den beiden auf Tafel 1 gegenübergestellten Lösungen eines Regelungsgebietes von Köln nördlich vom Zusammenstoß des Hohenzollern- und Kaiser Wilhelm-Ringes. Abbildung A auf dieser Tafel 1 Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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zeigt die wirklich durchgeführte Regelung nach willkürlichem Vorgange und Abbildung B nach dem an die Besitzgrenzen sich anpassenden zwanglosen Vorgange. Gleich auf den ersten Blick hat man bei Abbildung A den Eindruck einer geometrisch geregelten Neustadt; bei Abbildung B aber den Eindruck, als ob dies ein Stück einer alten naturgemäß von selbst so gewordenen Stadt wäre. Und dieser Eindruck beruht nicht bloß auf Äußerlichkeiten, auf Täuschung, er ist vielmehr reine Wahrheit, denn die Bebauung der Altstädte ist eben wirklich so geworden, wie sie ist, weil der Anbau eben gleichfalls, wenn auch absichtslos, lediglich den Besitzgrenzen nachging und somit überall noch die alten Flurgrenzen und Ackerwege erkennen läßt.3 Geht man nun den Gedankengang der Entstehung des Straßennetzes in beiden Fällen durch, so sieht man deutlich, daß in Abb. A (Tafel 1) zuerst das langgestreckte Bebauungsfeld zum Behufe der Aufschließung für die Bebauung der Länge nach durch die Straße ABCD in zwei Schmalstreifen geteilt wurde; dann kommen senkrecht darauf die Querstreifen durch B, C und D dazu und endlich, teils der Abwechslung halber, teils der so beliebten Querverbindung halber, die Schrägverbindungen GH. Dadurch entstand bei A ein sogen. Verkehrsplatz, eines der Lieblingsmotive der alten Bebauungsschab­ lone. In Wirklichkeit sind solche Plätze mit ihren fünf und mehr Straßenmündungen und abgeschrägten Baublockspitzen ebenso unpraktisch wie unschön und sollten nach Möglichkeit grundsätzlich vermieden werden. Daß grade bei den Schrägstraßen die Eigentumsgrenzen, falls nicht der ganze Block vorher von einer Hand zusammengekauft wurde, durchweg in spitzen Winkeln geschnitten werden, und somit eine Menge sogen. Vexierzwickel entstehen, die einzeln nicht verbaut werden können, tritt überall, wo so vorgegangen wird, mit zwingender Notwendigkeit ein, und dann kann natürlich nur auf Grundlage einheitlichen Grundeigentums oder mittelst gesetzlichem Zwang an die Durchführung des Entwurfs geschritten werden. Ganz anders gestaltet sich die Sache, wenn unter Berücksichtigung der Eigentumsgrenzen vorgegangen wird. Vorausgesetzt, daß hier die alten Flurgrenzen zurzeit der Aufteilung teilweise oder größtenteils noch zugleich Eigentumsgrenzen gewesen wären, hätte so vorgegangen werden müssen, daß zuerst auf die Grenzlinien ab und cd, ferner auf ef und gh, Abb. B (Tafel 1), je eine Straße gelegt worden wäre, zur Ergänzung und Verbindung dieser so von Natur aus gegebenen Straßen unter sich, und mit dem Kaiser WilhelmRing ergibt sich ganz von selbst der Straßenzug de und die drei Verbindun3

[Ende Teil 1.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Tafel 1: Regelung beim Kaiser Wilhelmring in Köln a. Rh. A ohne, B mit Berücksichtigung der Eigentumsgrenzen

Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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gen zum Ringe hinaus. Bei e ergibt sich wieder wie bei Abb. 2 ein kleiner Turbinenplatz mit allen bereits angegebene Vorteilen, und das Ganze sieht genau so aus, wie man es auf Plänen von Altstädten zu sehen gewohnt ist; die Straßenführung ist ohne jeden Zwang entstanden; jeder einzelne Grundbesitz hat eine wesentliche Wertsteigerung erfahren, niemand braucht sich, um sofort bauen zu können, erst mit seinem Nachbar zu verständigen; alle Plackereien für Bürgermeister und Stadtbauamt entfallen, ebenso alle Rechtsstreitigkeiten der Besitzer unter einander – ein Enteignungsgesetz ist gänzlich unnötig. Ein einziger Einwand könnte erhoben werden, nämlich, daß einzelne Landstreifen überhaupt zu schmal sind um noch eine entsprechende Hausfront an der Straße zu geben. Das ist richtig, aber abgesehen davon, daß man da ohne Zwangsentäußerung ganz gut an einzelnen Stellen zu warten könnte, bis zwei Nachbarstreifen in einen Besitz zusammenfließen, weil dies hier die Entwicklung des ganzen durchaus nicht unterbindet, so ist es gar nicht richtig, daß man für städtische Häuser mindestens 16 bis 20m Straßenfront braucht, denn das sogenannte Dreifensterhaus und selbst Zweifensterhaus besteht allenthalben und wird neuerdings mit guten Gründen (s. R. Eberstadt: „Rheinische Wohnverhältnisse 1903“) sogar zur Verbesserung unserer Wohnungszustände herangezogen und für diese schmalen Reihenhäuser, echt kleinbürgerlichen Charakters, genügen Straßenfronten von sogar nur 5–7 m. Eben deshalb weil diese Bauweise auf Grund schmaler Grundbesitzstreifen sich naturnotwendig aufbaut, ist sie keine nationale Erscheinung, etwa nur dem Nordseegebiete angehörend und von Holland ausströmend; sondern sie ist lediglich eine rein technische Parzellierungserscheinung, die daher allüberall selbständig sich entwickelt hat und genau wie in Holland und an der Nordsee auch im Binnenland, in Österreich (Brünn, Olmütz, Prag, Wien, Linz usw.), in Ungarn, in Bayern, Sachsen, ja allüberall zu Hause ist. Ein anderes äußerst lehrreiches Beispiel bietet die Parzellierung an der Eilenriede in Hannover, Abb. A und B auf Tafel 2. Auch hier ist es deutlich sichtbar, von welchen Grundgedanken bei Aufstellung des Straßennetzes ausgegangen wurde. Das Angestrebte war: höchste Verkehrstüchtigkeit unter Anwendung des sogenannten D i a g o n a l s y s t e m s . Daher zwischen den Horizontalbegrenzungen des Baulandes und den darauf senkrechten Hauptstraßen BC und EH die Diagonalen CDG und BDE und dazu noch die kleineren Diagonalen. Ist dieses Schema einmal aufgestellt, dann folgt alles übrige mit zwingender Notwendigkeit nach. Aber was kommt da schließlich unausweichlich heraus! In der Mitte der schreckliche Sternplatz D, dazu die vom

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Tafel 2: Stadtteilregelung an der Eilenriede in Hannover. A ohne, B mit Berücksichtigung der Eigentumsgrenzen

ästhetischen Standpunkte ebenso verwerflichen gleichsam Halbsternplätze J, B, K und noch nahe verwandt damit L, E, F. Eine unausweichliche Folge des Diagonalsystems ist ferner die Bildung von dreieckigen Baublöcken mit spitzen Winkeln, welche dann abgeschrägt werden müssen, was aber weder eine gute Grundrißlösung zuläßt noch auch eine wirkungsvolle ruhige FassadenEnteignungsgesetz und Lageplan (1904)

601

bildung. Hier auf so kleinem Baugebiet kommen 24 bis 29 Abschrägungen vor, je nachdem man die längeren darunter noch als solche gelten lassen will oder nicht. Dazu noch einige nicht abgeschrägte rechtwinklige Ecken unmittelbar neben abgeschrägten, was sich in der Ausführung unmöglich günstig ausnehmen kann. Kurz, wohin man nur blickt, Fehler auf Fehler und alles mit zwingender Notwendigkeit aus dem Dialogsystem hervorgehend. Solche Schrägstraßen sind wegen tatsächlicher Verkehrsnotwendigkeit aber nur in den seltensten Fällen wirklich begründet; im allgemeinen sind sie nur eine eingebildete Notwendigkeit des Verkehres, der in Wirklichkeit gar nicht da ist; sie sind lediglich ein Geschöpf der Theorie und zwar der nur aprioristisch ohne sachliche Unterlage arbeitenden Theorie, wie sie vor fünfzig Jahren noch ziemlich allgemein in Übung stand, indem man sich alles bloß beim Studientische ausdachte, ohne vorher in die Welt hinausgegangen zu sein, ohne vorher die Natur befragt und genügend Materialien zur Beantwortung der vorliegenden Fragen gesammelt zu haben. Auf diesem aprioristischen Weg sind ja alle unsere geometrischen Lageplanschemata entstanden und auf diesem Weg konstruierte man sich auch willkürlich die Bedingungen des Verkehrs, indem man die Formel aufstellte: der Verkehr fordere, daß man von jedem Punkte der Stadt zu jedem anderen Punkte der Stadt a u f d e m m ö g l i c h s t k ü r z e s t e n Wege gelangen müsse. Aus dieser Formel und nur daraus leitet sich das Diagonalsystem ab. Diese Formel selbst ist aber grundfalsch, denn wie jede Verkehrszählung, ja selbst der große Anblick des Straßenverkehres gefühlsmäßig ergibt, geht in allen Städten der große Verkehr nur zum Herzen der Stadt und von diesem wieder nach außen, ist also ausschließlich Radialverkehr. Schon der Ringverkehr hat nur wieder in der Nähe der Stadtmitte eine erhebliche Bedeutung und schwächt sich zunehmend ab bis zur Bedeutungslosigkeit, je weiter weg vom Stadtinnern eine Ringlinie liegt. Der Schrägverkehr ist aber, ganz wenige örtliche Ausnahmen abgerechnet, eine bloß theoretische Annahme ohne jede praktische Bedeutung und selbst die theoretische Annahme ist sehr schwach begründet, denn ihr Kern ist ja nur die F o r d e r u n g d e s k ü r z e s t e n W e g e s , und wenn in dieser Beziehung berechnet wurde, daß bei einer städtischen Bevölkerung von 100 000 Menschen und bei einem Umwege von täglich 10 Minuten für jeden (weil die wegkürzenden Diagonalen fehlen) ein täglicher Arbeitsverlust von 10 000 Stunden (schauderhaft!) herauskommt, so kann das doch nicht ernst genommen werden. Am ehesten könnte eine Wegersparnis noch bei der städtischen Arbeiterbevölkerung in Frage kommen, aber auch da nicht in so kleinlichem sich bloß um Minuten

602

Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

drehenden Ausmaße, denn der Arbeiter wohnt entweder in der nächsten Nähe der Arbeitsstelle oder sehr weit draußen, in welchem Falle er sich der Arbeiterbahnzüge bedient. Zudem ist die tägliche Arbeitszeit stetig im Sinken begriffen, von 16 Stunden noch im XV. Jahrhundert auf 15, auf 14, endlich auf 12 und 10 Stunden und jetzt, wo der 8-Stundentag erstrebt wird, soll im ganzen ein Umweg von fünf Minuten nicht mehr zulässig sein! Sieht man nun vom Standpunkte dieser theoretischen Erörterung nochmals den Lageplan von Hannover (Tafel 2) an, so sieht man, daß die hier so zahlreich vorhandenen und damit die ganze Parzellierung verderbenden Schrägstraßen für den Fernverkehr von gar keiner Bedeutung sind, für den Verkehr auf diesem kleinen Gebiete aber ebenfalls nicht, denn da beansprucht der Umweg kaum Zehntel einer Minute. Daraus folgt wieder, daß selbst von dem eigenen Standpunkte des Minutensparens aus dieses System nur dann einen Wert hätte, wenn es über das gesamte Stadtgebiet ausgedehnt würde. Diese entscheidende Schlußfolgerung haben denn auch überzeugte Anhänger gezogen und bei verschiedenen öffentlichen Wettbewerben und auch Einzelarbeiten ihren Entwürfen zu Grunde gelegt, so bei dem Münchener Lageplan-Wettbewerbe und vielen anderen. Bei einer solchen Verallgemeinerung würden dann allerdings die Minuten der Wegabkürzung endlich zu stande gebracht werden; aber um welchen Preis! Alle die auf Tafel 2 nachgewiesenen und beim Diagonalsystem eben unvermeidlichen groben Fehler würden sich ins endlose vervielfältigen, sodaß der tatsächlich wichtige Verkehrsvorteil gegen diese Unmasse von Nachteilen gar nicht von Belang wäre. Nun denke man aber an die Durchführung eines so starren Schemas durch ein ganzes Stadtgebiet! welche öde Einförmigkeit! welche technischen Schwierigkeiten gegenüber hügeligem Gelände, Bahnlinien, Flußläufen, vorhandenen Monumentalbauten, öffentlichen Gärten und so vielem anderem, welchem das System ausweichen müßte, sodaß es auf der Hand liegt, daß es streng systematisch überhaupt gar nicht durchgeführt werden kann, sondern nur bruchstückweise. Gerade bruchstückweise hat es aber nicht einmal den Vorteil einer erheblichen Wegkürzung, wegen dem es einzig und allein erfunden wurde. Was bleibt also bei genauerer Betrachtung von diesem ganzen schönen Schema übrig? Nichts als die Überzeugung, daß es grundsätzlich verworfen werden muß. Unter der Annahme, daß die Flurgrenzen zugleich noch meist Eigentumsgrenzen wären, entsteht wieder ein natürliches Straßennetz (Abb. B, Tafel 2), wobei wieder wie bei Abb. B, Tafel 1 von den Eigentumsgrenzen beim Legen der ersten Straßenzüge ausgegangen wurde. Eines ergibt sich aus dem anEnteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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Abb. 5

dern und als Ganzes entsteht wieder ein dem Charakter nach altstädtisches Straßenbild. Wenn die einzelnen Hauptstraßen noch modern stark verbreitert würden und die Hausbauten ebenfalls mit allen Errungenschaften neuester Technik ausgeführt würden, entstünde so eine Vereinigung von modernem Komfort mit alter Behaglichkeit und Schönheit, wie wir es eben anstreben, aber nur auf Grund freier natürlicher Lagepläne erreichen können. Bei m n sind Vorgärten angenommen, teils zur Belebung des Straßenbildes, teils um den Rücksprung der benachbarten Besitzgrenze ins Ganze harmonischer einzugliedern. Die kurzen Querstraßen ab, cd, of, gh sind absichtlich nicht in einer einzigen fortlaufenden Flucht angeordnet, um dadurch auszudrücken, daß dies eben durchaus nicht nötig ist, denn das ist auch nur eine theoretische Schrulle der geometrischen Lageplanverfassung, daß man meint, jede Straße müsse in ununterbrochenem glatten Zug nach beiden Seiten bis ans Ende der Stadt hinaus laufen. Ganz im Gegensatz zu dieser Regel sollen sogar die Zwischenstraßen kurz sein, schon bloß wegen der Abwechselung und daher leichteren Orientierung, ferner noch wegen der Brechung des Windes und wegen der Ablenkung des Wagenverkehres, was wieder ein ruhigeres

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Abb. 6

Wohnen gewährleistet. Ein einziger Umstand könnte unangenehm auffallen, daß nämlich die durch den alten vorhandenen Weg AD bezeichnete Verkehrsrichtung nicht ausgenützt erscheint. Dieser Weg schneidet aber quer über die Flurgrenzen hinüber und konnte daher hier, wo es sich um ein Beispiel der Berücksichtigung eben dieser Flurgrenzen handelte, nicht zu einem Straßenzug verwendet werden. Bei der Aufstellung eines praktisch auszuführenden Lageplanes wäre zuerst die Wichtigkeit oder Bedeutungslosigkeit dieses Weges festzustellen gewesen und ebenso die Grundbesitzfrage des anstoßenden Geländes. Wenn sich darnach die Anordnung einer Straße in der Lage dieses Weges ergeben hätte, dann wären die seither einmündenden Straßen darauf in Krümmungen oder sonstwie hinzuführen gewesen, aber jedenfalls so, daß spitze Winkel und Sternplatzbildung vermieden worden wären. Kurz, jede Straße, und wenn sie noch so geringfügig erscheint, enthält eine Aufgabe für sich, die örtlich gelöst sein will und der Einordnung in ein allgemeines geometrisches Schema von vornherein widerstrebt. Eine ebenso unzweckmäßige Vorliebe für Sternplätze und Schrägstraßen findet sich in sehr vielen modernen Lageplänen, so in dem geregelten StadtEnteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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teile von Brüssel zwischen der Rue de Laxum und der Rue de la Madeleine; ebenso in dem Londoner Stadtteil bei der Kreuzung der Holborn Viaductund Farringdon Str. Abb. 5 und 6 (im Text). Ganz besonders merkwürdig und anerkennenswert sind die ungeheuren Anstrengungen, welche in London zur Sanierung schlechter Stadtteile gemacht wurden, wenn sie auch trotz ihres erstaunlichen Umfanges im Verhältnisse zu dem gewaltigen Bedarf der Riesenstadt nicht zureichend sind. Eine rege Beachtung fanden darunter die bedeutenden Unternehmungen des 1888 eingesetzten Grafschaftsrates, der in wenigen Jahren auf den Kleinwohnungsbau und die Regelung einiger besonders schlechter Viertel rund 42 Millionen Mark verwendete. Das meiste Interesse erregte die Neuanlage auf der Boundary Street Area, bereits von Olshausen und Reincke (Die Wohnungspflege in England 1897) besprochen mit Planbeigabe (Abb. A und B auf Taf. 9), dann wieder ebenfalls mit zwei Plänen, welche den Zustand vor und nach der Sanierung darstellen, in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Band 97 und seither noch mehrfach. Aber noch niemals wurde diese berühmte Regelung vom Standpunkte des Lageplans besprochen, was gerade die Hauptsache gewesen wäre, denn gerade in der Fehlerhaftigkeit des Lageplans liegt die Ursache des Missglückens der ganzen Unternehmung nach der finanziellen Seite. Finanztechnisch lag dem Unternehmen die sogen. „Dreiprozentresolution“ von 1893 zu Grunde, nach welcher die Mieten nicht höher als in der Nachbarschaft sein sollten, aber dennoch 3 % Verzinsung und die Tilgung des Baugrundes in 60 Jahren und der Gebäude in 40 Jahren erbringen sollten. Also eine sich selbst tragende Anlage ohne Zubuße. Das Ziel ließ sich aber nicht erreichen, und um wenigstens in der Idee die gestellten Bedingungen aufrecht zu halten, wurden die 356 548 £ betragenden Erwerbungs-, Freilegungs- und Straßenkosten durch Verkauf des Baulandes an das Unternehmen um bloß 63 010 £, also zu bedeutend, bis auf beinahe ein Sechstel herabgesetztem Preise oder durch Abschreibung des wirklichen Bodenwertes auf den housing value vermindert, und damit doch eine Zubuße von 293 538 £ aus Steuergeldern gegeben.4 Bautechnisch wurde dabei das Äußerste geleistet, um möglichst billige Wohnungen herzustellen; es wurde fünfstöckig ohne Keller gebaut, zur Ersparung von Stiegen das in England nicht einmal beliebte Flursystem angewendet und die Zimmergrößen gering gehalten, bei nur 9 bis 12 m2 Bodenfläche bloß 2.60 m lichte Höhe, aber das alles half nichts, denn in dem 4

[Ende Teil 2.]

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Tafel 9: Stadtteilregelung in London. A vor, B nach der Regelung Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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gänzlich verfehlten Lageplan liegt eine derartige, sanitär auch ganz zwecklose Verschwendung an Baugrund, daß dabei finanziell nicht aufzukommen war. Und wiederum trägt die Schuld nur das geometrische Bebauungssystem mit seinem festsitzenden unvermeidlichen Sternplatz in der Mitte und den Schrägstraßen, so daß sieben Straßen, noch obendrein von 15 bis 17 m Breite, auf den runden Mittelgarten von 83 m Durchmesser zusammenlaufen. Dieser Garten bedeutet hier, wo es sich in erster Linie um Kostenersparung handelte, lediglich nur eine zweckwidrige Vergeudung an Baufläche, denn gesundheitlich ist er wertlos, weil doch viel zu klein, um als staubfreier Park zu wirken; als Platz ebenfalls, denn es ist nicht wahr, daß freie Straßen und Plätze die Luftbehälter, also die Lungen der Städte sind, da ja gerade die mit Staub und Mikroorganismen reichlich geschwängerte Straßenluft gesundheitsschädlich ist, besonders aber hier, wo die nach allen Richtungen laufenden Radialstraßen jeder Windrichtung dienstbar sind. Daß solche Sternplätze auch ästhetisch minderwertig und für den Verkehr geradezu schädlich sind, braucht heute nicht mehr nachgewiesen zu werden. Durch diese unglückliche Wahl eines Sternplatzes mit Radialstraßen entstanden aber in weiterer Folge noch schlecht verbaubare Dreiecksflächen mit großen dreieckigen Höfen und das Ergebnis des ganzen sind etwa 37 % Straßen- und Platzfläche und nach Abrechnung der Höfe nicht einmal ein Drittel verbauter Grund; während in sehr gesunden und in jeder Beziehung tadellos angelegten Altstädten der Straßengrund bloß 16 bis 18 % beansprucht und die alten Häuser von Boundary street beinahe die Hälfte des Bodens bedeckten. Und in dieser starken Ausnützung des Bodens an sich liegt, wenn die Parzellierung und die Hausgrundrisse sozial und hygienisch richtig veranlagt sind, auch keinerlei Gefahr, weder für die Gesundheit, noch für das behagliche Wohnen oder gar für die Moral der dort siedelnden Bevölkerung. Das war auch nicht das Schädliche und Verwerfliche an dieser alten Kolonie von Höhlenwohnungen, sondern nur das teilweise Verbauen auch der Höfe mit Quergebäuden und Rücken an Rücken schließenden Häusern und der unglaublich verwahrloste Zustand der Häuser voll Schmutz und Baugebrechen; dazu noch die äußerste Überfüllung und das Elend der Bewohner an sich, das sich in der ungeheuren Sterblichkeit von 40 % ausdrückte. Dieser ärmsten Bevölkerung hat dieser umfassende kostspielige Wohlfahrtsbau auch in keiner Weise geholfen, denn obwohl der Mietzins der neuen Wohnungen höher ist, als er in den ungemein schlechteren alten war, so ist er doch für die Mieter unerschwinglich wegen des Überfüllungsverbotes, und der Zins der alten Höhlenwohnungen war dagegen nur scheinbar so

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hoch, weil er im Durchschnitt nur bis zur Hälfte oder Dreivierteilen wirklich einbringbar war. Die Mieter der neuen Wohnungen sind daher durchwegs der höheren Schicht besser bezahlter und ständig beschäftigter gelernter Arbeiter angehörig mit durchschnittlich 23 bis 24 Mark wöchentlichem Erwerb. Also auch in sozialer Beziehung ist das Unternehmen nicht geglückt und hier wieder wegen der zu hohen Anforderungen an die Lebenshaltung der Mieter. Bleiben wir aber bei der Lageplanfrage, so zeigt sich auch bei diesem Beispiele, daß das geometrische Schema hinter der allgemeinen Form der natürlichen Entwicklung zurücksteht, vor allem in finanzieller Beziehung. Als Gesamtergebnis der ganzen Untersuchung zeigt sich, daß die geometrischen Lageplansysteme in keiner Weise entsprechen, und am wenigsten das so vielfach beliebte Diagonalsystem, und daß es nur diese willkürlichen Schemen sind, welche ohne strenge Enteignungsgesetze nicht durchgeführt werden können. Aber noch mehr! Selbst bei dem strengsten Enteignungsgesetz würden die Widerstände und Streitfragen nicht verschwinden, sondern sich nur in anderer Weise auf anderem Boden abspielen, wie dies schon die Erörterungen in der Literatur und in den gesetzgebenden Körperschaften deutlich erkennen läßt. Welche ungeheure Menge von Zweifeln und Bedenken hat sich da schon aufgehäuft! Z.B. nur allein schon über die Einzelfrage der Wertermittlung der verschiedenen Grund- und Hausbesitzer v o r und n a c h der Zusammenlegung. Niemals kann da eine alle Beteiligten befriedigende oder auch nur überzeugende Wertbestimmung gefunden werden, denn hier beruht alles nur auf persönlichen Annahmen ohne jede Möglichkeit eines beweiskräftigen Verfahrens, ohne Schlüssel, ohne Normalverfahren, das gesetzlich festgesetzt werden könnte. Es ist ja bekannt, daß gerade ungesunde, schlechte Häuser zuweilen das höchste Zinserträgnis liefern wegen ihrer vielleicht sogar moralwidrigen Verwendung. Soll da nach dem augenblicklichen Nutzwert eingeschätzt werden? Andere bereits abbruchreife Häuser sind dem Ertrag nach weniger wert, als ihr bloßer Grund als leerer Bauplatz berechnet. Jedes Haus, jede Baustelle kann aber auch bloß einen besonderen Familienwert, wegen des dort erbgesessenen Familiengewerbes haben oder überhaupt sogar bloßen Liebhaberwert oder auch einen Spekulationswert, der in Hoffnungen auf die nächste oder fernere Zukunft besteht wegen etwa schon vorgesehener oder bereits festgestellter, aber noch nicht durchgeführter Fluchtlinienpläne. Soll durch das Gesetz die teilweise oder ganze Berücksichtigung Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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dieser wirklichen oder bloß eingebildeten Werte zugestanden oder rundweg ausgeschlossen oder nur in besonderen Fällen und unter besonderen Bedingungen erlaubt sein? Noch schwieriger gestaltet sich die Wertbestimmung nach der Zusammenlegung. Den Wert der neuaufgeteilten Bauparzellen da nur nach dem Plane zweifelsfrei zu bestimmen, ist ganz unmöglich. Bekanntlich sind Eckbauplätze mehr wert, als in der Straßenflucht liegende; von diesen aber wieder solche mit längerer Straßenflucht und geringerer Tiefe mehr wert, als andere mit geringerer Flucht und größerer Tiefe; Bauplätze in belebteren Straßen mehr wert als in verkehrslosen Seitenstraßen; Häuser, bei denen ebenerdig Gast- und Kaffeehäuser oder Verkaufsräume mit der Sicherheit guter beständiger Vermietung eingerichtet werden können, mehr wert als solche, bei denen für solche Lokale in der betreffenden Gegend voraussichtlich kein genügender Bedarf vorhanden ist und somit Leerstehung zu befürchten ist. V o r a u s s i c h t l i c h ! Dieses voraussichtlich ist ein einschneidend böses Wort, denn wer in aller Welt kann sich anmaßen, das alles richtig vorauszusetzen? Am ehesten noch mit einiger Sicherheit der in dieser Gegend etwa schon als Kind aufgewachsene jetzige Hausbesitzer, der die ganze Entwicklung miterlebt hat und daher eine gewisse Empfindung für alle diese Werte hat, denn nur empfindungsmäßig lassen sich die Abstufungen dieser Wertschwankungen erraten, aber niemals durch was immer für eine Formel berechnen. Am allerfernsten steht einer solchen Empfindungsmöglichkeit aber der junge vielleicht sogar von auswärts hergekommene Techniker, der am Bauamte die Teilung der Parzellen im Bebauungsplane so vornehmen soll, daß die neuen Parzellen nach Größe und Lage sich genau im Verhältnis nach den Wertabstufungen der alten Parzellen richten. Das ist eine schlechterdings unlösbare Aufgabe. Hier beruht alles und jedes nur auf persönlichem Gutdünken. Deshalb auch die Forderung der Enteignungsfreunde nach Ausschaltung aller solcher Rücksichten; im Gegensatze dazu das Schlagwort von der Vermögenskonfiskation und als Vermittlungsantrag der Vorschlag einer Wertbestimmung zuerst durch die Parteien, dann durch eine Schätzungskommission, dann durch die Gemeinde und zuletzt durch ein oberstes Schiedsgericht von Staats wegen. Je höher hinauf, desto mehr verschwindet das richtige Gefühl für den einzelnen Fall, und die letzte Entscheidung wird notwendigerweise ebenso willkürlich erfolgen müssen, wie der ganze Vorgang bereits mit dem willkürlich über die Eigentumsgrenzen quer hinziehenden Lageplan begonnen hat.

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Die Schwierigkeiten der Wertbestimmung sind aber nur ein Teil der ganzen Menge von Bedenken, welche hier nur noch andeutungsweise vorgeführt werden sollen; so die Bestimmungen darüber: wer die Zusammenlegung anregt, wer sie durchführt, wie sie durchzuführen, unter welcher Sicherstellung von Einsprachen dagegen und der letzten Entscheidung da­ rüber; ob und welche Zwangsmaßregeln einzuführen, wer die Finanzierung übernimmt und wann die Ausgleichung stattfindet, ob der Ausgleich auch in Geld vorgenommen werden kann, zu welcher Zeit eine solche Geldentschädigung eintritt und wer sie durchführt, wie es sich mit der Grundbuchumschreibung, der Hypothekenübertragung, den Belastungen, der Besteuerung verhält und, eine Hauptfrage, wie sich für alles das die Termine gestalten, wie lange die Frist reicht, bis zu welcher zu Gunsten das Umlegungsverfahren, die Zwangsmaßregel, das Bauverbot aufrecht erhalten werden darf, von welchem Termin an diese Frist zu rechnen wäre, ob vom Tage der Stellung des Antrages auf die Umlegung oder Zusammenlegung, oder vom Tage der ersten Verfügung darüber oder der endgiltigen Entscheidung? Das ist doch wahrlich genug, um einzusehen, daß auch mit dem Enteignungsgesetz Friede und Eintracht weder unter den Bürgern, noch in der Gemeindestube einziehen wird, wenn nicht dem Ganzen ein naturgemäßer Lageplan zu Grunde liegt, der von vornherein schon alle Beteiligten zufrieden stellt oder jedem wenigstens seine Selbstbestimmung über sein Eigentum läßt, so daß es dann seine Sache ist, ob er damit gut oder schlecht wirtschaftet. Es hat sich aber gezeigt, daß unter dieser Voraussetzung ein Zwangsverfahren gar nicht nötig ist, und somit läßt sich die Formel aufstellen: D a s Enteignungsgesetz betreffend den städtischen Privatbesitz ist eine Lageplanfrage. Nur die geometrischen Lageplanschemen haben sozusagen der Natur ins Handwerk gepfuscht und ihr das Konzept verdorben und Landesgerichtsrat C. Merlo („Der Gesetzentwurf betreffend Stadterweiterungen und Zonenenteignung“, 1894) hat vollkommen recht, indem er sagt: „Wenn man ein Gesetz hätte ausdenken wollen, welches für die Beteiligten so recht eine Quelle von Ärger und Schwierigkeiten jeder Art, wie auch von Geldverlusten sein sollte, dann mußte man dieses Enteignungsgesetz aufstellen“. Ganz anders als bei solchen Aufteilungen im Wohngebiete der Städte verhält es sich aber, wenn große Fragen der öffentlichen Bautätigkeit eine Entscheidung erheischen. Hierher gehört die Sanierung von ganzen Stadtvierteln, wenn diese infolge ihrer argen Vernachlässigung in baulicher, sanitärer und sozialer Beziehung geradezu als gemeinschädlich bezeichnet Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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werden müssen. In diesem Falle aber ist noch überall ohne viel Widerspruch ein Sondergesetz nur für den vorliegenden Fall zustande gekommen, so in Hamburg, Neapel, seinerzeit in Dresden u.s.f. Ein allgemeingültiges, stetig wirkendes Gesetz ist für solche Ausnahmefälle durchaus nicht nötig, sondern eben nur ein Ausnahmegesetz. Aber auch in diesem Falle bleibt die ganze Angelegenheit wenigstens bei der Durchführung dennoch wieder eine Lage­ planfrage, wie dies als Beispiel der großen Londoner Sanierung auf der Boundary street Area zeigte. Ebenso nur als Ausnahmsfall zu behandeln ist die Neueinteilung ganzer Stadtteile, wenn sie durch eine große Feuersbrunst vollständig eingeäschert sind oder durch Überschwemmung zerstört wurden, wie dies 1879 bei Szegedin der Fall war. Nach solchen Ereignissen ging aber Neueinteilung und Wiederaufbau stets glatt vor sich, weil das ungeheure Elementarereignis alle die kleinen Privatinteressen zerstört, alle gleich hülflos gemacht hat und somit die Volksstimme für das Werk von vornherein gesichert war. Noch könnte eine ganze Reihe von Fällen aufgezählt werden, wo das Gesamtinteresse derart vorwaltet, daß die Wünsche der Einzelnen nicht mehr gehört werden können, z.B. bei der Anlage großer Zentralbahnhöfe, wo sogar eine dringliche Durchführung der Enteignung gerechtfertigt sein kann, weil auch eine bloß einjährige oder zweijährige Verzögerung schon namhaften Schaden verursachen kann, wie dies beim Bau des Kölner Zentralbahnhofes der Fall war. Alle diese Ausnahmsfälle bedürfen aber erst recht nicht eines allgemeinen ständigen Enteignungsgesetzes, denn auch für sie sind noch immer entsprechende Ausnahmsgesetze zustande gekommen, wenn auch zuweilen nicht immer rasch genug, wogegen übrigens besonders Vorsorge getroffen werden könnte. In allen diesen Fällen haben sich aber die Privatbesitzer auch nicht wesentlich beeinträchtigt gefühlt und dagegen gewehrt, weil sie wegen des großen öffentlichen Nutzens der Unternehmung über den Wert ihrer Liegenschaft hinaus ausgekauft werden konnten. Die Bedenken gegen Enteignungsgesetze bleiben somit nur haften an der ständigen Allgemeingültigkeit auch für die Wohnbereiche und besonders dann, wenn eine strenge Formulierung angestrebt wird. Mit einer sanften Formulierung ist aber den Anhängern der Enteignung nicht gedient und mit starken Versicherungen gegen Mißbrauch kann ebenso den Gegnern nicht gedient sein; denn was soll es z.B. bedeuten, wenn aus Besorgnis vor zwangsweiser Durchführung schlechter, also geradezu mindestens finanziell gemeinschädlicher Lagepläne, wie dies bereits mehrfach an-

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gestrebt wurde, als erste Bedingung zur Einleitung von Zwangsumlegungen oder sogar Zusammenlegungen die Beibringung eines bis ins Einzelne ausgearbeiteten Lageplanes und dessen peinlichste Prüfung bis in höchste staatliche Instanzen hinauf gefordert wird? Wenn z.B. sowohl der Planverfasser als auch die Beauftragten der prüfenden Amtsstelle noch überzeugte Anhänger des Diagonalsystems sind, so wird trotz alledem ein denkbarst schlechter Lageplan als ein herrliches Wunderwerk der Städtebaukunst auf der ganzen Linie angenommen und schließlich zwangsweise ausgeführt werden. Zum Heile unserer Städte haben wir somit augenblicklich keinen andern Weg vor uns, als den des eifrigsten vorurteilslosesten Studiums aller Fragen des Städtebaues, um endlich zu festen Anschauungen zu kommen, was auf diesem großen, vielverzweigten Gebiete gut und schlecht ist, was gemacht werden sollte, was vermieden werden sollte, und erst dann sollten Gesetze von so einschneidender Wirkung wie die Enteignungsgesetze in Erwägung gezogen werden, wenn sich feste Grundsätze des Städtebaues bereits theoretisch gebildet und praktisch erprobt haben. [Im Anhang (Der Städtebau, Jg. 1 (1904), Heft 3, S. 37–39) befinden sich ein Leserbrief und eine Antwort der Herausgeber, die nachfolgend wiedergegeben sind.] Leserbrief von Dr. C. Wolff, Stadtbaurat und G. Aengeneyndt, Stadtbauin­ spektor in Hannover. Zu dem Aufsatze von Camillo Sitte „Enteignungsgesetz und Lageplan“ in Nr. 1 dieser Zeitschrift erlauben wir uns Nachstehendes zur Klarstellung auszuführen: Herr Camillo Sitte hat einen in dem Werke von Baumeister, Classen und Stübben „Umlegung und Zonenenteignung“ veröffentlichten kleinen Ausschnitt aus dem Hannoverschen Bebauungsplane herausgegriffen und ihn ohne allen Zusammenhang mit den anschließenden Planteilen zum Gegenstande kritisierender Verbesserungsvorschläge gemacht. Es ist erklärlich, daß die in einem solchen Planausschnitte enthaltenen Teile durchgehender Verkehrstraßen, ohne Kenntnis der anschließenden Planstücke unverständlich erscheinen und abfällig beurteilt werden müssen, wenn man sie ohne ihre Fortsetzungen lediglich auf die Brauchbarkeit zur Geländeaufteilung betrachtet. Zur Gewinnung eines besseren Überblicks über die Plangestaltung, welcher zur unbefangenen Prüfung unbedingt nötig ist, haben wir hier eine Planskizze größeren Umfangs beigefügt. Wenn Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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Hannover. Auszug aus dem Bebauungsplan des ‚Südlichen Stadtteils‘

Sitte den Plan in diesem Zusammenhange, außerdem noch die Örtlichkeit und vor allem die Grundbesitzverhältnisse gekannt hätte, so würde er vielleicht zu einer anderen Auffassung über den Plan, jedenfalls aber zu anders gestalteten Verbesserungsvorschlägen gekommen sein. Der in Frage stehende Teil des Hannoverschen Planes ist in den Jahren 1888/89 auf Grundlage eines öffentlichen Wettbewerbes, unter Verwertung der besten Lösungen der preisgekrönten Entwürfe, durch den unterzeichneten Stadtbauinspektor Aengeneyndt aufgestellt worden; die Planteile östlich der Eisenbahn entstammen einem in neuerer Zeit unter anderen Anschauungen von ihm bearbeiteten Entwurfe. Für das von Sitte behandelte Gelände, das sog. Haspelfeld, war schon vor dem Wettbeberbe von den Grundbesitzern eine G r e n z u m l e g u n g m i t Ausscheidung des Straßenlandes einstimmig beschloss e n w o r d e n . Auf die bestehenden Grenzen brauchte daher weder nach den Bedingungen des Wettbewerbes, noch bei der endgiltigen Planaufstellung i r g e n d w e l c h e R ü c k s i c h t g e n o m m e n z u w e r d e n . Die Grenzumlegung ist nach erfolgter Festsetzung des Planes durch Vermittelung der Königlichen Generalkommission, dem voraufgegangenen einstimmigen Beschlusse entsprechend, zur Zufriedenheit der Beteiligten ohne Anwendung von Zwangsmaßregelungen durchgeführt. Alle Planlösungen, die sich bemühen auf diesen Unterlagen den verwickelten Grenzlinien zu folgen, haben deshalb keinen praktischen Wert, es sei denn, daß man sie unter allen Umständen denjenigen vorzieht, die über ein ungeteiltes Gelände gelegt werden.

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Der Straßenzug B–C (s. Skizze A auf Tafel 2) ist, wie aus der hier beigegebenen Planskizze hervorgeht, ein Stück der die ganze Südstadt umspannenden inneren Ringstraße, dessen Lage durch die Nordecke des Friedhofes fest bestimmt ist. Eine Verschiebung dieses Straßenzuges um rund 120 m nach Süden, wie Sitte vorschlägt, ist, nach Ausweis des Planes, des Friedhofs wegen nicht möglich. Die Straße B–D–E, welche in dem Sitteschen Plane fehlt, stellt eine notwendige Verbindung zwischen der inneren Ringstraße und einer Waldrandstraße her, die schon jetzt, vor ihrem Ausbau, als sehr belebter Zugang zu dem Stadtwalde dient. Die Zuführung des Verkehrs zum Stadtwalde in der Nähe von E ist aus örtlichen Gründen erwünscht. Die Straße G–C folgt in ihrer Richtung einem früheren Feldwege und ist bestimmt, einen von alters her gewohnten und in Zukunft unentbehrlichen Straßenzug zur Ablenkung des von Süden kommenden Verkehrs in die Oststadt zu bilden. Auch dieser Straßenzug fehlt bei Sitte, trotzdem er in seinem Aufsatze allgemein anerkannte, sehr richtige Grundsätze über die Beibehaltung vorhandener Wege entwickelte. Wie Sitte angibt, hat die spitzwinkelige Lage der anstoßenden Grundstücke zu diesem Wege den Anstoß zu seiner Vernachlässigung gegeben. Diese Schwierigkeiten, welche nur durch Grenzumlegung zu beseitigen sind, finden also in dem Sitteschen Plane keine Lösung. Das Beispiel dürfte daher als ein Belag für die Richtigkeit der Behauptung, eine Grenzumlegung sei nur bei schlecht konstruierten Bebauungsplänen erforderlich, kaum gelten können. Wenn ein bestehender Plan in der Öffentlichkeit so scharf angegriffen wird und Verbesserungsvorschläge zu ihm gemacht werden, so müßten diese Vorschläge u.E. auch einwandsfrei sein und über grundsätzliche Fragen, die für den ganzen Fall entscheidend sind, nicht so leicht hinweggehen, wie es hier geschehen ist. Viele der nach Sitte verbleibenden Bauplätze haben 7–10 m Frontlänge und ca. 100 m Tiefe, werden aber von ihm, nach seinen Ausführungen bei dem Kölner Beispiel, für zweckmäßig erachtet. Nach hiesigen Anschauungen sind sie aber zur Bebauung mit mehrgeschossigen Mietshäusern, die nach Maßgabe der Bauordnung auf dem fraglichen Gelände entstehen werden, nicht brauchbar. Gerade aus dieser Erkenntnis haben die Grundbesitzer die Umlegung durchgeführt. Ein Vergleich der nach Sitte verbleibenden Bauplätze – man beachte z.B. die unbebaubaren Trennstücke an der unteren Plangrenze – mit den durch die Umlegung erzielten, läßt den außerordentlichen Nutzen einer solchen nicht zweifelhaft erscheinen, namentlich wenn Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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sie, wie es hier der Fall war, mit der gleichzeitigen, nach der Flächengröße gerecht verteilten Ausscheidung des Straßenlandes verbunden war. Bei den erheblichen Wandlungen und der fortschreitenden Entwickelung, welche die Städtebaukunst in den seit der Aufstellung des Hannoverschen Planes verstrichenen 15 Jahren erfahren hat, haben die Pläne der älteren Zeit einen schweren Stand, wenn sie heute, unter veränderten Anschauungen und zudem noch ohne Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse, als Unterlage zu Verbesserungsversuchen dienen müssen, und es ist kein sehr schwieriges Unternehmen, Fehler in den Einzelheiten an ihnen nachzuweisen. Damals galten Paris, Brüssel usw. mit ihren ohne Rücksicht auf die Form der Baublöcke und die unvermeidlich entstehenden Sternplätze straff durchgeführten Verkehrszügen als vorbildlich. Sittes Buch, das Werk von Stübben und die verdienstvollen Plangestaltungen Henricis waren noch nicht erschienen, eine Literatur über den Städtebau war – von Baumeisters Lehrbuch abgesehen – in Zeitschriften zerstreut, nur spärlich vorhanden, und die an verantwortlicher Stelle schaffenden Techniker sahen sich bei ihren Planschöpfungen fast ganz auf eigene Erfahrungen und die herrschenden Anschauungen der Zeit angewiesen. Daß dabei mancherlei Gestaltungen entstanden sind, die heute nicht mehr als einwandsfrei erscheinen, ist leicht erklärlich. Es soll auch ohne weiteres zugegeben werden, daß der Hannoversche Plan als treues Spiegelbild seiner Zeit, namentlich in der häufigen Anwendung spitz zusammenlaufender Straßenzüge, Lösungen enthält, welche den heutigen Anschauungen nicht mehr entsprechen und in neuen Entwürfen zu vermeiden sind. Aber die Haupt-Verkehrszüge, welche demnächst außer den Fahrbahnen für Straßenbahn- und Fuhrwerksverkehr noch breite Promenaden, Reit- und Radfahrwege aufzunehmen haben, werden bei unbefangener Prüfung vielleicht doch als zweckdienlich anerkannt werden. In dem Sitteschen Plane haben die Verkehrszüge keine Berücksichtigung gefunden und verdienen seiner Meinung nach eine solche überhaupt nicht. Ob dieser Standpunkt als richtig und mit den praktischen Anforderungen des Verkehrs einer Großstadt vereinbar gelten kann, mag dem Urteile der Leser überlassen bleiben. Uns erscheint ein Beweis dafür bislang nicht erbracht, auch nicht für die Richtigkeit der Behauptung, bei guten Bebauungsplänen seien Enteignungsrecht und Grenz­ umlegung überflüssige Dinge. Hannover, im Februar 1904. N a c h s c h r i f t d e s H e r a u s g e b e r s : Sitte hatte offensichtlich keine Kenntnis davon, daß eine Grenzumlegung bereits beschlossen war, bevor der

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Camillo Sitte – Schriften zu Städtebau und Architektur

Bebauungsplan aufgestellt wurde, denn er hat ausdrücklich vorausgesetzt, daß „die Flurgrenzen meist wohl Eigentumsgrenzen wären“, und von dieser Voraussetzung ist er bei seinen Untersuchungen ausgegangen. Der Beschluß der Grundbesitzer beweist aber auch nichts für die innere Notwendigkeit dieser Umlegung; man hat damals eben geglaubt, ohne eine solche keinen zweckentsprechenden Bebauungsplan aufstellen zu können. Dies ist die Folge eines Plansystems, das von abstrakten Grundsätzen in betreff der Verkehrsanforderungen getragen wird, ohne Rücksicht auf die konkreten, aus der vorhandenen Einteilung des Geländes und den verschiedenen Bedürfnissen für die Anbauung sich ergebenden Verhältnisse – darauf geht Sittes Beweisführung hinaus. Über die Verbindung B–D–E kann man ja verschiedener Meinung sein; sie f e h l t bei Sitte aber nicht! Nur von der unmittelbaren Durchführung einer Schrägstraße hat er abgesehen, aus den von ihm allgemein entwickelten Gründen – er glaubte auf einem kleinen Umwege über den Platz bei m – n seines Planes auch ans Ziel zu kommen. Bei Fortlassung der Schrägstraße G–C hat er zunächst wieder einen V o r b e h a l t gemacht, nämlich den, daß ihre Notwendigkeit erst nachzuweisen sei, hat dann aber auch für den Fall, daß die Richtung des altes Weges beizubehalten sei, im Texte angegeben, wie das Gelände hätte aufgeteilt werden müssen. Die vorstehende Erklärung des Stadtbauamts schießt daher über das Ziel hinaus. Die 7 bis 10 m breiten Baustellen erachtete Sitte allerdings grundsätzlich als vorteilhaft in der Meinung, der Bebauungsplan sollte der weiteren Verbreitung der Mietskaserne nicht noch besonderen Vorschub leisten und im Bedarfsfalle könnten benachbarte Parzellen auch im Wege freiwilliger Vereinbarung zusammengelegt werden. Die Grundstückstiefen hat er dabei unverändert gelassen. Im ganzen hat er nur einen älteren Plan nach neueren Anschauungen beurteilen wollen – als Beispiel, nicht um dem damaligen Verfasser daraus einen Vorwurf zu machen. Es sind bereits beachtenswerte Stimmen laut geworden, die ihm dies danken.

Enteignungsgesetz und Lageplan (1904)

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Bildnachweis

S. 15:

Illustriertes Wiener Extrablatt, 23. Juni 1875, S. 1.

S. 25:

Kos, Wolfgang/Rapp, Christian: Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war. Wien: Czernin 2004, S. 47.

S. 31:

Beranek, Hermann/Goldemund, Heinrich/Kortz, Paul u.a.: Reiseberichte über Paris, erstattet von nachstehenden Beamten des Stadtbauamtes. Wien: Magistrat der Stadt Wien 1901, S. 95.

S. 32–43:

Benevolo, Leonardo: Die Geschichte der Stadt. Frankfurt/Main, New York: Campus 1991, S. 836, 856, 857.

S. 58, 59:

Sitte, Camillo: L’art de bâtir les villes. Notes et réflexions d’un architecte. Traduites et complétées par Camille Martin. Genf: Atar, Paris: Laurens 1918, Frontispiz, Titelblatt.

S. 73:

Kassal-Mikula, Renata u.a. (Konzept.): Das ungebaute Wien. 1800 bis 2000. Projekte für die Metropole. Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 1999, S. 127.

S. 74:

Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architektenvereines, Jg. 47 (1895), Nr.12, S. 163.

S. 88, 594–614: Der Städtebau, Jg. 1 (1904), S. 6, 7, 19, 37; Tafel 1, 2, 9, 73–74. S. 92:

Sitte, Franz: Ein architektonischer Gedanke über die Erbauung der beiden natur- und kunsthistorischen Museen in Wien. Wien: Selbstverlag 1867, Tafel 1.

S. 110–137:

Bildarchiv des Instituts für Kunstgeschichte, Universität Wien.

S. 228:

Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines in Wien, Bd. 23 (1886), S. 250.

S. 382–398:

Mittheilungen der k. k. Central-Commission zur Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmäler, N.F., Jg. 18 (1892), S. 54, 55, 76, 80.

S. 477–510:

Kunst und Kunsthandwerk. Monatsschrift des k.k. Österr. Museums für Kunst und Industrie, Jg. 1 (1898), S. 5, 7, 9, 11, 12, 13, 15, 97, 98, 99, 100, 102, 103, 104, 156, 157, 159, 161, 163.

S. 539–562:

Die Ergebnisse der Vorconcurrenz zu dem Baue des Kaiser Franz JosephMuseums der Stadt Wien. Sonderdruck. Wien: Waldheim 1902, S. 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 23, 24, 25.

Bildnachweis

621

Namenregister

Adickes, Franz  89 Aengeneyndt, Gerhard  85, 591, 613–614 Alberti, Leon Battista  123, 339 Albrecht, Erzherzog von Österreich  327 Alexander der Große, König von Makedonien  313 Allio, Künstlerfamilie  473 Alphands, Jean-Charles  444 Alt, Jakob  510 Althan, Grafen von  475 Amerling, Friedrich von  296 Andrade, Alfredo de  348 Antelami, Benedotto  116 Antonio, Battista de  435 Anzengruber, Ludwig  12, 18 Aristoteles  39, 260, 267 Auffarth, Sid  85 Avigdor, Elim Henry d‘  45 Babenberger  482 Bach, Alexander Freiherr von   23, 33 Bach, Theodor Karl  443 Bähr, George  472 Bandinelli, Baccio  191 Bartelmus  379 Barvitzius, Anton  175 Battyhány, Graf von  475 Bauer  243 Bauer, C.  161 Bauer, Leopold  17 Baumann, Ludwig  129, 444 Baumeister, Reinhard  38–41, 45, 265–266, 298, 593, 596, 613 Beethoven, Ludwig van  161, 168, 189, 326, 329, 337, 571 Behrens, Peter  64 Benk, Johannes  243 Berger, Franz  319, 410 Bergmann  235–236, 245 Bernini, Gian Lorenzo  186, 474 Bernoulli, Hans  55, 57–58, 60–62 Bethmann-Hollweg, Moritz August von  34 Bibiena, Künstlerfamilie  473 Billing, Hermann  83, 453 Böhaim, W.   225

Bohrer, H.  83 Boito, Camillo  409 Borkowski (Borkowsky), Karl von  357, 416 Botticelli, Sandro  256 Brausewetter, Arthur  473 Brinkmann, Justus  469 Brulhart, Armand  60, 62 Brunelleschi, Filippo  116, 435, 472 Bucher, Bruno  192, 210 Buls, Charles  55, 83 Bültemeyer, H.  196 Bunsen, Christian Karl Josias von  243 Burnacini, Künstlerfamilie  473 Bussi, Künstlerfamilie  473 Camesina, Künstlerfamilie  236, 473 Canova, Antonio  336 Carlone, Künstlerfamilie  473 Catilina, Lucius Sergius  465 Cavalcaselle, Giovanni Battista  485 Cellini, Benvenuto  469 Cesariano, Cesare  391 Cestius, Caius  198, 206 Chaudoir, Gustav  482 Chippendale, Thomas  52 Chmelar, Eduard  469 Cicero  465 Classen (Claassen), Josef  596, 613 Colbert, Jean-Baptiste  66 Collin, Georg  565 Collins, George R.  60 Colloredo-Mansfeld, Graf  475 Contag, Max  85 Coradini, Antonio  389 Cornelius, Peter von  231 Cosimo I. de Medici  255, 277, 311 Cousin, Victor  31, 32 Crasemann Collins, Christiane  60 Crowe, Joseph-Archer  485 Cuvier, Georges Baron de Cuvier  96, 97 Czernin, Johann Rudolf Graf  333 Czoernig, Freiherr von  236 Dante  271, 481 Darwin, Charles  51, 140, 535 Namenregister

623

Dauscher, I.  161 De Paula Lamberg-Sprinzenstein, Anton Franz, Graf  333 Dehio, Georg  27, 141 Deininger, Julius  413 Dennis  51 Dick, Rudolf  542, 560 Dlabacz, Gottfried Johann  473 Donatello  255, 311, 516 Donner, Georg Raphael  333, 468, 531 Doré, Gustave  271 Drexler, Brüder  548, 560, 562 Drobny, Franz  541 Dubrovic, Milan  20, 21 Dubuche, Louis  139, 534 Dumba, Nikolaus  329 Durand, Jean-Nicolas-Louis  208 Dürer, Albrecht  161 Durm, Josef  316 Dvorák, Max  20 Eberstadt, Rudolf  78, 79, 600 Eggimann  60 Eitelberger von Edelberg, Rudolf  23, 29, 30, 31–47, 50, 52, 75–77, 98, 119, 140, 229, 231–232, 235, 387, 468–469 Elgyn [Bruce, Thomas, Earl of Elgin]  51 Emler  487 Erler, Franz  243 Ernst Ludwig, Großherzog von HessenDarmstadt  136  Ernst, Leopold  119, 231, 238, 241 Essenwein, August Ottmar  119, 235–236, 316, 485, 505 Eugen, Erzherzog von Österreich  282 Eugen, Prinz von Savoyen  223, 475 Fabiani, Max  133, 558 Falke, Jakob von  47 Fansollo, Reginato von  507 Fassbender (Faßbänder), Eugen  319, 443 Fehl, Gerhard  71 Feil, Josef  119, 236 Fellner, Ferdinand d. J.  128 Fellner, Ferdinand  357 Ferstel, Heinrich von  29, 46, 50, 75–77, 101, 107, 119, 122, 124, 177, 189–190, 197, 211, 238, 240, 264, 268–269, 357, 365–368, 400, 416, 443–444, 525, 562

624

Namenregister

Fiedler  419 Fischer von Erlach, Johann Bernhard  126– 127, 131, 189, 197, 336, 354, 471–474, 521, 527, 533, 561–562 Fischer von Erlach, Joseph Emanuel  197, 336 Fischer  63 Fischer, Johann Martin  333–334 Fischer, Theodor  64, 83 Fischnaler, Konrad  473 Flattich, Wilhelm von  341, 428 Fleischer, Ernst  194 Fontaines, Jean de la  271 Fontana, Künstlerfamilie  473 Fornbacher  482 Förster, Emil von  109, 110, 111, 113, 167, 174, 197 Förster, Ludwig  109, 114, 211, 232, 260, 274 Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich  128, 129, 133, 143 Franz II. (Franz I.), Kaiser von Österreich  40, 41 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich  23, 47, 93, 100–101, 103, 130, 260, 287, 290, 308, 536 Freed, Georg  452 Freitag, Karl  539 Friedrich August I., König von Sachsen  106, 221 Friedrich August II., Kurfürst von Sachsen  331 Friedrich III., römisch-deutscher Kaiser  388 Fries, Heinrich de  84 Fronner, Karl  510 Frühwirth, Alfred  444 Führich, Joseph Ritter von  115, 176–177, 179–180, 231, 234, 242, 336 Furlani, Angelo  507 Gabriel, Jacques-Ange  306 Galilei, Galileo  422 Gärtner, Friedrich von  231 Gasser, Hans  498 Gasser, Josef, Ritter von Valhorn  243 Gattamelata (de’ Narni, Erasmo)  255 Geddes, Patrick  55 Genzmer, Ewald  39 Genzmer, Felix  82 Gerl, Matthias Franziskus  335

Gerstner, K.  237 Gesells, Silvio  57 Geyling, Ernst von  242 Geymüller  197 Ghega, Carl Ritter von  113, 414 Ghiberti, Lorenzo  435 Giambologna (Boulogne, Jean)  311 Giesel, Hermann  546 Giotto  390, 485 Gluck, Christoph Willibald  309 Goebbels, Joseph  21 Goecke (Goeke), Theodor  26, 33, 63, 79, 81–84, 87–88, 518 Goethe, Johann Wolfgang von  30, 98, 189, 270–273, 276–281, 325, 439, 568 Goldemund, Heinrich  319, 401, 425, 443 Gombrich, Ernst H.  95 Götz, Stefan von  478 Goudouin, C.  162 Gran, Daniel  474 Graus (Grauß) , Johann  473 Griespeck, Hans  499 Gropius, Walter  26, 81 Gruber, Franz R. von  446, 466 Gruber, Max  446 Gruber, Sebastian  226 Grueber, Bernhard  237 Grün, Anastasius  336 Gubler, Jacques  61 Gudenus, Freiherrn von  420 Gump, Künstlerfamilie  474 Gunther  141 Gurlitt, Cornelius  63, 83 Haas, Carl (Karl)  387, 397, 482 Haas, G.  397 Haas, M.  113, 173 Habsburger  482 Halbig, Johann von  326 Halek  359 Hansen, Theophil  101­­–102, 107, 114, 173, 190, 197, 211, 243, 365–368, 525, 533 Hartinger, Robert  542 Hasenauer, Karl (Carl) von  93, 101–105, 109, 127–128, 133, 136, 139, 189–195, 198, 210–215, 224, 270, 277–278, 346 Haussmann, Georges Eugène  31, 45, 54, 66, 68–69, 290 Havestadt, Christian  85

Haydn, Franz Joseph  253, 263, 309, 330 Heck, V. A.  198 Hefner, Otto Titan von  473 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  32, 34–35, 169, 258 Hegele, Max  133, 531, 555, 561 Hegemann, Werner  28, 34, 62, 84, 89 Heider  235, 387 Heider, Gustav  119 Heindl, Josef  443 Heinrich II. Jasomirgott, Herzog von Österreich  351 Heinrich IV., König von Frankreich  290  Hellmer, Edmund  167, 271, 309 Helmer, Hermann Gottlieb  128, 357 Helmholtz, Hermann von  317 Hemma von Gurk  388, 389, 396 Henrici, Karl Friedrich Wilhelm  56, 58, 63, 83, 297, 303–304, 317, 336, 409, 441, 446, 518, 616 Henrici, Künstlerfamilie  473 Herodot  448 Herrmann  241 Heß, Heinrich von  242 Hesse, Hermann  50 Hesse-Wartegg, Ernst von  305 Hiesen (Hieser)  235 Hild  240 Hildebrandt, Johann Lucas von  125, 197, 335, 474 Hilzer  243 Hindermann, Hans  57, 58 Hippodamus von Milet  317 Hirschfeld, Gustav  317 Hittorff, Jakob Ignaz  191 Hobrecht, James  84 Hoefnagl, Jacob  375 Hoffmann, Friedrich Eduard  429 Hoffmann, Josef  64, 377 Hofmann, Jörg  499 Holbein, Hans  394 Holzmeister, Clemens  20 Homer  568 Hörmann, Ludwig von  473 Howard, Ebenezer  28 Hrachowina  196 Hrdlicka, Mathilde  564 Hudetz, J.  174 Hufnagel  376 Namenregister

625

Hulanicki, Karl  550 Humpert, Klaus  73 Huse, Norbert  66 Hyrtl, Josef  258 Ilg, Albert  124, 126, 128, 185–187, 198, 468–475 Inffeld (Infeld), Adolf Ritter von  133, 556 Jaffé, M.  196 Jänggl, Franz  125 Janisch, Josef A.  462 Janitsch, Julius  349–350 Janitschek, Hubert  469 Jansen, Hermann  33 Jobst Siedler, Eduard  81 Jobst, Carl  178, 180, 242 Jobst, Franz  178, 180, 242 Joseph, Erzherzog von Österreich  326 Jourdain, Franz  64 Jovanovics, Constantin (Jovanovits)  193, 194 Julius II., Papst  331 Kábdebo, Heinrich  470 Kant, Immanuel  37 Kargl, Fr.  196 Karl Ludwig, Erzherzog von Österreich  128 Karl VI., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches  349 Karl, Erzherzog von Österreich  223 Kayser (Kaiser), Carl Gangolph  142, 504, 508 Keller, Gottfried  99 Keller, Michael  494 Kiesow, Gottfried  73 Kinsky  197 Kirschner, Ferdinand  128 Klass (Klaß), Joseph  507 Klein, H.  242 Klein, Prof.  397 Klimt, Gustav  571 Klotz, Hermann  508 Koch  192 Köchlin, August  197 Köchlin (Koechlin), Karl  113, 174–175 Kokoschka, Oskar  21 Kolumbus, Christoph  165 König, Carl (Karl)  127, 443, 466

626

Namenregister

Kornhäusel, Josef  351 Kornheisl, Franz  473 Korompay, Gustav  127 Krahl, Karl  558 Kranner, J.  237, 239 Kratzmann  243 Kraus (Krauß), Franz Freiherr von  133, 531, 546 Krause, Rudolf  558 Kruft, Hanno-Walter  69 Krupp, Arthur  444 Kühn, M.  542 Kühnel  240 Kundmann, Alexander  198 Kundmann, Carl  277 Künstler, Gustav  21, 22 Kupelwieser, Leopold  236 Kupka, Franz  354 Kürnberger, Ferdinand  12, 18 Labenwolf, Pankraz  334 Lacina, Roswitha  53 Lalique, René  565 Lasne, Otto  443 Laufberger, Ferdinand Julius Wilhelm  242 Laužil  241 Layard, Austen Henry  51 Le Corbusier (Jeanneret, CharlesEdouard)  55, 61–69, 106 Leger, P. A.  540 Leins, Christian Friedrich von  428 Leopold I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches  197, 304, 335 L‘Epplattenier, Charles  63 Lessing, Gotthold Ephraim  98–99, 165–166, 182–183, 564 Liechtenstein, Fürsten von  475 Liechtenstein, Prinz Alois von  13, 333 Lippert, J.  235, 237 Lipsius, Konstantin  194 Loehr (Löhr), Moritz von  101, 113, 172, 211–215 Loos, Adolf  21, 27, 48, 50–53, 77 Loraghi, Künstlerfamilie  473 Lotz, Arnold  466 Löwy, I.  198 Lübke, Wilhelm  189, 244 Ludwig I., König von Bayern  188, 231, 233, 326

Ludwig Victor, Erzherzog von Österreich  268 Ludwig XIV.  31, 45, 66, 68 Ludwig XV.  68–69, 290, 306 Ludwig XVI.  68–69 Lueger, Karl  13, 72 Luini, Bernardino  392 Luksch, Wilhelm  552 Lunghi, Künstlerfamilie  473 Luntz, Viktor  133 Lützow, Carl von  123 Mac-Mahon, Patrice de  265 Mader, Georg  236, 242 Madjera, Karl  176, 179 Maertens, Hermann  409 Mahler, Fritz  547 Makart, Hans  189, 329, 440 Maratta, Carlo  474 Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich  129, 278, 326 Marinonis, Johann Jakob  304 Marmorek, Oskar  375 Märtens, Hermann Eduard  317 Martin, Camille  55–63, 67, 69 Martinelli, Dominik  197 Martinelli, Franz  473 Maulbertsch, Franz Anton  335 Mauthe, Jörg  18 Maximilian II., König von Bayern  326 Mayer, A.  242 Mayreder, Julius  399–400, 402, 405–406, 410, 444 Mayreder, Karl  102, 319, 399–400, 402, 405–406, 410, 444, 466 Mayreder, Rudolf  399–400, 402, 405–406, 410, 444 Mechithar von Sebaste  122 Meese, Oswald  415 Melly, E.  231 Melnitzky, Franz  243 Merlo, Carl  611  Messerschmidt, Franz Xaver  333 Metternich-Winneburg, Pauline Fürstin von  375 Meyerbeer, Giacomo  168 Michel, H.  236 Michelangelo  191, 256, 261, 311, 333, 468, 481, 516, 517

Milani, Francesco  507 Milizia, Francesco  474 Mocker  241 Möhring, Bruno   453 Moller, Georg  191 Molthein (Moltheim), Walcher von  142, 508 Mommsen, Theodor  34 Montani, Gabriele  335 Morolin, Giovanni  494 Morris, William  53 Mosel, Ignaz Franz  473 Mozart, Wolfgang Amadeus  161, 191, 309–312, 329, 375, 439, 440 Müller, Alois  487 Müller, Heinrich  416 Müller, Johann Georg  114, 117–118, 230, 232, 234, 245, 247, 274, 336 Müller, Rudolf  473 Müller-Guttenbrunn, Adam  17, 20 Napoleon I., Kaiser von Frankreich  66, 68, 290 Napoleon III., Kaiser von Frankreich  100 Napoleon III., Kaiser von Frankreich  31, 66, 290, 305 Nero, römischer Kaiser  42, 266 Nestroy, Johann N.  330 Neuhauser  242 Neumann, Franz von  113–114, 126, 173, 197 Niemann, George  114, 173 Nietzsche, Friedrich  534 Nobile, Peter von  116, 230 Nüll, Eduard van der  114, 172–174, 229, 247, 260, 268, 336 Obermaier, E.  196 Oedtl, Christian  354 Oelwein, Arthur  305 Oescher, Leopold  119 Offenbeck, Artolff von  225–226 Ohmann, Friedrich  129, 136–138 Olbrich, Joseph Maria  136–137, 139 Olshausen, Hugo  606 Orcagna (Cione, Andrea di)  188 Orglmeister, Gustav  354 Orsi, Künstlerfamilie  473 Ortwein  244 Öscher, Leopold  230–231 Namenregister

627

Österreicher  484 Ottokar, König von Böhmen  226, 482 Ozenfant, Amédée  64 Pacaunek  473 Pacher, Michael  481 Parler, Peter  349 Paul II., Papst  388 Payer, Julius von  490 Pecha, Albert  133, 531, 557 Pecht, Friedrich  193 Peets, Elbert  84 Pehnt, Wolfgang  69 Perret, August  64 Perret, Claude  64 Petersen, Hans  376–377 Pettenkofer, Max Josef von  578 Piloty, Carl Theodor von  440 Pilz, Vincenz  243 Pirchmayer, Friedrich  473 Pius IX., Papst  243 Platon, C.  173 Plebanus, Wolfgang Pirsther  499 Plinius  448 Podhagsky, Josef  423 Poggi, Giuseppe  256, 425 Pöppelmann, Matthäus Daniel  106, 274 Posener, Julius  28 Pötzl, Eduard  17–18 Powanger, Georg  354 Pozzo, Andrea  335, 473 Preleuthner, Johann  243 Purkholzer  171 Pützer, Friedrich  55–58, 63 Pyrker, Johann Ladislaus, Erzbischof von Erlau  240 Quast, Alexander Ferdinand von  397 Radetzky von Radetz, Josef Wenzel  253, 326–330 Raffael (Raffaello Santi; Raphael)  111, 170, 274, 331, 468  Rahl, Carl  176 Rainer, Erzherzog von Österreich  47, 332 Raschka, Robert  554, 560 Rauscher, Joseph Othmar von, Kardinal und Erzbischof von Wien  240 Rawlinson, Henry Creswicke  51

628

Namenregister

Reder, Carl  162 Redtenbacher, Rudolf  198 Reginato  496 Reincke, Johann Julius  606 Reinhold, Adolf  443, 553 Rettig, Wilhelm  446 Reverdon  192 Richelieu (Plessis, Armand-Jean du)  66 Richter, Hans  93 Richter, Otto  557 Riegl, Alois  27, 94 Riehl, Alfred  427, 454, 458 Riehl, Wilhelm Heinrich  49 Rietschel, Ernst  221 Riewel, Hermann von  120, 237–239, 243 Roesner, Karl  119 Romano, Giulio  170 Roschmann, Anton  473 Rösler  235 Rösner, Carl  231, 268 Rossini, Gioacchino  167 Roth, Georg  547 Rottmayr, Johann Michael  335, 474 Ruben, Christoph Christian  440 Rubens, Peter Paul  394 Rudigier, Franz Joseph, Bischof von Linz  120, 240, 419 Rudnay, Alexander, Kardinal und Erzbischof von Esztergom  240 Rudolf IV., Herzog von Österreich  350 Rudolf, Kronprinz  12 Rumohr, Karl Friedrich von  238 Rumpelmayer, Viktor  444 Ruskin, John  53–54 Rziha, Franz  446 Saarinen, Eliel  63 Sacken, Eduard Freiherr von  119, 236 Salzenberg  234 Sanmicheli, Michele  123 Sann, Wilhelm von der  389 Sauvage, Henri  64 Savigny, Friedrich Karl von  34 Scala, Arthur von  50 Schachner, Friedrich   133–134, 531, 533, 545, 572, 575 Schellander  385, 389 Schembera, Viktor Karl  11–12, 17, 93, 100, 188, 194, 206, 210, 215–216, 220

Schemerl von Leythenbach, Josef  435 Schenk, Martin  73 Schestag, Franz  469 Schikaneder  191 Schiller, Friedrich  270–271, 279, 337 Schilling, Johannes  270–271 Schindler, Anton  466 Schinkel, Karl Friedrich  183, 186, 341 Schirach, Baldur von  21 Schlager, Johann Evangelist  473 Schlegel, Friedrich von  235 Schlögl, Friedrich  17, 18 Schmidt, Friedrich von  102, 107, 114–116, 119–120, 136, 167, 172–173, 176–179, 189–190, 197, 238, 240–241, 247, 365– 368, 409, 413, 416, 432, 443, 544 Schmiedgruber  243 Schmoranz, František  237 Schneider, Richard von  132, 537, 559 Schnoor, Christoph  69 Schöffel, Joseph  17 Scholl, Heinrich Baron von  455 Schön, Friedrich  132, 555 Schönborn, Friedrich Karl Graf von  333 Schönborn, Grafen von  475 Schönbrunner, F.  242 Schönbrunner, Ignaz  111, 167, 176, 179 Schönbrunner, Josef  176 Schönbrunner, Karl  176, 242 Schönerer, Georg von  13 Schor (Schorr), Künstlerfamilie  473 Schüler, Friedrich Julius  414 Schultze-Naumburg, Paul  83 Schumacher  63 Schurda, Anton  548, 559 Schuschek  237 Schwanthaler, Ludwig von  333 Schwarzl, Josef  102 Schweickhardt (Schweickhard) Ritter von Sickingen, Franz Xaver   417, 418, 419 Schwind, Moritz von  243, 336 Scott, George Gilbert  243 Scott, Walter  419 Semper, Anna  210 Semper, Gottfried  81, 91, 93–108, 139–140, 164–166, 181–184, 188–195, 198–199, 204–211, 215–224, 270, 274, 346, 444, 472, 535 Semper, Hans  93, 192, 194, 209–210, 215

Semper, Manfred  93, 102, 191–192, 194, 209–210, 215 Serlio, Sebastiano  123 Shakespeare, William  217, 568 Sicardsburg, August Sicard von  114, 172– 174, 260, 268, 432 Sickel, Theodor  210 Siegfried  141 Simony, Leopold  443 Sitte, Franz  33, 91–92, 114–118, 120, 122, 124–125, 138, 176, 230, 336 Sitte, Heinrich  11, 20, 27, 93 Sitte, Siegfried  60, 61, 100, 529 Sophokles  568 Sowinsky, Ignaz  133, 554 Spemann, W.  209 Spira  484, 501, 504, 506–507 Sprenger, Paul  117, 118, 230, 336 Stache, Friedrich August von  238, 260 Statz, V.  238, 240 Steinle, Edward Jakob von  242 Stettheimer von Burghausen, Hans, d. Ä.  227 Stettheimer von Burghausen, Hans, d. J.  227 Stewart, Charles T.  63 Stifter, Adalbert  34 Stoß (Stoss), Veit  481 Straubing, Jörg von  226–227 Strauss, Johann  18 Strebinger, Josef  162 Streit, Andreas   128 Stroßmayer  240 Strudel, Künstlerfamilie  473 Stübben, Hermann Joseph (Josef)  19, 38– 39, 63, 67, 83, 85, 87, 297, 303, 316, 319, 409, 440–443, 593, 596, 613, 616 Szeps, Moriz  12–13, 20 Taut, Bruno  81 Tautenhayn, Augustus von  198 Tegetthoff, Wilhelm von  277, 325 Teirich, Valentin  190 Tellacher, Adam  385 Tessenow, Heinrich  64 Theiss, Philipp  122 Theoderich (Theodorich), westgotischer König 448 Thienemann, Otto  113, 174, 351 Namenregister

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Thiersch, Friedrich von  83 Thoma, Ludwig  50 Thorvaldsen, Bertel  333 Thun-Hohenstein, Franz Graf von  232, 241 Thun-Hohenstein, Leo Graf von  33, 232 Tieck, Ludwig  235 Tietze, Hans  27 Tilgner, Viktor  309, 311, 440, 470, 506 Tischler, Ludwig  128 Tölk, E.  546 Tölk, Josef  133 Tomek, Heinrich   543  Torberg, Friedrich  20 Trenkwald, Josef Mathias  119, 180, 242–243 Troll, Karl  544 Tropsch, Rudolf  558 Tschischka, Franz  231, 473 Ungewitter, Georg Gottlob  238 Unwin, Raymond  48, 54–55 Vasari, Giorgio  246 Ville-Issey, Jean Nicolas Jadot de  439 Vinci, Leonardo da  256, 394, 468 Viollet-le-Duc, Eugène-Emmanuel  116, 485, 505 Vischer, Friedrich Theodor  35–39, 376 Vischer, Robert  469 Vitruv  74, 259, 516 Vogelweide, Walther von der  161 Voisin, Gabriel  65 Vonstadl  242 Vorherr, Gustav  23 Voss  304

Wagner, Richard  12, 92–93, 104–105, 216, 377, 442, 568 Wagner-Rieger, Renate  69, 105, 109 Wahl, J.  113, 173 Waldheim, R. von  197 Waldvogel, Anton  431 Wanecek, Eduard  543 Waserburger  482 Wastler, Josef  473 Weber, Paul  83 Weiß, K.  236 Weißenhofer, Robert  419 Westphal, Carl Friedrich Otto  262 Westreicher  243 Weyprecht, Carl  490 Weyr, Rudolf  198 Wieleman Edler von Monteforte, Alexander August  112, 114, 172, 174, 196 Wieser, Joseph Freiherr von  543 Wilczek, Johann Nepomuk Graf von  142– 143, 476, 482, 484, 487, 490, 494, 496, 501, 504–505, 506–507 Wilczek, Lucia Gräfin von  487, 508 Wilhelm, Erzherzog von Österreich  114 Wilhelm, Karin  71 Willebrand, Johann Peter  39 Winckelmann, Johann Joachim  95 Wolf, Heinrich  551 Wolff, Carl  591, 613 Wolff, Fritz  83 Wolfram, Aurel  21 Wörndle, August von  180, 242 Wright, Frank Lloyd  84 Wurzer, Ralph  55 

Wächter  241 Wagner von Wagenfels, Hans Jacob  473 Wagner, A.   113, 173 Wagner, Anton Paul  253 Wagner, Otto jun.  549 Wagner, Otto  17, 19, 21–22, 106, 129, 131, 133–140, 143, 174, 319, 351–352, 399, 440, 455, 526–528, 531, 533–536, 550, 571–572, 576

Zacherl, Johann  400 Zagler, Johann  551 Ziebland, Georg Friedrich  117, 233, 247 Zimmermann  235 Zipper  482 Zola, Emile  139, 534 Zuckerkandl-Szeps, Berta  20 Zumbusch, Caspar von  253, 278, 326–327, 329

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Namenregister

Kurzbiographien der Herausgeber und Autoren

Die Herausgeber Klaus Semsroth (*1939), Prof. Dr. Dr. h.c.; Studium von Architektur und Städtebau an den Technischen Universitäten in Wien und München; 1969 Diplom; ab 1970 Univ.-Ass. am Institut für Städtebau, Raumplanung und Raumordnung der TU Wien; 1974 Promotion bei Rudolf Wurzer im Bereich Industriegebietsplanung; 1984 Venia docendi für Städtebau unter besonderer Berücksichtigung der Bebauungsplanung; 1985–2000 Mitwirkung an der Entwicklungsplanung des Regierungsviertels der Landeshauptstadt St. Pölten; 1994 Univ.-Prof. an der TU Wien; 1996 Institutsvorstand am Institut für Städtebau; seit 1998 Dekan der Fakultät für Architektur und Raumplanung. Michael Mönninger (*1958), Prof. Dr.; Studium der Germanistik, Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte in Frankfurt; 1995 Promotion bei Heinrich Klotz und Hans Belting an der HfG Karlsruhe mit einer Arbeit über Kunsttheorie im 19. Jahrhundert; Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; Arbeit als Redakteur, Architekturkritiker und Auslandskorrespondent u.a. für die F.A.Z., den Spiegel und Die Zeit; seit 2007 Univ.-Prof. für Architektur- und Kunstgeschichte an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Christiane Crasemann Collins; Studium am Carleton College Northfield und an der Columbia University, New York; 1980–1981 Senior Fulbright Fellowship zur Vorbereitung des Buchs „Camillo Sitte. The Birth of Modern City Planning“ (mit George R. Collins, New York 1986); seit 1993 Arbeit am Buch „Werner Hegemann and the Search of Universal Urbanism“ (New York 2005); seit 2002 Co-Herausgeberin der „Camillo Sitte Gesamtausgabe”.

Die Autoren Wilfried Posch, em. o. Univ.-Prof. Dr. techn. habil., bis 2008 Leiter der Lehrkanzel für Städtebau, Raumplanung und Wohnungswesen sowie Stadtbaugeschichte an der Universität für Gestaltung in Linz; Rektor-Stellvertreter 1996–2000, korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Städte­bau und Landesplanung in Berlin, Architekt, Gutachter, Autor. 1992– Kurzbiographien der Herausgeber und Autoren

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1996 Mitglied des Beirats des Wiener Altstadterhaltungsfonds, Mitglied des Österreichischen Nationalkomitees ICOMOS (International Council on Monuments and Sites, Paris), rund 70 Veröffentlichungen über Städtebau und Umweltgestaltung, Roland-Rainer-Preis 1971, Ludwig-Jedlicka-Gedächtnis-Preis 1984, Preis der Österreichischen Fachpresse 1985. Mario Schwarz (*1945), Prof. Dr.; Studium der Architektur, Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie in Wien; 1975 Promotion zum Dr. phil.; 1981– 1983 Lehrbeauftragter für Kunstgeschichte an der TU Wien; 1985 Habilitation; 1994 Prof. am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien; Forschungen zur Architektur des Mittelalters und des 19. Jahrhunderts, Ausgrabungen und Bauforschungen in der Türkei und in Ägypten.

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Kurzbiographien der Herausgeber und Autoren