Klausurenkurs Arbeitsrecht: Individualarbeitsrecht 9783504380342

Das Werk enthält 22 ausformulierte Fälle mit Lösungen auf Examensniveau, die in jahrelanger Lehr- und Prüfungstätigkeit

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Klausurenkurs Arbeitsrecht: Individualarbeitsrecht
 9783504380342

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Preis Klausurenkurs Arbeitsrecht Individualarbeitsrecht

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Klausurenkurs

Arbeitsrecht Individualarbeitsrecht von

Prof. Dr. Ulrich Preis Universitätsprofessor Köln

2012

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über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 info®otto-schmidt.de www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-42686-6 ©2012 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Ühersetzungen, Mikroverfilml.lilge11 und die Einspei.chenmg und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten

Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: Griebsch &. Rochol, Hamm Druck und Verarbeitung: Betz, Darmstadt Printed in Germany

Vorwort

Das Individualarbeitsrecht gehört zum Pflichtstoff der Ersten juristischen Prüfung. In fast allen Juristenausbildungsgesetzen der Länder gehört damit das Arbeitsrecht, und zwar schon als Bestandteil des Bürgerlichen Rechts (§§ 611-630 BGB), zum Pflichtfachstoff. § 11 Abs. 2 Nr. 6 JAG NRW bestimmt den Umfang des Prüfungsstoffes wie folgt: „aus dem Arbeitsrecht im Überblick: Inhalt, Begründung und Beendigung des Arbeitsverhältnisses, Leistungsstörungen und Haftung im Arbeitsverhältnis einschließlich der zugehörigen Regelungen aus dem Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht“ (siehe ähnlich in § 7 Nr. 2 h JAG Hessen, § 18 JAPO Bayern u.a.). Es ist mit diesen Formulierungen ein weithin bundesweiter Konsens über die Prüfungsinhalte im Arbeitsrecht festzustellen. Problematisch ist freilich der Hinweis auf die „zugehörigen Regelungen aus dem Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht“. Bei extensiver Interpretation könnte so das gesamte Kollektivarbeitsrecht (mit Ausnahme des Arbeitskampfrechts) Prüfungsstoff sein, weil etwa in eine individualarbeitsrechtliche Grundfrage (z.B. Entgeltanspruch oder Kündigung eines Arbeitsverhältnisses) schwierigstes „zugehöriges“ Kollektivarbeitsrecht eingearbeitet werden kann. Man denke nur an die Fragen der Tarifbindung oder von tarifvertraglichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Kündigungsschutznormen. Dies kann aber durch die Gesetzgeber der Juristenausbildungsgesetze nicht gewollt gewesen sein. Insofern finden sich in diesem Klausurenband keine Klausuren mit komplexeren kollektivarbeitsrechtlichen Fragestellungen. Zur systematischen Durchdringung des Stoffes sei auf das im gleichen Verlag erschienene Lehrbuch zum Individualarbeitsrecht, 4. Aufl. 2012, verwiesen. In dem parallel erschienenen Band zum Kollektivarbeitsrecht, 3. Aufl. 2012, sind weitere Klausuren mit kollektivarbeitsrechtlichen Fragestellungen enthalten. Dieser Klausurenband versucht nunmehr, in 22 ausformulierten Fällen mit Lösungen, die zum Teil Gegenstand von Prüfungsarbeiten waren, den Studierenden und Examenskandidaten strukturierte Klausurlösungen für das Selbststudium an die Hand zu geben. Die Klausuren sind in jahrelanger Lehr- und Prüfungspraxis entstanden. Die Lösungshinweise sind so strukturiert, wie sie im Examen unter Wahrung des Gutachtenstils und eines logischen Aufbaus erwartet werden. Dabei ist zu bedenken, dass der Umfang der Lösungshinweise natürlich in einer fünfstündigen Klausur nicht erwartet werden kann. Insoweit helfen aber die Lösungshinweise, den eigenen Argumentationshaushalt zu vertiefen. Es ist ein weithin verbreiteter Irrglaube, die Benotung im Staatsexamen hinge davon ab, welches konkrete Ergebnis der Bearbeiter erzielt. Viel entscheidender ist, dass alle relevanten und entscheidungserheblichen Probleme erkannt (und vertieft) sowie ein strukturierter Prüfungsaufbau nebst ordentlicher Subsumtion vorgelegt werden. In diesem Sinne ist es unschädlich, wenn die Leser in Einzelfragen von den hier vertretenen Auffassungen abweichen.

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Vorwort Zu danken habe ich vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die die Klausuren in Examenskursen selbst „durchlitten“ und an deren Verbesserung stetig mitgewirkt haben. Für Kritik und Anregungen aus dem Kreis der Leserinnen und Leser bin ich immer dankbar. Köln, im September 2012

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Ulrich Preis

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fall 1: „Tiefkühlkost und Italienischkurse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arbeitnehmerbegriff; Arbeitnehmereigenschaft im Prozess, sog. sic-nonFall; Franchise-Nehmer als Arbeitnehmer; Einordnung von Volkshochschuldozenten)

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Fall 2: „Scientology und Zeitungsboten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arbeitnehmereigenschaft im Prozess, sog. aut-aut-Fall; Weg zu den Arbeitsgerichten; Tätigkeit im Verein als Mitgliedsbeitrag; Arbeitnehmerähnliche Person; Erhebung der Kündigungsschutzklage; Rückzahlungsanspruch)

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Fall 3: „Das unerwünschte Kopftuch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Europäisches Arbeitsrecht; Grundrechte im Arbeitsverhältnis; Kündigung und Diskriminierungsverbot; Wirksamkeit und Auslegung des § 2 Abs. 4 AGG; Kündigung im Falle der Leistungsverweigerung; Maßregelungsverbot; Wirksamkeit einer Abmahnung; Leistungsverweigerungsrecht)

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Fall 4: „Spitzel am Flughafen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arglistige Täuschung bei Einstellungsgespräch; Frage nach MfS-Tätigkeit; Verschweigen der Schwangerschaft im bestehenden Arbeitsverhältnis; Benachteiligungsverbot nach AGG; Rückabwicklung des (vollzogenen) Arbeitsverhältnisses; außer Funktion gesetztes Arbeitsverhältnis)

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Fall 5: „Der Hochstapler“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Voraussetzungen des Erlasses eines Versäumnisurteils; Nichtigkeit nach § 134 BGB; Grundsätze des fehlerhaften Arbeitsverhältnisses; Ausschluss der Saldierung nach § 817 S. 2 BGB; Anfechtbarkeit eines nichtigen Rechtsgeschäfts; Anwendbarkeit des § 288 Abs. 2 BGB auf bereicherungsrechtliche Rückgewähransprüche; Verbrauchereigenschaft von Arbeitnehmern im Rahmen des § 288 Abs. 2 BGB)

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Fall 6: „Leere Versprechungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Erhebung der Kündigungsschutzklage und Anwendbarkeit von § 4 KSchG; Ausschluss des Kündigungsrechts; Unwirksamkeit der Kündigung wegen AGG; Beweislast des § 22 AGG; Zugang der Kündigung am 24.12.; § 242 BGB; § 628 Abs. 2 BGB; Schadensersatz bei vorvertraglicher Pflichtverletzung; Verdienstausfall; Negatives und positives Interesse bei der Schadensberechnung; Kausalitätsunterbrechung des Schadensersatzanspruchs bei Abschluss eines neuen Arbeitverhältnisses („Endloshaftung“))

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Inhaltsverzeichnis

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Fall 7: „Loch in der Kasse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arbeitnehmerhaftung; Mankohaftung und Mankoabrede bei Kassenfehlbeständen; Inhaltskontrolle gemäß § 309 Nr. 12 BGB; Beweislast bei Arbeitnehmerhaftung, § 619a BGB; Aufhebungsvertrag; Widerrufsrecht eines Aufhebungsvertrags nach §§ 312 Abs. 1, 355 BGB; Arbeitnehmer als Verbraucher)

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Fall 8: „Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arbeitnehmerhaftung; Haftung des Auszubildenden; Haftungsmilderung im Arbeitsverhältnis; Bezugspunkt des Verschuldens; Haftung unter Arbeitskollegen und im gemeinsamen Betrieb, §§ 104 ff. SGB VII; Schmerzensgeld; Freistellungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber)

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Fall 9: „Unfall mit Folgen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Aufrechnung; Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung; Dispositivität der Arbeitnehmerhaftung; Haftung des Arbeitgebers für arbeitsbedingte Eigenschäden des Arbeitnehmers; Kündigungsschutzklage; Dispositivität des § 622 BGB; Rechtsfolgen zu kurz gesetzter Kündigungsfristen; Anwendbarkeit des § 4 KSchG auf § 622 BGB)

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Fall 10: „Das exklusive Wellnesshotel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Gesamtzusage; Sonderzahlungen; AGB-Kontrolle von Freiwilligkeitsvorbehalten; Betriebliche Übung/Negative betriebliche Übung; Konkludente Vertragszusagen)

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Fall 11: „Der aufsässige Monteur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Annahmeverzug; Entbehrlichkeit des Angebots; Maßregelungsverbot; Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz)

199

Fall 12: „Kündigungsärger mit der Konzernholding“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Anwendbarkeit des KSchG; Kleinbetriebsklausel; Gemeinschaftsbetrieb; Berechnungsdurchgriff im Konzern; Anwendung des KSchG trotz Kleinbetrieb?)

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Fall 13: „Die nicht examinierte Lehrerin“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Arbeitnehmerbegriff; Zugang der Kündigungserklärung; Abgrenzung betriebsbedingte, verhaltensbedingte, personenbedingte Kündigung)

222

Fall 14: „Gesundheitsprobleme“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Kündigung wegen häufiger Kurzzeiterkrankungen; Negativprognose; Abgrenzung personen- und verhaltensbedingte Kündigung)

233

Fall 15: „Morbider Krankenpfleger“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Zulassung verspäteter Klage, § 5 KSchG; Zugang der Kündigung während Urlaubsabwesenheit; Verhaltensbedingte Kündigung; Nebentätigkeitsverbote; Mehrfachabmahnung)

248

Fall 16: „Pünktliche Verspätungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Voraussetzungen einer verhaltensbedingten Kündigung, insbesondere schuldhafte Vertragspflichtverletzung; Ultima-Ratio-Prinzip)

261

Inhaltsverzeichnis

Fall 17: „Überteuertes Gemüse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Außerordentliche Kündigung; Verdachtskündigung)

273

Fall 18: „Der low performer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Kündigung wegen dauerhafter und erheblicher Minderleistung des Arbeitnehmers; Abgrenzung zwischen personen-, verhaltens- und betriebsbedingter Kündigung; Leistungsbegriff im Arbeitsverhältnis; Zugangsverständnis einer Willenserklärung)

285

Fall 19: „Produktionsdrosselung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Betriebsbedingte Kündigung; Zugang der Kündigungserklärung während Urlaubsabwesenheit; Zugang bei treuwidriger Zugangsverzögerung; Vorrang der Änderungs- vor einer Beendigungskündigung; Auswahlrelevanter Personenkreis bei Sozialauswahl)

308

Fall 20: „Schichtwechsel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Voraussetzungen einer Änderungskündigung; Voraussetzungen einer betriebsbedingten Kündigung)

338

Fall 21: „Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Betriebsübergang, § 613a BGB; Widerspruch gegen Betriebsübergang; Betriebsbedingte Kündigung; Sozialauswahl bei Widerspruch gegen Betriebsübergang)

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Fall 22: „Befristungen ohne Ende?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Entfristungsklage; Streitgegenstand der Entfristungsklage bei sog. Kettenbefristungen; Voraussetzungen der sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1, Halbs. 2 TzBfG; Anschlussverbot des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG: vertragsrechtlicher Arbeitgeberbegriff; fragliche rechtsmissbräuchliche Umgehung durch konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung; Auslegung des Tatbestandsmerkmals „zuvor“; Sachgrundlose Befristung durch „Verlängerung“ des Arbeitsvertrags i.S.d. § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG: Problem der Änderung von Vertragsbedingungen bei Abschluss der neuen Befristungsvereinbarung; Sachgrundbefristung gemäß § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG, insbesondere die sog. Projektbefristung; Wiedereinstellungsanspruch; „Nachholung der Schriftform“ des § 14 Abs. 4 TzBfG)

370

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Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis

APS/BEARBEITER ASCHEID/PREIS/SCHMIDT (Hrsg.), Kündigungsrecht, Großkommentar, 4. Aufl. 2012 AWK/BEARBEITER DAUNER-LIEB/HEIDEL/RIND (Hrsg.), Anwaltkommentar BGB, 2. Aufl. 2012 BAUMBACH/LAUTERBACH/ALBERS/HARTMANN Kommentar zur ZPO, 70. Aufl. 2012 BR/BEARBEITER BAMBERGER/ROTH (Hrsg.), Kommentar zum BGB, 3. Aufl. 2012 BROX/WALKER Allgemeiner Teil des BGB, 35. Aufl. 2011 DAUNER-LIEB/HENSSLER/PREIS Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht, 2006 DBD/BEARBEITER DÄUBLER/BONIN/DEINERT, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010 ERFK/BEARBEITER MÜLLER-GLÖGE/PREIS/SCHMIDT (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 12. Aufl. 2012 ERMAN/BEARBEITER BGB, Handkommentar, 13. Aufl. 2011 GOTTHARDT Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, 2. Aufl. 2003 HBD/BEARBEITER HÜMMERISCH/BOECKEN/DÜWELL (Hrsg.), AnwaltKommentar Arbeitsrecht, 2 Bände, 2. Aufl. 2010 HENSSLER Der Arbeitsvertrag im Konzern, 1983 HN/BEARBEITER HAUCK/NOFTZ (Hrsg.), Kommentar zum SGB VII, Loseblatt V.

HOYNINGEN-HUENE/LINCK Kündigungsschutzgesetz, Kommentar, 14. Aufl. 2007 HROMADKA/MASCHMANN Arbeitsrecht, Band 1, 5. Aufl. 2012, Band 2, 5. Aufl. 2010 HUECK/NIPPERDEY Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. I, 7. Aufl. 1967 HWK/BEARBEITER HENSSLER/WILLEMSEN/KALB (Hrsg.), Arbeitsrecht Kommentar, 5. Aufl. 2012

XI

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XIII

„Tiefkühlkost und Italienischkurse“

Falldarstellung

Fall 1

Fall 1: „Tiefkühlkost und Italienischkurse“ Falldarstellung Ausgangsfall M vertreibt Tiefkühlprodukte, die er seinen Kunden nach Hause liefert. Seiner Tätigkeit liegt ein Franchise-Vertrag mit der Z-GmbH mit Sitz in S zugrunde, die in ihrer Verwaltungszentrale 20 Büroangestellte und bundesweit 100 Verkaufsfahrer als Franchise-Nehmer beschäftigt. Nach seinem Vertrag ist M verpflichtet, in dem ihm zugewiesenen Vertriebsgebiet im Umkreis der Großstadt T Produkte aus dem Sortiment der Z-GmbH zu verkaufen, wobei ihm Verkaufsfahrten vor 8 Uhr und nach 20 Uhr untersagt sind. M verkauft die Produkte in eigenem Namen und auf eigene Rechnung. Dabei hält er regelmäßig die von der Z-GmbH vorgegebenen unverbindlichen Preisempfehlungen ein. M ist verpflichtet, monatlich Waren in einem Mindestwert von 5.000 Euro abzunehmen und eine Gebühr von 250 Euro für die Nutzung des Namens und des Logos der Z-GmbH, die zentral organisierte Werbung und die laufende Betreuung zu entrichten. Die Z-GmbH hat nach dem mit M geschlossenen Vertrag das Recht, die Geschäftsunterlagen des M, insbesondere seine Kundenkartei, jederzeit einzusehen. Neben den Produkten der Z-GmbH, die er aus deren reichhaltigen Sortiment auswählen kann, darf M in geringem Umfang Produkte anderer Hersteller verkaufen. Den Kleintransporter, der eigens für den Transport der Tiefkühlprodukte umgebaut ist, musste M in fertigem Zustand von der Z-GmbH kaufen. Zudem hat er für seine eigene Werbung das Material der Z-GmbH zu übernehmen, die von der Z-GmbH konzipierten Rechnungsformulare zu verwenden und die von der Z-GmbH vorgesehene Dienstkleidung zu tragen, die er von dieser kauft. M beschäftigt einen Studenten, der zweimal wöchentlich nachmittags seine Verkaufsfahrten übernimmt, wogegen die Z-GmbH nichts einzuwenden hat. Im Krankheitsfall und während seines Urlaubs, der nicht länger als sechs Wochen jährlich sein darf und dessen Zeitpunkt er mit der Z-GmbH abstimmen muss, muss M selbst für einen Ersatzfahrer sorgen. Nach dreijähriger Zusammenarbeit, die ohne größere Probleme verlaufen ist, beschließen die Gesellschafter der Z-GmbH, dem bis dahin arbeitslosen Y, der mit X, dem Geschäftsführer der GmbH verwandt ist, das Vertriebsgebiet des M zu übertragen. X teilt M daraufhin mit, die Z-GmbH benötige seine Mitarbeit zum 28.2.2011 nicht mehr. Das entsprechende Schreiben geht M am Samstag, dem 6.11.2010 zu. Daraufhin erhebt M am Montag, dem 29.11.2010 Klage beim Arbeitsgericht in T, da er der Auffassung ist, der Kündigung fehle es an einem gesetzlich anerkannten Kündigungsgrund. Er beantragt die Feststellung, dass sein Vertragsverhältnis mit der Z-GmbH durch die Kündigung nicht aufgelöst worden ist. Frage: Wie wird das Arbeitsgericht entscheiden?

Abwandlung Da der Verkauf der Tiefkühlprodukte des M nur mäßig florierte, ist Ms Frau F in den Abendstunden und am Wochenende als Kursleiterin an der Volkshochschule

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Fall 1

Lösungsskizze

„Tiefkühlkost und Italienischkurse“

(VHS) tätig. Von September bis Juni gibt sie in den Abendstunden einmal wöchentlich einen Sprachkurs, und an acht Wochenenden hält sie Vorträge über die „italienische Renaissance“. Für diese Kurse werden jeweils gesonderte „Dienstverträge“ abgeschlossen. Die zeitliche Lage der Kurse kann F weitgehend frei bestimmen. Für den Sprachkurs hat sie jedoch besondere Vorgaben für den Unterrichtsinhalt zu beachten. Die Kurse werden in den Räumen der VHS abgehalten. Als F während des Semesters wegen eines Beinbruchs sechs Wochen arbeitsunfähig ist, verlangt sie von der VHS Lohnfortzahlung. Als die VHS diese verweigert, überlegt F, ob sie ihre Forderung gerichtlich geltend machen soll. Frage: Wäre eine Klage der F auf Lohnfortzahlung begründet?

Ü

Rechtsfragen: –

Arbeitnehmerbegriff



Arbeitnehmereigenschaft im Prozess, sog. sic-non-Fall



Franchise-Nehmer als Arbeitnehmer



Einordnung von Volkshochschuldozenten

Lösungsskizze Ausgangsfall A. Zulässigkeit der Klage I. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit: § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG Voraussetzung: Arbeitnehmereigenschaft: Entsprechende Behauptung des M ausreichend, da „qualifizierte Prozessvoraussetzung“ II. Instanzielle Zuständigkeit des Arbeitsgerichts (§ 8 Abs. 1 ArbGG) III. Örtliche Zuständigkeit (§ 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, §§ 17 Abs. 1, 29 Abs. 1, 35 ZPO) IV. Parteifähigkeit (§ 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 59 Abs. 1 ZPO) Rechtsfähigkeit des M und der Z-GmbH (§ 31 Abs. 1 GmbHG) V. Prozessfähigkeit (§ 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 52 ZPO) Geschäftsfähigkeit des M, Vertretung der Z-GmbH durch ihren Geschäftsführer (§ 35 Abs. 1 GmbHG) VI. Postulationsfähigkeit Kein Anwaltszwang vor dem Arbeitsgericht (§ 11 ArbGG) VII. Klageart i.S.d. § 4 KSchG Arbeitnehmereigenschaft zu unterstellen, da „qualifizierte Prozessvoraussetzung“

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„Tiefkühlkost und Italienischkurse“

Lösungsskizze Fall 1

VIII. Feststellungsinteresse Wird bei der Kündigungsschutzklage i.S.d. § 4 KSchG aufgrund der Gefahr der materiellen Präklusion (§§ 4, 7 KSchG) vermutet IX. Klagefrist Keine Frage der Zulässigkeit, da § 4 KSchG materiellrechtliche Ausschlussfrist X. Ordnungsgemäße Klageerhebung Form (§ 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 253 ZPO) XI. Keine anderweitige Rechtshängigkeit oder entgegenstehende Rechtskraft XII. Zwischenergebnis: Die Klage des M ist zulässig. B. Begründetheit der Klage I. Wirksame Kündigungserklärung (§§ 104 ff. BGB) II. Einhaltung der Kündigungsfrist In jedem Fall eingehalten, egal ob Arbeitsverhältnis, freies Dienstverhältnis oder Vertragsverhältnis mit einem freien Handelsvertreter III. Allgemeiner Kündigungsschutz aus § 1 KSchG Voraussetzung: Anwendbarkeit des KSchG 1. Arbeitnehmereigenschaft des M Kriterien für persönliche Abhängigkeit a) Arbeitsort und Arbeitszeit b) Personelle Dispositionsmöglichkeiten c) Inhalt der Tätigkeit d) Umfang der Tätigkeit e) Auftreten nach außen f) Umgang mit Geschäftsunterlagen g) Abschließende Bewertung anhand der vom BAG entwickelten Kriterien h) Bewertung anhand der Verteilung des Unternehmerrisikos 2. Zwischenergebnis M ist kein Arbeitnehmer, KSchG nicht anwendbar C. Ergebnis: Die Klage des M ist zulässig, aber unbegründet

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Fall 1

Lösungsvorschlag

„Tiefkühlkost und Italienischkurse“

Abwandlung A. Arbeitnehmereigenschaft der F Kriterien für persönliche Abhängigkeit: I. Arbeitsort II. Arbeitszeit III. Umfang der Tätigkeit IV. Inhalt der Tätigkeit V. Nebenpflichten außerhalb der Unterrichtstätigkeit VI. Abschließende Bewertung anhand der vom BAG entwickelten Kriterien VII. Bewertung anhand der Verteilung des Unternehmerrisikos B. Ergebnis: Kein Anspruch der F auf Entgeltfortzahlung, Klage unbegründet

Lösungsvorschlag Ausgangsfall Das Arbeitsgericht wird der von M erhobenen Klage stattgeben, wenn diese zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit der Klage Die Klage des M ist zulässig, wenn die folgenden Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen: I. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit Die Zulässigkeit der Klage setzt zunächst voraus, dass der Rechtsstreit in die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit fällt. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG sind die Gerichte für Arbeitssachen für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses zuständig. Die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit ist im vorliegenden Fall mithin davon abhängig, ob M als Arbeitnehmer i.S.d. § 5 ArbGG anzusehen ist. Wie sich aus § 17a Abs. 2 S. 1 GVG i.V.m. § 48 Abs. 1 ArbGG ergibt, ist die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit als Prozessvoraussetzung regelmäßig von Amts wegen zu prüfen. D.h., das angerufene Arbeitsgericht muss die Voraussetzungen für die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit, notfalls mit Hilfe einer Beweisaufnahme, im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung abschließend feststellen und bei nicht gegebener Zuständigkeit den Rechtsstreit von Amts wegen an das zuständige (Zivil-) Gericht verweisen (§ 48 Abs. 1 ArbGG, § 17a Abs. 2 S. 1 GVG). Wendet man diesen Grundsatz auf den vorliegenden Fall an, müsste das Arbeitsgericht im Rahmen der Zulässigkeit der Klage abschließend über die Arbeitnehmereigenschaft des M entscheiden.

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„Tiefkühlkost und Italienischkurse“

Lösungsvorschlag Fall 1

Von der Notwendigkeit, die Arbeitnehmereigenschaft im Rahmen der Zulässigkeit der Klage nachzuweisen, erkennt das BAG jedoch Ausnahmen an. Nach der Rechtsprechung des BAG genügt bei den sog. qualifizierten Prozessvoraussetzungen (auch doppelrelevante Tatsachen genannt) der schlüssige Vortrag oder sogar die Behauptung des Klägers, er sei Arbeitnehmer, um die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit zu begründen, ohne dass es einer Beweisaufnahme mit abschließender gerichtlicher Entscheidung bedarf. Insofern wird hier eine Ausnahme von dem Grundsatz zugelassen, dass über die Begründetheit der Klage erst entschieden werden kann, wenn ihre Zulässigkeit feststeht. Voraussetzung hierfür ist nach der Rechtsprechung des BAG, dass für den Anspruch des Klägers allein eine arbeitsrechtliche Grundlage in Betracht kommt und von der Arbeitnehmereigenschaft sowohl die Rechtswegzuständigkeit abhängt als auch die Begründetheit des geltend gemachten Anspruchs (sog. sic-nonFall). In einem solchen Fall liegt in einer Verneinung der Zuständigkeit, die sich auf die fehlende Arbeitnehmereigenschaft stützt, zwangsläufig auch eine negative materielle Entscheidung über den Anspruch des Klägers, der an die Arbeitnehmereigenschaft gebunden ist. Würde der Rechtsstreit nach Verneinung der Arbeitnehmereigenschaft in der Zulässigkeitsprüfung an ein Zivilgericht verwiesen, müsste dieses die Klage jedenfalls als unbegründet abweisen, weil die Arbeitnehmereigenschaft zwingende Voraussetzung für Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis ist und es daneben keine weitere einschlägige Anspruchsgrundlage im allgemeinen Zivilrecht gibt. Die Verweisung an die Zivilgerichtsbarkeit wäre für den Kläger mithin nicht mit der Möglichkeit einer positiven Sachentscheidung verbunden. Deshalb spricht der Grundsatz der Prozessökonomie dafür, dass bereits das Arbeitsgericht die Klage mit materieller Rechtskraft abweisen kann (obwohl wegen der Unzuständigkeit eigentlich nur ein Prozessurteil mit formeller Rechtskraft ergehen dürfte). Ein abweisendes Urteil des Arbeitsgerichts setzt voraus, dass das Arbeitsgericht den Anspruch materiell geprüft und die Unbegründetheit der Klage festgestellt hat. Daher wird in Fällen, in denen die Arbeitnehmereigenschaft sowohl für die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit als auch für die Begründetheit des geltend gemachten Anspruchs entscheidend ist, die Prüfung der Arbeitnehmereigenschaft in die Begründetheitsprüfung „verlagert“. Im Rahmen der Zulässigkeit genügt – abweichend vom Grundsatz der vorrangigen Feststellung der Zulässigkeit vor der Begründetheitsprüfung – nach der Rechtsprechung des BAG bereits die Behauptung des Klägers (und nicht erst der schlüssige Vortrag), er sei Arbeitnehmer. Im vorliegenden Fall begehrt M die Feststellung, dass das Franchise-Verhältnis zwischen ihm und der Z-GmbH nicht durch die ordentliche Kündigung vom 6.11.2010 aufgelöst worden ist. Das allgemeine Zivilrecht kennt keine materiellen Beschränkungen des Rechts zur ordentlichen Kündigung eines Vertragsverhältnisses. Derartige Beschränkungen können sich lediglich aus dem Kündigungsschutzgesetz ergeben. Dies gilt gemäß § 1 Abs. 1 KSchG nur für Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmereigenschaft des M ist damit nicht nur Voraussetzung für die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit, sondern entscheidet gleichzeitig über die Begründetheit der von M erhobenen Klage. Würde das Arbeitsgericht die Arbeitnehmereigenschaft des M im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung abschließend verneinen und den Rechtsstreit an das zuständige Zivilge-

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Fall 1

Lösungsvorschlag

„Tiefkühlkost und Italienischkurse“

richt verweisen, brächte dies für M keinerlei Vorteil. Mangels einer einschlägigen Rechtsgrundlage außerhalb des KSchG müsste die Klage des M hier als unbegründet abgewiesen werden. Um dieses doppelte Verfahren zu vermeiden, ist daher im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung die Behauptung des M, er sei Arbeitnehmer, ausreichend und die abschließende Prüfung der Arbeitnehmereigenschaft erst im Rahmen der Begründetheitsprüfung vorzunehmen. II. Instanzielle Zuständigkeit M hat die Klage beim Arbeitsgericht in T erhoben. Gemäß § 8 Abs. 1 ArbGG sind die Arbeitsgerichte für Verfahren im ersten Rechtszug zuständig, so dass die instanzielle Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gegeben ist. III. Örtliche Zuständigkeit Hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit sind im ArbGG bis auf den neu geschaffenen § 48 Abs. 1a ArbGG, der insbesondere für längerfristig in Fremdbetrieben eingesetzte Arbeitnehmer oder Handlungsreisende einen besonderen (Wahl)Gerichtsstand geschaffen hat, keine Regelungen enthalten. Über § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG gelten für die örtliche Zuständigkeit jedoch die Bestimmungen der ZPO hinsichtlich des Gerichtsstandes. Gemäß § 17 Abs. 1 ZPO wird der allgemeine Gerichtsstand einer Gesellschaft durch ihren Sitz bestimmt. Für eine gegen die Z-GmbH gerichtete Klage ist daher das für die Stadt S zuständige Gericht anzurufen. M hat seine Klage jedoch nicht beim Arbeitsgericht in S, sondern beim Arbeitsgericht in T erhoben. Allerdings kommt für eine Klage, die auf einen Vertrag gestützt ist, der besondere Gerichtsstand des Erfüllungsortes in Betracht. Denn gemäß § 29 Abs. 1 ZPO ist für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis und über dessen Bestehen das Gericht des Ortes zuständig, an dem die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist. Da der Vertrag zwischen M und der Z-GmbH diesen zur Auslieferung von Tiefkühlkost in der Stadt T verpflichtet und der Fortbestand dieser Verpflichtung in Streit steht, fällt diese Streitigkeit in die Kompetenz des für die Stadt T zuständigen Gerichts. Da der Kläger gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 35 ZPO zwischen mehreren zuständigen Gerichten die Wahl hat, hat M die Klage bei einem örtlich zuständigen Gericht erhoben. IV. Parteifähigkeit Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 50 Abs. 1 ZPO ist parteifähig, wer rechtsfähig ist. Sowohl M als natürliche Person als auch die Z-GmbH (vgl. § 13 Abs. 1 GmbHG) sind rechtsfähig und damit parteifähig. V. Prozessfähigkeit Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 52 ZPO richtet sich die Prozessfähigkeit natürlicher Personen nach ihrer Geschäftsfähigkeit. Diese steht bei M außer Zweifel. Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 51 Abs. 1 ZPO, § 35 Abs. 1 GmbHG muss die Z-GmbH im Prozess durch ihren Geschäftsführer vertreten werden. VI. Postulationsfähigkeit Gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 ArbGG besteht in einem erstinstanzlichen Verfahren kein Anwaltszwang.

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Lösungsvorschlag Fall 1

VII. Klageart Die Frage, welche Klageart die richtige ist, richtet sich nach dem Begehren des Klägers. Wendet sich der Kläger gegen eine Kündigung, kommt hierfür entweder die Kündigungsschutzklage i.S.d. § 4 S. 1 KSchG oder eine allgemeine Feststellungsklage gemäß § 256 Abs. 1 ZPO in Betracht. Die Kündigungsschutzklage ist die richtige Klageart, wenn der Kläger geltend macht, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam sei, wobei sie unabhängig von der Anwendbarkeit des KSchG erhoben werden kann, § 23 Abs. 1 S. 2, S. 3 KSchG. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, dass die Kündigungsschutzklage eine besondere Form der Feststellungsklage darstellt. Die Prüfung, ob die Kündigungsschutzklage oder die allgemeine Feststellungsklage die richtige Klageart ist, zielt nicht darauf ab, die Klage möglicherweise wegen Wahl der falschen Klageart abzuweisen. Von der Frage, ob der Klageantrag als Erhebung einer Kündigungsschutzklage oder einer allgemeinen Feststellungsklage zu interpretieren ist, hängt vielmehr ab, welche weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Klage gelten und welcher Streitgegenstand im Rahmen der Begründetheit untersucht wird. So muss eine Kündigungsschutzklage gemäß § 4 S. 1 KSchG innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhoben werden, während die Erhebung einer allgemeinen Feststellungsklage an keine Frist gebunden ist. Die Zulässigkeit einer allgemeinen Feststellungsklage setzt die ausdrückliche Geltendmachung eines Feststellungsinteresses voraus, welches bei der Kündigungsschutzklage vermutet wird und daher nicht mehr vom Kläger dargelegt werden muss. Während der Streitgegenstand der Kündigungsschutzklage auf die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit gerade der angegriffenen Kündigung beschränkt ist (sog. punktuelle Streitgegenstandstheorie), wird im Rahmen der allgemeinen Feststellungsklage der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses im Ganzen geprüft, womit gegebenenfalls die Prüfung mehrerer zeitlich aufeinanderfolgender Kündigungen verbunden sein kann. Fraglich ist mithin, ob es sich bei der von M erhobenen Klage um eine Kündigungsschutzklage oder um eine allgemeine Feststellungsklage handelt. M ist der Auffassung, der Kündigung vom 6.11.2010 fehle ein gesetzlich anerkannter Kündigungsgrund. Da die Bindung einer ordentlichen Kündigung an bestimmte, gesetzlich anerkannte Gründe lediglich für Arbeitsverhältnisse im Sinne des KSchG vorgesehen ist, will M also die Sozialwidrigkeit der Kündigung geltend machen. Wie in § 4 S. 1 KSchG für die Erhebung der Kündigungsschutzklage verlangt, ist sein Klageantrag auf die gerichtliche Feststellung gerichtet, dass das Vertragsverhältnis zwischen ihm und der Z-GmbH durch diese Kündigung nicht aufgelöst worden ist. Ob die Kündigungsschutzklage die richtige Klageart ist, ist jedoch insofern fraglich, als die Arbeitnehmereigenschaft des M und damit die Geltung des KSchG zweifelhaft ist. Wie bereits im Rahmen der Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit erläutert, handelt es sich bei der Arbeitnehmereigenschaft des M jedoch um eine sog. qualifizierte Prozessvoraussetzung. Der von M beanspruchte Kündigungsschutz kann nur bei Bejahung seiner Arbeitnehmereigenschaft eingreifen und materielle Kündigungsbeschränkungen sind außerhalb des KSchG nicht gegeben. Wollte man M auf eine allgemeine Feststellungsklage verweisen, wäre diese folglich

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Fall 1

Lösungsvorschlag

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zwangsläufig unbegründet. Da von der Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft des M mithin gleichzeitig die materielle Entscheidung über das Klagebegehren abhängt, ist diese im Rahmen der Begründetheit einer Kündigungsschutzklage zu prüfen. Für die Frage der Klageart ist die Arbeitnehmereigenschaft des M zu unterstellen. Mithin handelt es sich bei der von M erhobenen Klage um eine Kündigungsschutzklage i.S.d. § 4 S. 1 KSchG. VIII. Feststellungsinteresse Grundsätzlich muss für eine Feststellungsklage ein besonderes Feststellungsinteresse bestehen (vgl. § 256 Abs. 1 ZPO). Wie bereits erwähnt wurde, ist die Darlegung eines besonderen Feststellungsinteresses im Gegensatz zur allgemeinen Feststellungsklage für die Kündigungsschutzklage jedoch nicht erforderlich. Das Feststellungsinteresse ergibt sich insofern bereits aus der Regelung des § 7 KSchG, nach dem die Kündigung von Anfang an als wirksam gilt, wenn die Unwirksamkeit der Kündigung nicht rechtzeitig geltend gemacht wird.1 IX. Klagefrist Darüber hinaus unterliegt die Kündigungsschutzklage keiner prozessrechtlichen Klagefrist. Denn bei der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG handelt es sich nicht um eine Zulässigkeitsvoraussetzung, sondern um eine materielle Ausschlussfrist, auf die erst in der Begründetheit einzugehen ist. X. Ordnungsgemäße Klageerhebung Die Form, insbesondere der notwendige Inhalt der beim Arbeitsgericht zur Klageerhebung einzureichenden Klageschrift, ergibt sich aus § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 253 ZPO. Es ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. XI. Keine anderweitige Rechtshängigkeit oder entgegenstehende Rechtskraft Wie sich aus § 48 Abs. 1 ArbGG, § 17 Abs. 1 S. 2 GVG bzw. § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, §§ 495, 322, 325 ZPO ergibt, ist eine Klage nur zulässig, wenn ihr keine anderweitige Rechtshängigkeit bzw. keine zwischen den Parteien wirkende Rechtskraft entgegensteht. Dafür liegen im vorliegenden Fall keine Anzeichen vor. XII. Zwischenergebnis Die von M beim Arbeitsgericht in T am 29.11.2010 erhobene Kündigungsschutzklage ist zulässig. B. Begründetheit der Klage Die Klage des M ist begründet, wenn die angegriffene Kündigung nicht den zwingenden Rechtsvorschriften über die Wirksamkeit und ggf. der sozialen Rechtfertigung einer Kündigung entspricht. 1 BAG 11.2.1981 AP KSchG 1969 § 4 Nr. 8.

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Lösungsvorschlag Fall 1

I. Wirksame Kündigungserklärung Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen. Zweifel an der Wirksamkeit der Willenserklärung bestehen im vorliegenden Fall nicht. Das Schreiben der Z-GmbH genügt dem Formerfordernis des § 623 BGB, wonach die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses durch Kündigung zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform bedarf. Mithin kann die Frage, ob M Arbeitnehmer ist, an dieser Stelle dahinstehen. Von seinem Inhalt war das Schreiben auch hinreichend bestimmt, so dass für M der Wille der Z-GmbH, das Vertragsverhältnis mit Wirkung für die Zukunft zu beenden, zweifelsfrei erkennbar war. X ist als Geschäftsführer der Z-GmbH zu deren Vertretung berechtigt (vgl. § 35 Abs. 1 GmbHG), so dass die von ihm abgegebene Erklärung für die Z-GmbH wirkt (vgl. § 164 Abs. 1 BGB). Die Kündigung ist dem M zudem zugegangen i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB. II. Einhaltung der Kündigungsfrist Weiterhin ist zu prüfen, ob eine gegebenenfalls zu beachtende Kündigungsfrist eingehalten worden ist. Die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist führt zwar in der Regel nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Denn im Regelfall lässt sich die Kündigungserklärung dahingehend auslegen, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum nächstmöglichen Termin gewollt ist.2 In dem Vertrag zwischen M und der Z-GmbH ist keine Kündigungsfrist vereinbart, so dass auf die gesetzlich festgelegten Kündigungsfristen zurückzugreifen ist. Gemäß § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB genießen Arbeitnehmer mit einer Betriebszugehörigkeit von zwei Jahren eine Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende. Dagegen kann gemäß § 621 Nr. 3 BGB ein freies Dienstverhältnis, für das die Vergütung nach Monaten bemessen ist, unabhängig von seiner Bestandsdauer jeweils zum 15. des Monats mit Wirkung zum Monatsende gekündigt werden. Zudem legt § 89 Abs. 1 HGB eine Kündigungsfrist für das Vertragsverhältnis eines Handelsvertreters fest, deren analoge Anwendung man im vorliegenden Fall erwägen könnte. Diese beträgt im dritten bis fünften Jahr nach Vertragsschluss drei Monate zum Monatsende. Die Z-GmbH hat dem M am 6.11.2010 mit Wirkung zum Ende Februar 2011 gekündigt. Damit hat sie auch die längste der in Frage kommenden Fristen eingehalten. Die Frage, wie das Rechtsverhältnis zwischen M und der Z-GmbH einzuordnen, und welche Bestimmung im vorliegenden Fall damit einschlägig ist, kann daher auch an dieser Stelle dahinstehen, denn alle genannten gesetzlichen Kündigungsfristen stellen nur Mindestfristen dar. Die freiwillige Einhaltung einer längeren Frist ist auf Grund des Günstigkeitsprinzips stets zulässig, denn hierdurch wird es dem Vertragspartner ermöglicht, sich frühzeitig auf die Beendigung des Vertragsverhältnisses einzustellen und entsprechende Dispositionen zu treffen.

2 JUNKER, Arbeitsrecht, § 6 Rn. 383 m.w.N.

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Fall 1

Lösungsvorschlag

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Die Kündigung der Z-GmbH unterschreitet daher die gesetzlichen Mindestkündigungsfristen nicht. III. Allgemeiner Kündigungsschutz aus § 1 KSchG Die Kündigung gegenüber M könnte gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. Ob die Kündigung sozial gerechtfertigt ist, ist nur dann von Bedeutung, wenn M den allgemeinen Kündigungsschutz gemäß § 1 KSchG genießt, also das KSchG anwendbar ist. Dies ist gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG dann der Fall, wenn das Arbeitsverhältnis mit dem Betroffenen bereits mindestens sechs Monate besteht und der Betroffene als nach dem 31.12.2003 eingestellter Arbeitnehmer in einem Betrieb beschäftigt ist, dem mehr als zehn Arbeitnehmer angehören (Seit dem 1.1.2004 ist der sachliche Anwendungsbereich des KSchG zweigeteilt: Während Arbeitnehmern, deren Arbeitsverhältnis nach dem 31.12.2003 begonnen hat, der allgemeine Kündigungsschutz nach § 23 Abs. 1 S. 3 Halbs. 1 KSchG nur dann zu Gute kommt, wenn im Betrieb in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt werden, gilt für bereits am 31.12.2003 beschäftigte Alt-Arbeitnehmer nach § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG der Schwellenwert „fünf“). Die Z-GmbH beschäftigt in ihrer Zentrale 20 Büroangestellte. Unabhängig von der Frage, ob die 100 Verkaufsfahrer, die als Franchisenehmer für die Z-GmbH tätig sind, Arbeitnehmer sind, weist die Z-GmbH daher die nach § 23 Abs. 1 S. 3 Halbs. 1 KSchG erforderliche Betriebsgröße in jedem Fall auf. M ist bereits seit drei Jahren für die Z-GmbH tätig und erfüllt damit zwar die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG. Problematisch ist jedoch, ob M Arbeitnehmer ist. Diese Frage könnte lediglich dann dahinstehen, wenn sich M auch bei Bejahung der Arbeitnehmereigenschaft wegen Ablaufs der Frist gemäß § 7 KSchG nicht mehr auf eine eventuelle Sozialwidrigkeit der Kündigung berufen könnte. Gemäß § 4 S. 1 KSchG muss eine Kündigungsschutzklage binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhoben werden. Für die Berechnung der Frist gelten über die Verweisung der § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 222 Abs. 1 ZPO die §§ 187 ff. BGB. Die Kündigung ist dem M am Samstag, dem 6.11.2010 zugegangen, so dass die Drei-Wochen-Frist gemäß § 187 Abs. 1 BGB am Sonntag, dem 7.11.2010 um 0 Uhr beginnt. Sie endet daher gemäß § 188 Abs. 2 BGB am Samstag, dem 27.11.2010 um 24 Uhr. Da es sich bei dem letzten Tag der Frist um einen Samstag handelt, tritt gemäß § 193 BGB an seine Stelle der nächste Werktag, so dass die Ausschlussfrist am Montag, dem 29.11.2010 um 24 Uhr abläuft. Da M an diesem Tag seine Klage erhoben hat, ist die Drei-Wochen-Frist gemäß § 4 S. 1 KSchG gewahrt. Daher hängt die Frage, ob die Kündigung des M an den Anforderungen des KSchG zu messen ist, allein von dessen Arbeitnehmereigenschaft ab. 1. Arbeitnehmereigenschaft des M Nach der Rechtsprechung des BAG und der herrschenden Meinung in der Literatur ist Arbeitnehmer, wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrages zur Leistung von entgeltlicher Arbeit im Dienste eines anderen verpflichtet ist. Grundlage dieser Beurteilung ist der Vertrag, der der Zusammenarbeit zugrunde liegt. Dabei kommt es jedoch im Zweifel nicht auf die im Vertrag enthaltenen Bezeichnungen an, sondern auf die tatsächliche Durchführung des Vertrages.

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Lösungsvorschlag Fall 1

Dass M auf Grund eines privatrechtlichen Vertrages zur Leistung von Arbeit gegen Entgelt verpflichtet ist, ist unproblematisch. Fraglich ist jedoch, ob M seine Arbeit „im Dienste der Z-GmbH“ ausübt. Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BAG ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn M in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Vertragspartner, der Z-GmbH, steht. Wann ein derartiges Abhängigkeitsverhältnis vorliegt, ist anhand eines Umkehrschlusses aus § 84 Abs. 1 S. 2 HGB zu bestimmen. Demnach ist ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis gegeben, wenn M in die Arbeitsorganisation der Z-GmbH eingebunden ist, was anhand des Umfangs des Weisungsrechts zu entscheiden ist, das dieser gegenüber M zusteht. Für diese Entscheidung ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die alle das Arbeitsverhältnis kennzeichnenden Umstände einbezieht. a) Arbeitsort und Arbeitszeit Hinsichtlich des Arbeitsortes und der Arbeitszeit enthält der Franchise-Vertrag rahmenmäßige Vorgaben, indem M ein bestimmtes Vertriebsgebiet zugewiesen wird und ihm die Auslieferung seiner Waren vor 8 Uhr und nach 20 Uhr untersagt ist. Innerhalb dieses Rahmens kann M seine Verkaufsfahrten jedoch in örtlicher wie in zeitlicher Hinsicht frei festlegen. Auch die Einteilung seines Urlaubs kann M selbst bestimmen und muss lediglich den Zeitpunkt mit der Z-GmbH abstimmen. Im Hinblick auf Arbeitszeit und -ort hat M damit einen Gestaltungsspielraum, der über die Dispositionsmöglichkeiten hinausgeht, die einem Arbeitnehmer gewöhnlich zustehen. Dies spricht dafür, M als selbstständigen Unternehmer zu betrachten. b) Personelle Dispositionsmöglichkeiten Gegen die Einordnung des M als Arbeitnehmer spricht auch, dass dieser einen Studenten beschäftigt, der ihn nicht nur bei Krankheit und Urlaub vertritt, sondern darüber hinaus regelmäßig an zwei Nachmittagen in der Woche die Verkaufsfahrten des M durchführt. Dies geschieht in Kenntnis und mit Einverständnis der Z-GmbH, doch nimmt die Z-GmbH darüber hinaus weder auf die Auswahl des Aushilfsfahrers noch auf den Umfang seiner Tätigkeit Einfluss. Die eigenständige Auswahl von Personal und die Möglichkeit, dessen Tätigkeit in ihrem Umfang und Inhalt festzulegen, sind typische Merkmale einer selbstständigen Tätigkeit. c) Inhalt der Tätigkeit Hinsichtlich des Inhalts seiner Tätigkeit ist M in mehrfacher Hinsicht von den Weisungen der Z-GmbH abhängig. Zunächst ist er verpflichtet, vorwiegend die Produkte der Z-GmbH zu vertreiben. Gerade die eigenständige Zusammenstellung des Verkaufsangebots ist jedoch charakteristisch für eine selbstständige Tätigkeit. Allerdings ist M nicht vollständig von den Vorgaben der Z-GmbH abhängig, denn innerhalb des reichhaltigen Produktsortiments der Z-GmbH kann er frei auswählen, welche Produkte er anbieten möchte. Trotz der Bindung an das Warensortiment der Z-GmbH verbleibt M damit noch die für eine selbstständige Tätigkeit typische Gestaltungsfreiheit. Er hat nicht nur die Möglichkeit, auf Marktentwicklungen durch eine entsprechende räumliche und zeitliche Gestaltung seiner Tätigkeit zu reagieren, sondern er kann auch die eigenen Gewinn-

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Fall 1

Lösungsvorschlag

„Tiefkühlkost und Italienischkurse“

möglichkeiten erweitern, indem er die Kaufgewohnheiten seiner Kundschaft bei der Zusammenstellung seiner Angebotspalette berücksichtigt. Daher zwingt allein die Bindung an das Warenangebot der Z-GmbH nicht dazu, M als Arbeitnehmer zu betrachten. Zudem ist zu berücksichtigen, dass M, wenn auch nur in begrenztem Umfang, Produkte anderer Hersteller nach eigenen Vorstellungen in sein Angebot aufnehmen und zu von ihm selbst festgelegten Preisen weiterverkaufen kann. Auch insofern verbleibt ihm durchaus eine gewisse unternehmerische Selbstständigkeit. Weiterhin empfiehlt die Z-GmbH dem M die Höhe des Weiterverkaufspreises für die von ihr bezogenen Waren. Gerade die eigenständige Preisfestlegung gehört zu den essentiellen Bestandteilen einer freien unternehmerischen Tätigkeit. Bei den Vorgaben der Z-GmbH handelt es sich jedoch um unverbindliche Preisempfehlungen. Dass M diese Empfehlungen in der Mehrzahl der Fälle beachtet, ändert nichts daran, dass ihm eine eigenständige Preisgestaltung möglich ist. Insoweit bleibt ihm auch in dieser Hinsicht die Freiheit, durch eine entsprechende Preispolitik auf den Warenabsatz und damit die Höhe seines Gewinns Einfluss zu nehmen, sei es durch eine Anhebung der Preise für gut verkäufliche Produkte, sei es durch Preissenkungen zur Werbung neuer Kunden. d) Umfang der Tätigkeit Weiterhin ist M verpflichtet, monatlich Waren zu einem Mindesteinkaufspreis von 5.000 Euro von der Z-GmbH abzunehmen. Durch eine Mindestabnahmeverpflichtung wird die für eine unternehmerische Tätigkeit typische Entscheidung, in welcher Menge Waren eingekauft werden sollen, zwangsläufig begrenzt. Allerdings überschreitet M die Mindestabnahme von Waren im Wert von 5.000 Euro bereits dann, wenn er – eine Fünf-Tage-Woche zugrunde gelegt – täglich Waren zu einem Einkaufswert von 250 Euro verkauft. M ist der einzige Verkaufsfahrer, der in der Großstadt T und deren Umkreis die Waren der Z-GmbH anbietet. Da er insofern von Konkurrenz verschont ist und ein großes Einzugsgebiet hat, kann davon ausgegangen werden, dass M regelmäßig eine höhere Warenmenge absetzen kann, als er sie von der Z-GmbH abnehmen muss. Daher dürfte sich die Mindestabnahmeverpflichtung praktisch kaum als Begrenzung der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit des M auswirken. Entscheidend ist insoweit, dass es sich bei der Abnahmevereinbarung lediglich um eine Untergrenze handelt, die die Berechtigung des M, in größerem Umfang Waren von der Z-GmbH abzunehmen, unberührt lässt. Die Möglichkeit des M, durch eine Intensivierung oder Ausweitung seiner Tätigkeit seinen Umsatz zu vermehren und damit auch seinen Verdienst zu steigern, wird durch die vereinbarte Mindestabnahme nicht beschränkt. Im Vordergrund einer unternehmerischen Tätigkeit steht typischerweise das Bestreben, den eigenen Verdienst zu maximieren. Dagegen tritt die Möglichkeit, die eigene Tätigkeit unter Hinnahme von Verdiensteinbußen zu reduzieren, in ihrer Bedeutung erheblich zurück. Mithin steht die Mindestabnahmeverpflichtung der Annahme einer selbstständigen Tätigkeit des M nicht entgegen. e) Auftreten nach außen Die Tätigkeit des M ist zudem insofern von den Vorgaben der Z-GmbH abhängig, als er sein Auftreten gegenüber den Kunden so gestalten muss, dass er als Ver-

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Lösungsvorschlag Fall 1

kaufsfahrer der Z-GmbH zu erkennen ist. Die Verpflichtung zu einem einheitlichen äußeren Auftreten schlägt sich darin nieder, dass M einen von der Z-GmbH umgebauten Lieferwagen mit deren Firmenemblem kaufen musste, die von der Z-GmbH vorgesehen Dienstkleidung tragen, die von ihr konzipierten Rechnungsformulare benutzen und ihr Material für seine Werbung verwenden muss. Diese Vorgaben schränken zwar die Entscheidungsfreiheit des M hinsichtlich der Gestaltung seiner Tätigkeit ein, doch handelt es sich dabei um Äußerlichkeiten, die seine Tätigkeit in ihrem Inhalt und Umfang nicht berühren. Zwar sind hiermit gleichzeitig finanzielle Verpflichtungen des M verbunden, da er die entsprechende Ausstattung von der Z-GmbH kaufen muss. Es liegen jedoch keine Hinweise darauf vor, dass die Z-GmbH hierbei überzogene Preise verlangen würde. Auch für eine andersartige Tätigkeit als Verkaufsfahrer würde M einen Lieferwagen, Arbeitsbekleidung, Rechnungsformulare und Werbematerial benötigen und müsste für die Anschaffung dieser Ausstattung Geld aufwenden. Insofern ist nicht ersichtlich, dass dem M allein durch die Verpflichtung zu einem einheitlichen Auftreten gegenüber den Kunden erhebliche zusätzliche Ausgaben entstehen. Eine zusätzliche Ausgabe, die M bei einer Tätigkeit als einzelner Verkaufsfahrer ohne Franchise-Vertrag nicht entstünde, bildet jedoch die monatliche Pauschale von 250 Euro. Diese muss M für die Nutzung des Namens und des Logos der Z-GmbH, die zentral organisierte Werbung und die laufende Betreuung entrichten. Daher handelt es sich bei diesem Betrag um eine Ausgabe, für die M eine Gegenleistung erhält. So profitiert M von dem einheitlichen Auftreten der Z-GmbH, da eine bundesweit angelegte Imagepflege und Werbung auch ihm als Verkaufsfahrer der Z-GmbH zu Bekanntheit und Kundeninteresse verhilft. Zudem müsste M auch für eine selbst organisierte Werbung Geld aufwenden, was ihm so erspart bleibt. Da der Verpflichtung des M, gegenüber Kunden ein einheitliches Auftreten zu wahren und eine monatliche Pauschale von 250 Euro zu zahlen, gleichwertige Vorteile gegenüberstehen, rechtfertigt diese Verpflichtung nicht die Annahme, M sei Arbeitnehmer. f) Umgang mit Geschäftsunterlagen Eine weitere Bindung des M an Weisungen der Z-GmbH ergibt sich aus deren Berechtigung, die Geschäftsunterlagen des Z, insbesondere seine Kundenkartei, jederzeit einzusehen. Die Möglichkeit, selbst über die Verwendung der eigenen Geschäftsinformationen zu entscheiden, ist ein typischer Bestandteil einer selbstständigen Tätigkeit. Allerdings ist in diesem Zusammenhang der Zweck des Einsichtsrechts der Z-GmbH zu beachten. Dies verleiht der Z-GmbH zum einen Kontrollmöglichkeiten, insbesondere über die Umsatzhöhe des einzelnen Verkaufsfahrers. Diese ist der Z-GmbH jedoch sowieso bekannt, da sie an der Menge der abgenommenen Waren abgelesen werden kann. Zum anderen liefert das Einsichtsrecht der Z-GmbH Informationen über die Zusammensetzung der Kundschaft und die Absatzentwicklung einzelner angebotener Produkte unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Diese Informationen benötigt die Z-GmbH für die Festlegung ihrer Geschäftspolitik, insbesondere im Hinblick auf die Konzeption der Werbung und die Zusammenstellung der Produktpalette. Entspricht diese Geschäfts-

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Fall 1

Lösungsvorschlag

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politik den sich laufend verändernden Gegebenheiten des Marktes, profitiert hiervon nicht nur die Z-GmbH selbst. Eine erfolgreiche Geschäftspolitik kommt automatisch auch den Verkaufsfahrern zu Gute, so dass diese auch im Interesse des M liegt. Mithin wird durch die Verpflichtung des M, der Z-GmbH Einblick in seine Geschäftsunterlagen zu gewähren, kein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse verletzt, das gegenüber den Vorteilen aus dem Einsichtsrecht der Z-GmbH überwiegen würde. Zudem sind bestimmte Kontrollrechte, ebenso wie ein einheitliches Auftreten gegenüber Kunden, einem Franchise-Vertragsverhältnis immanent. Da jedoch nach herrschender Meinung in Literatur und Rechtsprechung nicht jedes Franchise-Verhältnis als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist, sind diese Umstände nur dann für die Frage nach der Arbeitnehmereigenschaft des Franchise-Nehmers relevant, wenn die Bindung des Franchise-Nehmers im Einzelfall über die für derartige Verträge typische Bindung hinausgeht. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Daher stehen die vereinbarten Kontrollrechte der Z-GmbH der Annahme einer selbstständigen Tätigkeit des M nicht entgegen. g) Abschließende Bewertung anhand der vom BAG entwickelten Kriterien Betrachtet man die Umstände, die das Vertragsverhältnis zwischen M und der Z-GmbH kennzeichnen, sprechen diese in der Mehrzahl dafür, M nicht als Arbeitnehmer, sondern als Selbstständigen zu betrachten. Angesichts der Gestaltungsspielräume, die dem M verbleiben, ist er nicht in einem Maße in die Arbeitsorganisation der Z-GmbH eingebunden, dass sich daraus ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis ergeben würde. h) Bewertung anhand der Verteilung des Unternehmerrisikos Allerdings ist die Rechtsprechung des BAG, die für die Arbeitnehmereigenschaft auf ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis des Beschäftigten zu seinem Vertragspartner abstellt, nicht unumstritten. So bestehen in der Literatur zahlreiche abweichende Auffassungen. Diesen liegt regelmäßig eine teleologische Interpretation der arbeitsrechtlichen Regelungen zugrunde, die an die Arbeitnehmereigenschaft anknüpfen. Zu fragen ist danach, ob der Beschäftigte des Schutzes dieser Vorschriften bedarf. In diesem Zusammenhang ist in erster Linie das von WANK3 entwickelte Kriterium des „Unternehmerrisikos“ zu nennen. Der Abgrenzung anhand des Unternehmerrisikos liegt folgende Überlegung zugrunde: Während der Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber auch dann Lohn erhält, wenn der Arbeitgeber für ihn keine Arbeit hat, trägt ein Selbstständiger typischerweise selbst das Risiko, keine Aufträge zu erhalten und damit in einem solchen Fall auch kein Einkommen zu erzielen. Allerdings steht diesem Risiko regelmäßig die Chance gegenüber, frei über die eigene Arbeitskraft zu verfügen und durch ihren Einsatz am Markt einen maximalen eigenen Gewinn zu erwirtschaften. Nur derjenige, der nach der tatsächlichen Ausgestaltung seines Dienstverhältnisses diese Chancen nutzen kann, bedarf nicht des Schutzes durch die Qualifizierung als Arbeitnehmer. Hingegen ist derjenige, dem keine unternehmerischen Gestaltungs- und Gewinn-

3 WANK, Arbeitnehmer und Selbständige, 1988, S. 122 ff.

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Lösungsvorschlag Fall 1

möglichkeiten offen stehen, als Arbeitnehmer einzuordnen, auch wenn er mit unternehmerischen Risiken belastet ist. Nach dieser an der Verteilung des Unternehmerrisikos ausgerichteten Abgrenzung spricht es für die Einordnung als Arbeitnehmer, wenn ein Beschäftigter eine auf Dauer angelegte Tätigkeit für nur einen Auftraggeber in eigener Person, d.h. ohne Mitarbeiter, im Wesentlichen ohne eigenes Kapital und ohne eigene Organisation ausübt. Diese Auffassung ist allerdings kritisch zu hinterfragen. Zwar trifft es zu, dass derjenige, der weisungsfrei seine Chancen auf dem Markt selbstständig verfolgt, Selbstständiger ist. Im Kern zieht der Ansatz von WANK jedoch Kriterien zur Füllung des Arbeitnehmerbegriffes heran, die die wirtschaftliche Abhängigkeit der arbeitnehmerähnlichen Person kennzeichnen. § 12a Abs. 1 TVG zeigt jedoch gerade, dass allein die wirtschaftliche Abhängigkeit für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft nicht ausreichen kann, da wirtschaftlich abhängige Beschäftigte nach dieser Vorschrift zwar ggf. als arbeitnehmerähnliche Personen, nicht aber zwingend als Arbeitnehmer zu betrachten sind. Eine Entscheidung zwischen den unterschiedlichen Abgrenzungsansätzen kann jedoch dahinstehen. M wäre nämlich auch dann nicht als Arbeitnehmer zu betrachten, wenn man für die Abgrenzung zwischen Arbeitnehmer und Selbstständigem kein persönliches Abhängigkeitsverhältnis verlangt, sondern auf die Verteilung des Unternehmerrisikos abstellt. Im vorliegenden Fall übt M zwar eine auf Dauer angelegte Tätigkeit nur für einen Auftraggeber, nämlich für die Z-GmbH aus. Dies führt zweifellos dazu, dass M in einem wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis zu der Z-GmbH steht. Da M einen Aushilfsfahrer beschäftigt, wird er allerdings nicht ausschließlich in eigener Person tätig. Bei seiner Tätigkeit ist M zwar hinsichtlich der Warenbeschaffung von der Organisation der Z-GmbH abhängig. Allerdings führt er eine selbstständige Buchhaltung, so dass er nicht völlig ohne eigene Organisation tätig ist. Die Tätigkeit des M ist mit einem gewissen Einsatz von Eigenkapital verbunden, da er sowohl die für seine Tätigkeit erforderliche Ausstattung (Lieferwagen etc.) selbst angeschafft hat als auch die Waren, die er weiterverkauft, zunächst auf eigene Rechnung erwirbt. Zweifellos ist die Tätigkeit des M dadurch mit finanziellen Risiken belastet, nämlich mit der Gefahr, die zum Weiterverkauf bestimmten Waren nicht absetzen zu können. Diesem unternehmerischen Risiko stehen jedoch gleichwertige unternehmerische Chancen gegenüber. Die weitgehend eigenständige Festlegung des Arbeitsortes und der Arbeitszeit, die Möglichkeit, mit Hilfe des Aushilfsfahrers die Verkaufstätigkeit zu intensivieren, der Spielraum bei der Zusammenstellung seiner Angebotspalette und der Preisfestsetzung sowie die Berechtigung, den Umfang seines Umsatzes zu steigern, ermöglichen es dem M, durch seinen Einsatz am Markt den eigenen Gewinn zu maximieren. Aufgrund dieser ausgewogenen Verteilung der unternehmerischen Chancen und Risiken ist auch nach der Ansicht von WANK von der Selbstständigkeit des M auszugehen. 2. Zwischenergebnis Da M mithin nicht als Arbeitnehmer anzusehen ist, fällt er nicht in den Geltungsbereich des KSchG. Daher ist eine Kündigung der Z-GmbH gegenüber M nicht an die in § 1 KSchG festgelegten Kündigungsgründe gebunden. Die aus-

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Fall 1

Lösungsvorschlag

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gesprochene Kündigung ist daher nicht wegen Verstoßes gegen § 1 KSchG unwirksam. C. Ergebnis Die Klage des M ist zwar zulässig, aber unbegründet.

Abwandlung Eine Klage der F wäre begründet, wenn diese einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG hat. Dieser setzt voraus, dass zwischen F und der VHS ein Arbeitsverhältnis besteht, das gemäß § 3 Abs. 3 EFZG bereits seit vier Wochen ununterbrochenen bestanden hatte, und F wegen einer unverschuldeten Krankheit arbeitsunfähig war. F hat einen Beinbruch erlitten, ohne dass es Anzeichen dafür geben würde, dass der Beinbruch durch ein grobes Verschulden der F gegen sich selbst entstanden wäre. Daher war F wegen einer unverschuldeten Krankheit i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG für die Dauer von sechs Wochen an der Erbringung ihrer Arbeitsleistung gehindert. Problematisch ist jedoch, ob zwischen F und der VHS ein Arbeitsverhältnis besteht, ob F also Arbeitnehmerin ist. A. Arbeitnehmereigenschaft der F Nach der herrschenden Meinung ist Arbeitnehmer, wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrages zur Leistung von entgeltlicher Arbeit im Dienste eines anderen verpflichtet ist. Dabei kommt es jedoch im Zweifel nicht auf die im Vertrag enthaltenen Bezeichnungen an, sondern auf die tatsächliche Durchführung des Vertrages. Dass F auf Grund eines privatrechtlichen Vertrages zur Leistung von Arbeit gegen Entgelt verpflichtet ist, ist unproblematisch. Fraglich ist jedoch, ob F ihre Arbeit „im Dienste der VHS“ ausübt. Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BAG ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn F in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Vertragspartner steht. Gemäß dem Umkehrschluss aus § 84 Abs. 1 S. 2 HGB ist ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis gegeben, wenn F in die Arbeitsorganisation der VHS eingebunden ist, was anhand des Umfangs des Weisungsrechts zu entscheiden ist, das dieser gegenüber F zusteht. Für diese Entscheidung ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die alle das Arbeitsverhältnis kennzeichnenden Umstände einbezieht. I. Arbeitsort Die Kurse werden in den Räumen der VHS abgehalten. Den Ort ihrer Arbeit kann F daher nicht frei bestimmen. Insoweit unterliegt sie derselben Bindung wie eine Arbeitnehmerin, die für einen bestimmten Betrieb als Arbeitsort eingestellt worden ist.

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„Tiefkühlkost und Italienischkurse“

Lösungsvorschlag Fall 1

II. Arbeitszeit Für die Einordnung einer Lehrtätigkeit ist es nach der Rechtsprechung des BAG von besonderer Bedeutung, inwieweit die Lehrkraft ihre Arbeitszeit mitgestalten kann. Es ist ein maßgeblicher Hinweis auf ein Arbeitsverhältnis, wenn der Arbeitgeber innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens über die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers verfügen, insbesondere über die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Tage sowie über Beginn und Ende der Arbeitszeit entscheiden kann. Im vorliegenden Fall untersteht die F hinsichtlich der zeitlichen Lage ihrer Arbeit jedoch keinen Weisungen der VHS. Sie kann bei Zusammenstellung des Kursprogramms für das kommende Semester selbst entscheiden, an welchem Wochentag der von ihr geleitete Italienischkurs stattfinden soll und an welchen Wochenenden sie Vorträge über die italienische Renaissance halten möchte. Wenn F also im Laufe des Semesters an die vorher festgelegten Termine gebunden ist, so muss sie lediglich die von ihr selbst bestimmten Vorgaben einhalten. Gleichzeitig ist sie davor geschützt, dass die VHS die vereinbarten Arbeitszeiten ohne ihre Mitsprache abändert. Die zeitliche Flexibilität, die F im Vorfeld bei der Bestimmung ihrer Arbeitszeit zusteht, spricht gegen ihre Einordnung als Arbeitnehmerin. III. Umfang der Tätigkeit Unerheblich für die Frage, ob F Arbeitnehmerin oder Selbstständige ist, ist, dass F nur in geringem zeitlichem Umfang für die VHS tätig ist. Auch bei der Ausführung von Tätigkeiten in geringem zeitlichem Umfang kann ein hohes Maß an Weisungsgebundenheit bestehen. Daher spricht eine geringe Arbeitszeit nicht gegen die Arbeitnehmereigenschaft des Beschäftigten, die nach herrschender Meinung in Literatur und Rechtsprechung auch Teilzeitbeschäftigten und nebenberuflich Tätigen zukommen kann. IV. Inhalt der Tätigkeit Hinsichtlich des Inhalts der Vorträge unterliegt F keinen Weisungen. Sie hat das Oberthema „Italienische Renaissance“ selbst ausgewählt und kann eigenständig entscheiden, welche Aspekte sie jeweils in den einzelnen Vorträgen in welcher Intensität behandelt. Zudem ist F frei in ihrer Entscheidung, wie sie ihren Vortrag aufbaut, ob sie sich beispielsweise auf ein mündliches Referat beschränkt oder ob sie ihre Ausführungen durch Dias ergänzt. Insofern verbleiben ihr erhebliche Gestaltungsspielräume, die für eine selbstständige Tätigkeit typisch sind. Im Hinblick auf die Sprachkurse ist F insofern an Vorgaben der VHS gebunden, als sie besondere Vorgaben für den Unterrichtsinhalt zu beachten hat. Dabei handelt es sich um eine rahmenmäßige Festlegung des Lehrgegenstandes, die im Bereich der Sprachkurse erforderlich ist, um das an Volkshochschulen übliche System aufeinander aufbauender Kurse durchführen zu können. Die Vorgaben sind daher als eine Umschreibung der vertraglich geschuldeten Leistung zu werten. Derartige Festlegungen sind weniger für einen Arbeitsvertrag charakteristisch, der auf die Zur-Verfügung-Stellung der Arbeitskraft gerichtet ist. Vielmehr enthalten gerade freie Dienstverträge zwangsläufig eine Festlegung der geschuldeten Leistungen. Daher kann aus diesen rahmenmäßigen Vorgaben allein nicht auf die Arbeitnehmereigenschaft der F geschlossen werden.

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Fall 1

Lösungsvorschlag

„Tiefkühlkost und Italienischkurse“

Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass F keine Anweisungen befolgen muss, wie sie den Unterricht methodisch und didaktisch gestaltet. In gewissem Maße ist jedoch jede Lehrtätigkeit mit methodischer und didaktischer Gestaltungsfreiheit verbunden, da ein solcher Spielraum der Lehrtätigkeit als solcher immanent ist. Der Spielraum, der F zusteht, ist jedoch erheblich größer als der eines Lehrers, der an einer allgemeinbildenden Schule Italienischunterricht erteilt. Für letzteren gilt ein dichtes Regelwerk von Gesetzen, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften und Einzelweisungen, die nicht nur die Unterrichtsziele detailliert beschreiben, sondern auch die methodische und didaktische Unterrichtsgestaltung betreffen. Hinsichtlich der Einhaltung dieser Vorgaben unterliegen diese Lehrkräfte, anders als die Volkshochschuldozentin F, verstärkter Aufsicht und Kontrolle, abgesehen davon, dass die ständig stattfindenden Leistungskontrollen der Schüler mittelbar auch eine Kontrolle der Unterrichtenden bedeuten. Die Freiheit der F bei der inhaltlichen und methodisch-didaktischen Gestaltung ihres Unterrichts legt es nahe, F als Selbstständige einzustufen. V. Nebenpflichten außerhalb der Unterrichtstätigkeit In seiner Rechtsprechung zur Arbeitnehmereigenschaft von Lehrkräften stellt das BAG maßgeblich darauf ab, inwieweit den Betroffenen neben der Unterrichtstätigkeit weitere Nebenpflichten obliegen, aus denen sich ihre Eingliederung in die schulische Organisation ergibt. Im Bereich der allgemeinbildenden Schulen obliegen den Lehrkräften regelmäßig derartige Nebenpflichten. So kann der Schulträger auch außerhalb der Unterrichtszeit über die Arbeitskraft des Dienstverpflichteten verfügen, weil die Lehrkräfte schriftliche Arbeiten korrigieren, mündliche Prüfungen abnehmen, an Fortbildungsveranstaltungen und Konferenzen teilnehmen und Schulsprechstunden abhalten müssen und u.U. auch dazu verpflichtet sind, bei der Vergabe von Lehrmitteln mitzuwirken, bei Betriebspraktika zusätzliche Aufgaben zu übernehmen, Pausenaufsicht zu führen und Wandertage und Klassenfahrten zu begleiten. Damit geht nach der Ansicht des BAG eine so starke Einbindung der Lehrkräfte in die schulische Organisation einher, dass die Lehrkraft regelmäßig in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Arbeitgeber steht. Daher sind Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen nach ständiger Rechtsprechung des BAG in aller Regel Arbeitnehmer. Eine ähnliche Einbindung in die Schulorganisation und eine daraus folgende persönliche Abhängigkeit ist im Falle der Volkshochschuldozentin F nicht gegeben. Ihr obliegen, soweit ersichtlich, keine über die Abhaltung des Unterrichts und der Vorträge hinausgehenden Verpflichtungen. Weder wird sie zu Prüfungstätigkeiten herangezogen noch muss sie an regelmäßigen Konferenzen teilnehmen. Daher ist F nicht in einer Weise in die Organisation ihres Arbeitgebers eingegliedert, die mit der Einbindung eines Lehrers an einer allgemeinbildenden Schule vergleichbar wäre. Dies spricht gegen ihre Einstufung als Arbeitnehmerin. VI. Abschließende Bewertung anhand der vom BAG entwickelten Kriterien Betrachtet man die Umstände, die das Vertragsverhältnis zwischen F und der VHS kennzeichnen, sprechen diese in der Mehrzahl dafür, F nicht als Arbeitnehmerin, sondern als Selbstständige zu betrachten. Angesichts der Gestaltungsspielräume, die der F verbleiben, ist sie nicht in einem Maße in die Arbeitsorga-

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„Tiefkühlkost und Italienischkurse“

Lösungsvorschlag Fall 1

nisation der VHS eingebunden, dass sich daraus ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis ergeben würde. VII. Bewertung anhand der Verteilung des Unternehmerrisikos Auch wenn man zur Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft nicht auf die persönliche Abhängigkeit des Dienstverpflichteten zu seinem Vertragspartner abstellt, sondern die Verteilung des Unternehmerrisikos heranzieht, ergibt sich kein anderes Ergebnis. Die Tätigkeit der F ist zwar auf eine gewisse Dauer angelegt und sie wird nur für einen Auftraggeber tätig. Falls an den Kursen kein Interesse besteht, trägt sie das Unternehmerrisiko, da sie für einen Kurs, der mangels Teilnehmerinteresses ausfällt, keine Vergütung erhält. Allerdings ist F nur während des VHS-Semesters an einem Abend in der Woche und an einigen Wochenenden für die VHS tätig. Daneben könnte sie problemlos in eigener Regie und für andere Organisationen Arbeit leisten, sie kann also ihre Arbeitskraft noch anders einsetzen. Allein die Tatsache, dass F diese ihr offenstehenden Möglichkeiten nicht nutzen will, macht sie nicht zur Arbeitnehmerin. Dass F zudem ohne Mitarbeiter und im Wesentlichen ohne eigenes Kapital tätig ist, liegt in der Natur der Lehr- und Vortragstätigkeit begründet und ist daher für die Frage, ob sie diese Tätigkeit in einem Arbeitsverhältnis oder in einem freien Dienstverhältnis ausübt, nicht aussagekräftig. F ist mithin nicht als Arbeitnehmerin, sondern als Selbstständige tätig. B. Ergebnis Da F die Arbeitnehmereigenschaft fehlt, hat sie keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung gegen ihren Arbeitgeber aus § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG. Eine hierauf gerichtete Klage der F wäre unbegründet.

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Fall 2

Falldarstellung

„Scientology und Zeitungsboten“

Fall 2: „Scientology und Zeitungsboten“ Falldarstellung Ausgangsfall A ist seit Anfang 2003 Anhänger der S-Kirche, die ein eingetragener Verein ist. Neben der Betonung der Gemeinnützigkeit der Kirche und der Pflicht der Mitglieder, an der Verwirklichung der Aufgaben und Ziele der Kirche im Rahmen der von ihnen übernommenen Aufgabenbereiche tatkräftig mitzuwirken, finden sich in der Satzung besondere Bestimmungen in Bezug auf aktive Mitglieder: „Jene sind diejenigen außerordentlichen und ordentlichen Mitglieder, die die Ziele der S-Kirche intensiv unterstützen und sich durch ein schriftliches Versprechen dazu verpflichtet haben... Die aktiven Mitglieder haben sich um die täglichen Kirchenaufgaben und Tätigkeiten gewissenhaft zu bemühen und sich dafür einzusetzen, dass die satzungsmäßigen Zwecke erreicht werden. Aktive Mitglieder sind verpflichtet, die zugewiesenen Aufgaben, Ämter und Funktionen sorgfältig und zum Besten der Gemeinde und Kirche zu erfüllen. Ihre Verpflichtung ergibt sich allein auf Grund ihrer satzungsmäßigen Mitgliedschaft. Hauptamtliche (aktiv tätige) Mitglieder erhalten für ihre Tätigkeit eine angemessene finanzielle Zuwendung entsprechend den finanziellen Möglichkeiten der Kirche.“ Für hauptamtliche aktive Mitglieder besteht zudem folgende Sonderregelung: „1. Hauptamtliche Mitglieder unterstützen nach besten Kräften die Kirche. Art und Umfang der Tätigkeit werden durch die jeweiligen Bedürfnisse der Kirche bestimmt. Der Kirchenvorstand und die von ihm beauftragten Personen werden hierzu die erforderlichen Anweisungen treffen. 12 1/2 Stunden Studierzeit (religiöser Unterricht und Ausbildung in den religiösen Aufgaben) pro Woche sind obligatorisch. Individuell abgestimmte Stundenpläne können mit der Übereinstimmung des kirchlichen Vorgesetzten und dem Aufgabenbereich für die Betreuung der hauptamtlichen Mitglieder in Abt. 1 (HCO) vereinbart werden. ... 3. Mitglieder der religiösen Gemeinschaft helfen gemäß den religiösen Verpflichtungen und Überzeugungen und nicht, um Geld zu verdienen oder wegen anderer kommerzieller und materieller Interessen, Geldmotivation oder Anreize. Trotzdem gibt die Kirche gemäß ihrer kircheninternen Richtlinien eine wöchentliche Unterstützung, die jedoch nicht fest ist, sondern sich nach den Möglichkeiten der Kirche und der individuellen Leistung, Ausbildung und nach dem Kirchenamt richtet. Mitglieder der religiösen Gemeinschaft sollen grundsätzlich jegliche ihnen zugewiesene Funktionen und Aufgaben akzeptieren, die mit den bestehenden kircheninternen Richtlinien übereinstimmen.“ A ist seit 2005 als hauptamtliches Mitglied tätig. Nach diversen Ausbildungslehrgängen, die er auch zur eigenen persönlichen Vervollkommnung und zum Fortkommen auf der „Brücke“ (Erlösungsstufen „Clear“ und „Operating Thetan“) absolvierte, übte er die Funktion eines sog. Auditors aus. Während der Zeit seiner Tätigkeit richtete sich die Arbeitszeit des A nach individuell vereinbarten Stundenplänen. A konnte die Zeiten seiner Anwesenheit und Mitarbeit in Absprache mit den anderen aktiv tätigen Mitgliedern frei einteilen. A standen dabei umfangreiche Mitgliedschaftsrechte zu. Von dem jeweiligen Stundenplan durfte

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„Scientology und Zeitungsboten“

Falldarstellung Fall 2

er auch abweichen. Seine Tätigkeit als Auditor teilte sich A frei ein, indem er selbst die Termine für die Sitzungen festlegte. Allerdings unterlag er möglichen Anweisungen des Kirchenvorstands und hatte die ihm zugewiesenen Aufgaben und Funktionen zu akzeptieren. Für seine Tätigkeit erhielt A – nicht regelmäßig – 75 bis 100 Euro monatlich. Seinen Lebensunterhalt bestritt er durch eine Tätigkeit als Zeitungszusteller. Anfang 2011 nimmt A Abstand von der S-Kirche. Seine Verärgerung über das System mündet in dem Entschluss, für die zurückliegenden „ausbeuterischen“ Jahre seinen gerechten Arbeitslohn geltend zu machen. Vor dem Arbeitsgericht erhebt A daher Klage auf Zahlung von Arbeitsentgelt für die Zeit vom 1.1.2005 bis zum 31.12.2010 in Höhe von 120.000 Euro. Auf Anraten seines Anwalts wird Zahlungsklage beim örtlich zuständigen Arbeitsgericht eingereicht. In der mündlich anberaumten Verhandlung trägt A vor, er sei Arbeitnehmer der S-Kirche gewesen. Dies folge nicht zuletzt daraus, dass jene ein wirtschaftliches Unternehmen und keine Religionsgemeinschaft sei. Die S-Kirche hingegen rügt die Zulässigkeit des Rechtswegs zu den Gerichten für Arbeitssachen und meint, A sei als Vereinsmitglied ausschließlich auf der Grundlage der Satzung der Beklagten tätig geworden. A habe hauptsächlich auditiert. Hierbei handele es sich um den Kernbereich der religiösen Lehre der S-Kirche, so dass ein erwerbswirtschaftlicher Bezug ausscheide. Zudem habe A als hauptamtliches Mitglied und zeitweiliges Vorstandsmitglied die Geschicke des Vereins beeinflussen können. Frage: Wird das Arbeitsgericht den Rechtsstreit an das örtlich zuständige Landgericht verweisen?

Abwandlung 1 Auch mit seiner Tätigkeit als Zeitungszusteller, die A seit 2003 ausübt, hat er Probleme. Seine Agentur zum Vertrieb von Presseerzeugnissen löst die Zusammenarbeit mit ihm auf. Auf den Einwand des A, er lasse sich von seinem Arbeitgeber nicht einfach vor die Tür setzen, reagiert die Agentur nicht. Infolgedessen sucht A seinen Anwalt auf und fragt, ob er Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung erheben solle. Der Agenturchef habe ihm letztlich nur „gekündigt“, um mit einem befreundeten Zusteller zusammen zu arbeiten. Auf Nachfrage des Anwalts stellt A seine Tätigkeit wie folgt dar: Laut Vereinbarung mit der Agentur sei er verpflichtet gewesen, die Zeitungsexemplare am Erscheinungstag an vereinbarter Stelle abzuholen und die Abonnenten pünktlich, regelmäßig und ordentlich – spätestens bis 7.00 Uhr – zu beliefern. Pro Zeitung habe er 1,80 Euro monatlich erhalten. Die jeweiligen Abonnenten habe er jeweils von der Agentur genannt bekommen und dies in seinem Zustellungsbuch vermerken müssen. Im Krankheitsfall sei er verpflichtet gewesen, für eine vorübergehende Vertretung zu sorgen. Frage 1: Was wird der Anwalt A raten? Bearbeitervermerk: Die Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage ist nicht zu prüfen; es ist davon auszugehen, dass die Agentur des A unter das KSchG fällt. Frage 2: Ändert sich der Rat des Anwalts, wenn A infolge seiner besonderen Leistungsbereitschaft – unter sonst identischen Umständen – gleich zwei Zustellbezirke betreut? Die Agentur jedenfalls entgegnete der Ankündigung des A, Kün-

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Fall 2

Lösungsskizze

„Scientology und Zeitungsboten“

digungsschutzklage erheben zu wollen, mit dem zutreffenden Einwand, A habe den Umfang der Zustellungen unmöglich alleine bewältigen können. Dass A täglich über 1000 Zeitungen zugestellt habe und zudem noch für andere Zustelldienste tätig gewesen sei, stehe seiner Arbeitnehmereigenschaft entgegen. Frage 3: Vorausgesetzt die Arbeitnehmereigenschaft des A wird rückwirkend festgestellt. Kann die Agentur die auf das Girokonto des A gezahlten „Zustellkommissionen“, die bei freien Zustellern höher sind als bei solchen, die als Arbeitnehmer beschäftigt werden, zurückverlangen? Es ist dabei davon auszugehen, dass sich die Zustellkommissionen noch auf dem Konto des A befinden. A tritt einem Rückforderungsanspruch der Agentur mit dem Vorwurf entgegen, es habe doch im bewussten Interesse der Agentur gelegen, den A nicht als Arbeitnehmer eingestellt zu haben und somit leichter wieder loswerden zu können.

Ü

Rechtsfragen: –

Arbeitnehmereigenschaft im Prozess, sog. aut-aut-Fall



Weg zu den Arbeitsgerichten



Tätigkeit im Verein als Mitgliedsbeitrag



Arbeitnehmerähnliche Person



Erhebung der Kündigungsschutzklage



Rückzahlungsanspruch



Entreicherungseinwand nach § 818 Abs. 3 BGB im Arbeitsrecht

Lösungsskizze Ausgangsfall A. Verweisungsbeschluss gemäß § 48 Abs. 1 ArbGG, § 17a Abs. 2 GVG Voraussetzung: Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist nicht eröffnet I. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a ArbGG 1. Zuständigkeit schon auf Grund der Geltendmachung von Ansprüchen auf Arbeitsentgelt? (-), da kein sic-non-Fall im Sinne der BAG-Rechtsprechung 2. Arbeitsverhältnis zwischen A und der S-Kirche oder Tätigkeit als Mitgliedsbeitrag im Verein? Arbeitnehmereigenschaft des A Verpflichtung zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen gegen Entgelt Maßgeblich: Tatsächliche Vertragsdurchführung a) Weisungsrecht hinsichtlich der Arbeitszeit Freie Gestaltung der Arbeitszeit durch A b) Weisungsrecht hinsichtlich Aufgaben und Funktionen

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„Scientology und Zeitungsboten“

Lösungsskizze Fall 2

Weisungsrecht der S-Kirche, aber Verpflichtung des A als Vereinsmitglied, daher kein eindeutiges Indiz für die Arbeitnehmereigenschaft c) Fachliche Bindung des A Fachliche Bindung an die Grundsätze der S-Kirche bereits durch den Vereinszweck vorgegeben, daher ebenfalls kein eindeutiges Indiz für die Arbeitnehmereigenschaft d) Umgehung zwingender arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen Grundsatz: Leistung von Diensten in persönlicher Abhängigkeit nicht nur im Arbeitsverhältnis, sondern auch als Mitgliedsbeitrag auf Grundlage vereinsrechtlicher Bindung möglich. Grenze der Einstufung einer Tätigkeit als Mitgliedsbeitrag ist aber die unzulässige Umgehung zwingender arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen, etwa der Verstoß gegen §§ 134, 138 BGB aa) Verstoß gegen § 134 BGB Wenn Mitarbeit ohne Einflussnahmemöglichkeit gefordert wird Hier: konkrete Mitgliedschaftsrechte ermöglichen Einflussnahme des A auf den Verein, daher kein Verstoß gegen § 134 BGB bb) Verstoß gegen § 138 BGB Möglicherweise wegen äußerst geringer Entlohnung Hier: Keine Erwerbsabsicht des A, sondern Tätigwerden als mitgliedschaftliche Verpflichtung; Zuwendung durch die S-Kirche nicht als Vergütung für die Tätigkeit, sondern als Aufwendungsersatz für hauptamtliche Mitglieder cc) Andere Beurteilung für den Fall der Einstufung der S-Kirche als wirtschaftlichen Verein? 3. Zwischenergebnis: Fehlende Arbeitnehmereigenschaft des A, daher keine Zuständigkeit des Arbeitsgerichts gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a ArbGG II. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit gemäß §§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a, 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG 1. Voraussetzung: Arbeitnehmerähnlichkeit des A Keine wirtschaftliche Abhängigkeit des A von der S-Kirche 2. Zwischenergebnis: keine Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit gemäß §§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a, 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG B. Gesamtergebnis: Verweisung des Rechtsstreits an das örtlich zuständige Landgericht

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Fall 2

Lösungsskizze

„Scientology und Zeitungsboten“

Abwandlung Frage 1: Erhebung einer Kündigungsschutzklage Obersatz: Der Anwalt wird zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage raten, wenn die zulässige Klage begründet ist. Dies ist der Fall, wenn das KSchG anwendbar ist und die Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial ungerechtfertigt ist. A. Anwendbarkeit des KSchG I. Persönliche Anwendbarkeit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG: Arbeitnehmereigenschaft des A Verpflichtung zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen gegen Entgelt Maßgeblich: Tatsächliche Vertragsdurchführung 1. Weisungsrecht hinsichtlich der Arbeitszeit Fest von der Agentur vorgegebener Zeitplan 2. Weisungsrecht hinsichtlich des Arbeitsorts und der Aufgaben Faktisch fest vorgegebener Zustellbezirk 3. Zwischenergebnis: Arbeitnehmereigenschaft des A begründet persönliche Anwendbarkeit des KSchG II. Sachliche Anwendbarkeit gemäß § 23 Abs. 1 KSchG Mindestbeschäftigtenzahl mit Ausnahme der Auszubildenden: Mehr als fünf am 31.12.2003 beschäftigte Arbeitnehmer, § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG Laut Sachverhalt gegeben B. Soziale Rechtfertigung der Kündigung Keine Angaben im Sachverhalt, daher Nachfrage des Anwalts erforderlich C. Ergebnis Der Anwalt wird zur Erhebung der Kündigungsschutzklage raten, wenn er auf Grund der Angaben des A zum Ergebnis kommt, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist. Frage 2: Erhebung einer Kündigungsschutzklage Obersatz: Der Anwalt wird A zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage raten, wenn die zulässige Klage begründet ist. Dies ist der Fall, wenn das KSchG anwendbar ist und die Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial ungerechtfertigt ist.

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„Scientology und Zeitungsboten“

Lösungsskizze Fall 2

A. Anwendbarkeit des KSchG I. Persönliche Anwendbarkeit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG: Arbeitnehmereigenschaft des A Verpflichtung zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages im Dienste eines anderen gegen Entgelt Maßgeblich: Tatsächliche Vertragsdurchführung 1. Weisungsrecht hinsichtlich Arbeitszeit, Aufgaben und Arbeitsort wie bei Frage 1 2. Problematisch allein: besonders hohe Arbeitsleistung Teilweise: Arbeitnehmereigenschaft (-) wegen Beschäftigung von Hilfspersonen durch A Teilweise: Arbeitnehmereigenschaft (+) wegen fortbestehender umfassender Weisungsbefugnis der Agentur gegenüber A II. Sachliche Anwendbarkeit gemäß § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG (wie bei Frage 1) B. Ergebnis Der Anwalt wird zur Erhebung der Kündigungsschutzklage raten, wenn er auf Grund der Angaben des A zum Ergebnis kommt, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist. Frage 3: Rückzahlung der Zustellkommissionen Obersatz: Die Agentur könnte gegen A einen Anspruch auf Rückzahlung der gezahlten Zustellkommissionen aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB haben. A. Etwas erlangt Etwas: jeder vermögenswerte Vorteil Hier Kontogutschrift der Kommissionszahlungen B. Durch Leistung der Agentur Leistung: Bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens Hier: Zahlung der Agentur zum Zweck der Erfüllung der Verbindlichkeit aus einem Dienstvertrag C. Ohne Rechtsgrund Möglicher Rechtsgrund: Dienstvertrag mit A Aber: Arbeitnehmereigenschaft des A, daher Leistung des Mehrbetrags für das Dienstverhältnis ohne Rechtsgrund D. Kein Ausschluss des Rückzahlungsanspruchs, § 814 BGB Ausschluss nur bei positiver Kenntnis der Agentur vom Fehlen des Rechtsgrunds Hier nicht gegeben

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Fall 2

Lösungsvorschlag

„Scientology und Zeitungsboten“

E. Kein Ausschluss des Rückzahlungsanspruchs gemäß § 818 Abs. 3 BGB Keine Entreicherung des A, da sich die Kommissionszahlungen noch auf dessen Konto befinden F. Ergebnis: Rückzahlungsanspruch gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB besteht

Lösungsvorschlag Ausgangsfall Das Arbeitsgericht wird den Rechtsstreit gemäß § 48 Abs. 1 ArbGG, § 17a Abs. 2 GVG an das örtlich zuständige Landgericht verweisen, wenn der von A beschrittene Rechtsweg nicht eröffnet ist. A. Zuständigkeit der Arbeitgerichtsbarkeit gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a ArbGG Vorliegend könnte sich eine Zuständigkeit des Arbeitsgerichts aus § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a ArbGG ergeben. Dann müsste es sich bei der von A erhobenen Zahlungsklage um eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus einem Arbeitsverhältnis handeln. I. Zuständigkeit schon aufgrund der Geltendmachung von Ansprüchen auf Arbeitsentgelt? Fraglich ist, ob sich eine Zuständigkeit des Arbeitsgerichts schon allein daraus ergeben kann, dass A vorliegend Arbeitsentgeltforderungen geltend macht. Er stützt sich insofern seinem Vortrag nach auf eine arbeitsrechtliche Anspruchsgrundlage. Allerdings hat das BAG ausgeführt, dass eine Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen nicht bereits aus der Geltendmachung einer Bruttoforderung folge. Eine „automatische“ Zuständigkeit der Arbeitsgerichte sei vielmehr nur in den Fällen anzunehmen, in denen ein Anspruch allein auf eine arbeitsrechtliche Anspruchsgrundlage gestützt werden kann, jedoch fraglich ist, ob deren Voraussetzungen vorliegen (sic-non-Fall). Diese Fallgruppe der doppelrelevanten Tatsachen ist dadurch gekennzeichnet, dass mit der Verneinung der Zuständigkeit der Rechtsstreit auch in der Sache praktisch entschieden ist. Davon zu unterscheiden sind hingegen zum einen Sachverhalte, bei denen ein Anspruch entweder auf eine arbeitsrechtliche oder eine bürgerlich-rechtliche Anspruchsgrundlage gestützt werden kann, sich die entsprechenden Anspruchsgrundlagen jedoch gegenseitig ausschließen (sog. aut-aut-Fall).1 Zum anderen gibt es Konstellationen, bei denen sich ein Anspruch sowohl auf eine arbeitsrechtliche als auch auf eine rechtswegfremde Anspruchsgrundlage stützen lässt, sich diese Anspruchsgrundlagen jedoch nicht gegenseitig ausschließen (sog. et-etFall).2 Die Rechtsprechung geht in solchen Fällen davon aus, dass sie ihre Zuständigkeit nicht allein aufgrund des schlüssigen Vortrags des Klägers bejahen darf, 1 Ausf. BAG 24.4.1996 AP ArbGG 1979 § 2 Zuständigkeitsprüfung Nr. 1. 2 Ein solcher et-et-Fall und kein sic-non-Fall liegt etwa vor, wenn über eine außerordentliche Kündigung gestritten wird, weil insoweit § 626 BGB sowohl im Arbeitsverhältnis als auch bei einem freien Dienstverhältnis anzuwenden ist.

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„Scientology und Zeitungsboten“

Lösungsvorschlag Fall 2

sondern bei Bestreiten des Beklagten Beweis erheben muss.3 So soll verhindert werden, dass die gesetzliche Zuständigkeitsverteilung unter den Gerichtsbarkeiten unterlaufen wird. Da vorliegend entweder ein Arbeitsverhältnis als Rechtsgrundlage für die Leistung von Diensten in persönlicher Abhängigkeit oder die Mitgliedschaft in einem Verein in Betracht kommt – insofern kann der Mitgliedsbeitrag im Sinne des § 58 Nr. 2 BGB auch in der Leistung von Diensten bestehen – handelt es sich im vorliegenden Fall um einen sog. aut-aut-Fall, so dass die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen nicht bereits allein aufgrund der Arbeitsentgeltforderung des A angenommen werden kann.4 Das Arbeitsgericht ist daher nur zuständig, wenn A Arbeitnehmer ist. II. Arbeitsverhältnis zwischen A und der S-Kirche oder Tätigkeit als Mitgliedsbeitrag im Verein? Problematisch ist jedoch, ob zwischen A und der S-Kirche tatsächlich ein Arbeitsverhältnis bestand oder ob die Tätigkeit des A lediglich als Mitgliedsbeitrag im Rahmen seiner Vereinsmitgliedschaft in der S-Kirche anzusehen ist. Für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft hat die Rechtsprechung in Abgrenzung zu § 84 Abs. 1 S. 2 HGB folgende Formel entwickelt: Arbeitnehmer ist, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit gegen Entgelt in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist.5 Das Arbeitsverhältnis lässt sich als ein auf Austausch von Arbeitsleistung und Vergütung gerichtetes Dauerschuldverhältnis umschreiben, das den Arbeitnehmer verpflichtet, seine vertraglich geschuldete Leistung im Rahmen einer von Dritten bestimmten Arbeitsorganisation zu erbringen. Zentrales Merkmal der Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation ist dabei, dass der Beschäftigte einem Weisungsrecht des Arbeitgebers hinsichtlich Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit unterliegt.6 Die jeweilige Reichweite des Weisungsrechts gilt es genau zu bestimmen, da sie in allen Bereichen unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann.7 Ergänzt wird die klassische Prüfung der Arbeitnehmereigenschaft zunehmend auch um das Kriterium der Fremdnützigkeit der Leistung bzw. der unternehmerischen Risiken und Chancen. Es gibt demnach mehrere Kriterien, die nicht zwangsläufig alle zusammen vorliegen bzw. die nicht unbedingt gleich stark ausgeprägt sein müssen, um die Arbeitnehmereigenschaft zu bejahen. Es ist vielmehr eine Gesamtbetrachtung unter Würdigung der Einzelfallumstände vorzunehmen. 3 So BAG 28.10.1993 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 19; BAG 30.8.1993 AP GVG § 17a Nr. 6; BGH 27.10. 2009 NJW 2010, 873; LAG Köln 24.7.2007 NZA-RR 2007, 661; offen lassend jedoch BAG 10.12.1996 AP ArbGG 1979 § 2 Zuständigkeitsprüfung Nr. 4; a.A. ErfK/KOCH § 2 ArbGG Rn. 41: die schlüssige Darlegung der Arbeitnehmer-Eigenschaft sei zur Begründung der Rechtswegzuständigkeit zu den Arbeitsgerichten ausreichend, die Erweislichkeit des klägerischen Vorbringens erst im Rahmen der Begründetheit erforderlich. 4 BAG 26.9.2002 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 83; JUNKER, Arbeitsrecht, § 12 Rn. 854. 5 BAG 16.2.2000 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 70; BAG 26.9.2002 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 83. 6 BAG 30.11.1994 AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 74; BAG 26.9.2002 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 83. 7 Ausf. zum Arbeitnehmerbegriff ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 34 ff.

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Fall 2

Lösungsvorschlag

„Scientology und Zeitungsboten“

Maßgeblich für die Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft ist die tatsächliche Vertragsdurchführung. Unerheblich ist, wie die Rechtsbeziehung nach ihrem Geschäftsinhalt objektiv einzuordnen ist, da der Geltungsbereich des Arbeitnehmerschutzrechts zur Verhinderung von Missbräuchen nicht parteidispositiv gestellt werden soll.8 Daher steht der Überprüfung des Rechtsverhältnisses zwischen A und der S-Kirche auch nicht entgegen, dass in der Vereinssatzung niedergeschrieben ist, dass sich die Verpflichtungen der Mitglieder allein aufgrund ihrer satzungsmäßigen Mitgliedschaft im Verein ergeben. Unter Anwendung der einschlägigen Kriterien ist somit im Folgenden zu prüfen, ob A Arbeitnehmer der S-Kirche war. 1. Weisungsrecht hinsichtlich der Arbeitszeit Für die Arbeitnehmereigenschaft des A spräche eine umfassende Weisungsbindung hinsichtlich der zeitlichen Erbringung seiner Leistung. So hat das BAG einen Beschäftigten eines Vereins als Arbeitnehmer eingestuft, der zu festen Arbeitszeiten tätig werden musste.9 Allerdings war A in der zeitlichen Einteilung der Audit-Sitzungen schon insofern gänzlich frei, als er die Termine eigenständig vereinbaren musste. Er war daher nicht durch einseitig von der S-Kirche vorgegebene Arbeitszeiten gebunden. Insgesamt bestand insoweit eine erhebliche Freiheit in der näheren Ausgestaltung der zeitlichen Komponente der Erbringung seiner Leistungen. Auch hinsichtlich der Dauer der jeweiligen Audit-Sitzungen war A nicht durch Weisungen der S-Kirche gebunden. Insofern spricht die zeitliche Weisungsungebundenheit und Möglichkeit des A, seinen Arbeitstag selbst zu organisieren, gegen eine Arbeitnehmereigenschaft. Allerdings ist zu bedenken, dass die zeitliche Weisungsgebundenheit angesichts flexibler Arbeitszeitregelungen bisweilen an Wertigkeit verliert.10 Schon insofern bedarf es der genauen Betrachtung der weiteren Weisungsbefugnisse. 2. Weisungsrecht hinsichtlich Aufgaben und Funktionen Für die Arbeitnehmereigenschaft könnte jedoch sprechen, dass A durchaus Anweisungen des Kirchenvorstands unterlag und die ihm zugewiesenen Aufgaben und Funktionen ausüben musste. Insofern unterlag A jedenfalls einer Weisungskompetenz der S-Kirche hinsichtlich der genauen Stellung in der arbeitsteiligen Organisation. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass eine entsprechende Verpflichtung zur Befolgung der Anweisungen in der vereinseigenen Satzung normiert ist, die als Rechtsgrundlage für die Leistung von Diensten in persönlicher Abhängigkeit anerkannt ist.11 Indem A sich als Vereinsmitglied zur Ableistung bestimmter Dienste verpflichtet hat und zugleich die Weisungsbefugnis der S-Kirche anerkennt, kann hieraus folglich keine positive Aussage in Bezug auf 8 BAG 22.3.1995 AP ArbGG 1979 § 5 Nr. 21. 9 BAG 22.3.1995 AP ArbGG 1979 § 5 Nr. 21; in dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall wurden des Weiteren genaue Anweisungen hinsichtlich der Ausführung der Tätigkeit an den Beschäftigten gegeben. 10 Vgl. ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 67. 11 BAG 3.6.1975 AP BetrVG 1972 § 5 Rotes Kreuz Nr. 5; BAG 26.9.2002 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 83 m.w.N.

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„Scientology und Zeitungsboten“

Lösungsvorschlag Fall 2

den Bestand eines Arbeitsverhältnisses getroffen werden. Damit kann Folgendes festgehalten werden: Durch die vereinsrechtliche Verpflichtung zur Arbeit in persönlicher Abhängigkeit allein wird kein Arbeitsverhältnis begründet, da sowohl Vereinsmitglieder, die ihren Mitgliedsbeitrag in Form von Dienstleistungen für den Verein erbringen, als auch Arbeitnehmer ihre Dienste in persönlicher Abhängigkeit leisten.12 3. Fachliche Bindung des A Fraglich bleibt, ob aus der fachlichen Bindung an die Grundsätze der S-Kirche auf ein Arbeitsverhältnis geschlossen werden könnte. Allerdings ist zu bedenken, dass das Kriterium der fachlichen Weisungsbefugnis bei der Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft nicht immer geeignet ist, eindeutige Aussagen zu treffen. So steht der Arbeitnehmereigenschaft bei fachlich besonders qualifizierten Tätigkeiten nicht entgegen, dass der Arbeitgeber vielfach gar nicht in der Lage ist, Anweisungen hinsichtlich der Art bzw. der fachlichen Durchführung der zu leistenden Arbeit zu erteilen.13 Damit ist zugleich ausgedrückt, dass auch bei der Existenz einer fachlichen Bindung nicht vorschnell allein ihretwegen auf die Arbeitnehmereigenschaft geschlossen werden darf. Auch der vorliegende Sachverhalt drängt zur diesbezüglichen Zurückhaltung. So ist die fachliche Bindung an die Grundsätze der S-Kirche bereits durch den Vereinszweck vorgegeben.14 Die zuvor erwähnte Möglichkeit zur Erbringung des Mitgliedsbeitrags in Form von Dienstleistungen würde jedenfalls sinnentleert, wenn aus der notwendigen Bindung an den Vereinzweck stets auf das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses geschlossen würde. Nach Prüfung möglicher Weisungsbefugnisse der S-Kirche gegenüber A kann noch nicht abschließend festgestellt werden, dass A Arbeitnehmer ist. 4. Umgehung zwingender arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen Wie ausgeführt, ist es zwar grundsätzlich möglich, die Leistung von Diensten in persönlicher Abhängigkeit in einem Verein als Mitgliedsbeitrag im Sinne von § 58 Nr. 2 BGB einzustufen. Die Grenze einer solchen Deutung als vereinsrechtliche „Arbeitspflicht“ ist allerdings dann erreicht, wenn diese Arbeitspflicht gegen §§ 134, 138 BGB verstößt und damit durch die vereinsrechtliche Gestaltung lediglich zwingende arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen umgangen werden sollen.15 a) Verstoß gegen § 134 BGB Eine solche Umgehung arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen kann dann vorliegen, wenn dem zur Leistung abhängiger Arbeit verpflichteten Vereinsmitglied

12 BAG 3.6.1975 AP BetrVG 1972 § 5 Rotes Kreuz Nr. 5; BAG 26.9.2002 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 83. 13 ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 68; vgl. auch BAG 27.7.1961 AP BGB § 611 Ärzte Nr. 24, Gehaltsansprüche zu Chefärzten. 14 BAG 26.9.2002 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 83. 15 BAG 22.3.1995 AP ArbGG 1979 § 5 Nr. 21; BAG 26.9.2002 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 83.

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Fall 2

Lösungsvorschlag

„Scientology und Zeitungsboten“

keine Mitgliedschaftsrechte zustehen, die eine Einflussnahme ermöglichen.16 Nach dem Sachverhalt standen A solche Rechte allerdings zu, er ist als Vereinsmitglied nicht praktisch rechtlos. b) Verstoß gegen § 138 BGB Zweifel an der Vereinbarkeit der vereinsrechtlich begründeten Dienstverpflichtung des A mit § 138 BGB könnten vorliegend im Hinblick auf die außerordentlich geringe „Entlohnung“ des A bestehen, die lediglich in der nicht regelmäßigen Entrichtung eines Taschengeldes von 75 - 100 Euro pro Monat bestand. Für den Fall des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses läge ein Verstoß gegen die guten Sitten durchaus nahe. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass diese Geldleistung entsprechend den obigen Feststellungen gerade keine Gegenleistung für die Erbringung einer Leistung aufgrund eines Arbeitsverhältnisses, sondern eine Zuwendung darstellen soll, mit der offenbar besondere Aufwendungen der hauptamtlich tätigen Mitglieder abgegolten werden sollen. Seinen tatsächlichen Lebensunterhalt bestritt A durch seine Tätigkeit als Zeitungszusteller. Unzulässig wäre es vor diesem Hintergrund wiederum, die Möglichkeit einer vereinsrechtlichen Verpflichtung zur Ableistung des Mitgliedsbeitrags durch Dienstleistungen dadurch leerlaufen zu lassen, dass stets die Notwendigkeit besteht, das Vereinsmitglied wie einen Arbeitnehmer entlohnen zu müssen. Die entsprechende Verpflichtung des Mitglieds soll ja gerade dem Verein zugute kommen, nicht hingegen die Entlohnung durch den Verein dem Mitglied. Zudem könnte das Missverhältnis zwischen Dienstleistung und Zuwendung dadurch kompensiert werden, dass A mit seiner Tätigkeit bei der S-Kirche keine Erwerbsabsichten verfolgte. Im Vordergrund steht nicht die finanzielle Seite seiner Tätigkeit, sondern die eigene geistige Vervollkommnung im Sinne der Lehren der S-Kirche. A verfolgte in erheblichem Umfang eigene Ziele, indem er auf der sog. Brücke vorankommen und die Erlösungsstufen „Clear“ und „Operating Thetan“ erreichen wollte. Insofern lässt sich durchaus annehmen, dass für A seine Teilhabe als Auditor an der Verbreitung der Lehren und der Macht der S-Kirche der Lohn für die – unter normalen Umständen anzunehmende – „Ausbeutung“ ist.17 Es liegt somit kein Verstoß gegen § 138 BGB vor. c) Andere Beurteilung für den Fall der Einstufung der S-Kirche als wirtschaftlichen Verein? Fraglich ist schließlich, inwiefern der Einwand des A, die S-Kirche verfolge in Wahrheit wirtschaftliche Ziele und sei demnach ein wirtschaftlicher Verein, bei der Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft beachtlich ist. Das BAG verfolgt bei der Beurteilung, welchen Einfluss die wirtschaftliche Zweckrichtung auf die Arbeitnehmereigenschaft hat, keine eindeutige Linie. Während es zunächst ausgeführt hat, dass bei Vereinen mit wirtschaftlicher Zwecksetzung die Begründung vereinsrechtlicher Verpflichtung zur Leistung von Arbeit in persönlicher Abhängigkeit in aller Regel nicht in Betracht kommt,18 hat es in einer späteren Entscheidung festgestellt, dass es zur Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft

16 BAG 22.3.1995 AP ArbGG 1979 § 5 Nr. 21. 17 Vgl. BAG 26.9.2002 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 83. 18 BAG 22.3.1995 AP ArbGG 1979 § 5 Nr. 21.

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„Scientology und Zeitungsboten“

Lösungsvorschlag Fall 2

einer Entscheidung über die Frage der Religionsgemeinschaft bzw. des wirtschaftlichen Vereins nicht bedurfte.19 Außer Frage steht jedenfalls, dass auch bei einem wirtschaftlichen Verein an sich die Möglichkeit besteht, per Satzung festzuschreiben, dass der Mitgliedsbeitrag durch die Erbringung von Dienstleistungen zu entrichten ist. Letztlich dürfte die Frage nach der Auswirkung der Zwecksetzung des Vereins auf die Arbeitnehmereigenschaft auf eine Wertungsentscheidung hinauslaufen. An sich besteht nämlich hinsichtlich der „Arbeitsverpflichtung“ und der weitgehenden Weisungsfreiheit kein Unterschied, ob eine Person in einem wirtschaftlichen oder nicht wirtschaftlichen Verein tätig wird. Insofern ist letztlich entscheidend, ob toleriert werden soll, dass ein Verein mit Personen einen erwerbswirtschaftlichen Zweck verfolgt, ohne sie als Arbeitnehmer zu beschäftigen. In der vorliegenden Situation wird der Umstand, dass A womöglich der S-Kirche bei ihrer wirtschaftlichen Betätigung behilflich ist, dadurch abgefedert, dass ihm auch in dem – eventuellen – wirtschaftlichen Verein die Möglichkeit offenstand, die persönliche Entwicklung voranzutreiben und höhere Daseinsstufen auf der sog. Brücke zu erreichen. Insoweit wird die denkbare Erwerbsabsicht der S-Kirche von den eigennützigen Motiven des A überlagert. Die mögliche Eigenschaft als wirtschaftlicher Verein spricht daher nicht für die Arbeitnehmereigenschaft des A. Anmerkung: a.A. sehr gut vertretbar; vgl. ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 143.

Auch die satzungsmäßige Einstufung des Tätigwerdens als Mitgliedsbeitrag spricht somit gegen die Arbeitnehmereigenschaft des A. III. Zwischenergebnis Zwischen A und der S-Kirche besteht kein Arbeitsverhältnis, daher ergibt sich die Zuständigkeit des Arbeitsgerichts nicht aus § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a ArbGG. B. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit gemäß §§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a, 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG Eine Zuständigkeit könnte sich jedoch aus §§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a, 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG ergeben. Über § 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG erstreckt sich die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen auch auf Rechtsstreitigkeiten zwischen arbeitnehmerähnlichen Personen und deren Arbeitgebern. I. Voraussetzung: Arbeitnehmerähnlichkeit des A A müsste eine arbeitnehmerähnliche Person sein. Arbeitnehmerähnliche Personen sind Selbstständige, die sich von Arbeitnehmern durch den Grad der persönlichen Abhängigkeit unterscheiden. Sie sind in der Regel wegen ihrer fehlenden oder gegenüber Arbeitnehmern schwächeren Weisungsgebundenheit, oft auch wegen fehlender oder geringerer Eingliederung in eine betriebliche Organisation in wesentlich geringerem Maße persönlich abhängig als Arbeitnehmer. An die Stelle der persönlichen Abhängigkeit tritt vielmehr das Merkmal der wirtschaftlichen Abhängigkeit, die einen solchen Grad erreicht wie er im Allgemeinen nur in einem Arbeitsverhältnis vorkommt. Dies ist der Fall, wenn sie auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft unbedingt angewiesen sind und die Einkünfte aus 19 BAG 26.9.2002 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 83.

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Fall 2

Lösungsvorschlag

„Scientology und Zeitungsboten“

der Dienstleistung als Existenzgrundlage dienen.20 Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall schon deswegen nicht erfüllt, weil A seinen Lebensunterhalt durch die Erwerbstätigkeit als Zeitungszusteller bestreitet.21 II. Zwischenergebnis Da A keine arbeitnehmerähnliche Person ist, ergibt sich die Zuständigkeit des Arbeitsgerichts auch nicht aus §§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. a, 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG. C. Gesamtergebnis Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist nicht gegeben. Das Arbeitsgericht wird den Rechtsstreit gemäß § 48 I ArbGG, § 17a Abs. 2 GVG an das örtlich zuständige Landgericht verweisen.

Abwandlung Frage 1: Erhebung einer Kündigungsschutzklage Der Anwalt wird A zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage raten, wenn diese (unterstellt: zulässige) Klage begründet ist. Das ist der Fall, wenn das KSchG anwendbar und die Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial ungerechtfertigt ist. A. Anwendbarkeit des KSchG I. Persönliche Anwendbarkeit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG: Arbeitnehmereigenschaft des A Das Eingreifen des materiellen Kündigungsschutzes nach dem KSchG setzt gemäß § 1 Abs. 1 KSchG zwischen A und der Vertriebsagentur ein ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestehendes Arbeitsverhältnis voraus. Da A seine Tätigkeit als Zeitungszusteller bereits seit Anfang 2003 ausübt, ist auch hier wieder entscheidend, ob A Arbeitnehmer ist. Wie zuvor bereits dargelegt, ist die Frage nach der Arbeitnehmereigenschaft einer Person unter der notwendigen Berücksichtigung unterschiedlicher Kriterien zu beantworten. Entscheidend ist, ob sich die Person aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet hat und ihre vertraglich geschuldete Leistung im Rahmen einer von Dritten bestimmten Arbeitsorganisation erbringen muss (vgl. oben). Zentrales Merkmal der Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation ist dabei, dass der Beschäftigte einem Weisungsrecht des Arbeitgebers hinsichtlich Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit unterliegt.22 Speziell Zeitungszusteller können je nach Umfang und Organisation der übernommenen Tätigkeit Arbeitnehmer oder Selbstständige sein. Eine Tätigkeit aufgrund eines

20 BAG 17.6.1999 NZA 1999, 1175; vgl. auch ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 110 ff. 21 Vgl. BAG 26.9.2002 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 83. 22 BAG 30.11.1994 AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 74; BAG 26.9.2002 AP ArbGG 1979 § 2 Nr. 83.

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„Scientology und Zeitungsboten“

Lösungsvorschlag Fall 2

freien Dienst- oder Werkvertrags kommt jedoch regelmäßig nur in Betracht, wenn die Zustellung der Zeitungen so organisiert ist, dass dem dafür Verantwortlichen ein größerer Gestaltungsspielraum verbleibt.23 Maßgeblich ist also die tatsächliche Vertragsdurchführung. 1. Weisungsrecht hinsichtlich der Arbeitszeit Im vorliegenden Fall wird der Zeitpunkt, zu dem die Zeitung spätestens dem Abonnenten zugestellt sein muss, seitens der Vertriebsagentur verbindlich vorgegeben. A hat sich insoweit an einen festen Zeitplan zu halten. Diese Weisungsbefugnis in zeitlicher Hinsicht spricht für die Arbeitnehmereigenschaft des A. 2. Weisungsrecht hinsichtlich des Arbeitsorts und der Aufgaben Des Weiteren könnte die Agentur ein örtliches und aufgabenbezogenes Weisungsrecht gegenüber A haben. Letzteres liegt vor, da A vorgegeben wird, welche Zeitungen er auszutragen hat. Zwar kann A den Ablauf seiner Auslieferungsroute theoretisch selbst festlegen, praktisch jedoch dürfte selbst diese Entscheidung des A im Hinblick auf die vorgegebenen Adressen und den zwingenden Zeitrahmen zwangsläufig vorgegeben sein. Somit besteht ein Weisungsrecht der Agentur auch in zeitlicher Hinsicht. Insbesondere im Hinblick auf die feste zeitliche Bindung des A und den letztlich verbindlich vorgegebenen Ablauf der Zustellung ist somit von seiner Arbeitnehmereigenschaft auszugehen.24 3. Zwischenergebnis Da A als Arbeitnehmer einzustufen ist, dessen Arbeitsverhältnis ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, ist der persönliche Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 KSchG eröffnet. II. Sachliche Anwendbarkeit gemäß § 23 I KSchG Des Weiteren muss das KSchG sachlich anwendbar sein. Dies richtet sich nach § 23 Abs. 1 KSchG. Seit dem 1.1.2004 ist der sachliche Anwendungsbereich des KSchG zweigeteilt: Während Arbeitnehmern, deren Arbeitsverhältnis nach dem 31.12.2003 begonnen hat, der allgemeine Kündigungsschutz nur dann zu Gute kommt, wenn im Betrieb in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt werden (§ 23 Abs. 1 S. 3 Halbs. 1 KSchG), gilt für bereits am 31.12.2003 beschäftigte Alt-Arbeitnehmer weiterhin der Schwellenwert „fünf“ (§ 23 Abs. 1 S. 2 KSchG). Da A bei seiner Agentur bereits seit Anfang 2003 beschäftigt ist, unterliegt er als Alt-Arbeitnehmer somit dem „alten“ Schwellenwert des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG. Nach dem Sachverhalt ist davon auszugehen, dass die Agentur regelmäßig mehr als fünf Arbeitnehmer beschäftigt. Folglich ist das KSchG auch in sachlicher Hinsicht anzuwenden.

23 BAG 16.7.1997 AP BGB § 611 Zeitungsausträger Nr. 4. 24 Vgl. BAG 16.7.1997 AP BGB § 611 Zeitungsausträger Nr. 4; ferner auch LAG Düsseldorf 5.3.1996 LAGE BGB § 611 Arbeitnehmerbegriff Nr. 30; LAG Hamm 8.9.1997 EzA BGB Arbeitnehmerbegriff Nr. 12.

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Fall 2

Lösungsvorschlag

„Scientology und Zeitungsboten“

B. Soziale Rechtfertigung der Kündigung, § 1 Abs. 2 KSchG Die Kündigungsschutzklage ist nur dann begründet, wenn die Kündigung sozial ungerechtfertigt im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG ist. Hierzu enthält der Sachverhalt jedoch keine Angaben. Der Anwalt wird daher den A genau zu den relevanten Verhältnissen im Betrieb befragen, um die Erfolgsaussichten der Kündigungsschutzklage beurteilen zu können. C. Ergebnis Kommt der Anwalt des A zu dem Ergebnis, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, wird er dem A zur Erhebung der Kündigungsschutzklage raten. Frage 2: Erhebung einer Kündigungsschutzklage Auch in diesem Fall wird der Anwalt dem A zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage raten, wenn diese bei unterstellter Zulässigkeit begründet ist. Das ist der Fall, wenn das KSchG anwendbar und die Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG nicht sozial gerechtfertigt ist. A. Anwendbarkeit des KSchG I. Persönliche Anwendbarkeit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG: Arbeitnehmereigenschaft des A Auch bei dieser Abwandlung ist für die persönliche Anwendbarkeit des KSchG lediglich zu untersuchen, ob A Arbeitnehmer ist. 1. Weisungsrecht hinsichtlich Arbeitszeit, Aufgaben und Arbeitsort Wie bei Frage 1 spricht die weitreichende Weisungsbefugnis der Agentur hinsichtlich Aufgaben, Arbeitsort und Arbeitszeit für die Arbeitnehmereigenschaft des A. 2. Problematisch allein: besonders hohe Arbeitsleistung Allein fraglich ist daher im vorliegenden Fall, wie sich der Umstand, dass A zwei Zustellungsbezirke betreut und zudem noch für eine andere Agentur tätig wird, auf die Arbeitnehmereigenschaft auswirkt. Anknüpfungspunkt für eine Ablehnung der Arbeitnehmerstellung des A könnte sein, dass eine starke persönliche Bindung des Verpflichteten regelmäßig für die Arbeitnehmereigenschaft spricht. Zwar ist auch bei Dienstverträgen die Leistung im Zweifel in Person zu erbringen, jedoch ist die Abweichung von dieser Auslegungsregel im Arbeitsverhältnis typischerweise nicht gegeben.25 Ob der Umstand, dass sich ein Vertragspartner zur Erfüllung der geschuldeten Tätigkeit der Mithilfe Familienangehöriger oder anderer Personen bedient, gegen die Annahme eines Arbeitsverhältnisses spricht, wird unterschiedlich beurteilt.26 Schwierig ist die Beurteilung insofern, als auch für den Fall, dass sich die verpflichtete Person Dritter zur Erfüllung der Leis25 ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 71. 26 Vgl. BAG 16.7.1997 AP BGB § 611 Zeitungsausträger Nr. 4; LAG Düsseldorf 5.3.1996 LAGE BGB § 611 Arbeitnehmerbegriff Nr. 30; ablehnend ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 71.

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„Scientology und Zeitungsboten“

Lösungsvorschlag Fall 2

tungspflichten bedient, die grundsätzliche Weisungsbefugnis zwischen den unmittelbaren Vertragspartnern bestehen bleibt. Auch im Verhältnis der Agentur zu A ändert sich nicht deshalb etwas, weil angesichts der hohen Arbeitsbelastung anzunehmen ist, dass A zur Hand gegangen wird. Allerdings könnte in dieser Situation dem Kriterium der Fremdnützigkeit der Leistung bzw. der Übernahme unternehmerischer Risiken und Chancen eine besondere Bedeutung zukommen. Soweit das Ausmaß der Leistungsverpflichtung letztlich erfordert, dass der Verpflichtete wie ein Subunternehmer selbst den Arbeitsablauf unter Einsatz von Fremdpersonal eigenständig planen muss und zudem noch nach außen als Selbstständiger auftritt, spricht viel für die Eigenschaft als selbstständiger Unternehmer. Allerdings lässt der Sachverhalt einen solchen Rückschluss in Bezug auf A nicht zu. Demnach ist A auch in diesem Fall Arbeitnehmer und das Kündigungsschutzgesetz somit auf ihn anwendbar. Anmerkung: a.A. bei entsprechender Argumentation gut vertretbar.

II. Sachliche Anwendbarkeit gemäß § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG Da im Betrieb der Agentur der für A als Alt-Arbeitnehmer nach § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG maßgebliche Schwellenwert von in der Regel mehr als fünf Arbeitnehmern überschritten wird, ist auch der sachliche Anwendungsbereich des KSchG gegeben. B. Ergebnis Kommt der Anwalt aufgrund der (noch zu erfragenden) Angaben des A hinsichtlich der Sozialstruktur des Betriebs zum Ergebnis, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, wird er dem A auch für den Fall der besonders hohen Leistungsdichte zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage raten. Frage 3: Rückzahlung der Zustellkommissionen Die Agentur könnte gegen A einen Anspruch auf Rückzahlung der zuviel gezahlten Kommissionen gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB haben. Dies ist der Fall, wenn A etwas durch Leistung der Agentur ohne Rechtsgrund erlangt hat und der Anspruch nicht ausgeschlossen ist. A. Etwas erlangt A muss durch Leistung der Agentur etwas erlangt haben. „Etwas“ ist jeder vermögenswerte Vorteil. Im vorliegenden Fall sind A auf seinem Konto Zustellkommissionen gutgeschrieben worden. Aus dem Girovertrag hat A gegen die Bank zunächst einen Anspruch auf Gutschrift der Kommissionen erlangt. Dieser Anspruch auf Gutschrift folgt dabei für die nach dem 31.10.2009 vorgenommenen Zahlungen für den Girovertrag als Zahlungsdiensterahmenvertrag i.S.d. § 675f Abs. 2 BGB aus § 675t Abs. 1 S. 1 BGB n.F. und für den davor liegenden Zeitraum aus § 676g Abs. 1 S. 1 BGB (vgl. insofern die, die Neuregelung des Zahlungsdienstleistungsverkehrs betreffende Übergangsvorschrift des Art. 229 § 22 Abs. 1 S. 2 EGBGB). Aus der Gutschrift erlangte A sodann einen Auszahlungsanspruch gegen die Bank, welcher nach Ansicht des BGH bislang aus §§ 700 Abs. 1 S. 1, 2, 3, 488 Abs. 2, 697, 695 BGB resultierte, da dieser das Giroguthaben als einen getrennt

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Fall 2

Lösungsvorschlag

„Scientology und Zeitungsboten“

vom Girovertrag zu betrachtenden Fall der unregelmäßigen Verwahrung ansieht.27 Ob sich durch die Neuregelung der §§ 675c ff. BGB für die nach dem 31.10.2009 vorgenommenen Zahlungen an A an dieser Anspruchsgrundlage etwas ändert, ist derzeit offen.28 Dies kann letztlich jedoch dahinstehen, da die Gutschrift jedenfalls auch ein abstraktes Schuldversprechen der Bank gegenüber dem Zahlungsempfänger i.S.d. §§ 780, 781 BGB enthält und damit eine vom Grund des Anerkenntnisses unabhängige Forderung des Kunden gegen das Kreditinstitut begründet. A hat mithin einen Anspruch aus abstraktem Schuldanerkenntnis gemäß §§ 780, 781 BGB gegen die Bank erlangt. B. Durch Leistung der Agentur A müsste etwas durch Leistung der Agentur erlangt haben. Leistung ist die bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens. Die Agentur hat die Kommissionen bewusst und zu dem Zweck gezahlt, eine Verbindlichkeit aus dem Dienstvertrag mit A zu erfüllen. Eine Leistung liegt somit vor. C. Ohne Rechtsgrund Weiter müsste A diesen Vermögensvorteil ohne rechtlichen Grund erlangt haben. Als Rechtsgrund kommt hier ein Dienstvertrag in Betracht. Nach dem Sachverhalt ist A jedoch Arbeitnehmer der Agentur, ein Dienstvertrag kann daher nicht als Rechtsgrund für die Zahlung der Kommissionen herangezogen werden. Indem feststeht, dass A als Arbeitnehmer zu vergüten war und ein Rechtsgrund für die Kommissionszahlungen nicht bestand, wenn bei der Agentur als Dienstberechtigte unterschiedliche Vergütungsordnungen für freie Mitarbeiter und für Arbeitnehmer gelten,29 hat die Agentur ohne Rechtsgrund geleistet. Allerdings besteht ein Rechtsgrund für die Zahlungen nur insoweit nicht, als der Arbeitgeber im Hinblick auf das vermeintliche Dienstverhältnis zuviel geleistet hat. Laut Sachverhalt sind Kommissionen auch an Arbeitnehmer zu zahlen, jedoch in geringerer Höhe. Rechtsgrundlos ist A somit nur hinsichtlich des Differenzbetrags zwischen beiden Kommissionshöhen bereichert. D. Kein Ausschluss des Rückzahlungsanspruchs gemäß § 814 BGB Der Anspruch der Agentur auf Rückzahlung könnte aber gemäß § 814 BGB ausgeschlossen sein. Voraussetzung für einen Ausschluss ist, dass der Leistende, hier die Agentur, gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet gewesen ist. Erforderlich ist jedoch positive Kenntnis der Rechtslage zum Leistungszeitpunkt, nicht ausreichend hingegen ist die Kenntnis der Tatsachen, aus denen sich das Fehlen einer rechtlichen Verpflichtung ergibt. Erforderlich ist stets, dass 27 BGH 10.10.1995 NJW 1996, 190. 28 So aber PALANDT/SPRAU § 675f BGB Rn. 27: Da die §§ 675 ff. BGB nunmehr auch die Kontoführung regelten, sei entgegen der bisher h.M. nunmehr nicht mehr von einem vom Girovertrag getrennt heranzuziehenden Verwahrungsverhältnis zwischen der Bank und dem Kontoinhaber, sondern von einem einheitlichen Vertragsverhältnis auszugehen. 29 Vgl. BAG 29.5.2002 AP BGB § 812 Nr. 27; vgl. auch BAG 21.1.1998 AP BGB § 612 Nr. 55 zur Tätigkeit in öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalt; BAG 21.11.2001 AP BGB § 612 Nr. 63 zur Tätigkeit als Volkshochschullehrerin.

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„Scientology und Zeitungsboten“

Lösungsvorschlag Fall 2

der Leistende weiß, dass er nach der Rechtslage nichts schuldet.30 Mangels weitergehender Anhaltspunkte könnte eine diesbezügliche Kenntnis der Agentur allenfalls aus dem Vorwurf des A abzuleiten sein, dass es im Interesse der Agentur gelegen habe, den A als freien Mitarbeiter und nicht als Arbeitnehmer einzustellen. Träfe dieser Vorwurf zu, so könnte in der Tat darauf geschlossen werden, dass die Agentur A trotz Kenntnis der Arbeitnehmereigenschaft nicht als solchen eingestellt hat und damit zugleich wusste, zu höheren Kommissionszahlungen an A an sich nicht verpflichtet zu sein. Allerdings ist ein genauer Aufschluss, welche Kenntnisse die Agentur im Hinblick auf die rechtliche Qualifizierung des „Beschäftigungsverhältnisses“ hatte, nicht möglich. Insofern liegt bei der Agentur keine positive Kenntnis der Nichtverpflichtung vor. Die Voraussetzungen des § 814 BGB sind somit nicht erfüllt. E. Kein Ausschluss des Rückzahlungsanspruchs gemäß § 818 Abs. 3 BGB Da sich die Kommissionszahlungen noch auf dem Konto des A befinden, ist der Rückzahlungsanspruch auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil A entreichert wäre. Anmerkung: Aufgrund der Sachverhaltsangabe, dass die Kommissionszahlungen noch auf dem Konto des A vorhanden sind, stellte sich vorliegend nicht die Frage nach den im Arbeitsrecht geltenden Grundsätze zum Entreicherungseinwand nach § 818 Abs. 3 BGB. Grundsätzlich ist insofern jedenfalls dann unproblematisch eine Entreicherung anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer die rechtsgrundlose Leistung ersatzlos für (Luxus-)Ausgaben verwendet hat, die er sonst nicht gemacht hätte, nicht aber, wenn er anderweitige Aufwendungen erspart oder bestehende Schulden getilgt hat. Im Übrigen ist zu beachten, dass es grundsätzlich dem Arbeitnehmer als Bereicherungsschuldner obliegt, darzulegen und ggf. zu beweisen, dass er nicht mehr bereichert ist. Allerdings kommt ihm beim Nachweis der Entreicherung nach der Rechtsprechung des BAG die Beweiserleichterung eines sog. Anscheinsbeweises zugute.31 Da ein konkreter Nachweis häufig nicht geführt werden kann, spricht danach zugunsten des Arbeitnehmers der erste Anschein für eine Entreicherung des Arbeitnehmers, wenn erfahrungsgemäß und typischerweise anzunehmen ist, dass die Zuvielzahlung für den laufenden Lebensunterhalt verbraucht wurde. Dies setzt nach der Rechtsprechung des BAG voraus, dass es sich um Überzahlungen in relativ geringer Höhe handelt.32 Danach lässt sich eine Entreicherung durch Verbrauch der zusätzlichen Mittel für den Lebensunterhalt umso weniger annehmen, je höher die Überzahlung im Verhältnis zum Realeinkommen war. Wichtig für den Studenten ist, dabei zu beachten, dass der Anscheinsbeweis nicht zur Umkehr der Beweislast führt, sondern nur eine Erleichterung der Beweisführung für den Arbeitnehmer bedeutet. So genügt der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- und Beweislast beispielsweise nicht, wenn sein Arbeitgeber eine Entreicherung des Arbeitnehmers substantiiert bestreitet und er zu dieser Behauptung des Arbeitgebers nicht substantiiert Stellung nimmt.

30 BAG 29.5.2002 AP BGB § 812 Nr. 27. 31 BAG 12.1.1994 NZA 1994, 658; BAG 18.1.1995 NZA 1996, 27. 32 BAG 23.5.2001 AP BGB § 812 Nr. 25.

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Fall 2

Lösungsvorschlag

„Scientology und Zeitungsboten“

F. Ergebnis Die Agentur kann infolge der Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft des A die Differenz zwischen den niedrigeren Kommissionen für Arbeitnehmer und den höheren für freie Mitarbeiter gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB zurückverlangen.

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„Das unerwünschte Kopftuch“

Falldarstellung

Fall 3

Fall 3: „Das unerwünschte Kopftuch“ Falldarstellung Ausgangsfall Die iranische Staatsangehörige M ist in dem Kaufhaus des A als Schmuck- und Modeverkäuferin beschäftigt. Das Kaufhaus befindet sich in einer dörflich geprägten Ortschaft in der Umgebung von Köln und beschäftigt fünfzig Arbeitnehmer. Nachdem sie fünf Jahre lang ohne jegliche Beanstandungen in dieser Funktion tätig war, trat sie zum 1.3.2009 in Elternzeit, die sie in ihrem Heimatland Iran verbrachte. Zum 1.3.2011 nahm sie ihre Tätigkeit bei A wieder auf. Allerdings beharrte sie schon bei Antritt der Tätigkeit am 1.3.2011 darauf, bei der Arbeit ein Kopftuch zu tragen. Der muslimische Glaube verlange von ihr, in der Öffentlichkeit ihr Kopfhaar bedeckt zu halten. Dieses religiöse Gebot empfinde sie nun – anders als vor der Elternzeit – als absolut verbindlich. Gerade durch den Aufenthalt in ihrem muslimisch geprägten Heimatland sei sie zu der Überzeugung gelangt, dass eine andere Haltung zu dieser Frage sittlich abzulehnen sei. A wies sie in der Folge mehrfach nachdrücklich darauf hin, dass er auf der Entfernung des Kopftuchs beharre. Nachdem dies keine Änderung der Haltung der M bewirkte, mahnte A das Verhalten der M mehrfach ab und kündigte M am 10.5.2011 ordentlich. Der Kündigung hatte der Betriebsrat einstimmig zugestimmt. M erhebt am 15.5.2011 Kündigungsschutzklage. Sie weist zutreffend darauf hin, dass im Formulararbeitsvertrag nur die Pflicht statuiert sei, für ein gepflegtes äußeres Erscheinungsbild Sorge zu tragen. Bei der Auswahl des Kopftuches habe sie jedoch stets auf ein gepflegtes, ästhetisch ansprechendes Erscheinungsbild größten Wert gelegt. Eine Pflicht zur Entfernung des Kopftuches habe damit nicht bestanden. Weiterhin weist M den A daraufhin, dass eine Kündigung wegen Tragens eines Kopftuchs gegen das AGG und das in der Richtlinie 2000/78/EG des Rates enthaltene Diskriminierungsverbot verstoße. Auch habe A ihre Grundrechte aus Art. 4 GG nicht berücksichtigt. A entgegnet, dass elementare Interessen seines Unternehmens betroffen seien. Er befürchte bei einer Weiterbeschäftigung drastische Umsatzeinbußen im Schmuck- und Modebereich. Seine ländlich-konservativ geprägte Kundschaft sei zu großen Teilen nicht bereit, sich von einer Verkäuferin mit Kopftuch bedienen zu lassen. Zudem habe das Verhalten der M zu Unmut und Anfeindungen in der Belegschaft geführt, die wiederum Störungen des Betriebsablaufs nach sich gezogen hätten. M habe somit vorsätzlich gegen ihre Vertragspflichten verstoßen. Ein Verstoß gegen das AGG könne schon deshalb nicht vorliegen, da § 2 Abs. 4 AGG klar die Anwendbarkeit des AGG auf Kündigungen ausschließe. Grundrechte der M seien nicht betroffen, da der Islam kein verpflichtendes Gebot des Kopftuchtragens kenne. Außerdem habe M ihr Recht, sich darauf zu berufen, jedenfalls durch die fünfjährige Tätigkeit ohne Kopftuch verwirkt.

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Fall 3

Falldarstellung

„Das unerwünschte Kopftuch“

Frage: Hat die Kündigungsschutzklage der M Erfolg?

Abwandlung 1 In dem Arbeitsvertrag der M ist folgende Vertragsklausel enthalten: „Der/die Arbeitnehmer(-in) verpflichtet sich, politische, religiöse, weltanschauliche und vergleichbare Meinungsäußerungen am Arbeitsplatz zu unterlassen.“ Diese Klausel verwendet A in sämtlichen Arbeitsverträgen. M erscheint trotzdem mit ihrem Kopftuch, A mahnt sie daraufhin ab. Frage: Ist die Abmahnung wirksam?

Abwandlung 2 P ist als Pilot bei dem Luftfahrtsunternehmen L beschäftigt. Zu dem Tätigkeitsbild gehört zwingend das Tragen einer Uniform. Zusätzlich ist in dem Arbeitsvertrag die ausdrückliche Vertragsklausel enthalten, dass der Arbeitnehmer die durch den Arbeitgeber gestellte Kleidung tragen muss. Zwei Jahre trägt P ohne Beanstandungen die Uniform. Nachdem er jedoch der Baghwan-Glaubensgemeinschaft beigetreten ist, besteht er darauf, bei der Arbeit die typische Kleidung der Baghwan-Anhänger zu tragen, nämlich rötlich gefärbte Kleidung und eine Holzperlenkette mit dem Bildnis Baghwans. Die Bekleidungsvorschrift sei eine zwingende Vorschrift seiner Glaubensgemeinschaft, die er für absolut verbindlich halte. Frage: Darf L dem P kündigen, wenn dieser sich fortgesetzt weigert, die Uniform zu tragen? Auszug aus der Richtlinie 2000/78/EG: Artikel 1 Zweck Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten. Artikel 2 Der Begriff „Diskriminierung“ (1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet „Gleichbehandlungsgrundsatz“, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf. Artikel 3 Geltungsbereich (1) Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf

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„Das unerwünschte Kopftuch“

Lösungsskizze Fall 3

a) die Bedingungen — einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen — für den Zugang zu unselbstständiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs; b) den Zugang zu allen Formen und allen Ebenen der Berufsberatung, der Berufsausbildung, der beruflichen Weiterbildung und der Umschulung, einschließlich der praktischen Berufserfahrung; c) die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts; d) die Mitgliedschaft und Mitwirkung in einer Arbeitnehmer oder Arbeitgeberorganisation oder einer Organisation, deren Mitglieder einer bestimmten Berufsgruppe angehören, einschließlich der Inanspruchnahme der Leistungen solcher Organisationen.

Ü

Rechtsfragen: –

Europäisches Arbeitsrecht



Grundrechte im Arbeitsverhältnis



Kündigung und Diskriminierungsverbot



Wirksamkeit und Auslegung des § 2 Abs. 4 AGG



Kündigung im Falle der Leistungsverweigerung



Maßregelungsverbot



Wirksamkeit einer Abmahnung



Leistungsverweigerungsrecht

Lösungsskizze Ausgangsfall A. Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage B. Begründetheit der Kündigungsschutzklage I. Nichtigkeit der Kündigung wegen Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz (§ 134 BGB) 1. Grundrechte als Verbotsgesetze? Problem: Unmittelbare und mittelbare Drittwirkung von Grundrechten 2. Verstoß gegen §§ 7 Abs. 1, 1 AGG? §§ 7 Abs. 1, 1 AGG ist Verbotsgesetz; Verbot der ungerechtfertigten Benachteiligung wegen der Religion Problem: Kann § 7 Abs. 1 AGG aufgrund der Anwendungssperre in § 2 Abs. 4 AGG bei Kündigungen als Verbotsnorm herangezogen werden? a) Streitstand in der Literatur

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Fall 3

Lösungsskizze

„Das unerwünschte Kopftuch“

1. Ansicht: Unanwendbarkeit des § 2 Abs. 4 AGG. Danach besteht keine Anwendungssperre, was zu einer umfänglichen Anwendbarkeit des AGG führt 2. Ansicht: § 2 Abs. 4 AGG muss richtlinienkonform ausgelegt werden 3. Ansicht: Differenzierte Anwendung des AGG auf Kündigungsschutzfälle b) Auffassung des BAG Mit Urteil vom 6.11.2008 vertritt das BAG die Auffassung, dass eine richtlinienkonforme Auslegung des § 2 Abs. 4 AGG möglich ist. Das Kündigungsrecht soll jedoch alleiniger Anknüpfungspunkt für die gerichtliche Überprüfung von Kündigungen bleiben. Insbesondere soll vermieden werden, dass eine Diskriminierungsklage neben die Kündigungsschutzklage tritt. Die Diskriminierungsverbote des AGG sind nicht als eigene Unwirksamkeitsnormen anzuerkennen, vielmehr sollen die Wertungen des AGG in die Prüfung der Sozialwidrigkeit der Kündigung einfließen. c) Streitentscheidung d) Ergebnis § 2 Abs. 4 AGG findet Anwendung. Keine Nichtigkeit der Kündigung durch § 7 Abs. 1 AGG als Verbotsgesetz II. Nichtigkeit gemäß §§ 612a i.V.m. 134 BGB § 612a BGB ist ein Sonderfall der Sittenwidrigkeit und damit vorrangig zu prüfen bei Maßnahmen als Reaktion auf die Ausübung von Rechten. Darum auch Berücksichtigung der Auslegung des § 138 BGB; Wertungen der Grundrechte fließen mit ein (mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Privatrechtsverhältnis) § 16 AGG als möglicherweise vorrangig zu berücksichtigendes Maßregelungsverbot ist im Kündigungsrecht nur im Rahmen der allgemeinen Vorschriften zu prüfen 1. Zulässige Ausübung von Rechten durch M Tragen des Kopftuches trotz Aufforderung, es abzulegen. a) Grundrechtlich geschütztes Verhalten, Art. 4 GG aa) Schutzbereich der Glaubensfreiheit (1) Schutz des forum externum Die Glaubensfreiheit schützt auch nach außen wirkende, religiös motivierte Verhaltensweisen („forum externum“) (2) Begriff der Glaubensfreiheit Der Schutzbereich kann nur subjektiv definiert werden; ob es sich um ein verbindliches Gebot einer Glaubensgemeinschaft handelt, ist also unerheblich bb) „Verwirkung“ durch fünfjährige Tätigkeit ohne Kopftuch? Sehr hohe Hürden. Des Weiteren ist die Glaubensfreiheit nicht statisch zu verstehen; subjektive Schutzbereichsdefinition erfasst auch Änderungen der Glaubenshaltung

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Lösungsskizze Fall 3

cc) Einschränkung durch betriebliche Interessen des A Geeignet sind nur verfassungsrechtlich geschützte Güter des A, da die Glaubensfreiheit „unverletzlich“, also durch einfachrechtliche Normen nicht einschränkbar ist b) Ergebnis Mangels Betroffenheit verfassungsrechtlich geschützter Güter des A ist der Eingriff in die Glaubensfreiheit der M nicht gerechtfertigt; Verstoß gegen das Grundrecht der Glaubensfreiheit (+) 2. Benachteiligung der M wegen Ausübung ihrer Rechte Kündigung ist unmittelbare Benachteiligung III. Zwischenergebnis Sittenwidrigkeit der Kündigung wegen Verstoßes gegen §§ 612a, 138 BGB IV. Anhörung des Betriebsrats (§ 102 BetrVG) C. Ergebnis

Abwandlung 1 A. Wirksamkeit der Abmahnung I. Vertragspflichtverletzung Vertragspflicht ist die Enthaltung jeglicher politischer, religiöser, weltanschaulicher und vergleichbarer Meinungsäußerungen. Diese Pflicht kann gegen § 7 Abs. 2 AGG verstoßen 1. Verstoß gegen § 7 Abs. 2 AGG i.V.m. § 134 BGB a) Bestimmung in einer Vereinbarung Arbeitsvertrag b) Verstoß gegen Benachteiligungsverbot, § 7 Abs. 2 AGG aa) Benachteiligungsverbot (1) Unmittelbare Benachteiligung (-), da alle religiösen Meinungsäußerungen gleich behandelt werden (2) Mittelbare Benachteiligung Reichweite der mittelbaren Diskriminierung / formelles oder materielles Verständnis des Diskriminierungsbegriffs bb) Ergebnis Keine Benachteiligung 2. Verstoß gegen § 307 Abs. 1 S. 1 BGB a) Anwendbarkeit der Inhaltskontrolle gemäß §§ 305 ff. BGB b) Unangemessene Benachteiligung, § 307 Abs. 1 S. 1 BGB

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Fall 3

Lösungsskizze

„Das unerwünschte Kopftuch“

3. Ergebnis II. Zwischenergebnis B. Endergebnis

Abwandlung 2 A. Verhaltensbedingte Kündigung I. Verstoß gegen das AGG? 1. Vereinbarung 2. Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot II. Wirksamkeit nach §§ 305 ff. BGB? Fraglich ist, ob „unangemessene Benachteiligung“ i.S.v. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB. Mit Blick auf berechtigte Interessen der P (einheitliches Auftreten des Personals, Sicherheitsaspekte) keine „unangemessene Benachteiligung“. Somit Vertragspflicht (+) III. Vertragspflichtverletzung IV. Leistungsverweigerungsrecht Die Leistungsverweigerung könnte gerechtfertigt sein, wenn ein Leistungsverweigerungsrecht besteht. Dann stellt sie keinen geeigneten Anknüpfungspunkt für eine verhaltensbedingte Kündigung dar. 1. Rechtsgrundlage str.: § 275 Abs. 3 BGB (h.M.), daneben §§ 242, 313 BGB 2. Unzumutbarkeit unter Abwägung der beiderseitigen Interessen a) Schutzbereich der Religionsfreiheit b) Grundrechtsverzicht durch positive Voraussicht? c) Kollidierende Interessen von L Zu berücksichtigen sind lediglich Interessen, die der konkreten Leistungsverweigerung entgegenstehen, also vollkommen andere Interessen, als hinsichtlich der Inhaltskontrolle der Vertragspflichten zu untersuchen waren. Hier: Interesse an Vertragsdurchführung und ungehindertem Betriebsablauf d) Zwischenergebnis Da keine hinreichend gewichtigen Gegeninteressen der L gegenüber der religiös motivierten Leistungsverweigerung des P ersichtlich sind, besteht „Unzumutbarkeit“ und damit Leistungsverweigerungsrecht des P 3. Geltendmachung/Einredeerhebung V. Ergebnis P steht ein Leistungsverweigerungsrecht zu; eine verhaltensbedingte Kündigung wäre damit nicht sozial gerechtfertigt

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Lösungsvorschlag Fall 3

B. Personenbedingte Kündigung I. Nicht- oder Schlechterfüllung vertraglicher Pflichten II. Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen III. Negativprognose IV. Ultima-Ratio-Prinzip V. Interessenabwägung Hier sind andere Interessen einzubeziehen als in die Interessenabwägung hinsichtlich des Leistungsverweigerungsrechts. Zu würdigen sind das Bestandsschutzinteresse des P und das Vertragsbeendigungsinteresse der L. Die kündigungsrechtliche Interessenabwägung wird damit nicht durch Zuerkennung eines Leistungsverweigerungsrechtes vorweggenommen VI. Ergebnis Da P seine Vertragspflicht zum Tragen einer Uniform prognostisch dauerhaft nicht erfüllen kann, wäre eine personenbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt.

Lösungsvorschlag Ausgangsfall Die Kündigungsschutzklage der M hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage Die von M erhobene Klage vor dem Arbeitsgericht müsste zulässig sein. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG sind die Arbeitsgerichte für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses zuständig. Um einen solchen Fall handelt es sich hier. Nach dem Sachverhalt bestand zwischen M und A ein Arbeitsverhältnis, dessen wirksame Beendigung zwischen den Parteien streitig ist. M hat Klage vor dem zuständigen Arbeitsgericht erhoben; die Kündigungsschutzklage der M ist damit zulässig. Anmerkung: Vgl. ausführlicher zu den übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Kündigungsschutzklage Fall 1.

B. Begründetheit der Kündigungsschutzklage Die Klage der M ist begründet, wenn die von A ausgesprochene Kündigung gegen zwingende Rechtsvorschriften verstößt oder nach § 1 Abs. 1, 2 KSchG sozial ungerechtfertigt ist.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

„Das unerwünschte Kopftuch“

I. Nichtigkeit der Kündigung wegen Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz gemäß § 134 BGB In Betracht kommt ein Verstoß der Kündigung gegen ein Verbotsgesetz (§ 134 BGB), der zur Nichtigkeit der Kündigung führen könnte. 1. Grundrechte als Verbotsgesetze? M wurde gekündigt, weil sie sich trotz mehrfacher Abmahnung weigerte, das Kopftuch bei der Ausübung ihrer Verkäufertätigkeit abzunehmen. Damit könnte die Kündigung wegen eines grundrechtlich geschützten Verhaltens erfolgt sein. Durch Art. 4 Abs. 1 GG wird die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses gewährleistet. Fraglich ist, ob hierin ein Verstoß gegen ein Verbotsgesetz gesehen werden kann. Teilweise wurde in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung erwogen, eine Kündigung, die Grundrechte des gekündigten Arbeitnehmers nicht hinreichend beachtet, für nichtig gemäß § 134 BGB in Verbindung mit der betroffenen Grundrechtsposition zu halten.1 Voraussetzung dafür ist, dass Grundrechte Verbotsgesetze i.S.v. § 134 BGB darstellen. Freilich muss beachtet werden, dass Grundrechte den Freiheitsraum des Grundrechtsträgers gegenüber dem Staat erweitern, jedoch keine unmittelbar verpflichtende Wirkung gegenüber Dritten entfalten. Nur in einem einzigen Fall (Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG) begründet das Grundgesetz ein unmittelbar wirkendes Verbot. Die Anerkennung der Grundrechtsposition als Verbotsgesetz i.S.v. § 134 BGB liefe auf eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte hinaus. Diese Lehre wird heute jedoch allgemein abgelehnt. Stattdessen wird – vor allem mit Blick auf die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte – einer mittelbaren Drittwirkung der Vorzug gegeben. Im Rahmen der zivilrechtlichen Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe erlangen die Grundrechte somit umfassende Bedeutung. Eine unmittelbare Einwirkung auf Zivilrechtsbeziehungen scheidet demgegenüber schon wegen der dargestellten Regelungsintention der Grundrechte im Verhältnis zwischen Staat und Bürger aus. Somit kommen die Grundrechte der Vertragsparteien – vorbehaltlich Art. 9 Abs. 3 GG – auch nicht als Verbotsgesetze i.S.v. § 134 BGB in Betracht. 2. Verstoß gegen §§ 7 Abs. 1, 1 AGG? Unstreitig ist hingegen, dass § 7 Abs. 1 i.V.m. § 1 AGG ein taugliches Verbotsgesetz darstellt, gegen das durch die Kündigung verstoßen worden sein könnte. § 7 Abs. 1 AGG verbietet die Benachteiligung von Beschäftigten wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. § 1 AGG führt unter anderem die Religion als solch einen Grund auf. Problematisch ist aber, ob § 7 Abs. 1 AGG überhaupt als Verbotsnorm herangezogen werden darf, soweit es um die Nichtigkeit einer Kündigung geht. Denn § 2 Abs. 4 AGG bestimmt, dass für Kündigungen „ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz“ gelten. Unter den wesentlichen Bestimmungen des allgemeinen Kündigungsschutzes versteht der Gesetz-

1 Vgl. LAG Düsseldorf 22.3.1984 DB 1985, 391.

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„Das unerwünschte Kopftuch“

Lösungsvorschlag Fall 3

geber Normen des BGB und des Ersten Abschnitts des KSchG. Bestimmungen des besonderen Kündigungsschutzes sind u.a. im Zweiten Abschnitt des KSchG, § 9 MuSchG, §§ 18, 19 BEEG u.a.m. geregelt.2 Das AGG soll mithin gerade in diesen Fällen keine Anwendung finden. Das bedeutet, dass eine Nichtigkeit auch nicht auf § 7 Abs. 1 AGG gestützt werden kann, es sei denn, § 2 Abs. 4 AGG wäre nicht anwendbar. Es ist umstritten, welche Bedeutung dieser gesetzlichen Anordnung im Einzelnen zukommt und ob § 2 Abs. 4 AGG mit den europäischen Vorgaben, insbesondere der RL 2000/78/EG, vereinbar ist.3 a) Streitstand in der Literatur Ein Teil der Literatur nimmt an, § 2 Abs. 4 AGG solle die Anwendung der in Umsetzung der europarechtlichen Antidiskriminierungs-Richtlinien geschaffenen gesetzlichen Regelungen im AGG vollständig ausschließen. Mit diesem Inhalt sei § 2 Abs. 4 AGG allerdings aus europarechtlichen Gründen unanwendbar, so dass letztlich § 2 Abs. 4 AGG die Anwendung der übrigen Normen des Gesetzes nicht hindere.4 Andererseits wird die Auffassung vertreten, § 2 Abs. 4 AGG müsse ebenso wie das Kündigungsschutzrecht richtlinienkonform ausgelegt werden und eröffne die Möglichkeit der Anwendung der europarechtlichen Diskriminierungsverbote im Kündigungsschutzrecht, so dass es bei Anwendung der Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes regelmäßig eines Rückgriffs auf die entsprechenden europarechtlichen Normen bedürfte.5 Einige Stimmen in der Literatur schlagen mit unterschiedlichen Begründungen und Abweichungen in Einzelheiten vor, § 2 Abs. 4 AGG verbiete die Anwendung lediglich eines Teils der Regelungen des AGG und dies auch nur für einen Teilbereich des Kündigungsrechts. Dabei ist insbesondere umstritten, ob das AGG für Kündigungen außerhalb des KSchG gilt und ob Schadensersatzansprüche als Sanktionen für diskriminierende Kündigungen an die Stelle oder neben die Sanktion der Unwirksamkeit der Kündigung treten.6 b) Auffassung des BAG Mit Urteil vom 6.11.20087 ist das BAG der Auffassung gefolgt, dass eine richtlinienkonforme Auslegung des § 2 Abs. 4 AGG möglich ist. Für den Bereich des allgemeinen Kündigungsschutzes hat das BAG entschieden, dass die Diskriminierungsverbote des AGG im Rahmen des Kündigungsschutzes nach dem KSchG zu beachten seien. Zwar ordne § 2 Abs. 4 AGG an, dass für Kündigungen aus-

2 BT-Drs. 16/2022 S. 12. 3 Vgl. hierzu PREIS/TEMMING NZA 2010, 185, 192. 4 SSV/SCHLEUSENER § 2 AGG Rn. 29 ff. m. zahlr. w. N.; ähnlich HBD/V. STEINAU-STEINRÜCK/SCHNEIDER § 2 AGG Rn. 21; BAYREUTHER DB 2006, 1842; WENCKEBACH AuR 2008, 70, 71; THÜSING BB 2007, 1506, 1507; DÜWELL FA 2007, 107, 109. 5 Bspw. LAG Hannover 13.7.2007 – 16 Sa 269/07, LAGE AGG § 2 Nr. 3; WENDELINGSCHRÖDER AuR 2007, 389; HWK/RUPP § 2 AGG Rn. 13; WENDELING-SCHRÖDER/STEIN/ STEIN § 2 AGG Rn. 39 ff. 6 ErfK/SCHLACHTER § 2 AGG Rn. 17 f.; KDZ/ZWANZIGER § 2 AGG Rn. 23 ff. 7 BAG 6.11.2008 NZA 2009, 361, 364 ff.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

„Das unerwünschte Kopftuch“

schließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz gelten sollen, jedoch sei darin kein vollständiger Ausschluss der Anwendung des AGG auf Kündigungen zu sehen. Das BAG begründet dies damit, dass die Vorschriften des Gesetzes ausdrücklich auch für „Entlassungsbedingungen“ und bei „Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses“ gelten (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG) und nicht davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber innerhalb ein und derselben Vorschrift zwei gegensätzliche Anordnungen bezüglich des Geltungsbereichs der Norm getroffen hat bzw. treffen wollte. Demnach sei § 2 Abs. 4 AGG so zu verstehen, dass damit lediglich ein „zweites Kündigungsrecht“, nicht aber die generelle Berücksichtigung der Wertungen des AGG bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit von Kündigungen ausgeschlossen werden soll. Nach dem Gesetzeszweck will die Vorschrift eine Kohärenz herstellen zwischen dem Antidiskriminierungsrecht einerseits und dem auf gleicher Gesetzesebene stehenden Kündigungsrecht andererseits. Mit der Anordnung in § 2 Abs. 4 AGG geht es dem Gesetzgeber insbesondere darum, das Kündigungsrecht (weiterhin) als alleinigen Anknüpfungspunkt für die gerichtliche Überprüfung von Kündigungen festzuschreiben. Dies bedeutet, dass die Unwirksamkeit einer Kündigung ausschließlich nach Maßgabe des Kündigungsschutzgesetzes geltend zu machen sei und nicht etwa eine „Diskriminierungsklage“ neben die Kündigungsschutzklage treten solle. Die Diskriminierungsverbote des AGG werden nicht als eigene Unwirksamkeitsnormen anerkannt, sondern im Rahmen des allgemeinen und besonderen Kündigungsschutzes überprüft. Nach Ansicht des BAG sind demnach alle Kündigungen zusätzlich zu den bekannten Rechtfertigungs- und Unwirksamkeitsgründen auch auf eine mögliche diskriminierende Wirkung hin zu überprüfen. Verstöße gegen die Diskriminierungsverbote des AGG sollten allein nach den kündigungsrechtlichen Maßgaben gewertet werden. Verstöße sollen im Bereich des KSchG im Zusammenhang mit der Frage erörtert werden, ob die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist. Anmerkung: Bei Anwendbarkeit des KSchG kann die Kündigung entsprechend dieser Rechtsprechung des BAG daher auch nach § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam sein. Vom Prüfungsaufbau her wird § 134 bzw. §§ 612a i.V.m 134 BGB zwar als allgemeine Unwirksamkeitsnorm eigentlich vor § 1 KSchG geprüft. Sollten die Bearbeiter aber entsprechend der Entscheidung des BAG nicht auf eine Prüfung des § 134 bzw. §§ 612a i.V.m. 134 BGB, sondern unmittelbar auf die Prüfung der sozialen Rechtfertigung der Kündigung nach § 1 KSchG zusteuern, ist dies in Ansehung der BAG-Rechtsprechung freilich vertretbar. Wichtig ist jedoch, dass die Bearbeiter sich merken, dass in Klausurfällen, in denen das KSchG nicht anwendbar ist (etwa in Kleinbetrieben oder während der sechsmonatigen Wartefrist), die Problematik des Verstoßes gegen § 2 Abs. 4 AGG zwingend im Rahmen der Auslegung der zivilrechtlichen Generalklauseln des § 134 BGB diskutiert werden muss. Innerhalb der Prüfung des KSchG ist bei einer Weigerung des Arbeitnehmers, aus Glaubens- oder Gewissensgründen einer Weisung des Arbeitgebers nachzukommen, eine verhaltens- oder personenbedingte Kündigung in Betracht zu ziehen. Beruft sich der Arbeitnehmer gegenüber einer Arbeitsanweisung des Arbeitgebers auf einen ihr entgegenstehenden, ernsthaften inneren Glaubenskonflikt, kann das Beharren des Arbeitgebers auf Vertragserfüllung ermessensfehlerhaft i.S.v. § 106 S. 1 GewO i.V.m. Art. 4 Abs. 1 GG sein. Die Weigerung des Arbeitnehmers, der Weisung nachzukommen, stellt dann zwar keine vorwerfbare Pflichtverletzung und somit auch keinen verhaltensbedingten Kündigungsgrund dar, kann aber geeignet sein, eine personenbe-

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„Das unerwünschte Kopftuch“

Lösungsvorschlag Fall 3

dingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn es dem Arbeitgeber nicht ohne größere Schwierigkeiten möglich ist, den Arbeitnehmer anderweitig sinnvoll einzusetzen. Eine andere Beurteilung kann geboten sein, wenn der Arbeitnehmer bei Vertragsschluss bereits wusste, dass er die vertraglich eingegangenen Verpflichtungen um seiner Glaubensüberzeugungen willen sämtlich und von Beginn an nicht würde erfüllen können. Die Aufforderung zur Leistung vertragsgemäßer Arbeiten entspricht dann trotz des offenbarten Glaubenskonflikts billigem Ermessen. Mit der Weigerung, ihr nachzukommen, verletzt der Arbeitnehmer seine vertraglichen Pflichten.8 Im vorliegenden Fall musste die Arbeitnehmerin nicht der Weisung nachkommen, das Kopftuch abzulegen. M war auch nicht personenbedingt außerstande, die geschuldete Tätigkeit zu erbringen, weil das Tragen des Kopftuches nicht ausschloss, im Verkauf tätig zu werden.

c) Entscheidung des Streits Der Auffassung des BAG ist zu folgen. Für die Auslegung des § 2 Abs. 4 AGG durch das BAG spricht, dass diese dem Erfordernis einer europarechtskonformen Auslegung des nationalen deutschen Rechts gerecht wird, indem unter mehreren möglichen Auslegungen diejenige den Vorzug erhält, die dem in den Richtlinien des Rates zum Ausdruck gekommenen Ziel eines wirksamen und abschreckenden Schutzes gegen diskriminierende Entlassungen gerecht wird. Sie führt zu einer systemeinheitlichen Betrachtung des Diskriminierungs- und Kündigungsrechts, in dem quasi die Wertungen des AGG – trotz der im Ansatz richtlinienwidrigen Bestimmung des § 2 Abs. 4 AGG – in das allgemeine und besondere Kündigungsschutzrecht „integriert“ werden. Die methodischen Zweifel an dieser Sichtweise werden gemildert, wenn man sich vor Augen hält, dass die nationalen Gerichte zu einer richtlinienkonformen Auslegung gezwungen sind. Der EuGH9 geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass nationale Gerichte bei der Anwendung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die zur Umsetzung der in einer Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen erlassen worden sind, das gesamte nationale Recht berücksichtigen und es so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie auslegen müssen, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar ist. Dabei bezieht sich dieses Gebot auf die gesamte Rechtsordnung des Mitgliedstaates. Dies bedeutet, dass sämtliche Vorschriften des nationalen Rechts soweit wie möglich in dem Sinne auszulegen sind, dass ein richtlinienkonformes Ergebnis erreicht wird. Die methodischen Grenzen richten sich dabei nach der jeweiligen nationalen Methodenlehre.10 Das Gebot richtlinienkonformer Auslegung ist damit keine eigene Auslegungsmethode, sondern eine Vorrangregelung innerhalb der anerkannten Auslegungsmethoden der jeweiligen nationalen Rechtsordnung. Für das deutsche Recht bedeutet dies, dass eine richtlinienkonforme Auslegung contra legem unzulässig ist; diese Grenze akzeptiert auch der EuGH11. Eine unzulässige „Auslegung contra legem“ ist nach der Ansicht des BAG jedoch funktionell zu verstehen. Sie sei erst dann anzunehmen,

8 BAG 24.2.2011 NZA 2011, 1087. 9 EuGH 9.3.2004 – C-397/01 „Pfeiffer“. 10 EuGH 5.10.2004 – C-397/01 „Pfeiffer“ – vgl. Rn. 116 („durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden“). 11 EuGH 4.7.2006 – C-212/04 „Konstantinos Adeneler“ – vgl. Rn. 110.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

„Das unerwünschte Kopftuch“

wenn die Gerichte eine eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen ändern wollen und damit – nach deutschem Verfassungsrecht – die Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) verletzen. Solange diese Grenze nicht überschritten sei, sei das nationale Recht richtlinienkonform fortzubilden, wo es nötig und möglich ist.12 Für die vorliegende Konstellation bedeutet dies, dass das BAG vertretbar richtlinienkonform ausgelegt hat, weil dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden kann, er wolle diskriminierende Kündigungen ermöglichen. Dieser wollte vielmehr lediglich eine mehrfache Sanktionierung ausschließen und das Diskriminierungsrecht in das Kündigungsschutzrecht integrieren. Ergänzend ist klarzustellen, dass die Ausführungen des BAG selbstredend für alle Kündigungsschutznormen gelten, d.h. auch allgemeine Schutznormen wie §§ 138, 242 und § 612a BGB. Anmerkung: a.A. gut vertretbar, wenn man argumentiert, dass sich das BAG über den klaren Wortlaut des § 2 Abs. 4 AGG hinwegsetzt und das Anliegen, eine Verzahnung von Kündigungs- und Antidiskriminierungsrecht zu gewährleisten, zwar nachvollziehbar, jedoch angesichts der eindeutigen gesetzlichen Anordnung in § 2 Abs. 4 AGG auch sehr konstruiert wirkt. Demnach ist es auch vertretbar, die Vorschriften des AGG innerhalb des Kündigungsschutzes nicht zur Anwendung kommen zu lassen. In diesem Fall stellt § 7 Abs. 1 AGG jedoch ebenfalls kein taugliches Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB dar. Eine Nichtigkeit kann sich dann jedoch gemäß §§ 612a, 138 BGB ergeben. Aber auch in diesem Falle müsste das nationale Recht richtlinienkonform ausgelegt werden. Eine Vorlage an den EuGH würde erkennbar keine andere Antwort als die nach einer richtlinienkonformen Auslegung liefern. Eine andere Frage ist, ob diese deutsche Rechtslage in einem Vertragsverletzungsverfahren noch als hinreichend transparent angesehen werden kann (zum Transparenzgebot vgl. EuGH)13. Eine weitere Frage, die sich infolge der Rechtsprechung des BAG stellt, ist zudem, inwieweit die übrigen Rechtsfolgen des AGG (§§ 13 bis 16 AGG) durch die vorgenommene richtlinienkonforme Einpassung der Diskriminierungsverbote des § 7 AGG in das Kündigungsschutzrecht ausgeschlossen sind.14 Besonders bedeutsam ist dies für die Frage, ob Arbeitnehmer bei einer diskriminierenden Kündigung einen Entschädigungsanspruch aus § 15 Abs. 2 AGG geltend machen können15 oder für die Anwendbarkeit des § 16 AGG im Rahmen einer Kündigung (hierzu sogleich im Rahmen der Prüfung des § 612a BGB).

d) Ergebnis § 2 Abs. 4 AGG bleibt anwendbar. Dies hat die Konsequenz, dass § 7 Abs. 1 AGG Kündigungen nicht als Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB zu Fall bringen kann. Die Nichtigkeit kann nur aus anderen allgemeinen und besonderen Normen des 12 BAG 24.3.2009 DB 2009, 1018 ff. 13 EuGH 10.5.2001 – Rs. C-144/99 (Kommission der EG/Königreich der Niederlande), EuZW 2001, 437 ff. 14 Ausdrücklich offen gelassen in BAG 6.11.2008 NZA 2009, 361. 15 Einen solchen Anspruch bejahend LAG Bremen 29.6.2010 NZA-RR 2010, 510; vgl. ausführlich hierzu und zur Frage, ob die Geltendmachung von Ansprüchen bei diskriminierender Kündigung einer Frist, etwa § 4 KSchG unterliegt, ErfK/ SCHLACHTER § 2 AGG Rn. 1.

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„Das unerwünschte Kopftuch“

Lösungsvorschlag Fall 3

Kündigungsrechts hergeleitet werden, wobei die Wertungen des AGG und der Richtlinien zu beachten sind. II. Nichtigkeit gemäß §§ 612a i.V.m. 134 BGB Die Kündigung könnte jedoch wegen Verstoßes gegen §§ 612a i.V.m. 134 BGB nichtig sein. Das Maßregelungsverbot des § 612a BGB – Schutzgesetz i.S.d. § 134 BGB – verbietet die Benachteiligung eines Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber, wenn der Arbeitnehmer in zulässiger Weise von seinen Rechten Gebrauch gemacht hat. Es gibt allerdings auch spezielle Maßregelungsverbote, die bei Vorliegen konkurrierend eingreifen.16 Hier könnte § 16 AGG ein solches spezielles Maßregelungsverbot sein. Allerdings ist auch hier, ebenso wie für § 7 AGG, die Anwendbarkeit einer AGG-Vorschrift im Kündigungsrecht wegen § 2 Abs. 4 AGG fraglich. Das BAG hat sich bezüglich der Anwendbarkeit von § 16 AGG in der Entscheidung vom 6.11.2008 zwar nicht geäußert. Dennoch wurde soeben die Notwendigkeit der richtlinienkonformen Auslegung des § 2 Abs. 4 AGG herausgearbeitet, so dass für § 16 AGG konsequenterweise nichts anderes gelten kann. Auch dieser ist daher im Kündigungsrecht entsprechend der Rechtsprechung des BAG zu § 2 Abs. 4 AGG nur im Rahmen der allgemeinen Vorschriften zu prüfen und die Diskriminierungsverbote des AGG nicht als eigene Unwirksamkeitsgründe anzuerkennen. Auch hier müssen die Wertungen des BAG zum Tragen kommen, keine Diskriminierungsklage neben die Kündigungsschutzklage treten zu lassen. Das allgemeine Maßregelungsverbot des § 612a BGB findet also Anwendung. Dabei ist § 612a BGB nach h.M. ein spezieller Fall der Sittenwidrigkeit17, denn vor In-Kraft-Treten dieser Vorschrift wurden die entsprechenden Fälle über § 138 BGB gelöst. Darum können auch in § 612a BGB die Wertungen und Auslegungen einfließen, die zur Konkretisierung des Begriffs der Sittenwidrigkeit des § 138 BGB herangezogen werden. 1. Zulässige Ausübung von Rechten durch M A hat der M wegen ihrer Weigerung, das Kopftuch abzunehmen, gekündigt. Fraglich ist, ob diese Weigerung der M eine zulässige Ausübung ihrer Rechte war, so dass das Maßregelungsverbot greifen könnte. Dafür kann durch die Generalklausel der Sittenwidrigkeit auch auf grundrechtliche Wertungen zurückgegriffen werden. Wie bereits dargestellt, können Kündigungen, die allein wegen einer bestimmten Religionszugehörigkeit erfolgen, nach § 138 BGB sittenwidrig sein. Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „guten Sitten“ sind die Grundrechte der Betroffenen zu berücksichtigen. Nach inzwischen wohl unbestrittener Ansicht entfalten die Grundrechte im Privatrechtsverhältnis nur eine mittelbare Drittwirkung, eben durch die Generalklauseln. Grundrechtsverstöße der kündigenden Vertragspartei sind daher durchaus geeignet, zur Sittenwidrigkeit der 16 STAUDINGER/RICHARDI § 612a BGB Rn. 9. 17 BAG 21.7.1988 AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 10; BAG 2.4.1987 AP BGB § 612a Nr. 1; MüKoBGB/MÜLLER-GLÖGE § 612a BGB Rn. 2; STAUDINGER/RICHARDI § 612a BGB Rn. 3.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

„Das unerwünschte Kopftuch“

Kündigung zu führen. Eine Kündigung, die sich offensichtlich und unmittelbar gegen ein grundrechtlich geschütztes Verhalten des Arbeitnehmers richtet, ist regelmäßig sittenwidrig. Wenn also das Tragen des Kopftuches ein grundrechtlich geschütztes Verhalten ist und eine Kündigung deswegen sittenwidrig ist, liegt immer auch eine zulässige Rechtsausübung i.S.d. § 612a BGB vor. a) Grundrechtlich geschütztes Verhalten Das Tragen des Kopftuches kann ein durch Art. 4 GG geschütztes Verhalten sein, so dass eine Kündigung wegen der Weigerung, das Tuch abzunehmen, gegen Ms Glaubensfreiheit aus Art. 4 GG verstoßen kann. Die Glaubensfreiheit der M ist dann verletzt, wenn der Schutzbereich des Art. 4 GG berührt ist, ohne dass dies durch kollidierende Verfassungsgüter gerechtfertigt ist. aa) Schutzbereich der Glaubensfreiheit Fraglich ist zunächst, inwieweit das Verhalten der M – das Tragen eines Kopftuchs – überhaupt dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG unterfällt. (1) Schutz des forum externum Die Glaubensfreiheit schützt nicht nur das Bilden und Haben religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen. Sie stellt vielmehr auch ein nach außen wirkendes Verhalten, das den Glaubensüberzeugungen entspricht, unter Schutz (sog. „forum externum“). Die gegenteilige Ansicht, die den Schutz auf das sog. „forum internum“ beschränken möchte, marginalisiert damit die grundrechtliche Gewährleistung, indem sie den Grundrechtsschutz auf einen Bereich verengt, der Eingriffen ohnehin weitgehend entzogen ist. Nach zutreffender Ansicht wird folglich auch ein nach außen wirkendes Verhalten vom Schutzbereich erfasst. (2) Begriff der Glaubensfreiheit Fraglich bleibt jedoch, ob auch das Tragen eines Kopftuchs dem Begriff der „Religionsausübung“ unterfällt. Dass es sich um die Glaubensüberzeugung einer Muslima handelt, steht einer Einbeziehung ohne jeden Zweifel nicht entgegen: Das Grundgesetz gewährleistet gerade weltanschauliche Neutralität. Damit ist eine Verengung des Grundrechtsschutzes auf bestimmte Religionsgemeinschaften nicht in Einklang zu bringen. Erwägen könnte man hingegen, ob es einer Einbeziehung in den Grundrechtsschutz entgegensteht, dass es dem religiösen Gebot des Kopftuchtragens an Verbindlichkeit mangelt. A hat darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um kein verbindliches religiöses Gebot des Islam handele. In der Tat ist die Verbindlichkeit des Kopftuchtragens in der islamischen Theologie stark umstritten. Nach zutreffender Ansicht kann es jedoch für den Grundrechtsschutz auf den verbindlichen Charakter eines religiösen Gebots nicht ankommen. Der Schutzbereich der Religionsfreiheit ist vielmehr nur subjektiv zu bestimmen, d.h. der Einzelne legt für sich selbst fest, was seine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung ausmacht. In diesem Sinne kann auch eine höchst individuelle, rein subjektive Glaubensüberzeugung ein religiös motiviertes Gewissensgebot dar-

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„Das unerwünschte Kopftuch“

Lösungsvorschlag Fall 3

stellen und grundrechtlichen Schutz genießen. Ob es sich um ein verbindliches Gebot einer Glaubensgemeinschaft handelt, ist demgegenüber ohne Belang. Der Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit ist damit hinsichtlich des Kopftuchtragens eröffnet. bb) „Verwirkung“ durch fünfjährige Tätigkeit ohne Kopftuch? M könnte jedoch, wie von A behauptet, die Berufung auf ihre Religionsausübungsfreiheit dadurch „verwirkt“ haben, dass sie zuvor fünf Jahre lang ohne Kopftuch gearbeitet hat. Freilich sind an eine Verwirkung von Grundrechten jedoch sehr hohe Anforderungen zu stellen und setzt zumindest eine Verhandlungsparität zwischen den Vertragsparteien voraus, die im Arbeitsrecht regelmäßig nicht gegeben ist. Des Weiteren ist ein Verzicht auf grundrechtlichen Schutz jederzeit widerruflich, was im vorliegenden Fall konkludent durch die Klageerhebung erfolgt sein dürfte. Schließlich läuft die Sichtweise des A darauf hinaus, den Grundrechtsträger an seiner einmal getroffenen Glaubensüberzeugung festzuhalten. Damit werden Glauben und Gewissen als statische Kategorien verstanden; die zutreffende subjektive Schutzbereichsdefinition würde damit entwertet. Daher sind auch Änderungen einer Glaubenshaltung durch den grundrechtlichen Schutz des Art. 4 Abs. 1, 2 GG umfasst. Von einer „Verwirkung“ des grundrechtlichen Schutzes durch die fünfjährige Tätigkeit der M ohne Kopftuch kann daher keine Rede sein. cc) Einschränkung durch betriebliche Interessen des A Damit kann M hinsichtlich des Kopftuchtragens die grundrechtlich geschützte Freiheit der Religionsausübung (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) für sich in Anspruch nehmen. Diese könnte jedoch Grenzen finden an ebenfalls anerkennenswerten grundrechtlichen Interessen des A, die ihrerseits in die Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB), der wiederum bei der Auslegung des § 612a BGB zu berücksichtigen ist, einfließen. In Betracht kommt insofern der vertragliche Erfüllungsanspruch des A18, dann die Beeinflussung der Außendarstellung des Betriebes, des Weiteren befürchtete Gewinneinbußen und schließlich Störungen des Betriebsablaufs durch „Anfeindungen“ seitens anderer Arbeitnehmer. Diese kollidierenden verfassungsrechtlichen Interessen müssen in eine praktische Konkordanz gebracht werden. Das heißt, dass beide Positionen zur größtmöglichen Entfaltung gebracht werden müssen. Dabei ist jedoch grundlegend zu beachten, dass die Verfassung eine entscheidende Weichenstellung hinsichtlich der Abwägungsvorgänge bereits getroffen hat: Indem die Gewissens- und Glaubensfreiheit „unverletzlich“ gestellt und keinem Gesetzesvorbehalt unterworfen wird, unterstreicht das Grundgesetz die herausragende Bedeutung dieses Grundrechts. Durch alle vier soeben genannten Aspekte könnte die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Unternehmerfreiheit des A als kollidierendes Verfassungsgut betroffen sein. Angesichts der Bedeutung der Religionsfreiheit wird freilich, damit sich die Unternehmerfreiheit des A in der Abwägung relativ durchsetzen kann, nicht jede auch nur marginale Beeinträchtigung letzterer ausreichen. Für eine Betrof-

18 Vgl. LAG Hessen 21.6.2001 AP BGB § 611 Gewissensfreiheit Nr. 2 m.w.N.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

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fenheit der Unternehmerfreiheit muss verlangt werden, dass die unternehmerische Betätigung in ihrer Substanz beeinträchtigt wird. Diese Schwelle ist mit Blick auf die Beeinträchtigung des vertraglichen Erfüllungsanspruches noch nicht erreicht. Auch in Bezug auf das Auftreten der M würde diese Grenze wohl erst überschritten sein, wenn sich durch ihr Auftreten etwa der Gesamtcharakter der unternehmerischen Außendarstellung nachhaltig verändern würde, beispielsweise wegen einer besonders exponierten (Repräsentations-)Funktion der M. Hier steht M zwar im Kontakt mit Kunden und prägt damit das äußere Erscheinungsbild des Betriebes mit. Bei einer eher untergeordneten Funktion wie der einer Verkäuferin und einer noch recht unauffälligen Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes durch ein Kopftuch wird man jedoch eine grundlegende Veränderung der unternehmerischen Außendarstellung nicht bejahen können. Für die von A befürchteten Betriebsablaufsstörungen durch Anfeindungen seitens anderer Arbeitnehmer mag das Kopftuch der M zwar der äußere Anlass sein. Zu manifesten Störungen kommt es jedoch erst durch eine unangemessene Reaktion seitens der anderen Arbeitnehmer. Sie können daher dem Tragen des Kopftuchs als Ausübung der Glaubensfreiheit nicht entgegengehalten werden. Überdies wird auch hier für eine Grundrechtsbetroffenheit ein erhebliches Gewicht der Störungen zu fordern sein. Ein solches ist durch den pauschalen Verweis des A auf „Störungen“ nicht dargetan. Auch die bloße Befürchtung von Umsatzeinbußen ist noch nicht hinreichend konkret, um sie für eine Betroffenheit der Unternehmerfreiheit genügen zu lassen. Es ist dem A jedenfalls zuzumuten, tatsächliche Reaktionen der Kunden abzuwarten und dann genau darzulegen.19 Auf Basis der von A vorgetragenen bloßen „Befürchtungen“ kann jedoch auch hier eine Betroffenheit der Unternehmerfreiheit nicht bejaht werden. b) Ergebnis Das Tragen eines Kopftuchs stellt eine zulässige Rechtsausübung dar. Diese Betätigung der Grundrechte der M setzt sich gegenüber den ebenfalls im Ansatz verfassungsrechtlich geschützten Interessen des A durch. 2. Benachteiligung der M wegen Ausübung ihrer Rechte Die Kündigung der M stellt eine unmittelbare Benachteiligung wegen von ihr zulässig ausgeübter Rechte dar. Anmerkung: Die unmittelbare Benachteiligung wegen der Kündigung ist hier nicht zu verwechseln mit der ähnlichen Frage nach der Benachteiligung wegen der Religion. Denn die Kündigung erfolgte nicht wegen der Religion, sondern „nur“ wegen eines religiös motivierten Verhaltens, sprich mittelbar wegen der Religion. Da aber der Schutzbereich des Art. 4 sowohl die Religion als auch aus ihr heraus vorgenommenes Verhalten erfasst, spielt diese Unterscheidung im vorliegenden Fall keine Rolle, da § 612a BGB nur auf das Recht zu einem Verhalten abstellt, nicht aber auf abstrakte Diskriminierungskriterien (Religion, Geschlecht, Weltanschauung, ...). Auf dieses Verhalten wiederum war die Kündigung unmittelbare Reaktion.

19 Vgl. BAG 10.10.2002 AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 44.

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Lösungsvorschlag Fall 3

Es wird deutlich, dass das deutsche Recht – mit unterschiedlichen Ansätzen – ein grundrechts- und europarechtskonformes Ergebnis ermöglicht. Auch § 612a BGB ist im Lichte der europäischen Richtlinien zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG) auszulegen. Auch wenn die Richtlinien grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung entfalten können, verlangt die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung allen nationalen Rechts im Regelungsbereich der Richtlinie die Berücksichtigung ihrer Wertungen.20 Das Maßregelungsverbot des § 612a BGB enthält ein allgemeines Diskriminierungsverbot21 und liegt somit im Regelungsbereich der Richtlinie. § 612a BGB geht selbst auf eine Richtlinie zurück, die den Arbeitnehmer vor Reaktionen des Arbeitgebers auf eine Beschwerde schützen wollte.22 Das Maßregelungsverbot sanktioniert eine Kündigung, die nur auf Grund eines religiös motivierten Verhaltens erfolgt und verbietet damit die mittelbare Benachteiligung wegen der Religion, so wie es die Richtlinie vorgibt. Insofern wird das bei § 612a BGB gefundene Ergebnis durch eine richtlinienkonforme Auslegung bestätigt. Auch der Rechtsprechung des EuGH scheint – in diese Richtung gehend – die Tendenz zu entnehmen zu sein, dass durch richtlinienkonforme Auslegung des § 612a BGB ein Benachteiligungsverbot angenommen werden kann, wenn die Wahrnehmung von aus Richtlinien vermittelten Ansprüchen durch den Arbeitgeber sanktioniert wird.23

III. Zwischenergebnis Die Kündigung verstößt folglich gegen das Maßregelungsverbot als speziellem Fall der Sittenwidrigkeit und ist damit nichtig gemäß §§ 612a, 134 BGB. Anmerkung: Da vorliegend die §§ 612a, 134 BGB eingreifen und diese üblicherweise im Prüfungsaufbau vor § 1 KSchG geprüft werden, hat der Bearbeiter, wenn er sich an diesen Prüfungsaufbau hält, keine Möglichkeit, die Kündigung im Rahmen der Sozialwidrigkeit scheitern zu lassen. Vorliegend wird es dem Bearbeiter aber nicht negativ angerechnet, wenn dieser in Abweichung vom üblichen Prüfungsschema einer Kündigungsschutzklage direkt die „Kündigungsgründe nach § 1 KSchG“ dargestellt hätte (s.o.). Die oben herausgearbeitete AGG-Problematik hätte dann im Rahmen des § 1 KSchG angesprochen werden müssen.

IV. Anhörung des Betriebsrats (§ 102 BetrVG) Der Betriebsrat wurde ordnungsgemäß angehört und hat der Kündigung zugestimmt. C. Ergebnis Die Kündigungsschutzklage der M ist zulässig und begründet; damit hat die Klage Erfolg.

20 STREINZ, EuropaR, Rn. 455. 21 PREIS, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 172; STAUDINGER/ RICHARDI § 612a BGB Rn. 4. 22 RL 75/177/EWG vom 10.2.1975. 23 So zum Arbeitszeitrecht EuGH 14.10.2010 NZA 2010, 1344; diesen Aspekt verallgemeinernd PREIS/ULBER ZESAR 2011, 147.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

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Abwandlung 1 A. Wirksamkeit der Abmahnung Sinn und Zweck einer Abmahnung ist es, den Arbeitnehmer auf eine von ihm begangene Vertragspflichtverletzung hinzuweisen mit der Warnung, dass bei erneuter Verletzung dieser Vertragspflicht eine Kündigung wahrscheinlich ist. Voraussetzung für eine wirksame Abmahnung ist darum eine Vertragspflichtverletzung. Anmerkung: Überprüft wird die Vertragspflicht, die verletzt worden ist. Darauf stützt sich die Abmahnung letztlich. Nicht überprüft wird hier hingegen die Maßnahme Abmahnung als solche. Die Abmahnung sanktioniert die Verletzung einer Vertragspflicht, das allein ist ihr Inhalt. Darum ist auch allein diese Vertragspflicht „Daseinsberechtigung“ der Abmahnung und muss deswegen überprüft werden.

I. Vertragspflichtverletzung Fraglich erscheint schon, ob eine Vertragspflicht zum Unterlassen des Kopftuchtragens bestand. Hier existiert zwar eine entsprechende Regelung in dem Arbeitsvertrag. Es ist jedoch zu fragen, ob diese überhaupt wirksam ist. 1. Verstoß gegen § 7 Abs. 2 AGG i.V.m. § 134 BGB Dem könnte § 7 Abs. 2 AGG entgegenstehen, wonach eine Bestimmung in einer Vereinbarung unwirksam ist, die gegen das Benachteiligungsverbot des § 1 AGG verstößt, sprich u.a. auch gegen die Religion gerichtet ist. Anmerkung: Zu beachten ist, dass die Anwendungssperre des § 2 Abs. 4 AGG nicht eingreift, da vorliegend die Wirksamkeit der Abmahnung und nicht die der Kündigung überprüft werden soll.

a) Bestimmung in einer Vereinbarung Die Regelung, dass M politische, religiöse, weltanschauliche und vergleichbare Meinungsäußerungen am Arbeitsplatz zu unterlassen hat, stellt eine Bestimmung ihres Arbeitsvertrags und damit eine Vereinbarung dar. b) Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot, § 7 Abs. 2 AGG Unwirksam ist die Vertragsklausel, wenn sie gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 2 AGG verstößt. Dann muss M wegen eines Grundes des § 1 AGG benachteiligt werden, ohne dass diese Behandlung zulässig ist. aa) Benachteiligungsverbot § 7 Abs. 1 i.V.m. § 1 AGG verbietet eine Benachteiligung wegen Religion und Weltanschauung, also wegen bestimmter Merkmale, die in die Vertragsklausel Eingang gefunden haben. Fraglich ist, inwieweit damit eine Benachteiligung verbunden ist. § 3 AGG unterscheidet zwischen unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung.

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Lösungsvorschlag Fall 3

(1) Unmittelbare Benachteiligung Eine unmittelbare Benachteiligung liegt nach § 3 Abs. 1 AGG vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Dabei sind die vergleichbaren Situationen nur dort gegeben, wo Personen Behandlungen derselben dritten Person unterworfen sind. Es können nicht die Behandlungen völlig unterschiedlicher Arbeitgeber miteinander verglichen werden. Es sind darum hier nur die Arbeitnehmer des A miteinander zu vergleichen, da nur sie der Regelung, wie sie im Arbeitsvertrag der M steht, unterworfen sind. Weiterhin muss noch festgelegt werden, inwieweit die Arbeitnehmer des A miteinander verglichen werden können. § 3 Abs. 1 AGG spricht von einer vergleichbaren Situation. Die Klausel verbietet Meinungsäußerungen politischer, religiöser, weltanschaulicher und vergleichbarer Themen. Damit erfasst sie ganz unterschiedliche Thematiken, die zwar in sich, aber nicht untereinander vergleichbar sind. Die politische Meinungsäußerung ist keine vergleichbare Situation mit der religiösen, die religiöse nicht mit der weltanschaulichen, die religiöse nicht mit der nicht-religiösen. Darum ist für die Feststellung einer unmittelbaren Benachteiligung zu fragen, ob M bei religiösen Meinungsäußerungen eine weniger günstige Behandlung erfährt, erfahren hat oder erfahren würde als andere Arbeitnehmer des A bei religiösen Meinungsäußerungen. Der Sachverhalt liefert keine Hinweise darauf, dass tatsächlich auch schon andere Arbeitnehmer in vergleichbaren Situationen waren und A daraufhin mit einer Abmahnung reagiert hat. Darum kann hier nur auf die hypothetische Vergleichsperson („erfahren würde“) abgestellt werden. Auf Grund der einheitlich verwendeten arbeitsvertraglichen Klausel, die generell jede religiöse Meinungsäußerung verbietet, ist davon auszugehen, dass A auch sämtliche anderen religiösen Meinungsäußerungen abmahnen würde. Damit wird nicht nur die Äußerung einer bestimmten religiösen Haltung untersagt, es erfolgt somit keine ungünstigere Behandlung bestimmter Arbeitnehmer aus religiösen Gründen. A würde alle Arbeitnehmer in Bezug auf ihre Religion gleich (schlecht) behandeln. M erfährt also keine weniger günstige Behandlung als ein anderer Arbeitnehmer erfahren würde. Anders als ein vertragliches Verbot etwa nur von christlichen oder muslimischen Meinungsäußerungen entfaltet somit ein genereller Ausschluss aller religiösen Meinungsäußerungen keinen unmittelbaren diskriminierenden Charakter. Eine unmittelbare Benachteiligung liegt somit nicht vor. (2) Mittelbare Benachteiligung/Grenzen der mittelbaren Diskriminierung Eine mittelbare Benachteiligung ist laut § 3 Abs. 2 AGG gegeben, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, diese sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

„Das unerwünschte Kopftuch“

Die Vorschrift, politische, religiöse und weltanschauliche Meinungsäußerungen zu unterlassen, verbietet keine Meinung als solche und ist darum per se neutral. Fraglich ist, ob sie dennoch die M in Bezug auf ihre Religion gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen kann. Der klassische Fall einer mittelbaren Diskriminierung wegen der Religion könnte so aussehen, dass der Arbeitgeber das Tragen einer Kopfbedeckung verbietet. Diese an sich neutrale Vorschrift belastet die muslimische Frau, die sich durch ihre Religion zum Tragen eines Kopftuches verpflichtet fühlt, weitaus stärker als alle anderen Arbeitnehmer im Betrieb. Darin kann also eine mittelbare Diskriminierung liegen, wenn das Erfordernis nicht durch ein sachliches Ziel gerechtfertigt und sonst verhältnismäßig ist. Anmerkung: Die mittelbare Diskriminierung ist ein Hilfsinstrument für die Sanktionierung der unmittelbaren Diskriminierung. Es soll dem Arbeitgeber nicht möglich sein, scheinbar neutrale Kriterien (Kopfbedeckung) aufzustellen, von denen er aber genau weiß, dass sie nur die Gruppe treffen werden, die er eigentlich benachteiligen will.

Hier wird jedoch „nur“ generell jede religiöse Meinungsäußerung verboten. Der Arbeitgeber möchte vorliegend keine bestimmte Gruppe benachteiligen. Er sucht sich kein Kriterium, das den Einen stärker trifft als den Anderen. Tatsächlich will A alle gleich behandeln. Das Verhalten des A würde deshalb nur dann eine mittelbare Diskriminierung darstellen, wenn man die rein faktische Benachteiligung für das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung ausreichen lassen würde. Dies wirft die Frage auf, ob der Begriff der mittelbaren Diskriminierung eher formell oder rein materiell zu verstehen ist. Nur im letzten Fall könnten faktische, nicht zu rechtfertigende Benachteiligungen eine mittelbare Diskriminierung darstellen, wozu dann auch allgemein formulierte Verhaltensgebote oder Verhaltensverbote zählen würden. Versteht man den Begriff der mittelbaren Diskriminierung eher formell, werden also differenzierende Kriterien im Rahmen der Vertragsbedingung bzw. Norm verlangt, lassen sich allgemein formulierte Verhaltensgebote oder Verhaltensverbote nicht im Rahmen von Diskriminierungsverboten überprüfen. Vielmehr sind sie vornehmlich an Freiheitsrechten zu messen, die vor übermäßigen Beschränkungen von Tätigkeiten (hier die Religionsausübung) schützen und einfachrechtlich bspw. durch die AGB-Kontrolle anhand der §§ 307 ff. BGB konkretisiert sind (dazu sogleich unter 2.). Gegen ein eher formelles Verständnis des Diskriminierungsbegriffs könnte die Formulierung des Gesetzgebers in § 3 Abs. 2 AGG sprechen, der dem Anschein nach neutrale Vorschriften und eine Benachteiligung in besonderer Weise verlangt. Beides ist auch bei der Gleichbehandlung mit faktisch ungleichen Folgen erfüllt. Für ein formelles Verständnis ist allerdings anzuführen, dass es Sinn und Zweck der mittelbaren Diskriminierung ist, zu verhindern, dass der Arbeitgeber Wege um das Verbot der unmittelbaren Benachteiligung herum sucht und findet.24 Bei der Gleichbehandlung mit unterschiedlichen Wirkungen aber will der Arbeitgeber keinen Umweg finden, sondern tatsächlich alle gleich behandeln, es handelt sich also um einen ganz anderen Sachverhalt. Schließlich lässt sich auch aus der Rechtsprechung des EuGH herauslesen, dass dieser den Diskriminie-

24 THÜSING, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rn. 255.

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„Das unerwünschte Kopftuch“

Lösungsvorschlag Fall 3

rungsbegriff eher formell denn materiell versteht. Aufgrund der Verpflichtung nationaler Gerichte, das mitgliedstaatliche Recht gemeinschaftsrechtskonform anzuwenden (s.o.), sprechen die besseren Argumente für den engeren formellen Diskriminierungsbegriff. Damit stellt die allgemein formulierte Vorschrift keine mittelbare Diskriminierung dar. Anmerkung: A.A. vertretbar. Wer hier eine Ungleichbehandlung der muslimischen Arbeitnehmerinnen bejaht, muss weiterhin prüfen, ob die betreffende Vorschrift durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind und ob ggf. eine Rechtfertigung erfolgt ist. Das Ziel, das der Arbeitgeber mit der Klausel verfolgt, ist die Wahrung des Betriebsfriedens. Er möchte Streitigkeiten in der Belegschaft über religiöse Ansichten, die gerade in heutiger Zeit auch in Verbindung mit Terrorismus geführt werden, vermeiden. Dies ist ein rechtmäßiges Ziel. Fraglich ist jedoch, ob ein generelles Verbot jeder religiösen Meinungsäußerung für die Erreichung dieses Ziels auch angemessen und erforderlich ist. Diese Formulierung des § 3 Abs. 2 AGG stellt eine Generalklausel dar, in die auch die grundrechtlichen Wertungen des Art. 4 GG mit einfließen. Die Religionsfreiheit ist ein unbeschränktes Grundrecht, das nur durch gleichwertige Güter mit Verfassungsrang beschränkt werden kann. Der Betriebsfrieden ist Voraussetzung für die ordnungsgemäße Durchführung des Geschäftsbetriebs und damit Element der Berufsfreiheit, Art. 12 GG, des A. An sich ist die Berufsfreiheit als beschränkbares Grundrecht vom Verfassungsgeber weniger stark ausgestattet als die Religionsfreiheit. Dennoch kann es erforderlich sein, die Religionsfreiheit durch die Berufsfreiheit zu begrenzen, wenn gerade auf Grund religiöser Äußerungen der Betriebsfrieden und Betriebsablauf so erheblich gestört ist, dass kein Arbeiten mehr möglich ist. Dann müssen dafür aber auch Anhaltspunkte vorliegen. Nur die abstrakte Möglichkeit, dass es zu solch heftigen religiösen Streitigkeiten kommen könnte, dass der Betriebsablauf lahm gelegt ist, reicht nicht aus, um einen solchen Eingriff in die Religionsfreiheit zu rechtfertigen. Im vorliegenden Fall gibt es keine solchen Anhaltspunkte. Bisher ist M die Einzige, die überhaupt nur in Konflikt mit der Regelung geraten ist und das allein lässt noch nicht auf schwerwiegende Störungen des Betriebsfriedens schließen. Von daher ist die Regelung nicht angemessen und erforderlich. Eine mittelbare Diskriminierung ist zu bejahen, da auch § 8 Abs. 1 AGG die unterschiedliche Behandlung vorliegend nicht als „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ rechtfertigt. In diesem Zusammenhang sei auf die Rechtsprechung des BAG verwiesen, wonach auch Vorschriften über bestimmte Formen der Religionsbekundung wesentliche berufliche Anforderungen im Sinne des § 8 Abs. 1 AGG sein können.25 Dies hat insbesondere Relevanz für die Fälle der landesgesetzlichen Verbote religiöser Bekundungen in Schulen und Kindertagesstätten. 26

bb) Ergebnis Die Klausel im Arbeitsvertrag verstößt nicht gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 2 AGG i.V.m. § 134 BGB.

25 BAG 10.12.2009 NZA-RR 2010, 384, 386; BAG 12.8.2010 NZA-RR 2011, 162, 166. 26 Vgl. ErfK/SCHLACHTER § 1 AGG Rn. 8.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

„Das unerwünschte Kopftuch“

2. Verstoß gegen § 307 Abs. 1 S. 1 BGB Die Klausel könnte aber gegen § 307 Abs. 1 S. 1 BGB verstoßen. a) Anwendbarkeit der Inhaltskontrolle gemäß §§ 305 ff. BGB Nach Streichung der Bereichsausnahme durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz sind die Regelungen zur Inhaltskontrolle einseitig gestellter Vertragsbedingungen auch auf vertragliche Vereinbarungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts grundsätzlich anwendbar. Für eine Anwendung auf die fragliche Vertragsklausel müsste es sich bei der vertraglichen Vereinbarung zwischen A und M um eine allgemeine Vertragsbedingung handeln. Dies ist gemäß § 305 Abs. 1 S. 1 BGB dann der Fall, wenn es sich um eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung handelt, die eine Vertragspartei (Verwender) der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrages stellt. Vorliegend hat A der M die Vertragsbedingungen beim Vertragsschluss einseitig gestellt. Zweifelhaft könnte allenfalls sein, ob die Vertragsbedingungen durch A auch für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert wurden. Davon ist jedoch angesichts der eher untergeordneten Funktion der M in dem Unternehmen des A, der Größe des Betriebes und der üblichen betrieblichen Praxis auszugehen. Anmerkung: Kommt der Bearbeiter zu einer – eher fernliegenden – anderen Auffassung, muss problematisiert werden, inwieweit auch einmalig verwendete Vertragsklauseln gemäß § 310 Abs. 3 BGB der Inhaltskontrolle unterliegen. Zu fragen ist also, ob auch ein Arbeitnehmer dem Verbraucherbegriff des § 13 BGB unterfällt, wofür die besseren Argumente sprechen.27 Auch in diesem Fall gelangt der Bearbeiter also zu einer Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB.

Somit handelt es sich bei der Vereinbarung zwischen A und M um eine allgemeine Vertragsbedingung i.S.v. § 305 Abs. 1 BGB. Diese wurde auch nach § 305 Abs. 2 BGB in den Vertrag einbezogen. b) Unangemessene Benachteiligung, § 307 Abs. 1 BGB Unwirksam ist die Vertragsklausel, wenn in ihr eine „unangemessene Benachteiligung“ der M i.S.v. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB liegt. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip stellt einen Maßstab zur Ermittlung einer „unangemessenen Benachteiligung“ dar. Eine einseitig gestellte Vertragsbedingung, die den Vertragspartner in seinen Rechten beeinträchtigt, darf demnach nicht über das erforderliche und angemessene Maß hinausgehen. Genügt es etwa zur Erreichung eines legitimen Regelungsziels, einzelne Formen von Meinungsäußerungen auszuschließen, so wäre eine allgemeinere Regelung unverhältnismäßig. Der umfassende, generelle Ausschluss jeglicher Meinungsäußerung ohne konkreten Anlass ist damit in erheblichem Maße unverhältnismäßig und benachteiligt den Vertragspartner in unangemessener Weise.28 Es muss eine differenziertere

27 Vgl. dazu ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 181 f. 28 So für den Fall, dass eine Klausel ausschließlich das Tragen religiöser Symbole am Arbeitsplatz untersagt, BROSE/GREINER/PREIS NZA 2011, 369, 371.

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„Das unerwünschte Kopftuch“

Lösungsvorschlag Fall 3

Regelung aufgestellt werden, die nach Anlass, Ausmaß der Störung u.Ä. unterscheidet, damit sie nicht unangemessen benachteiligend ist. Anmerkung: Das AGB-Recht verlangt also eine Unterscheidung und Differenzierung, um nicht unangemessen benachteiligend zu sein. Das AGG hingegen erklärt nur dann eine Klausel für benachteiligungsfrei, wenn sie eben nicht (ohne Rechtfertigung) unterschiedlich behandelt.

3. Ergebnis Damit ist die Klausel wegen Verstoßes gegen § 307 Abs. 1 BGB unwirksam. Eine Pflicht der M, das Kopftuch abzunehmen, bestand also nicht. II. Zwischenergebnis Da es schon an einer Verletzung vertraglicher Pflichten fehlt, kommt eine Abmahnung nicht in Betracht. Anmerkung: Sollte die Klausel wirksam sein, müsste die Maßnahme der Abmahnung selbst noch am AGG überprüft werden. Denn das AGG ist nicht beschränkt auf die Kontrolle vertraglicher Ungleichbehandlungen, sondern sämtlicher benachteiligender Maßnahmen. Wenn der Arbeitgeber sich selbst nicht an seine an sich diskriminierungsfreien Klauseln hält und in deren Anwendung die Arbeitnehmer unterschiedlich behandelt, kann trotzdem eine gegen AGG verstoßende Maßnahme vorliegen.

B. Ergebnis Somit ist die Abmahnung mangels Vertragspflichtverletzung unwirksam.

Abwandlung 2 L dürfte dem P ordentlich kündigen, wenn eine Kündigung sozial gerechtfertigt wäre und die sonstigen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer ordentlichen Kündigung vorlägen. Dazu müsste zunächst einer der in § 1 Abs. 2 KSchG genannten Kündigungsgründe gegeben sein. In Betracht kommt hier in erster Linie eine verhaltensbedingte Kündigung. Anmerkung: Hier wird nun vom üblichen Prüfungsschema einer Kündigungsschutzklage abgewichen und nicht zuerst die allgemeinen Unwirksamkeitsgründe geprüft. Diese Abweichung erfolgt, um die Fallproblematik unter dem Prüfungspunkt „Kündigungsgründe nach § 1 KSchG“ darstellen zu können. Es ist dogmatisch genauso korrekt, dies wie im Ausgangsfall unter § 612a BGB zu prüfen, dann allerdings nicht als Vertragspflichtverletzung, sondern als zulässige Ausübung von Rechten. Hatte P das Recht, seine Leistung zu verweigern?

A. Verhaltensbedingte Kündigung Ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund wäre gegeben, wenn P durch seine Weigerung, eine Uniform zu tragen, Vertragspflichten in vorwerfbarer Weise verletzt hätte.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

„Das unerwünschte Kopftuch“

I. Verstoß gegen das AGG? Zweifelhaft könnte auch hier die Wirksamkeit der Vertragsklausel sein, wonach P die durch L gestellte Kleidung zu tragen hat. Die Vorschrift könnte P in seiner grundrechtlich geschützten Religionsausübungsfreiheit verletzen, da sie implizit auch eine Gestaltung der Kleidung nach den Grundsätzen der Baghwan-Glaubensgemeinschaft untersagt. Somit kann die Vorschrift möglicherweise gegen § 7 Abs. 2 AGG verstoßen. 1. Vereinbarung Die ausdrückliche Vertragsklausel in dem Arbeitsvertrag, eine Uniform zu tragen, ist eine Vereinbarung i.S.d. § 7 Abs. 2 AGG i.V.m. 134 BGB. 2. Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot Diese Vereinbarung könnte gegen das Verbot verstoßen, niemanden wegen seiner Religion zu benachteiligen, §§ 7 Abs. 1, 1 AGG. Auch die Baghwan-Glaubensgemeinschaft ist eine Religion im Sinne des AGG. L will dem P nur deswegen kündigen, weil er sich aus religiösen Gründen weigert, seine Uniform zu tragen. Fraglich ist, ob darin eine unmittelbare oder mittelbare Benachteiligung des P liegt, § 3 AGG. Eine unmittelbare Benachteiligung nach § 3 Abs. 1 AGG liegt dann vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfahren hat, erfährt oder erfahren würde. Dafür muss zuerst geklärt werden, wer die vergleichbare Person ist. Sind alle diejenigen Arbeitnehmer vergleichbar, die sich weigern, die Uniform zu tragen, liegt keine Ungleichbehandlung vor, da sie alle dazu verpflichtet sind und darum bei Weigerung gegen eine Vertragspflicht verstoßen, was zu Konsequenzen durch L führt. Sind hingegen die Arbeitnehmer verschiedener Glaubensrichtungen, die sich alle ihrer Religion gemäß kleiden oder kleiden würden, miteinander vergleichbar, wird P auf Grund seiner Religion weniger günstig behandelt, da nur seine Religionsgemeinschaft vorschreibt, statt der Uniform die typische Kleidung der Baghwan-Anhänger zu tragen. Die vergleichbare Situation ist der Verstoß gegen die vertragliche Pflicht, diese Pflicht wiederum ordnet das Tragen der Uniform an. Wenn also auch andere Arbeitnehmer, die nicht der Baghwan-Glaubensgemeinschaft anhängen, sich weigern oder weigern würden, ihre Uniform zu tragen, würde L auch diesen kündigen wollen. Die Kündigung erfolgt nicht wegen der Religion, sondern wegen der Weigerung, die Uniform zu tragen, was an sich ein religiös neutrales Verhalten darstellt. Darum liegt hier keine weniger günstige Behandlung wegen der Religion und damit auch keine unmittelbare Benachteiligung vor. Eine mittelbare Benachteiligung kann auch hier – wie im Ausgangsfall – nur vorliegen, wenn man die Gleichbehandlung mit ungleichen Folgen darunter fassen würde. Denn auch hier hat die Klausel, die an sich alle Arbeitnehmer gleich behandelt, unterschiedlich starke Auswirkungen, je nachdem ob es einem Arbeitnehmer vorgeschrieben ist, andere Kleidung als die Uniform zu tragen, oder nicht. Die Gleichbehandlung mit ungleichen Folgen ist jedoch nicht unter die mittelbare Benachteiligung zu fassen, s.o.

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„Das unerwünschte Kopftuch“

Lösungsvorschlag Fall 3

Anmerkung: a.A. vertretbar, zur weiteren Prüfung in diesem Fall s.o.

Folglich liegt mangels Benachteiligung schon kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot vor. II. Wirksamkeit nach §§ 305 ff. BGB? Jedoch könnte die Vorschrift möglicherweise P unangemessen benachteiligen und gemäß § 307 Abs. 1 BGB unwirksam sein. Fraglich erscheint zunächst, ob es sich um eine einseitig von L gestellte Vertragsklausel handelt, ob die Inhaltskontrolle des § 307 Abs. 1 BGB also Anwendung findet. Bei der Vertragspflicht, eine Uniform zu tragen, handelt es sich um eine Nebenpflicht, die von L einseitig in den Vertrag eingeführt wurde. P konnte darauf keinerlei Einfluss nehmen. Mithin handelt es sich bei der Klausel um eine allgemeine Geschäftsbedingung i.S.v. § 305 Abs. 1 BGB. Damit ist zu fragen, ob die Klausel der Inhaltskontrolle standhält. Dies wäre gemäß § 307 Abs. 1 S. 1 BGB nicht der Fall, wenn sie den P „unangemessen benachteiligen“ würde. Bei der Konkretisierung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs sind grundrechtliche Wertungen zu berücksichtigen; eine Vertragsklausel darf insbesondere nicht unverhältnismäßig sein. Ein Eingriff in Grundrechtspositionen des P ist daher nur dann zu legitimieren, wenn hierfür eine verfassungsrechtlich tragfähige Rechtfertigung vorhanden ist. Seitens des P ist die Freiheit der Religionsausübung zu berücksichtigen. Diese findet jedoch Grenzen, soweit andere Güter von Verfassungsrang betroffen sind. Hier könnte zunächst die Unternehmerfreiheit der L betroffen sein (Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). Diese umfasst das Recht, das grundlegende Erscheinungsbild des Unternehmens zu bestimmen. Bei Piloten handelt es sich nun um herausgehobene Repräsentanten eines Luftfahrtunternehmens. Durch ihr Auftreten werden das Erscheinungsbild des Unternehmens und seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit entscheidend mitgeprägt. Zudem ist die Kleidung des P sehr auffällig und weicht von der branchenüblichen Kleidung eines Piloten ganz erheblich ab. Angesichts dieser Umstände ist daher die unternehmerische Freiheit der L vorliegend betroffen.29 Daneben verlangt die Sicherheit des Flugverkehrs nach einer eindeutigen Identifizierbarkeit des Personals. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Personal als Ansprechpartner der Passagiere wahrgenommen wird und Anweisungen des Personals befolgt werden. Gerade in Krisensituationen kann davon die Sicherheit im Flugzeug entscheidend abhängen. Die Festlegung einer vertraglichen Kleiderordnung dient damit mittelbar dem Schutz von Leben und Gesundheit der Passagiere sowie der Beschäftigten selbst (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Der Schutz der genannten Verfassungsgüter erfordert gerade die Festlegung einer einheitlichen Kleidung. Für eine individuelle Gestaltung der Kleidung bleibt – im Sinne praktischer Konkordanz zwischen den genannten Verfassungsgütern – nur insoweit Raum, als die eindeutige Identifizierbarkeit des Flugpersonals dabei gewährleistet bleibt. In diesem Rahmen schließt die Vertragsklausel auch individuelle Gestaltungen nicht aus. Die Vertragsklausel verpflichtet P lediglich dazu, 29 Vgl. BROSE/GREINER/PREIS NZA 2011, 369, 380.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

„Das unerwünschte Kopftuch“

die von L gestellte Uniform zu tragen. Damit verfolgt sie das – nach dem Gesagten auch verfassungsrechtlich – legitime Ziel, eine eindeutige Identifizierung und ein einheitliches Erscheinungsbild des Flugpersonals sicherzustellen. Die Vertragsklausel erscheint somit nicht unverhältnismäßig. Die Pflicht, eine Uniform zu tragen, stellt folglich keine „unangemessene Benachteiligung“ i.S.v. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB dar.30 Anmerkung: a.A. bei entsprechender Begründung vertretbar

Da die Klausel somit wirksamer Bestandteil des Arbeitsvertrages ist, hat sich P durch Eingehung des Arbeitsverhältnisses bei L wirksam verpflichtet, die Uniform zu tragen. III. Vertragspflichtverletzung Indem P sich beharrlich geweigert hat, die Uniform zu tragen, hat er diese vertragliche Nebenpflicht verletzt. IV. Leistungsverweigerungsrecht Die Vertragsverletzung könnte jedoch durch ein Leistungsverweigerungsrecht gerechtfertigt sein. Sie wäre dann nicht rechtswidrig und dem P nicht vorzuwerfen. In diesem Fall würde sie als Kündigungsgrund einer verhaltensbedingten Kündigung ausscheiden. 1. Rechtsgrundlage Zweifelhaft erscheint die Rechtsgrundlage eines derartigen Leistungsverweigerungsrechts. Nach Inkrafttreten des Schuldrechtmodernisierungsgesetzes leitet die überwiegende Ansicht ein Leistungsverweigerungsrecht in Fällen der Rechtsgüterkollision bei persönlicher Leistungspflicht stets aus § 275 Abs. 3 BGB her. Nach einer Mindermeinung ergibt sich das Leistungsverweigerungsrecht hingegen bei Glaubens- und Gewissenskonflikten aus § 242 BGB oder § 313 BGB.31 Im Ergebnis kann der Streit dahinstehen, da sich die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Leistungsverweigerung unabhängig von der Rechtsgrundlage aus Vorgaben des höherrangigen Rechts ergeben. 2. Unzumutbarkeit unter Abwägung der beiderseitigen Interessen Erforderlich ist jedenfalls, dass die Erfüllung der vertraglichen Nebenpflicht dem P unter Abwägung der beiderseitigen Interessen nicht zumutbar ist. Dieser Maßstab ist in § 275 Abs. 3 BGB ausdrücklich kodifiziert. Seitens des P könnte vor allem die von ihm geltend gemachte Freiheit der Religionsausübung zu berücksichtigen sein. a) Schutzbereich der Religionsfreiheit Fraglich ist, ob der Schutzbereich der Religionsfreiheit eröffnet ist. Dieser ist nur subjektiv zu konkretisieren (vgl. oben Ausgangsfall). Daher sind auch Vorschrif-

30 Vgl. BROSE/GREINER/PREIS NZA 2011, 369, 380. 31 GREINER, Idelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 135 ff.

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„Das unerwünschte Kopftuch“

Lösungsvorschlag Fall 3

ten kleiner Glaubensgemeinschaften oder auch höchst individuelle Glaubensüberzeugungen erfasst. Ob es sich bei den Bekleidungsvorschriften um ein verbindliches Gebot der Baghwan-Gemeinschaft handelt, ist ebenso unerheblich wie die Größe der Glaubensgemeinschaft. Den religiösen Charakter des Verhaltensgebotes kann P demnach nur subjektiv für sich selbst festlegen. Wie er vorgetragen hat, hält er die Vorschriften für absolut verbindlich. Damit ist der Schutzbereich der Religionsfreiheit eröffnet. b) Grundrechtsverzicht durch positive Voraussicht? P könnte jedoch durch Eingehung des Arbeitsverhältnisses auf den Schutz der Religionsfreiheit partiell verzichtet haben, so dass diese als Abwägungsgesichtspunkt nicht in Betracht käme. Schließlich wusste P, dass für eine individuelle Gestaltung der Kleidung auch nach religiösen Gesichtspunkten im Arbeitsverhältnis eines Piloten kein Raum ist.32 Freilich sind an einen Grundrechtsverzicht hohe Hürden zu stellen. Sie sind, ebenso wie im Ausgangsfall in Bezug auf M, in diesem Fall nicht erfüllt. Denn selbst wenn P wirksam auf seinen Schutz durch Grundrechte verzichtet hätte, hätte er diese Einwilligung konkludent durch seine Weigerung, die Uniform zu tragen, widerrufen. c) Kollidierende Interessen von L Fraglich ist, ob gegenüber der somit betroffenen Freiheit der Religionsausübung hinreichend gewichtige Interessen der L vorhanden sind, die einer Leistungsverweigerung entgegenstehen. Da die Religionsfreiheit vorbehaltlos konzipiert ist, kommen seitens der L nur verfassungsrechtlich geschützte Güter der L in Betracht (vgl. oben Ausgangsfall). Im Wege der Interessenabwägung (vgl. § 275 Abs. 3 BGB) ist der Vorrang einer der beiden Positionen zu ermitteln. Dabei ist zu beachten, dass im Hinblick auf die Leistungsverweigerung vollständig andere Interessen in die Interessenabwägung einzubeziehen sind als hinsichtlich der Inhaltskontrolle der Vertragspflicht (oben A I.2.): Während etwa hinsichtlich der Vertragspflicht das Interesse der L an einem einheitlichen Erscheinungsbild und der Identifizierbarkeit des Flugpersonals zu würdigen war (und dort die Beeinträchtigung der Religionsfreiheit legitimierte), sind diese Interessen hinsichtlich der konkreten Leistungsverweigerung irrelevant: Weder das einheitliche Erscheinungsbild noch die Sicherheit des Luftverkehrs werden beeinträchtigt, wenn P die Leistung verweigert, da die Leistungsverweigerung stets zur vollständigen Suspendierung des vertraglichen Pflichtenprogrammes führt – eine qualitativ abgrenzbare „teilweise“ Unzumutbarkeit, die sich nur auf eine Nebenpflicht bezieht, ist dem geltenden Recht fremd. Mit der Leistungsverweigerung geht somit stets auch eine Freistellung von den vertraglichen Hauptpflichten einher. Somit korreliert hier sogar das Interesse des P an der Leistungsverweigerung mit dem Interesse der L, keinen Piloten in „Baghwan-Kleidung“ zu beschäftigen. Hinsichtlich der Leistungsverweigerung sind seitens der L ausschließlich das Interesse an der Vertragserfüllung sowie das Interesse an einem geordneten Betriebsablauf zu berücksichtigen. Beide Interessen müssen jedoch relativ gegen32 Vgl. dazu auch HENSSLER AcP 190 (1990), 538 ff.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

„Das unerwünschte Kopftuch“

über den Interessen des P zurücktreten. Die Argumentation verläuft entsprechend zu derjenigen des Ausgangsfalles. Anmerkung: Daher ist entsprechend der Ausführungen zum Ausgangsfall auch eine a.A. bei entsprechender Begründung vertretbar.

Damit fällt die Interessenabwägung zugunsten der Leistungsverweigerung des P aus. d) Zwischenergebnis Somit war P das vertraglich geschuldete Tragen einer Uniform unter Abwägung der beteiligten Interessen nicht zumutbar. 3. Geltendmachung/Einredeerhebung P müsste die – jetzt auch in § 275 Abs. 3 BGB ausdrücklich normierte – Einrede der Unzumutbarkeit erhoben haben. Indem er die vertraglich geschuldete Leistung, das Tragen einer Uniform, unter Berufung auf seinen Glauben verweigert hat, hat er die Einrede erhoben. V. Ergebnis Da P somit ein Leistungsverweigerungsrecht zustand, ist ihm die Vertragsverletzung nicht vorwerfbar. Eine Kündigung wäre somit nicht durch verhaltensbedingte Gründe gerechtfertigt. B. Personenbedingte Kündigung Möglichweise könnte L dem P jedoch personenbedingt kündigen.33 Dazu müsste zunächst ein personenbedingter Kündigungsgrund vorliegen. I. Nicht- oder Schlechterfüllung vertraglicher Pflichten P müsste somit infolge eines in seiner Person begründeten Umstandes außerstande sein, seine vertraglichen Pflichten zu erfüllen. Er müsste Eignung und Befähigung zur Vertragserfüllung dauerhaft verloren haben. Wie dargestellt, hat sich P aus religiösen Gründen fortgesetzt geweigert, die von L gestellte Uniform zu tragen, obwohl dies Gegenstand seiner vertraglichen Pflichten ist. Das religiöse Leistungshindernis hindert P somit dauerhaft an der Vertragserfüllung. II. Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen Die Leistungsverweigerung durch P müsste zur erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen der L führen. Unabhängig von der äußerst problematischen Frage, ob eine teilweise, nur auf eine Nebenpflicht bezogene Leistungsverweigerung wegen Unzumutbarkeit nach geltendem Recht überhaupt existiert, kommt jedenfalls eine Weiterbeschäftigung des P auf seinem Arbeitsplatz für die L angesichts seiner Kleidung nicht in Betracht. P erbringt damit infolge seiner Leistungsverweigerung faktisch keine Arbeitsleistung als Pilot. P besetzt also einen Arbeitsplatz, ohne dass absehbar wäre, dass er infolge einer Änderung seiner reli-

33 Vgl. BAG 24.2.2011 NZA 2011, 1087.

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„Das unerwünschte Kopftuch“

Lösungsvorschlag Fall 3

giösen Einstellung dort wieder arbeiten können wird. Somit ist das betriebliche Bedürfnis, auf dem bislang durch P besetzten Arbeitsplatz tatsächlich einen Arbeitnehmer zu beschäftigen, durch die dauerhafte Leistungsverweigerung in erheblicher Weise beeinträchtigt. III. Negativprognose Die Nichterfüllung vertraglicher Pflichten müsste eine kündigungsrechtliche Negativprognose rechtfertigen. Vorliegend ist nicht absehbar, dass sich die religiöse Haltung des P, die der Vertragserfüllung entgegensteht, ändern wird. Das religiöse Leistungshindernis steht somit prognostisch auf unabsehbare Zeit der Vertragserfüllung entgegen. IV. Ultima-Ratio-Prinzip In Betracht käme eine Versetzung des P auf einen Arbeitsplatz, an dem das Tragen einer bestimmten Kleidung nicht zwingende Voraussetzung ist, etwa im Innendienst. Insoweit könnte einer Änderungskündigung Vorrang vor einer Beendigungskündigung zukommen. Für das Vorhandensein eines freien Arbeitsplatzes ist jedoch nichts dargetan. Somit steht auch das Ultima-Ratio-Prinzip einer ordentlichen personenbedingten Kündigung nicht entgegen. V. Interessenabwägung Jedoch könnte eine umfassende kündigungsrechtliche Interessenabwägung gleichwohl ein Überwiegen der Interessen des P ergeben; die Kündigung wäre dann auch als personenbedingte Kündigung nicht sozial gerechtfertigt. Insoweit könnte auch hier Art. 4 Abs. 1, 2 GG die Abwägung zugunsten des P beeinflussen. Teilweise wird tatsächlich vertreten, dass auch die kündigungsrechtliche Interessenabwägung in Fällen der Unzumutbarkeit bei Rechtsgüterkollisionen schon durch die Zuerkennung eines Leistungsverweigerungsrechts vorgeprägt werde.34 Gegen diese Sichtweise spricht aber entscheidend, dass hinsichtlich der Kündigung wiederum vollkommen andere Interessen gegeneinander abzuwägen sind als hinsichtlich der Leistungsverweigerung: Während bei der Leistungsverweigerung das Vertragserfüllungsinteresse des Arbeitgebers und das Leistungsverweigerungsinteresse des Arbeitnehmers in Konflikt treten, sind in der kündigungsrechtlichen Interessenabwägung das Vertragsbeendigungsinteresse des Arbeitgebers und das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers gegeneinander abzuwägen. Eine Übertragung der Wertungen erscheint somit nicht angebracht. Art. 4 Abs. 1, 2 GG fordert in diesen Fällen zwar die Befreiung von der Arbeitspflicht, nicht aber die Freistellung von allen negativen Konsequenzen einer Leistungsverweigerung. Daher kann die Glaubensfreiheit für die spezifisch kündigungsrechtliche Interessenabwägung keine durchgreifende Wirkung entfalten. Ein berechtigtes Beendigungsinteresse der L wird hingegen dadurch begründet, dass sie nur durch Kündigung die dauerhafte Dispositionsmöglichkeit über den faktisch unbesetzten Arbeitsplatz des P zurückgewinnen kann.

34 Vgl. REUTER BB 1986, 385, 389; ähnlich schon BOSCH/HABSCHEID JZ 1954, 213, 217.

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Fall 3

Lösungsvorschlag

„Das unerwünschte Kopftuch“

VI. Ergebnis Eine ordentliche personenbedingte Kündigung des P wäre damit sozial gerechtfertigt. Nach ordnungsgemäßer Betriebsratsanhörung (§ 102 BetrVG) könnte L dem P somit ordentlich personenbedingt kündigen.

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„Spitzel am Flughafen“

Falldarstellung

Fall 4

Fall 4: „Spitzel am Flughafen“ Falldarstellung Ausgangsfall A ist seit März 2000 als Betriebsleiterin vom Dienst in der Abteilung „Flugsicherung und Flugplanung“ des Verkehrsflughafens tätig, der seit Januar 2000 in der Rechtsform einer GmbH von B betrieben wird. In dem Vertrag vom 1.3.2000 sind als Monatsvergütung 2400 Euro brutto vereinbart. Schon vor diesem Zeitpunkt war A auf diesem Flughafen bis Ende 1999 in einem anderen Bereich der Flugsicherung beschäftigt gewesen. Beim Einstellungsgespräch im Februar 2000 sollte A einen Personalfragebogen ausfüllen, in dem u.a. nach einer Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR gefragt wurde. Sie verneinte diese Frage aus Sorge, dass sie sonst nicht eingestellt wird, obwohl sie wusste, dass sie in der Zeit von 1980 bis zur Auflösung des MfS in erheblichem Umfang als inoffizielle Mitarbeiterin tätig gewesen war. Im Rahmen dieser Tätigkeit hatte A in über 200 Fällen über die fachlichen Fähigkeiten, die politische Einstellung und den Leitungsstil ihrer Kollegen berichtet und dabei auch Angaben zu deren familiären und finanziellen Verhältnissen gemacht. Von der dritten Oktoberwoche bis Ende November 2010 war A arbeitsunfähig krank. Nachdem B am 30.11.2010 von der inoffiziellen Tätigkeit der A für das MfS erfahren hatte, focht er noch am gleichen Tag den Arbeitsvertrag an und teilte dies der A telefonisch mit. Er habe – was tatsächlich zutrifft – der A beim Einstellungsgespräch ausdrücklich gesagt, dass er nie einen Arbeitnehmer einstellen würde, der für das MfS gearbeitet hat. B weigert sich auf Grund der Anfechtung, die Vergütung für Oktober und November 2010 zu zahlen. Frage: Kann A Zahlung der vollen Vergütung für beide Monate verlangen?

Abwandlung Bei B ist darüber hinaus die Arbeitnehmerin F seit Mai 2000 im Bereich „Gepäckbeförderung“ beschäftigt. Ihre Tätigkeit besteht darin, Gepäckstücke von Hand von Förderbändern auf Transportwagen zu heben und mit diesen Wagen zu den Flugzeugen bzw. zum Flughafengebäude zu fahren. Nach der Geburt des ersten Kindes ging F im Juni 2010 in Elternzeit, die ursprünglich drei Jahre dauern sollte. Im Oktober 2010 wurde F erneut schwanger. Am 30.1.2011 bat F den B schriftlich darum, die Elternzeit zu verkürzen und ab April 2011 wieder die ursprüngliche Tätigkeit ausüben zu dürfen. Von ihrer Schwangerschaft teilte sie B nichts mit, obwohl sie die Verkürzung der Elternzeit allein aus dem Grund verlangte, um Mutterschaftsgeld – das höher ist als das Elterngeld – sowie den Arbeitgeberzuschuss hierzu auch im Rahmen der zweiten Schwangerschaft zu erhalten. B kam der Bitte der F nach, erfuhr aber am 10.4.2011 von F selbst, dass diese im siebten Monat schwanger ist. Daraufhin beurlaubte B die F noch am gleichen Tag und focht zugleich die auf Zustimmung zur Rückkehr an den Arbeitsplatz gerichtete Willenserklärung wegen arglistiger Täuschung an. Wegen

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Fall 4

Lösungsskizze

„Spitzel am Flughafen“

der Beschäftigungsverbote des § 4 Abs. 2 MuSchG sei F keine vollwertige Arbeitskraft mehr. Frage: Hält die Anfechtung durch B einer gerichtlichen Überprüfung (materiell) stand? Bearbeitervermerk: Für die Beurteilung der Rechtslage ist die seit dem 1.9.2009 geltende Rechtslage zugrunde zu legen.

Ü

Rechtsfragen: –

Arglistige Täuschung bei Einstellungsgespräch



Frage nach MfS-Tätigkeit



Verschweigen der Schwangerschaft im bestehenden Arbeitsverhältnis



Benachteiligungsverbot nach AGG



Rückabwicklung des (vollzogenen) Arbeitsverhältnisses



Außer Funktion gesetztes Arbeitsverhältnis

Lösungsskizze Ausgangsfall A. Anspruch auf Zahlung der Vergütung für die ersten beiden Oktoberwochen 2010 Mögliche Anspruchsgrundlage: § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag Anspruchsvoraussetzungen: Wirksamer Arbeitsvertrag I. Vertragsschluss am 1.3.2000 II. Möglicherweise Unwirksamkeit wegen Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB am 30.11.2010 1. Anfechtungsgrund: Arglistige Täuschung, § 123 Abs. 1 BGB a) Täuschung Falschbeantwortung einer Frage des Arbeitgebers b) Rechtswidrigkeit Nur bei falscher Antwort auf eine zulässige Frage Ob eine Frage zulässig ist, beurteilt sich nach der richterrechtlich entwickelten Abwägung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen im Rahmen der „Erforderlichkeit“ nach § 32 Abs. 1 BDSG Hier: Frage nach MfS-Tätigkeit Grundsätzlich zulässig bei Einstellungen im öffentlichen Dienst Bei Einstellungen in der Privatwirtschaft: zulässig, wenn Arbeitnehmer z.B. Aufgaben zu erledigen hat, die mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben eng verbunden sind Bei Tätigkeit in Flugsicherung und Flugplanung daher Fragerecht des Arbeitgebers

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„Spitzel am Flughafen“

Lösungsskizze Fall 4

Falschbeantwortung daher rechtswidrig c) Arglist der A Wissen oder Erkennenkönnen, dass die verschwiegene Tatsache den Willen des Arbeitgebers beeinflusst d) Kausalität Ursächlichkeit für die Begründung des Arbeitsverhältnisses 2. Anfechtungserklärung, § 143 Abs. 1 BGB 3. Keine Bestätigung des Rechtsgeschäfts, § 144 Abs. 1 BGB 4. Einhaltung der Anfechtungsfrist, § 124 Abs. 1 und 2 BGB III. Rechtsfolge Grundsätzlich Nichtigkeit von Anfang an, § 142 Abs. 1 BGB Aber bereits vollzogenes Arbeitsverhältnis, daher Wirkung der Anfechtung nur für die Zukunft IV. Ergebnis Anspruch der A gegen B auf Zahlung der Vergütung für die ersten beiden Oktoberwochen besteht B. Anspruch auf Zahlung der Vergütung für die zwei letzten Oktoberwochen sowie für die vier Novemberwochen Mögliche Anspruchsgrundlage: § 3 Abs. 1 EFZG Anspruchsvoraussetzungen: Wirksamer Arbeitsvertrag und unverschuldete Arbeitsunfähigkeit I. Arbeitsvertrag Vertragsschluss am 1.3.2000 II. Unwirksamkeit des Arbeitsvertrags wegen Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB am 30.11.2010 (wie Ausgangsfall) III. Rechtsfolge Grundsätzlich Nichtigkeit von Anfang an, § 142 Abs. 1 BGB Aber bereits vollzogenes Arbeitsverhältnis, daher Wirkung der Anfechtung nur für die Zukunft Ausnahme: Außer-Funktion-Setzen des Arbeitsverhältnisses auf Grund von Krankheit IV. Ergebnis Kein Anspruch der A auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG

Abwandlung Materiellrechtliche Wirksamkeit der Anfechtung

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Fall 4

Lösungsvorschlag

„Spitzel am Flughafen“

A. Anfechtungsgrund: § 123 Abs. 1 BGB I. Täuschung durch Verschweigen von Tatsachen Verschweigen der Schwangerschaft II. Offenbarungspflicht der F nur bei Fragerecht des Arbeitgebers Ob eine Frage zulässig ist, beurteilt sich nach der richterrechtlich entwickelten Abwägung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen im Rahmen der „Erforderlichkeit“ nach § 32 Abs. 1 BDSG Abwägung könnte nach gesetzlichen Wertungen gemäß §§ 7 Abs. 1, 1, 2 Abs. 1 Nr. 2, 3 Abs. 1 AGG vorgegeben sein 1. Persönlicher Anwendungsbereich des AGG 2. Benachteiligung kann unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts gemäß § 3 Abs. 1 AGG sein a) Fragerecht bei der Einstellung Frage verstößt gegen §§ 7 Abs. 1, 1, 3 Abs. 1 AGG. Fragerecht nach Rechtsprechung des EuGH und des BAG nicht gegeben, da sonst unmittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts b) Anwendbarkeit der Grundsätze auf das bestehende Arbeitsverhältnis Verstößt ebenfalls gegen §§ 7 Abs. 1, 1, 3 Abs. 1 AGG. Nach Rechtsprechung des EuGH auch keine Offenbarungspflicht im bestehenden Arbeitsverhältnis 3. Rechtfertigung Unmittelbare Benachteiligung nicht nach § 8 Abs. 1 AGG gerechtfertigt B. Ergebnis Kein Anfechtungsrecht nach § 123 Abs. 1 BGB

Lösungsvorschlag Ausgangsfall A. Anspruch auf Zahlung der Vergütung für die ersten beiden Oktoberwochen 2010 Möglicherweise hat A gegen B einen Anspruch auf Zahlung der Vergütung in Höhe von 1200 Euro für die ersten beiden Oktoberwochen nach § 611 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag. Dies ist der Fall, wenn zwischen den Parteien ein wirksamer Arbeitsvertrag besteht. I. Vertragsschluss am 1.3.2000 A und B haben am 1.3.2000 einen Arbeitsvertrag geschlossen, nach welchem A als Betriebsleiterin vom Dienst in der Abteilung „Flugsicherung“ des Flughafens gegen eine monatliche Brutto-Vergütung von 2400 Euro eingestellt wurde.

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„Spitzel am Flughafen“

Lösungsvorschlag Fall 4

II. Möglicherweise Unwirksamkeit wegen Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB am 30.11.2010 Der Arbeitsvertrag könnte jedoch unwirksam sein auf Grund einer Anfechtung durch B wegen arglistiger Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB. Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen eines Anfechtungsgrunds nach § 123 Abs. 1 BGB, eine Anfechtungserklärung nach § 143 Abs. 1 BGB sowie die Einhaltung der Anfechtungsfrist nach § 124 Abs. 2 BGB. Des Weiteren darf die Anfechtung nicht durch Bestätigung ausgeschlossen sein, § 144 Abs. 1 BGB. 1. Anfechtungsgrund: Arglistige Täuschung Als Anfechtungsgrund kommt hier eine arglistige Täuschung in Betracht. Voraussetzungen dafür sind eine rechtswidrige Täuschung durch A, Arglist der A sowie Kausalität der Täuschung für den Vertragsschluss. a) Täuschung Eine Täuschung besteht in der Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums bezüglich objektiv nachprüfbarer Umstände, durch die der Erklärungsgegner zur Abgabe einer Willenserklärung veranlasst wird.1 Die Täuschung muss sich auf objektive Umstände beziehen2 und der Bewerber muss positive Kenntnis von der Unwahrheit bzw. vom Vorliegen einer offenbarungspflichtigen Tatsache haben. Auch die falsche Beantwortung einer vom Arbeitgeber gestellten Frage kann eine Täuschung darstellen, wenn der Stellenbewerber die Frage bewusst falsch beantwortet hat.3 Hier hat A die von B gestellte Frage nach der Tätigkeit für das MfS bewusst falsch beantwortet und damit bei B den Irrtum hervorgerufen, A habe nicht mit dem MfS zusammengearbeitet. Eine Täuschung liegt somit vor. b) Rechtswidrigkeit In Literatur und Rechtsprechung ist anerkannt, dass nicht jede Erregung eines Irrtums zum Recht der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung führt. Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB ist – wie bei der Drohung – deren Rechtswidrigkeit.4 § 123 BGB soll die freie Willensentschließung vor Eingriffen anderer schützen. Der Schutzzweck ist nicht berührt, wenn eine rechtswidrige Handlung des die Anfechtung Erklärenden selbst zur Täuschung geführt hat. Das BGB geht jedoch davon aus, dass die arglistige Täuschung stets rechtswidrig ist. Den Fall rechtmäßiger Täuschung – vor allem im Arbeitsverhältnis – sieht das Gesetz nicht vor. Diese Lücke des Gesetzes kann durch teleologische Reduktion geschlossen werden. Die Norm des § 123 Abs. 1 BGB ist insofern zu weit gefasst, als sie die Fälle einer an sich arglistigen, aber rechtlich erlaubten Täu-

1 BAG 5.10.1995 AP BGB § 123 Nr. 40; LAG Köln 13.11.1995 NZA-RR 1996, 403. 2 BAG 21.2.1991 AP BGB § 123 Nr. 35. 3 LAG Köln 13.11.1995 NZA-RR 1996, 403; vgl. auch BAG 5.10.1995 AP BGB § 123 Nr. 40. 4 BAG 21.2.1991 AP BGB § 123 Nr. 35; BAG 5.10.1995 AP BGB § 123 Nr. 40.

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Fall 4

Lösungsvorschlag

„Spitzel am Flughafen“

schung mit umfasst.5 Somit stellt im Bereich der Fragerechte nur eine falsche Antwort auf eine zulässigerweise gestellte Frage eine arglistige Täuschung dar.6 Die Frage könnte nach § 4 Abs. 1 i. V. m. § 32 Abs. 1 S. 1 BDSG unzulässig sein. Die am 1.9.2009 in Kraft getretene Norm ist laut Bearbeitervermerk auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Nach § 32 Abs. 1 S. 1 BDSG dürfen personenbezogene Daten eines Beschäftigten für Zwecke des Beschäftigtenverhältnisses nur erhoben werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist. Personenbezogene Daten sind gemäß § 3 Abs. 1 BDSG alle Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person. Die Tätigkeit als inoffizielle Mitarbeiterin des MfS in der Zeit von 1980 bis zu dessen Auflösung ist eine Einzelangabe über persönliche und sachliche Verhältnisse der A. Die Frage im Personalfragebogen nach dieser Tätigkeit ist auch ein „Erheben“ von Daten, das nach § 3 Abs. 3 BDSG jedes Beschaffen von Daten über die natürliche Person ist. Die A war im Zeitpunkt der Fragestellung auch Beschäftigte im Sinne des § 3 Abs. 11 Nr. 7 BDSG, da auch Bewerberinnen und Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis unter diesen Begriff fallen. Gemäß § 32 Abs. 2 BDSG kommt es für die Anwendbarkeit des § 32 Abs. 1 BDSG nicht darauf an, ob die Daten automatisiert oder nicht automatisiert (was bei einer traditionellen Personalakte der Fall wäre) erhoben werden. Mithin kommt es für die Zulässigkeit der Frage nach der Zugehörigkeit zum MfS darauf an, ob dieses personenbezogene Datum „für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist“. Wie die Maxime der Erforderlichkeit im Sinne des § 32 Abs. 1 S. 1 BDSG zu interpretieren ist, erscheint noch unklar. Für den Bereich des Arbeitsverhältnisses ist diese neue Norm jedoch mit den anerkannten Prinzipien zur Erhebung von Bewerberdaten zu harmonisieren. Dafür spricht umso mehr, als der Gesetzgeber mit der Einführung des § 32 Abs. 1 S. 1 BDSG „die von der Rechtsprechung erarbeiteten Grundsätze des Datenschutzes im Beschäftigungsverhältnis nicht ändern, sondern lediglich zusammenfassen und ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz weder entbehrlich machen noch inhaltlich präjudizieren soll“.7 Deshalb kann als Formel gelten, dass eine Datenerhebung dann nicht erforderlich ist, wenn sie nach anerkannten Maßstäben des Diskriminierungsschutzes oder Persönlichkeitsschutzes im Arbeitsverhältnis unzulässig ist; umgekehrt ist die Datenerhebung regelmäßig erforderlich, wenn der Arbeitgeber die Daten berechtigterweise für seine Einstellungsentscheidung benötigt. Die Rechtsprechung erkennt mithin solche Fragen (Datenerhebungen) als zulässig an, an deren wahrheitsgemäßer Beantwortung der Arbeitgeber ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse hat, aufgrund dessen die Belange des Bewerbers zurücktreten müssen.8 Ob eine Frage zulässig ist oder nicht, richtet sich nach einer Abwägung der widerstreitenden Interessen. Ein Fragerecht steht dem Arbeitgeber nur dann zu, wenn er im Einzelfall ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse an der

5 BAG 21.2.1991 AP BGB § 123 Nr. 35. 6 BAG 5.12.1957 AP BGB § 123 Nr. 2; BAG 19.5.1983 AP BGB § 123 Nr. 25. 7 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses vom 1.7.2009 (BT-Drs. 16/13657), S. 35. 8 BAG 20.5.1999 AP BGB § 123 Nr. 50 m.w.N.

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„Spitzel am Flughafen“

Lösungsvorschlag Fall 4

Beantwortung seiner Fragen im Hinblick auf das Arbeitsverhältnis hat. Eine Frage, die den Arbeitnehmer hingegen zwingt, über das erforderliche und zumutbare Maß hinaus persönliche Belange zu offenbaren, ist wegen Verstoßes gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers unzulässig. Auf eine unzulässige Frage braucht der Arbeitnehmer nicht zu antworten. Allein ein Schweigerecht wäre jedoch für den Arbeitnehmer faktisch nutzlos, weil ein Schweigen einem Eingeständnis gleichkäme. Daher billigt die allgemeine Meinung in Rechtsprechung und Literatur dem Arbeitnehmer ein Recht zur Lüge zu, wenn dieser auf unzulässige Fragen des Arbeitgebers antwortet.9 Fraglich ist demnach, ob B mit der Frage nach der MfS-Tätigkeit eine in diesem Sinne zulässige Frage gestellt hat. Die Frage nach einer früheren Tätigkeit im Dienste des MfS für die Übernahme in den öffentlichen Dienst ist nach der Rechtsprechung des BVerfG10 für Vorgänge, die vor dem Jahre 1970 abgeschlossen waren, wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG) unzulässig. Im Übrigen ist die Befragung nach Funktionen und Tätigkeiten im MfS zulässig.11 Im vorliegenden Fall wird A jedoch nicht in den öffentlichen Dienst aufgenommen, sondern von der B-GmbH beschäftigt, also in der Privatwirtschaft. Es sind jedoch auch hier Arbeitsplätze denkbar, bei denen eine frühere Tätigkeit des Einzustellenden für das MfS derart gravierende Eignungsmängel erkennen lässt, dass die Frage des Arbeitgebers diesbezüglich zulässig ist.12 Ein Fall, in dem der Arbeitgeber grundsätzlich nach einer früheren MfS-Tätigkeit fragen darf, ist die Beschäftigung bei einem privatrechtlich organisierten Arbeitgeber, bei der der Arbeitnehmer Aufgaben zu erledigen hat, die der öffentlichen Verwaltung zuzurechnen sind oder jedenfalls mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben eng verbunden sind. In diesem Zusammenhang wird auch eine als juristische Person des Privatrechts organisierte Gesellschaft, die ihr gesetzlich zugewiesene und geregelte öffentliche Aufgaben wahrnimmt, als Teil der öffentlichen Verwaltung angesehen.13 Fraglich ist, ob diese Kriterien auf die A zutreffen. A ist als Betriebsleiterin vom Dienst in der Abteilung „Flugsicherung und Flugplanung“ eines Verkehrsflughafens eingestellt worden. Verkehrsflughäfen werden einerseits wegen ihrer Monopolstellung der öffentlichen Verwaltung zugerechnet, andererseits weil die Flughafengesellschaft durch ihre Tätigkeit eine öffentliche Aufgabe der staatlichen Daseinsvorsorge erfüllt, auch wenn sie privatrechtlich – in der Regel unter maßgeblicher Beteiligung des Bundes, eines Landes bzw. einer kommunalen Gebietskörperschaft – organisiert ist.14 Sowohl die Flugsicherung als auch die Flugplan9 BAG 6.2.2003 NZA 2003, 848. 10 BVerfG 8.7.1997 NJW 1997, 2307; vgl. auch BerlVerfGH 17.12.1997 NZA 1998, 591. 11 BAG 28.5.1998 AP BGB § 123 Nr. 46; BAG 26.8.1993 AP Einigungsvertrag Art. 20 Nr. 8; BAG 14.12.1995 AP Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX Nr. 56; vgl. zur außerordentlichen Kündigung wegen Tätigkeit für das MfS BAG 6.2.1997 - 2 AZR 51/96, n.v.; BAG 1.7.1999 NZA-RR 1999, 635; BAG 16.12.2004 AP BGB § 123 Nr. 64. 12 BAG 25.10.2001 EzA BGB § 626 Nr. 191; vgl. auch LAG Sachsen 23.2.1999 AfP 1999, 392; LAG Hamm 1.7.1992 LAGE BetrVG 1972 § 118 Nr. 17. 13 BVerfG 2.10.1995 NJW 1996, 584. 14 BAG 25.10.2001 EzA BGB § 626 Nr. 191.

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Fall 4

Lösungsvorschlag

„Spitzel am Flughafen“

koordinierung, also die vorausplanende Verteilung nachgefragter Start- und Landezeiten auf die vorhandene Flugplatz- und Flugsicherungskapazität (§ 27a Abs. 2 LuftVG), kann sinnvoll nur durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den zuständigen staatlichen Stellen und den einzelnen Flughäfen erledigt werden. Die Tätigkeit der A ist damit sehr eng mit der staatlichen Aufgabe der Flugplankoordinierung verbunden und unterliegt zudem im öffentlichen Interesse erheblichen Sicherheitsanforderungen.15 Daher ist im vorliegenden Fall die Frage des Arbeitgebers nach einer früheren MfS-Tätigkeit auch außerhalb des öffentlichen Dienstes grundsätzlich zulässig. Allerdings besteht das Fragerecht auch in diesem Bereich nicht unbegrenzt. Seine Reichweite ist vielmehr beschränkt durch das betriebliche Interesse des Arbeitgebers und das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers. Außerdem muss die Frage so formuliert sein, dass der Arbeitnehmer erkennen kann, wonach gefragt ist.16 Im vorliegenden Fall hat B ausdrücklich und eindeutig nach einer Tätigkeit für das MfS gefragt. Eine frühere MfS-Tätigkeit von erheblichem Gewicht eines Arbeitnehmers in der Stellung der A kann erhebliche Zweifel an dessen persönlicher Zuverlässigkeit begründen. Das Interesse des B, in einer derartigen Tätigkeit in der Flugsicherung und Flugplanung nur solche Arbeitnehmer zu beschäftigen, die eine der im öffentlichen Dienst erforderlichen vergleichbare persönliche Zuverlässigkeit aufweisen, ist daher von der Aufgabe eines derartigen Flughafenbetriebs her gerechtfertigt.17 Des Weiteren sind ernsthafte Störungen des Betriebsfriedens und der betrieblichen Verbundenheit zu befürchten, wenn sich herausstellt, dass der Arbeitnehmer, wie hier, in erheblichem Umfang frühere eigene Arbeitskollegen bespitzelt hat. Auch aus diesem Grund besteht ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers daran zu erfahren, ob der Einzustellende mit dem MfS zusammengearbeitet hat. Die Frage des B war somit erforderlich im Sinne des § 32 Abs. 1 S. 1 BDSG und damit zulässig, so dass die Falschbeantwortung durch A rechtswidrig war. c) Arglist der A Des Weiteren müsste A arglistig gehandelt haben. Arglist liegt vor, wenn der Anfechtungsgegner wusste oder erkennen musste, dass die von ihm vorgespiegelte oder verschwiegene Tatsache den Geschäftswillen des Arbeitgebers mitbeeinflusst, also für die Entscheidung zur Begründung des Arbeitsverhältnisses wesentlich sein kann. Es musste ihm also erkennbar sein, dass der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag bei Kenntnis der wahren Sachlage nicht oder zumindest nicht mit den gleichen Konditionen abgeschlossen hätte. Im vorliegenden Fall hat B beim Einstellungsgespräch ausdrücklich gesagt, dass er einen Arbeitnehmer, der mit dem MfS zusammengearbeitet hat, niemals einstellen würde. A wusste also, dass B bei Kenntnis der verschwiegenen Tatsache – also der Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter – den Arbeitsvertrag mit A nicht geschlossen hätte. Als sie die Frage falsch beantwortete, handelte sie also arglistig.

15 BAG 25.10.2001 EzA BGB § 626 Nr. 191. 16 BAG 13.6.2002 AP KSchG 1969 § 1 Nr. 69. 17 Vgl. BAG 25.10.2001 EzA BGB § 626 Nr. 191.

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„Spitzel am Flughafen“

Lösungsvorschlag Fall 4

d) Kausalität Die Täuschung muss zudem für die Begründung des Arbeitsverhältnisses ursächlich geworden sein. Das ist der Fall, wenn der Getäuschte die Willenserklärung anderenfalls nicht oder mit einem anderen Inhalt abgegeben hätte. Es reicht aus, wenn die Täuschung zumindest mitursächlich und für den Entschluss des Getäuschten von Bedeutung war.18 Hier war es B laut seiner eigenen Aussage beim Einstellungsgespräch wichtig, keinen Arbeitnehmer einzustellen, der mit dem MfS zusammengearbeitet hat. Hätte er von der Tätigkeit der A als inoffizielle Mitarbeiterin gewusst, hätte er sie nicht eingestellt. Die Täuschung war daher jedenfalls mitursächlich für den Entschluss des B, die A einzustellen. Kausalität zwischen Täuschung und Begründung des Arbeitsverhältnisses liegt damit vor. 2. Anfechtungserklärung, § 143 Abs. 1 BGB Erforderlich ist ferner eine Anfechtungserklärung gegenüber dem Anfechtungsgegner. Diese liegt hier vor, da B der A telefonisch mitgeteilt hat, dass er den Vertrag anfechte. 3. Keine Bestätigung des Rechtsgeschäfts, § 144 Abs. 1 BGB Die Anfechtung ist im vorliegenden Fall nicht wegen Bestätigung des Rechtsgeschäfts ausgeschlossen, § 144 Abs. 1 BGB, da B den Arbeitsvertrag sofort nach Kenntnis des Anfechtungsgrundes angefochten hat. 4. Einhaltung der Anfechtungsfrist, § 124 Abs. 1 und 2 BGB Des Weiteren muss B die Anfechtungsfrist eingehalten haben. Diese ergibt sich aus § 124 Abs. 1 und 2 BGB, wonach die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung innerhalb eines Jahres ab Entdeckung der Täuschung erklärt werden kann. Die Frist beginnt in dem Zeitpunkt, in dem der Anfechtungsberechtigte von der Täuschung positive Kenntnis erhalten hat. Hier hat B die Anfechtung noch am gleichen Tag erklärt, an dem er von der Täuschung erfahren hat. Damit ist die Anfechtungsfrist eingehalten. III. Rechtsfolge Nach der wirksamen Anfechtung eines Vertrages ist dieser gemäß § 142 Abs. 1 BGB von Anfang an als nichtig anzusehen. Bereits ausgetauschte Leistungen sind grundsätzlich nach den Grundsätzen des Bereicherungsrechts (§§ 812 ff. BGB) zurückzugewähren. Allerdings können erbrachte Arbeitsleistungen nur schwerlich rückabgewickelt werden.19 Daher muss bei den Rechtsfolgen der Anfechtung danach unterschieden werden, ob das Arbeitsverhältnis bereits in Vollzug oder Funktion gesetzt war, insbesondere ob ein Leistungsaustausch stattgefunden hat. Nur wenn der Vertrag noch nicht in Funktion gesetzt worden ist, bleibt es bei der Regel des § 142 Abs. 1 BGB, so dass eine Anfechtung die Willenserklärung mit rückwirkender Kraft (ex tunc) vernichtet. In Funktion gesetzt ist ein Arbeits18 BAG 11.11.1993 AP BGB § 123 Nr. 38; LAG Köln 13.11.1995 NZA-RR 1996, 403. 19 BAG 16.9.1982 AP BGB § 123 Nr. 24.

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Fall 4

Lösungsvorschlag

„Spitzel am Flughafen“

vertrag dann, wenn der Arbeitnehmer beim Arbeitgeber erschienen ist, seinen Arbeitsplatz zugewiesen bekommen und die Arbeit aufgenommen hat.20 Hier ist der Arbeitsvertrag zwischen A und B in Funktion gesetzt worden, A hat schon mehrere Jahre bei B gearbeitet. Bei solchen bereits vollzogenen Arbeitsverhältnissen wirkt die Anfechtung nur für die Zukunft: Wegen der Rückabwicklungsschwierigkeiten hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass eine Anfechtung nur die kündigungsähnliche Wirkung der Auflösung des Arbeitsverhältnisses für die Zukunft hat und entgegen § 142 Abs. 1 BGB ex nunc wirkt.21 Für die Vergangenheit ist das Arbeitsverhältnis jedenfalls bis einschließlich der ersten zwei Oktoberwochen wie ein fehlerfrei zustande gekommenes zu behandeln. IV. Ergebnis A hat gegen B für die ersten beiden Oktoberwochen einen Anspruch auf Zahlung der Vergütung in Höhe von 1200 Euro nach § 611 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag. B. Anspruch auf Zahlung der Vergütung für die letzten zwei Oktoberwochen sowie für die vier Novemberwochen A könnte für die letzten beiden Oktoberwochen und die vier Novemberwochen einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG haben (ein Anspruch aus § 611 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag scheidet aus, da A während dieser Zeit keine Arbeitsleistung erbracht hat). Voraussetzung für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung ist, dass zwischen A und B ein Arbeitsverhältnis von mindestens vierwöchiger Dauer besteht, § 3 Abs. 3 EFZG, dass A unverschuldet arbeitsunfähig erkrankt und dass die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit die einzige Ursache für den Arbeitsausfall ist. Fraglich sind hier allein die Wirksamkeit des Arbeitsvertrags und die Auswirkungen einer eventuellen Nichtigkeit. I. Arbeitsvertrag Wie oben dargelegt, wurde der Arbeitsvertrag am 1.3.2000 geschlossen. II. Unwirksamkeit des Arbeitsvertrags wegen Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB am 30.11.2010 Der Vertrag wurde jedoch am 30.11.2010 von B wegen arglistiger Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB angefochten. III. Rechtsfolge Fraglich ist, welche Rechtsfolgen die Anfechtung nach sich zieht. Vom Grundsatz der Nichtigkeit ex tunc nach § 142 Abs. 1 BGB wird, wie oben dargelegt, bei schon in Vollzug gesetzten Arbeitsverhältnissen eine Ausnahme gemacht: Die

20 BAG 3.12.1998 AP BGB § 123 Nr. 49 unter Aufgabe von BAG 18.4.1968 AP HGB § 63 Nr. 32. 21 BAG 5.12.1957 AP BGB § 123 Nr. 2; BAG 16.9.1982 AP BGB § 123 Nr. 24; BAG 29.8.1984 AP BGB § 123 Nr. 27.

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„Spitzel am Flughafen“

Lösungsvorschlag Fall 4

Anfechtung wirkt hier grundsätzlich nur ex nunc, also für die Zukunft. Im vorliegenden Fall war das Arbeitsverhältnis schon in Funktion gesetzt. Es besteht jedoch die Besonderheit, dass A die sechs Wochen vor der Anfechtung arbeitsunfähig krank war. Das Arbeitsverhältnis wurde also wieder außer Funktion gesetzt. In diesem Fall wirkt die Anfechtung nach der Rechtsprechung des BAG auf den Zeitpunkt zurück, in dem das Arbeitsverhältnis außer Funktion gesetzt worden ist.22 Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Anfechtungsrecht auf einer arglistigen Täuschung im Sinne des § 123 BGB beruht. Gesichtspunkte eines eventuell bestehenden Vertrauensschutzes greifen dann nicht,23 da ab dem Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit keine Rückabwicklungsschwierigkeiten auftreten. Der Arbeitnehmer kann nicht darauf vertrauen, dass das Arbeitsverhältnis auch für die Zeit, in der es nicht mehr praktiziert worden ist, bis zur Anfechtungserklärung des Arbeitgebers als rechtsbeständig behandelt wird. Würde man der Anfechtung auch in einem solchen Falle nur Wirkung für die Zukunft beilegen, so würde man dem Täuschenden damit zu einem nicht gerechtfertigten Vorteil verhelfen. Die frühere Rechtsprechung, nach der die Anfechtung auch dann ex nunc wirken sollte, wenn der Arbeitnehmer schon vor der Anfechtung krank geworden ist und auf Grund der unabhängig vom Willen beider Vertragsparteien bestehenden Arbeitsunfähigkeit keine Leistungen mehr erbringt,24 hat das BAG aufgegeben.25 Die Anfechtung wirkt also in diesen Fällen nach § 142 Abs. 1 BGB ex tunc. Auf den vorliegenden Fall angewandt bedeutet dies, dass die Anfechtung auf den Zeitpunkt zurück wirkt, zu dem A arbeitsunfähig krank wurde. IV. Ergebnis A hat gegen B für die letzten beiden Oktoberwochen und die vier Novemberwochen keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG.

Abwandlung Die Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB hält einer gerichtlichen Überprüfung (materiell) stand, wenn ein Anfechtungsgrund und eine Anfechtungserklärung vorliegen, wenn das Rechtsgeschäft nicht bestätigt wurde und wenn die Frist eingehalten ist. A. Anfechtungsgrund: § 123 Abs. 1 BGB Anfechtungsgrund kann hier § 123 Abs. 1 BGB sein. Voraussetzung hierfür ist, dass der B zur Abgabe einer Willenserklärung – hier der Zustimmung zur vorzeitigen Rückkehr aus der Elternzeit – durch arglistige Täuschung bestimmt worden ist.

22 23 24 25

BAG 3.12.1998 AP BGB § 123 Nr. 49. BAG 29.8.1984 AP BGB § 123 Nr. 27. BAG 18.4.1968 AP HGB § 63 Nr. 32; BAG 20.2.1986 AP BGB § 123 Nr. 31. BAG 3.12.1998 AP BGB § 123 Nr. 49.

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Fall 4

Lösungsvorschlag

„Spitzel am Flughafen“

I. Täuschung durch Verschweigen von Tatsachen Im vorliegenden Fall hat F dem B die Schwangerschaft verschwiegen. Ein solches Verschweigen ist jedoch nur dann als Täuschung i.S.v. § 123 Abs. 1 BGB (zum Begriff der Täuschung s.o. A II 1 a) anzusehen, wenn eine Aufklärungspflicht besteht. Da keine allgemeine Offenbarungspflicht des Arbeitnehmers über Umstände besteht, die der Durchführung des Vertrags entgegenstehen könnten, kommt eine Aufklärungspflicht nur ausnahmsweise in Betracht. Dies ist z.B. der Fall, wenn der Arbeitnehmer erkennt, dass er auf Grund fehlender Qualifikationen oder Fähigkeiten für die Arbeit völlig ungeeignet ist oder wenn die jeweiligen Umstände dem Arbeitnehmer die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Leistungspflicht unmöglich machen oder sonst ausschlaggebende Bedeutung für den Arbeitsplatz haben. Hier besteht die Tätigkeit der F darin, Gepäckstücke von Hand von Förderbändern auf Transportwagen zu heben und diese Wagen zu fahren. Dieser Tätigkeit könnte ein Beschäftigungsverbot nach § 4 Abs. 2 MuSchG entgegenstehen, so dass die Tätigkeit jedenfalls teilweise während der Schwangerschaft nicht ausgeübt werden darf. In Betracht kommt hier das Verbot des § 4 Abs. 2 Nr. 1 MuSchG, das die Beschäftigung Schwangerer mit Arbeiten untersagt, bei denen regelmäßig Lasten von mehr als 5 kg Gewicht oder gelegentlich Lasten von mehr als 10 kg Gewicht gehoben, bewegt oder befördert werden. Bei den Gepäckstücken, die am Flughafen befördert werden, handelt es sich in aller Regel um Lasten, die schwerer als 5 kg sind. Daher greift das Beschäftigungsverbot des § 4 Abs. 2 Nr. 1 MuSchG hier ein und steht der Beschäftigung der F jedenfalls teilweise entgegen. II. Offenbarungspflicht der F nur bei Fragerecht des Arbeitgebers Allerdings besteht eine Aufklärungspflicht der F nur insoweit, als der Arbeitgeber seinerseits nach der betreffenden Tatsache fragen dürfte, da die Offenbarungspflichten des Arbeitnehmers nicht weiter gehen als das Fragerecht des Arbeitgebers. Es ist also die Zulässigkeit der Frage des B nach der Schwangerschaft der F zu prüfen. Nach § 32 Abs. 1 S. 1 BDSG dürfen personenbezogene Daten eines Beschäftigten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses unter anderem nur dann erhoben werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder nach Begründung für dessen Durchführung erforderlich ist. Gemäß § 3 Abs. 11 Nr. 1 BDSG ist die F als Arbeitnehmerin „Beschäftigte“. (siehe im Einzelnen unter A II 1 b). Eine Datenerhebung ist dann nicht erforderlich, wenn sie nach anerkannten Maßstäben des Diskriminierungsschutzes oder Persönlichkeitsschutzes im Arbeitsverhältnis unzulässig ist. Die Frage nach der Schwangerschaft könnte insoweit eine unzulässige Diskriminierung wegen des Geschlechts i.S.v. §§ 7 Abs. 1, 1, 2 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1 AGG darstellen und damit nicht erforderlich bzw. unzulässig sein. Dafür müsste in der Frage eine Benachteiligung der F wegen des Geschlechts liegen.

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„Spitzel am Flughafen“

Lösungsvorschlag Fall 4

1. Persönlicher Anwendungsbereich F ist bei B auf Grund eines privatrechtlichen Vertrages zu weisungsabhängiger Arbeit verpflichtet und damit Arbeitnehmerin i.S.d. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AGG; das AGG ist also auf sie anwendbar. 2. Benachteiligung Das AGG verbietet u.a. jede ungerechtfertigte Benachteiligung wegen des Geschlechts, § 1 AGG. Eine Definition von Benachteiligung findet sich dafür in § 3 AGG. Die ungünstigere Behandlung einer Frau wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft wird in § 3 Abs. 1 AGG als unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts definiert. Die Frage nach der Schwangerschaft ist per se noch keine ungünstigere Behandlung. Sie kann aber eine ungünstigere Behandlung unmittelbar nach sich ziehen. § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG verbietet auch Benachteiligungen bei der Durchführung eines Beschäftigungsverhältnisses. a) Fragerecht bei der Einstellung Bei der Einstellung kann die wahrheitsgemäße Beantwortung der Frage zur Nichteinstellung führen, weil kein Arbeitgeber eine Frau einstellen will, die dann sofort wegen Mutterschutz und Elternzeit wieder ausfällt. Darin liegt unstreitig eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts. Zu diesem Ergebnis gelangte auch die Rechtsprechung vor Einführung des AGG. Anmerkung: Sowohl nach der Rechtsprechung des EuGH26 als auch des BAG27 ist die Frage nach einer Schwangerschaft bei der Einstellung unzulässig, da anderenfalls eine nach §§ 7 Abs. 1, 1, 2 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1 AGG (§ 611a BGB a.F.) unzulässige Diskriminierung auf Grund des Geschlechts vorläge. Dies gilt nach der Rechtsprechung selbst dann, wenn die Arbeitnehmerin die vereinbarte Tätigkeit während der Schwangerschaft wegen eines Beschäftigungsverbots von Anfang an nicht ausüben darf28 und auch dann, wenn ein befristetes Arbeitsverhältnis begründet werden soll und feststeht, dass die Bewerberin während eines wesentlichen Teils der Vertragszeit nicht arbeiten kann.29 Begründet wird dies damit, dass das Beschäftigungsverbot während der Schwangerschaft nur vorübergehender Natur ist und daher nicht zu einer dauerhaften Störung des Vertragsverhältnisses führt.

Die Frage nach der Schwangerschaft ist daher jedenfalls bei der Einstellung eine unmittelbare Benachteiligung.

26 EuGH 3.2.2000 „Mahlburg“ AP BGB § 611a Nr. 18; EuGH 4.10.2001 „BrandtNielsen“ EAS RL 76/207/EWG Art. 5 Nr. 16. 27 BAG 6.2.2003 AP BGB § 611a Nr. 21; BAG 15.10.1992 AP BGB § 611a Nr. 8 unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung, vgl. hierzu BAG 22.9.1961 AP BGB §123 Nr. 15; BAG 20.2.1986 AP BGB § 123 Nr. 31. 28 EuGH 3.2.2000 „Mahlburg“ AP BGB § 611a Nr. 18; BAG 6.2.2003 AP BGB § 611a Nr. 21. 29 EuGH 4.10.2001 „Tele Danmark“ NJW 2002, 123; a.A. PALLASCH NZA 2007, 306, 307.

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Fall 4

Lösungsvorschlag

„Spitzel am Flughafen“

b) Anwendbarkeit der Grundsätze auf das bestehende Arbeitsverhältnis Hier jedoch geht es nicht um die Einstellung oder Kündigung der F, sondern um die Frage nach der Schwangerschaft in einem bestehenden Arbeitsverhältnis, in dem der Arbeitnehmer die Sicherheit eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses genießt. Des Weiteren kann eingewendet werden, die Verkürzung der Elternzeit allein aus dem Grund, das (im Vergleich zum Erziehungsgeld höhere) Mutterschaftsgeld und den Arbeitgeberzuschuss hierzu zu erhalten, sei missbräuchlich und gebe dem Arbeitgeber ein Recht zur Ablehnung dieses Wunsches. Doch auf diese Aspekte stellt das Gesetz nicht ab. Es setzt allein die ungünstigere Behandlung wegen der Schwangerschaft als Maßstab. Auch in einem bestehenden Arbeitsverhältnis kann die Frage nach der Schwangerschaft eine ungünstigere Behandlung nach sich ziehen. Schon allein, dass der Arbeitgeber diese Frage stellt, bedeutet, dass ihm an deren Beantwortung etwas liegt, er also Konsequenzen daraus ziehen will. Das bedeutet z.B. bei positiver Antwort die Versagung der Rückkehrmöglichkeit an den Arbeitsplatz, oder auch die Nichtverlängerung eines befristeten Arbeitsverhältnisses. Beides stellt eine ungünstigere Behandlung gegenüber einer nicht schwangeren Frau oder einem Mann dar. Darum kann auch in einem bestehenden Arbeitsverhältnis die Frage nach der Schwangerschaft gemäß § 3 Abs. 1 AGG eine unmittelbare Benachteiligung bedeuten. Anmerkung: Auch die Rechtsprechung, die diese Fälle bisher ohne AGG gelöst hat, kommt zu diesem Ergebnis. Nach der jüngeren Rechtsprechung des EuGH stellt auch die Berücksichtigung der Schwangerschaft als Grund für Benachteiligungen im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhältnisses eine unmittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts dar.30 Es kommt also nicht darauf an, ob eine Einstellung oder Kündigung oder Maßnahmen im bestehenden Arbeitsverhältnis in Rede stehen.

Folglich ist eine unmittelbare Benachteiligung durch die Frage nach der Schwangerschaft gegeben. 3. Rechtfertigung Die Benachteiligung kann aber nach § 8 Abs. 1 AGG ausnahmsweise zulässig sein. Dieser legt fest, dass eine unterschiedliche Behandlung wegen eines Grundes des § 1 AGG zulässig ist, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Um Gepäckstücke vom Band auf Transportwagen zu heben, ist es nicht zwingend erforderlich, ein Mann zu sein, weder Art noch Bedingungen der Ausübung der Tätigkeit stellen diese Anforderung auf. Nicht in einem bestimmten Monat schwanger zu sein ist zwar wegen der Mutterschutzbestimmungen des § 4 Abs. 2 MuSchG ab einem bestimmten Zeitpunkt Voraussetzung, doch ist dies kein Grund des § 1 AGG. Nur das Geschlecht ist Grund des § 1 AGG. Die eingeschränkte Tätigkeit auf Grund der Schwangerschaft ist nur ein vorübergehender Zustand, der darum nicht die Art und Ausübung der Tätigkeit als solche betrifft. Damit ist die Ungleichbehandlung nicht nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig.

30 EuGH 27.2.2003 AP EWG-RL Nr. 76/207 Nr. 31.

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„Spitzel am Flughafen“

Lösungsvorschlag Fall 4

Anmerkung: Vor Geltung des AGG wurde die Rechtfertigung wie folgt geprüft: Fraglich ist, ob diese Diskriminierung gerechtfertigt ist. Nach Ansicht des EuGH ist die Tatsache, dass ein gesetzliches Verbot die Arbeitnehmerin daran hindert, die gewünschten Aufgaben auszuüben, kein Rechtfertigungsgrund.31 Auch die missbräuchliche Absicht der F, durch die Rückkehr zur ursprünglichen Tätigkeit das (im Vergleich zum Elterngeld höhere) Mutterschaftsgeld und den arbeitgeberseitigen Zuschuss hierzu zu erhalten, kann die Diskriminierung auf Grund des Geschlechts nicht rechtfertigen.32 Eine Rechtfertigung kann auch nicht darin gesehen werden, dass ein gesetzliches Verbot die Schwangere vorübergehend an der uneingeschränkten Ausübung der Tätigkeit hindert.33 Die Diskriminierung kann darüber hinaus nicht damit gerechtfertigt werden, dass der Arbeitgeber anderenfalls einen finanziellen Nachteil erleiden würde.34 Selbst eine Missbrauchsabsicht dahingehend, dass die Elternzeit nur vorzeitig beendet wird, um Mutterschaftsgeld und den Arbeitgeberzuschuss hierzu zu erlangen, soll nach der Rechtsprechung des EuGH daher dem Arbeitgeber nicht das Recht zur Ablehnung der vorzeitigen Rückkehr aus der Elternzeit geben. Sowohl die Frage nach der Schwangerschaft bei der Einstellung als auch die Berücksichtigung der Schwangerschaft als Grund für Benachteiligungen im bestehenden Arbeitsverhältnis ist also unzulässig. Aus diesem Grund besteht nach der Rechtsprechung des EuGH keine Pflicht der F zur Offenbarung ihrer Schwangerschaft gegenüber B.

Die Frage nach der Schwangerschaft ist daher eine unzulässige Diskriminierung wegen des Geschlechts i.S.v. §§ 7 Abs. 1, 1, 2 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1 AGG und somit unzulässig bzw. datenschutzrechtlich gemäß § 32 BDSG nicht erforderlich. Der Arbeitgeber darf die Frage nach der Schwangerschaft also nicht stellen, eine Täuschung darüber liegt dementsprechend nicht vor. B. Ergebnis Die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB wird einer gerichtlichen Überprüfung (materiell) nicht standhalten.

31 EuGH 27.2.2003 AP EWG-RL Nr. 76/207 Nr. 31. 32 EuGH 27.2.2003 AP EWG-RL Nr. 76/207 Nr. 31. 33 EuGH 5.5.1994 „Habermann-Beltermann“ AP EWG-Richtlinie Nr. 76/207 Art. 2 Nr. 3; EuGH 3.2.2000 „Mahlburg“ AP BGB § 611a Nr. 18. 34 EuGH 8.11.1990 „Dekker“ AP EWG Vertrag Art. 119 Nr. 23; EuGH 4.10.2001 „Tele Danmark“ AP EWG-Richtlinie Nr. 76/207 Nr. 27.

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Fall 5

Falldarstellung

„Der Hochstapler“

Fall 5: „Der Hochstapler“ Falldarstellung Ausgangsfall A hat 18 Semester Medizin studiert und alle praktischen Prüfungen mit Bravour gemeistert. Wegen großer Verständnisprobleme in zwei theoretischen Fächern musste er sein Studium jedoch ohne Abschluss abbrechen. Da A aber davon überzeugt ist, dass seine Berufung in der Schönheitschirurgie liegt, bewirbt er sich bei dem renommierten Schönheitschirurgen B. Dieser betreibt eine Privatklinik in Köln, was A sehr gelegen kommt, da er dann weiterhin in Köln wohnen bleiben könnte. Den Bewerbungsunterlagen fügt er gefälschte Examenszeugnisse sowie eine gefälschte Approbationsunterlage bei. B ist von der Bewerbung des A begeistert und stellt ihn im März 2008 als Facharzt in der Chirurgie ein. A arbeitet im Folgenden ohne weitere Auffälligkeiten in der Klinik des B. Im Oktober 2010 wird der ehemalige Kommilitone K des A in der Klinik eingestellt. Da dieser weiß, dass A kein abgeschlossenes Medizinstudium und keine Approbation hat, fliegt der Schwindel auf. B stellt den A noch am gleichen Tag, an dem K ihn über die Laufbahn des A aufgeklärt hat, zur Rede. Dieser merkt, dass Abstreiten zwecklos ist und gibt alles zu. B erklärt ihm noch in demselben Gespräch, dass er A nicht mehr in seiner Klinik sehen möchte. Es sei ihm zu gefährlich, einen nicht ausgebildeten Arzt, der keine Approbation habe, zu beschäftigen; schließlich könne er damit eine Ordnungswidrigkeit begehen oder sich vielleicht sogar strafbar machen. Ferner verlangt er von A die Rückzahlung von 60.000 Euro. Dabei handelt es sich nur um einen Teil des an A gezahlten Entgelts, da B meint, dass A nicht völlig umsonst gearbeitet haben soll. A weigert sich, den Betrag an B zurückzuzahlen. Er hält die Reaktion des B für übertrieben, schließlich habe er immer seine Arbeit ordnungsgemäß erbracht. Daraufhin erhebt B am 11.10.2010 gegen A ordnungsgemäß Klage vor dem Arbeitsgericht Köln auf Rückzahlung der 60.000 Euro. B beruft sich darauf, zwischen ihm und A liege kein wirksamer Arbeitsvertrag vor. Nach einem gescheiterten Gütetermin wird A ordnungsgemäß zur Verhandlung zum Arbeitsgericht Köln am 9.12.2010 um 10.00 Uhr geladen. Weder A noch sein prozessbevollmächtigter Rechtsanwalt T, der ebenfalls geladen worden war, sind bis 10.10 Uhr im Sitzungssaal erschienen. Daher beantragt der prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt des B den Erlass eines Versäumnisurteils gegen A, das antragsgemäß ergeht. Rechtsanwalt T trifft erst um 10.17 Uhr im Sitzungssaal ein, weil er keinen Parkplatz gefunden hat. Über seinen Kollegen ärgert er sich sehr, schließlich sei er doch letztendlich erschienen. Außerdem sei es bekanntlich ein Gebot des Anstands, zumindest 15-20 Minuten auf seinen Kollegen zu warten, bevor man einen Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils stelle. Der Rechtsanwalt des B wusste bei Antragstellung, dass A anwaltlich vertreten wird.

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„Der Hochstapler“

Falldarstellung Fall 5

Frage: Ist das Versäumnisurteil gegen A rechtmäßig ergangen? Bearbeitervermerk: Wer den Antrag für unzulässig erachtet, hat zur Begründetheit in einem Hilfsgutachten Stellung zu nehmen. Es ist auf sämtliche im Sachverhalt aufgeworfenen Rechtsfragen einzugehen, ggf. in einem Hilfsgutachten. Deliktische Ansprüche sind nicht zu prüfen. Auf § 46 ArbGG wird hingewiesen, ebenso auf die beigefügten Vorschriften des HeilprG und der BÄO.

Abwandlung B hat seine Zahlungsklage am 15.10.2010 erhoben. Ab diesem Zeitpunkt fordert er Zinsen in Höhe von acht Prozentpunkten über dem Basiszinssatz. A ist der Ansicht, dass er einen solch hohen Zinssatz nicht zu zahlen habe. Er sei allenfalls bereit, Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen. Frage: Unterstellt, dem B steht der Anspruch auf Rückzahlung der 60.000 Euro zu: In welchem Umfang kann er von A Zinsen verlangen? § 1 HeilprG (1) Wer die Heilkunde, ohne als Arzt bestellt zu sein, ausüben will, bedarf dazu der Erlaubnis. (2) (. . .) (3) (. . .) § 5 HeilprG Wer, ohne zur Ausübung des ärztlichen Berufs berechtigt zu sein und ohne ein Erlaubnis nach § 1 zu besitzen, die Heilkunde ausübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. § 1 BÄO (1) Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes. (2) (. . .) § 2 BÄO (1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes den ärztlichen Beruf ausüben will, bedarf der Approbation als Arzt. (2) Eine vorübergehende oder eine auf bestimmte Tätigkeiten beschränkte Ausübung des ärztlichen Berufs im Geltungsbereich dieses Gesetzes ist aufgrund einer Erlaubnis zulässig. (3) (. . .) (4) (. . .)

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Fall 5

Lösungsskizze

„Der Hochstapler“

(5) Ausübung des ärztlichen Berufs ist die Ausübung der Heilkunde unter der Berufsbezeichnung „Arzt“ oder „Ärztin“. § 10 BÄO (1) Die Erlaubnis zur vorübergehenden Ausübung des ärztlichen Berufs kann auf Antrag Personen erteilt werden, die eine abgeschlossene Ausbildung für den ärztlichen Beruf nachweisen. (2) Die Erlaubnis kann auf bestimmte Tätigkeiten und Beschäftigungsstellen beschränkt werden. Sie darf nur widerruflich und nur bis zu einer Gesamtdauer der ärztlichen Tätigkeit von höchstens vier Jahren im Geltungsbereich dieses Gesetzes erteilt oder verlängert werden. (. . .)

Ü

Rechtsfragen: –

Voraussetzungen des Erlasses eines Versäumnisurteils



Nichtigkeit nach § 134 BGB



Grundsätze des fehlerhaften Arbeitsverhältnisses



Ausschluss der Saldierung nach § 817 S. 2 BGB



Anfechtbarkeit eines nichtigen Rechtsgeschäfts



Anwendbarkeit des § 288 Abs. 2 BGB auf bereicherungsrechtliche Rückgewähransprüche



Verbrauchereigenschaft von Arbeitnehmern im Rahmen des § 288 Abs. 2 BGB

Lösungsskizze Ausgangsfall A. Zulässigkeit der Klage des B I. Wirksame und ordnungsgemäße Klageerhebung gemäß § 253 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG II. Parteifähigkeit gemäß § 50 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG; Prozessfähigkeit gemäß § 52 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG III. Zuständigkeit des Gerichts IV. Ergebnis B. Formelle Voraussetzungen eines Versäumnisurteils I. Säumnis einer Partei II. Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils III. Kein Versagungsgrund gemäß §§ 335, 337 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG

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„Der Hochstapler“

Lösungsvorschlag Fall 5

C. Schlüssigkeit des Klägervorbringens gemäß § 331 Abs. 2 ZPO I. Anspruch auf Rückzahlung des Arbeitsentgeltes in Höhe von 60.000 Euro gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB wegen Nichtigkeit des Arbeitsvertrages nach § 134 BGB 1. Etwas erlangt 2. Durch Leistung 3. Ohne Rechtsgrund a) Gesetzesverstoß b) Keine nachträgliche Heilung wegen faktischer Durchführung des Arbeitsvertrags 4. Rechtsfolge: Rückabwicklung des Rechtsgeschäfts, Saldotheorie a) Ausschluss der Saldierung nach § 817 S. 2 BGB b) Keine Einschränkung des § 817 S. 2 BGB nach § 242 BGB 5. Ergebnis II. Anspruch auf Rückzahlung des Arbeitsentgeltes in Höhe von 60.000 Euro gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB wegen Nichtigkeit des Arbeitsvertrags nach §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB 1. Anwendbarkeit des Anfechtungsrechts bei Nichtigkeit nach § 134 BGB 2. Anfechtungserklärung 3. Ergebnis D. Gesamtergebnis

Abwandlung I. Rechtshängigkeit einer Geldschuld II. Entgeltforderung aus einem Rechtsgeschäft gemäß § 288 Abs. 2 BGB III. Kein Ausschluss wegen Beteiligung eines Verbrauchers IV. Ergebnis

Lösungsvorschlag Ausgangsfall Zu prüfen ist, ob das Versäumnisurteil gegen A rechtmäßig ergangen ist. Auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren kann ein Versäumnisurteil erlassen werden. Nach § 46 Abs. 2 ArbGG gelten für das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren des

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Fall 5

Lösungsvorschlag

„Der Hochstapler“

ersten Rechtszuges die Vorschriften der ZPO entsprechend, soweit das ArbGG nichts anderes bestimmt. Die Voraussetzungen des Versäumnisurteils richten sich somit nach den §§ 330 ff. ZPO. Anmerkung: Lediglich für die Einspruchsfrist sieht das ArbGG in § 59 S. 1 ArbGG eine Sonderregelung vor, dies ist aber bei der vorliegenden Fragestellung nicht von Bedeutung.

Das Versäumnisurteil ist rechtmäßig ergangen, wenn die Klage zulässig ist, die formellen Voraussetzungen eines Versäumnisurteils vorliegen und – da die Säumnis des Beklagten fraglich ist – die Klage schlüssig ist.1 A. Zulässigkeit der Klage des B I. Wirksame und ordnungsgemäße Klageerhebung gemäß § 253 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG Aufgrund des Verweises nach § 46 Abs. 2 ArbGG ist § 253 ZPO für das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren des ersten Rechtszugs anwendbar. Nach dem Sachverhalt liegt eine wirksame und ordnungsgemäße Klageerhebung im Sinne des § 253 ZPO jedoch vor. II. Parteifähigkeit gemäß § 50 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG; Prozessfähigkeit gemäß § 52 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG Über den Verweis des § 46 Abs. 2 ArbGG kommt auch § 50 ZPO zur Anwendung. Gemäß § 50 Abs. 1 ZPO ist jede rechtsfähige Person parteifähig und kann somit klagen und verklagt werden. Bei A und B handelt es sich um natürliche Personen. Bedenken gegen ihre Parteifähigkeit bestehen demnach nicht. Gemäß §§ 51 Abs. 1, 52 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG ist eine Partei prozessfähig und damit fähig, Prozesshandlungen wirksam vorzunehmen, wenn sie sich durch Vertrag selbst verpflichten kann. Auch hier sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, die Bedenken auslösen. A und B sind prozessfähig. III. Zuständigkeit des Gerichts Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten könnte gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG eröffnet sein. Dann müsste es sich bei der teilweisen Rückforderung des gezahlten Entgelts um eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus dem Arbeitsverhältnis handeln. Dies könnte hier problematisch sein, weil der Kläger die Rückforderung gerade darauf stützt, dass der Arbeitsvertrag von Anfang an nicht wirksam gewesen ist und auch kein faktisches Arbeitsverhältnis besteht. Allerdings wird § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG sehr weit ausgelegt. Es ist unerheblich, ob es sich um eine Streitigkeit handelt, die aus einem vergangenen, gegenwärtigen oder erst noch zu begründenden Arbeitsverhältnis her-

1 Anders als bei einer Säumnis des Beklagten, wo sich das Erfordernis einer schlüssigen Klage aus § 331 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 ZPO ergibt, ist bei Säumnis des Klägers keine Schlüssigkeitsprüfung vorzunehmen. Dies beruht auf dem Gedanken, dass derjenige, der sich seines eigenen Prozesses nicht annimmt, diesen schon aus diesem Grund verlieren muss.

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rührt. Ebenso reicht ein verbotswidrig zustande gekommenes Arbeitsverhältnis aus.2 Somit ist unerheblich, ob das Arbeitsverhältnis im vorliegenden Fall überhaupt wirksam begründet wurde oder zumindest ein faktisches Arbeitsverhältnis besteht. Es reicht aus, dass die Parteien zunächst davon ausgingen, dass ein Arbeitsverhältnis besteht und in diesem Rahmen Leistungen erbracht haben. Aus diesem vermeintlichen Arbeitsverhältnis ist eine Rechtsstreitigkeit, hier über die Teilrückzahlung des gezahlten Arbeitsentgeltes, entstanden. Folglich ist gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG der Rechtsweg zum Arbeitsgericht eröffnet. § 2 Abs. 1 Nr. 3b ArbGG ist hier nicht anwendbar. Zwar ist das Bestehen des Arbeitsverhältnisses eine zentrale Frage für die Prüfung des Anspruchs auf Rückzahlung. Es wird jedoch nicht die Feststellung beantragt, ob das Arbeitsverhältnis besteht oder nicht. Nur in diesem Fall ist § 2 Abs. 1 Nr. 3b ArbGG einschlägig. Anmerkung: Eine Verwechslung des Anwendungsbereichs der beiden Vorschriften wäre jedoch nicht als gravierend anzusehen, da beide zu demselben Ergebnis führen und die Abgrenzung auch nicht ganz klar aus dem Gesetz hervorgeht.

Das Arbeitsgericht Köln müsste auch örtlich zuständig sein. Die örtliche Zuständigkeit ist im ArbGG mit Ausnahme des besonderen Gerichtsstands nach § 48 Abs. 1a ArbGG nicht ausdrücklich geregelt. Im Übrigen gelten über den Verweis des § 46 Abs. 2 ArbGG die Regeln der ZPO. Laut §12 ZPO ist das Gericht örtlich zuständig, bei dem der Beklagte seinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Der allgemeine Gerichtsstand natürlicher Personen richtet sich gemäß § 13 ZPO nach deren Wohnsitz. Wohnsitz des Beklagten A ist Köln. Somit ist das Arbeitsgericht Köln auch örtlich zuständig. IV. Ergebnis Die Klage des B ist zulässig. B. Formelle Voraussetzungen eines Versäumnisurteils I. Säumnis einer Partei Voraussetzung für den Erlass eines Versäumnisurteils nach § 331 ZPO ist zunächst die Säumnis des Beklagten A. Säumnis liegt vor, wenn eine ordnungsgemäß geladene Partei zur mündlichen Verhandlung trotz ordnungsgemäßen Aufrufs zur Sache unentschuldigt nicht erscheint bzw. kein Vertreter für sie erscheint, sie bei notwendiger Vertretung nicht durch einen zugelassenen Rechtsanwalt vertreten ist oder nicht zur Sache verhandelt.3 Im Arbeitsgerichtsverfahren ist zudem zu beachten, dass der mündlichen Verhandlung gemäß § 54 Abs. 1 ArbGG eine Güteverhandlung vorgeschaltet ist. Dies hindert jedoch nicht den Erlass eines Versäumnisurteils. Aus dem Sachverhalt ergibt sich, dass eine Güteverhandlung stattgefunden hat, die erfolglos blieb. Zu prüfen ist, ob die Voraussetzungen einer Säumnis erfüllt sind. A und sein prozessbevollmächtigter Anwalt T sind ordnungsgemäß zur Verhandlung am 9.12.2010 um 10.00 Uhr geladen worden. Hinweise, die gegen einen ordnungsgemäßen Aufruf zur Sache sprechen, sind nicht ersichtlich. Weitere Vorausset2 ErfK/KOCH § 2 ArbGG Rn. 15. 3 BAUMBACH/LAUTERBACH/ALBERS/HARTMANN Übers. § 330 ZPO Rn. 4 ff.

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zung ist, dass eine Partei unentschuldigt nicht erschienen ist. Dabei ist zu beachten, dass sich A ein etwaiges Verschulden seines Anwalts T gemäß § 46 Abs. 2 ArbGG i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss. Eine schuldlose Verhinderung des Anwalts am Erscheinen kann dem Erlass eines Versäumnisurteils aber nur entgegenstehen, wenn beide Parteien anwaltlich vertreten sind.4 Dies ist hier der Fall. Fraglich ist vielmehr, ob T schuldlos am rechtzeitigen Erscheinen verhindert war. Grund für die Säumnis des Anwalts ist, dass er keinen Parkplatz gefunden hat. Einen Parkplatz zu finden, ist ein allgemein bekanntes Problem. Es obliegt dem Anwalt, die Zeit für die Parkplatzsuche mit einzuplanen und rechtzeitig loszufahren. Folglich sind Schwierigkeiten bei der Parkplatzsuche keine ausreichende Entschuldigung für eine Verspätung. Fraglich ist, ob die Tatsache, dass der Anwalt des A schließlich doch noch zur Verhandlung erscheint, eine Säumnis zumindest nachträglich entfallen lässt. Dies sieht das Gesetz jedoch nicht vor. Der Beklagte bleibt deswegen auch nicht schutzlos; ihm verbleibt gemäß § 338 ZPO noch die Möglichkeit des Einspruchs, welcher gemäß § 342 ZPO die Wirkung hat, dass das Verfahren in den vorigen Stand zurückversetzt wird. Demnach ist die Säumnis des A aufgrund der unentschuldigten Verspätung seines Anwalts T gegeben. II. Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils Die erschienene Partei muss gemäß § 331 Abs. 1 S. 1 ZPO einen Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils stellen. Der Anwalt des B hat einen solchen Antrag gestellt, nachdem weder A noch sein Anwalt T um 10.10 Uhr erschienen waren. Fraglich ist, ob der Antrag zulässig ist oder ob B damit länger hätte warten müssen als 10 Minuten. Für eine Wartefrist von ca. 15 Minuten kann das frühere Standesrecht der Rechtsanwälte angeführt werden. Dessen Unbeachtlichkeit kann jedoch damit begründet werden, dass der Anwalt aus § 670 BGB eine Vertragspflicht zur umfassenden Interessenwahrnehmung für den Mandanten hat, welche als vorrangig gegenüber einer kollegialen Wartepflicht anzusehen ist.5 Zudem würde das Gebot, vor der Antragstellung eine bestimmte Zeit zu warten, das Recht auf freie Berufsausübung aus Art. 12 Abs. 1 GG ohne hinreichenden Rechtfertigungsgrund zu sehr einschränken. Gegen eine Wartepflicht aus Kollegialität spricht auch, dass die frühere Regelung des § 13 BORA, wonach der Rechtsanwalt ein Versäumnisurteil nur nach vorheriger Ankündigung gegenüber dem Gegenanwalt erwirken durfte, vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt worden war.6 Daraus lässt sich entnehmen, dass die Vertragspflichten gegenüber dem Mandanten auch im Hinblick auf eine Wartepflicht Vorrang haben. Diese Ausformung von Kollegialität kann insbesondere nicht mehr damit gerechtfertigt werden, dass sie zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege unerlässlich sei.7

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Zöller/HERGET Vor § 330 ZPO Rn. 12. BAUMBACH/LAUTERBACH/ALBERS/HARTMANN § 337 ZPO Rn. 6. BVerfG 14.12.1999 BVerfGE 101, 312, 325. BVerfG 2.11.1992 NJW 1993, 121, 122; BAUMBACH/LAUTERBACH/ALBERS/HARTMANN § 337 ZPO Rn. 6.

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Anmerkung: Im Hinblick auf diese Problematik sind keine vertieften Kenntnisse der Bearbeiter zu erwarten. Es ist zudem auch vertretbar, diese Ausführungen im Rahmen des Prüfungspunktes „I. Säumnis der Partei“ zu machen.

Somit hat der Anwalt des B den Antrag auch nicht zu früh gestellt, da für ihn nicht die Pflicht bestand, eine gewisse Zeit zu warten. Der Antrag des Anwalts des B auf Erlass eines Versäumnisurteils ist zulässig. III. Kein Versagungsgrund gemäß §§ 335, 337 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG Versagungsgründe nach §§ 335, 337 ZPO sind hier nicht ersichtlich. Insbesondere enthält der Sachverhalt keine Angaben über die Ladungsfrist des A. C. Schlüssigkeit des Klägervorbringens gemäß § 331 Abs. 2 ZPO Gemäß § 331 Abs. 1 S. 1 ZPO ist das tatsächliche mündliche Vorbringen des Klägers als zugestanden anzunehmen, wenn die formellen Voraussetzungen für den Erlass des Versäumnisurteils gegen den Beklagten vorliegen. Das Versäumnisurteil ergeht dann gegen den Beklagten, wenn der Klageantrag gemäß § 331 Abs. 2 ZPO schlüssig ist. Schlüssigkeit liegt vor, wenn der geltend gemachte Anspruch nach dem Tatsachenvortrag des Klägers besteht.8 I. Anspruch auf Rückzahlung des Arbeitsentgeltes in Höhe von 60.000 Euro gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB wegen Nichtigkeit des Arbeitsvertrages nach § 134 BGB B könnte gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB gegen A einen Anspruch auf Rückzahlung der 60.000 Euro haben. Dann müsste A durch die Leistung des B rechtsgrundlos etwas erlangt haben. 1. Etwas erlangt Erlangtes Etwas ist jeder vermögenswerte Vorteil. In das Vermögen des A sind im Zuge der Erfüllung des Arbeitsvertrages 60.000 Euro (teilweises) Arbeitsentgelt übergegangen; diesen Betrag hat A demnach erlangt. 2. Durch Leistung Leistung ist die bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens. Durch Zahlung des Arbeitsentgeltes an A hat B dessen Vermögen bewusst und zweckgerichtet vermehrt. 3. Ohne Rechtsgrund Die Zahlung des Arbeitsentgeltes müsste rechtsgrundlos erfolgt sein. Als Rechtsgrund für die Zahlung des Arbeitsentgeltes kommt der im März 2008 zwischen A und B geschlossene Arbeitsvertrag in Betracht. Der Rechtsgrund könnte jedoch von Anfang an gefehlt haben, wenn der Arbeitsvertrag wegen Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz nach § 134 BGB nichtig ist.

8 Thomas/Putzo/REICHOLD § 331 ZPO Rn. 5.

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a) Gesetzesverstoß Voraussetzung ist, dass der Arbeitsvertrag gegen ein Verbotsgesetz verstößt. Ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB kann aus einem Gesetz im formellen Sinn, einer Rechtsverordnung oder aus Gewohnheitsrecht folgen.9 Das Verbot braucht im Gesetz nicht ausdrücklich ausgesprochen zu sein, es kann sich auch aus dem Zusammenhang ergeben.10 Dabei muss das Gesetz für das Eintreten der Nichtigkeitsfolge dahingehend auszulegen sein, dass Zweck des Verbotes ist, das Rechtsgeschäft als solches zu untersagen und sich nicht bloß gegen die Umstände seines Zustandekommens zu richten.11 Sinn und Zweck des Gesetzes müssen die Nichtigkeit erfordern und dürfen sich nicht mit Wirkungen begnügen, unter denen das Rechtsgeschäft gültig bleibt.12 Als Verbotsgesetz kommen hier §§ 2,10 BÄO sowie §§ 1,5 HeilPrG in Betracht. Nach §§ 2, 10 BÄO ist für die Ausübung eines ärztlichen Berufs eine Approbation als Arzt erforderlich. Auch die Heilkunde, die durchgeführt wird, ohne eine Zulassung als Arzt zu haben, bedarf gemäß § 1 HeilPrG einer Erlaubnis. Bei Fehlen einer solchen Erlaubnis wird die Ausübung gemäß § 5 HeilPrG mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bestraft. Hieraus folgt, dass die Ausübung des Arztberufs ohne Approbation verboten ist und selbst die Ausübung eines Heilberufs, ohne Arzt zu sein, einer Erlaubnis bedarf. Der Schutzzweck ergibt sich aus § 1 BÄO, nach dem der Arzt der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes dient. Dies bedeutet, dass durch die Vorschriften der BÄO besonders hochrangige Rechtsgüter geschützt werden sollen. Die Beschäftigung des A als Arzt, ohne dass er über eine Approbation verfügt, verstößt gegen §§ 2, 10 BÄO. Es war dem A auch nicht einmal möglich, nachträglich eine Approbation erfolgreich zu beantragen, da gemäß § 10 Abs. 1 BÄO hierfür eine abgeschlossene Ausbildung für den ärztlichen Beruf erforderlich ist, A aber sein Studium abgebrochen hat. Demnach verstößt der Arbeitsvertrag, der die Beschäftigung des A als Arzt zum Inhalt hat, gegen ein Verbotsgesetz. Fraglich ist, ob damit auch die Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB eintritt oder ob die Tatsache, dass B keine Kenntnis von der fehlenden Approbation hatte, gegen die Nichtigkeitsfolge spricht. Sinn und Zweck des Verbotes der Ausübung des Arztberufs ohne Approbation ist ebenso wie im HeilPrG der Schutz der Gesundheit des einzelnen Patienten sowie die Volksgesundheit. Der Schutzzweck geht somit über den Kreis der Vertragspartner hinaus und umfasst ein besonders hoch eingestuftes Schutzgut. Dieser Zweck hat Vorrang gegenüber den Interessen der Vertragsparteien und kann nur dann durchgesetzt werden, wenn die beiderseitigen Erfüllungsansprüche für nichtig erklärt werden. Es ist daher unerheblich, ob B Kenntnis von dem Nichtigkeitsgrund hatte. Somit führt der Verstoß gegen §§ 2, 10 BÄO zur Nichtigkeit des Arbeitsvertrags.13

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Vgl. Art. 2 EGBGB. PALANDT/ELLENBERGER § 134 BGB Rn. 2. MüKoBGB/ARMBRÜSTER § 134 Rn. 42. PWW/AHRENS § 134 BGB Rn. 16. S. hierzu auch BAG 3.11.2004 AP BGB § 134 Nr. 25.

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b) Keine nachträgliche Heilung wegen faktischer Durchführung des Arbeitsvertrags Einem Anspruch auf Rückzahlung könnte jedoch entgegenstehen, dass der Arbeitsvertrag bereits vollzogen wurde. Grundsätzlich ist nach den Grundsätzen des fehlerhaften Arbeitsverhältnisses eine Rückabwicklung nach Bereicherungsrecht bei Vollzug des Arbeitsvertrages ausgeschlossen; dies bedeutet, dass das Arbeitsverhältnis für die Dauer der tatsächlichen Beschäftigung wie ein fehlerfrei zustande gekommenes zu behandeln ist.14 Für die bereits erbrachten Leistungen besteht dann ein Rechtsgrund. Die ex-nunc-Nichtigkeit in Vollzug gesetzter Arbeitsverhältnisse wird mit der schwierigen Rückabwicklung von im Rahmen von Dauerschuldverhältnissen bereits erbrachten Leistungen begründet. Allerdings wird hierzu dann eine Ausnahme gemacht, wenn ein besonders schwerer Mangel vorliegt. Ein solcher liegt auch in dem einseitigen bewussten Verstoß des Arbeitnehmers gegen ein gesetzliches Verbot, das dem Schutz von Leben und Gesundheit dient.15 A hat einseitig bewusst gegen §§ 2, 10 BÄO verstoßen, die dem Schutz von Leben und Gesundheit dienen. Eine Heilung durch die faktische Durchführung des Arbeitsvertrags ist hier demnach ausgeschlossen. Somit bleibt der Arbeitsvertrag trotz Vollzugs nichtig, weshalb die Zahlung des Entgelts gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB ohne Rechtsgrund erfolgte. Der Arbeitsvertrag ist nach den Regeln des Bereicherungsrechts rückabzuwickeln. 4. Rechtsfolge: Rückabwicklung des Rechtsgeschäfts Gemäß § 818 Abs. 2 BGB besteht die Pflicht, das erlangte Geld bzw. dessen Wert herauszugeben. Dabei erfolgt die Berechnung des herauszugebenden Geldes bzw. des Wertes bei gegenseitigen Verträgen nach der Saldotheorie im Wege einer Saldierung der beiderseitigen Leistungen.16 Dann müsste im vorliegenden Fall der Wert der von A erbrachten Arbeitsleistung mit dem gezahlten Entgelt saldiert werden können. a) Ausschluss der Saldierung nach § 817 S. 2 BGB Eine Berücksichtigung der von A bereits erbrachten Arbeitsleistung könnte gemäß § 817 S. 2 BGB ausgeschlossen sein. Nach dieser Vorschrift ist die Rückforderung einer Leistung ausgeschlossen, die gegen ein gesetzliches Verbot verstößt. Dabei muss der Verstoß gerade in der Erbringung der Leistung liegen, der Leistende muss sich des Verstoßes bewusst gewesen sein und ihn trotzdem gewollt haben.17 Im vorliegenden Fall liegt gerade in der Ausübung des Arztberufs ohne Approbation ein Verstoß gegen §§ 2, 10 BÄO. A hat seinen Bewerbungsunterlagen eine gefälschte Approbationsurkunde beigefügt, er wusste somit, dass er eine Appro14 BAG 5.12.1957 AP BGB § 123 Nr. 2; BAG 7.6.1972 AP BGB § 611 Faktisches Arbeitsverhältnis Nr. 18. 15 BAG 3.11.2004 AP BGB § 134 Nr. 25. 16 S. dazu Palandt/SPRAU § 818 BGB Rn. 48. 17 BGH 29.4.1968 BGHZ 50, 90, 91 f.; zur Anwendung des § 817 S. 2 BGB bei Beschäftigung nach Vorlage einer gefälschten Approbationsurkunde BAG 3.11.2004 AP BGB § 134 Nr. 25.

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bation benötigte und ohne diese gegen die BÄO verstieß. Dies tat er auch willentlich, um von B als Chirurg eingestellt zu werden. Ein Rückforderungsausschluss nach § 817 S. 2 BGB in Bezug auf die Zahlung des Entgelts durch B kommt hingegen nicht in Betracht. Denn zum einen liegt der Gesetzesverstoß gerade nicht in der Zahlung des Entgelts, und zum anderen hatte B zum Zeitpunkt der Entgeltzahlung keine Kenntnis von der fehlenden Approbation des A. Demnach ist die Saldierung des Wertes der von A erbrachten Arbeitsleistung gemäß § 817 S. 2 BGB ausgeschlossen. b) Keine Einschränkung des § 817 S. 2 BGB nach § 242 BGB Fraglich ist, ob eine Einschränkung des § 817 S. 2 BGB unter Berücksichtigung von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB erforderlich ist, so dass dem Nichtarzt eine Vergütung im Wert seiner Leistungen zu belassen ist. Bereicherungsansprüche gehören dem Billigkeitsrecht an, so dass die Grundsätze von Treu und Glauben besonders zu berücksichtigen sind. Allerdings ist hier zu beachten, dass der Gesetzesverstoß durch A eine Gefährdung für die Gesundheit der Patienten darstellt, die ein besonders schützenswertes Rechtsgut ist. Das Unterbleiben dieser verbotenen Leistung und damit der Schutz des Rechtsguts kann am besten dadurch erreicht werden, dass dem Leistenden der Bereicherungsanspruch überhaupt versagt wird.18 Zwar erspart B auf diese Weise Arbeitsvergütungen in erheblichem Ausmaß, obwohl er sogar mit der Arbeit des A zufrieden war. Dies kann aber noch keinen Verstoß gegen Treu und Glauben begründen. Denn die objektive Gefährdungslage entfällt nicht aus dem Grund, dass tatsächlich keine Gesundheitsverletzung eingetreten ist. Zudem ist zu berücksichtigen, dass B nicht das gesamte Entgelt zurückfordert, sondern zugunsten des A lediglich einen Teilbetrag. Anmerkung: a.A. mit entsprechender Begründung vertretbar.

Somit entfällt die Anwendung des § 817 S. 2 BGB auch nicht aufgrund einer Berücksichtigung der Grundsätze von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB. 5. Ergebnis B hat gegen A gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB einen Rückzahlungsanspruch in Höhe von 60.000 Euro. Die Klage ist demnach schlüssig. II. Anspruch auf Rückzahlung des Arbeitsentgeltes in Höhe von 60.000 Euro gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB wegen Nichtigkeit des Arbeitsvertrags nach §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB Anmerkung: Wenn die Nichtigkeit des Arbeitsvertrags gemäß § 134 BGB bejaht worden ist, wirkt es sich auf die Bewertung nicht negativ aus, wenn auf die Nichtigkeit wegen Anfechtung nicht eingegangen wird. Diejenigen Bearbeiter, die die Nichtigkeit des Arbeitsvertrags gemäß § 134 BGB ablehnen, müssen die Frage der wirksamen Anfechtung des Arbeitsvertrags gemäß §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB jedoch prüfen.

A hat durch Leistung des B 60.000 Euro Arbeitsentgelt erlangt. Dies könnte ferner aus dem Grund rechtsgrundlos erfolgt sein, dass der Arbeitsvertrag auch auf18 BAG 3.11.2004 AP BGB § 134 Nr. 25.

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grund einer wirksamen Anfechtung wegen arglistiger Täuschung gemäß §§ 123 Abs. 1, 142 Abs. 1 BGB nichtig ist. 1. Anwendbarkeit des Anfechtungsrechts bei Nichtigkeit nach § 134 BGB Fraglich ist jedoch, ob ein nichtiges Rechtsgeschäft angefochten werden kann. Anmerkung: Dies war nur zu erörtern, wenn die Nichtigkeit des Arbeitsvertrages gemäß § 134 BGB bejaht wurde.

Gegen die Zulässigkeit der Anfechtung nichtiger Rechtsgeschäfte spricht schon der Wortsinn, wonach bei Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts nichts mehr übrig bleibt, was noch durch eine Anfechtung vernichtet werden kann.19 Andererseits besteht ein Bedürfnis für die Anfechtbarkeit eines nichtigen Rechtsgeschäfts, weil ein Nebeneinander beider Nichtigkeitsgründe wegen der unterschiedlichen Interessenlage und des unterschiedlichen Schutzzwecks erforderlich sein kann.20 Dafür spricht auch, dass ein Rechtsgeschäft auch sonst aus mehreren Gründen nichtig sein kann.21 Zudem muss eine Anfechtung insbesondere dann zulässig sein, wenn der Anfechtungsgrund stärker wirkt als der Nichtigkeitsgrund oder der Anfechtungsgrund leicht, der Nichtigkeitsgrund aber nur schwer zu beweisen ist.22 Dies ermöglicht eine genauere Berücksichtigung der konkreten Fallsituation. Andererseits liegt hier eine solche Konstellation verschieden starker Wirkung oder Beweisbarkeit gerade nicht vor, so dass zumindest im konkreten Fall kein Bedürfnis für die Anfechtung des nichtigen Vertrags besteht. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass insbesondere aufgrund der Schutzwürdigkeit des nach § 123 Abs. 1 BGB zur Anfechtung Berechtigten eine generelle Entscheidung für die Anfechtbarkeit des nichtigen Rechtsgeschäfts geboten ist. Demnach ist das Anfechtungsrecht vorliegend anwendbar, so dass der nach § 134 BGB nichtige Arbeitsvertrag noch von B angefochten werden kann. Anmerkung: Hier sind beide Auffassungen gut vertretbar. Die Bearbeiter, die sich für die Anwendbarkeit des Anfechtungsrechts entscheiden, müssen sodann die weiteren Voraussetzungen einer Anfechtung durch B prüfen.

2. Anfechtungserklärung B müsste weiterhin eine wirksame Anfechtungserklärung i.S.v. § 143 BGB abgegeben haben. Die Erklärung muss erkennen lassen, dass die Vertragspartei das Rechtsgeschäft gerade wegen eines Willensmangels nicht gegen sich gelten lassen will.23 Es ist nicht erforderlich, dass das Wort „anfechten“ verwendet wird. Auch in der Rückforderung des Geleisteten kann eine Anfechtungserklärung zu sehen sein.24 Allerdings ist hier fraglich, ob B einen Willensmangel als Grund angibt und den Arbeitsvertrag gerade wegen der Täuschung des A nicht gegen sich gelten lassen will. B erklärt nach Aufdeckung des Schwindels durch K, dass er A nicht mehr in seiner Klinik sehen möchte. Dies begründet er mit der Furcht vor

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Vgl. auch BROX/WALKER, BGB Allg. Teil, Rn. 443. Palandt/ELLENBERGER Überbl v § 104 BGB Rn. 35. BR/WENDTLAND § 142 BGB Rn. 4. Palandt/ELLENBERGER Überbl v § 104 BGB Rn. 35; MüKoBGB/BUSCHE § 142 Rn. 12. BGH 22.9.1983 BGHZ 88, 240, 245. Palandt/ELLENBERGER § 143 BGB Rn. 3.

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Sanktionen, weil er einen nicht approbierten Arzt als Chirurgen beschäftigt, der zudem kein abgeschlossenes Medizinstudium hat. Gegen die Annahme eines Willens des B zur Rückgängigmachung des Arbeitsvertrags gerade aufgrund des Willensmangels spricht auch, dass B nicht die gesamte von ihm erbrachte Leistung zurückfordert, sondern nur einen Teil. Eine wirksame Anfechtungserklärung liegt somit nicht vor. Anmerkung: a.A. ggf. vertretbar. Diejenigen Bearbeiter, die von dem Vorliegen einer wirksamen Anfechtungserklärung ausgehen, müssen die Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB weiterprüfen. Eine vorsätzliche arglistige Täuschung durch A kann problemlos bejaht werden. Die Täuschung war für die Willenserklärung des B, gerichtet auf den Abschluss des Arbeitsvertrages, ursächlich und erfolgte auch widerrechtlich. Ein Anfechtungsgrund liegt damit vor. Weiterhin muss B die Anfechtung innerhalb der Jahresfrist des § 124 Abs. 1 BGB erklärt haben. Dies ist der Fall, da B den Arbeitsvertrag noch am Tag der Aufdeckung der Täuschung anficht, vgl. § 124 Abs. 2 BGB. Somit ist der Arbeitsvertrag gemäß §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB nichtig. Insbesondere sind auch hier die Grundsätze des faktischen Arbeitsverhältnisses nicht anwendbar, so dass keine Ausnahme zur ex-tunc-Wirkung der Nichtigkeitsfolge gemacht werden kann. Die Leistung des Arbeitsentgelts erfolgte damit rechtsgrundlos gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB. Im Rahmen der Rechtsfolge sind wieder dieselben Erwägungen anzustellen wie unter C I 4, so dass auf die Ausführungen dazu verwiesen werden kann. Im Ergebnis besteht somit ein Anspruch des B aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB auf Rückzahlung eines Teils des Entgelts in Höhe von 60.000 Euro.

3. Ergebnis B hat mangels Anfechtungserklärung keinen Anspruch gegen A auf Rückzahlung des teilweisen Arbeitsentgeltes in Höhe von 60.000 Euro aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB wegen Nichtigkeit des Arbeitsvertrags nach §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB. D. Gesamtergebnis Die Klage des B ist zulässig, die formellen Voraussetzungen eines Versäumnisurteils liegen vor und das Vorbringen des B ist schlüssig. Das Versäumnisurteil ist damit rechtmäßig ergangen.

Abwandlung B könnte gegen A gemäß §§ 291, 288 Abs. 2 BGB einen Anspruch auf Zahlung von Zinsen in Höhe von acht Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.10.2010 haben. I. Rechtshängigkeit einer Geldschuld Der Anspruch auf Prozesszinsen setzt nach § 291 S. 1 BGB zunächst voraus, dass A dem B eine Geldschuld schuldet. B macht einen Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB geltend. Demnach fordert er eine Geldschuld ein. Die geltend gemachte Geldschuld müsste gemäß § 291 S. 1 BGB zudem seit dem

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Lösungsvorschlag Fall 5

15.10.2010 rechtshängig sein. Rechtshängigkeit tritt nach § 261 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG im Zeitpunkt der Klageerhebung ein. Die Klage ist nach § 253 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG erhoben, wenn sie dem Beklagten zugestellt wurde. B erhob die Klage am 15.10.2010, so dass ab diesem Zeitpunkt Rechtshängigkeit gegeben ist. II. Entgeltforderung aus einem Rechtsgeschäft gemäß § 288 Abs. 2 BGB Die Höhe des Zinssatzes der Prozesszinsen bestimmt sich gemäß § 291 S. 2 BGB nach den Regelungen über die Verzugszinsen. Für Verzugszinsen bestimmt § 288 Abs. 2 BGB, dass ein Zinssatz von acht Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nur in Betracht kommt, wenn eine Entgeltforderung aus einem Rechtsgeschäft geltend gemacht wird, an dem ein Verbraucher nicht beteiligt ist. Voraussetzung ist damit zunächst, dass die geltend gemachte Forderung eine Entgeltforderung aus einem Rechtsgeschäft darstellt. Dies bedeutet, dass die Forderung das Entgelt für eine vom Gläubiger erbrachte oder zu erbringende Leistung sein muss. Dabei sind die gleichen Grundsätze wie für § 286 Abs. 3 BGB heranzuziehen.25 In erster Linie kommen Kaufpreisforderungen, Werklohnforderungen, Mietforderungen und Vergütungsforderungen aus Dienst- und Arbeitsverträgen als Entgeltforderungen in Betracht. Vorliegend macht B einen Bereicherungsanspruch gerichtet auf Rückzahlung von zuviel geleistetem Arbeitslohn geltend. Fraglich ist daher, ob der bereicherungsrechtliche Rückzahlungsanspruch ebenfalls als Entgeltforderung anzusehen ist. Eine Ansicht beschränkt den Begriff der Entgeltforderung auf Leistungen, die aus einem gegenseitigen Vertrag resultieren, so dass der geltend gemachte Bereicherungsanspruch nicht zu einer Zinspflicht nach § 288 Abs. 2 BGB führen kann.26 Für eine solche Auslegung spricht der Wortlaut des § 288 Abs. 2 BGB. Dieser fordert eine Entgeltforderung, die aus einem Rechtsgeschäft stammt. Die geltend gemachte Forderung stammt aber nicht aus einem Rechtsgeschäft, sondern aus dem gesetzlichen Schuldverhältnis der ungerechtfertigten Bereicherung.27 Danach wäre der von B geltend gemachte bereicherungsrechtliche Rückzahlungsanspruch keine Entgeltforderung i.S.d. § 288 Abs. 2 BGB. Nach der Gegenansicht sind bereicherungsrechtliche Rückgewähransprüche, die auf einer Leistungskondiktion beruhen, als Entgeltforderungen anzusehen. Dafür wird angeführt, dass § 357 Abs. 1 S. 2 BGB die entsprechende Anwendung von § 286 Abs. 3 BGB auch für Rückzahlungsansprüche nach Widerruf anordnet, was dahingehend verstanden werden könne, dass die Anwendung von § 286 Abs. 3 BGB, und damit die Einordnung des Rückzahlungsanspruchs als Entgeltforderung, vorausgesetzt und lediglich der Fristbeginn gesondert festgelegt wird.28 Unter Zugrundelegung dieser Auffassung wäre der Bereicherungsanspruch des B aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB als Entgeltforderung gemäß § 288 Abs. 2 BGB anzusehen.

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Palandt/GRÜNEBERG § 288 BGB Rn. 8; Staudinger/LÖWISCH § 288 BGB Rn. 17. MüKoBGB/ERNST § 286 Rn. 75. BAG 3.11.2004 AP BGB § 134 Nr. 25. STAUDINGER/LÖWISCH § 286 BGB Rn. 96.

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Lösungsvorschlag

„Der Hochstapler“

Für die erstgenannte Ansicht und damit gegen die Anwendbarkeit des § 288 Abs. 2 BGB spricht der gesetzgeberische Wille und europarechtliche Hintergrund der Vorschrift. Demnach sollte der höhere Zinssatz nur bei Rechtsgeschäften im Geschäftsverkehr i.S.v. Art. 2 der RL 2000/35/EG anwendbar sein, also bei Geschäftsvorgängen zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen und gerade nicht im Rahmen von Arbeitsverträgen. Sie sind nach dieser Auffassung keine Rechtsgeschäfte i.S.v. § 288 Abs. 2 BGB.29 Als Argument für die Gegenansicht kann herangezogen werden, dass zum Teil die entsprechende Anwendbarkeit des § 288 Abs. 2 BGB auf einen bereicherungsrechtlichen Anspruch bejaht wird, wenn dieser „ein Äquivalent für die erbrachte Leistung darstellt“.30 Diese Aussage kann dahingehend verstanden werden, dass das der Rückabwicklung zugrundeliegende Rechtsverhältnis ein gegenseitiger Vertrag gewesen sein muss. Liegt ein auf einer Leistungskondiktion beruhender bereicherungsrechtlicher Anspruch vor, ist demnach eine Entgeltforderung gegeben. Anmerkung: Man könnte diese Aussage aber auch dahingehend verstehen, dass der bereicherungsrechtliche Anspruch erstmaliges Äquivalent sein soll. Dies käme bei einer Nichtleistungskondiktion in Betracht. Wenn der bereicherungsrechtliche Anspruch auf einer Eingriffskondiktion beruht, könnte der Zahlungsanspruch als Äquivalent für den rechtswidrigen Eingriff angesehen werden.

Für eine solche Auslegung ist auch anzuführen, dass der bereicherungsrechtliche Anspruch letztlich das Spiegelbild der Leistungsgewährung darstellt. Wenn aber die Gewährung der Leistung als Entgeltforderung anzusehen ist, spricht vieles dafür, auch die Rückforderung als Entgeltforderung zu betrachten. Auch die Rückforderung beruht letztlich auf dem vorherigen Rechtsgeschäft. Die besseren Argumente sprechen für die Einordnung des bereicherungsrechtlichen Rückgewähranspruchs als Entgeltforderung. Folglich ist für den von B geltend gemachten Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB der Anwendungsbereich des § 288 Abs. 2 BGB eröffnet. Anmerkung: a.A. mit entsprechender Begründung vertretbar.

III. Kein Ausschluss wegen Beteiligung eines Verbrauchers Des Weiteren setzt § 288 Abs. 2 BGB voraus, dass an dem der Entgeltforderung zugrunde liegenden Rechtsgeschäft ein Verbraucher nicht beteiligt ist. Gemäß § 13 BGB ist Verbraucher jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zwecke abschließt, der nicht ihrer gewerblichen oder selbstständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Fraglich ist, ob auch Arbeitnehmer als Verbraucher anzusehen sind, so dass für Entgeltforderungen aus dem Arbeitsverhältnis der höhere Zinssatz des § 288 Abs. 2 BGB keine Anwendung fände. Die Beurteilung dieser Frage ist streitig. Zum Teil wird in der Literatur zwischen dem relativen und dem absoluten Verbraucherbegriff unterschieden. Nach dem absoluten Verbraucherbegriff ist jede Verbraucherschutznorm im Arbeitsverhältnis anwendbar. Die Vertreter des rela-

29 BAG 23.2.2005 AP InsO § 55 Nr. 9. 30 PALANDT/GRÜNEBERG § 286 BGB Rn. 27 und ERMAN/HAGER § 286 BGB Rn. 52.

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„Der Hochstapler“

Lösungsvorschlag Fall 5

tiven Verbraucherbegriffs verfolgen hingegen eine differenzierte Betrachtungsweise und bejahen die Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers nur, wenn es sich um Vertragsschlüsse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer außerhalb des Arbeitsvertrages handelt.31 Nach dem relativen Verbraucherbegriff wäre demnach der Arbeitnehmer in diesem Fall nicht als Verbraucher anzusehen, da es sich hier um einen Anspruch handelt, der in direktem Zusammenhang mit dem Arbeitsvertrag steht. Gegen diese Differenzierung spricht jedoch, dass sie in Bezug auf § 13 BGB keine weiteren Erkenntnisse liefert. Denn viele Vertreter des absoluten Begriffs wenden bestimmte Verbraucherschutznormen im Arbeitsvertragsrecht nicht an, und umgekehrt ziehen Vertreter des relativen Verbraucherbegriffs bestimmte Verbraucherschutznormen dennoch „analog“ im Arbeitsrecht heran. Die grundlegende Entscheidung, ob der Arbeitnehmer Verbraucher ist oder nicht, muss aber bei § 13 BGB ansetzen.32 Lehnt man demnach die Differenzierung zwischen absolutem und relativem Verbraucherbegriff ab, so stellt sich die Frage, ob der Arbeitnehmer Verbraucher gemäß § 13 BGB ist oder nicht. Nach einer Ansicht ist der Arbeitnehmer als Verbraucher anzusehen.33 Dies wird damit begründet, dass die Voraussetzungen des § 13 BGB für den Arbeitnehmer als Prototyp des Unselbstständigen erfüllt seien, wobei der Wortlaut des § 13 BGB keineswegs eine konsumtive Komponente beinhalte. Nach dieser Ansicht wäre A Verbraucher und demnach § 288 Abs. 2 BGB nicht einschlägig. Die Gegenauffassung verneint die Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers.34 Zur Begründung wird angeführt, dass der Verbraucherbegriff bereits von seinem Wortsinngehalt her den privaten Verbrauch von Sach- oder Dienstleistungen voraussetze, Arbeitnehmer aber keinen derartigen konsumtiven Zweck verfolgten. Danach wäre A nicht als Verbraucher anzusehen, so dass der Anwendungsbereich des § 288 Abs. 2 BGB an sich eröffnet wäre. Jedoch sind nach dieser Ansicht im Rahmen des § 288 Abs. 2 BGB der gesetzgeberische Wille und europarechtliche Hintergrund der Vorschrift zu berücksichtigen. Nach dem gesetzgeberischen Willen sollte der höhere Zinssatz allerdings nur bei Rechtsgeschäften im Geschäftsverkehr i.S.v. Art. 2 der Richtlinie 2000/35/EG anwendbar sein, also bei Geschäftsvorgängen zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen und gerade nicht im Rahmen von Arbeitsverträgen. § 288 Abs. 2 BGB sei daher dahingehend teleologisch zu reduzieren.35 Danach könnte B nicht gemäß § 288 Abs. 2 BGB den erhöhten Zinssatz von acht Prozentpunkten über dem Basiszinssatz verlangen. Da die unterschiedlichen Auffassungen mit der Unanwendbarkeit des § 288 Abs. 2 BGB im Arbeitsverhältnis zu dem gleichen Ergebnis gelangen, kann eine

31 S. zusammenfassend zum Streitstand PREIS, Individualarbeitsrecht, § 8 IV. 32 PREIS, Individualarbeitsrecht, § 8 IV. 33 In Bezug auf § 310 BGB ausdrücklich BAG 31.8.2005 AuA 2005, 615; BAG 25.5.2005 AP BGB § 310 Nr. 1; ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 182; BOEMKE BB 2002, 96, 97; DÄUBLER NZA 2001, 1329, 1333 f. Die Frage nach der Verbrauchereigenschaft von Arbeitnehmern im Kontext des § 288 Abs. 2 BGB allerdings noch offen lassend BAG 23.2.2005 AP InsO § 55 Nr. 9. 34 HENSSLER RdA 2002, 129, 133 f.; ANNUSS NJW 2002, 2844 ff. 35 BAG 23.2.2005 AP InsO § 55 Nr. 9.

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Fall 5

Lösungsvorschlag

„Der Hochstapler“

Entscheidung des Streites bezüglich der Frage der Verbrauchereigenschaft von Arbeitnehmern an dieser Stelle unterbleiben. Anmerkung: Für den Fall, dass die Frage der Verbrauchereigenschaft entscheidungserheblich ist (wie etwa unten im Fall 7 „Loch in der Kasse“), könnte wie folgt argumentiert werden: Zwar legt der weite Wortlaut der §§ 13, 14 BGB, wonach jeder Vertragspartner entweder Unternehmer oder Verbraucher ist, eine einschränkende Auslegung nahe. Für die die Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers bejahende Auffassung sprechen hingegen die besseren Argumente. § 13 BGB verlangt nach seinem Wortlaut nur, dass eine natürliche Person ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, das weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbstständigen beruflichen Tätigkeit zuzurechnen ist. Die unselbstständige berufliche Tätigkeit ist damit erfasst. Aus systematischen Gesichtspunkten ist diese Norm für die Auslegung des Verbraucherbegriffs in den übrigen Vorschriften des BGB maßgeblich, da sie im allgemeinen Teil verankert und somit vor die Klammer gezogen ist. Dies spricht dafür, den Arbeitnehmer allgemein als Verbraucher anzusehen und erst im Rahmen speziellerer Vorschriften arbeitsrechtliche Besonderheiten zu berücksichtigen. Systematisch ergibt sich auch aus § 491 Abs. 2 Nr. 4 BGB, dass der Gesetzgeber den Arbeitnehmer prinzipiell als Verbraucher ansieht. Denn dort wird ein Darlehensvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Verbraucherdarlehensvertrag bezeichnet und lediglich angeordnet, dass auf diese spezielle Form des Verbraucherdarlehensvertrags die nachfolgenden Schutzvorschriften keine Anwendung finden. Zudem folgt aus einer teleologischen Auslegung, dass der Verbraucherbegriff bewusst weit gefasst ist, wobei sich nur die nicht zu selbstständigen Erwerbszwecken tätige natürliche Person einerseits und der Unternehmer andererseits gegenüberstehen. Der Verbraucher ist danach das Schutzobjekt schlechthin. Dies muss auch für den Arbeitnehmer gelten, der als der klassisch unselbstständig Handelnde eher noch schutzwürdiger ist als der „Nur-Verbraucher“, weil letzterer auch auf den Vertragsabschluss (zum Beispiel als Zeitungsabonnement) verzichten könnte, während der Arbeitnehmer als unselbstständig Handelnder darauf angewiesen ist. Somit ist der Arbeitnehmer als Verbraucher anzusehen (a.A. mit entsprechender Begründung vertretbar).

IV. Ergebnis B hat keinen Anspruch gegen A gemäß §§ 291, 288 Abs. 2 BGB auf Zahlung von Zinsen i.H.v. acht Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.10.2010, sondern nach §§ 291, 288 Abs. 1 S. 2 BGB i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz.

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„Leere Versprechungen“

Falldarstellung

Fall 6

Fall 6: „Leere Versprechungen“ Falldarstellung Ausgangsfall Die 54-jährige Sieglinde Siemes ist als Sekretärin bei einer Spedition beschäftigt, bei der sie monatlich 1.700 Euro verdient. Als sie eines Tages den Umzug der Südstern GmbH in die Stadt T zu organisieren hat, lernt sie u.a. den Leiter der dortigen Personalabteilung, den Prokuristen Herrn Weinmann, kennen. Dieser ist von der Umsicht und Sorgfalt von Frau Siemes angetan und bietet ihr, da er selbst gerade eine Sekretärin sucht, eine entsprechende Stellung an. Frau Siemes, die schon seit über zehn Jahren bei der Spedition beschäftigt und Mitglied des dortigen Betriebsrats ist, ist jedoch zunächst nicht dazu zu bewegen, die Stelle zu wechseln. Erst als ihr Herr Weinmann zusagt, dass sie 300 Euro mehr verdienen werde als bislang und es sich bei dem Job um eine „Lebensstellung“ handele, kündigt sie bei der Spedition und tritt am 1.9. ihre neue Arbeit bei der Südstern GmbH an. Frau Siemes erledigt die ihr übertragenen Aufgaben zur allgemeinen Zufriedenheit. Weil Herr Weinmann jedoch alsbald feststellt, dass er lieber eine jüngere Sekretärin hätte, kündigt ihr die Südstern GmbH mit Schreiben vom 22.12., das ihr am 24.12. zugeht, ordentlich zum 31.1. des Folgejahres. Allerdings wird in dem Kündigungsschreiben kein Grund angegeben, schon gar nicht das Alter der Frau Siemes. Der zuvor ordnungsgemäß angehörte Betriebsrat hatte von einer Stellungnahme abgesehen. Die von der Kündigung völlig überraschte Frau Siemes erhebt am 5.1. Klage vor dem zuständigen Arbeitsgericht in T mit dem Antrag, die Unwirksamkeit der Kündigung festzustellen. Nach ihrem Ausscheiden bei der Südstern GmbH hat Frau Siemes trotz ihrer hervorragenden Qualifikation auf Grund ihres Alters erhebliche Schwierigkeiten, eine neue Anstellung zu finden. Erst nach zweimonatiger Arbeitslosigkeit findet sie zum 1.4. eine neue Beschäftigung bei der Westhandel AG. Aus Sorge, im Kündigungsrechtsstreit zu unterliegen, erweitert sie ihre Klage um den Hilfsantrag, die Beklagte zur Zahlung von 4.000 Euro Schadensersatz für den Lohnausfall in den Monaten Februar und März zu verurteilen. Zur Begründung trägt sie u.a. vor, sie hätte angesichts der Umstände bei der Vertragsanbahnung darauf vertrauen dürfen, dass ihr nicht so einfach gekündigt werde. Dieses Vertrauen sei – falls die Kündigung wirksam sei – in einer zum Schadensersatz verpflichtenden Weise enttäuscht worden. Frage: Wie wird das Arbeitsgericht entscheiden?

Abwandlung Frau Siemes verzichtet auf die Erhebung der Kündigungsschutzklage, weil sie kein Interesse mehr an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit der Südstern GmbH hat. Sie bemüht sich in der Folgezeit um einen anderen Arbeitsplatz. In den ersten Wochen bleibt sie erfolglos, sie wird nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Im März entdeckt sie eine Stellenanzeige der West-

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Fall 6

Lösungsskizze

„Leere Versprechungen“

handel AG und wird dort vorstellig. Nach dem Einstellungsgespräch am 25.3. teilt ihr der Personalchef mit, dass angesichts ihrer hervorragenden Zeugnisse – Frau Siemes hatte von der Südstern GmbH ein Zeugnis erhalten, in dem sie als außerordentlich begabte, verlässliche und beliebte Mitarbeiterin bezeichnet wird – „nur noch einige Formalitäten“ erledigt werden müssten, bevor man ihr den unterschriftsreifen Arbeitsvertrag in einigen Tagen übersenden werde, damit sie gleich zum 1.4. anfangen könne. In dem Gespräch einigten sich der Personalchef und Frau Siemes bereits auf ein monatliches Gehalt in Höhe von 2.000 Euro. Nachdem Frau Siemes das Büro verlassen hat, ruft der Personalchef der Westhandel AG Herrn Weinmann an und befragt diesen über die Leistungen und Führungen von Frau Siemes während ihrer Tätigkeit bei der Südstern GmbH. Herr Weinmann antwortet, bei Frau Siemes handele es sich um eine „alte Schlampe, die nicht einmal vernünftig Kaffee kochen könne“. Daraufhin teilt die Westhandel AG Frau Siemes mit, dass der in Aussicht gestellte Arbeitsvertrag doch nicht geschlossen werden könne, man habe sich für eine andere Bewerberin entschieden. Frau Siemes bleibt einen weiteren Monat bis zum 1.5. arbeitslos. Anfang Mai wird sie dann von einem kleinen Reinigungsunternehmen als Sekretärin angestellt, jedoch nur zu einem Monatslohn von 1.500 Euro. Daraufhin erhebt Frau Siemes im Juli vor dem Arbeitsgericht in T gegen die Südstern GmbH Klage auf Schadensersatz in Höhe des Lohnausfalls für die Monate Februar bis April (6.000 Euro) und der Entgeltdifferenz für die Monate Mai und Juni (1.000 Euro), insgesamt also 7.000 Euro. Frage: Wie wird das Arbeitsgericht über die geltend gemachten Ansprüche entscheiden?

Ü

Rechtsfragen: –

Erhebung der Kündigungsschutzklage und Anwendbarkeit von § 4 KSchG



Ausschluss des Kündigungsrechts



Unwirksamkeit der Kündigung wegen AGG



Beweislast des § 22 AGG



Zugang der Kündigung am 24.12.; § 242 BGB



§ 628 Abs. 2 BGB



Schadensersatz bei vorvertraglicher Pflichtverletzung; Verdienstausfall



Negatives und positives Interesse bei der Schadensberechnung



Kausalitätsunterbrechung des Schadensersatzanspruchs bei Abschluss eines neuen Arbeitverhältnisses („Endloshaftung“)?

Lösungsskizze Ausgangsfall A. Hauptantrag: Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung I. Zulässigkeit 1. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG)

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„Leere Versprechungen“

Lösungsskizze Fall 6

2. Instanzielle Zuständigkeit (§ 8 Abs. 1 ArbGG) 3. Örtliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts in T (§ 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 17 Abs. 1 ZPO) 4. Parteifähigkeit (§ 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 50 Abs. 1 ZPO) Rechtsfähigkeit der S und der Südstern-GmbH (vgl. § 13 Abs. 1 GmbHG) 5. Prozessfähigkeit (§ 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 52 ZPO) Geschäftsfähigkeit der S; Vertretung der Südstern-GmbH durch ihren Geschäftsführer (vgl. § 35 Abs. 1 GmbHG) 6. Postulationsfähigkeit kein Anwaltszwang vor dem Arbeitsgericht (§ 11 Abs. 1 S. 1 ArbGG) 7. Klageart Kündigungsschutzklage ist richtige Klageart. 8. Feststellungsinteresse, § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, §§ 495, 256 Abs. 1 ZPO 9. Ordnungsgemäße Klageerhebung Form (§ 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 253 ZPO) 10. Zwischenergebnis Klage zulässig II. Begründetheit 1. Vertraglicher Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung? a) Kein Arbeitsverhältnis auf Lebenszeit i.S.d. § 15 Abs. 4 TzBfG durch Zusage einer „Lebensstellung“ b) Kein zeitweiliger Ausschluss des ordentlichen Kündigungsrechts durch Zusage einer „Lebensstellung“ 2. Wirksame Kündigungserklärung Allgemeine Wirksamkeitsvoraussetzungen, §§ 104 ff. BGB, Einhalten der Schriftform, § 623 BGB 3. Einhalten der materiellen Präklusionsfrist (§§ 4, 7 KSchG) 4. Verstoß gegen allgemeine Unwirksamkeitsgründe a) Verstoß gegen Treu und Glauben gemäß § 242 BGB aa) Keine Unwirksamkeit wegen Zugangs der Kündigung am 24.12. bb) Keine Unwirksamkeit unter dem Gesichtspunkt des „venire contra factum proprium“ durch Kündigung nach Zusage einer „Lebensstellung“ b) Verstoß gegen AGG Problem der Anwendbarkeit des AGG bei Kündigungssachverhalten. Da Benachteiligung aber nicht zu beweisen ist, ohnehin Scheitern an § 22 AGG, so dass Streitentscheidung entbehrlich

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Fall 6

Lösungsskizze

„Leere Versprechungen“

c) Verstoß gegen § 138 BGB Scheitert ebenfalls daran, dass Kündigung wegen des Alters nicht bewiesen werden kann. 5. Anhörung des Betriebsrats, § 102 BetrVG 6. Kein Kündigungsschutz nach dem KSchG (s.o.) 7. Zwischenergebnis Wirksamkeit der Kündigung 8. Einhaltung der Kündigungsfrist, § 622 Abs. 1 BGB III. Ergebnis Hauptantrag zulässig, aber unbegründet B. Hilfsantrag (Eventualklage): Schadensersatz I. Zulässigkeit 1. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. c ArbGG) 2. Klageart Leistungsklage 3. Ordnungsmäßigkeit der Klageerhebung a) Form (§ 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 253 ZPO) b) Bedingungsfeindlichkeit Erfolglosigkeit des Hauptantrages als innerprozessuale Bedingung zulässig 4. Zwischenergebnis Klage zulässig II. Verbindungsvoraussetzungen für die beiden Klagen, § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, §§ 495, 260 ZPO III. Begründetheit 1. Schadensersatzanspruch aus §§ 15 Abs. 1, 7 Abs. 1, 1 AGG 2. Schadensersatzanspruch aus § 628 Abs. 2 BGB a) Anwendbarkeit von § 628 Abs. 2 BGB: auch bei fristgerechter Beendigung des Arbeitsverhältnisses anwendbar b) Kein schuldhaftes, vertragswidriges Verhalten der Südstern-GmbH c) Zwischenergebnis Kein Schadensersatzanspruch aus § 628 Abs. 2 BGB 3. Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 i.V.m. 241 Abs. 2 BGB a) Anwendbarkeit Regelungen auch anwendbar, wenn schädigende Auswirkungen der vorvertraglichen Pflichtverletzung erst nach Vertragsschluss eintreten

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Lösungsskizze Fall 6

b) Schuldverhältnis c) Schuldhafte Pflichtverletzung Er hat S durch Zusage einer „Lebensstellung“ zur Kündigung ihres bisherigen Arbeitsverhältnisses veranlasst, ohne ihr eine entsprechende Arbeitsplatzsicherheit zu bieten. d) Zurechenbarkeit zur Südstern-GmbH gemäß § 123 Abs. 2 BGB e) Haftungsbegründende Kausalität Pflichtverletzung → Schaden f) Zwischenergebnis Anspruch im Grunde gegeben g) Rechtsfolge: Schadensersatz, §§ 249 ff. BGB aa) Schaden (1) Schadensart Vertrauensschaden, nicht Erfüllungsschaden ist zu ersetzen (2) Schadensermittlung nach Differenzhypothese 3.400 Euro bb) Haftungsausfüllende Kausalität IV. Ergebnis Hilfsantrag in Höhe von 3.400 Euro begründet, i.Ü. unbegründet

Abwandlung A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. c ArbGG) II. Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor III. Zwischenergebnis Klage zulässig B. Begründetheit I. Anspruch auf Schadensersatz für die Monate Februar und März aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 i.V.m. 311 Abs. 2 BGB II. Anspruch auf Schadensersatz für die Monate April bis Juni 1. Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB wegen Verletzung der nachvertraglichen Fürsorgepflicht a) Verletzung einer nachvertraglichen Nebenpflicht durch W aa) BAG: Auskünfte an neuen Arbeitgeber auch gegen den Willen des Arbeitnehmers

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Fall 6

Lösungsskizze

„Leere Versprechungen“

bb) Str., eigenständige oder nur zeugnisergänzende Auskünfte cc) Zwischenergebnis: Wahrheitswidrige und ehrverletzende Aussagen jedenfalls unzulässig, sodass Nebenpflichtverletzung vorliegt. b) Schuldhafte Pflichtverletzung des W (§ 276 BGB) c) Zurechenbarkeit zur Südstern-GmbH gemäß § 278 BGB d) Zwischenergebnis Anspruch gegeben 2. Schadensersatzanspruch aus § 831 BGB a) W ist Verrichtungsgehilfe der Südstern-GmbH b) Schadensverursachung bei Ausführung der Verrichtung c) Widerrechtliche Schadenszufügung durch W aa) § 823 Abs. 1 BGB (1) Verletzung eines in § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsguts: Ehre der S (2) Rechtswidrigkeit, da keine Rechtfertigungsgründe (3) Zwischenergebnis Verstoß gegen § 823 Abs. 1 BGB liegt vor. bb) § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 185 StGB: Beleidigung durch Bezeichnung als „alte Schlampe“ cc) § 826 BGB erfüllt dd) § 824 BGB mangels Tatsachenbehauptung nicht erfüllt d) Keine Exkulpation der Südstern-GmbH gemäß § 831 Abs. 1 S. 2 BGB, da kein entsprechender Vortrag im Prozess e) Zwischenergebnis Anspruch aus § 831 BGB gegeben 3. Rechtsfolge: Schadensersatz gemäß §§ 249 ff. BGB a) Schadensart Monat April: Einkommenseinbuße von 1.700 Euro b) Schadensermittlung Monate Mai und Juni aa) Schadensermittlung Einkommenseinbuße von je 200 Euro bb) Haftungsausfüllende Kausalität

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Lösungsvorschlag Fall 6

Problem: Kausalität durchbrochen durch Abschluss des neuen Arbeitsvertrages mit dem Reinigungsunternehmen? Keine Kausalität in Bezug auf Ansprüche aus § 280 Abs. 1 BGB und § 831 BGB wegen der inkriminierenden Äußerungen gegenüber der Westhandel AG Kausalität nicht durchbrochen in Bezug auf Anspruch aus § 280 Abs. 1 BGB wegen Abwerbung unter Täuschung über Arbeitsplatzsicherheit („Endloshaftung?“) III. Ergebnis Klage in Höhe von 6.400 Euro begründet, i.Ü. unbegründet

Lösungsvorschlag Ausgangsfall Frau Siemes Klagen haben Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet sind. A. Hauptantrag I. Zulässigkeit Die Klage von Frau Siemes ist zulässig, wenn die folgenden Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen: 1. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit Die Zulässigkeit der Klage setzt zunächst voraus, dass der Rechtsstreit in die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit fällt. Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist hier gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG eröffnet, da eine Streitigkeit zwischen einer Arbeitnehmerin und einem Arbeitgeber über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses vorliegt. 2. Instanzielle Zuständigkeit Frau Siemes hat die Klage beim Arbeitsgericht erhoben. Gemäß § 8 Abs. 1 ArbGG sind die Arbeitsgerichte für Verfahren im ersten Rechtszug zuständig, so dass die instanzielle Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gegeben ist. 3. Örtliche Zuständigkeit Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG gelten für die örtliche Zuständigkeit neben dem besonderen Gerichtsstand des § 48 Abs. 1a ArbGG die Bestimmungen der ZPO hinsichtlich des Gerichtsstandes. Gemäß § 17 Abs. 1 ZPO wird der allgemeine Gerichtsstand einer Gesellschaft durch ihren Sitz bestimmt. Für eine gegen die Südstern GmbH gerichtete Klage ist daher das für die Stadt T zuständige Arbeitsgericht anzurufen. Da Frau Siemes die Klage beim Arbeitsgericht in T erhoben hat, ist die Klage beim örtlich zuständigen Gericht erhoben.

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Fall 6

Lösungsvorschlag

„Leere Versprechungen“

4. Parteifähigkeit Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 50 Abs. 1 ZPO ist parteifähig, wer rechtsfähig ist. Sowohl Frau Siemes als natürliche Person als auch die Südstern GmbH (vgl. § 13 Abs. 1 GmbHG) sind rechtsfähig und damit parteifähig. 5. Prozessfähigkeit Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 52 ZPO richtet sich die Prozessfähigkeit natürlicher Personen nach ihrer Geschäftsfähigkeit. Diese steht bei Frau Siemes außer Zweifel. Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 51 Abs. 1 ZPO, § 35 Abs. 1 GmbHG muss die Südstern GmbH im Prozess durch ihren Geschäftsführer vertreten werden. 6. Postulationsfähigkeit Gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 ArbGG besteht in einem erstinstanzlichen Verfahren kein Anwaltszwang. 7. Klageart Die Frage, welche Klageart die richtige ist, richtet sich nach dem Begehren des Klägers. Wendet sich der Kläger gegen eine Kündigung, kommt hierfür entweder die Kündigungsschutzklage i.S.d. § 4 S. 1 KSchG oder eine allgemeine Feststellungsklage gemäß § 256 Abs. 1 ZPO in Betracht. Fraglich ist, ob § 4 KSchG in diesem Fall anwendbar ist. Seit der am 1.1.2004 in Kraft getretenen Reform des KSchG gilt § 4 S. 1 KSchG für ordentliche wie für außerordentliche Kündigungen unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer geltend macht, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist oder aus anderen Gründen unwirksam ist. Die Vorschrift gilt ferner auch in Kleinbetrieben, § 23 Abs. 1 S. 2, S. 3 KSchG. Problematisch könnte hier sein, dass noch nicht die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG erfüllt ist, da Frau Siemes Beschäftigung bei der Südstern GmbH zum Zeitpunkt der Kündigung keine sechs Monate bestanden hat. Gesetzlich ist die Entbehrlichkeit dieser Vorgabe im Gegensatz zum Schwellenwert nicht ausdrücklich vorgesehen. Aus dem erkennbaren Gesetzgeberwillen geht dennoch hervor, dass auch die Wartefrist des § 1 Abs. 1 KSchG nicht Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 4 KSchG sein soll. Der Gesetzgeber wollte § 4 KSchG unabhängig von der Anwendbarkeit des KSchG zur Anwendung kommen lassen. Im Gesetz kommt dies unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass die Klage auch auf andere Unwirksamkeitsgründe als das Fehlen der sozialen Rechtfertigung gestützt werden kann und auch die Schwellenwerte des KSchG nicht erreicht werden müssen. Ziel des Gesetzgebers war es, eine einheitliche Klagefrist für den Fall einzuführen, dass die Wirksamkeit einer Kündigung angegriffen wird. Der Erfüllung der Wartezeit ist somit nicht für die Anwendbarkeit des § 4 S. 1 KSchG erforderlich.1 Frau Siemes stellt den Antrag, festzustellen, dass die Kündigung unwirksam ist. § 4 KSchG ist damit auch in diesem Fall anwendbar.

1 So auch BAG 28.6.2007 AP KSchG 1969 § 4 Nr. 61.

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„Leere Versprechungen“

Lösungsvorschlag Fall 6

§ 4 S. 1 KSchG verdrängt als speziellere Vorschrift die allgemeine Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO. Demnach ist die richtige Klageart die Kündigungsschutzklage gemäß § 4 S. 1 KSchG. 8. Feststellungsinteresse Die Darlegung eines besonderen Feststellungsinteresses ist im Gegensatz zur allgemeinen Feststellungsklage für die Kündigungsschutzklage nicht erforderlich. Das Feststellungsinteresse ergibt sich bereits aus der Regelung des § 7 KSchG, nach dem die Kündigung von Anfang an als wirksam gilt, wenn die Unwirksamkeit der Kündigung nicht rechtzeitig geltend gemacht wird.2 9. Ordnungsgemäße Klageerhebung Die Form, insbesondere der notwendige Inhalt der beim Arbeitsgericht zur Klageerhebung einzureichenden Klageschrift, ergibt sich aus § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 253 ZPO. Es ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. 10. Zwischenergebnis Die Kündigungsschutzklage ist zulässig. II. Begründetheit Die Klage ist begründet, wenn die Kündigung unwirksam ist. Das ist der Fall, wenn die Südstern GmbH ihr Kündigungsrecht ausgeschlossen hat oder die Kündigung gegen die allgemeinen Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer Kündigungserklärung verstößt. 1. Vertraglicher Ausschluss des Kündigungsrechts? a) Arbeitsverhältnis für die Lebenszeit i.S.d. § 15 Abs. 4 TzBfG Fraglich ist, ob Frau Siemes mit der Südstern GmbH ein Arbeitsverhältnis für die Lebenszeit i.S.v. § 15 Abs. 4 TzBfG geschlossen hat, da Herr Weinmann ihr eine „Lebensstellung“ anbot. Bei einer Lebenszeitvereinbarung endet das Arbeitsverhältnis erst mit dem Tod, das arbeitgeberseitige Recht zur ordentlichen Kündigung wird ausgeschlossen, während das Arbeitsverhältnis vom Arbeitnehmer nach Ablauf von fünf Jahren mit sechsmonatiger Kündigungsfrist gekündigt werden kann. An die Anstellung auf Lebenszeit sind jedoch wegen ihrer weitgreifenden Folgen strenge Anforderungen zu stellen. Es entspricht in der Regel nicht dem Parteiwillen, insbesondere bei der Neubegründung des Arbeitsverhältnisses, sich auf Lebenszeit vollständig und unter Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung zu binden.3 Im vorliegenden Fall kann deshalb nicht allein aus der Äußerung von Herrn Weinmann, es handele sich um eine Lebensstellung, auf einen Vertragsschluss auf Lebenszeit i.S.v. § 15 Abs. 4 TzBfG geschlossen werden. 2 BAG 11.2.1981 AP KSchG 1969 § 4 Nr. 8. 3 HUECK/NIPPERDEY I, S. 566; ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 15 TzBfG Rn. 18; vgl. aber RAG 16.12.1936 ARS 28, 332, 334; BAG 12.10.1954 AP RegelungsG § 52 Nr. 1; BAG 2.11.1978 AP BGB § 626 Nr. 3.

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Fall 6

Lösungsvorschlag

„Leere Versprechungen“

b) Einzelvertraglicher Ausschluss des ordentlichen Kündigungsrechts Weiter ist zu überlegen, ob in der Zusage einer „Lebensstellung“ der Ausschluss der ordentlichen Kündigung für eine bestimmte Zeit4 zu sehen ist. Dagegen spricht jedoch, dass ein Arbeitsverhältnis im Normalfall ohnehin auf Dauer angelegt ist, wenn keine störenden Ereignisse dazwischentreten. Das Angebot von Herrn Weinmann erreicht deshalb nicht die Qualität einer vertraglichen Kündigungsbeschränkung, sondern erschöpft sich in einer bloßen Anpreisung des Arbeitsplatzes.5 Anmerkung: Abweichende Auslegung der Zusage bei entsprechender Begründung möglich.

2. Wirksame Kündigungserklärung Die Wirksamkeit der Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen. Für eine derartige Unwirksamkeit gibt der Sachverhalt keine Anhaltspunkte. Die Kündigung ist Frau Siemes auch zugegangen, § 130 BGB. Nach § 623 BGB bedarf die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zu ihrer Wirksamkeit darüber hinaus der Schriftform. Die Südstern GmbH hat mit ihrem Kündigungsschreiben dieses Formerfordernis gewahrt. 3. Einhalten der materiellen Präklusionsfrist (§§ 4, 7 KSchG) Gemäß § 4 S. 1 KSchG muss die Kündigungsschutzklage innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung erhoben werden. Andernfalls kann die Kündigung gemäß § 7 KSchG unter Umständen trotz Eingreifens etwaiger Unwirksamkeitsgründe als von Anfang an rechtswirksam gelten. Frau Siemes hat jedoch die Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG ohnehin eingehalten, indem sie bereits am 5.1. die Klage beim zuständigen Arbeitsgericht nach Zugang der Kündigung am 24.12. erhoben hat. Anmerkung: Zur Vertiefung: Die Frage, auf welche Unwirksamkeitsgründe die materielle Präklusion anwendbar ist, kann mitunter problematisch sein. Die Geltendmachung der fehlenden Schriftform (§ 623 BGB) ist jedenfalls nicht an die Klagefrist gebunden. § 4 KSchG spricht davon, dass Klage erhoben werden muss innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung. Ohne wirksame Kündigungserklärung liegt daher schon gar kein Anknüpfungspunkt für den Fristbeginn vor. Auch wenn der Arbeitnehmer lediglich die Kündigungsfrist für falsch bemessen hält und nicht gegen die Auflösung des Arbeitsverhältnisses an sich vorgeht, ist dies kein „anderer Grund“ i.S.d. § 4 S. 1 KSchG. Denn die unzutreffende Berechnung der Frist macht die ordentliche Kündigung nicht insgesamt unwirksam. Sie soll lediglich zu einem anderen Zeitpunkt wirken, so dass schon der Wortlaut des § 4 KSchG, der von „Auflösung“ spricht, nicht passt. Streitig ist die Einhaltung der Präklusionsfrist für die Geltendmachung von Rechtsmängeln, die der Kündigungserklärung selbst anhaf4 RAG 15.9.1937 ARS 31, 78, 81; BAG 7.11.1968 AP HGB § 66 Nr. 3. 5 Vgl. PREIS, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen, S. 370; BAG 12.12.1957 AP BGB § 276 Verschulden bei Vertragsschluss Nr. 2.

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ten, so die Geschäftsunfähigkeit des Kündigenden, Willensmängel, fehlende Kündigungsberechtigung und andere fehlende Vertretungsvoraussetzungen, vgl. hierzu ausführlich PREIS, Individualarbeitsrecht, § 57 II.

4. Verstoß gegen allgemeine Unwirksamkeitsgründe a) Verstoß gegen Treu und Glauben gemäß § 242 BGB Die Kündigung könnte jedoch wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben unwirksam sein. aa) Unwirksamkeit wegen „Ungehörigkeit“ Fraglich ist, ob die Kündigung wegen ihres Zugangs am 24.12. „ungehörig“ und deshalb wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben unwirksam ist, § 242 BGB. Der Grundsatz von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente inhaltliche Begrenzung. Problematisch ist, ob sich aus § 242 BGB die Unwirksamkeit einer nach ihren Begleitumständen, insbesondere ihres Zugangszeitpunkts, ungehörigen Kündigung herleiten lässt. Das BAG6 hat dies ausdrücklich offen gelassen. Selbst wenn man eine derartige Unwirksamkeitsmöglichkeit unterstellt, kann dafür jedoch nicht allein der Zugangszeitpunkt entscheidend sein. Hinzukommen muss eine Beeinträchtigung berechtigter Interessen des Erklärungsempfängers, insbesondere der Achtung seiner Persönlichkeit. Dies kann der Fall sein, wenn der Erklärende absichtlich oder aufgrund einer auf Missachtung der persönlichen Belange des Empfängers beruhenden Gedankenlosigkeit einen Zugangszeitpunkt wählt, der den Empfänger besonders beeinträchtigt. An diesen Voraussetzungen fehlt es hier. Eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange der Klägerin ist allein in einem Zugang der Kündigung am 24.12. („Heiliger Abend“) nicht zu sehen. Hinzu kommt, dass der 24.12. im Sinne des staatlichen Feiertagsrechts, des Arbeitsrechts und des Gewerberechts ein Werktag ist, an dem ein großer Teil der Arbeitnehmer arbeitet. Die Kündigung ist deshalb nicht wegen ihres Zugangszeitpunktes am 24.12. unwirksam. bb) Unwirksamkeit der Kündigung unter dem Gesichtspunkt des „venire contra factum proprium“ Das Verbot des „venire contra factum proprium“ ist ein klassischer Anwendungsbereich des Vertrauensschutzes im Privatrecht. Dieses als Fallgruppe des § 242 BGB verstandene Verbot ist nicht durch § 1 KSchG konkretisiert und daher bei allen Kündigungen zu berücksichtigen.7 Kündigungen erscheinen danach als unzulässige Rechtsausübung, wenn der Kündigende durch entsprechende Zusagen einen Vertrauenstatbestand beim Gekündigten geschaffen hat, in nächster Zeit oder wegen bestimmter Umstände nicht gekündigt zu werden. Indem Herr Weinmann Frau Siemes grundlos kündigt, nachdem er sie mit dem Angebot einer „Lebensstellung“ bei ihrem früheren Arbeitgeber abgeworben hatte, könnte 6 BAG 14.11.1984 AP BGB § 626 Nr. 88. 7 BAG 8.6.1972 BAGE 24, 292, 298.

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er gegen dieses Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstoßen haben. Dagegen spricht jedoch, dass mit dem Neuantritt einer Stelle immer das Risiko einer Kündigung verbunden ist, weil sich das Arbeitsverhältnis anders gestalten kann als erwartet. Dieses Risiko wird nicht allein durch das Versprechen des Arbeitgebers, es handele sich um eine Lebensstellung, beseitigt. Ein prägnanter objektiver Vertrauenstatbestand, bei dem sich Frau Siemes darauf verlassen durfte, ihr werde nicht gekündigt, wurde nicht geschaffen. Die Kündigung ist deshalb nicht wegen eines Verstoßes gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens unwirksam. b) Verstoß gegen AGG Die Kündigung könnte allerdings wegen Verstoßes gegen § 134 BGB i.V.m. § 7 Abs. 1 AGG unwirksam sein. Unstreitig ist, dass § 7 Abs. 1 i.V.m. § 1 AGG ein taugliches Verbotsgesetz darstellt, gegen das durch die Kündigung verstoßen worden sein könnte. § 7 Abs. 1 AGG verbietet die Benachteiligung von Beschäftigten wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, wozu auch das Alter zählt. Fraglich ist nur, ob die Kündigung von Frau Siemes hiergegen verstößt. Damit § 7 Abs. 1 AGG überhaupt als Verbotsnorm herangezogen werden kann, müsste das AGG auch bei Kündigungen anwendbar sein. Dies ist jedoch deswegen problematisch, weil § 2 Abs. 4 AGG bestimmt, dass für Kündigungen „ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz“ gelten. Unter den wesentlichen Bestimmungen des allgemeinen Kündigungsschutzes versteht der Gesetzgeber Normen des BGB und des Ersten Abschnitts des KSchG. Bestimmungen des besonderen Kündigungsschutzes sind u.a. im Zweiten Abschnitt des KSchG, § 9 MuSchG, §§ 18, 19 BEEG u.a.m. geregelt.8 Das AGG würde nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 4 AGG in diesen Fällen somit keine Anwendung finden. Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass die Nichtigkeit der Kündigung nicht auf § 7 Abs. 1 AGG gestützt werden könnte. Es ist jedoch umstritten, ob § 2 Abs. 4 AGG überhaupt mit den europäischen Vorgaben vereinbar ist. Dies ist deswegen problematisch, weil die Richtlinie 2000/78/EG, die als eine der Grundlagen der europäischen Antidiskriminierungsrechtssetzung den allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf festlegt, und auf der das AGG u.a. beruht, sich in ihrem Anwendungsbereich auch auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bezieht. Die Frage der Europarechtswidrigkeit des § 2 Abs. 4 AGG richtet sich dabei ganz entscheidend danach, welche Bedeutung dieser Norm zukommt, wie sie also auszulegen ist. Insofern sind nämlich schon die Aussagen innerhalb des AGG widersprüchlich. Denn der ebenfalls europarechtlich determinierte § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG bezieht ausdrücklich „Entlassungsbedingungen“ in den Anwendungsbereich des AGG ein. Eine Streitentscheidung ist im vorliegenden Fall jedoch ohnehin entbehrlich.9 Unabhängig davon, ob § 2 Abs. 4 AGG für europarechtswidrig gehalten wird und das AGG unmittelbar auf Kündigungssachver-

8 BT-Drs. 16/2022 S. 12. 9 Vgl. zur ausführlichen Darstellung der Problematik mit Streitentscheidung aber oben Fall 3 „Das unerwünschte Kopftuch“.

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halte angewendet würde,10 oder die Diskriminierungsverbote des AGG im Rahmen des allgemeinen und besonderen Kündigungsschutzes geprüft werden,11 kann ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG nur dann angenommen werden, wenn die benachteiligte Partei Indizien für die Benachteiligung wegen eines Grundes aus § 1 AGG beweist, § 22 AGG. Die Südstern GmbH hat allerdings keinerlei Gründe in dem Kündigungsschreiben angegeben, schon gar nicht, dass ihr Frau Siemes zu alt ist. Es gibt also keinerlei Möglichkeit für sie, auch nur Indizien für eine Altersbenachteiligung nachzuweisen. Darum ist § 7 Abs. 1 AGG selbst dann nicht berührt, wenn man ihn unmittelbar anwenden würde. c) Verstoß gegen § 138 BGB Die Kündigung allein wegen des Alters könnte – falls man der Ansicht folgt, dass das AGG nicht unmittelbar anwendbar ist – gegen § 138 BGB verstoßen, wenn darin ein sittenwidriges Verhalten der Südstern GmbH liegt. Auch hier stellt sich wieder die Frage der Beweisbarkeit der Motivation, Frau Siemes allein wegen ihres Alters zu kündigen. Eine dem § 22 AGG gleichstehende Norm, die eine Beweislastverteilung vornimmt, existiert nicht, weshalb an sich die allgemeinen Beweisregeln des Zivilprozesses, die über § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG gelten, Anwendung finden. Frau Siemes müsste also den vollen Beweis für die für sie günstigen Tatsachen erbringen.12 Dazu gehört hier auch, dass die Kündigung nur wegen ihres Alters erfolgte. Das wird ihr kaum gelingen, da sie noch nicht einmal Verdacht schöpfen konnte. Auch wenn man einen Weg findet, die von der Richtlinie bei Benachteiligungen geforderte Beweiserleichterung13 für die Fälle außerhalb des AGG anwenden zu können, hilft das nicht, wenn die Benachteiligte noch nicht einmal auf die Idee kommt, benachteiligt worden zu sein. Sie kann darum nichts zur Sittenwidrigkeit der Kündigung vortragen. Folglich scheidet auch eine Unwirksamkeit der Kündigung wegen § 138 BGB aus. 5. Anhörung des Betriebsrats, § 102 BetrVG Der Betriebsrat ist ordnungsgemäß angehört worden, § 102 BetrVG. 6. Kündigungsschutz nach dem KSchG? Das KSchG findet im vorliegenden Fall keine Anwendung, da Frau Siemes der Südstern GmbH noch keine sechs Monate entsprechend § 1 Abs. 1 KSchG angehört und die sofortige Anwendung des KSchG auf das Arbeitsverhältnis nicht vereinbart wurde.

10 Vgl. etwa SSV/SCHLEUSENER § 2 AGG Rn. 20 ff.; THÜSING BB 2007, 1506, 1507. 11 So BAG 6.11.2008 NZA 2009, 361 ff.; HWK/RUPP § 2 AGG Rn. 13; ErfK/SCHLACHTER § 2 AGG Rn. 16 f.; WENDELING-SCHRÖDER/STEIN § 2 AGG Rn. 39 ff. 12 Zöller/GREGER vor § 284 ZPO Rn. 17a. 13 Art. 10 Abs. 1 RL 2000/78/EG.

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Damit kann Frau Siemes sich nicht auf das KSchG berufen, im Rahmen dessen eine vorliegend ohnehin nicht beweisbare, diskriminierende Kündigung nach der Ansicht, die das AGG nicht unmittelbar für anwendbar hält, überprüft werden könnte. 7. Zwischenergebnis Die Kündigung ist wirksam. 8. Kündigungsfrist Weiterhin ist zu prüfen, ob die Kündigungsfrist eingehalten worden ist. Die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist führt zwar nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, hat jedoch zur Folge, dass die Kündigung erst zum nächst möglichen Kündigungszeitpunkt wirksam wird. Frau Siemes und die Südstern GmbH haben keine Kündigungsfrist vereinbart, so dass auf die gesetzlich festgelegten Kündigungsfristen zurückzugreifen ist. Gemäß § 622 Abs. 1 BGB kann einem Arbeitnehmer mit einer Frist von vier Wochen zum Fünfzehnten oder zum Ende eines Kalendermonats gekündigt werden. Diese Kündigungsfrist ist eingehalten worden. Die Kündigung ist damit zum 31.1. wirksam. III. Ergebnis Der Hauptantrag der Klage ist unbegründet. B. Hilfsantrag Die Schadensersatzklage ist im Wege des echten Hilfsantrags erhoben, nämlich nur für den Fall der Erfolglosigkeit des Hauptantrags. Dies bewirkt die aufschiebend bedingte Entscheidungsbefugnis des Gerichts über den Hilfsantrag: Es darf erst über den Hilfsantrag entscheiden, wenn die Bedingung eintritt, sich der Hauptantrag also als erfolglos erweist. Da die Klage mit dem Hauptantrag unbegründet ist, ist die aufschiebende Bedingung für den Hilfsantrag eingetreten. I. Zulässigkeit 1. Zuständigkeit der Arbeitsgerichte Die Zulässigkeit der Eventualklage setzt voraus, dass auch der mit der Eventualklage geltend gemachte Anspruch in die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit fällt. Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist hier gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. c ArbGG eröffnet, da es sich um eine Streitigkeit aus Verhandlungen über die Eingehung eines Arbeitsverhältnisses und dessen Nachwirkungen handelt. 2. Klageart Die Frage, welche Klageart die richtige ist, richtet sich nach dem Begehren des Klägers. Da Frau Siemes Schadensersatz verlangt, ist die richtige Klageart die Leistungsklage.

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3. Ordnungsmäßigkeit der Klageerhebung a) Form Die Form der einzureichenden Klageschrift ergibt sich aus § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 253 ZPO. Es ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. b) Bedingungsfeindlichkeit Prozesshandlungen sind grundsätzlich bedingungsfeindlich. Dies gilt jedoch nicht für so genannte innerprozessuale Bedingungen, da sie keine Unsicherheit in den Prozess hineintragen. Bei der Anknüpfung an die Unbegründetheit des Hauptantrags handelt es sich um eine solche unschädliche innerprozessuale Bedingung, so dass die Stellung eines echten Eventualklageantrags unter diesem Gesichtspunkt unbedenklich ist. 4. Zwischenergebnis Die Klage ist zulässig. II. Verbindungsvoraussetzungen für die beiden Klagen, § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, §§ 495, 260 ZPO Die aufgrund der Verweisung des § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 495 ZPO anzuwendende Klageverbindungsvoraussetzungen des § 260 ZPO, Parteienidentität, gleiches Prozessgericht, gleiche Prozessart und kein Verbindungsverbot liegen vor. III. Begründetheit Die Klage ist begründet, wenn Frau Siemes ein Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 4.000 Euro zusteht. 1. Schadensersatz aus §§ 15 Abs. 1, 7 Abs. 1, 1 AGG Frau Siemes kann einen Schadensersatzanspruch gegen die Südstern GmbH in Höhe von 4.000 Euro haben, wenn ihr aus einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ein Schaden entstanden ist, es sei denn, der Arbeitgeber hat die Pflichtverletzung nicht zu vertreten. Als Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot kommt wieder die Benachteiligung wegen ihres Alters in Betracht. Doch auch hier gilt, dass die Benachteiligung von Frau Siemes in den Prozess eingebracht werden muss. § 15 Abs. 1 AGG enthält zwar durch die Formulierung „es sei denn [...]“ eine Vermutung, allerdings nur für das Verschulden. Die Benachteiligung selbst muss dargelegt werden, wobei jedoch die Beweislastregel des § 22 AGG gilt. Frau Siemes müsste danach wenigstens Indizien für eine Benachteiligung beweisen können, was ihr aber mangels eines Verdachtes überhaupt benachteiligt worden zu sein, nicht gelingen wird. Darum hat sie keinen Schadensersatzanspruch aus §§ 15 Abs. 1, 7 Abs. 1, 1 AGG.

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2. Anspruch aus § 628 Abs. 2 BGB Frau Siemens könnte einen Schadensersatzanspruch gegen die Südstern GmbH in Höhe von 4.000 Euro gemäß § 628 Abs. 2 BGB haben. a) Anwendbarkeit von § 628 Abs. 2 BGB Fraglich ist, ob § 628 Abs. 2 BGB auch auf den Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch eine ordentliche Kündigung anwendbar ist. Nach allgemeiner Meinung findet § 628 Abs. 2 BGB auch dann Anwendung, wenn das Arbeitsverhältnis in anderer Weise als durch fristlose Kündigung beendet wurde: Entscheidend ist nicht die Form der Beendigung, sondern ihr Anlass. Wesentliches Element des Schadensersatzanspruchs ist das Vorliegen eines Auflösungsverschuldens. b) Schuldhaft vertragswidriges Verhalten Voraussetzung ist, dass der andere Teil durch ein schuldhaftes vertragswidriges Verhalten den Anlass für die Beendigung gegeben hat. Hierfür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich. c) Zwischenergebnis § 628 Abs. 2 BGB scheidet damit als Anspruchsgrundlage aus. 3. Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 i.V.m. 241 Abs. 2 BGB Frau Siemes könnte aufgrund der im Rahmen der Arbeitsvertragsverhandlungen getätigten Aussage des Herrn Weinmann, es handele sich beim Job um eine „Lebensstellung“, ein Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 4.000 Euro gemäß §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB (früher: nach den Grundsätzen der culpa in contrahendo) zustehen. Dann müsste die Südstern GmbH eine Pflicht aus einem durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen entstandenen Schuldverhältnis schuldhaft verletzt und hierdurch den geltend gemachten Schaden bei Frau Siemes verursacht haben. a) Anwendbarkeit Auch im Arbeitsrecht gelten die allgemeinen Regeln über den Schadensersatz bei schuldhafter Verletzung vorvertraglicher Pflichten bei der Aufnahme von Vertragsverhandlungen. Ein Verschulden bei Vertragsabschluss kann sich insbesondere auch noch nach Abschluss des Arbeitsvertrages auswirken.14 b) Schuldverhältnis Voraussetzung ist nach § 280 Abs. 1 BGB zunächst das Bestehen eines Schuldverhältnisses. Dieses kann jedoch nicht mit dem später geschlossenen Arbeitsvertrag zwischen Frau Siemes und der Südstern GmbH begründet werden, da dieser zum Zeitpunkt der fraglichen Aussage noch nicht geschlossen worden war. Durch die vorherige Aufnahme von Vertragsverhandlungen ist zwischen Frau

14 BAG 2.12.1976 AP BGB § 276 Nr. 10 Verschulden bei Vertragsschluss.

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Lösungsvorschlag Fall 6

Siemes und der Südstern GmbH jedoch ein Schuldverhältnis nach §§ 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. 241 Abs. 2 BGB entstanden. c) Schuldhafte Pflichtverletzung Grundsätzlich besteht bei Vertragsverhandlungen die Pflicht, den anderen auf besondere Umstände hinzuweisen, die für das Zustandekommen und die Durchführung des Vertrages von maßgebender Bedeutung sind. Fraglich ist, ob die Südstern GmbH diese Pflicht verletzt hat. Herr Weinmann hat Frau Siemes bei der Vertragsanbahnung eine „Lebensstellung“ mit erheblich höherem Gehalt angeboten. Hierdurch hat er den Eindruck erweckt, dass er sehr an einer dauerhaften Beschäftigung von Frau Siemes interessiert ist. Das Angebot einer „Lebensstellung“ hat er jedoch nur „ins Blaue hinein“ gemacht, mit der Absicht, Frau Siemes zu einer Kündigung zu motivieren: Herrn Weinmann war klar, dass Frau Siemes ihre langjährige, sichere Stellung nicht aufgegeben hätte, wenn er ihr keine entsprechende Sicherheit geboten hätte. Letztendlich war er jedoch nicht bereit, dieses Versprechen tatsächlich einzuhalten. Herr Weinmann hat damit Frau Siemes über die Ernsthaftigkeit seines Angebots einer Lebensstellung getäuscht und das berechtigte Vertrauen, das Frau Siemes aufgrund der Aussage der Südstern GmbH entgegenbrachte, enttäuscht. Dadurch hat er seine im Vertragsanbahnungsverhältnis bestehenden Pflichten verletzt. Herr Weinmann handelte auch schuldhaft i.S.v. §§ 276, 280 Abs. 1 S. 2 BGB, da er vorsätzlich gegen diese vorvertragliche Pflicht verstoßen hat. Diese Feststellung steht auch nicht im Widerspruch zu dem unter A erarbeiteten Ergebnis, dass die Südstern GmbH berechtigt war, Frau Siemes zu kündigen: Der Ausschluss des arbeitgeberseitigen ordentlichen Kündigungsrechts aufgrund des Angebots einer Lebensstellung steht auf der einen Seite. Er ginge sehr weit und führte im Ergebnis dazu, einen Vertrag – ohne außerordentlichen Kündigungsgrund – dauerhaft durchführen zu müssen. Auf der anderen Seite steht die Haftung für ein Fehlverhalten, nämlich das Schaffen eines Vertrauenstatbestandes, der dann durch die zulässige Kündigung enttäuscht wird. Die Pflichtverletzung liegt dann auch nicht in der erlaubten Kündigung, sondern in dem nicht ernsthaft abgegebenen Versprechen einer Lebensstellung bei der Vertragsanbahnung. d) Zurechnung Fraglich ist, ob sich die Südstern GmbH das Verhalten von Herrn Weinmann zurechnen lassen muss. Grundsätzlich ist § 278 BGB gemäß §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB auch im Rahmen vorvertraglicher Schuldverhältnisse anwendbar. Die Rechtsprechung sieht jedoch in der Einschränkung des § 123 Abs. 2 BGB eine gesetzliche Sonderregelung der Zurechnungsvoraussetzungen für fremdes Verschulden Dritter, wenn die Pflichtverletzung im Rahmen von Vertragsverhandlungen in einer arglistigen Täuschung besteht.15 Herr Weinmann hat Frau Siemes das unrichtige Angebot über die Arbeit als „Lebensstellung“ gemacht. In diesem Verhalten liegt eine arglistige Täuschung, da Herr Weinmann wusste, dass Frau Siemes ohne diese Zusicherung ihre Stelle bei der Spedition nicht aufgegeben hätte. Der Anwendungsbereich von § 123 Abs. 2 BGB ist damit eröffnet. 15 BGH 8.12.1989 NJW 1990, 1661.

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Fraglich ist aber, ob er Dritter im Sinne der Vorschrift ist. Dies ist, wer am Geschäft unbeteiligt ist, nicht hingegen, wer auf Seiten des Erklärungsempfängers (Südstern GmbH) steht und maßgeblich am Zustandekommen des Vertrags mitgewirkt hat. Herr Weinmann als Prokurist Vertreter der GmbH war der Verhandlungspartner von Frau Siemes und damit kein am Geschäft Unbeteiligter. Er ist also kein „Dritter“, so dass die Einschränkung des § 123 Abs. 2 BGB nicht greift und es bei der Zurechnung durch § 278 BGB bleibt. Herr Weinmann ist als Prokurist mit der Wahrnehmung der Erfüllung der Verbindlichkeiten der GmbH betraut und damit ihr Erfüllungsgehilfe. Die Südstern GmbH muss sich also das Verhalten von Herrn Weinmann gemäß § 278 BGB zurechnen lassen. e) Kausalität Der entstandene und geltend gemachte Schaden ist dem Grunde nach durch die Verletzung der vorvertraglichen Pflicht adäquat kausal verursacht. f) Zwischenergebnis Der Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB ist dem Grunde nach gegeben. g) Rechtsfolge: Schadensersatz, §§ 249 ff. BGB Fraglich ist, ob Frau Siemes ihren Lohnausfall in Höhe von 4.000 Euro geltend machen kann. aa) Schaden (1) Schadensart Ist eine Ersatzpflicht dem Grunde nach bejaht worden, so stellt sich die Frage nach Inhalt und Umfang dieser Pflicht und den sie begrenzenden Kriterien. Das Gesetz enthält darüber in den §§ 249 ff. BGB einige allgemein gehaltene Vorschriften. Die Frage, was der Ersatzpflichtige konkret als Schadensersatz zu leisten hat, kann nur durch eine systematische Interpretation dieser Regeln und unter Berücksichtigung des Ausgleichszwecks der Schadensersatzregeln beantwortet werden. Wer eine Verhaltenspflicht aus einem Schuldverhältnis verletzt, hat dem anderen den Schaden zu ersetzen, den dieser durch die Pflichtverletzung erlitten hat, § 280 Abs. 1 i.V.m. § 249 BGB. Er hat den in seinem Vertrauen Enttäuschten daher so zu stellen, wie dieser stehen würde, wenn er seiner Sorgfaltspflicht genügt hätte. Welcher Schaden genau zu ersetzen ist, hängt von der Art der Pflichtverletzung ab. Wenn der eine Partner dem anderen schuldhaft unrichtige Angaben macht, die diesen dazu veranlassen, sich auf den letztlich nachteiligen Vertrag einzulassen, so ist der Vertrauensschaden (= negatives Interesse), nicht aber der Erfüllungsschaden (= positives Interesse) zu ersetzen.16 In der Regel wird bei Pflichtverletzungen, die im Rahmen Vertragsanbahnung (früher culpa in contrahendo) begangen werden, nur der Vertrauensschaden (negatives Interesse) ersetzt. 16 LARENZ, Schuldrecht AT Bd. 1, § 9 I 3.

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Lösungsvorschlag Fall 6

Das positive Interesse (= Erfüllungsschaden) ist in diesen Fällen nur ausnahmsweise dann zu ersetzen, wenn das Verhalten des Ersatzpflichtigen gegen Treu und Glauben verhindert hat, dass die Verbindlichkeit, über die verhandelt wird, überhaupt zustande kommt. Dieser Fall liegt hier jedoch nicht vor, denn die Südstern GmbH und Frau Siemes haben einen Arbeitsvertrag geschlossen. Herr Weinmann hat Frau Siemes allerdings mit der Aussage, es handele sich dabei um eine „Lebensstellung“, eine falsche Auskunft gegeben. Somit ist hier der Vertrauensschaden, nicht aber der Erfüllungsschaden ersatzfähig. Frau Siemes ist deshalb nach § 249 S. 1 BGB so zu stellen, als hätte sie den Vertrag mit der Südstern GmbH nicht geschlossen. (2) Schadensermittlung Die Schadensermittlung erfolgt nach der Differenzhypothese. Es wird das Vermögen in seinem Zustand nach dem schädigenden Ereignis mit der (hypothetischen) Vermögenslage verglichen, wie sie bestanden hätte, wenn das die Schadensersatzpflicht begründende Ereignis nicht eingetreten wäre. Die Differenz zwischen diesen beiden Vermögenslagen ergibt den zu ersetzenden Schaden. Da hier der Vertrauensschaden (= negatives Interesse) zu ersetzen ist, muss die Geschädigte Frau Siemes so gestellt werden, als wäre das Vertrauen nicht geweckt worden, so dass sie sich auf den Vertrag nicht eingelassen hätte. Hätte Herr Weinmann Frau Siemes die Stelle bei der Südstern GmbH nicht als „Lebensstellung“ angepriesen, ohne zur Einhaltung dieses Versprechens bereit zu sein, dann hätte Frau Siemes nicht ihren alten Arbeitsplatz aufgegeben und hätte weiterhin monatlich 1.700 Euro verdient (hypothetische Lage). Anmerkung: In diese Überlegungen ist somit nicht mit einzubeziehen, dass Frau Siemes bei der Südstern GmbH ein Gehalt von 2.000 Euro erhalten hat, da nur der Vertrauensschaden ersatzfähig ist; Bedeutung würde das Gehalt bei der Südstern GmbH nur bei dem Ersatz des Erfüllungsschadens (= positives Interesse) erlangen. Tatsächlich war Frau Siemes in den Monaten Februar/März ohne Beschäftigung und Bezüge (reale Lage). Frau Siemes Schaden beträgt also 3.400 Euro (zweimal 1.700 Euro).

bb) Haftungsausfüllende Kausalität Dieser Schaden ist durch die Äußerung von Herrn Weinmann verursacht worden. IV. Ergebnis In Höhe von 3.400 Euro ist die Klage mit dem Hilfsantrag daher begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.

Abwandlung Die Klage hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

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Fall 6

Lösungsvorschlag

„Leere Versprechungen“

A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit Die Zulässigkeit der Klage setzt voraus, dass der Rechtsstreit in die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit fällt. Der Rechtsweg ist hier gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. c ArbGG eröffnet, da Frau Siemes Ansprüche aus Verhandlungen über die Eingehung eines Arbeitsverhältnisses und aus den Nachwirkungen des Arbeitsverhältnisses mit der Südstern GmbH geltend macht. II. Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen Die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor, vgl. die Zulässigkeitsprüfung der Eventualklage. III. Zwischenergebnis Die Klage ist zulässig. B. Begründetheit Die Klage ist begründet, wenn Frau Siemes ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 7.000 Euro zusteht. I. Anspruch auf Schadensersatz für die Monate Februar und März Soweit Frau Siemes Schadensersatz wegen des Verdienstausfalls in den Monaten Februar und März geltend macht, ist die Klage gemäß §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB begründet. Frau Siemes hat aufgrund der im Rahmen der Arbeitsvertragsverhandlungen unzutreffenden Aussage des Herrn Weinmann, es handele sich bei dem Job um eine „Lebensstellung“, einen Anspruch auf Zahlung von 3.400 Euro, s.o. Zum Grundfall bestehen hier keine Besonderheiten, da das Vorstellungsgespräch bei der Westhandel AG erst Ende März stattfand und die Verhandlungen ein Arbeitsverhältnis betrafen, das im April beginnen sollte. II. Anspruch auf Schadensersatz für die Monate April bis Juni 1. Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB Frau Siemes könnte zudem einen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB wegen Verletzung einer nachvertraglichen Fürsorgepflicht (früher: pVV) haben. Dann müsste die Südstern GmbH schuldhaft eine nachvertragliche Nebenpflicht aus einem Schuldverhältnis mit Frau Siemes verletzt haben, die bei Frau Siemes den geltend gemachten Schaden verursacht hat. a) Verletzung einer nachvertraglichen Nebenpflicht Mit der rechtswirksamen Beendigung des Arbeitsverhältnisses entfallen die gegenseitigen Hauptleistungspflichten. Den Arbeitgeber wie den Arbeitnehmer treffen jedoch unter dem Gesichtspunkt der nachvertraglichen Fürsorge- bzw. Treuepflicht verschiedene Nebenpflichten. In Betracht kommt hier die Verletzung dieser nachvertraglichen Fürsorgepflicht durch die Auskunftserteilung gegenüber dem Personalchef der Westhandel AG, Frau Siemes sei eine „alte Schlampe, die nicht mal richtig Kaffee kochen“ könne.

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„Leere Versprechungen“

Lösungsvorschlag Fall 6

Fraglich ist, ob und inwieweit der Arbeitgeber berechtigt ist, ohne oder gegen den Willen des Arbeitnehmers Dritten gegenüber Auskünfte zu erteilen. aa) Auskunftserteilung ohne den Willen des Arbeitnehmers Das BAG hat angenommen, die Arbeitgeber seien aus dem Gesichtspunkt der Sozialpartnerschaft berechtigt, andere Arbeitgeber bei der Wahrung ihrer Belange zu unterstützen, und hat daraus hergeleitet, dass Auskünfte nicht nur ohne Zustimmung, sondern auch gegen den ausdrücklichen Willen des Arbeitnehmers zulässig sind.17 Die Auskünfte müssen jedoch wahr sein und dürfen nur solchen Personen gegenüber abgegeben werden, die ein berechtigtes Interesse an ihnen haben. bb) Eigenständige oder nur ergänzende Auskunft? Umstritten ist allerdings, ob die Auskünfte gegenüber dem Zeugnisinhalt nur ergänzenden Charakter haben dürfen,18 oder ob sie dem Zeugnisinhalt widersprechen können.19 cc) Zwischenergebnis Letztlich kann man diese Fragen offen lassen. Unabhängig von dem Recht, Auskünfte ohne oder gegen den Willen des Arbeitnehmers und auch über das Zeugnis hinaus geben zu dürfen, hat ein Arbeitgeber die nachvertragliche Pflicht, solche Äußerungen zu unterlassen, die einen abfälligen, persönlichkeitsverletzenden und wahrheitswidrigen Inhalt haben.20 b) Schuldhafte Pflichtverletzung Diese Pflicht hat Herr Weinmann schuldhaft i.S.d. § 276 BGB verletzt, indem er Frau Siemes auf Nachfrage des Personalchefs der Westhandel AG als „alte Schlampe, die nicht mal Kaffee kochen“ könne, bezeichnet hat. c) Zurechnung Die Pflichtverletzung ist der Südstern GmbH gemäß §§ 280 Abs. 1 S. 2, 278 BGB (vgl. Ausführungen dazu im Ausgangsfall) zuzurechnen. d) Zwischenergebnis Der Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB besteht. 2. Schadensersatz aus § 831 BGB Frau Siemes könnte ebenfalls ein Anspruch aus § 831 BGB zustehen. Dann müsste ein Verrichtungsgehilfe der Südstern GmbH Frau Siemes den geltend gemachten Schaden widerrechtlich in Ausführung seiner Verrichtung zugefügt haben. 17 18 19 20

BAG 25.10.1957 AP Nr. 1 zu § 630 BGB. LAG Berlin 8.5.1989 LAGE BGB § 242 Auskunftspflicht Nr. 2. So BAG 5.8.1976 AP BGB § 630 Nr. 10. BAG 18.12.1984 AP BGB § 611 Persönlichkeitsrecht Nr. 8.

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Fall 6

Lösungsvorschlag

„Leere Versprechungen“

a) Verrichtungsgehilfe Verrichtungsgehilfe ist derjenige, dem vom Geschäftsherrn eine nach dessen Weisungen auszuführende Tätigkeit übertragen worden ist. Die Tätigkeit muss dem Einfluss des Geschäftsherrn in der Weise unterliegen, dass dieser die Tätigkeit des Gehilfen jederzeit beschränken, untersagen oder nach Zeit und Umfang bestimmen kann. Herr Weinmann ist als angestellter Personalchef der Südstern GmbH entsprechend weisungsabhängig und deshalb Verrichtungsgehilfe. b) Schadensverursachung in Ausführung der Verrichtung Fraglich ist, ob Herr Weinmann die inkriminierenden Äußerungen „in Ausführung der Verrichtung“ oder lediglich bei deren Gelegenheit begangen hat. Grundsätzlich sind vorsätzliche unerlaubte Handlungen des Gehilfen dem Geschäftsherrn nicht zuzurechnen. Etwas anderes gilt aber dann, wenn der Geschäftsherr gerade dazu verpflichtet ist, den Geschädigten vor widerrechtlichem Verhalten eines von ihm eingeschalteten Dritten zu bewahren.21 Da Herr Weinmann Personalchef ist, sind seine Äußerungen über ehemalige Mitarbeiter als zu der Verrichtung, zu der er durch die Südstern GmbH bestellt ist, gehörig zu betrachten. c) Widerrechtliche Schadenszufügung durch Herrn Weinmann Nach § 831 Abs. 1 S.1 BGB ist ein Schaden zu ersetzen, den der Verrichtungsgehilfe einem Dritten widerrechtlich zugefügt hat. aa) § 823 Abs. 1 BGB (1) Verletzung eines in § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsguts Die Rechtsprechung hat aus Art. 1 und 2 GG ein allgemeines Persönlichkeitsrecht abgeleitet und ihm den Schutz der absoluten Rechte zuerkannt. Gegenstand ist das Recht des Einzelnen auf Achtung seiner individuellen Persönlichkeit gegenüber dem Staat und im privaten Rechtsverkehr. Mit seiner Äußerung über Frau Siemes hat Herr Weinmann dieses Rechtsgut verletzt. (2) Rechtswidrigkeit Die Widerrechtlichkeit ist grundsätzlich durch die Tatbestandsmäßigkeit indiziert. Das gilt jedoch nicht für die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das nur ein „Rahmenrecht“ darstellt. Ob der Eingriff widerrechtlich ist, muss durch eine umfassende Güter- und Interessenabwägung ermittelt werden. Bei der Abwägung sind auf Seiten des Verletzten die Art und Schwere des Eingriffs und seine Folgen, das Vorverhalten des Verletzten und in welche Sphäre eingegriffen wurde, zu berücksichtigen. Für den Verletzenden sind Zweck und Motiv sowie Art und Weise des Eingriffs zu beachten. Danach ist jedenfalls der Eingriff widerrechtlich, da Herr Weinmann eine bewusst wahrheitswidrige Behauptung aufgestellt hat, die Frau Siemes in keiner Weise provoziert hat.

21 BGH 15.5.1979 NJW 1979, 1882.

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„Leere Versprechungen“

Lösungsvorschlag Fall 6

(3) Zwischenergebnis Damit hat Herr Weinmann widerrechtlich den objektiven Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB verwirklicht. bb) § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 185 StGB Eine Beleidigung i.S.d. § 185 StGB ist die Kundgabe von Missachtung durch Meinungsäußerungen oder Werturteile, die geeignet sind, den Betroffenen in seiner Persönlichkeit herabzuwürdigen. Gleichgültig ist, ob die Äußerung unmittelbar dem Verletzten oder Dritten gegenüber geäußert wird. Die Bezeichnung von Frau Siemes als „alte Schlampe“ erfüllt diesen Tatbestand. Damit hat Herr Weinmann widerrechtlich den Tatbestand von § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 185 StGB verwirklicht. cc) § 826 BGB Indem Herr Weinmann Frau Siemes vor der Westhandel AG als „alte Schlampe“ bezeichnet hat, hat er gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstoßen, da diese Auskunft jeder sachlichen Grundlage entbehrt und geeignet ist, einen Arbeitgeber von einer Anstellung abzuhalten. dd) § 824 BGB Indem Herr Weinmann Frau Siemes vor der Westhandel AG als „alte Schlampe“ bezeichnet hat, könnte er darüber hinaus den Tatbestand des § 824 BGB erfüllt haben. Dann müsste Herr Weinmann eine Tatsache behauptet und kein Werturteil über Frau Siemes abgegeben haben. Tatsachenbehauptungen sind durch objektive Beziehungen zwischen Äußerung und Wirklichkeit charakterisiert, Werturteile durch subjektive Beziehungen des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage. Eine Tatsachenbehauptung kann wahr oder unwahr sein und ist dem Beweis zugänglich. Ein Werturteil kann je nach dem Standpunkt entweder als falsch abgelehnt oder als richtig akzeptiert werden. Ist in der beeinträchtigenden Äußerung Tatsachenbehauptung und Meinungsäußerung vermengt, so ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu entscheiden, welcher Anteil überwiegt. Bei der Bezeichnung als „alte Schlampe“ überwiegt wohl die wertende, dem Beweis nicht zugängliche Meinungsäußerung. Herr Weinmann hat § 824 BGB nicht verwirklicht. d) Exkulpation Für eine Exkulpation gemäß § 831 Abs. 1 S. 2 BGB hat die insoweit darlegungsund beweispflichtige Südstern GmbH nichts vorgetragen. e) Zwischenergebnis Der Anspruch aus § 831 BGB besteht somit ebenfalls.

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Fall 6

Lösungsvorschlag

„Leere Versprechungen“

3. Rechtsfolge: Schadensersatz gemäß §§ 249 ff. BGB a) Ersatzfähiger Schaden Frau Siemes hat gegen die Westhandel AG sowohl wegen einer Nebenpflichtverletzung aus § 280 Abs. 1 BGB als auch aus deliktischer Haftung nach § 831 BGB einen Anspruch auf Schadensersatz. Fraglich ist, in welcher Höhe der Anspruch besteht. Maßgeblich für die Ermittlung des Umfangs des Schadensersatzanspruchs sind die §§ 249 ff. BGB, die jedoch lediglich allgemeine Aussagen enthalten. Daher ist auch hier wieder gesondert zu prüfen, ob der Vertrauensschaden oder der Erfüllungsschaden zu ersetzen ist. Dabei ist zu beachten, dass es sich nun um den Schadensersatz für die Monate April bis Juni handelt. Aufgrund der wahrheitswidrigen Auskunft des Herrn Weinmann ist der Arbeitsvertrag zwischen Frau Siemes und der Westhandel AG nicht zum 1.4. abgeschlossen worden. Die Rechtsprechung sieht für den Fall der Vereitelung des Vertragsschlusses wegen einer wahrheitswidrigen Auskunft des vorherigen Arbeitgebers den Ersatz des Schadens vor, der sich aus der unterbliebenen Einstellung bei dem neuen Arbeitgeber ergibt. Zu ersetzen ist somit das positive Interesse (Erfüllungsschaden).22 b) Schadensermittlung Für die Ermittlung des Erfüllungsschadens ist nach der Differenzhypothese zunächst die hypothetische Lage zu betrachten, die bestanden hätte, wenn Herr Weinmann nicht die Äußerung über Frau Siemes gegenüber dem Personalchef der Westhandel AG gemacht hätte. In diesem Fall wäre es zum Abschluss eines Arbeitsvertrags zum 1.4. gekommen, der ein monatliches Entgelt in Höhe von 2.000 Euro vorgesehen hätte. Frau Siemes hätte dann von April bis Juni 6.000 Euro verdient. Dem steht die reale Lage gegenüber, dass Frau Siemes im Monat April arbeitslos war und in den Monaten Mai und Juni jeweils 1.500 Euro verdient hat, in dem Zeitraum von April bis Juni also insgesamt 3.000 Euro. Somit besteht im Vergleich zur hypothetischen Lage eine Differenz in Höhe von 3.000 Euro. Fraglich ist jedoch, ob der haftungsausfüllende Kausalzusammenhang unterbrochen wurde, als Frau Siemes einen neuen Arbeitsvertrag mit der Reinigungsfirma abgeschlossen hat, so dass ein Schadensersatzanspruch für die Monate Mai und Juni ausgeschlossen ist. Frau Siemes hat durch den Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags zwar zunächst die Ursache für einen geringeren Verdienst selbst gesetzt. Allerdings wäre dies gar nicht erforderlich gewesen, wenn der Arbeitsvertrag mit der Westhandel AG zustande gekommen wäre. Vielmehr ist der Abschluss des Arbeitsvertrags mit der Reinigungsfirma eine angemessene Reaktion auf die von Herrn Weinmann geschaffene pflichtwidrige Situation. Frau Siemes hat dadurch sogar das Ausmaß der Schadenshöhe begrenzt, denn in den Monaten Mai und Juni hat sie zumindest ein Einkommen in Höhe von 1.500 Euro erhalten, so dass der Schaden in diesen Monaten statt jeweils 2.000 Euro nur noch 500,- Euro beträgt. Der haftungsausfüllende Kausalzusammenhang ist so-

22 LAG Hessen 20.12.1979 DB 1980, 1224; LAG Hamburg 16.8.1984 DB 1985, 284; LAG Berlin 8.5.1989 LAGE BGB § 242 Auskunftspflicht Nr. 2; siehe auch SCHAUB/ LINCK, Arbeitsrechtshandbuch, § 147 Rn. 7.

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„Leere Versprechungen“

Lösungsvorschlag Fall 6

mit auch nicht durch den Abschluss des Arbeitsvertrags mit der Firma unterbrochen worden. Auf die Frage einer „Endloshaftung“ des Arbeitgebers kam es hier nicht an, da Frau Siemes lediglich den Verdienstausfall für die Monate Mai und Juni geltend macht.23 Somit ist für die Monate April bis Juni ein Schaden in Höhe von 3.000 Euro entstanden. III. Ergebnis Die Klage ist in Höhe von 6.400 Euro begründet (zweimal 1.700 Euro für die Monate Februar und März, einmal 2.000 Euro für den Monat April, zweimal 500 Euro für die Monate Mai und Juni). Im Übrigen ist die Klage unbegründet.

23 Vgl. hierzu BAG 15.5.1974 AP BGB § 276 Verschulden bei Vertragsschluss Nr. 9.

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Fall 7

Falldarstellung

„Loch in der Kasse“

Fall 7: „Loch in der Kasse“ Falldarstellung B ist in der Filiale der L-GmbH, einer Supermarktkette, als Kassiererin beschäftigt. Im Arbeitsvertrag vom 2.1.2011, der einem von der L-GmbH bei Neueinstellungen stets verwendeten Musterarbeitsvertrag mit vorformulierten Vertragsbedingungen entnommen ist, findet sich u.a. folgende Klausel: „Ergibt sich bei der Prüfung der von der Mitarbeiterin geführten Kasse ein Fehlbetrag, ist sie folgendermaßen ausgleichspflichtig: Eine Schadensaufteilung nach dem Verschuldensgrad richtet sich nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen. Im Zweifel ist die Mitarbeiterin für ihren Verschuldensgrad beweispflichtig“. Anlässlich einer am 4.8.2011 durchgeführten Prüfung des Kassenbestandes kommt heraus, dass die von der B geführte Kasse einen Fehlbetrag in Höhe von 500 Euro aufweist. Tatsächlich ergeben Nachforschungen, dass sich ein Unbekannter mit Hilfe des der B anvertrauten Kassenschlüssels Zugang zur Kasse verschaffte. Die Identität dieser Person konnte nie ermittelt werden. Der Geschäftsführer der L-GmbH bittet B tags darauf in sein Büro und konfrontiert sie mit diesem Sachverhalt. Dabei beschuldigt er sie zwar nicht der Unterschlagung, wirft ihr aber grob fahrlässiges Handeln vor, da sie des Öfteren den Kassenschlüssel offen im Ladenlokal habe liegen lassen. B ist über diesen Vorwurf empört. Sie habe den Schlüssel immer sicher in ihrer Tasche verwahrt. Allenfalls habe sie den Schlüssel an einem einzigen Tag, und auch nur für wenige Minuten, offen neben die Kasse gelegt. Für diesen einmaligen Vorfall müsse sie doch wohl nicht haften. Daraufhin weist der Geschäftsführer auf die Haftungsklausel im Arbeitsvertrag hin und sagt zu der B, dass es „ihr Problem“ sei, wie sie sich entlasten könne. Da ihr dies offenkundig nicht gelänge, fordere die L-GmbH den gesamten Fehlbetrag von ihr zurück. Im weiteren Verlauf des Gesprächs macht der Geschäftsführer der B klar, dass seiner Ansicht nach die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen ihm und der B entfallen sei. Um eine Kündigung zu vermeiden, biete er der B jedoch den Abschluss eines Aufhebungsvertrages an. Nach kurzer Überlegung willigt B ein und schließt noch im Büro des Geschäftsführers der L-GmbH einen schriftlichen Aufhebungsvertrag, wonach das Arbeitsverhältnis „in beiderseitigem Einverständnis zum 31.8.2011“ endet. Zwei Tage nach Abschluss des Aufhebungsvertrages kommen B jedoch Zweifel an ihrer Entscheidung. Mit Schreiben vom 13.8.2011 erklärt sie deshalb gegenüber der L-GmbH den „Widerruf“ ihrer „auf den Aufhebungsvertrag vom 5.8.2011 gerichteten Willenserklärung“. Der Geschäftsführer meint, dass ihn der Widerruf nicht zu interessieren brauche und fordert B nochmals zur Zahlung der 500 Euro auf. B wiederum verlangt von der L-GmbH am 1.9.2011, wie bisher beschäftigt zu werden, da das Arbeitsverhältnis fortbestehe. Frage: Wie ist die Rechtslage?

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„Loch in der Kasse“

Lösungsskizze Fall 7

Bearbeitervermerk: Eine Anfechtung des Aufhebungsvertrags vom 5.8.2011 ist nicht zu prüfen.

Ü

Rechtsfragen: –

Arbeitnehmerhaftung



Mankohaftung und Mankoabrede bei Kassenfehlbeständen



Inhaltskontrolle gemäß § 309 Nr. 12 BGB



Beweislast bei Arbeitnehmerhaftung, § 619a BGB



Aufhebungsvertrag



Widerrufsrecht eines Aufhebungsvertrags nach §§ 312 Abs. 1, 355 BGB



Arbeitnehmer als Verbraucher

Lösungsskizze A. Anspruch L-GmbH gegen B auf Zahlung von 500 Euro aus § 280 Abs. 1 BGB I. Bestehen eines Arbeitsvertrages II. Pflichtverletzung III. Verschulden IV. Schaden V. Haftungsmilderung 1. Rechtswirksamkeit der Beweislastvereinbarung a) Verstoß gegen § 619a BGB b) Verstoß gegen § 309 Nr. 12 BGB aa) Anwendbarkeit der §§ 305 ff. BGB auf Individualarbeitsverträge (§ 310 Abs. 4 S. 1 BGB) bb) Vorliegen Allgemeiner Geschäftsbedingungen cc) Wirksame Einbeziehung der Allgemeinen Geschäftsbedingung dd) Inhaltskontrolle gemäß § 309 Nr. 12 BGB – nachteilige Beweislastvereinbarung ee) Keine entgegenstehenden arbeitsrechtlichen Besonderheiten i.S.d. § 310 Abs. 4 S. 2 BGB ff) Die Beweislastvereinbarung als Mankoabrede c) Zwischenergebnis 2. Grad des Verschuldens bei Anwendung des § 619a BGB VI. Ergebnis B. Anspruch L-GmbH gegen B aus § 823 Abs. 1 BGB

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Fall 7

Lösungsvorschlag

„Loch in der Kasse“

I. Rechtsgutsverletzung/Rechtswidrigkeit II. Verschulden III. Schaden IV. Haftungsmilderung V. Ergebnis C. Anspruch B gegen L-GmbH aus § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag I. Bestehen eines Arbeitsvertrages II. Ende des Arbeitsverhältnisses durch Aufhebungsvertrag 1. Abschluss des Aufhebungsvertrages am 5.8.2011 2. Unwirksamkeit des Aufhebungsvertrages wegen Widerrufs nach §§ 312 Abs. 1 S. 1, 355 BGB a) Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers b) Widerrufsrecht nach § 312 BGB auch, wenn der Arbeitnehmer Verbraucher ist? c) Zwischenergebnis 3. Andere Unwirksamkeits- oder Nichtigkeitsgründe III. Ergebnis

Lösungsvorschlag A. Anspruch L-GmbH gegen B aus § 280 Abs. 1 BGB Die L-GmbH – aktivlegitimiert aufgrund von § 13 Abs. 1 GmbHG – könnte gegen B einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 500 Euro aus § 280 Abs. 1 BGB haben. I. Bestehen eines Arbeitsvertrages Das für einen vertraglichen Schadensersatzanspruch erforderliche Schuldverhältnis liegt vor, da B und die L-GmbH zum 2.1.2011 einen Arbeitsvertrag geschlossen haben. II. Pflichtverletzung Die B hat ihre Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis zumindest dadurch verletzt, dass sie – unter Zugrundelegung ihres eigenen Sachvortrags – den Schlüssel zur Kasse an einem Tag für wenige Minuten offen neben die Kasse gelegt und somit den Zugriff eines Dritten auf das Geld ermöglicht hat. Sie hat dadurch gegen ihre aus § 241 Abs. 2 BGB erwachsene Nebenpflicht, den Arbeitgeber durch Wahrung der Integrität seines an dem Geld in der Kasse bestehenden Eigentums nicht zu schädigen, verstoßen. Dies gilt erst recht, wenn die Behauptung der L-GmbH zu-

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„Loch in der Kasse“

Lösungsvorschlag Fall 7

trifft, dass die B den Schlüssel des Öfteren für jeden sichtbar im Ladenlokal liegengelassen habe. III. Verschulden Die B hat durch ihr Handeln – sowohl nach ihrem eigenen Vortrag als auch nach der Behauptung der L-GmbH – die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen und somit fahrlässig gehandelt (§ 276 Abs. 2 BGB). Ob B nur leicht oder gar grob fahrlässig gehandelt hat, spielt für den Bereich des haftungsbegründenden Verhaltens keine Rolle, da grundsätzlich jede Form von Fahrlässigkeit zur Haftung führt. IV. Schaden Indem die B einem unbekannten Dritten den Zugriff zur Kasse ermöglichte, ist der L-GmbH adäquat-kausal ein Schaden in Höhe des Fehlbetrages von 500 Euro entstanden. V. Haftungsmilderung Zu Gunsten der B könnten jedoch die Grundsätze der Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung in entsprechender Anwendung des § 254 BGB eingreifen. Die Haftungsmilderung im Arbeitsverhältnis ist vom Gedanken der Verantwortung des Arbeitgebers für die Organisation des Betriebes und die Gestaltung der Arbeitsbedingungen sowie des darin liegenden Betriebsrisikos beherrscht. Der Arbeitnehmer kann den vorgegebenen Arbeitsbedingungen weder tatsächlich noch rechtlich ausweichen. Auf Grund des Weisungsrechts bestimmt der Arbeitgeber die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung und prägt zusammen mit der von ihm gesetzten Organisation des Betriebes das Haftungsrisiko für den Arbeitnehmer. Die Mitverantwortung des Arbeitgebers für diese das Schadensrisiko erhöhende Fremdbestimmung rechtfertigt gemäß § 254 BGB analog die Haftungsmilderung für den Arbeitnehmer. Deshalb kann es für die Anwendung der Grundsätze über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung nicht darauf ankommen, ob die Arbeit gefahrgeneigt ist, was früher das Abgrenzungskriterium bildete. Die Haftungsmilderung greift vielmehr schon für alle Arbeiten ein, die durch den Betrieb veranlasst sind und auf Grund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden.1 Dies ist bei B der Fall, da ihr schadenstiftendes Verhalten durch ihre das Arbeitsverhältnis zur L-GmbH bestimmende Kassiertätigkeit betrieblich veranlasst war. Dasselbe gilt auch für den Fall, dass die B unter die sog. Mankohaftung fallen würde. Unter einem Manko versteht man im Arbeitsrecht einen Schaden, den ein Arbeitgeber dadurch erleidet, dass ein seinem Arbeitnehmer anvertrauter Warenbestand eine Fehlmenge aufweist oder sich in einer von seinem Arbeitnehmer geführten Kasse ein Fehlbetrag ergibt.2 Mit der Abkehr vom Merkmal der Gefahrgeneigtheit der Arbeit steht nunmehr fest, dass die Grundsätze

1 Grundlegend BAG GS 27.9.1994 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 103. 2 ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 28 m.w.N.

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Fall 7

Lösungsvorschlag

„Loch in der Kasse“

des innerbetrieblichen Schadensausgleichs auch im Bereich der Mankohaftung Anwendung finden.3 Somit kommt es auch hier vor allem auf den Grad des Verschuldens an, der über eine volle (regelmäßig bei grober Fahrlässigkeit) oder anteilsmäßige (bei normaler bzw. mittlerer Fahrlässigkeit) Haftung des Arbeitnehmers für den Schaden oder eine völlige Haftungsbefreiung (bei leichtester Fahrlässigkeit) entscheidet.4 Ob bei B ein Fall der allgemeinen Mankohaftung vorliegt, kann insoweit offen bleiben. 1. Rechtswirksamkeit der Beweislastvereinbarung Da der Grad des der B vorzuwerfenden Verschuldens zwischen ihr und der L-GmbH streitig und wegen der Auswirkung auf den Haftungsumfang nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs auch beweiserheblich ist, kommt es darauf an, wer die Beweislast trägt. Ausgangspunkt ist § 619a BGB. Danach hat der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber abweichend von § 280 Abs. 1 S. 2 BGB Schadensersatz für eine Pflichtverletzung aus dem Arbeitsverhältnis nur zu leisten, wenn er die Pflichtverletzung zu vertreten hat. Damit verbleibt es im Bereich der Arbeitnehmerhaftung bei dem Grundsatz, dass der Arbeitgeber nicht nur die objektiven Voraussetzungen der Pflichtverletzung, sondern auch die das Verschulden bedingenden Tatsachen zu beweisen hat. Dies gilt auch für das Maß des Verschuldens des Arbeitnehmers, insbesondere was den Vorwurf grober Fahrlässigkeit anbelangt.5 Folglich wäre die L-GmbH für die Umstände beweispflichtig, welche den Vorwurf grober Fahrlässigkeit der B und somit ihre volle Haftung begründen. Etwas anderes könnte sich jedoch aus der Klausel im Arbeitsvertrag vom 2.1.2011 ergeben, wonach sich die Schadensaufteilung bei Fehlbeträgen in der vom Arbeitnehmer geführten Kasse zwar nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen richtet, die Mitarbeiterin jedoch im Zweifel für ihren Verschuldensgrad beweispflichtig ist. Danach müsste die B beweisen, dass sie allenfalls leicht fahrlässig handelte und ihre Haftung deshalb vollständig ausgeschlossen ist. Wegen der Abweichung von § 619a BGB sowie der Vorformulierung der Vertragsbedingung ist aber problematisch, ob diese Beweislastvereinbarung rechtswirksam ist. a) Verstoß gegen § 619a BGB Die Beweislastvereinbarung zum Nachteil der B könnte schon gegen § 619a BGB verstoßen und deshalb unwirksam sein. Dies setzt voraus, dass es sich bei § 619a BGB um zwingendes Recht handelt und die Norm daher nicht dispositiv ist. Nach Auffassung des BAG stellt die Rechtsprechung zur privilegierten Arbeitnehmerhaftung „einseitig zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht“ dar, von dem

3 BAG 22.5.1997 AP BGB § 611 Mankohaftung Nr. 1; BAG 17.9.1998 AP BGB § 611 Mankohaftung Nr. 2. 4 Zur Haftungstrias siehe ausführlich ErfK/PREIS § 619a BGB Rn.13 ff. 5 S. schon BAG 13.3.1968 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 42; BAG 22.2.1972 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 70.

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„Loch in der Kasse“

Lösungsvorschlag Fall 7

weder einzel- noch kollektivvertraglich abgewichen werden könne.6 Auch hat es in seiner früheren Rechtsprechung die Beweislastverteilung als eng mit dem Haftungsmaßstab verknüpft angesehen, so dass die Beweislast am zwingenden Charakter der Haftungsgrundsätze partizipiere. Diese Rechtsprechung stößt vor dem Hintergrund der Schuldrechtsreform indes auf grundlegende Bedenken. Zwar wollte der Reformgesetzgeber nicht in die Grundsätze zum innerbetrieblichen Schadensausgleich eingreifen. Allerdings sind diese Grundsätze über die analoge Anwendung des § 254 BGB oder gar direkte Anwendung des § 276 Abs. 1 BGB in das allgemeine Haftungssystem des BGB integriert worden. Dieses ist jedoch seinerseits dispositiv. Eine für die Arbeitnehmerhaftung geltende Bereichsausnahme ist nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte nicht ersichtlich. Auch § 619a BGB steht der Dispositivität nicht entgegen, da der Norm weder eine Aussage zum Haftungsmaßstab noch zur Haftungshöhe zu entnehmen ist. Die Arbeitnehmerhaftung ist somit als durch die Schuldrechtsreform anerkannte Fortbildung des dispositiven privatrechtlichen Haftungsrechts zu qualifizieren.7 Ein zwingender Charakter des § 619a BGB lässt sich infolgedessen nicht mehr mit einem ebensolchen des Arbeitnehmerhaftungsrechts begründen. Aber auch unabhängig davon gibt § 619a BGB für dessen Unabdingbarkeit nichts her. Entsprechend der im Schuldrecht geltenden Regel, dass seine Normen dispositiv sind, müsste die Unabdingbarkeit gesetzlich angeordnet worden sein. Dies ist aber nicht der Fall. Insbesondere ist § 619a BGB eine solche Anordnung nicht zu entnehmen, da § 619a BGB systematisch hinter § 619 BGB steht und letztere Vorschrift nur die Abdingbarkeit der §§ 617, 618 BGB beschränkt, die ihrerseits Pflichten des Arbeitgebers normieren und keine Beweislastregeln sind. Somit ist § 619a BGB selbst dispositiv.8 Daraus folgt, dass § 619a BGB der abändernden Beweislastvereinbarung zwischen der L-GmbH und B im Arbeitsvertrag vom 2.1.2011 nicht entgegensteht. b) Verstoß gegen § 309 Nr. 12 BGB Die Beweislastvereinbarung könnte jedoch gemäß § 309 Nr. 12 BGB unwirksam sein. Danach ist eine Bestimmung, auch soweit – wie hier – eine Abweichung von den gesetzlichen Vorschriften zulässig ist, unwirksam, durch die der Verwender die Beweislast zum Nachteil des anderen Vertragsteils ändert, insbesondere indem er diesem die Beweislast für Umstände auferlegt, die im Verantwortungsbereich des Verwenders liegen (§ 309 Nr. 12 lit. a BGB) oder den anderen Vertragsteil bestimmte Tatsachen bestätigen lässt (§ 309 Nr. 12 lit. b BGB). Die Anwendung des § 309 Nr. 12 BGB setzt voraus, dass Arbeitsverträge in den sachlichen Anwendungsbereich der AGB-Kontrolle nach den §§ 305 ff. BGB fallen, es sich bei der Klausel um eine vorformulierte Vertragsbedingung i.S.d. § 305 Abs. 1

6 BAG 17.9.1998 AP BGB § 611 Mankohaftung Nr. 2; BAG 2.12.1999 AP BGB § 611 Mankohaftung Nr. 3; BAG 5.2.2004 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 126. 7 GOTTHARDT, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, Rn.195; ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 11 m.w.N. 8 ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 11; GOTTHARDT, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, Rn. 200; HENSSLER RdA 2002, 129, 133; a.A. wohl DÄUBLER NZA 2001, 1329, 1332.

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Fall 7

Lösungsvorschlag

„Loch in der Kasse“

BGB handelt, die Voraussetzungen des § 309 Nr. 12 BGB vorliegen und arbeitsrechtliche Besonderheiten der Anwendung der Norm nicht entgegenstehen. aa) Anwendbarkeit der §§ 305 ff. BGB auf Individualarbeitsverträge (§ 310 Abs. 4 S. 1 BGB) In die Inhaltskontrolle von AGB nach den §§ 305 ff. BGB sind nunmehr gemäß § 310 Abs. 4 S. 1 BGB auch Individualarbeitsverträge einbezogen. Da es sich hier um einen solchen handelt, ist für ihn der sachliche Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB eröffnet. bb) Vorliegen Allgemeiner Geschäftsbedingungen Bei der Klausel muss es sich um eine Allgemeine Geschäftsbedingung i.S.d. § 305 Abs. 1 BGB handeln, also um eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung, die eine Vertragspartei der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrages stellt. Zudem darf keine Individualabrede vorliegen, die Vertragsbedingung daher nicht im Einzelnen ausgehandelt sein. Hier hat die L-GmbH den Arbeitsvertrag vom 2.1.2011 einem Musterarbeitsvertrag entnommen, der bei Neustellungen stets verwendet wird. Folglich liegt mit der betreffenden Klausel eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung (Arbeitsbedingung) vor. Die Klausel ist auch nicht im Einzelnen ausgehandelt worden, da nicht ersichtlich ist, dass die B den Inhalt der Klausel beeinflussen konnte, indem die L-GmbH diese ernsthaft zur Disposition stellte.9 cc) Wirksame Einbeziehung der Allgemeinen Geschäftsbedingung Eine Inhaltskontrolle der Klausel kann darüber hinaus nur dann erfolgen, wenn diese Klausel wirksamer Vertragsbestandteil geworden ist. Anders als im allgemeinen Zivilrecht ist im Arbeitsrecht für die Einbeziehung die Vorschrift des § 305 Abs. 2 und 3 BGB nicht zu beachten, § 310 Abs. 4 S. 2 Halbs. 2 BGB. Zweifel aufgrund der zu beachtenden übrigen Einbeziehungsvoraussetzungen, dass keine vorrangige Individualabrede vorliegt (§ 305b BGB) bzw. die Abrede nicht als überraschende Klausel anzusehen sein darf (§ 305c Abs. 1 BGB), bestehen vorliegend nicht. Folglich steht diese Klausel der Inhaltskontrolle der §§ 307 ff. BGB offen. dd) Inhaltskontrolle gemäß § 309 Nr. 12 BGB – nachteilige Beweislastvereinbarung Indem durch die formularmäßige Beweislastvereinbarung entgegen der dispositiven (s.o.) Vorschrift des § 619a BGB die Beweislast für das (Nicht-)Vertretenmüssen der Pflichtverletzung auf die B als Vertragspartner des Verwenders (L-GmbH) zu deren Nachteil verlagert worden ist, liegt ein Verstoß gegen § 309 Nr. 12 BGB vor. Die Vorschrift untersagt jede Änderung der gesetzlichen Beweislast zu Ungunsten des Vertragspartners des Verwenders, also auch ein dem Arbeitnehmer nachteiliges Abweichen von § 619a BGB.10

9 Vgl. dazu ErfK/PREIS §§ 305-310 BGB Rn. 24. 10 ErfK/PREIS §§ 305-310 BGB Rn. 80; GOTTHARDT, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, Rn. 286.

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„Loch in der Kasse“

Lösungsvorschlag Fall 7

ee) Keine entgegenstehenden arbeitsrechtlichen Besonderheiten i.S.d. § 310 Abs. 4 S. 2 BGB Der Verstoß der Beweislastvereinbarung gegen § 309 Nr. 12 BGB führt aber nur dann zu deren Unwirksamkeit, wenn die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten, die gemäß § 310 Abs. 4 S. 2 BGB angemessen zu berücksichtigen sind, dem nicht entgegenstehen. Unter die Besonderheiten des Arbeitsrechts fallen nach Ansicht des BAG11 nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche Besonderheiten des Arbeitslebens, da die Privilegierung des § 310 Abs. 4 S. 2 BGB die Beachtung aller arbeitsrechtlichen Besonderheiten erfordere.12 Dass die in § 309 Nr. 12 BGB zum Ausdruck kommende Wertung im Arbeitsrecht nicht anwendbar wäre, ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil ist die Zulässigkeit von Beweislastverlagerungen zu Lasten des (strukturell schwächeren) Arbeitnehmers vom BAG zu Recht kritisch gewürdigt und regelmäßig verneint worden,13 so dass § 309 Nr. 12 BGB die im Arbeitsrecht bestehende typische Interessenlage zutreffend zum Ausdruck bringt. Folglich stehen arbeitsrechtliche Besonderheiten i.S.d. § 310 Abs. 4 S. 2 BGB der Anwendung des § 309 Nr. 12 BGB auf formularmäßige Beweislastvereinbarungen nicht entgegen.14 Daraus folgt, dass die Beweislastvereinbarung im Arbeitsvertrag zwischen B und der L-GmbH vom 2.1.2011 gemäß § 309 Nr. 12 BGB unwirksam ist. ff) Die Beweislastvereinbarung als Mankoabrede Fraglich ist, ob sich an diesem Ergebnis etwas ändert, wenn die vorformulierte Beweislastvereinbarung als sog. Mankoabrede qualifiziert wird. Darauf könnte die Formulierung in der Klausel hindeuten, die ausdrücklich auf einen Fehlbetrag in der Kasse Bezug nimmt, sog. Kassenmanko. Solche Mankoabreden sind wegen des mit ihnen verbundenen erhöhten Haftungsrisikos jedoch nur dann zulässig, wenn der Arbeitnehmer – in Anlehnung an die Grundsätze zur allgemeinen Mankohaftung – die Kasse allein beherrschte, insbesondere andere Personen keinen Zugriff hatten, und dem Arbeitnehmer ein angemessener Risikoausgleich in Form eines sog. Mankogeldes gewährt wird.15 Beides ist hier schon zweifelhaft. Es erscheint lebensfremd, dass eine „einfache“ Kassiererin alleinigen Zugriff auf die Kasse hat und nicht etwa auch der Filialleiter. Auch gibt es keinen Anhalt für die Zahlung eines Mankogeldes von Seiten der L-GmbH. Dies kann jedoch dahinstehen, wenn die Beweislastvereinbarung auch als Mankoabrede aus anderen Gründen unwirksam wäre. Auch hier könnte sich die Unwirksamkeit aus § 309 Nr. 12 BGB ergeben, da die Klausel zum Nachteil der B von § 619a BGB abweicht. § 619a BGB unterscheidet nicht nach der Art der Pflichtverletzung durch den Ar11 BAG 25.5.2005, NZA 2005, 1111, 1115. 12 A.A. THÜSING NZA 2002, 591, 592 m.w.N., der nur rechtliche Besonderheiten erfasst sehen will. Vgl. für eine vermittelnde Lösung PREIS in: Dauner-Lieb/Henssler/Preis, Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht, 2005, S. 64, 68. Vgl. zu diesem Problem bereits den Fall „Die verweigerte Arbeitsaufnahme“. Sowie näher PREIS NZA-Sonderheft 16/2003, 19 ff. 13 Vgl. BAG 16.3.1994 AP BGB § 611 Ausbildungsbeihilfe Nr. 18. 14 ErfK/PREIS §§ 305-310 BGB Rn. 80; GOTTHARDT, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, Rn. 286. 15 BAG 17.9.1998 AP BGB § 611 Mankohaftung Nr. 2.

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Fall 7

Lösungsvorschlag

„Loch in der Kasse“

beitnehmer, so dass die Vorschrift auch im Bereich der Mankohaftung gilt, was auch dem Willen des Reformgesetzgebers entspricht.16 Folglich ergibt sich kein Unterschied zum bereits gefundenen Ergebnis. Die Beweislastvereinbarung ist somit auch dann nach § 309 Nr. 12 BGB unwirksam, wenn man sie als Mankoabrede qualifiziert.17 c) Zwischenergebnis Da die Beweislastvereinbarung unwirksam ist, tritt nach § 306 Abs. 2 BGB das dispositive Recht an deren Stelle, also hier § 619a BGB. Somit ist die L-GmbH für ihre Behauptung, B habe hinsichtlich des Kassenschlüssels grob fahrlässig gehandelt, beweispflichtig. 2. Grad des Verschuldens bei Anwendung des § 619a BGB Aus dem Sachverhalt ergeben sich keine Hinweise, dass die Behauptung der L-GmbH, B habe des Öfteren den Kassenschlüssel offen im Ladenlokal liegen gelassen, was auf eine besonders grobe Verletzung der verkehrsüblichen Sorgfalt schließen lassen würde, erwiesen ist. Es ist deshalb eine Beweislastentscheidung zu treffen. Diese richtet sich nach § 619a BGB und muss daher zu Lasten der L-GmbH erfolgen, da sie beweisfällig geblieben ist. Folglich ist davon auszugehen, dass die B nicht grob fahrlässig, sondern – wie sie nach ihrem eigenen Sachvortrag einräumt – allenfalls leichtest fahrlässig gehandelt hat. Denn indem sie den Kassenschlüssel an einem einzigen Tag, und auch nur für wenige Minuten neben die Kasse legte, sonst aber stets in ihrer Tasche aufbewahrte, kann ihr nur ein persönlichkeitsuntypisches Augenblicksversagen vorgeworfen werden, welches mit einem leichteste Fahrlässigkeit begründendem „Abirren“ der Arbeitsleistung18 normativ gleichgesetzt werden sollte. Daraus folgt, dass die B in Anwendung der Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs von jeglicher Haftung freigestellt ist. VI. Ergebnis Die L-GmbH hat gegen B keinen Anspruch auf Zahlung von 500 Euro aus § 280 Abs. 1 BGB. B. Anspruch L-GmbH gegen B aus § 823 Abs. 1 BGB Ein Anspruch der L-GmbH gegen B auf Zahlung von 500 Euro könnte sich aus § 823 Abs. 1 BGB ergeben. I. Rechtsgutsverletzung/Rechtswidrigkeit Indem die B den Kassenschlüssel, wenn auch nur für wenige Minuten, offen neben die Kasse legte und somit Dritten den Zugriff auf das in der Kasse liegende Geld ermöglichte, hat sie das Eigentum der L-GmbH an dem Geld verletzt. Dies geschah auch rechtswidrig.

16 ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 41. 17 Vgl. ErfK/PREIS §§ 305-310 BGB Rn. 90, § 619a BGB Rn. 41. 18 S. MüArbR/REICHOLD § 51 Rn. 41.

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„Loch in der Kasse“

Lösungsvorschlag Fall 7

II. Verschulden B handelte auch fahrlässig. III. Schaden Der L-GmbH ist hierdurch adäquat-kausal ein Schaden in Höhe des Fehlbetrages von 500 Euro entstanden. IV. Haftungsmilderung Allerdings greifen die Grundsätze zur privilegierten Haftung des Arbeitnehmers analog § 254 BGB auch bei deliktischen Ansprüchen ein, erst recht, wenn sie in Anspruchskonkurrenz zu vertraglichen Schadensersatzansprüchen nach § 280 Abs. 1 BGB stehen. Wie bei § 619a BGB im Vertragsrecht, ist der Arbeitgeber auch im Deliktsrecht für alle anspruchsbegründenden Tatsachen voll beweispflichtig. Er muss also auch hier den Grad des Verschuldens beweisen, insbesondere diejenigen Umstände, die eine zur vollen Haftung des Arbeitnehmers führende grobe Fahrlässigkeit begründen. Da die Beweislastvereinbarung auch hier zum Nachteil der B von der gesetzlichen Beweislastverteilung abweicht, ist sie ebenso in Ansehung des Anspruchs aus § 823 Abs. 1 BGB nach § 309 Nr. 12 BGB unwirksam. Die zu Lasten der L-GmbH ergehende Beweislastentscheidung hinsichtlich der nicht nachgewiesenen groben Fahrlässigkeit (s.o.) führt damit auch hier zur vollen Haftungsfreistellung der B, weil ihr nach ihrem eigenen Vortrag allenfalls leichteste Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann. Insoweit kann auf die zum vertraglichen Schadensersatzanspruch gemachten Ausführungen Bezug genommen werden. V. Ergebnis Ein Anspruch der L-GmbH gegen B auf Zahlung von 500 Euro aus § 823 Abs. 1 BGB scheidet somit ebenfalls aus. C. Anspruch B gegen L-GmbH aus § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag B kann von der L-GmbH am 1.9.2011 Beschäftigung verlangen, wenn zwischen den Parteien ein wirksames Arbeitsverhältnis besteht. I. Bestehen eines Arbeitsvertrages B und die L-GmbH haben am 2.1.2011 einen Arbeitsvertrag geschlossen. II. Ende des Arbeitsverhältnisses durch Aufhebungsvertrag Das Arbeitsverhältnis könnte jedoch durch den Aufhebungsvertrag vom 5.8.2011 zum 31.8.2011 beendet worden sein. 1. Abschluss des Aufhebungsvertrages am 5.8.2011 Am 5.8.2011 wurde im Büro des Geschäftsführers der L-GmbH ein Aufhebungsvertrag zwischen B und der L-GmbH geschlossen. Danach sollte das Arbeitsverhältnis zum 31.8.2011 enden. Auch ist das Schriftformerfordernis des § 623 BGB gewahrt worden.

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Fall 7

Lösungsvorschlag

„Loch in der Kasse“

2. Unwirksamkeit des Aufhebungsvertrages wegen Widerrufs nach §§ 312 Abs. 1 S. 1, 355 BGB Fraglich ist, ob der Aufhebungsvertrag wegen eines Widerrufs nach §§ 312 Abs. 1 S. 1, 355 BGB unwirksam ist. Folge davon wäre, dass das Arbeitsverhältnis nicht zum 31.8.2011 beendet worden wäre. Nach § 312 Abs. 1 S. 1 BGB steht dem Verbraucher ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB zu, wenn der Verbraucher bei einem Vertrag mit einem Unternehmer über eine entgeltliche Leistung zum Vertragsschluss u.a. durch mündliche Verhandlungen am Arbeitsplatz oder im Bereich einer Privatwohnung (Nr. 1) bestimmt worden ist. Voraussetzung ist also die Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers und die Anwendbarkeit dieser Vorschrift auch im Arbeitsrecht. a) Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers Fraglich ist, ob der Arbeitnehmer als solcher Verbraucher i.S.v. § 13 BGB ist. Diese Problematik ist in der Literatur äußerst umstritten, ist aber inzwischen vom BAG entschieden worden.19 Gegen die Verbrauchereigenschaft wird vorgebracht, aus dem Wortsinn des Begriffes „Verbraucher“ ergebe sich, dass hierunter der Arbeitnehmer nicht fallen könne. Erforderlich sei ein konsumtiver Zweck, also der Verbrauch von Waren oder Dienstleistungen gegen Geld, was im Arbeitsrecht nicht der Fall sei. Der weite Wortlaut des § 13 BGB sei insoweit missglückt. Darüber hinaus wird vorgebracht, „Verbraucher“ sei der Gegenbegriff zum „Unternehmer“ und nicht zum „Arbeitgeber“. § 13 BGB sei richtlinienkonform auszulegen. Nach dem Inhalt der Richtlinie 93/13/EWG sind Verbraucher (nur) natürliche Personen, die bei Rechtsgeschäften zu einem Zweck handeln, der weder zu ihrer gewerblichen noch ihrer beruflichen Tätigkeit gerechnet werden kann. Da der Arbeitnehmer im Rahmen seiner Tätigkeit zu beruflichen Zwecken handelt, sei er in diesem Zusammenhang kein Verbraucher. Die fehlende Verbrauchereigenschaft wird des Weiteren daraus abgeleitet, dass der Gesetzgeber mit der Schaffung des § 13 BGB die Regelung des zuvor geltenden § 24a AGBG inhalts- und wortgleich übernommen hat und diese AGB-Vorschrift auf Arbeitsverträge nicht anwendbar war. Gleiches müsse daher auch für § 13 BGB gelten. Dieser Auffassung nach ist der Arbeitnehmer als solcher kein Verbraucher. Die wohl überwiegende Meinung in der Literatur und das BAG bejahen dagegen die Verbrauchereigenschaft mit den besseren Argumenten. Auszugehen ist vom Wortlaut des § 13 BGB. Danach ist Verbraucher jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Subsumiert man den Abschluss des Arbeitsvertrages unter den Verbraucherbegriff, so ergibt sich, dass der Arbeitnehmer bei Abschluss, Änderung und Aufhebung von Arbeitsverträgen „Verbraucher“ ist. Auch ist der Begriff „Verbraucher“ kein Tatbestandsmerkmal, sondern bloßer rechtstechnischer Oberbegriff, der durch die soeben dargestellten Tatbestandsmerkmale gefüllt wird. Das Rechtsgeschäft muss also keinen „konsumtiven Zweck“ haben.

19 BAG 25.5.2005 NZA 2005, 1111, 1115.

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„Loch in der Kasse“

Lösungsvorschlag Fall 7

Aus der Gesetzesgeschichte ergibt sich, dass im Rahmen des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes das „Verbraucherschutzrecht“ zusammengefasst werden sollte. Dass der Gesetzgeber den Arbeitnehmer prinzipiell als Verbraucher ansieht, folgt schon aus § 491 Abs. 2 Nr. 4 BGB, in dem der Gesetzgeber implizit davon ausgeht, dass der Arbeitnehmer (auch) Verbraucher ist und auf ihn das Verbraucherschutzrecht, soweit es einschlägig ist, Anwendung findet. Eine entsprechende Aussage findet sich auch in den Materialien zu § 13 BGB (BT-Drs. 13/6040 S. 243). Unterstützt wird diese Sicht durch § 15 UKlaG, der die Möglichkeit der Unterlassungsklagen bei Verstößen gegen §§ 307-309 BGB und verbraucherschutzwidrigen Praktiken im Arbeitsrecht ausschließt. Dieser Ausschluss ist nur damit zu erklären, dass der Gesetzgeber implizit davon ausgegangen sein muss, dass der Arbeitnehmer Verbraucher ist. Bei den Vorschriften zur Inhaltskontrolle formulieren die Materialien, dass das Schutzniveau im Arbeitsrecht nicht hinter dem des Zivilrechts zurückbleiben solle (BT-Drs. 14/6857 S. 17). Ferner war dem Gesetzgeber vor der endgültigen Beschlussfassung bekannt, dass der erhöhte Zinssatz nach § 288 Abs. 2 BGB auch im Arbeitsrecht gelten würde, wenn der Arbeitnehmer nicht Verbraucher ist.20 Diese Stellungnahme in der Literatur hat der Gesetzgeber gerade zum Anlass genommen, Klarstellungen zum Arbeitsrecht aufzunehmen. Der Interpretation zum Verbraucherbegriff ist der Gesetzgeber aber nicht gefolgt. In systematischer Hinsicht ist nach der deutlichen Reintegration des Arbeitsrechts in das BGB eindeutig, dass auch die Definitionsnormen des Allgemeinen Teils des BGB für das Arbeitsvertragsrecht Gültigkeit beanspruchen. Mit der Verankerung im Allgemeinen Teil wollte der Gesetzgeber gerade die Ausstrahlungswirkung der Definition auf das ganze Vertragsrecht sicherstellen (BT-Drs. 14/6040 S. 166). Es ist verfehlt, diese Umklammerung durch die generelle Annahme, das Arbeitsvertragsrecht sei eine Sondermaterie, wieder trennen zu wollen.21 Die „Besonderheiten des Arbeitsrechts“ berücksichtigt der Gesetzgeber im jeweiligen Sachzusammenhang (vgl. § 310 Abs. 4 S. 2 BGB). Der Gesetzgeber erkennt in weitem Umfang an, dass natürliche Personen, die nicht in Ausübung ihrer selbständigen Tätigkeit Rechtsgeschäfte abschließen, Verbraucher sind. Nun könnte man argumentieren, dass § 13 BGB solche Verträge nicht erfassen will, die den Verbraucherstatus selbst betreffen, es sich also um ein Rechtsgeschäft handeln muss, das außerhalb der Definition des Grundstatus liegt. Dem könnte jedoch nicht gefolgt werden, weil bei dieser Sichtweise das gesamte (überwiegend zwingende) Verbraucherschutzrecht durch Statusvereinbarungen ausgehebelt werden könnte. Ausschlaggebend für die Bejahung der Verbrauchereigenschaft des Arbeitnehmers ist aber letztlich die teleologische Interpretation der maßgebenden Normen. Bedingt durch die Verbraucherschutzrichtlinien der Europäischen Union ist in das deutsche Privatrecht ein Schutzsystem integriert worden. In der Dichotomie „Unternehmer - Verbraucher“, ist der Verbraucher, definiert als nicht zu selbstständigen Erwerbszwecken handelnde natürliche Person, das Schutzobjekt schlechthin. Man mag dies rechtspolitisch beklagen. Eindeutig ist aber, dass der Arbeitnehmer als der klassisch unselbstständig Handelnde eher noch schutzwür-

20 Vgl. LÖWISCH NZA 2001, 465, 466. 21 So aber NATZEL NZA 2002, 595, 596.

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Fall 7

Lösungsvorschlag

„Loch in der Kasse“

diger ist als der „Nur-Verbraucher“, weil letzterer auch auf den Vertragsabschluss (z.B. als Zeitungsabonnement) verzichten könnte, während der Arbeitnehmer als unselbstständig Handelnder auf den Vertragsschluss angewiesen ist. Der Arbeitnehmer als solcher ist somit Verbraucher nach § 13 BGB. b) Widerrufsrecht nach § 312 BGB auch, wenn der Arbeitnehmer Verbraucher ist? Auch wenn danach der Arbeitnehmer grundsätzlich Verbraucher ist, betont das BAG, dass § 13 BGB kein abstrakt zu bestimmender Sinn zukommt. Es komme vielmehr abschließend auf die Normen an, die auf die Eigenschaft als Verbraucher abstellen, also hier auf § 312 BGB. Es ist also zu klären, ob § 312 Abs. 1 S. 1 BGB trotz der Arbeitnehmereigenschaft der B dennoch im Arbeitsrecht keine Anwendung findet. Ein Teil der Literatur bejaht die Anwendbarkeit des Widerrufsrechts im Arbeitsrecht. Die Überschrift des entsprechenden Untertitels im BGB kennzeichne das gemeinsame Strukturelement der §§ 312 ff. BGB: Den Vertragsabschluss und die Vertragsanbahnung außerhalb fester Verkaufs- und Geschäftsräume. Es müsse also in dem Sinne nichts „vertrieben“ werden. Eine Beschränkung auf bestimmte Schuldverhältnisse liege in der Überschrift des Titels nicht. Auch sei das HausTWG z.B. auf Mietverträge angewandt worden. Demnach sei § 312 Abs. 1 S. 1 BGB grundsätzlich auch im Arbeitsrecht anwendbar. Danach stünde der B ein Widerrufsrecht zu. Der wohl überwiegende Teil der Lehre und das BAG lehnen hingegen ein Widerrufsrecht für einen Aufhebungsvertrag ab.22 Zwar ist „Arbeitsplatz“ weit zu verstehen und umfasst auch das Personalbüro, jedoch widerspreche es der Gesetzessystematik, § 312 BGB auf arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge anzuwenden. Der Untertitel „Besondere Vertriebsformen“ fasse Fernabsatzverträge und den elektronischen Geschäftsverkehr zusammen, die aber beide weder den Arbeitsnoch den Aufhebungsvertrag erfassen würden. Das bestätige auch § 312 Abs. 3 BGB, der das Widerrufsrecht von einem Mindestwert von 40 Euro abhängig macht, was nur sinnvoll sei, wenn man von bestimmten Vertriebsformen in § 312 BGB ausgehe. Auch die Gesetzeshistorie spreche gegen die Anwendbarkeit des Widerrufrechts. Der Gesetzgeber habe – anders als z.B. im AGB-Recht mit § 310 Abs. 4 S. 2 BGB – auf eine Klarstellung verzichtet, dass § 312 BGB auch im Arbeitsrecht Anwendung finden solle. Letztendlich werde diese Argumentation durch Sinn und Zweck des Widerrufsrechts bestätigt. Das Haustürwiderrufsrecht sei ein vertragstypenbezogenes und situationsbezogenes Verbraucherrecht. Die Norm diene dem Verbraucherschutz und soll vor überraschenden Geschäften schützen. Bei Abschluss eines Aufhebungsvertrags fehle aber das typische situative Überraschungsmoment. An seinem Arbeitsplatz müsse der Arbeitnehmer kraft Natur der Sache mit der Ansprache durch den Arbeitgeber oder Vorgesetzte rechnen. Bezogen auf den

22 BAG 27.11.2003 AP BGB § 312 Nr. 2.

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„Loch in der Kasse“

Lösungsvorschlag Fall 7

Arbeitsvertrag sei der Arbeitsplatz der Geschäftsraum, an dem normalerweise die vertraglichen Regelungen zustande kommen. Dieser Argumentation folgend ist das Widerrufsrecht der §§ 312 Abs. 1 S. 1, 355 BGB erkennbar nicht für arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge geschaffen und darum auch nicht auf diese anwendbar. Die B kann somit den Aufhebungsvertrag nicht widerrufen. c) Zwischenergebnis Folgt man der Ansicht, dass der Arbeitnehmer kein Verbraucher ist, scheidet ein Widerrufsrecht schon von vornherein aus. Sieht man den Arbeitnehmer dagegen als Verbraucher an, sprechen die besseren Argumente dafür, § 312 BGB im Arbeitsrecht nicht anzuwenden. Der Arbeitnehmer und damit die B hat also kein Widerrufsrecht bei Aufhebungsverträgen. 3. Andere Unwirksamkeits- oder Nichtigkeitsgründe Andere Unwirksamkeits- oder Nichtigkeitsgründe für den Aufhebungsvertrag sind nicht ersichtlich. Ein Anfechtungsrecht der B war nicht zu prüfen. III. Ergebnis Das Arbeitsverhältnis endete mit Ablauf des 31.8.2011. B hat somit am 1.9.2011 keinen Beschäftigungsanspruch gegen die L-GmbH.

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Fall 8

Falldarstellung

„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

Fall 8: „Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“ Falldarstellung Ausgangsfall Der 17-jährige E ist bei A, der einen Einzelhandelsbetrieb führt, als Auszubildender für den Beruf des Verkäufers beschäftigt. E befindet sich im ersten Ausbildungsjahr. Seine Ausbildungsvergütung beträgt 350 Euro netto monatlich. Im Rahmen der Ausbildung ist E auch im Lager tätig. Dort befindet sich ein Gabelstapler, der von den ausgebildeten Mitarbeitern des A zum Warentransport genutzt wird. E besitzt weder einen Führerschein für das Fahrzeug, noch ist er in die Bedienung des Gabelstaplers eingewiesen worden. Am Beginn seiner Ausbildung ist E von A ausdrücklich untersagt worden, mit dem Gabelstapler zu fahren. Anfang Oktober befindet sich ein mit Fahrrädern beladener Lastkraftwagen auf dem Firmengelände des A. E wird von Frau L, einer Mitarbeiterin des A im Bereich Sekretariat/Buchhaltung, angewiesen, den mit Fahrrädern beladenen Lkw abzuladen. Im Betrieb des A ist es üblich, dass fast alle Mitarbeiter den Auszubildenden Anweisungen erteilen. E sieht, dass die abzuladenden Fahrräder einzeln in Kartons verpackt und in bestimmten Anzahlen auf Paletten zusammengefügt sind. Angesichts des Gewichts folgert E zutreffend, dass nur ein Abladen mit dem Gabelstapler in Betracht kommt. Obwohl ihm bewusst ist, dass A ihm die Benutzung des Gabelstaplers untersagt hat, setzt er sich ans Steuer und fährt Richtung Firmengelände. Als E gerade aus der Lagerhalle fahren will, stößt er beim Ausfahren mit den zwei hochgefahrenen Gabeln gegen das nicht vollständig geöffnete Rolltor und beschädigt zwei Segmente sowie die Zugeinrichtungsteile des Tores. Das Tor wies keine Vorschäden auf. Der Schaden beträgt 4.000 Euro. A nimmt E daraufhin auf Zahlung der gesamten 4.000 Euro in Anspruch. E habe sich über das ausdrückliche Verbot, den Gabelstapler zu benutzen, vorsätzlich hinweggesetzt und durch Unachtsamkeit das Rolltor und die Zugeinrichtungsteile erheblich beschädigt. Nach Auffassung des A kommt eine Haftungsbeschränkung für E in Anbetracht seiner vorsätzlichen Handlungen nicht in Frage. Frage: Welche Ansprüche hat A gegen E?

Abwandlung E gelingt es, unfallfrei das Rolltor zu passieren und aufs offene Firmengelände zu gelangen. Zur gleichen Zeit trifft ein weiterer Lkw einer Spedition (S) ein, der von A erwartet wurde und der eine neue Computeranlage anliefert. Dem angestellten Fahrer der Spedition, F, wurde von S aufgegeben, die Computeranlage auf dem Betriebsgelände des A abzuladen. Als F mit der Entladung des Lkw beginnen will, erfasst E den F beim Rückwärtsfahren mit dem Gabelstapler, als er seiner-

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„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

Lösungsskizze Fall 8

seits beginnen will, eine Palette Fahrräder vom anderen Lkw abzuladen. Der F erleidet erhebliche Verletzungen an beiden Beinen und Füßen; er muss längere Zeit im Krankenhaus behandelt werden. Die Berufsgenossenschaft der S erkennt den Unfall als Arbeitsunfall an. F verlangt von E ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.000 Euro. E ist der Auffassung, dass er nicht haftet, da doch ein Arbeitsunfall vorliege. Für den Fall, dass er doch haften sollte, meint er, dass A für die Entschädigung des F aufkommen müsse. Frage: Wie ist die Rechtslage?

Ü

Rechtsfragen: –

Arbeitnehmerhaftung



Haftung des Auszubildenden



Haftungsmilderung im Arbeitsverhältnis



Bezugspunkt des Verschuldens



Haftung unter Arbeitskollegen und im gemeinsamen Betrieb, §§ 104 ff. SGB VII



Schmerzensgeld



Freistellungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber

Lösungsskizze Ausgangsfall A. Anspruch A gegen E aus § 280 Abs. 1 BGB I. Bestehen eines Berufsausbildungsvertrages II. Pflichtverletzung III. Verschulden IV. Schaden V. Haftungsmilderung 1. Geltung der Grundsätze über die Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung auch im Berufsausbildungsverhältnis 2. Betrieblich veranlasste Tätigkeit 3. Grad des Verschuldens („Haftungstrias“) 4. Bezugspunkt des Verschuldens auch Schaden a) Entlastung von der Risikozurechnung des Schadens/Schutzzweck der Haftungsbeschränkung b) Keine Kontrolle über § 106 GewO (früher: § 315 BGB) 5. Schadensteilung bei grober Fahrlässigkeit

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Fall 8

Lösungsvorschlag

„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

VI. Ergebnis B. Anspruch A gegen E aus § 823 Abs. 1 BGB I. Rechtsgutsverletzung/Rechtswidrigkeit II. Verschulden III. Schaden IV. Haftungsmilderung V. Ergebnis

Abwandlung A. Anspruch F gegen E aus § 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. § 229 StGB, § 253 Abs. 2 BGB I. Rechtsgutsverletzung/Schutzgesetzverletzung/Rechtswidrigkeit II. Verschulden III. Haftungsmilderung? IV. Haftungsausschluss nach §§ 105 f. SGB VII 1. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII 2. § 106 Abs. 3 Var. 3 i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII V. Ergebnis B. Anspruch E gegen A auf Freistellung aus § 670 i.V.m. § 257 S. 1 BGB I. Voraussetzungen des Freistellungsanspruchs 1. Unbeschränkte Haftung gegenüber Drittem 2. Haftungsmilderung im Innenverhältnis II. Ergebnis

Lösungsvorschlag Ausgangsfall A. Anspruch A gegen E aus § 280 Abs. 1 BGB A könnte gegen E einen Anspruch auf Zahlung von 4.000 Euro aus § 280 Abs. 1 BGB haben. Dann müsste E seine Pflichten aus einem zu A bestehenden Schuldverhältnis schuldhaft verletzt haben und A hieraus adäquat kausal ein Schaden entstanden sein. Auch darf keine Haftungsmilderung für E eingreifen.

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„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

Lösungsvorschlag Fall 8

I. Bestehen eines Berufsausbildungsvertrages Das für den Anspruch auf Schadensersatz erforderliche Schuldverhältnis liegt vor, da E und A einen Berufsausbildungsvertrag (§ 10 Abs. 1 BBiG) geschlossen haben. § 280 Abs. 1 BGB wird auch nicht durch spezialgesetzliche Vorschriften verdrängt; insbesondere ist § 23 Abs. 1 BBiG nicht einschlägig. II. Pflichtverletzung E müsste seine Pflichten aus dem Berufsausbildungsverhältnis gegenüber A objektiv verletzt haben. Hier kommt die Verletzung einer nichtleistungsbezogenen Nebenpflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) in Betracht. Danach kann das Schuldverhältnis nach seinem Inhalt jeden Teil u.a. zur Rücksicht auf die Rechtsgüter des anderen Teils verpflichten. E ist verpflichtet, seinen Ausbilder A nicht zu schädigen, insbesondere die Integrität seines Eigentums zu wahren und es nicht zu verletzen. Insoweit gilt im Ausbildungsverhältnis nichts anderes als im Arbeitsverhältnis, da der besondere Ausbildungszweck vertragliche Nebenpflichten, allen voran die hier einschlägigen Schutzpflichten, unberührt lässt. E hat die Nebenpflicht, Fahrten mit dem Gabelstapler zu unterlassen, verletzt. A hat E ausdrücklich untersagt, den Gabelstapler zu benutzen. Indem E mit den zwei hochgefahrenen Gabeln gegen das nicht vollständig geöffnete Rolltor stieß, hat er somit objektiv pflichtwidrig gehandelt. Die Nebenpflichtverletzung ergibt sich daher schon aus der Missachtung des Benutzungsverbots und nicht erst mit der hiermit verbundenen Eigentumsverletzung. III. Verschulden E hat auch schuldhaft, nämlich vorsätzlich, seine Pflicht verletzt (§ 276 Abs. 1 BGB). Er hat wissentlich und willentlich sowie im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit gehandelt, als er am Unfalltag unter Missachtung des ihm von A auferlegten Benutzungsverbots mit dem Gabelstapler gefahren ist. Man könnte indes schon im Rahmen des § 276 Abs. 1 BGB auf die Idee kommen, dass die Haftung des E nach dem „Inhalt des Schuldverhältnisses“ deswegen gemildert ist, weil er als Auszubildender im Hinblick auf den Eintritt des Schadens nicht vorsätzlich, sondern möglicherweise nur grob fahrlässig gehandelt hat. Dies ist für das haftungsbegründete Verschulden im Rahmen der §§ 280, 276, 619a BGB jedoch irrelevant. § 276 Abs. 1 BGB ist in seiner Fassung durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz weiterhin kein geeigneter, weil nicht flexibel genug ausgestalteter dogmatischer Standort für die Anwendung der Grundsätze zum innerbetrieblichen Schadensausgleich.1 Deshalb ist die Frage einer etwaigen Haftungsmilderung nicht bei § 276 Abs. 1 BGB zu thematisieren, sondern erst nach Bejahung der Haftung in Anwendung allgemeiner Regeln. IV. Schaden Durch die Beschädigung der Segmente des Rolltores sowie der Zugeinrichtungsteile hat E adäquat kausal einen Schaden in Höhe von 4.000 Euro zum Nachteil des A herbeigeführt (§ 249 Abs. 1 BGB).

1 HENSSLER RdA 2002, 129, 133.

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Fall 8

Lösungsvorschlag

„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

V. Haftungsmilderung Zu Gunsten des E könnten jedoch die Grundsätze der Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung in entsprechender Anwendung des § 254 BGB eingreifen. Die Haftungsmilderung im Arbeitsverhältnis ist vom Gedanken der Verantwortung des Arbeitgebers für die Organisation des Betriebes und die Gestaltung der Arbeitsbedingungen sowie des darin liegenden Betriebsrisikos beherrscht. Der Arbeitnehmer kann den vorgegebenen Arbeitsbedingungen weder tatsächlich noch rechtlich ausweichen. Auf Grund des Weisungsrechts bestimmt der Arbeitgeber die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung und prägt zusammen mit der von ihm gesetzten Organisation des Betriebes das Haftungsrisiko für den Arbeitnehmer. Die Mitverantwortung des Arbeitgebers für diese das Schadensrisiko erhöhende Fremdbestimmung rechtfertigt gemäß § 254 BGB analog die Haftungsmilderung für den Arbeitnehmer. Deshalb kann es für die Anwendung der Grundsätze über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung nicht darauf ankommen, ob die Arbeit gefahrgeneigt ist. Die Haftungsmilderung greift vielmehr schon für alle Arbeiten ein, die durch den Betrieb veranlasst sind und auf Grund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden.2 1. Geltung der Grundsätze über die Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung auch im Berufsausbildungsverhältnis Besonderheiten im Hinblick auf die Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung könnten sich daraus ergeben, dass der 17-jährige E nicht „normaler“ Arbeitnehmer, sondern Auszubildender ist. Gemäß § 10 Abs. 2 BBiG sind auf den Ausbildungsvertrag, soweit sich aus seinem Wesen und Zweck und aus dem Berufsbildungsgesetz nichts anderes ergibt, die für den Arbeitsvertrag geltenden Rechtsvorschriften und Rechtsgrundsätze anzuwenden. Vorschriften über die Haftung des Auszubildenden existieren im BBiG nicht. Auch aus Wesen und Zweck des Berufsausbildungsverhältnisses ergibt sich kein Anhalt für abweichende Grundsätze zum innerbetrieblichen Schadensausgleich im Arbeitsverhältnis. Insbesondere führt das Ausbildungsverhältnis als solches nicht zu einer noch weiterreichenden Haftungsfreistellung. Das Haftungsprivileg des Arbeitnehmers und die Vorschriften der §§ 276 Abs. 1 S. 2, 828 Abs. 2 BGB reichen aus, um den Besonderheiten des Ausbildungsverhältnisses Rechnung zu tragen und einen Auszubildenden hinreichend zu schützen.3 Folglich sind die Grundsätze der Haftungsmilderung für Arbeitnehmer auch auf E als Auszubildenden anzuwenden. 2. Betrieblich veranlasste Tätigkeit Das Eingreifen der Haftungsbeschränkung setzt, wie bereits erwähnt, eine betrieblich veranlasste Tätigkeit voraus. Betrieblich veranlasst sind nur solche Tätigkeiten des Arbeitnehmers, die ihm arbeitsvertraglich übertragen worden sind oder die er im Interesse des Arbeitgebers für den Betrieb ausführt.4 Die Tätigkeit 2 Grundlegend BAG GS 27.9.1994 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 103. 3 BAG 7.7.1970 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 59. 4 BAG GS 27.9.1994 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 51; BAG 18.4.2002 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 122.

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„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

Lösungsvorschlag Fall 8

muss in nahem Zusammenhang mit dem Betrieb und seinem betrieblichen Wirkungskreis stehen. Das Haftungsprivileg greift also dann nicht ein, wenn der Schädigende bloß im Betrieb anwesend war und er bei dieser Gelegenheit den Schaden verursacht hat. Auch reicht die missbräuchliche Nutzung eines Betriebsmittels für die Annahme einer betrieblichen Veranlassung nicht aus. Durch dieses Merkmal soll nämlich sichergestellt werden, dass der Arbeitgeber nicht mit dem allgemeinen Lebensrisiko des Arbeitnehmers belastet wird.5 E kommt daher nicht in den Genuss des Haftungsprivilegs, wenn er auf Grund eines eigenständigen Entschlusses mit dem Gabelstapler auf dem Betriebsgelände gefahren ist, ohne dass dieser Entschluss durch eine betrieblichen Zwecken dienende Tätigkeit auch nur veranlasst wurde („Spaßfahrt“). E ist jedoch von Frau L angewiesen worden, den mit Fahrrädern beladenen Lkw auf dem Firmengelände des A abzuladen. Erst daraufhin entschloss er sich, den Gabelstapler zu benutzen. Damit war die zum Schaden führende Tätigkeit des E betrieblich veranlasst und kein persönlicher Entschluss. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob Frau L überhaupt befugt war, dem E die Weisung zum Abladen des Lkws zu erteilen. Es reicht schon aus, dass das Entladen dem betrieblichen Interesse diente. Dies gilt erst recht bei einer – hier offenbar betriebsüblichen – Anweisung durch ausgebildete Mitarbeiter wie Frau L. Fraglich ist, ob eine betriebliche Veranlassung nicht mehr vorliegt, wenn die Tätigkeit fehlerhaft erledigt wurde oder sie – wie hier – nicht so wie geschehen ausgeübt werden durfte. Dies ist zu verneinen. Der betriebliche Zusammenhang wird nicht dadurch gelöst, dass der Arbeitnehmer bei Durchführung der betreffenden Tätigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig seine Verhaltenspflichten verletzt. Zwar liegt eine solche Pflichtverletzung typischerweise nicht im Interesse des Arbeitgebers. Dem wird jedoch durch eine entsprechende Haftung des Arbeitnehmers Rechnung getragen. Deshalb reicht es für eine betriebliche Veranlassung, dass die jeweilige Tätigkeit als solche dem betrieblichen Interesse entspricht, auch wenn sie fehlerhaft durchgeführt wird.6 Somit war die im (versuchten) Entladen des Lkws bestehende Tätigkeit des E betrieblich veranlasst, so dass die Grundsätze über die Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung Anwendung finden. 3. Grad des Verschuldens („Haftungstrias“) Für den Umfang der Haftung des E kommt es auf das Ergebnis einer Abwägung an, die sich vornehmlich nach dem Grad seines Verschuldens richtet. Dabei sind folgende vom BAG in ständiger Rechtsprechung aufgestellte Grundsätze maßgebend: Bei vorsätzlich verursachtem Schaden hat der Arbeitnehmer diesen allein zu tragen. Bei grober Fahrlässigkeit des Arbeitnehmers ist eine Haftungserleichterung nicht ausgeschlossen, sondern von einer Abwägung der Umstände des Einzelfalls abhängig. Bei normaler („mittlerer“) Fahrlässigkeit hat der Arbeitnehmer den Schaden nach Maßgabe einer Abwägung im Einzelfall anteilig zu tragen. Fällt dem Arbeitnehmer hingegen nur leichteste Fahrlässigkeit zur Last, ist seine Haftung gänzlich ausgeschlossen. 7 Ergänzt wird diese Haftungstrias durch 5 BAG 18.4.2002 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 122. 6 BAG 18.4.2002 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 122. 7 Ausführlich ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 13 ff.

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Fall 8

Lösungsvorschlag

„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

die vom BAG geschaffene Figur der „gröbsten Fahrlässigkeit“, bei welcher der Arbeitnehmer nicht anders als bei Vorsatz grundsätzlich uneingeschränkt haften solle.8 Auch wenn primär auf den Grad des Verschuldens abzustellen ist, sind nach Maßgabe des konkreten Einzelfalls weitere – wegen der Vielfalt möglicher Schadensursachen nicht als abschließend zu verstehende – Abwägungskriterien zu berücksichtigen. Dazu gehören die Gefahrgeneigtheit der Arbeit, die Schadenshöhe, die Versicherbarkeit des Risikos, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb und die Höhe seines Arbeitsentgelts sowie persönliche Umstände des Arbeitnehmers, wie etwa die Dauer der Betriebszugehörigkeit, sein Lebensalter, seine Familienverhältnisse sowie das bisherige Verhalten des Arbeitnehmers im Betrieb.9 Hinsichtlich der Pflichtverletzung ist dem E – wie bereits geprüft (siehe A III) – vorsätzliches Handeln vorzuwerfen, da er mit dem Gabelstapler unter bewusster Missachtung des ausdrücklichen Benutzungsverbots durch A gefahren ist. Dagegen hat E den Schaden selbst nicht vorsätzlich herbeigeführt. Er könnte jedoch grob fahrlässig gehandelt haben. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr nach den gesamten Umständen zu beachtende Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB) in einem ungewöhnlich hohen Grad verletzt und dasjenige unbeachtet gelassen hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Dabei reicht ein objektiv schwerwiegender Pflichtverstoß nach Maßgabe durchschnittlicher Anforderungen an die Angehörigen des jeweiligen Verkehrskreises alleine nicht aus. Hinzukommen muss als subjektives Moment auch, dass der Schädigende nach seinen individuellen Fähigkeiten die objektiv gebotene Sorgfalt erkennen und erbringen konnte.10 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hätte sich E aufdrängen müssen, dass es im Regelfall mit hohen Gefahren verbunden ist, wenn ein Auszubildender ohne Fahrerlaubnis und Einweisung in die Bedienung mit dem Gabelstapler fährt. Die hiermit verbundene mangelnde Erfahrung ist hier so stark ausgeprägt, dass die Eignung zur Ausführung dieser Tätigkeit gänzlich fehlt. Insbesondere bei einer beabsichtigten Fahrt durch ein Hallentor sind besonders hohe Anforderungen an die Konzentration und die Aufmerksamkeit zu stellen. Dabei wird die Sorgfaltspflicht durch mangelnde Fahrpraxis nicht vermindert, sondern im Gegenteil noch erhöht. Nach dem objektiven Erscheinungsbild, welches Rückschlüsse auf die subjektive Vorwerfbarkeit des Verhaltens erlaubt,11 lässt das Ausfahren des Gabelstaplers aus der Halle mit hochgefahrenen Gabeln auf einen im außergewöhnlich hohen Maße sorglosen und subjektiv unentschuldbaren Umgang mit diesem Arbeitsgerät unter Missachtung elementarer Vorsichtsmaßregeln schließen. E hätte sich zumindest vergewissern müssen, dass er unter dem nicht vollständig geöffneten Tor hindurchfahren kann. Die subjektive Vorwerfbarkeit des Verhaltens des E könnte allenfalls dadurch gemindert sein, dass er von der Mitarbeiterin L die Anweisung erhalten hat, die Fahrräder vom Lkw abzuladen und

8 BAG 25.9.1997 NZA 1998, 310. 9 BAG GS 27.9.1994 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 103; BAG 16.2.1995 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 106. 10 BAG 23.3.1983 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 82; BAG 12.11.1998 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 117. 11 Vgl. BAG 12.11.1998 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 117.

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Lösungsvorschlag Fall 8

hierzu nach der zutreffenden Auffassung des E die Benutzung des Gabelstaplers erforderlich war. Da E jedoch wusste, dass ihm im Umgang mit dem Gabelstapler jegliche Erfahrung fehlt, hätte er sich an seinen Ausbilder A oder an Frau L wenden müssen, um zu verdeutlichen, dass er zur Ausführung der ihm erteilten Weisung außer Stande sei, weil er den Gabelstapler nicht führen könne und dürfe. Dies ist jedoch nicht geschehen, so dass die mit der Weisung einhergehende Erhöhung des Betriebsrisikos nicht schuldmindernd berücksichtigt werden kann. Folglich hat E bezüglich des Schadenseintritts grob fahrlässig gehandelt. 4. Bezugspunkt des Verschuldens auch auf den Schaden Problematisch ist, wie es sich auf die Grundsätze der eingeschränkten Haftung des Arbeitnehmers auswirkt, wenn – wie hier – der Schädigende hinsichtlich der Pflichtverletzung vorsätzlich, bezüglich des Schadenseintritts aber nur grob fahrlässig handelt. Würde man hier nur auf die Pflichtverletzung selbst abstellen, müsste E als insoweit vorsätzlich Handelnder (wissentliche und willentliche Missachtung des Benutzungsverbots des A) den Schaden alleine tragen, während die Berücksichtigung des nur grob fahrlässig herbeigeführten Schadens nach den o.g. Grundsätzen zu einer Schadensteilung führen könnte. Eine Milderung der Haftung kommt also nur in Betracht, wenn sich das Verschulden auch auf den Eintritt des Schadens beziehen muss. a) Entlastung von der Risikozurechung des Schadens/Schutzzweck der Haftungsbeschränkung Ausgangspunkt der anzustellenden rechtlichen Überlegungen sind die auch im Arbeitsrecht geltenden Grundsätze des zivilrechtlichen Schadensrechts. Danach wird die Haftung auf Schadensersatz – mit Ausnahme des § 826 BGB – schon dann ausgelöst, wenn sich das Verschulden nur auf die Pflicht-, Rechtsguts- oder Schutzgesetzverletzung bezieht.12 Der Schuldner haftet in diesem Fall für sämtliche Schadensfolgen, die ihm objektiv zugerechnet werden können. Bei Anwendung der allgemeinen zivilrechtlichen Grundregeln müsste E also voll haften. Diese Rechtsfolge stößt im Bereich der privilegierten Haftung, die E als Auszubildendem zu Gute kommt, auf Bedenken. Das strenge Haftungsregime für Pflichtverletzungen führt zu einer vollen Risikozurechnung des Schadens für den Arbeitnehmer, auch wenn dieser für ihn nicht erkennbar war. Sinn und Zweck der Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung ist es aber gerade, den Arbeitnehmer auf Grund seiner Einbindung in die von ihm nicht beeinflussbare betriebliche Sphäre des Arbeitgebers von einer solchen uneingeschränkten Risikozurechnung zu entlasten. Dies unterscheidet ihn von Teilnehmern im allgemeinen Rechtsverkehr, die mit Recht eine strenge, auf alle zurechenbaren Schadensfolgen bezogene Haftung trifft, da sie das Schadensrisiko regelmäßig durch eine entsprechende Risikovorsorge abwenden oder wenigstens vermindern können. Genau dies ist dem „fremdbestimmten“ Arbeitnehmer bzw. Auszubildenden verbaut, was die Entlastung von der Risikozurechnung rechtfertigt. Dass die strenge Haftung bei vorsätzlichem Pflichtenverstoß zu unbilligen, mit dem Haftungsprivileg nicht vereinbaren Ergebnissen führt, zeigt sich insbesondere daran, dass die volle Haftung immer dann eingreifen würde, wenn der Arbeitneh12 S. Palandt/GRÜNEBERG § 276 BGB Rn.10.

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Fall 8

Lösungsvorschlag

„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

mer abstrakte Gefährdungsnormen übertritt oder er entgegen der Anordnung des Arbeitgebers, dass abstrakte Gefahren zu vermeiden sind, handelt. Hierbei kommt es fast zwangsläufig zu Schäden, die zu einer ebenso zwangsläufigen vollen Haftung führen. Das abgestufte Haftungssystem im Arbeitsverhältnis wäre damit durchkreuzt. Gerade im letzteren Fall hätte es der Arbeitgeber sogar in der Hand, die Haftung des Arbeitnehmers quasi nach Belieben zu verschärfen, wenn er einen Pflichtenkatalog aufstellt, bei dessen meist vorsätzlicher Verletzung ein Schaden entsteht – ein Umstand, der dem Schutzzweck der Haftungsmilderung erkennbar zuwider läuft. Im Übrigen wäre ein solches Ergebnis auch für den Arbeitgeber kontraproduktiv: Da der Arbeitnehmer auf Grund seines Arbeitsentgelts meist gar nicht in der Lage ist, den häufig viel höheren Schaden zu tragen, würde die volle Haftung bei nur auf den Haftungsgrund, nicht aber auf den Haftungsumfang bezogenem Verschulden eine Vorsicht bewirken, die sich lähmend auf den Betriebsablauf und negativ auf das Betriebsergebnis auswirkt. Diese den Sinn und Zweck der Grundsätze der eingeschränkten Arbeitnehmerhaftung unterlaufende Rechtsfolge kann somit nur dadurch ausgeschlossen werden, dass sich das Verschulden des Arbeitnehmers bzw. Auszubildenden auch auf den Schaden beziehen muss.13 Demnach wäre der Umstand, dass E den am Rolltor entstandenen Schaden nur grob fahrlässig herbeigeführt hat, berücksichtigungsfähig. b) Keine Kontrolle über § 106 GewO Man könnte gegen diese Art der Entlastung von der Risikozurechnung noch einwenden, dass nicht der Bezug des Verschuldens auf den Schaden, sondern eine Billigkeitskontrolle der auf die Vermeidung abstrakter Gefahren zielenden Weisung des Arbeitgebers bzw. Ausbilders gemäß § 106 GewO der zutreffende Weg sei, um eine unbillige Verlagerung des Schadensrisikos auf den Arbeitnehmer zu verhindern.14 Dagegen spricht, dass solche Weisungen nicht per se gegen § 106 GewO verstoßen. Eine Billigkeitskontrolle stellt deshalb nicht in gleich geeigneter Weise sicher, dass einer unangemessenen Verlagerung des Schadensrisikos abgeholfen wird. Auch ist das Argument, die Bezugnahme des Verschuldens auf den Schaden bei vorsätzlichen Pflichtverstößen nehme dem im allgemeinen Schadensrecht enthaltenen Präventionszweck besonderer Gefahrvermeidungspflichten die Wirkung,15 nicht stichhaltig. Auch der im allgemeinen Zivilrecht verwurzelte Präventionsgedanke vermag den bereichsspezifischen Schutzzweck der beschränkten Arbeitnehmerhaftung, der eine Zuordnung des Schadensrisikos nur bei vorsätzlicher oder ggf. grob fahrlässiger Herbeiführung des Schadens gebietet (s.o.), nicht zu überlagern. Es bleibt somit dabei, dass E sich wegen des nur grob fahrlässig herbeigeführten Schadens trotz vorsätzlicher Pflichtverletzung auf die Grundsätze der eingeschränkten Arbeitnehmerhaftung berufen kann.

13 So auch BAG 18.4.2002 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 122. 14 So OTTO/SCHWARZE, Die Haftung des Arbeitnehmers, Rn. 167. 15 OTTO/SCHWARZE, a.a.O.

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Lösungsvorschlag Fall 8

5. Schadensteilung bei grober Fahrlässigkeit Fraglich ist, ob und wie der Umstand der groben Fahrlässigkeit bei der Aufteilung des Schadens zwischen E und A berücksichtigt werden kann. Während das BAG in früheren Entscheidungen vereinzelt eine Beschränkung der Haftung bei grober Fahrlässigkeit abgelehnt hat,16 schließt es in neuerer Zeit mit Recht eine Haftungsbeschränkung nicht aus.17 Dies gilt vor allem dann, wenn der Verdienst des Arbeitnehmers in einem deutlichen Missverhältnis zum verwirklichten Schadensrisiko der Tätigkeit steht. Neben dem Grad des Verschuldens kommt diesem Gesichtspunkt bei der Bemessung der Schadensquote wesentliche Bedeutung zu.18 Selbst bei besonders grober („gröbster“) Fahrlässigkeit soll eine Haftungserleichterung nach jüngerer Rechtsprechung des BAG nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein.19 Hier steht der durch E verursachte Schaden in Höhe von 4.000 Euro einer Ausbildungsvergütung des E von monatlich 350 Euro netto gegenüber. Dies stellt gerade für einen Auszubildenden ein deutliches Missverhältnis dar (fast das 12-fache seines Verdienstes!), so dass eine Schadensteilung geboten ist. Auch liegt kein – haftungsrechtlich strenger zu bewertender – Fall „gröbster“ Fahrlässigkeit vor. Hier schlägt insbesondere der Umstand zu Buche, dass sich E auf Grund der Weisung von Frau L veranlasst gesehen hat, mit Hilfe des Gabelstaplers die Fahrräder vom Lkw abzuladen. Seine insoweit zutreffende Folgerung und sein Motiv, dies nur mit dem Gabelstapler bewältigen zu können, mindert zwar nicht den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit (siehe A V 3), lässt diese schädigende Handlung jedoch in einem Licht erscheinen, welches keine „besonders grobe“ Fahrlässigkeit begründet. Für die genaue Festlegung der Schadensquote kann im Rahmen der anzustellenden Abwägung als persönlicher Umstand auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich E im ersten Ausbildungsjahr befindet. Der Ausbildungszweck dient im nicht unerheblichen Maße der Bildung und Festigung der Persönlichkeit eines jungen Menschen. Dies gilt erst recht für den Beginn einer Ausbildung, bei dem die Grundlagen eines späteren Berufslebens gelegt werden. Bei Abwälzung eines großen Teils des Schadens auf E könnte die Gefahr bestehen, dass E vorzeitig demotiviert werden könnte, was nicht angemessen erscheint. In Anbetracht dessen entspricht es der Billigkeit, dass E ein Viertel der Schadenssumme, also 1.000 Euro, trägt.20 Die Haftung in Höhe von knapp drei Monatsverdiensten ist auch für E als Auszubildenden zumutbar, da er mit seinen 17 Jahren schon einen solchen Reifegrad erreicht hat, dass er hätte wissen müssen, was er tat, als er ohne jede Erfahrung mit dem Gabelstapler gegen das halbgeöffnete Rolltor fuhr. Dies muss ihm spürbar vor Augen geführt werden.

16 17 18 19

S. BAG 24.11.1987 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 93. S. etwa BAG 21.11.1998 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 117. BAG 15.11.2001 EzA BGB § 611 Arbeitnehmerhaftung Nr. 68. So nunmehr ausdrücklich BAG 28.10.2010 NZA 2011, 345, 348 unter Verweis darauf, dass in der Entscheidung BAG 25.9.1997 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 111 – anders als bislang in der Literatur angenommen – kein genereller Ausschluss der Haftungserleichterung bei gröbster Fahrlässigkeit, sondern nur „im konkreten Fall“ festgestellt worden sei. 20 S.a. ErfK/PREIS § 619a BGB Rn.18 m.w.N., wonach die Instanzgerichte die Haftung bei grober Fahrlässigkeit regelmäßig auf bis zu drei Monatsentgelte beschränken.

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Fall 8

Lösungsvorschlag

„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

VI. Ergebnis A hat gegen E aus § 280 Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von lediglich 1.000 Euro. B. Anspruch A gegen E aus § 823 Abs. 1 BGB Ein Anspruch des A gegen E auf Zahlung von 4.000 Euro könnte sich auch aus § 823 Abs. 1 BGB ergeben. I. Rechtsgutsverletzung/Rechtswidrigkeit Indem E mit dem Gabelstapler gegen das Rolltor fuhr und dieses adäquat-kausal beschädigte, hat er das Eigentum des A verletzt. Dies geschah auch rechtswidrig. II. Verschulden E handelte grob fahrlässig, als er das Eigentum des A verletzte (siehe A V 3). III. Schaden Durch die Eigentumsverletzung ist A adäquat-kausal ein Schaden in Höhe von 4.000 Euro entstanden. IV. Haftungsmilderung Die Grundsätze über die Einschränkung der Haftung des Arbeitnehmers (§ 254 BGB analog) greifen zu Gunsten des E nicht nur für vertragliche, sondern auch für anspruchskonkurrierende deliktische Schadensersatzansprüche im Arbeitsbzw. Ausbildungsverhältnis (§ 10 Abs. 2 BBiG) ein. Im Unterschied zur Vertragspflichtverletzung stellt sich die Frage des Bezugspunkts des Verschuldens auf den Schaden bei § 823 Abs. 1 BGB nicht, da die Norm beim Verschulden nicht an die Handlung, sondern die Rechtsgutsverletzung anknüpft. Da die Eigentumsverletzung von E aber nur grob fahrlässig herbeigeführt worden ist, gilt das zum Haftungsumfang beim vertraglichen Schadensersatzanspruch Gesagte (siehe A V 5) hier entsprechend, so dass E nur ein Viertel des Schadens des A zu tragen hat. V. Ergebnis A kann von E auch aus § 823 Abs. 1 BGB Schadensersatz in Höhe von nur 1.000 Euro verlangen.

Abwandlung A. Anspruch F gegen E aus § 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. § 229 StGB, § 253 Abs. 2 BGB F könnte gegen E einen Anspruch auf ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.000 Euro aus § 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. § 229 StGB, § 253 Abs. 2 BGB haben.

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Lösungsvorschlag Fall 8

I. Rechtsgutsverletzung/Schutzgesetzverletzung/Rechtswidrigkeit Indem E den F beim Rückwärtsfahren mit dem Gabelstapler erfasste und F dadurch Verletzungen an beiden Beinen und Füßen erlitt, hat E den F körperlich verletzt, ihn also in einer das körperliche Wohlbefinden nicht unwesentlich beeinträchtigenden Weise übel und unangemessen behandelt. Er hat dadurch sowohl eine Rechtsgutsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB als auch eine Schutzgesetzverletzung gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 229 StGB adäquat verursacht. II. Verschulden E führte die Rechtsgutsverletzung des F auch (grob) fahrlässig herbei. III. Haftungsmilderung? Fraglich ist, ob sich E gegenüber F auf die Grundsätze der Haftungsmilderung im Arbeitsverhältnis berufen kann. Dagegen spricht, dass es sich bei F um eine Person handelt, die außerhalb des Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnisses E – A steht. Der Einbeziehung Dritter in die Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs steht entgegen, dass diese auf spezifisch arbeitsrechtlichen Erwägungen beruhen, die auf das Verhältnis des Arbeitnehmers zu Dritten im allgemeinen Rechtsverkehr nicht übertragbar sind. Insbesondere ist die Herleitung der Haftungsmilderung über eine betriebliche und wirtschaftliche Risikozurechnung analog § 254 BGB nicht geeignet, Dritte, die gerade außerhalb dieser spezifischen Risikosphäre des Unternehmers stehen, in sie einzubeziehen. Außerdem entspricht es einem allgemeinen schuldrechtlichen Grundsatz, dass Einwendungen, die einem Schuldner (hier E) aus einem Rechtsverhältnis zu Dritten (hier A) erwachsen, einem außenstehenden Gläubiger (hier F) nicht entgegengehalten werden können („Relativität des Schuldverhältnisses“). Folglich haftet ein Arbeitnehmer bzw. Auszubildender gegenüber außerhalb des Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnisses stehenden Personen unbeschränkt.21 E kann sich gegenüber F somit nicht auf die ihm gegenüber A zugute kommende Milderung seiner Haftung berufen. IV. Haftungsausschluss nach §§ 105 f. SGB VII Ein gänzlicher Haftungsausschluss des E gegenüber F könnte sich jedoch aus den §§ 105 f. SGB VII ergeben. Danach ist die allgemeine zivilrechtliche Haftung bei Personenschäden gegenüber in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherten ausgeschlossen, wenn Personen durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall der Versicherten verursachen, es sei denn, sie haben den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch einen Wegeunfall i.S.v. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII herbeigeführt. Sollte die zivilrechtliche Haftung des E gegenüber F gemäß §§ 105 f. SGB VII ausgeschlossen sein, würde sich dies auch auf den Anspruch auf Schmerzensgeld erstrecken, obwohl die gesetzliche Unfallversicherung eine

21 S. BGH 19.9.1989 BGHZ 108, 305; BGH 21.12.1993 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 104.

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Fall 8

Lösungsvorschlag

„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

solche Leistung nicht vorsieht; der Haftungsausschluss ist insoweit allumfassend.22 1. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII Die Haftung des E gegenüber F könnte bereits nach § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII ausgeschlossen sein. Dann müsste E eine Person sein, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall eines Versicherten (F) desselben Betriebes verursacht hat. Eine betriebliche Tätigkeit steht im Regelfall einer versicherten Tätigkeit i.S.d. § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII gleich.23 E ist als Auszubildender in der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII versicherungspflichtig, so dass er eine versicherte und damit betriebliche Tätigkeit ausübte. Es liegt hier auch ein Versicherungsfall (= Arbeitsunfall) des F als Versicherten i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII vor, was die Berufsgenossenschaft der S für das Gericht nach § 108 Abs. 1 SGB VII bindend festgestellt hat. Der Haftungsausschluss ist auch nicht wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalls gesperrt, da E durch sein Handeln (Rückwärtsfahren mit dem Gabelstapler) den Versicherungsfall nur grob fahrlässig herbeigeführt hat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass sich E vorsätzlich über das Verbot des A, den Gabelstapler zu benutzen, hinweggesetzt hat. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII muss sich der Vorsatz auf das den Versicherungsfall verursachende Handeln (oder Unterlassen) beziehen (siehe auch § 110 Abs. 1 S. 3 SGB VII). Deshalb reichen auch vorsätzliche Übertretungen von Dienstanweisungen für sich allein nicht aus, um die vorsätzliche Herbeiführung eines Versicherungsfalles zu begründen, und zwar selbst dann nicht, wenn der Fall darauf zurückzuführen ist.24 Der (direkten) Anwendung des § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII steht jedoch entgegen, dass E und F als Versicherte nicht demselben Betrieb angehören, da sie verschiedenen Betrieben einander unabhängiger Unternehmen (A und S) zugeordnet sind. Folglich kommt eine Enthaftung nach § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII nicht in Betracht. 2. § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII Ein Haftungsausschluss des E gegenüber F könnte sich jedoch aus § 106 Abs. 3 Var. 3 i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII ergeben. Danach tritt eine Enthaftung nach § 105 Abs. 1 SGB VII auch dann ein, wenn Versicherte mehrerer Unternehmen im Zeitpunkt des Versicherungsfalls vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichten. Fraglich ist, ob E und F auf einer „gemeinsamen Betriebsstätte“ von A und S tätig waren. Der erst mit Inkrafttreten des SGB VII eingeführte Begriff der „gemeinsamen Betriebsstätte“ ist umstritten. Eine Ansicht legt diesen Begriff in Anlehnung an das noch zu § 637 RVO geltende Recht eng aus, indem sie das Vorliegen einer organisatorischen Verfestigung in Form einer Arbeitsgemeinschaft zwischen den Unternehmen verlangt. Soweit keine Arbeitsgemeinschaft postuliert wird, soll eine gemein22 S. zur Verfassungsgemäßheit dieses Ausschlusses BVerfG 7.11.1972 BVerfGE 34, 118. 23 Vgl. HN/NEHLS § 105 SGB VII Rn. 9. 24 HN/NEHLS § 104 SGB VII Rn. 28.

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„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

Lösungsvorschlag Fall 8

same Betriebsstätte jedenfalls nur dann vorliegen, wenn die Unternehmen über einen bloßen zeitlich-räumlichen Kontakt der betrieblichen Tätigkeiten hinaus ein gemeinsames Ziel bzw. einen gemeinsamen Zweck verfolgen25 oder eine Betriebstätte in gemeinsamer Organisation und Verantwortung unterhalten. Dagegen legt eine andere Ansicht den Begriff der „gemeinsamen Betriebsstätte“ weit aus, indem sie es ausreichen lässt, dass ein zeitlicher und räumlicher Kontakt von neben- oder nacheinander stattfindenden Verrichtungen besteht. Dabei reiche jede lose Verbindung der betrieblichen Tätigkeiten aus. Eine vermittelnde Auffassung lehnt sowohl das (enge) Erfordernis einer rechtlichen Verfestigung wie auch das (weite) Postulat des bloßen Nebeneinanders der Tätigkeiten ab und fordert stattdessen das Vorliegen eines Miteinanders im Sinne einer Verknüpfung einzelner Leistungen. Die Rechtsprechung hat sich nunmehr dieser vermittelnden Auffassung angeschlossen.26 Danach erfasst der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte solche betrieblichen Aktivitäten, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Der letztgenannten Auffassung ist zu folgen. Sie kommt dem Sinn und Zweck der Vorschrift am nächsten, der den Haftungsausschluss aus dem Gesichtspunkt der sog. Gefahrengemeinschaft rechtfertigt.27 Eine solche liegt nicht erst bei einer organisatorischen Verknüpfung betrieblicher Aktivitäten von Unternehmen im Sinne einer Arbeitsgemeinschaft oder eines gemeinsamen Ziels vor. Auch wird diese enge Auslegung nicht der mit der Fassung des § 106 Abs. 3 SGB VII verbundenen Intention des Gesetzgebers gerecht, die Haftungsfreistellung des Schädigers in Fällen der Beteiligung mehrerer Unternehmen im Vergleich zum früheren Recht deutlich zu erweitern. Sie geht vielmehr nicht wesentlich über die alte Rechtslage hinaus. Andererseits kann ein bloßes Nebeneinander betrieblicher Aktivitäten ohne gewisse Verknüpfung für einen Haftungsausschluss nicht ausreichen. In diesen Fällen liegt keine Gefahrengemeinschaft vor, die eine weitreichende Enthaftung rechtfertigen könnte. Auch ist der Begriff der „gemeinsamen“ Betriebsstätte nicht mit demjenigen der „selben“ Betriebsstätte identisch. Anderenfalls würde es zu einer ausufernden und damit auch teleologisch unangemessenen Haftungsbefreiung kommen.28 Aus diesem Grund ist das Postulat der Verknüpfung im Sinne bewussten und gewollten Zusammenwirkens im Arbeitsablauf intereressengerecht und entspricht in systematischer Hinsicht den in § 106 Abs. 3 SGB VII genannten Fällen des Zusammenwirkens von Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder des Zivilschutzes, die sich durch faktisches Miteinander in Form ergänzender und unterstützender Tätigkeit auszeichnen und daher den Charakter einer Gefahrengemeinschaft aufweisen.29 Im Fall besteht zwischen der zum Versicherungsfall führenden Tätigkeit des E und der des F kein Zusammenhang. Die Entnahme der mit Fahrrädern bestück25 S. HN/NEHLS § 106 SGB VII Rn. 16. 26 Vgl. BGH 17.10.2000 BGHZ 145, 331; BGH 23.1.2001 VersR 2001, 372; BGH 3.7.2001 BGHZ 148, 209 und BGHZ 148, 214; auch BAG 12.12.2002 AP SGB VII § 105 Nr. 2. 27 BGH 3.7.2001 BGHZ 148, 209, 212. 28 S. BGH 17.10.2000 BGHZ 145, 331, 335. 29 BGH 17.10.2000 BGHZ 145, 331, 336.

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Fall 8

Lösungsvorschlag

„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

ten Paletten auf dem Lkw mittels eines Gabelstaplers geschah unabhängig vom Entladungsvorgang des die Computeranlage beinhaltenden Lkws, zu dem F ansetzen wollte. Beide betrieblichen Aktivitäten hatten demnach nichts miteinander zu tun; sie standen beziehungslos nebeneinander. Folglich kann hier von einem bewussten und gewollten Zusammenwirken von E und F, sei es auch nur stillschweigend, nicht die Rede sein. Ihre schadensstiftende Begegnung erschöpfte sich vielmehr in einem bloß zufälligen räumlich-zeitlichen Zusammentreffen, was für eine gemeinsame Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII aber gerade nicht ausreicht. Dementsprechend liegt hier keine gemeinsame Betriebsstätte zwischen A und S vor, so dass auch ein Haftungsausschluss für E gegenüber F nach § 106 Abs. 3 Var. 3 i.V.m. § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII ausscheidet. Somit haftet E dem F unbeschränkt. V. Ergebnis F hat gegen E einen Anspruch auf ein angemessenes Schmerzensgeld aus § 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. § 229 StGB, § 253 Abs. 2 BGB, wobei 1.000 Euro angesichts der schweren Verletzungen des F angemessen erscheint. B. Anspruch E gegen A auf Freistellung aus § 670 i.V.m. 257 S. 1 BGB Möglicherweise hat E gegen seinen Ausbilder A einen Anspruch, von der gegen ihn gerichteten Verbindlichkeit gegenüber F aus § 670 i.V.m. § 257 S. 1 BGB freigestellt zu werden. I. Voraussetzungen des Freistellungsanspruchs Um die Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs nicht zu unterlaufen, ist es seit langem anerkannt, dass dem Arbeitnehmer im Innenverhältnis zu seinem Arbeitgeber ein Freistellungsanspruch zusteht, der den Arbeitgeber verpflichtet, den Arbeitnehmer insoweit von der Schadensersatzforderung freizustellen, wie der Schaden zwischen den Arbeitsvertragsparteien verteilt würde, wenn nicht ein außenstehender Dritter, sondern der Arbeitgeber selbst geschädigt worden wäre.30 Anspruchsgrundlage ist § 670 i.V.m. § 257 S. 1 BGB.31 Wegen § 10 Abs. 2 BBiG greift der Freistellungsanspruch auch im Berufsausbildungsverhältnis (s.o. Ausgangsfall A V 1). Anmerkung: Die dogmatische Begründung des Freistellungsanspruchs des Arbeitnehmers, der sich in einen Zahlungsanspruch umwandelt, wenn und soweit der Arbeitnehmer dem Dritten gegenüber geleistet hat, ist umstritten. Soweit das BAG überhaupt eine Anspruchsgrundlage nennt, zieht es die aus § 611 BGB resultierende Fürsorgepflicht des Arbeitgebers heran.32 In der Literatur wird teilweise noch konturloser auf § 242 BGB hingewiesen.33 Naheliegender ist demgegenüber die hier vorgenommene Heranziehung von § 670 BGB, der unmittelbar einen Zahlungsanspruch

30 So schon BAG GS 25.9.1957 AP RVO §§ 898, 899 Nr. 4; s.a. BAG 23.6.1988 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 94; zust. ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 26. 31 ErfK/PREIS § 619a Rn. 26. 32 BAG 23.6.1988 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 94. 33 Soergel/TEICHMANN § 242 BGB Rn. 67.

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„Der unvorsichtige Gabelstaplerfahrer“

Lösungsvorschlag Fall 8

und i.V.m. § 257 S. 1 BGB einen Freistellungsanspruch gewährt. Entscheidender Vorteil dieser Lösung ist, dass so der Ersatz von (unmittelbaren) Eigenschäden des Arbeitnehmers, die auch das BAG unter § 670 BGB subsumiert, und (mittelbaren) Belastungen des Arbeitnehmers, die aus einer Inanspruchnahme Dritter resultieren, nicht nur im praktischen Ergebnis, sondern auch in ihrer rechtssystematischen Begründung gleichmäßig behandelt werden.

1. Unbeschränkte Haftung gegenüber Drittem Der Freistellungsanspruch setzt zunächst eine unbeschränkte Haftung gegenüber einem außerhalb des Arbeitsverhältnisses stehenden Dritten voraus. Dies ist hier in Ansehung des Schmerzensgeldanspruchs des F gegen E gegeben (s.o. Abwandlung A I). 2. Haftungsmilderung im Innenverhältnis Der Freistellungsanspruch geht nur soweit, wie E im Innenverhältnis zu A die aus der Inanspruchnahme eines Dritten resultierenden Belastungen nicht zu tragen braucht. Dazu gehören auch Schmerzensgeldansprüche des geschädigten Dritten.34 Die Höhe des Freistellungsanspruchs des E gegen A richtet sich also nach dem Umfang, in dem seine Haftung nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs analog § 254 BGB gemildert ist. Hier hat E auf Grund seiner völligen Unerfahrenheit im Umgang mit dem Gabelstapler ebenso wie im Ausgangsfall grob fahrlässig gehandelt (s.o. Ausgangsfall A V 3). Dass er vorsätzlich gegen das ihm von A auferlegte Benutzungsverbot verstoßen hat, ist unschädlich, da sich der Vorsatz des E auch hier nicht auf den Schaden bezieht (s.o. Ausgangsfall A V 4). Auch wenn die Höhe des Schmerzensgeldes wohl nicht im krassen Missverhältnis zu dem Verdienst des E steht, ist eine Schadensteilung bei Abwägung aller Umstände insbesondere wegen des Status des E als Auszubildender auch bei grober Fahrlässigkeit angezeigt. Abweichend vom Ausgangsfall ist es jedoch wegen der geringeren Entschädigungssumme, allerdings unter sonstiger Bezugnahme auf die dortige Argumentation (s.o. Ausgangsfall A V 5), angemessen und zumutbar, wenn E im Innenverhältnis zu A statt eines Viertels die Hälfte der von ihm aufzuwendenden Summe für die Geldentschädigung des F trägt (500 Euro). II. Ergebnis E hat gegen A aus §§ 670 i.V.m. 257 S. 1 BGB einen Anspruch auf Freistellung von der Hälfte der für die Entschädigung des F aufzubringenden Geldsumme, also 500 Euro.

34 MüArbR/REICHOLD § 52 Rn. 15.

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Fall 9

Falldarstellung

„Unfall mit Folgen“

Fall 9: „Unfall mit Folgen“ Falldarstellung Der im Juni 1969 geborenen K ist seit 2003 neben fünf vollbeschäftigten Mitarbeitern bei der X-GmbH Vollzeit angestellt. Er ist für die Kundenbetreuung im Außendienst zuständig und bezieht ein jeweils am Monatsende fälliges monatliches Gehalt von 1.200 Euro brutto (850 Euro netto). Im Arbeitsvertrag wurde vereinbart, dass die X-GmbH dem K ein auf sie zugelassenes Firmenfahrzeug zur Verfügung stellt. Außerdem wurde eine Kündigungsfrist von drei Wochen vereinbart. Darüber hinaus wurde im Arbeitsvertrag unter dem Punkt „Sonstiges“ handschriftlich folgendes vereinbart: „Jede schuldhafte Beschädigung des Fahrzeugs wird dem Mitarbeiter in Rechnung gestellt, soweit sie nicht durch Versicherungen abgedeckt ist.“ Nach einem Verkaufsgespräch bei einem Kunden stieß K Anfang September 2010, als er rückwärts aus einer Parklücke fuhr, aufgrund leichter Unachtsamkeit mit dem Fahrzeug des B zusammen, der ebenfalls gerade rückwärts ausparkte. An dem von K geführten Fahrzeug der X-GmbH entstand ein Sachschaden von 1.600 Euro, außerdem ging die Brille des K dabei irreparabel zu Bruch. Da die beteiligten Versicherungsunternehmen – zutreffend – von einer Fahrlässigkeit der beiden Fahrer in gleicher Höhe ausgingen, erhielt die X-GmbH von der Versicherung des B nur 800 Euro ersetzt. Die restlichen 800 Euro zog die X-GmbH dem K unter Hinweis auf die vertragliche Vereinbarung vom Nettogehalt für September 2010 ab. Darüber hinaus spricht die X-GmbH aufgrund des Unfalls dem K Anfang Oktober 2010 eine ordentliche Kündigung aus. Diese wird dem K schriftlich am Montag, dem 4. Oktober, im Original und unterzeichnet durch den Geschäftsführer ausgehändigt. In dem Schreiben heißt es wörtlich: „Aufgrund der durch Sie verursachten Beschädigung des firmeneigenen Kraftfahrzeugs sehen wir uns leider gezwungen, das Arbeitsverhältnis mit Ihnen hiermit ordentlich unter Einhaltung der vertraglichen Kündigungsfrist, also zum 25. Oktober 2010, zu kündigen.“ Der empörte K will weder die Lohnkürzung noch die Kündigung hinnehmen. Er ist der Ansicht, dass er den Schaden an dem Fahrzeug nicht ersetzen müsse. Außerdem hätte die Kündigung, wenn überhaupt, erst zu einem späteren Zeitpunkt Wirkung entfalten können. K konsultiert einen Rechtsanwalt, welcher für ihn am 5.11.2010 Klage bei dem zuständigen Arbeitsgericht erhebt. Mit dieser Klage wird die Zahlung der von der X-GmbH einbehaltenen 800 Euro begehrt und zugleich Kündigungsschutzklage erhoben. Darüber hinaus begehrt K mit der Klage von der X-GmbH auch die Zahlung von (der Höhe nach angemessenen) 500 Euro als Ersatz für die zerstörte Brille. Frage: Ist die Klage des K begründet?

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„Unfall mit Folgen“

Lösungsskizze Fall 9

Bearbeitervermerk: Prüfen Sie die Begründetheit dieser Klage und gehen Sie dabei, gegebenenfalls hilfsgutachterlich, auf alle relevanten Rechtsfragen ein. Betriebsverfassungsrechtliche Fragen sind nicht zu erörtern.

Ü

Rechtsfragen: –

Aufrechnung



Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung



Dispositivität der Arbeitnehmerhaftung



Haftung des Arbeitgebers für arbeitsbedingte Eigenschäden des Arbeitnehmers



Kündigungsschutzklage



Dispositivität des § 622 BGB



Rechtsfolgen zu kurz gesetzter Kündigungsfristen



Anwendbarkeit des § 4 KSchG auf § 622 BGB

Lösungsskizze A. Begründetheit der Leistungsklage auf Lohnzahlung I. Anspruch des K gegen die X-GmbH auf Zahlung des einbehaltenen Lohns in Höhe von 800 Euro gemäß § 611 Abs. 1 BGB 1. Anspruch entstanden 2. Anspruch untergegangen a) Aufrechnungserklärung b) Aufrechnungslage aa) Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 BGB i.V.m. der vertraglichen Haftungsvereinbarung (1) Schuldverhältnis (2) Verschuldete Pflichtverletzung (3) Kausaler Schaden (4) Haftungsmilderung (a) Unwirksamkeit der Vereinbarung gemäß § 307 Abs. 1 BGB (b) Unwirksamkeit der Haftungsregel wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung (c) Stellungnahme bb) Zwischenergebnis II. Ergebnis zu A.

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Fall 9

Lösungsvorschlag

„Unfall mit Folgen“

B. Anspruch des K gegen die X-GmbH auf Zahlung von 500 Euro für die beschädigte Brille I. Anspruch auf Aufwendungsersatz gemäß § 670 BGB (doppelt) analog in Höhe von 500 Euro 1. Anwendbarkeit des § 670 BGB – Analogie 1 2. Aufwendungen – Analogie 2 3. Erstattungsfähige Eigenschäden a) Früher: „Außergewöhnlicher Schaden in Vollzug einer gefährlichen Arbeit“ b) Eigenschaden bei Ausführung einer betrieblichen Tätigkeit c) Zurechenbarkeit zum Betätigungsbereich des Arbeitgebers d) Kein adäquater Risikoausgleich e) Kein überwiegendes Mitverschulden des Arbeitnehmers II. Ergebnis C. Begründetheit der Kündigungsschutzklage des K gegen die X-GmbH I. Wirksames Arbeitsverhältnis II. Wirksame schriftliche Kündigungserklärung III. Wahrung der Klagefrist des § 4 KSchG IV. Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses 1. Einhaltung der Kündigungsfrist 2. Rechtsfolge einer zu kurz gesetzten Frist 3. Anwendbarkeit des § 4 KSchG auf zu kurze Kündigungsfristen V. Ergebnis D. Gesamtergebnis

Lösungsvorschlag A. Begründetheit der Leistungsklage auf Lohnzahlung I. Anspruch des K gegen die X-GmbH auf Zahlung des einbehaltenen Lohns in Höhe von 800 Euro gemäß § 611 Abs. 1 BGB 1. Anspruch entstanden K könnte einen Anspruch auf Zahlung des einbehaltenen Lohns in Höhe von 800 Euro gemäß § 611 Abs. 1 BGB gegen die X-GmbH haben. A und die X-GmbH haben laut Sachverhalt im Jahre 2003 einen wirksamen Arbeitsvertrag geschlossen. Somit hat A grundsätzlich einen Anspruch auf Zahlung des einbehaltenen Lohns in Höhe von 800 Euro.

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„Unfall mit Folgen“

Lösungsvorschlag Fall 9

2. Anspruch untergegangen Allerdings könnte der Anspruch des K gemäß §§ 389, 387 BGB erloschen sein. Voraussetzung ist, dass die Einbehaltung des Nettogehalts für September 2010 in Höhe von 800 Euro unter Hinweis auf die vertragliche Vereinbarung eine wirksame Aufrechnung darstellt. Eine solche liegt vor, wenn bei bestehender Aufrechnungslage eine Aufrechnungserklärung gegenüber dem Anderen abgegeben wird und kein Aufrechnungsverbot existiert.1 a) Aufrechnungserklärung Mithin bedurfte es einer ordnungsgemäßen Aufrechnungserklärung der X-GmbH an K. Die Aufrechnungserklärung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Eine Aufrechnungserklärung könnte in dem Hinweis der X-GmbH auf die vertragliche Vereinbarung und die Einbehaltung des Nettogehalts für September 2010 in Höhe von 800 Euro liegen. Aus dieser Erklärung konnte K eindeutig erkennen, dass die X-GmbH zwei bestehende Forderungen miteinander verrechnen wollte. Eine Aufrechnungserklärung der X-GmbH an K lag mithin vor. b) Aufrechnungslage Die Wirkung der Aufrechnung tritt jedoch nur ein, wenn ein wirksamer und durchsetzbarer Gegenanspruch des Aufrechnenden besteht. Mithin müsste der X-GmbH ein solcher Gegenanspruch gegen K zugestanden haben. Vorliegend kommt nur der von der X-GmbH geltend gemachte gleichartige Schadensersatzanspruch wegen der Beschädigung des Pkw in Höhe von 800 Euro in Betracht. aa) Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 BGB i.V.m. der vertraglichen Haftungsvereinbarung Die X-GmbH könnte einen Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 280 Abs. 1 BGB in Verbindung mit der zwischen K und der X-GmbH im Arbeitsvertrag getroffenen Haftungsvereinbarung haben. (1) Schuldverhältnis Wie bereits erörtert besteht zwischen der X-GmbH und K ein wirksamer Arbeitsvertrag, so dass das gemäß § 280 Abs. 1 BGB erforderliche Schuldverhältnis besteht. (2) Verschuldete Pflichtverletzung Darüber hinaus müsste K eine Pflicht verletzt haben. In Betracht kommt hier die allgemeine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgüter des anderen Vertragsteils aus § 241 Abs. 2 BGB. Indem K das Eigentum der X-GmbH beschädigt hat, hat er deren Rechtsgüter verletzt. Allerdings müsste K die Pflichtverletzung auch zu vertreten haben. Der Maßstab des Verschuldens richtet sich nach § 276 BGB. Demnach hat der Schuldner Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. K hat aufgrund seiner leichten Unachtsamkeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen und so1 LOOSCHELDERS § 20 Rn. 414 ff.

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Fall 9

Lösungsvorschlag

„Unfall mit Folgen“

mit fahrlässig gehandelt (§ 276 Abs. 2 BGB). Ob K nur leicht oder gar grob fahrlässig gehandelt hat, spielt für den Bereich des haftungsbegründenden Verhaltens keine Rolle, da grundsätzlich jede Form von Fahrlässigkeit zur Haftung führt. (3) Kausaler Schaden K hat zudem durch sein fahrlässiges Verhalten einen Schaden an dem im Eigentum der X-GmbH stehenden Pkw in Höhe von 1600 Euro verursacht. (4) Haftungsmilderung Zu Gunsten des K könnten jedoch die Grundsätze der Einschränkung der Arbeitnehmerhaftung in entsprechender Anwendung des § 254 BGB eingreifen. Die Haftungsmilderung im Arbeitsverhältnis ist vom Gedanken der Verantwortung des Arbeitgebers für die Organisation des Betriebes und die Gestaltung der Arbeitsbedingungen sowie des darin liegenden Betriebsrisikos beherrscht. Der Arbeitnehmer kann den vorgegebenen Arbeitsbedingungen weder tatsächlich noch rechtlich ausweichen. Auf Grund des Weisungsrechts bestimmt der Arbeitgeber die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung und prägt zusammen mit der von ihm gesetzten Organisation des Betriebes das Haftungsrisiko für den Arbeitnehmer. Die Mitverantwortung des Arbeitgebers für diese das Schadensrisiko erhöhende Fremdbestimmung rechtfertigt gemäß § 254 BGB analog die Haftungsmilderung für den Arbeitnehmer. Auch wenn im Zuge der Schuldrechtsreform § 276 Abs. 1 S. 1 BGB neu formuliert wurde, ist die Rechtsgrundlage des innerbetrieblichen Schadensausgleichs nach wie vor die analoge Anwendung des § 254 BGB.2 Wegen der ursächlichen Mitverantwortung des Arbeitgebers kann es also für die Anwendung der Grundsätze über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung nicht darauf ankommen, ob die Arbeit gefahrgeneigt ist, was früher das Abgrenzungskriterium bildete.3 Die Haftungsmilderung greift vielmehr schon für alle Arbeiten ein, die durch den Betrieb veranlasst sind und auf Grund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden.4 Für die Frage der Haftungsmilderung kommt es nach der Rechtsprechung vor allem auf den Grad des Verschuldens an, der über eine volle (regelmäßig bei grober Fahrlässigkeit) oder anteilsmäßige (bei normaler bzw. mittlerer Fahrlässigkeit)5 Haftung des Arbeitnehmers für den Schaden oder eine völlige Haftungsbefreiung (bei leichtester Fahrlässigkeit) entscheidet.6 Laut Sachverhalt wurde der Unfall von K leicht fahrlässig verursacht. Die Schädigung geschah auch durch eine betrieblich veranlasste Tätigkeit, da sich K auf dem Rückweg eines für die X-GmbH getätigten Verkaufsgesprächs befand. Mithin wäre nach den Grundsätzen des BAG zur Haftungsmilderung die X-GmbH verpflichtet, den Schaden in voller Höhe zu tragen.

2 MüKoBGB/HENSSLER § 619a Rn. 10, 11. 3 BAG 25.9.1957 AP RVO §§ 898, 899 Nr. 4. 4 Grundlegend BAG GS 27.9.1994 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 103. 5 BAG 16.2.1995 AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 106. 6 Zum Haftungstrias siehe ausführlich ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 13 ff.

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„Unfall mit Folgen“

Lösungsvorschlag Fall 9

Etwas anderes könnte sich jedoch aus der vertraglichen Haftungsvereinbarung zwischen K und der X-GmbH ergeben. In dieser haben die Vertragsparteien eine verschuldensunabhängige Haftung für alle Schäden, die nicht von der Versicherung gedeckt sind, vereinbart, so dass K trotz leichter Fahrlässigkeit für den Schaden in Höhe von 800 Euro haften müsste. (a) Unwirksamkeit der Vereinbarung gemäß § 307 Abs. 1 BGB Eine solche Haftungsvereinbarung könnte jedoch gegen § 307 Abs. 1 BGB verstoßen und mithin unwirksam sein. Dazu müssten die §§ 305 ff. BGB anwendbar sein. Grundsätzlich sind die §§ 305 ff. BGB unter der Berücksichtigung der Besonderheiten des Arbeitsrechts auf Arbeitsverträge anwendbar, § 310 Abs. 4 S. 2 BGB. Allerdings haben K und die X-GmbH die Haftungsvereinbarung individuell vereinbart. Es handelt sich folglich um eine individualvertragliche Regelung, die gemäß § 305b BGB einer Inhaltskontrolle nicht unterliegt. Ein Verstoß gegen § 307 BGB liegt daher nicht vor. Anmerkung: Eine Prüfung der §§ 305 ff. BGB war entbehrlich, da die individuelle Vereinbarung offensichtlich vorlag.

(b) Unwirksamkeit der Haftungsregel wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung Allerdings könnte die individualvertragliche Regelung wegen eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung nichtig sein, da die Vereinbarung erheblich von diesen abweicht. Grundsätzlich ist es nach den Regeln der Privatautonomie den Arbeitsvertragsparteien freigestellt, welche Regelungen sie treffen, soweit sie nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Vorliegend haben K und die X-GmbH eine Vereinbarung über die Haftung des Arbeitnehmers geschlossen. Eine explizite Kodifizierung hinsichtlich der Arbeitnehmerhaftung kennt das nationale Arbeitsrecht nicht. Lediglich in § 619a BGB hat der Gesetzgeber festgehalten, dass anders als in § 280 Abs. 1 BGB das Verschulden des Arbeitnehmers nicht vermutet wird und indes vom Arbeitgeber zu beweisen ist. Mithin verstößt die Regelung nicht gegen positives Recht. Allerdings könnte die in Frage stehende Vereinbarung gegen die oben dargelegten Grundsätze der Haftungserleichterung verstoßen. Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Grundsätze zur Haftungserleichterung einseitig zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht sind, von dem weder individualnoch kollektivvertraglich abgewichen werden könne.7 Eine unzulässige Abweichung sei offensichtlich, wenn die Haftung für jede Form der Fahrlässigkeit begründet wird. Demzufolge wäre die Vereinbarung zwischen K und der X-GmbH, nach der K unabhängig von seinem Verschuldensgrad für jeden nicht von der Versicherung ersetzten Schaden haftet, unwirksam. Allerdings kann eine vertragliche Abweichung ausnahmsweise auch nach Ansicht der Rechtsprechung zulässig sein. In den Fällen der so genannten Mankohaftung hat die Rechtsprechung des BAG durchaus anerkannt, dass eine indivi7 BAG 17. 9. 1998 NJW 1999, 1049, 1052; BAG 2.12.1999 AP BGB § 611 Mankohaftung Nr. 3; BAG 7.9.1998 AP BGB § 611 Mankohaftung Nr. 2; BAG 5.2.2004 NZA 2004, 649.

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Fall 9

Lösungsvorschlag

„Unfall mit Folgen“

dualvertragliche Haftungsvereinbarung zulässig ist, soweit sie das durch die Haftungserleichterung gewährte Schutzniveau nicht unterläuft. So hält das BAG es für angemessen, wenn der Arbeitnehmer für Schäden haftet, die durch einen gewissen Risikoausgleich gedeckt sind. Demzufolge ist es entscheidend, dass keine Verschärfung der beschränkten Arbeitnehmerhaftung eintritt.8 Folglich bedürfte die Vereinbarung zwischen K und der X-GmbH zu ihrer Wirksamkeit eines kompensatorischen Ausgleichs für die Haftung des K. K und die X-GmbH haben lediglich eine Haftungsverschärfung für K vereinbart. Besondere Vergütungen sind nicht ersichtlich. Fraglich ist, ob die Überlassung des Dienstwagens zu privaten Zwecken eine zusätzliche Vergütung darstellt, die einen Ausgleich zur Haftungsverschärfung schafft. Nach Ansicht der Rechtsprechung ist die Möglichkeit, einen Dienstwagen auch für Privatfahrten zu nutzen, grundsätzlich eine zusätzliche Gegenleistung. Allerdings könne eine solche zusätzliche Nutzungsmöglichkeit nicht eine Haftung des Arbeitnehmers für jede fahrlässige Beschädigung des Wagens im Rahmen betrieblich veranlasster Fahrten rechtfertigen.9 Allenfalls könnte eine Vereinbarung über die verschärfte Haftung des Arbeitnehmers bei privater Nutzung des Dienstwagens zulässig sein.10 K hat folglich keinen kompensatorischen Ausgleich erhalten, so dass die Vereinbarung zwischen K und der X- GmbH auch nach den Grundsätzen zur Mankoabrede nicht zulässig wäre. Anmerkung: An diesen Grundsätzen ändert sich auch nichts, wenn der Arbeitgeber die Haftung des Arbeitnehmers auf die Höhe der mit der Versicherung vereinbarten Selbstbeteiligung begrenzt.

Teilweise wird jedoch vertreten, dass die Grundsätze der Haftungserleichterung gerade nicht zwingendes, sondern dispositives Recht sind.11 Dies zeigten insbesondere die Veränderungen durch die Schuldrechtsreform. Zwar wollte der Reformgesetzgeber nicht in die Grundsätze zum innerbetrieblichen Schadensausgleich eingreifen. Allerdings sind diese Grundsätze über die analoge Anwendung des § 254 BGB oder gar direkte Anwendung des § 276 Abs. 1 BGB in das allgemeine Haftungssystem des BGB integriert worden. Dieses sei jedoch seinerseits dispositiv. Eine für die Arbeitnehmerhaftung geltende Bereichsausnahme sei nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte nicht ersichtlich. Die Arbeitnehmerhaftung sei somit als durch die Schuldrechtsreform anerkannte Fortbildung des dispositiven privatrechtlichen Haftungsrechts zu qualifizieren.12 Nach dieser Ansicht wäre eine vertragliche Vereinbarung hinsichtlich der Haftung des Arbeitnehmers zwischen K und der X-GmbH zulässig gewesen und K müsste für den Schaden in Höhe von 800 Euro haften.

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PREIS/STOFFELS, Der Arbeitsvertrag, II H 20, Rn. 20; KRAUSE NZA 2003, 577, 585. BAG 5.2.2004 NZA 2004, 649, 650. BAG 5.2.2004 NZA 2004, 649, 650. ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 11, 94. GOTTHARDT, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, Rn.195; ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 11 m.w.N.

„Unfall mit Folgen“

Lösungsvorschlag Fall 9

(c) Stellungnahme Der Ansicht der Rechtsprechung ist zu folgen.13 Die Grundsätze der Haftungserleichterung wurden entwickelt, um das Betriebsrisiko nicht vollständig dem Arbeitnehmer aufzubürden. Ließe man mit der Gegenmeinung eine Abdingbarkeit dieser Regelungen zu, so könnte der von der Rechtsprechung eingeführte Arbeitnehmerschutz durch einfache vertragliche Vereinbarung ausgehöhlt werden.14 Mithin ist die Haftungsvereinbarung zwischen K und der X-GmbH unwirksam. Maßgeblich für die Haftungsmilderung bleiben daher die richterrechtlich entwickelten Grundsätze der Haftungserleichterung. Vorliegend hat K leicht fahrlässig gehandelt, so dass er vollständig von der Haftung befreit ist. Anmerkung: Wurde der Ansicht der Mindermeinung gefolgt, musste man zum Ergebnis der Wirksamkeit der Regelung gelangen, so dass die X-GmbH einen wirksamen und durchsetzbaren Gegenanspruch gehabt hätte. Sodann hätte das Aufrechnungsverbot geprüft werden müssen, das wegen § 394 BGB i.V.m § 850c ZPO (Verbot der Aufrechung wegen einer unpfändbaren Forderung) einschlägig gewesen wäre. Folglich hätte die X-GmbH auch nach dieser Ansicht nicht mit dem Lohnanspruch des K aufrechnen können.

bb) Zwischenergebnis Der X-GmbH steht mithin kein Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 280 Abs. 1 in Verbindung mit der vertraglichen Haftungsvereinbarung zu. Somit fehlt ein wirksamer und durchsetzbarer Gegenanspruch der X-GmbH und eine wirksame Aufrechnungslage besteht nicht. Die X-GmbH kann daher nicht wirksam mit der Lohnforderung des K in Höhe von 800 Euro aufrechnen. II. Ergebnis zu A K hat gegen die X-GmbH einen Anspruch auf Zahlung des einbehaltenen Lohns in Höhe von 800 Euro gemäß § 611 BGB. Die Leistungsklage ist begründet. B. Anspruch des K gegen die X-GmbH auf Zahlung von 500 Euro für die beschädigte Brille I. Anspruch auf Aufwendungsersatz gemäß § 670 BGB (doppelt) analog in Höhe von 500 Euro Anmerkung: Die dogmatische Grundlage für solche Schäden ist nicht unumstritten. Das BAG wendet in ständiger Rechtsprechung § 670 BGB analog an. Eine andere Ansicht will derartige Schäden über § 612 BGB15 oder den Aufopferungsgedanken16 ersetzen. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Herleitung war nicht erforderlich. Die wohl h.L. betrachtet die Haftung des Arbeitgebers für Eigenschäden des Arbeit-

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MüKoBGB/HENSSLER § 619a BGB Rn. 13. MüKoBGB/HENSSLER § 619a BGB Rn. 13. KOCH, Der Eigenschaden des Arbeitnehmers, S. 75 ff. BECKER-SCHAFFNER VersR 1970, 100 ff.

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Fall 9

Lösungsvorschlag

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nehmers als Ausdruck einer gebotenen Verteilung des Betriebsrisikos.17 Aufgrund der Tatsache, dass ein solcher Anspruch nicht losgelöst vom Gesetz stehen kann, ist der Rechtsprechung zu folgen.18

K könnte einen Anspruch auf Aufwendungsersatz in Höhe von 500 Euro wegen Beschädigung seiner Brille gegen die X-GmbH gemäß § 670 BGB (doppelt) analog haben. 1. Anwendbarkeit des § 670 BGB – Analogie 1 Grundsätzlich ist § 670 BGB nur auf Geschäftsbesorgungsverträge anwendbar. Aus § 675 BGB ergibt sich, dass Arbeitsverhältnisse in der Regel keine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand haben, so dass die Vorschrift des § 670 BGB keine unmittelbare Anwendung findet.19 Auch eine Anwendung über § 675 BGB scheidet aus, da nach h.M. dem Arbeitnehmer die für den Begriff der Geschäftbesorgung im Sinne des § 675 BGB erforderliche Selbstständigkeit fehlt.20 Allerdings hat das BAG die analoge Anwendung des § 670 auf das Arbeitsverhältnis anerkannt.21 Diese analoge Anwendung der Vorschriften des Auftragsrechts rechtfertigt sich aus der fehlenden Kodifikation des Arbeitsvertragsrechts und der Nähe des Auftragsrechts zum Dienstvertragsrecht. § 670 BGB enthält insofern einen allgemeinen Rechtsgrundsatz: Wer im Interesse eines anderen Aufwendungen macht, für die er keine Vergütung erhält, kann Ersatz der Aufwendungen von demjenigen verlangen, für den er tätig geworden ist.22 Mithin kann der Arbeitgeber grundsätzlich Aufwendungen, die er zum Zwecke der Ausführung seiner Arbeit tätigt und welche er den Umständen nach für erforderlich halten durfte, vom Arbeitgeber gemäß § 670 BGB analog ersetzt verlangen. 2. Aufwendungen – Analogie 2 Zudem müsste es sich bei dem Schaden des K um eine Aufwendung handeln. Grundsätzlich sind Aufwendungen im Sinne des § 670 BGB nur freiwillige Vermögenseinbußen.23 Der Schaden des K wurde jedoch durch einen Unfall herbeigeführt, der nicht freiwillig geschah. Demnach hätte K grundsätzlich keinen Anspruch auf Ersatz seines Schadens. Das BAG hat sich in solchen Fällen allerdings für eine weitere („zweite“) analoge Anwendung des § 670 BGB ausgesprochen.24 Der Arbeitnehmer könne auch Ersatz von unfreiwilligen Vermögensbußen (sog. Eigenschäden) gemäß § 670 BGB analog verlangen. Dieser Analogie hat sich auch der BGH25 im Bereich des Auftragsrechts und der Geschäftsführung ohne Auftrag

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CANARIS RdA 1966, 41; LARENZ SAE 1962, 198. ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 79. PREIS, Individualarbeitsrecht, § 37. MüKoBGB/Heermann § 675 Rn. 6. BAG 1.2.1963 AP BGB § 670 Nr. 10; BAG 16.3.1995 AP BGB § 611 Gefährdungshaftung des Arbeitgebers Nr. 12. BAG 14.2.1996 AP BGB § 611 Aufwandsentschädigung Nr. 5; BAG 14.10.2003 NZA 2004, 604. PALANDT/SPRAU § 670 BGB Rn. 3. BAG 10.11.1961 AP BGB § 611 Gefährdungshaftung des Arbeitgebers Nr. 2. BGH 5.12.1983 BGHZ 89, 153, 157.

„Unfall mit Folgen“

Lösungsvorschlag Fall 9

angeschlossen. Folglich könnte K auch den Ersatz für Beschädigung seiner Brille in Höhe von 800 Euro verlangen. 3. Erstattungsfähige Eigenschäden a) Früher: „Außergewöhnlicher Schaden in Vollzug einer gefährlichen Arbeit“ Jedoch erscheint eine pauschale Anwendbarkeit des § 670 BGB auf die Eigenschäden zu weitgehend. Unterbleibt eine Eingrenzung, wären dem Arbeitgeber auch solche Eigenschäden zuzurechnen, die in keinem qualifizierten Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehen. Dies würde zu einer unverhältnismäßige Haftungserweiterung des Arbeitgebers führen. Daher verlangte das BAG in seiner früheren Rechtsprechung, dass es sich bei dem ersatzfähigen Eigenschaden des Arbeitnehmers um einen „außergewöhnlichen Schaden“ handeln müsse, der in Vollzug einer gefährlichen Arbeit eingetreten sei.26 b) Eigenschaden bei Ausführung einer betrieblichen Tätigkeit Diese Rechtsprechung ist mittlerweile aufgegeben worden. Richtigerweise nimmt das BAG nunmehr an, dass es genügt, wenn ein arbeitsbedingter Eigenschaden dem Betätigungsbereich des Arbeitgebers zuzurechnen ist und ihn der Arbeitnehmer nicht selbst tragen muss, weil er dafür keine spezielle Vergütung erhält.27 Diese Rechtsprechung stimmt mit den Grundsätzen zur privilegierten Arbeitnehmerhaftung überein. Wie oben dargelegt, kommen die Grundsätze zur Haftungsprivilegierung dem Arbeitnehmer nur dort zugute, wo es sich um eine betrieblich veranlasste Tätigkeit handelt. Daran schließt sich die Eingrenzung des Eigenschadens konsequenterweise an. Ein Ersatz kommt mithin nur bei einer betrieblichen Tätigkeit in Betracht. Wie oben erörtert, ist dies bei der PkwFahrt des K der Fall. c) Zurechenbarkeit zum Betätigungsbereich des Arbeitgebers Zudem muss nach ständiger Rechtsprechung der erlittene Schaden nicht nur in Zusammenhang mit der betrieblich veranlassten Tätigkeit stehen, sondern vielmehr auch dem Betätigungsbereich des Arbeitgebers zuzurechnen sein.28 Eine solche Zurechnung erfolgt, soweit der Schaden nicht dem Lebensbereich des Arbeitnehmers zuzurechnen ist. Verkehrsunfälle, die der Arbeitnehmer erleidet, wenn er im Rahmen seiner Arbeitspflicht ein Kfz benutzen muss bzw. soll, entstammen nicht dem Lebensbereich des Arbeitnehmers und sind nach ständiger Rechtsprechung dem Arbeitgeber zuzurechnen.29 Demnach ist der Unfall des K der X-GmbH auch zuzurechnen.

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BAG 10.11.1961 AP BGB § 611 Gefährdungshaftung des Arbeitgebers Nr. 2. BAG 16.03.1995 AP BGB § 611 Gefährdungshaftung des Arbeitgebers Nr. 12. ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 82. BAG 16.11.1978 AP BGB § 611 Gefährdungshaftung des Arbeitgebers Nr. 5; BAG 17.7.1997 AP BGB § 611 Gefährdungshaftung des Arbeitgebers Nr. 14; ErfK/PREIS § 619a BGB Rn. 85 ff. m.w.N.

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Fall 9

Lösungsvorschlag

„Unfall mit Folgen“

d) Kein adäquater Risikoausgleich Jedoch käme ein Ausschluss der Ersatzpflicht in Betracht, wenn der Arbeitnehmer den Schaden selbst tragen muss. Dies erkennt das BAG an, wenn der Arbeitnehmer für den eingetretenen Schaden eine besondere Risikoabgeltung erhält.30 Hier käme die Überlassung des Dienstwagens zu privaten Zwecken in Betracht. Wie oben erörtert stellt die Überlassung des Dienstfahrzeuges zu privaten Zwecken allein keine adäquate Risikoabgeltung dar. Anderweitige Sondervergütungen hat K nicht erhalten, so dass eine besondere Risikoabgeltung nicht erfolgt ist. e) Kein überwiegendes Mitverschulden des Arbeitnehmers Schließlich kann der Anspruch des Arbeitnehmers auf Ersatz der erlittenen Eigenschäden durch ein überwiegendes Mitverschulden des Arbeitnehmers gemindert bzw. ausgeschlossen werden. Etwaiges Mitverschulden des Arbeitnehmers kann zwar nicht in direkter Anwendung des § 254 BGB berücksichtigt werden, weil diese Norm nur für Schadensersatzansprüche gilt.31 Dennoch ist anerkannt, dass § 254 BGB nur eine Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben ist, so dass auch einem Aufwendungsersatz ein Mitverschulden entgegengehalten werden kann.32 Im Rahmen des Mitverschuldens sind ebenfalls die von der Rechtsprechung entwickelten Haftungsprivilegierungen zu berücksichtigen. Die zwischen K und der X-GmbH vereinbarte Haftungsverschärfung ist unbeachtlich, da sie unwirksam ist. Der Unfall wurde von K laut Sachverhalt nur leicht fahrlässig verursacht, so dass ein Mitverschulden des K nicht zu berücksichtigen ist. Anmerkung: Folgt man jedoch der oben dargestellten Ansicht, die eine Dispositivität der Haftungsgrundsätze zulässt, könnte sich die zwischen K und der X-GmbH getroffene Vereinbarung auch im Mitverschulden des K bei Eigenschäden auswirken. Allerdings beinhaltet die Haftungsverschärfung nur Schäden an dem von K genutzten Dienstwagen. Für Eigenschäden des Arbeitgebers trifft diese Vereinbarung keine Regelung. Mithin bleibt es bei den von der Rechtsprechung entwickelten Haftungsgrundsätzen.

II. Ergebnis Folglich hat K gegen die X-GmbH einen Anspruch aus § 670 BGB (doppelt) analog auf Aufwendungsersatz für die Brille in Höhe von 500 Euro. Die Leistungsklage ist auch insoweit begründet. C. Begründetheit der Kündigungsschutzklage des K gegen die X-GmbH Die Kündigungsschutzklage des K ist begründet, wenn das Arbeitsverhältnis durch die mit Wirkung zum 25.10.2010 ausgesprochene und dem K am 4.10.2010 zugegangene Kündigung nicht wirksam beendet worden ist.

30 BAG 10.11.1996 AP BGB § 611 Gefährdungshaftung des Arbeitgebers Nr. 2; BAG 30.4.1992 AP BGB § 611 Gefährdungshaftung des Arbeitgebers Nr. 11. 31 PREIS, Individualarbeitsrecht, § 53 IV. 32 OLG Celle 7.7.1965 NJW 1965, 2348, 2350.

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„Unfall mit Folgen“

Lösungsvorschlag Fall 9

I. Wirksames Arbeitsverhältnis Ein wirksames Arbeitsverhältnis gemäß § 611 BGB bestand zwischen K und der X-GmbH zum Zeitpunkt der Kündigung. II. Wirksame schriftliche Kündigungserklärung Zur wirksamen Beendigung des Arbeitsverhältnisses müsste die X-GmbH die Kündigung ordnungsgemäß gegenüber K erklärt haben. Laut Sachverhalt hat die X-GmbH dem K am 4.10.2010 eine schriftliche und unterschriebene Kündigung übergeben, so dass das Formerfordernis der §§ 623, 126 BGB gewahrt ist. Eine wirksame Kündigungserklärung liegt mithin vor. Anmerkung: Die Schriftform der Kündigungserklärung ist zwingend vor der Einhaltung der Klagefrist zu prüfen, da § 4 KSchG den Mangel der Schriftform gerade nicht heilt.

III. Wahrung der Klagefrist des § 4 KSchG Zudem müsste K die Klage gemäß § 4 KSchG innerhalb der Drei-Wochen-Frist erhoben haben. Ob das KSchG anwendbar ist, kann vorerst dahinstehen. Die Klagefrist des § 4 KSchG gilt nach § 23 Abs. 1 S. 1 und 2 KSchG seit dem 1.1. 2004 auch für Kleinbetriebe, da die Bereichsausnahme für die §§ 4 -7 KSchG ausdrücklich ausgeklammert worden ist. Daher muss auch in den Fällen, in denen das KSchG wegen Vorliegen eines Kleinbetriebs keine Anwendung auf das jeweilige Arbeitsverhältnis findet, die Klagefrist des § 4 KSchG eingehalten werden, um nicht im Hinblick auf die Geltendmachung der fehlenden sozialen Rechtfertigung materiell präkludiert zu werden. Hat K die drei Wochen Frist nicht eingehalten, kann er Unwirksamkeitsgründe der Kündigung nicht mehr geltend machen. Da die streitgegenständliche ordentliche Kündigung dem K am 4.10.2010 zugegangen ist, begann der Lauf der Frist am 5.10.2010 (§ 187 Abs. 1 BGB). Mithin endet die Frist mit Ablauf des 25.10.2010 um 24 Uhr (§ 188 Abs. 2 BGB). Die Klage des K ist bei Gericht am 5.11.2010 eingegangen, also nach Ablauf der Klagefrist. Das Handeln seines Rechtsanwalts muss sich K gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Gründe zur Fristverlängerung gemäß §§ 5, 6 KSchG sind nicht ersichtlich. Mithin wurde die Drei-Wochen-Frist nicht gewahrt, so dass eventuelle Unwirksamkeitsgründe der Klage präkludiert sind und die Kündigung gemäß § 7 KSchG von Anfang an als wirksam zu behandeln ist. Anmerkung: Aufgrund der Präklusionswirkung war auf eine soziale Rechtfertigung der Kündigung gemäß § 1 KSchG nicht mehr einzugehen. Wurde dennoch das KSchG geprüft, so musste im Rahmen der Anwendbarkeit des KSchG auf die Zweiteilung des § 23 Abs. 1 KSchG eingegangen werden, wonach sich der maßgebliche Schwellenwert nach der Begründung des Arbeitsverhältnisses richtet. Für Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis vor dem 31.12.2003 (§ 23 Abs. 1 S. 2 KSchG) begründet wurde, gilt ein Schwellenwert von „mehr als fünf“ und für diejenigen, deren Arbeitsverhältnis ab dem 1.1.2004 begründet wurde, ein Schwellenwert von „mehr als zehn“. Vorliegend wäre § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG mit einem Schwellenwert von mehr als fünf Arbeitnehmern einschlägig gewesen. Da auch der Gekündigte in die Berechnung des

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Fall 9

Lösungsvorschlag

„Unfall mit Folgen“

Schwellenwertes einzubeziehen ist,33 beschäftigte die X-GmbH mehr als fünf Arbeitnehmer. Folglich wäre das KSchG vorliegend anwendbar gewesen.

In Betracht kam sodann nur eine verhaltensbedingte Kündigung, die jedoch mangels erforderlicher Abmahnung seitens der X-GmbH unwirksam gewesen wäre. IV. Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses 1. Einhaltung der Kündigungsfrist Wenngleich die Kündigung wirksam ist, ist fraglich, zu welchem Zeitpunkt das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung wirksam beendet worden ist. Die X-GmbH hat die Kündigung zum 25.10.2010 ausgesprochen, also mit einer Kündigungsfrist von drei Wochen. Fraglich ist, ob eine Frist von drei Wochen ausreichend ist. Grundsätzlich richten sich die gesetzlichen Kündigungsfristen nach § 622 BGB. Gemäß § 622 Abs. 1 BGB kann der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von vier Wochen zum 15. oder zum Ende eines Kalendermonats beenden. Ist der Arbeitgeber länger als zwei Jahre beim Arbeitgeber beschäftigt, richtet sich die Kündigungsfrist nach der spezielleren Regelung des § 622 Abs. 2 BGB. Diese ordnet eine jeweils nach Betriebszugehörigkeit gestaffelte Kündigungsfrist an. K war sieben Jahre bei der X-GmbH beschäftigt. Infolgedessen hätte die X-GmbH gemäß § 622 Abs. 2 Nr. 2 BGB eine Kündigungsfrist von zwei Monaten zum Ende des Monats einhalten müssen. K und die X-GmbH haben jedoch laut Sachverhalt individualvertraglich eine kürzere Kündigungsfrist von drei Wochen vereinbart. Fraglich ist, ob eine solche Vereinbarung zulässig ist. Einzelvertragliche Abänderungen zum Nachteil des Arbeitnehmers sind hingegen nur nach Maßgabe des § 622 Abs. 5 BGB statthaft oder mittelbar durch individualvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag.34 Demnach wäre eine einzelvertragliche Verkürzung der Kündigungsfrist zulässig, wenn im Betrieb des Arbeitgebers nicht mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt werden und die Kündigungsfrist mindestens vier Wochen beträgt. Allerdings ist § 622 Abs. 5 BGB seinem Wortlaut nach nur auf die gesetzliche Kündigungsfrist gemäß § 622 Abs. 1 BGB anwendbar. Die verlängerten Kündigungsfristen des § 622 Abs. 2 BGB sind mangels Ausnahmetatbestand einseitig zwingend und mithin der Parteidisposition entzogen.35 Folglich konnten K und die X-GmbH keine kürzere Kündigungsfrist als die in § 622 Abs. 2 Nr. 2 BGB vorgegebene vereinbaren, so dass die zwischen K und der X-GmbH getroffene Kündigungsfrist von drei Wochen zu kurz gesetzt war. 2. Rechtsfolge einer zu kurz gesetzten Frist Rechtsfolge einer zu kurz gesetzten Kündigungsfrist ist die Unwirksamkeit der Kündigungsfristvereinbarung. Darüber hinaus ist anerkannt, dass dieser Mangel nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung selbst führt. Vielmehr kann die Kündi33 BAG 22.1.2004 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 31. 34 ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 622 BGB Rn. 34. 35 ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 622 BGB Rn. 34 mit Verweis auf BAG 1.9.2010 NZA 2010, 1409, 1410 und m.w.N.

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Lösungsvorschlag Fall 9

gung in der Regel anhand des hypothetischen Parteiwillens dahingehend ausgelegt werden, dass zum nächsten zulässigen Termin gekündigt werden soll, so dass an die Stelle der unwirksamen Vereinbarung die gesetzliche Regelung des § 622 Abs. 1 und 2 BGB tritt.36 Mithin wäre die Kündigung erst zum 31.12.2010 wirksam geworden. 3. Anwendbarkeit des § 4 KSchG auf zu kurze Kündigungsfristen Möglicherweise könnte die Kündigung dennoch mit Wirkung zum 25.10.2010 wirksam geworden sein. Dies käme in Betracht, wenn der Mangel der zu kurzen Kündigungsfrist ebenfalls gemäß §§ 4, 7 KSchG geheilt werden könnte. Dafür müssten die §§ 4, 7 KSchG auf den Mangel der zu kurzen Kündigungsfrist anwendbar sein. Dafür könnte sprechen, dass § 4 KSchG alle Unwirksamkeitsgründe mit Ausnahme der Schriftform umfasst. Diese in der Literatur37 stark umstrittene Frage, hat das BAG dahingehend entschieden,38 dass die §§ 4, 7 KSchG grundsätzlich auf die zu kurz gesetzte Kündigungsfrist keine Anwendung finden. Gemäß § 4 S. 1 KSchG muss ein Arbeitnehmer, der geltend machen will, dass eine Kündigung sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam ist, innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung Klage beim Arbeitsgericht auf Feststellung erheben, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist. Mit dieser auf Grund des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 200339 am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Fassung des § 4 S. 1 KSchG wird die Verknüpfung von Klagefrist und Wirksamkeitsfiktion, § 7 KSchG, auf Unwirksamkeitsgründe außerhalb des materiellen Kündigungsgrundes (§ 1 Abs. 2 KSchG, § 626 BGB, § 13 Abs. 1 S. 2 KSchG) ausgedehnt. Die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist kann jedoch auch außerhalb der Klagefrist des § 4 KSchG geltend gemacht werden.40 Dafür spricht schon der Wortlaut. Der Arbeitnehmer, der lediglich die Einhaltung der Kündigungsfrist verlangt, will gerade nicht die Sozialwidrigkeit oder die Unwirksamkeit der Kündigung als solche festgestellt wissen. Er geht im Gegenteil von der Wirksamkeit der Kündigung aus. Er will geltend machen, sie wirke, allerdings zu einem anderen Zeitpunkt als es nach Auffassung des Arbeitgebers der Fall ist.41 Dem lässt sich in diesem Zusammenhang nicht entgegenhalten, der Arbeitnehmer, der die Einhaltung der Kündigungsfrist erstrebe, mache, wenn sich sein Kla36 BAG 18.4.1985 NZA 1986, 229, 230 m.w.N. 37 Ablehnend LAKIES RdA 1997, 147; SCHAUB DB 1999, 217, 230; BENDER/SCHMIDT NZA 2004, 361, 363; befürwortend LÖWISCH BB 2004, 154, 159; BADER NZA 2004, 65, 68; ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 622 BGB Rn. 12. 38 BAG 15.12.2005 NZA 2006, 791-794; bestätigt im Urteil BAG 6.7.2006 NZA 2006, 1405, 1406 (red. Leitsatz und Kurzwiedergabe); BAG 1.9.2010 NZA 2010, 1409, 1410. 39 BGBl. I S. 3002. 40 BAG 15.12.2005 NZA 2006, 791; HANAU ZIP 2004, 1169, 1175; KR/SPILGER § 1a KSchG Rn. 67; zu § 4 S. 1 KSchG a.F. wohl auch BAG 12.1. 1994 AP BGB § 622 Nr. 43. 41 BAG 15.12.2005 NZA 2006, 791; BAG 6.7.2006, NZA 2006, 1405, 1406 (red. Leitsatz und Kurzwiedergabe).

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Fall 9

Lösungsvorschlag

„Unfall mit Folgen“

geziel rechtsdogmatisch nur durch Umdeutung der Kündigung nach § 140 BGB begründen lasse, notwendigerweise auch die Unwirksamkeit der Kündigung geltend. Denn § 4 S. 1 KSchG erfasst eine solche Geltendmachung der Unwirksamkeit als eines Begründungselementes nicht. Das zeigt die in § 4 S. 1 KSchG vorgegebene Formulierung des Feststellungsantrags. Sie geht dahin, dass das Arbeitsverhältnis „nicht aufgelöst“ ist. Die „Nichtauflösung“ des Arbeitsverhältnisses entspricht aber nicht dem Klageziel desjenigen, der die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist rügt. Er ist ganz im Gegenteil der Auffassung, das Arbeitsverhältnis werde durch die Kündigung sehr wohl aufgelöst, nur zu einem späteren als dem vom Arbeitgeber zugrunde gelegten Zeitpunkt. In all den Fällen, in denen sich bei fehlerhaft zu Grunde gelegter Kündigungsfrist die Kündigungserklärung dahin auslegen lässt, dass eine fristwahrende Kündigung ausgesprochen sein sollte - was in aller Regel und auch vorliegend der Fall ist –, ist eine Umdeutung nach § 140 BGB nicht erforderlich. Nur dann, wenn sich aus der Kündigung und den im Rahmen der Auslegung zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalles ein Wille des Arbeitgebers ergibt, die Kündigung ausschließlich zum erklärten, nicht aber zu einem späteren Zeitpunkt gegen sich gelten zu lassen, scheidet eine Auslegung – allerdings dann auch eine Umdeutung – aus.42 Der Kündigungstermin ist dann ausnahmsweise integraler Bestandteil der Willenserklärung und muss dann auch innerhalb der Klagfrist des § 4 S. 1 KSchG angegriffen werden.43 Ebenfalls findet die Annahme, dass § 4 KSchG nicht auf die Kündigungsfristen anwendbar ist, ihre Bestätigung in der Entstehungsgeschichte der Norm.44 Es war das erklärte Ziel des Gesetzes, „alsbald Klarheit über den Fortbestand oder die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses zu erhalten“.45 Das zeigt, dass der Gesetzgeber die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum Ziel hat, nicht aber die isolierte Geltendmachung der Kündigungsfrist.46 Festzuhalten bleibt daher, dass die §§ 4, 7 KSchG auf die zu kurz gesetzte Kündigungsfrist keine Anwendung finden. Anmerkung: Zur Frage der Anwendbarkeit der §§ 4, 7 KSchG auf die Kündigungsfristen empfiehlt sich die Lektüre des BAG-Urteils vom 15.12.2005 (NZA 2006, 791-794) mit seiner ausführlichen Begründung.

Demnach kann K die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist auch außerhalb der Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG geltend machen. Insbesondere war vorliegend der Kündigungstermin nicht integraler Bestandteil der Wirksamkeit der Kündigung. Die X-GmbH hat nicht zum Ausdruck gebracht, dass sie für den Fall, dass der im Kündigungsschreiben genannte Termin nicht der richtige wäre, am Arbeitsverhältnis festhalten wolle. Anmerkung: Das Recht, sich auf die Wahrung der Kündigungsfrist zu berufen, unterliegt nach § 242 BGB der Grenze der Verwirkung. Eine solche tritt ein, wenn der Arbeitnehmer unter Umständen untätig geblieben ist, die beim Arbeitgeber den Ein-

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BAG 15.12.2005 NZA 2006, 791, 794. Vgl. hierzu auch BAG 1.9.2010 NZA 2010, 1409, 1410. BAG 15.12.2005 NZA 2006, 791, 792. BT-Drs. 15/1204 S. 9 f. BAG 15.12.2005 NZA 2006, 791, 792 m.w.N.

„Unfall mit Folgen“

Lösungsvorschlag Fall 9

druck erwecken konnten, der Arbeitnehmer werde sein Recht nicht mehr geltend machen. Dies ist nach der Rechtsprechung des BAG etwa der Fall, wenn der Arbeitnehmer eine zunächst eingelegte Kündigungsschutzklage zurücknimmt und sich danach über sechs Monate nicht auf die Einhaltung des zutreffenden Kündigungstermins beruft.47

Mithin ist die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist gemäß §§ 4, 7 KSchG nicht geheilt, so dass die gesetzliche Kündigungsfrist des § 622 Abs. 2 Nr. 2 BGB an die Stelle der zu kurzen Kündigungsfrist tritt. Folglich wird die Kündigung zum 31.12.2010 wirksam. V. Ergebnis Die Kündigung der X-GmbH vom 4.10.2010 ist wirksam, jedoch wird das Arbeitsverhältnis erst zum 31.12.2010 wirksam beendet, so dass die Kündigungsschutzklage des K teilweise unbegründet ist. D. Gesamtergebnis Die Leistungsklagen des K gegen die X-GmbH auf Zahlung der Lohnforderung in Höhe von 800 Euro sowie auf Zahlung des Schadensersatzes in Höhe von 500 Euro für die beschädigte Brille sind begründet. Die dem K am 4.10.2010 zugegangen Kündigung ist wirksam, jedoch wird das Arbeitsverhältnis erst zum 31.12.2010 wirksam beendet. Die Kündigungsschutzklage ist mithin teilweise unbegründet.

47 BAG 21.8.2008 NZA 2009, 29, 31.

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Fall 10 Falldarstellung

„Das exklusive Wellnesshotel“

Fall 10: „Das exklusive Wellnesshotel“ Falldarstellung Ausgangsfall Die nicht tarifgebundene A-GmbH (A) betreibt seit 1994 in Köln ein multifunktionales Wellnesshotel mit angegliederter Saunen- und Thermenlandschaft, zwei Fitnessstudios sowie einem exklusiven Restaurant, in dem gesundheitsorientierte europäisch-mediterrane Küche angeboten wird. Insgesamt beschäftigt A in Köln 170 Mitarbeiter. Katharina Klug (K) ist Geschäftsführerin der A und legt großen Wert auf Mitarbeitermotivation und ein gutes Betriebsklima. Da der Hotelbetrieb boomt, möchte K die Betriebstreue sowie das Engagement der langjährigen Mitarbeiter honorieren. Deshalb teilt K den Mitarbeitern im Januar 2008 durch Aushang am schwarzen Brett Folgendes mit: „Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie aus Anlass Ihrer 5- bzw. 10-jährigen Betriebszugehörigkeit eine Treueprämie als freiwillige Leistung von einem bzw. zwei Monatsgehältern erhalten.“ Aufgrund des Ende Juli 2004 eröffneten Fitnessstudios stehen bald bei 25 % der Belegschaft erstmals die 5-jährigen Dienstjubiläen an. Auch die Anzahl der 10-jährigen Dienstjubiläen im gesamten Hotelbetrieb ist nicht unerheblich. Da die Gästezahlen jedoch seit Einführung der Treueprämie im letzten Jahr zurückgegangen sind, sieht sich K zu Einsparungen gezwungen, da sie befürchtet, dass die A die hohen Jubiläumszahlungen in diesem Jahr nicht verkraften wird. K veranschlagt deshalb im Juni 2009 am schwarzen Brett folgenden Aushang: „Die Mitarbeiter der A werden um Verständnis gebeten, dass die Auszahlung aller Jubiläumsgelder aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage dieses Jahr nicht durchführbar ist. Die 5-jährigen Dienstjubiläen werden daher nicht mehr vergütet. Der dadurch ersparte Betrag wird auf die 10-jährigen Dienstjubiläen verteilt.“ K ist mit ihrem Aushang sehr zufrieden, da sie denkt, so einen großen Anteil der diesjährig anstehenden Zahlungen nach hinten verschieben zu können und angesichts der angespannten Wirtschaftslage auch zur Rettung von Arbeitsplätzen beigetragen zu haben. Fitnesstrainerin (F) ist jedoch empört, da ihr 5-jähriges Dienstjubiläum angestanden hätte und sie im Vertrauen auf die Jubiläumszahlung einen Vorschuss von ihrer Schwester in Anspruch genommen hat, um ihr altes Auto im Wege der Abwrackprämie gegen einen neuen, sportlichen Kleinwagen einzutauschen. F verlangt daher hartnäckig die Auszahlung ihrer Treueprämie. Hat F einen Anspruch auf Zahlung eines Monatsgehalts bei ihrem 5-jährigen Dienstjubiläum?

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„Das exklusive Wellnesshotel“

Falldarstellung Fall 10

Abwandlung 1 Da sich insbesondere der hotelinterne Wellnessbereich bei den Gästen größter Beliebtheit erfreut hat, möchte die A-GmbH dem Team der Saunen- und Thermenlandschaft ein zusätzliches Urlaubsgeld in Höhe von einem Monatsgehalt zusammen mit dem Juligehalt auszahlen. Sie hat daher ab dem Jahr 2002 – ohne dass dies arbeitsvertraglich festgehalten wurde – dem Team der Saunen- und Thermenlandschaft als Urlaubsgeld ein zusätzliches Monatsgehalt ausgezahlt. Saunameister (S) ist aufgebracht, als im Juli 2009 kein Urlaubsgeld auf seinem Konto eingeht und er in einem der Gehaltsabrechnung beigefügten Schreiben der A darauf hingewiesen wird, dass die schwere wirtschaftliche Lage sie zu Einsparungen zwinge und demnach 2009 kein Urlaubsgeld ausgezahlt werden könne. S ist der Ansicht, dass die A diese langjährige Praxis nicht „einfach so über den Haufen werfen könne“. Frage 1: Kann S die Auszahlung des Urlaubsgeldes von A verlangen? Frage 2: Wie wäre der Fall zu beurteilen, wenn es im Arbeitsvertrag des S heißt: „Sonstige, in diesem Vertrag nicht vereinbarte Leistungen des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer sind freiwillig und jederzeit widerruflich. Auch wenn der Arbeitgeber sie mehrmals und regelmäßig erbringen sollte, erwirbt der Arbeitnehmer dadurch keinen Rechtsanspruch für die Zukunft.“ Frage 3: Wäre der Fall anders zu beurteilen, wenn die A in den Jahren 2006, 2007 und 2008 das Urlaubsgeld zwar nach wie vor ausgezahlt hat, aber in den Gehaltsabrechnungen folgender Hinweis enthalten war: „Das Urlaubsgeld ist eine freiwillige Leistung, die keinesfalls einen Rechtsanspruch für die Zukunft begründet.“

Abwandlung 2 An seine fünf leitenden Mitarbeiter zahlt A kein Urlaubsgeld aus, sondern seit 2002 – ebenfalls im Juli – Bonuszahlungen. Diese Bonuszahlungen sind ebenfalls im Arbeitsvertrag nicht erwähnt. In den Einstellungsgesprächen lässt die A-GmbH durch die Mitarbeiter der Personalabteilung darauf hinweisen, dass sie „pflege, bei guter Leistung und gutem Gewinn großzügig Boni zu zahlen“. Der leitende Angestellte X hat in den Jahren 2002 bis 2008 korrespondierend mit dem stetig steigenden Unternehmensgewinnen jeweils im Juli Boni in Höhe von 30.000 bis 60.000 Euro (im Juli 2008) erhalten. Das Jahresgrundgehalt des X betrug zuletzt 60.000 Euro. Im Jahre 2008 geht der Gewinn des Unternehmens wegen wirtschaftlicher Rückschläge um 50% zurück. Deshalb wird im Juli 2009 kein Bonus ausgezahlt. X ist empört. Er verlangt, dass ihm zumindest die Hälfte des Bonusses des Jahres 2008 ausgezahlt wird, denn seine Leistung sei – was zutrifft – so gut wie im Vorjahr gewesen. Frage: Hat X einen Anspruch auf die verlangte Bonuszahlung?

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Fall 10 Lösungsskizze

Ü

„Das exklusive Wellnesshotel“

Rechtsfragen: –

Gesamtzusage



Sonderzahlungen



AGB-Kontrolle von Freiwilligkeitsvorbehalten



Betriebliche Übung / Negative betriebliche Übung



Konkludente Vertragszusagen

Lösungsskizze Ausgangsfall Anspruch der F auf Zahlung der Treueprämie aus § 611 BGB i.V.m. Arbeitsvertrag i.V.m. Gesamtzusage A. Gesamtzusage Einseitige Zusage des Arbeitgebers, jedem Arbeitnehmer, der die von ihm dafür festgelegten Kriterien erfüllt, eine bestimmte, freiwillige Leistung zu gewähren B. Freiwilligkeitsvorbehalt Rechtswirksamkeit des Freiwilligkeitsvorbehalts nach den Maßstäben der §§ 305 ff. BGB I. Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB und Vorliegen von AGB Sachlicher und persönlicher Anwendungsbereich sind gegeben, AGBs i.S.d. § 305 Abs. 1 BGB liegen vor II. Einbeziehung in den Vertrag Wirksame Einbeziehung der Klausel, keine Individualabrede (§ 305b BGB), keine überraschende Klausel (§ 305c Abs. 1 BGB) III. Auslegung Schon nach Auslegung kein Freiwilligkeitsvorbehalt, sondern bloßer Hinweis auf fehlende anderweitige Leistungsverpflichtung, der Leistungsanspruch nicht ausschließt IV. Angemessenheitskontrolle Bei Annahme des Vorliegens eines Freiwilligkeitsvorbehalts 1. Kontrollfähigkeit i.S.d. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB Freiwilligkeitsvorbehalt ist kontrollfähige Klausel i.S.d. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB 2. §§ 309, 308 BGB Allein in Betracht kommendes Klauselverbot des § 308 Nr. 4 BGB nicht auf Freiwilligkeitsvorbehalte anwendbar 3. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB

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„Das exklusive Wellnesshotel“

Lösungsskizze Fall 10

Nach Rechtsprechung ist Freiwilligkeitsvorbehalt bei Sonderzahlung keine unangemessene Benachteiligung 4. § 307 Abs. 1 S. 2 BGB (Transparenzgebot) Ausschluss des Rechtsanspruches für die Zukunft ist für Arbeitnehmer nicht erkennbar, Verstoß gegen Transparenzgebot liegt vor V. Rechtsfolge bei unangemessener Benachteiligung, § 306 BGB Keine geltungserhaltende Reduktion. Eine unwirksame Vertragsbedingung wird nicht Vertragsbestandteil C. Ergebnis F hat einen Anspruch auf Zahlung eines Monatsgehalts

Abwandlung 1 Frage 1: Anspruch des S auf Zahlung des Urlaubsgeldes A. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB Im Arbeitsvertrag ist keine Pflicht des Arbeitgebers zur Zahlung eines Urlaubsgelds vereinbart B. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 i.V.m. betrieblicher Übung als konkludente Vertragsänderung Betriebliche Übung nicht mehr als eigenständige Anspruchsgrundlage, sondern als konkludente Vertragsänderung nach der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre I. Betriebliche Übung 1. Dogmatische Herleitung Streitige dogmatische Herleitung der betrieblichen Übung a) Vertragstheorie Freiwillige, gleichförmige, vorbehaltlose Wiederholung eines bestimmten Verhaltens des Arbeitgebers mit Kollektivbezug b) Vertrauenstheorie Arbeitgeber schafft durch regelmäßiges Verhalten einen Vertrauenstatbestand dahingehend, auch in Zukunft die Leistung zu erbringen 2. Ergebnis zur rechtlichen Konstruktion Vertrauenstheorie ist nach der neuen Konzeption abzulehnen, Voraussetzungen der betrieblichen Übung nach der Vertragstheorie unterscheiden sich praktisch nicht von denen einer konkludenten Vertragsänderung II. Voraussetzungen der betrieblichen Übung als konkludente Vertragsänderung 1. Angebot Arbeitgeber macht kein ausdrückliches, aber konkludentes Angebot gemäß § 145 BGB

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Fall 10 Lösungsskizze

„Das exklusive Wellnesshotel“

2. Annahme Keine Annahmeerklärung des Arbeitnehmers i.S.d. § 147 BGB, ist aber entbehrlich gemäß § 151 S.1 BGB C. Ergebnis Der Arbeitsvertrag wurde konkludent geändert. S hat gegen A einen Anspruch auf Auszahlung des Urlaubsgelds Frage 2: Anspruch des S auf Zahlung des Urlaubsgeldes A. Anspruch aus Arbeitsvertrag Kein Anspruch aus dem ursprünglichen Arbeitsvertrag B. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. betrieblicher Übung als konkludente Vertragsänderung i.V.m. § 611 BGB I. Angebot Arbeitgeber hat konkludentes Angebot abgegeben II. Annahme Annahmeerklärung war gemäß § 151 S. 1 BGB entbehrlich C. Vorbehaltsklausel Die konkludente Vertragsänderung kann durch die Vorbehaltsklausel im Arbeitsvertrag modifiziert werden, wenn diese der Kontrolle nach den Maßstäben der §§ 305 ff. BGB standhält I. Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB Sachlicher und persönlicher Anwendungsbereich sind gegeben II. Vorliegen von AGB Vorliegen Allgemeiner Geschäftsbedingungen i.S.d. § 305 Abs. 1 S. 1, 3 BGB III. Einbeziehung in den Vertrag Wirksame Einbeziehung der Klausel IV. Auslegung V. Angemessenheitskontrolle 1. Kontrollfähigkeit 2. § 308 Nr. 4 BGB Kein Scheitern des Freiwilligkeitsvorbehalts an § 308 Nr. 4 BGB 3. § 307 Abs. 1, Abs. 2 BGB Klausel verstößt gegen § 307 Abs. 1 S. 1 BGB wegen Aushöhlung des Synallagma des Arbeitsvertrags 4. Transparenzgebot, § 307 Abs. 1 S. 2 BGB Klausel ist wegen Kombination von Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt widersprüchlich und verstößt deshalb gegen § 307 Abs. 1 S. 2 BGB

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„Das exklusive Wellnesshotel“

Lösungsskizze Fall 10

D. Ergebnis Die Vorbehaltsklausel ist unwirksam, der Anspruch von S gegen A auf Urlaubsgeld besteht Frage 3: Anspruch des S auf Zahlung des Urlaubsgeldes A. Anspruch aus betrieblicher Übung Durch die jährlichen Zahlungen ist ein Anspruch aus betrieblicher Übung entstanden B. Beendigung des Anspruchs aus betrieblicher Übung durch eine gegenläufige betriebliche Übung Ausschluss der Bindungswirkung durch eine negative betriebliche Übung I. Bisherige Rechtsprechung Eine betriebliche Übung soll durch eine negative betriebliche Übung beendet werden können II. Neue Rechtsprechung Eine negative betriebliche Übung soll aufgrund der Vorschrift des § 308 Nr. 5 BGB nicht mehr möglich sein III. Ergebnis Die betriebliche Übung konnte nicht abgeändert werden, so dass der Anspruch der S auf Zahlung des Urlaubsgelds besteht

Abwandlung 2 Anspruch des X auf Bonuszahlung für das Jahr 2009 A. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB i.V.m. betrieblicher Übung In der wiederholten Leistung der A könnte eine betriebliche Übung zu sehen sein I. Voraussetzungen der betrieblichen Übung Die Voraussetzungen müssten vorliegen 1. Vorbehaltlose Leistung Die Leistungen wurden vorbehaltlos erbracht 2. Wiederholte und gleichförmige Leistung Allerdings fehlt es aufgrund der schwankenden Auszahlungsbeträge am Kriterium der Gleichförmigkeit 3. Ausreichender Kollektivbezug Ebenso weist die Zahlung an nur fünf Mitarbeiter keinen ausreichenden Kollektivbezug auf 4. Freiwilligkeit der Leistung Die Freiwilligkeit ist fraglich, da eine vertragliche Verpflichtung bestehen könnte (dazu B)

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Fall 10 Lösungsvorschlag

„Das exklusive Wellnesshotel“

II. Ergebnis Es liegt keine betriebliche Übung vor, folglich kein Anspruch des X daraus B. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB Möglicherweise ist A vertraglich zur Leistung verpflichtet I. Abschluss eines Änderungsvertrages Dazu müssten A und X sich vertraglich geeinigt haben 1. Vertragsangebot der A-GmbH In der Aussage der A im Einstellungsgespräch in Kombination mit dem anschließenden Leistungsverhalten ist ein Vertragsangebot zu sehen 2. Konkludente Annahme des X Dieses nimmt X durch die Empfangnahme der Leistung konkludent an 3. Zwischenergebnis Änderungsvertrag liegt vor II. Voraussetzungen des Anspruchs auf eine Bonuszahlung Die in der mündlichen Zusage begründeten Voraussetzungen einer Zahlung für das Jahr 2009 liegen vor III. Anspruchshöhe Die von X geforderte Anspruchshöhe ist nachvollziehbar IV. Ergebnis X hat einen vertraglichen Anspruch auf einen Bonus für das Jahr 2009 in Höhe von 30.000 Euro

Lösungsvorschlag Ausgangsfall Anspruch der F auf Zahlung der Treueprämie aus § 611 BGB i.V.m. Arbeitsvertrag i.V.m. Gesamtzusage Ein Anspruch der F gegen die A auf Zahlung einer Treueprämie anlässlich ihrer 5-jährigen Betriebszugehörigkeit in Höhe eines Monatsgehalts resultiert nicht bereits aus § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag. Zwar ist von einem wirksamen Arbeitsverhältnis im Sinne des § 611 BGB zwischen F und der A auszugehen. Eine individuelle Vereinbarung im Arbeitsvertrag, welche die Gewährung einer solchen „Treueprämie“ in Höhe eines Monatsgehalts anlässlich des 5-jährigen Dienstjubiläums regelt, ist insofern nicht ersichtlich. Dadurch, dass A im Januar 2008 durch Aushang am schwarzen Brett durch K Treueprämien für Dienstjubiläen in Aussicht gestellt hat, könnte sich ein solcher Anspruch der F vorliegend jedoch aus § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag i.V.m. einer Gesamtzusage ergeben.

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„Das exklusive Wellnesshotel“

Lösungsvorschlag Fall 10

A. Gesamtzusage Eine solche Gesamtzusage liegt vor, wenn der Arbeitgeber in allgemeiner Form einseitig bekannt gibt, dass er jedem Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Leistungen gewährt. Sie enthält mithin einen ausdrücklichen Erklärungstatbestand, der nach herrschender Meinung als Vertragsangebot an jeden einzelnen Arbeitnehmer angesehen wird. Indem K, die als Geschäftsführerin gemäß § 35 Abs. 1 GmbHG zur Vertretung der A befugt ist, durch Aushang am schwarzen Brett erklärte, dass die A fortan jedem Mitarbeiter aus Anlass des 5bzw. 10-jährigen Dienstjubiläums eine Treueprämie in Höhe von einem bzw. zwei Monatsgehältern zahlen werde, hat sie in diesem Sinne einseitig die Gewährung einer bestimmten Leistung unter bestimmten Voraussetzungen angeboten, also eine Gesamtzusage erklärt. Anmerkung: Ein Anspruch aus einer Gesamtzusage geht als auf eine ausdrückliche Erklärung des Arbeitgebers zurückzuführende vertragliche Verpflichtung grundsätzlich einem Anspruch aus betrieblicher Übung vor. Eine solche kann im Übrigen im Ausgangsfall bereits deshalb nicht entstanden sein, weil die A-GmbH erst einmalig im Jahre 2008 die Jubiläumsgelder auszahlte, mithin schon kein wiederholtes Verhalten vorliegt, das die Arbeitnehmer als Vertragsangebot bzw. als vertrauensbegründendes Verhalten auslegen können.

Ein Vertrag über die Leistung der Treueprämien ist jedoch lediglich dann zustande gekommen, wenn F auch das im Wege der Gesamtzusage erklärte Angebot angenommen hätte. Eine ausdrückliche Annahmeerklärung der F ist indes nicht ersichtlich. Es ist allerdings anerkannt, dass bei einer Gesamtzusage, die den Arbeitnehmern zusätzliche Ansprüche in Form von freiwilligen sozialen Leistungen verspricht, der Vertrag gemäß § 151 S. 1 BGB auch dann zustande kommt, wenn die Annahme dem Arbeitgeber gegenüber nicht ausdrücklich erklärt wurde. Eine ausdrückliche Annahmeerklärung gegenüber A ist insofern nach der Verkehrssitte nicht zu erwarten.1 Damit ist es ausreichend, dass F durch ihre widerspruchslose Weiterarbeit eine konkludente Annahme des Angebots erklärt hat. Dabei ist es unerheblich, dass der Arbeitnehmer bei Abschluss des Vertrags noch nicht absehen kann, ob er später die Leistungsvoraussetzungen erfüllen wird. Anmerkung: Verschlechternde Änderungsangebote des Arbeitgebers werden hingegen nicht ohne ausdrückliche Annahmeerklärung des Arbeitnehmers wirksam. § 151 S. 1 BGB greift in diesem Fall nicht. Dementsprechend kann sich eine Gesamtzusage auch nur auf den Arbeitnehmer begünstigende Regelungen beziehen.

A und F haben mithin eine Einigung gemäß §§ 145 ff. BGB hinsichtlich der im Aushang genannten Treueprämien erzielt. B. Freiwilligkeitsvorbehalt Der Entstehung des Anspruchs aufgrund einer Gesamtzusage könnte jedoch entgegenstehen, dass die Treueprämie im Aushang als „freiwillige Leistung“ bezeichnet wurde. Fraglich ist, ob diese Klausel rechtlichen Bestand hat. Sie könnte wegen Verstoßes gegen die §§ 307 ff. BGB gemäß § 306 Abs. 1 BGB unwirksam sein. 1 Vgl. BAG 16.9.1986 NZA 1987, 168, 171.

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I. Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB und Vorliegen von AGB Anmerkung: Fraglich ist, ob auch ein Freiwilligkeitsvorbehalt eine „Vertragsbedingung“ i.S.d. § 305 Abs. 1 BGB darstellt. Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass Freiwilligkeitsvorbehalte keine Vertragsbedingungen i.S.d. § 305 Abs. 1 BGB seien.2 Vertragsbedingungen im Sinne des AGBRechts könnten nur Regelungen sein, die auf den Inhalt von Verträgen abzielen. Da sich der Arbeitgeber aber beim Freiwilligkeitsvorbehalt gerade nicht binden wolle, läge schon keine bei der AGB-Kontrolle vorausgesetzte, bindende Abrede vor.3 Dem wird jedoch zutreffend entgegen gehalten, dass mit Freiwilligkeitsvorbehalten das gleiche Ziel verfolgt werde wie mit anderen Vorbehalten (typischerweise: Widerrufsvorbehalt) und allein die unterschiedliche Wortwahl nicht zu einer Umgehung der AGB-Kontrolle führen dürfe (§ 306a BGB).4 Eine kontrollfähige Vertragsbedingung liege jedenfalls dann vor, wenn ein stereotyper Freiwilligkeitsvorbehalt in ein vorformuliertes Vertragswerk integriert werde oder eine – bereits gegebene – Vertragszusage durch einen vorformulierten Vorbehalt eingeschränkt werde.5

Sowohl der sachliche als auch der persönliche Anwendungsbereich gemäß § 310 Abs. 4 und 1 BGB sind eröffnet. Der Aushang am schwarzen Brett ist darüber hinaus eine vorformulierte Vertragsbedingung i.S.d. § 305 Abs. 1 BGB, die den Mitarbeitern – somit auch der F – gestellt wurde, ohne dass diese selbst gestaltenden Einfluss nehmen konnten und ohne dass die Regelungen im Einzelnen ausgehandelt wurden (vgl. § 310 Abs. 3 BGB). II. Einbeziehung in den Vertrag Die Allgemeine Geschäftsbedingung müsste auch in den Vertrag einbezogen worden sein. Dies richtet sich dabei grundsätzlich nach § 305 Abs. 2, Abs. 3 BGB. Nach § 305 Abs. 2 Nr. 1 BGB kann eine Allgemeine Geschäftsbedingung jedoch nur dann durch einen deutlich sichtbaren Aushang Bestandteil eines Vertrags werden, wenn ein ausdrücklicher Hinweis wegen der Art des Vertragsschlusses nur unter unverhältnismäßigen Schwierigkeiten möglich ist. Darüber hinaus verlangt § 305 Abs. 2 Nr. 2 BGB, dass der Verwender der anderen Vertragspartei die Möglichkeit verschafft, in zumutbarer Weise, die auch eine für den Verwender erkennbare körperliche Behinderung der anderen Vertragspartei angemessen berücksichtigt, vom Inhalt der Allgemeinen Geschäftsbedingung Kenntnis zu nehmen. Ob unverhältnismäßige Schwierigkeiten einem ausdrücklichen Hinweis für die A entgegenstanden und inwiefern die Möglichkeit zur Kenntnisnahme für die F bestand, kann allerdings vorliegend dahinstehen. Denn § 310 Abs. 4 S. 2 Halbs. 2 BGB normiert, dass die Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Arbeitsrecht nicht den Beschränkungen der § 305 Abs. 2, Abs. 3 BGB unterliegen. Der Gesetzgeber ging insofern davon aus, der Arbeitnehmer sei durch das Nachweisgesetz ausreichend geschützt.6 Daher richtet sich die Frage, ob Allgemeine Geschäftsbedingungen wirksam in den Vertrag einbezogen

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THÜSING, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rn. 268. THÜSING, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rn. 268. DBD/DORNDORF/BONIN AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, § 307 BGB Rn. 198. PREIS NZA 2009, 281. BT-Drs. 14/6857 S. 54.

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wurden, im Arbeitsrecht ausschließlich nach den §§ 145 ff. BGB. Folglich konnte die fragliche Klausel als Allgemeine Geschäftsbedingung durch Aushang am schwarzen Brett einbezogen werden. Da vorliegend darüber hinaus weder vorrangige Individualvereinbarungen im Sinne des § 305b BGB bestanden haben, noch davon ausgegangen werden kann, dass eine überraschende Klausel gemäß § 305c Abs. 1 BGB vorliegt, wurde die fragliche Klausel wirksam in den durch Gesamtzusage begründeten Vertrag einbezogen. III. Auslegung Fraglich ist allerdings, wie die vorliegende Klauselformulierung zu verstehen ist. Jeder Inhaltskontrolle hat stets eine Auslegung voranzugehen, um bestimmen zu können, was Prüfungsgegenstand ist. Zu klären ist hier, ob die Klausel überhaupt als Freiwilligkeitsvorbehalt dahingehend zu verstehen ist, dass der Arbeitgeber die Entstehung von Ansprüchen in der Zukunft ausschließen will. Vielmehr kann der bloße Verweis auf die „Freiwilligkeit“ der Leistung ohne den Zusatz, dass „Rechtsansprüche für die Zukunft nicht begründet werden“, so ausgelegt werden, dass der Arbeitgeber mit dem Hinweis auf die „Freiwilligkeit“ lediglich zum Ausdruck bringen will, nicht aus anderen Gründen (Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung) zur Leistung verpflichtet zu sein. Der Verweis auf die „Freiwilligkeit“ steht in diesem Fall der Entstehung eines vertraglichen Anspruchs nicht entgegen.7 Zur Vermeidung eines Anspruchs durch Festlegung eines Freiwilligkeitsvorbehalts hätte der Arbeitgeber deutlich machen müssen, dass er sich für die Zukunft durch die Gesamtzusage nicht binden lassen will, was vorliegend nicht erfolgt ist. IV. Angemessenheitskontrolle Selbst wenn die in der Gesamtzusage enthaltene Klausel als Freiwilligkeitsvorbehalt auszulegen wäre, könnte sie zudem dann nicht wirksam sein, wenn sie den Arbeitnehmer unangemessen im Sinne der §§ 307 ff. BGB benachteiligt. 1. Kontrollfähigkeit i.S.d. § 307 Abs. 3 BGB Als einseitiges Leistungsbestimmungsrecht modifiziert ein Freiwilligkeitsvorbehalt die Hauptleistungsabrede und ist daher kontrollfähig i.S.d. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB.8 2. §§ 309, 308 BGB Unterstellt, die Formulierung „aus Anlass Ihrer 5- bzw. 10-jährigen Betriebszugehörigkeit erhalten sie eine Treueprämie als freiwillige Leistung in Höhe von . . ..“ könnte als echter Freiwilligkeitsvorbehalt interpretiert werden (was m.E. ausscheidet, siehe oben III), entfällt nach der Rechtsprechung des BAG eine Kontrolle nach § 308 Nr. 4 BGB (Verbot unzumutbarer Änderungsvorbehalte zu Las-

7 BAG 1.3.2006 NZA 2006, 746; DBD/DORNDORF/BONIN, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, § 307 BGB Rn. 157, 197. 8 ErfK/PREIS §§ 305-310 BGB Rn. 71; STOFFELS, AGB-Recht, Rn. 459.

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ten des Verwendungsgegners), weil eine gerade noch nicht versprochene Leistung nur kraft tatsächlicher Gewährung noch nicht zu einer rechtlich begründeten Leistung wird.9 Wäre also in der gewählten Formulierung ein echter Freiwilligkeitsvorbehalt zu sehen, lägen die Voraussetzungen des § 308 Nr. 4 BGB bereits nicht vor, da es an einer versprochenen Leistung fehlt. 3. § 307 Abs. 1 S. 2 BGB (Transparenzgebot) Die Vertragsgestaltung könnte jedoch jedenfalls auch gegen das Transparenzgebot gemäß § 307 Abs. 1 S. 2 BGB verstoßen und damit unwirksam sein, wenn sie nicht klar und verständlich ist.10 Wie gezeigt, kann die Bezeichnung einer Leistung als „freiwillig“ vorliegend derart verstanden werden, dass sich der Arbeitgeber „freiwillig“ zur Erbringung der Leistung verpflichtet, ohne dazu durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Gesetz gezwungen zu sein.11 So gesehen kann aus der Formulierung „freiwillig“ noch kein „Freiwilligkeitsvorbehalt“ gefolgert werden. Jedenfalls ist die Kernaussage der Klausel unklar. Die Klausel ist insoweit intransparent, weil der Arbeitnehmer allein durch die Erwähnung des Wortes „freiwillig“ nicht erkennen kann, dass ein Rechtsanspruch auf die Leistung gar nicht erst entsteht bzw. für die Zukunft ausgeschlossen sein soll.12 Wenn der Arbeitgeber die vertragliche Bindung, sei es durch Gesamtzusage oder betriebliche Übung, ausschließen möchte, muss er nicht nur auf die Freiwilligkeit der Leistung hinweisen, sondern eindeutig klar machen, dass er sich für die Zukunft nicht binden will und eine Zahlung ohne Rechtspflicht erfolgt.13 Durch die Gesamtzusage ist vorliegend jedoch eine vertragliche Bindungswirkung eingetreten. Die Bezeichnung der Jubiläumszuwendung als „freiwillige Leistung“ lässt nicht den Schluss zu, dass ein Freiwilligkeitsvorbehalt vereinbart wurde. Diese Bezeichnung bringt für die Arbeitnehmer nicht unmissverständlich zum Ausdruck, dass sich der Arbeitgeber eine grundsätzlich freie Lösung von der gegebenen Zusage vorbehält. Auch mussten die Arbeitnehmer der Bezeichnung als „freiwillige Leistung“ nicht entnehmen, das Unternehmen wolle sich nach Belieben oder jedenfalls nach billigem Ermessen von der Zusage, dass der Jubilar bei seinem Dienstjubiläum die Zuwendung „erhält“, lösen können. Die Klausel verstößt somit gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB. V. Rechtsfolge bei unangemessener Benachteiligung, § 306 BGB Das BAG verbietet eine geltungserhaltende Reduktion.14 Für eine Anwendung des Verbots der geltungserhaltenden Reduktion für Arbeitsverträge spricht, dass

9 BAG 30.7.2008 AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 274; BAG 18.3.2009 NZA 2009, 535; DBD/DORNDORF/BONIN, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, § 308 Nr. 4 BGB Rn. 50. 10 BAG 30.7.2008 AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 274. 11 Vgl. BAG 11.4.2000 AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 227; BAG 1.3.2006 NZA 2006, 746. 12 DBD/DORNDORF/BONIN, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, § 307 BGB Rn. 157. 13 Vgl. BAG 8.12.2010 NZA 2011, 628 = NJW 2011, 2314 bezüglich eines Freiwilligkeitsvorbehalts zur Verhinderung einer betrieblichen Übung. 14 BAG 12.1.2005 AP BGB § 308 Nr. 1; BAG 25.5.2005 AP BGB § 310 Nr. 1.

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dem Verwender sonst jegliches Risiko bei der Vorformulierung vorgefasster Vertragswerke abgenommen würde. Gemäß § 306 Abs. 1 BGB wird eine unwirksame Vertragsbedingung nicht Vertragsbestandteil. C. Ergebnis F hat einen Anspruch auf Zahlung eines Monatsgehalts bei Ihrem 5-jährigen Dienstjubiläum aus § 611 i.V.m. Arbeitsvertrag i.V.m. Gesamtzusage. Anmerkung: Es hätte vorliegend noch ein Anspruch aus dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz angeprüft werden können. Dieser würde jedoch schon aufgrund seiner Subsidiarität scheitern. Ein Anspruch aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz kommt nur in Betracht, wenn dem Arbeitnehmer nicht bereits ein Anspruch aus einem anderen Rechtsgrund zusteht.15

Abwandlung 1 Frage 1: Anspruch des S auf Zahlung des Urlaubsgeldes Möglicherweise hat S gegen A einen Anspruch auf Zahlung eines Urlaubsgeldes in Höhe eines zusätzlichen Monatsgehalts. Der Anspruch kann sich hier nur aus einer arbeitsvertraglichen Verpflichtung ergeben. A. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB S könnte einen Anspruch auf Zahlung des Urlaubsgelds gegen A aus dem Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB haben. Allerdings haben A und S im Arbeitsvertrag keine Pflicht des Arbeitgebers zur Zahlung eines Urlaubsgelds vereinbart. Eine unmittelbare Regelung ist im Arbeitsvertrag somit nicht enthalten. Mithin scheidet ein Anspruch auf das Urlaubsgeld aus dem Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB aus. B. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB i.V.m. betrieblicher Übung als konkludente Vertragsänderung S könnte jedoch durch die mehrmalige Gewährung der Zulage einen Anspruch auf die Auszahlung des Urlaubsgelds aus einer konkludenten Änderung des Arbeitsvertrags gemäß §§ 133, 147 BGB im Gewand einer betrieblichen Übung i.V.m. § 611 BGB haben. Typischer Anwendungsfall der betrieblichen Übung als konkludente Vertragsänderung sind Sonderleistungen, die der Arbeitgeber in der Vergangenheit mehrfach an seine Arbeitnehmer erbracht hat und zu denen er im ursprünglichen Arbeitsvertrag nicht verpflichtet war. Anmerkung: Die betriebliche Übung als eigenes Rechtsinstitut und eigenständige Anspruchsgrundlage ist zunehmender Kritik ausgesetzt, weil sie dogmatisch nur schwer oder sogar gar nicht begründbar ist.16 Überzeugender wäre es, in den klassischen Fällen der betrieblichen Übung eine konkludente Änderung des Arbeitsvertrags nach den allgemeinen Regeln der Rechtsgeschäftslehre zu prüfen. Wie noch 15 HROMADKA/MASCHMANN, ArbR Bd.1, § 7 Rn. 106. 16 PREIS/GENENGER, JbArbR, Bd. 47 2010, S. 93 ff.; PREIS/SAGAN NZA 2012, 697.

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deutlich werden wird, ist der Unterschied zwischen den Voraussetzungen für eine betriebliche Übung auf Grundlage der herrschenden Vertragstheorie und denen einer konkludenten Vertragsänderung nach dem BGB verschwindend gering. Selbst wenn man an der betrieblichen Übung festhalten wollte, müsste sie als subsidiäres Institut nach der konkludenten Vertragsänderung geprüft werden, was aber etwa das BAG nicht konsequent umsetzt. Im Gutachten sollte die betriebliche Übung nicht als eigenständige Anspruchsgrundlage geprüft, sondern als konkludente Vertragsänderung angesehen werden. Da insbesondere das BAG die betriebliche Übung bisher nicht aufgibt, empfiehlt es sich, sie und ihre Begründungsansätze im Gutachten weiterhin anzusprechen, aber als konkludente Vertragsänderung nach den allgemeinen Regeln zu prüfen.

I. Betriebliche Übung Nach ständiger Rechtsprechung des BAG versteht man unter einer betrieblichen Übung die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers, aus denen der Arbeitnehmer schließen kann, ihm solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer gewährt werden. Unerheblich ist, ob der Arbeitgeber mit einem entsprechenden Verpflichtungswillen gehandelt hat. Vielmehr kommt es darauf an, wie der Arbeitnehmer als Erklärungsempfänger dessen Verhalten nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen konnte.17 Will der Arbeitgeber verhindern, dass der Arbeitnehmer den Schluss auf einen dauerhaften Bindungswillen zieht, muss er einen entsprechenden Vorbehalt konkret zum Ausdruck bringen.18 1. Dogmatische Herleitung Die dogmatische Herleitung der betrieblichen Übung ist umstritten. a) Vertragstheorie Nach der von der Rechtsprechung und einem Teil der Lehre vertretenen sog. Vertragstheorie ist für die Begründung einer betrieblichen Übung zunächst eine freiwillige, gleichförmige, vorbehaltlose Wiederholung eines bestimmten Verhaltens (Leistungsgewährung) durch den Arbeitgeber mit Kollektivbezug erforderlich. Die Vertreter der Vertragstheorie gehen davon aus, unter Berücksichtigung von Treu und Glauben sowie der Verkehrssitte (§ 242 BGB) sei ein solches Verhalten unabhängig von einem entsprechenden Verpflichtungswillen des Arbeitgebers regelmäßig als konkludentes Vertragsangebot an jeden betroffenen Arbeitnehmer zu werten, den Arbeitsvertrag dahingehend zu modifizieren, dass die entsprechende Zusatzleistung auch in Zukunft zu gewähren sei. Die Annahme des Arbeitnehmers erfolge dann konkludent durch die stillschweigende Weiterarbeit und widerspruchslose Annahme des Geldes. Der gemäß § 130 Abs. 1 S. 1 BGB grundsätzlich für die Wirksamkeit erforderliche Zugang der Annahmeerklärung

17 BAG 16.9.1998 AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 54; BAG 30.7.2008 AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 274. 18 BAG 16.4.1997 AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 53; BAG 30.7.2008 AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 274.

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sei dabei gemäß § 151 S. 1 BGB entbehrlich, da davon auszugehen sei, dass der Arbeitgeber regelmäßig auf einen Zugang der Annahmeerklärung konkludent verzichtet habe.19 b) Vertrauenstheorie Eine andere Ansicht vertritt die Auffassung, dass der Arbeitgeber durch sein regelmäßiges Verhalten einen Vertrauenstatbestand dahingehend schaffe, dass er auch in Zukunft die Leistung erbringen wolle. In einer betrieblichen Übung sei somit eine Vertrauenshaftung des Arbeitgebers zu sehen. Habe der Arbeitgeber demnach durch ein bestimmtes Verhalten ein schutzwürdiges Vertrauen der Arbeitnehmer in den Fortbestand der Gewährung einer Leistung geschaffen, verstoße die einseitige Einstellung der Gewährung gegen Treu und Glauben und sei deshalb gemäß § 242 BGB unzulässig (Verbot des „venire contra factum proprium“).20 2. Ergebnis zur rechtlichen Konstruktion Ein Streitentscheid konnte früher dahinstehen, sofern beide dogmatischen Ansätze zum gleichen Ergebnis kamen. Das BAG hat die gesetzlich nicht normierten Voraussetzungen einer betrieblichen Übung für den Fall der Sonderzahlungen dahingehend konkretisiert, dass in einer jährlichen freiwilligen Leistung an die gesamte Belegschaft bei dreimaliger, gleichförmiger Wiederholung eine betriebliche Übung gesehen werden könne. Dabei ist die „Auktionator-Regel“ („zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten“) als Auslegungsregel zu sehen, die dazu führt, dass das Verhalten des Arbeitgebers nach §§ 133, 157 BGB als konkludentes Angebot zu einer Vertragsänderung gemäß § 145 BGB auszulegen ist.21 Da die betriebliche Übung als Ausprägung einer konkludenten Vertragsänderung anzusehen ist, scheidet die Vertrauenstheorie als dogmatische Begründung aus. Auch das BAG präferiert in seiner Rechtsprechung die Vertragstheorie.22 Anmerkung: Bei der Begründung von Ansprüchen der Arbeitnehmer aus § 611 BGB i.V.m. Arbeitsvertrag i.V.m. betrieblicher Übung kommen die Vertrags- und Vertrauenstheorie in aller Regel zu demselben Ergebnis. Die unterschiedlichen Argumentationsansätze wirkten sich in der Vergangenheit insbesondere bei der Diskussion um die Vertragsänderung zuungunsten der Arbeitnehmer durch eine etwaige negative betriebliche Übung aus. Dem Arbeitnehmer die konkludente Annahme einer für ihn nachteiligen Regelung im Sinne der systematisch zu präferierenden Vertragstheorie zu unterstellen, erforderte hohen argumentativen Aufwand. Nach der Abkehr des BAG vom Rechtsinstitut der negativen betrieblichen Übung und ihrer Anerkennung als konkludente Vertragsänderung besteht nun kein Grund mehr, den Streitentscheid an dieser Stelle offen zu lassen.

19 Vgl. ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 220a. 20 Grundlegend CANARIS, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 387 ff. 21 MIKOSCH, FS Düwell, 2011, S. 115, 120. 22 BAG 28.2.1996 AP Nr. 192 zu § 611 BGB Gratifikation; BAG 18.3.2009 NZA 2009, 601.

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II. Voraussetzungen der betrieblichen Übung als konkludente Vertragsänderung 1. Angebot Die A-GmbH muss ein Angebot zur Vertragsänderung gemäß § 145 BGB gemacht haben. Ausdrücklich hat sie nichts erklärt, sie kann aber ein konkludentes Angebot gemacht haben. Dazu muss ihr Verhalten gemäß §§ 133, 157 BGB objektiv und unter Berücksichtigung von Treu und Glauben als Angebot zur Vertragsänderung verstanden werden können, mit der sich die A-GmbH zur dauerhaften Zahlung des Urlaubsgelds verpflichten will. Bei der Auslegung spielt nach der Rechtsprechung des BAG die Gleichförmigkeit und Häufigkeit der Leistung ebenso eine wesentliche Rolle wie auch die Feststellung, was der Arbeitgeber bei der jeweiligen Zahlung ausdrücklich erklärt.23 Zur Frage, wie häufig die Leistung erbracht werden muss, damit gemäß § 133, 157 BGB von einem konkludenten Angebot ausgegangen werden kann, ist die dreimalige Wiederholung als Voraussetzung der betrieblichen Übung als Konkretisierung und allgemeine Auslegungsregel heranzuziehen.24 A hat hier über sieben Jahre hinweg immer als Urlaubsgeld ein zusätzliches Monatsgehalt ausgezahlt. Diese Häufigkeit und Gleichförmigkeit sprechen für ein konkludentes Angebot. Auch hat A zu den einzelnen Zahlungen nichts erklärt, was gegen einen Willen zur dauerhaften Verpflichtung sprechen könnte. Aus der Sicht des Erklärungsempfängers durften diese Umstände als Erklärung der A aufgefasst werden, dass sich die A dauerhaft zur Zahlung eines Urlaubsgeldes verpflichten wollte. Somit ist das Verhalten von A nach den allgemeinen Regeln der §§ 133, 157 BGB unter Berücksichtigung von Treu und Glauben und der Auslegungsregel der dreimaligen Wiederholung aus der betrieblichen Übung als konkludentes Angebot zur Vertragsänderung gemäß § 145 BGB zu verstehen. Anmerkung: Weitere Voraussetzungen der überkommenen betrieblichen Übung als eigenständige Anspruchsgrundlage – „freiwillige“25 Leistungserbringung und Kollektivbezug – sind entbehrlich. Wäre der Arbeitgeber schon durch den ursprünglichen Vertrag zur Leistung verpflichtet, wäre die Prüfung einer Vertragsänderung, mit der eine solche Verpflichtung entsteht, überflüssig. Die – unklare – Voraussetzung des Kollektivbezugs diente der Abgrenzung zu einer Individualvereinbarung. Es sollte darauf ankommen, dass der Arbeitgeber allen Mitarbeitern die Leistung gewährt. Nun wird die betriebliche Übung aber gerade als Individualvereinbarung angesehen, insofern ist ein Kollektivbezug obsolet. Ob der Arbeitgeber die Leistung allen Mitarbeitern oder nur einem zahlt, spielt für die Prüfung einer individualvertraglichen Änderung keine Rolle. Geprüft werden musste auch, ob nicht ein so genannter Widerrufs- oder Freiwilligkeitsvorbehalt vorlag, der das Entstehen der betrieblichen Übung verhindern konnte. Die Wirksamkeit allgemeiner Vorbehaltsklauseln im Arbeitsvertrag ist umstritten (dazu Frage 2 C). Erklärt der Arbeitgeber bei jeder einzelnen Leistung einen Vorbehalt, ist das im Rahmen der Auslegung seines Verhaltens zu berücksichtigen. Regelmäßig wird dann kein konkludentes Angebot zur Vertragsänderung vorliegen. 23 BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 82. 24 MIKOSCH, FS Düwell, 2011, S. 115, 120. 25 Kritisch zum Begriff der „freiwilligen Leistungen“ PREIS/SAGAN NZA 2012, 697.

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2. Annahme S hat ausdrücklich nichts erklärt, das Angebot aber spätestens durch Entgegennahme des Geldes bzw. Abheben vom Konto auch konkludent angenommen (§§ 147, 151, 133, 157 BGB). Mithin ist ein Anspruch auf Auszahlung des Urlaubsgeldes entstanden. C. Ergebnis Folglich hat S einen Anspruch gegen A auf Auszahlung des Urlaubsgeldes in Höhe eines Monatsgehalts aus einer konkludenten Änderung des Arbeitsvertrags gemäß §§ 133, 147 BGB im Gewand einer betrieblichen Übung i.V.m. § 611 BGB. Frage 2: Anspruch des S auf Zahlung des Urlaubsgelds A. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB S könnte gegen A einen Anspruch auf Zahlung des Urlaubsgelds aus dem Arbeitsvertrag i.V.m § 611 BGB haben. Zwischen den Parteien besteht ein wirksamer Arbeitsvertrag. In dem schriftlichen Arbeitsvertrag ist aber keine Regelung enthalten, die A zur Zahlung des Urlaubsgeldes verpflichtet. Es kann aber im Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu einer Änderung des Arbeitsvertrags gekommen sein, mit der eine solche Verpflichtung begründet wurde. B. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. betrieblicher Übung als konkludente Vertragsänderung i.V.m. § 611 BGB Ein Vertrag wird durch zwei korrespondierende Willenserklärungen, Angebot und Annahme gemäß §§ 145, 147 BGB, geändert. Ausdrücklich haben S und A keine Willenserklärungen abgeben. Sie können aber konkludent eine Vertragsänderung vereinbart haben. Anmerkung: Wie bereits festgestellt (s. Frage 1 unter B) ist die betriebliche Übung keine eigene Anspruchsgrundlage. Vielmehr ist sie nichts anderes als eine konkludente Vertragsänderung. Ihre überkommenen Voraussetzungen finden nur noch teilweise bei der Prüfung eines konkludenten Angebots durch den Arbeitgeber Anwendung, dann aber nur als Auslegungshilfe im Rahmen der §§ 133, 157 BGB.

I. Angebot Hier kann die von 2002 an jährliche Auszahlung des Urlaubsgelds von A an S als konkludentes Angebot verstanden werden, dass A sich dauerhaft zu dieser Leistung verpflichten will. Ob es sich um ein solches Angebot handelt, ist durch Auslegung zu ermitteln. Nach §§ 133, 157 BGB ist ein Erklärungsverhalten vom Standpunkt eines objektiven Erklärungsempfängers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände auszulegen. Somit ist zu fragen, ob A hier nach diesen Maßstäben davon ausgehen konnte, dass S sich dauerhaft zur Zahlung des Urlaubsgelds verpflichten will. Bei der Auslegung kommt es nach der Rechtsprechung des BAG auf die Gleichförmigkeit und die Häufigkeit der Leistung an und darauf, ob der Arbeitgeber bei ihrer Zahlung noch etwas ausdrücklich erklärt, sie etwa mit einem konkreten

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Freiwilligkeitsvorbehalt versieht.26 Bei der Häufigkeit ist die Auslegungsregel der dreimaligen Wiederholung der Leistung zu beachten. A hat über mehrere Jahre hinweg immer als Urlaubsgeld ein zusätzliches Monatsgehalt kommentarlos ausgezahlt. Vor allem daraus, dass A das Urlaubsgeld so regelmäßig und in immer gleicher Höhe ausgezahlt hat, konnte S ableiten, dass A sich verpflichtet, das Urlaubsgeld auch in Zukunft auszuzahlen. Außerdem hat A bei den einzelnen Leistungen keinen Freiwilligkeitsvorbehalt erklärt und auch nicht auf die entsprechende Klausel im schriftlichen Arbeitsvertrag verwiesen. Allein nach diesen Begleitumständen durfte S unter Berücksichtigung von Treu und Glauben davon ausgehen, dass A ein konkludentes Angebot zu einer Vertragsänderung macht. II. Annahme S hat durch die Entgegennahme des Urlaubsgeldes konkludent eingewilligt. Der Zugang der Annahmeerklärung ist gemäß § 151 BGB entbehrlich. Somit haben A und S grundsätzlich konkludent eine Vertragsänderung vereinbart, nach der A zur Zahlung des Urlaubsgelds verpflichtet ist. C. Vorbehaltsklausel Anmerkung: So genannte „Freiwilligkeitsvorbehalte“27 (hier verbunden mit einem Widerrufsvorbehalt, dazu unten C IV) waren nach der Rechtsprechung des BAG vor allem zulässig, um das Entstehen einer betrieblichen Übung zu verhindern. Sie sollten dafür sorgen, dass beim Arbeitnehmer trotz drei- oder mehrmaliger gleichförmiger Sonderleistung kein Vertrauen darauf entsteht, dass der Arbeitgeber sich verpflichten will, die Leistung auch in Zukunft zu erbringen. Sieht man die Anspruchsgrundlage – wie hier – nicht in einer betrieblichen Übung, sondern einer rechtsgeschäftlichen Vertragsänderung, stellt sich die Frage, wie sich solche „Freiwilligkeitsvorbehalte“ auswirken. Sie sind dabei als – AGB-rechtliche voll kontrollfähige (s. unten C V) – arbeitsvertragliche Abreden anzusehen, die den Inhalt durch wiederholt gezahlte Sonderleistungen zustande gekommener Arbeitsvertragsänderungen (wie hier vorliegend, s. oben B) so modifizieren sollen, dass keine Verpflichtung des Arbeitgebers entsteht, diese Leistung auch in Zukunft zu erbringen. Diese dogmatische Einordnung vorausgesetzt, ist dann zu prüfen, ob die Vorbehaltsklausel wirksam ist.

Fraglich ist, ob die Vorbehaltsklausel im schriftlichen Arbeitsvertrag, mit der A ja gerade eine Verpflichtung zur Zahlung von zusätzlichen Leistungen ausschließen wollte, den Inhalt der oben festgestellten Vertragsänderung so modifiziert, dass gerade keine Verpflichtung von A entstanden ist, das Urlaubsgeld auch in diesem Jahr zu zahlen. Dann müsste die zitierte Vertragsklausel wirksam sein. Fraglich ist, ob die Klausel den Maßstäben des AGB-Rechts gemäß §§ 305 ff. BGB entsprechen muss. Dazu muss das AGB-Recht überhaupt anwendbar sein.

26 BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 82. 27 Zur problematischen Terminologie s. PREIS/SAGAN NZA 2012, 697.

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I. Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB Sachlicher und persönlicher Anwendungsbereich gemäß § 310 Abs. 4 und 1 BGB sind gegeben. II. Vorliegen von AGB Die Klausel in dem Arbeitsvertrag des S ist eine vorformulierte Vertragsbedingung28 (s. dazu im Ausgangsfall unter B I), die ihm von A bei Abschluss des Vertrags gestellt wurde, ohne dass er selbst gestaltenden Einfluss nehmen konnte und ohne dass die Regelungen im Einzelnen ausgehandelt wurden, §§ 305 Abs. 1, 310 Abs. 3 BGB. III. Einbeziehung in den Vertrag Als Vertragsbestandteil wurde die Klausel auch wirksam zwischen den Parteien (jedenfalls konkludent) einbezogen (keine Anwendung von § 305 Abs. 2, Abs. 3 BGB gemäß § 310 Abs. 4 S. 2 BGB). Ebenso wenig liegt eine überraschende Klausel i.S.d. § 305c Abs. 1 BGB vor. Weder handelt es sich bei dem regelmäßig in Arbeitsverträge integrierten Freiwilligkeitsvorbehalt um eine ungewöhnliche Klausel, mit der der Arbeitnehmer nicht rechnen musste, noch befindet sich der Freiwilligkeitsvorbehalt an derart versteckter Stelle im Arbeitsvertrag, dass der Arbeitnehmer nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags nicht vom Vorliegen eines solchen Vorbehalts ausgehen konnte. IV. Auslegung Die Klausel ist eine Kombination aus einem Freiwilligkeits- und einem Widerrufsvorbehalt. Anmerkung: Das BAG hat mehrfach (etwa NZA 2006, 746) in einer solchen Kombination die Klausel insgesamt als Widerrufsvorbehalt ausgelegt, da der Arbeitgeber mit der Aufnahme des Widerrufselements der Leistung eine gewisse Bindungswirkung zuerkennt. In neuester Rechtsprechung nimmt aber auch das BAG eine wirkliche Kombination beider Vorbehalte an und überprüft beide gemeinsam.29

V. Angemessenheitskontrolle Zu untersuchen ist, ob die fragliche Klausel nicht unangemessen benachteiligend ist. 1. Kontrollfähigkeit Bei der Klausel handelt es sich wie im Ausgangsfall (s. B IV 1) um eine kontrollfähige Vertragsabrede i.S.d. § 307 Abs. 3 BGB.

28 So auch BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 82. 29 BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81.

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2. § 308 Nr. 4 BGB Wie ebenfalls aufgezeigt (Ausgangsfall, B IV 2), ist das allein nach §§ 309, 308 BGB in Betracht kommende Klauselverbot des § 308 Nr. 4 BGB nicht auf den Freiwilligkeitsvorbehalt anwendbar. 3. § 307 Abs. 1 S. 1 , Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB Fraglich ist, ob eine unangemessene Benachteiligung nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB vorliegt. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG waren Freiwilligkeitsvorbehalte für Sonderzahlungen jeglicher Art möglich, solange sie nur klar und verständlich als solche formuliert sind und nicht im Widerspruch zu anderen Vertragsinhalten stehen.30 Insbesondere verstieße ein Freiwilligkeitsvorbehalt für eine wiederkehrende Sonderzahlung nach dieser Rechtsprechung nicht gegen § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB, da er vor allem dem Zweck diene, die Entstehung einer betrieblichen Übung zu verhindern.31 Das BAG nahm eine Interessenabwägung vor, in der es das Interesse des Arbeitgebers an dem Erhalt der Klausel – und damit seine Bereitschaft, auch weiterhin risikolos Sonderzahlungen gewähren zu können – gegen das Interesse des Arbeitnehmers an der Unwirksamkeit des Vorbehaltes – damit aber auch die Motivation, Sonderzahlung wegen Risikos einer betrieblichen Übung einzustellen – abwog. Das BAG kam zu dem Ergebnis, dass das Interesse des Arbeitgebers letztlich überwiege und es zudem im Interesse des Arbeitnehmers liege, überhaupt eine Sonderzahlung zu bekommen. Wenn der Leistungsanspruch nicht durch den Arbeitsvertrag begründet würde, sondern eine betriebliche Übung entstehen könne, müsse der Arbeitgeber die Möglichkeit haben, deren Entstehung zu verhindern. Abstrakte Freiwilligkeitsvorbehalte in Arbeitsverträgen, die ganz allgemein Sonderzahlungen unter Vorbehalt stellen, ohne dass vorher im Vertrag eine konkrete Leistung zugesagt wurde, würden allein mit dieser Intention in den Vertrag eingefügt. Diese sollen nach Ansicht des BAG nicht unangemessen benachteiligend sein. Denn die einzige Alternative zu solch einem vertraglichen, abstrakten Vorbehalt zur Verhinderung der betrieblichen Übung wäre ein entsprechender Vorbehalt bei der jeweiligen Auszahlung der Sonderleistung. Nach dieser Rechtsprechungslinie könne es nicht darauf ankommen, ob bei jeder Zahlung ein Vorbehalt erklärt werde oder er einmal abstrakt für alle Sonderzahlungen im Arbeitsvertrag niedergelegt sei. Diese Rechtsprechung unterliegt Bedenken. Wenn der Arbeitgeber jede Form der Sonderzahlung unabhängig von ihrem Zweck freiwillig stellen können soll, wird in erheblichem Maße das Synallagma berührt. Auch bei einer Sonderzahlung wie derjenigen des Urlaubsgeldes wird faktisch in das Austauschverhältnis der Parteien eingegriffen. Sofern keine reinen Gratifikationen vorliegen, wie z.B. ein Heiratsbonus oder ein Jubiläumsgeld, hängen Sonderzahlungen in der Regel mit der Gegenleistung des Arbeitnehmers zusammen. Letztlich ist es nur ein konstruktiver Unterschied, ob eine Sonderzahlung einmal jährlich gezahlt wird oder monatlich als Sonderleistung mit dem Gehalt. Aus diesem Grund wird in der Literatur vertreten, dass Freiwilligkeitsvorbehalte bei synallagmatischen Leistun-

30 BAG 30.7.2008 AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 274. 31 BAG 30.7.2008 AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 274.

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Lösungsvorschlag Fall 10

gen eine unangemessene Benachteiligung des Arbeitnehmers darstellen, wobei eine synallagmatische Leistung grundsätzlich dann angenommen wird, wenn es sich nicht um eine rein freiwillige Leistung des Arbeitgebers handele, die ohne jeden Leistungsbezug und nicht vorhersehbar gezahlt werde.32 In seiner jüngsten Rechtsprechung33 berücksichtigt das BAG diese Bedenken.34 Es hat bereits Bedenken, ob ein solcher vertraglicher Vorbehalt dauerhaft den Erklärungswert einer ohne jeden Vorbehalt und ohne den Hinweis auf die vertragliche Regelung erfolgten Zahlung so erschüttern kann, dass der Arbeitnehmer das spätere, konkludente Verhalten des Arbeitgebers entgegen seinem gewöhnlichen Erklärungswert nicht als Angebot zur dauerhaften Leistungserbringung verstehen kann. Ein pauschaler vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt, der alle zukünftigen Leistungen unabhängig von ihrer Art und ihrem Entstehungsgrund erfassen soll, verstößt überdies gegen den in § 305b BGB bestimmten Vorrang der Individualabrede als auch gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass vertragliche Regelungen einzuhalten sind. Der Ausschluss des Rechtsanspruchs verhindere die Verwirklichung des Prinzips der Vertragsbindung und löse die synallagmatische Verknüpfung der Leistungen beider Vertragsparteien. Die Interessen des Arbeitnehmers würden grundlegend beeinträchtigt, was auch gelte, wenn es sich um eine zusätzliche Abgeltung der Arbeitsleistung in Form einer Zulage oder sonstiger laufender Leistungen handelt.35 Die Vereinbarung von Freiwilligkeitsvorbehalten wird nicht mehr für alle Sonderzahlungen für zulässig erachtet, sondern nur noch in Fällen tatsächlich echter freiwilliger Leistungen durch den Arbeitgeber ohne Bezug zum synallagmatischen Verhältnis oder zur Verhinderung einer betrieblichen Übung. Letzteres ist vor dem Hintergrund des Anliegens, die überkommene Rechtsprechung zur betrieblichen Übung zu retten, grundsätzlich verständlich. In diesem Zusammenhang trägt das BAG den Bedenken weiter damit Rechnung, dass es hohe Anforderungen an die klare und verständliche Klauselformulierung stellt. Dem Arbeitnehmer muss die Klausel bewusst machen, dass Rechtsansprüche auf klar identifizierbare, freiwillige Leistungen nicht entstehen sollen und auch für die Zukunft ein entsprechender Rechtsbindungswille des Arbeitgebers ausgeschlossen wird.36 Mittlerweile bezweifelt das BAG aber, ob das durch solch einen vertraglichen Vorbehalt überhaupt möglich ist, weil der Erklärungswert einer späteren, vorbehaltlos und ohne Hinweis auf den vertraglichen Vorbehalt erfolgten Zahlung eventuell nicht erschüttert werden könne. Das Gericht lässt anklingen, dass zumindest in Fällen, in denen zusätzliche Leistungen über einen langen Zeitraum hinweg jeweils ohne Vorbehalt gezahlt worden sind, der Arbeitnehmer das Verhalten als konkludentes Angebot zur dauerhaften Leistungserbringung verstehen kann (s. dazu unten Abwandlung 2 B).37 Im vorliegenden Fall bezieht sich der Freiwilligkeitsvorbehalt auf alle sonstigen Sondervergütungen, die nicht vertraglich vereinbart wurden. Damit soll jeglicher Rechtsanspruch auf Leistungen des Arbeitgebers, die nicht im ursprünglichen

32 33 34 35 36 37

Vgl. zum Problem insgesamt PREIS, Der Arbeitsvertrag, II V 70, Rn. 41 ff. Insb. BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81. BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 84. BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 84. BAG 8.12.2010 NZA 2011, 628. BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 84.

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Fall 10 Lösungsvorschlag

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Arbeitsvertrag vereinbart wurden, ausgeschlossen werden. Wäre die Klausel wirksam, stünde es immer im Belieben des Arbeitgebers, selbst zugesagte Leistungen nicht erbringen zu müssen, während er vom Arbeitnehmer immer dessen vollständige Leistung verlangen könnte. Das widerspricht dem synallagmatischen Charakter des Arbeitsvertrages. Mit Teilen der Literatur und der neuen Rechtsprechung des BAG ist dieser Ausschluss somit als den Arbeitnehmer entgegen Treu und Glauben unangemessen benachteiligend anzusehen. Die Klausel verstößt gegen das Verbot unangemessener Benachteiligung des § 307 Abs. 1, Abs. 2 BGB und ist somit gemäß § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam. 4. Transparenzgebot, § 307 Abs. 1 S. 2 BGB Die Klausel müsste weiterhin dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB genügen. Demnach kann sich eine unangemessene Benachteiligung auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist. Hier ist vor allem problematisch, dass die Klausel im Arbeitsvertrag sowohl besagt, dass zusätzliche Leistungen freiwillig erfolgen, als auch, dass sie jederzeit widerrufen werden können. Es handelt sich dabei um eine Kombination aus Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt. Zum einen sagt der Arbeitgeber also, dass er Leistungen, die nicht im Arbeitsvertrag vereinbart sind, nicht erbringt, weil er dazu durch irgendeine andere Regelung oder Abrede verpflichtet ist. Auf diese Leistungen soll also gar kein Anspruch des Arbeitnehmers entstehen. Gleichzeitig statuiert aber der Widerrufsvorbehalt laut dem BAG, dass der Arbeitnehmer zwar einen Anspruch hat, der Arbeitgeber sich aber vorbehält, die versprochene Leistung einseitig zu ändern.38 Es ist nach der neuen Rechtsprechung des BAG bei einer solchen Kombination nicht erkennbar, ob jede zukünftige Bindung ausgeschlossen oder für den Arbeitgeber die Möglichkeit bestehen soll, sich später wieder von einer vertraglichen Bindung zu lösen. Das gilt erst recht, wenn mehrfach Zahlungen ohne weitere Vorbehalte erfolgen.39 Somit ist die Klausel widersprüchlich und deshalb nicht klar und verständlich. Auch eine Teilung der Klausel in einen wirksamen und einen unwirksamen Teil nach dem so genannten Blue-Pencil-Verfahren ist nicht möglich, weil gerade die Kombination aus Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt die Klausel widersprüchlich macht. Das Blue-Pencil-Verfahren kann nach dem BAG aber nur angewendet werden, wenn ein abgrenzbarer Teil der Klausel intransparent ist. Eine Aufspaltung der Klausel in zwei – für sich genommen eventuell verständliche – Teile würde gegen das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion gemäß § 306 Abs. 2 BGB verstoßen.40 Die Klausel ist somit unangemessen benachteiligend und unwirksam gemäß § 307 Abs. 1 S. 2, 307 Abs. 1 S. 1 BGB.41

38 39 40 41

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BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 83. BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 83. BAG 14.9.2011 NZA 2012, 81, 83. BAG 30.7.2008 AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 274.

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Lösungsvorschlag Fall 10

Anmerkung: Für die Klausurbearbeitung ist unerheblich, ob die in dieser Musterlösung dem Verbot unangemessener Benachteiligung nach § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB zugeordneten Ausführungen dort oder im Rahmen des Transparenzgebotes im Sinne des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB erörtert werden.

Die Klausel ist unwirksam und kann somit die konkludent vereinbarte Vertragsänderung nicht verhindern. D. Ergebnis S hat einen Anspruch auf Zahlung des Urlaubsgeld aus dem Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB gegen A. Frage 3: Anspruch des S auf Zahlung des Urlaubsgelds A. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB i.V.m. betrieblicher Übung als konkludente Vertragsänderung Ein Anspruch des S gegen A aus betrieblicher Übung auf Zahlung des Urlaubsgeldes ist durch die Auszahlung des Urlaubsgelds in den Jahren 2002, 2003 und 2004 zunächst entstanden. Anmerkung: Insoweit gilt hier nichts anderes als bei Frage 1.

B. Anspruch erloschen Der Anspruch könnte jedoch wieder erloschen sein, wenn A aufgrund des nachträglich eingeführten Freiwilligkeitsvorbehalts zu einer Leistung nicht mehr verpflichtet wäre. Dazu müsste der nachträglich eingeführte Freiwilligkeitsvorbehalt jedoch Wirksamkeit entfalten. Eine ausdrückliche Vereinbarung über den Einbezug des Freiwilligkeitsvorbehalts hat es zwischen A und S nie gegeben. Fraglich ist allerdings, ob dies nach den Grundsätzen der so genannten „gegenläufigen“ oder „negativen“ betrieblichen Übung möglich ist. I. Bisherige Rechtsprechung Das BAG hat in der Vergangenheit angenommen, dass eine betriebliche Übung durch eine geänderte betriebliche Übung beendet werden kann, indem sich der Arbeitgeber über einen längeren Zeitraum hinweg der betrieblichen Übung widersprechend verhält. Die sog. „gegenläufige“ oder „negative“ betriebliche Übung müsse dabei zumindest stillschweigend Inhalt des Arbeitsvertrags geworden sein. Nach seinem Angebot auf Änderung bzw. Aufhebung der bisherigen betrieblichen Übung, deren zukünftiges Entfallen dem Arbeitnehmer deutlich vor Augen geführt werden muss,42 dürfe der Arbeitgeber das Schweigen des Arbeitnehmers auf die geänderte betriebliche Übung nach Treu und Glauben und nach der Verkehrssitte als Akzeptierung der geänderten betrieblichen Übung ansehen. Dies sei dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer der geänderten Handhabung nicht widerspreche, dürfe doch der Arbeitgeber davon ausgehen, dass ein solcher Wi-

42 BAG 4.5.1999 AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 55.

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derspruch des Arbeitnehmers erfolge, wenn er mit dieser nicht einverstanden sein sollte.43 Hier könnte nach der bisherigen Rechtsprechung durch die dreimalige, jährliche und von Seiten des S widerspruchslos hingenommene Einfügung eines Freiwilligkeitsvorbehalts auf der Gehaltsabrechnung eine gegenläufige betriebliche Übung implementiert worden sein. Diese Rechtsprechung begegnete jedoch in der Literatur heftiger Kritik. Insbesondere sei die gegenläufige betriebliche Übung weder mit der Vertrags- noch mit der Vertrauenstheorie dogmatisch zu erklären. Aus dem bloßen Schweigen des Arbeitnehmers könne aus Sicht des Arbeitgebers weder die konkludente Zustimmung zu einem für ihn durch den zukünftigen Ausschluss bereits erworbener Ansprüche aus betrieblicher Übung ungünstigen Vertragsangebot, noch ein rechtlich schützenswertes Vertrauen auf ein entsprechendes Einverständnis gesehen werden.44 II. Neue Rechtsprechung Mittlerweile hält das BAG nach Erstreckung der AGB-Kontrolle auf das Arbeitsrecht an diesen Grundsätzen nicht mehr fest.45 Er begründet dies auf Basis der Vertragstheorie damit, dass es sich bei der gegenläufigen betrieblichen Übung konstruktiv um den Abschluss eines Änderungsvertrags handele, denn nach der Grundannahme des BAG handelt es sich bei durch eine betriebliche Übung begründeten Ansprüchen um vertragliche Ansprüche. Ein Änderungsvertrag setze jedoch neben dem Antrag des Arbeitgebers auch eine Annahme des Arbeitnehmers voraus. Vorliegend könne allerdings aus dem Schweigen des Arbeitnehmers keine Annahmeerklärung abgeleitet werden, da das Verbot fingierter Erklärungen aus § 308 Nr. 5 BGB dem entgegensteht. Von einer konkludenten Änderungsvertragsannahme kann der Arbeitgeber aufgrund der für den Arbeitnehmer nachteiligen Wirkung nicht ausgehen. Um dessen Schweigen dennoch als Annahmeerklärung ansehen zu können, müsste diese Rechtswirkung von den Parteien vereinbart, also im Sinne des § 308 Nr. 5 BGB fingiert werden. Dies ist hingegen nur unter zusätzlichen Voraussetzungen zulässig, insbesondere einer Fristsetzung zur Abgabe einer ausdrücklichen Erklärung und der expliziten Aufklärung des Vertragspartners über die Bedeutung seines Schweigens, § 308 Nr. 5 lit. a und b BGB. Diese zusätzlichen Voraussetzungen erfüllen zur Etablierung einer gegenläufigen Übung aufgenommene Widerrufs- oder Freiwilligkeitsklauseln nicht, was die Unwirksamkeit nach § 308 Nr. 5 BGB nach sich zieht. Das BAG entzieht damit der Konstruktion der gegenläufigen betrieblichen Übung insgesamt den Boden. Selbst wenn der Arbeitnehmer nach einer Erklärung des Arbeitgebers zur Freiwilligkeit die Zahlung ohne Widerspruch gegen die Erklärung entgegennimmt, verliert er den durch betriebliche Übung entstandenen vertraglichen Anspruch nicht mehr. Der Arbeitgeber kann den Anspruch nur durch eine entsprechende änderungsvertragliche Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer unter

43 BAG 26.3.1997 AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 50. 44 Insgesamt ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 225 m.w.N. 45 BAG 18.3.2009 NZA 2009, 601; kritisch zur Begründung der Entscheidung ROEDER NZA 2009, 883.

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Lösungsvorschlag Fall 10

Freiwilligkeitsvorbehalt stellen oder – nach Maßgabe des § 2 KSchG – eine Änderungskündigung aussprechen. Auch wenn zur dogmatischen Herleitung der betrieblichen Übung die Vertrauenstheorie herangezogen wird, resultiert daraus kein anderes Ergebnis. Hier müsste auf Basis des Vertrauensschutzes eine Vertragsänderung herbeigeführt werden können. Da jedoch nicht nachvollziehbar zu begründen ist, warum allein aufgrund eines Schweigens des Arbeitnehmers aus Vertrauensgesichtspunkten eine für ihn nachteilige Rechtslage bzw. ein Verzicht auf etablierte vertragliche Ansprüche abgeleitet werden können soll, müsste hinsichtlich seines Schweigens ebenfalls eine Rechtswirkung fingiert werden. Auch hier genügt die Aufnahme entsprechender Klauseln den zusätzlichen Anforderungen des § 308 Nr. 5 BGB nicht, die Herleitung einer gegenläufigen betrieblichen Übung ist auch nach diesem Ansatz nicht möglich. III. Ergebnis Demnach konnte die betriebliche Übung nicht abgeändert werden und S hat weiterhin einen Anspruch auf Zahlung des Urlaubsgelds. Abwandlung 2: Anspruch des X gegen A auf Bonuszahlung für das Jahr 2009 A. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB i.V.m. betrieblicher Übung X könnte zunächst gegen A ein Anspruch auf Zahlung eines Bonusses für das Jahr 2009 nach den Grundsätzen der betrieblichen Übung zustehen. I. Voraussetzungen der betrieblichen Übung Unabhängig von der dogmatischen Herleitung (dazu Abwandlung 1), oben B I 1) ist im vorliegenden Fall fraglich, ob das Verhalten des A in Form der Zahlung der Boni an die leitenden Angestellten überhaupt den von der Rechtsprechung konkretisierten Voraussetzungen zur Etablierung einer betrieblichen Übung genügt. 1. Vorbehaltlose Leistung Vorliegend hat A keinerlei Vorbehalt zur Verhinderung einer betrieblichen Übung im Arbeitsvertrag oder im Rahmen der konkreten Zahlungen der Boni an die leitenden Angestellten geäußert bzw. festgeschrieben. Die Leistung erfolgte also vorbehaltlos. 2. Wiederholte und gleichförmige Leistungserbringung A zahlte in den Jahren 2002 bis 2008, mithin häufiger als die nach der Rechtsprechung des BAG erforderliche dreifache Wiederholung, einen Bonus an seine leitenden Angestellten. Allerdings variierte dabei jährlich die Höhe der Bonuszahlungen. Eine gleichförmige Leistung im Sinne der Rechtsprechung des BAG liegt folglich nicht vor.46 Dies wäre ausnahmsweise dann entbehrlich, wenn der jeweils ausgezahlten Summe eine einheitliche Berechnungsmethode zugrunde läge, woran das BAG

46 Vgl. BAG 28.2.1996 AP Nr. 192 zu § 611 BGB Gratifikation.

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Fall 10 Lösungsvorschlag

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jedoch strenge Anforderungen stellt. Die Tatsache, dass die Höhe der Bonuszahlungen mit den Unternehmensgewinnen korrespondiert, reicht nicht aus, um eine konkrete und einheitliche Berechnungsmethode annehmen zu können. Zur Annahme einer betrieblichen Übung fehlt es also bereits an der Gleichförmigkeit der Leistung. 3. Ausreichender Kollektivbezug Selbst wenn in dem skizzierten, vagen Bezug des Auszahlungsbetrages zu den Unternehmensgewinnen eine einheitliche Berechnungsgrundlage gesehen werden könnte, so fehlt es darüber hinaus zumindest an einem ausreichenden Kollektivbezug. Die Rechtsprechungslinie des BAG setzt eine mindestens dreimalige Leistung an die gesamte Belegschaft eines Betriebes oder zumindest einer abgrenzbaren Gruppe desselben von nicht unerheblicher Größe voraus; der kollektive Anknüpfungspunkt stellt einen wichtigen Teil der Begründung des Rechtsinstituts der betrieblichen Übung dar. Vorliegend leistete A die Boni nicht an die gesamte Belegschaft, sondern ausschließlich an seine fünf leitenden Angestellten. Die leitenden Angestellten stellen prozentual stets nur einen vernachlässigbar kleinen Teil der Belegschaft eines Betriebes dar. Ihre tatsächliche Anzahl (5 von 170) reicht im vorliegenden Fall nicht zur Begründung eines ausreichenden Kollektivbezugs. Auch mangels eines solchen ist eine betriebliche Übung im vorliegenden Fall abzulehnen. 4. Freiwilligkeit der Leistung Auch an der Freiwilligkeit der Leistung muss vorliegend gezweifelt werden, da A im Rahmen der Bewerbungsgespräche den leitenden Angestellten möglicherweise eine konkrete vertragliche Zusage hinsichtlich der Zahlung von Jahresboni gemacht haben könnte (dazu unter B). In diesem Fall wäre A bereits vertraglich zu einer Zahlung verpflichtet, diese erfolgte mithin nicht freiwillig im Sinne der durch das BAG konkretisierten Voraussetzungen einer betrieblichen Übung. II. Ergebnis Eine betriebliche Übung ist demnach aus mehreren Gründen nicht entstanden. Ein Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB i.V.m. betrieblicher Übung auf Zahlung eines Bonusses im Jahre 2009 steht dem X folglich nicht zu. B. Anspruch aus Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB X könnte allerdings ein Anspruch aus dem Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB auf die Zahlung eines Bonusses für das Jahr 2009 zustehen. I. Abschluss eines Änderungsvertrages Das wäre dann der Fall, wenn die durch die jeweiligen Mitarbeiter der Personalabteilung übermittelte Aussage der A-GmbH im Einstellungsgespräch, dass sie „pflege, bei guter Leistung und gutem Gewinn großzügig Boni zu zahlen“, als Angebot zur Ergänzung des Arbeitsvertrages angesehen werden kann, mithin als Angebot zum Abschluss eines Änderungsvertrags, welches der X konkludent angenommen haben müsste.

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Lösungsvorschlag Fall 10

1. Vertragsangebot der A-GmbH Fraglich ist, ob diese Aussage tatsächlich als Angebot zur Abänderung des Arbeitsvertrages angesehen werden kann. Dies ist durch Auslegung nach dem Empfängerhorizont zu ermitteln, §§ 133, 157 BGB. Maßgeblich dafür ist, ob A aus Sicht des X einen gewissen Rechtsbindungswillen für die Zukunft andeutet, auf den X berechtigterweise vertrauen darf. Daran kann gezweifelt werden, da A keine konkrete Leistung verspricht. Insbesondere die Höhe der Zahlung, der Auszahlungszeitpunkt und das Auszahlungsintervall werden im Bewerbungsgespräch mit X nicht bekanntgegeben, die Voraussetzungen einer Zahlung nur angedeutet. Das „Wie“ der Bonuszahlungen bleibt allein nach der Aussage der A unklar. Allerdings kann eine Zusicherung hinsichtlich des „Ob“ der Leistung daraus abgeleitet werden, sofern der X aus dem konkreten Verhalten der A-GmbH die weiteren Umstände erkennen kann.47 A leistet wiederholt in den Jahren 2002 bis 2008 jährlich zum gleichen Zeitpunkt einen Bonus an seine fünf leitenden Angestellten. Dabei erzielte das Unternehmen stetig steigenden Gewinn. Alleine die Höhe der Zahlungen schwankt korrespondierend mit dem Unternehmensgewinn. Nach Ansicht des BAG kann jedoch in der nicht festgelegten Auszahlungsbetrags eines Bonusses allein kein Grund gesehen werden, eine vertragliche Zusicherung bzw. einen nach dem Empfängerhorizont ausreichend deutlichen Rechtsbindungswillen zu verneinen, denn es läge gerade im Wesen einer Bonuszahlung, dass diese in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren (wie Leistung und Unternehmenserfolg) schwankt.48 Damit trägt das BAG der neueren Rechtsprechungslinie Rechnung, Zusatzleistungen nicht mehr ohne Weiteres als freiwillig einzustufen, sondern dem Vertrauen der Arbeitnehmer auf einen Rechtsanspruch größeres Gewicht beizumessen. Speziell im vorliegenden Fall spricht die Höhe der jährlichen Bonusleistung (bis zu 100% des jährlichen Grundgehaltes) für die Schutzbedürftigkeit des X vor willkürlichem arbeitgeberseitigen Entzug eines solch bedeutenden Gehaltsanteils. Aus der Kombination der Aussage der A im Einstellungsgespräch und der anschließenden regelmäßigen Zahlung des Bonusses kann der X berechtigterweise darauf schließen, zumindest bei Vorliegen der in der Aussage grob umrissenen Voraussetzungen einen Anspruch auf eine Bonuszahlung in noch nicht festgelegter Höhe zu haben. Ein Angebot der A-GmbH zur Abänderung des Arbeitsvertrages hinsichtlich der Zusage einer Bonuszahlung liegt demnach vor. 2. Konkludente Annahme des X Dieses für X günstige Vertragsangebot hat der X durch die Entgegennahme der Leistung konkludent angenommen. Eine Annahmeerklärung ist gemäß § 151 BGB entbehrlich. 3. Zwischenergebnis Somit haben die A-GmbH und X wirksam einen Änderungsvertrag geschlossen.

47 BAG 21.4.2010 NZA 2010, 808. 48 BAG 21.4.2010 NZA 2010, 808.

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II. Voraussetzungen des Anspruchs auf eine Bonuszahlung Fraglich ist, ob die in der Aussage der A im Einstellungsgespräch angedeuteten Voraussetzungen einer Bonuszahlung im Jahre 2009 auch tatsächlich vorliegen. A behält sich vor, einen Bonus nur bei „guter Leistung und gutem Gewinn“ auszuzahlen. An der gleichbleibend guten Leistung des X bestehen vorliegend keine Zweifel. Seine Leistung entspricht laut Sachverhalt derjenigen des Vorjahres, in dem auch ein Bonus ausgezahlt wurde. Fraglich ist jedoch, ob ein für die Zahlung ausreichender Unternehmensgewinn im für die Bonuszahlung im Jahre 2009 maßgeblichen Zeitraum vorliegt. Das Wellnesshotel erwirtschaftet zwar einen Gewinn, dieser geht jedoch im Vergleich zum Vorjahr um 50% zurück. Fraglich ist nun, ob die Beschränkung der Zahlung „großzügiger Boni“ auf den Fall „guten Gewinns“ dahingehend zu verstehen ist, dass bei nicht „gutem“ Gewinn gar keine oder nur reduzierte Boni ausgezahlt werden sollen. Die Tatsache, dass sich die Höhe der Zahlungen in den Vorjahren stets an den Unternehmensgewinnen orientierte, spricht dafür, dass X dies auch bei rückläufigem Erfolg erwarten darf. Geht man von der Abhängigkeit der Bonuszahlungen von den Unternehmensgewinnen aus, so entspräche der Rückgang derselben um 50% noch immer der Leistung aus dem Jahre 2002, die dort auch zu einer Bonuszahlung führte. Da A auch nicht zu verstehen gibt, bis zu welcher Grenze sie von einem „guten Gewinn“ ausgeht, ergäben sich bei anderer Auffassung kaum auflösbare Abgrenzungsstreitigkeiten. Die Voraussetzungen eines Anspruchs des X gegen A auf eine Bonuszahlung für das Jahr 2009 liegen folglich vor. Anmerkung: Das BAG geht sogar davon aus, dass ein Anspruch des Arbeitnehmers auch dann entstehen kann, wenn zur Bestimmung der jeweiligen Höhe einer Bonuszahlung vom Arbeitgeber keine objektiven Kriterien herangezogen werden, sondern dieser deren Höhe jährlich individuell und nach Gutdünken festlegt. In diesem Fall kann dem Arbeitnehmer ein Anspruch darauf zustehen, dass der Arbeitgeber einen Bonus auszahlt, dessen Höhe er im Sinne des § 315 Abs. 1 BGB in den Grenzen des billigen Ermessens vorher selbst festlegen muss (BAG 21.4.2010 NZA 2010, 808). Ersatzweise kann gemäß § 315 Abs. 3 S. 2 BGB das Gericht diese Festlegung selbst treffen.

III. Anspruchshöhe Fraglich ist allein noch die Höhe des Anspruchs. Geht man von einer linearen Abhängigkeit der Auszahlungsbeträge von den Unternehmensgewinnen aus, die im Bezugszeitraum um 50% gesunken sind, so erscheint die von X geforderte, hälftige Auszahlung des Bonusses aus dem Vorjahr gerechtfertigt, da die Leistung des X vom Vorjahr nicht abweicht. IV. Ergebnis Somit steht dem X gegen die A-GmbH ein Anspruch auf eine Bonuszahlung in Höhe von 30.000 Euro für das Jahr 2009 aus seinem Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB zu.

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„Der aufsässige Monteur“

Falldarstellung

Fall 11

Fall 11: „Der aufsässige Monteur“ Falldarstellung Ausgangsfall A betreibt ein Unternehmen, das den Auf- und Abbau, die Bedienung und die Wartung von Spezialkränen, die vor allem auf Großbaustellen eingesetzt werden, vornimmt. A beschäftigt hierfür 30 Monteure. Darunter befindet sich auch der Monteur M, der bereits seit drei Jahren für A arbeitet. Da es in der letzten Zeit der Bauwirtschaft sehr schlecht geht, bekommt A nicht mehr genügend Aufträge. Deshalb verschickt A ein Rundschreiben an seine Monteure, in dem er ihnen die Auftragslage darlegt. Laut Rundschreiben führe die katastrophale Auftragslage unweigerlich zu betriebsbedingten Kündigungen von Monteuren, die nur dadurch verhindert werden könnten, dass im Montagebereich die Kosten um 10 % gesenkt werden. Diese Kostensenkung könne, wie mit dem Betriebsrat besprochen, nur dadurch erreicht werden, indem die Leistungszulagen der Monteure gesenkt werden, die Zahlung von Mehrarbeitszuschlägen ab der 35. Wochenstunde wegfällt und das Kilometergeld für Fahrten von der jeweiligen Baustelle zum Hotel eingestellt wird. Daher schlägt A den Monteuren eine dementsprechende Vertragsänderung vor. In dem Rundschreiben wird weiterhin darauf hingewiesen, dass im Falle der Kostensenkung der Bundesmontagetarifvertrag – der aufgrund der Tarifgebundenheit des A und der Monteure gilt – unterschritten wird. Das Angebot zur Vertragsänderung wird Ende Februar 2011 von allen Monteuren bis auf M angenommen. Ab dem 16.3.2011 setzt A den M nur noch mit 35 Wochenstunden ein, während die anderen Monteure, die das Vertragsänderungsangebot angenommen haben, im Durchschnitt 43 Wochenstunden von A zugewiesen bekommen. Da M gerade ein Haus gebaut und die Überstundenvergütung für die Finanzierung eingeplant hat, verlangt er mehrmals von A, ebenfalls 43 Wochenstunden beschäftigt zu werden, M bleibt sogar manchmal länger auf den Baustellen, auf denen er beschäftigt wird und wartet auf Anweisungen des A, dass auch er Überstunden leisten soll. Es könne schließlich nicht sein, dass A ihn bestrafen wolle, nur weil M nicht die Entgeltkürzungen des Änderungsangebots hinnehmen wollte. A lehnt die Anordnung von Überstunden aber ab, mit dem Hinweis, dass 35 Wochenstunden der im Tarifvertrag und im Arbeitsvertrag festgelegten Wochenarbeitszeit entsprechen und er nicht verpflichtet sei, M Überstunden zuzuteilen. Außerdem habe M mit der Nichtannahme des Änderungsangebots gezeigt, dass er im Gegensatz zu allen anderen Monteuren nicht an der Wirtschaftlichkeit des Unternehmens interessiert sei, daher bräuchte er auch nicht damit zu rechnen, Überstunden zugewiesen zu bekommen. Frage: Hat M gegen A einen Anspruch auf Zahlung der nicht zugeteilten Überstunden?

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Fall 11 Lösungsskizze

„Der aufsässige Monteur“

Abwandlung M ist aufgrund der fehlenden Überstunden nicht mehr so gut auf A zu sprechen. Deshalb wundert es A nicht, als ihm von „loyalen“ Kollegen des M zu Ohren kommt, dass M angeblich von ihm als „der Idiot“ und „der Halsabschneider“ redet, der „völlig unfähig“ sei und das Unternehmen, das A nun „heruntergewirtschaftet“ habe, nur deshalb solange aufrecht erhalten konnte, weil er eine reiche Frau geheiratet hat. Daraufhin kündigt A dem M am 20.5.2011 zum 31.5.2011. M erhebt formgerecht am 24.5.2011 eine Kündigungsschutzklage. In der ersten Instanz hat die Kündigungsschutzklage des M Erfolg. Hiergegen legt A Berufung ein. Nach Ablauf der Kündigungsfrist hat A den M zunächst nicht beschäftigt. Am 24.6.2011 bietet A dem M eine Beschäftigung als Monteur für die Dauer des Kündigungsschutzprozesses an. Dabei schlägt A dem M die Beschäftigung auf einer Baustelle vor, die für ihr besonders schlechtes Arbeitsklima bei allen Monteuren berüchtigt ist. M lehnt diese Weiterbeschäftigung jedoch ab, weil er sich in dem Unternehmen unwohl fühlt, solange diese Vorwürfe gegen ihn noch im Raum stehen und die Sache nicht geklärt ist. Frage: Hat M gegen A einen Anspruch auf Entgeltzahlung für den Zeitraum nach dem 31.5.2011 bis zum Ende des Kündigungsschutzprozesses?

Ü

Rechtsfragen: –

Annahmeverzug



Entbehrlichkeit des Angebots



Maßregelungsverbot



Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz

Lösungsskizze Ausgangsfall Obersatz: M verlangt von A Zahlung der Überstundenvergütung für die ihm nicht zugeteilten Überstunden Grundsätzlich zwar „Ohne Arbeit kein Lohn“, § 326 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 BGB Mögliche Anspruchsgrundlage aber: §§ 611, 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB Anspruchsvoraussetzung: teilweiser Annahmeverzug A. Wirksamer Arbeitsvertrag B. Annahmeverzug des A gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB I. Angebot der Arbeitsleistung durch M gemäß § 294 BGB

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„Der aufsässige Monteur“

Lösungsskizze Fall 11

II. Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des M gemäß § 297 BGB III. Nichtannahme der Leistung – Teilweiser Annahmeverzug gemäß § 293 BGB Auch teilweiser Annahmeverzug ist Annahmeverzug i.S.d. § 293 BGB Nichtannahme der Leistung kann hier in der Nichtzuweisung der von M erbetenen Überstunden liegen Voraussetzung: A muss zur Zuweisung der Überstunden an M verpflichtet sein 1. Verpflichtung aus betrieblicher Übung Betriebliche Übung liegt nicht vor, da nur auf vom Arbeitgeber beabsichtigte Vergünstigungen für die Arbeitnehmer anwendbar 2. Verpflichtung wegen § 612a BGB Prüfung eines Verstoßes gegen das Maßregelungsverbot aufgrund der Nichtzuweisung von Überstunden a) Benachteiligung des M b) Gebrauchmachen seiner Rechte in zulässiger Weise Ausschluss des Geltendmachens von Vergütungsansprüchen gemäß § 242 BGB Kein Ausschluss, weil Tarifwidrigkeit der Annahme des Änderungsangebots c) Ursächlichkeit der Rechtsausübung für die Maßregelung d) Zwischenergebnis A hat gegen das Maßregelungsverbot verstoßen, M muss so behandelt werden, wie er ohne die Maßregelung stünde, also hier so, als hätte A ihm Überstunden zugewiesen 3. Verpflichtung aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz a) Ungleichbehandlung des M b) kollektive Maßnahme des A c) Schlechtere Behandlung des M d) Sachfremdes Kriterium für Ungleichbehandlung IV. Kausalität des Annahmeverzugs für die Nichtleistung C. Ergebnis A befindet sich bzgl. der nicht zugewiesenen Überstunden im Annahmeverzug, daher hat M einen Anspruch auf Zahlung der Überstundenvergütung

Abwandlung Obersatz: M verlangt von A Fortzahlung seines Entgelts für die Zeit nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum Ende des Kündigungsschutzprozesses

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Fall 11 Lösungsskizze

„Der aufsässige Monteur“

Mögliche Anspruchsgrundlage: §§ 611, 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB Anspruchsvoraussetzung: Annahmeverzug des A A. Wirksamer Arbeitsvertrag Hier zwar Kündigung des M, aber in erster Instanz für unwirksam erklärt und die zweite Instanz hat noch nicht entschieden B. Annahmeverzug des A gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB I. Angebot der Arbeitsleistung durch M 1. Tatsächliches Angebot gemäß § 294 BGB: liegt nicht vor 2. Wörtliches Angebot gemäß § 295 BGB: liegt nicht vor 3. Entbehrlichkeit des Angebots gemäß § 296 BGB Besonderheit im gekündigten Arbeitsverhältnis: BAG sieht die Zurverfügungstellung eines funktionsfähigen Arbeitsplatzes als eine mit dem Kalender synchron laufende Mitwirkungshandlung an II. Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des M gemäß § 297 BGB III. Beendigung des Annahmeverzugs Hier ggf. Beendigung des Annahmeverzugs am 24.6.2011 mit Angebot der Weiterbeschäftigung als Monteur, aber laut BAG ist der Annahmeverzug nicht beendet, solange die Kündigung aufrechterhalten wird IV. Kausalität des Annahmeverzugs für die Nichtleistung V. Zwischenergebnis A befindet sich im Annahmeverzug C. Anrechnung böswillig unterlassener Zwischenverdienste gemäß § 615 S. 2 BGB, § 11 Nr. 2 KSchG I. Zumutbarkeit der angebotenen Arbeit Unterscheidung nach Kündigungsgründen Hier: verhaltensbedingte Kündigung, kompromittierende Vorwürfe gegenüber M II. Zwischenergebnis Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung, keine Anrechnung gemäß § 11 Nr. 2 KSchG D. Ergebnis M hat gemäß §§ 611, 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB Anspruch auf Entgeltfortzahlung, er muss sich keine böswillig unterlassenen Zwischenverdienste anrechnen lassen

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„Der aufsässige Monteur“

Lösungsvorschlag Fall 11

Lösungsvorschlag Ausgangsfall Nach dem in § 326 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 BGB normierten Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“ besteht vorliegend zwar grundsätzlich kein Anspruch auf eine Vergütung der ab dem 16.3.2011 nicht mehr zugewiesenen Überstunden aus § 611 BGB. M hat diese Überstunden nämlich nicht geleistet. Da die Leistung der Überstunden wegen des Fixschuldcharakters von Arbeitsleistungen grundsätzlich nicht nachholbar und damit unmöglich ist, greift mithin die genannte Grundregel des § 326 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 BGB. Möglicherweise hat M gegen A jedoch trotz der Nichtleistung einen Anspruch auf Zahlung der Überstundenvergütung der ihm ab dem 16.3.2011 nicht mehr zugewiesenen Überstunden gemäß §§ 611, 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB. Dies setzt voraus, dass A sich aufgrund der Nichtzuweisung der Überstunden gegenüber M im Annahmeverzug gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB befindet. A. Wirksamer Arbeitsvertrag Zunächst muss zwischen M und A ein wirksamer Arbeitsvertrag bestehen. Diese Voraussetzung liegt hier unproblematisch vor. B. Annahmeverzug des A gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB Weiterhin müssen die Tatbestandsvoraussetzungen des Annahmeverzugs vorliegen. Hier kommt ein sog. teilweiser Annahmeverzug in Bezug auf die nicht zugewiesenen Überstunden in Betracht. Das Vorliegen eines Annahmeverzugs bestimmt sich nach dem allgemeinen Schuldrecht, §§ 293 ff. BGB. Anmerkung: Die Prüfung des § 615 S. 1 BGB bei Nichterbringung der Arbeit ist nach dem System des Schuldrechts an sich systemwidrig. Dies resultiert daraus, dass der Annahmeverzug voraussetzt, dass dem Schuldner die Leistung überhaupt noch möglich ist, § 297 BGB. Denn wer nicht mehr leisten kann, kann einem anderen nicht vorwerfen, die Leistung nicht entgegen genommen zu haben. Aufgrund des Fixschuldcharakters der Arbeitsleistung ist bei Nichtleistung jedoch fast immer ein Fall der Unmöglichkeit gegeben. Annahmeverzug und Unmöglichkeit schließen sich aber gegenseitig aus.1 Hält man an dieser Alternativität fest, bestünde unter diesen Prämissen für die Regelung des § 615 S. 1 BGB eigentlich kein Anwendungsfall, denn dieser setzt nach dem Wortlaut stets die Nachholbarkeit der Arbeitsleistung voraus. In Fällen der Fixschuld bewirkt der Annahmeverzug aber zugleich die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung. Wie dieser Widerspruch zu überwinden ist, damit § 615 S. 1 BGB einen Anwendungsbereich erhält, wird unterschiedlich beurteilt.2 Nach der herrschenden Abstrahierungstheorie, die auch das BAG anwendet, liegt Annahmeverzug vor, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seine Arbeitsleistung anbietet, der Arbeitgeber diese jedoch nicht entgegen nehmen will, obwohl er dies könnte (sog. Annahmeunwilligkeit).3 Hat der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung angeboten, kann der Arbeitgeber 1 BAG 18.8.1961 AP BGB § 615 Nr. 20. 2 Vgl. hierzu ausführlich PREIS, Individualarbeitsrecht, § 43 II. 3 BAG 24.11.1960 AP BGB § 615 Nr. 18.

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Fall 11 Lösungsvorschlag

„Der aufsässige Monteur“

diese trotz Annahmebereitschaft aber nicht entgegen nehmen (sog. Annahmeunmöglichkeit), liegt hingegen Unmöglichkeit vor. In Fällen der Unmöglichkeit bleibt freilich, an eine mögliche Anspruchserhaltung nach § 615 S. 3 BGB zu denken. Vorliegend wäre es M grundsätzlich möglich gewesen, die Überstunden zu erbringen. A wollte diese jedoch nicht annehmen. Demnach führt diese – nur schwer in die Systematik einfügbare – gedankliche Vorprüfung zur Anwendbarkeit des § 615 S. 1 BGB.

I. Angebot der Arbeitsleistung gemäß § 294 BGB Gemäß § 294 BGB muss M dem A seine Arbeitsleistung tatsächlich anbieten. M hat hier mehrmals von A verlangt, dass er ihm wie den anderen Monteuren Überstunden zuweist. Ferner ist er sogar öfter noch länger am Arbeitsplatz geblieben, damit A ihm doch noch Überstunden zuweist. II. Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft gemäß § 297 BGB Ferner muss die Voraussetzung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des Arbeitnehmers gemäß § 297 BGB vorliegen. Die Leistungsfähigkeit ist z.B. ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist. Im vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte für eine Leistungsunfähigkeit (vgl. die vorstehende Anmerkung für die Unbeachtlichkeit der aus dem Fixschuldcharakter der Arbeit resultierenden Unmöglichkeit). Seine Leistungsbereitschaft hat M außerdem durch das mehrmalige Angebot zur Überstundenleistung unter Beweis gestellt. III. Nichtannahme der Leistung – Teilweiser Annahmeverzug A muss mit der Annahme der Arbeitsleistung des M in Verzug gekommen sein. Da M bereits 35 Stunden in der Woche für A arbeitet, kommt eine Nichtannahme der Leistung des A nur in Bezug auf die nicht zugewiesenen Überstunden in Betracht. Es könnte sich also um einen teilweisen Annahmeverzug handeln. Ein teilweiser Annahmeverzug liegt dann vor, wenn der Arbeitgeber die Annahme der Dienste nicht generell ablehnt, aber weniger Arbeitsleistung annimmt, als der Arbeitnehmer schuldet, d.h. wenn der Arbeitgeber den Umfang der Arbeitsleistung rechtswidrig einschränkt. Es ist also zunächst zu prüfen, ob A zur Zuweisung der Überstunden an M verpflichtet ist. 1. Verpflichtung aus betrieblicher Übung Eine Verpflichtung des A zur Zuweisung von Überstunden könnte in einer betrieblichen Übung begründet sein. Die betriebliche Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung auf Dauer eingeräumt werden. Dabei muss der Arbeitgeber den Willen haben, den Arbeitnehmern eine Vergünstigung zu gewähren, wie z.B. bei der Zahlung einer Gratifikation.4 Im vorliegenden Fall geht es jedoch um die Zuweisung von Überstunden. Für M sind diese Überstunden eine Vergünstigung, da er die Überstundenvergütung bereits eingeplant hat. Allerdings ist hier darauf abzustellen, welchen Zweck A mit der Zuweisung von Überstunden verfolgt. Der Zweck und die Wirkung für M sind hier zu trennen. Primärer Zweck einer Überstundenanordnung ist es, den 4 BAG 7.11.2002 AP BGB § 615 Nr. 100.

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„Der aufsässige Monteur“

Lösungsvorschlag Fall 11

Anforderungen der Kunden gerecht zu werden und einen höheren Arbeitsanfall zu bewältigen, ohne Neueinstellungen vornehmen zu müssen. Überstunden werden nicht angeordnet, um Arbeitnehmern die Vergünstigung zu gewähren, einen höheren Lohn zu erhalten, sondern sie werden aus wirtschaftlichen Erwägungen angeordnet. Sinn der Überstundenanordnung ist also nicht die Gewährung einer Vergünstigung für die Arbeitnehmer. Eine betriebliche Übung kann demnach in Bezug auf die Überstunden nicht vorliegen. Somit ergibt sich keine Verpflichtung zur Anordnung von Überstunden aus einer betrieblichen Übung. 2. Verpflichtung aus § 612a BGB Es könnte sich aus § 612a BGB eine Verpflichtung des A zur Zuweisung von Überstunden aufgrund eines Verstoßes gegen das Maßregelungsverbot ergeben. § 612a BGB verbietet dem Arbeitgeber die Benachteiligung von Arbeitnehmern, die in zulässiger Weise von ihren Rechten Gebrauch machen. Dabei ist jede Benachteiligung verboten, also auch die mittelbare Benachteiligung. Darunter fällt auch die Gewährung von Vorteilen, die der Arbeitgeber anderen Arbeitnehmern gewährt, wenn diese ihre entsprechenden Rechte nicht ausgeübt haben.5 a) Benachteiligung des M Zunächst muss M durch eine Maßnahme des A benachteiligt sein. Der Begriff der Maßnahme ist weit zu verstehen.6 Maßnahme im Sinne des § 612a BGB kann auch die Nichtzuweisung von Überstunden sein. Die Nichtzuweisung von Überstunden muss demnach eine Benachteiligung des A gegenüber den restlichen Arbeitnehmern darstellen. Hier ist nun – im Unterschied zur Prüfung der betrieblichen Übung – auf die Wirkung abzustellen, die bei M eintritt. Für M ist die Überstundenvergütung ein wichtiger Bestandteil seines Einkommens, den er fest eingeplant hat. Diese Überstundenvergütung erhalten alle anderen Arbeitnehmer, da sie die Überstunden zugewiesen bekommen, nur nicht M. Daher wird M gegenüber seinen Kollegen benachteiligt. b) Gebrauchmachen seiner Rechte in zulässiger Weise Weiterhin muss M in zulässiger Weise von seinen Rechten Gebrauch gemacht haben. Die Ausübung von Rechten kann sich hier nur auf die Ablehnung des Änderungsangebots des A beziehen. Das von A unterbreitete Angebot umfasst eine starke Verringerung der vertraglich geschuldeten Vergütung. Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer nicht verpflichtet, ein solches Änderungsangebot anzunehmen. In seltenen Ausnahmefällen kann zwar die Geltendmachung von Vergütungsansprüchen gemäß § 242 BGB ausgeschlossen sein.7 Allerdings ist hier der Grundsatz der Vertragsfreiheit zu beachten. Dieser verbietet es, Arbeitnehmer zu verpflichten, einen Vertrag abzuschließen, unabhängig davon, ob alle anderen Arbeitnehmer einem Abschluss zugestimmt haben. Ferner liegt hier die Besonder5 BAG 7.11.2002 AP BGB § 615 Nr. 100. 6 ErfK/PREIS § 612a BGB Rn. 8. 7 BAG 18.12.1964 AP BGB § 615 Nr. 51.

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Fall 11 Lösungsvorschlag

„Der aufsässige Monteur“

heit vor, dass mit dem Änderungsangebot die Arbeitsbedingungen des Bundesmontagetarifvertrags unterschritten werden und sowohl A als auch M tarifgebunden sind. Eine Annahme des Angebots würde somit zu einer tarifwidrigen und damit unwirksamen Vereinbarung führen (§ 134 BGB i.V.m. § 4 Abs. 3 TVG). Zum Abschluss einer unwirksamen Vereinbarung kann kein Arbeitnehmer verpflichtet sein. Somit liegt hier kein Ausnahmefall bezüglich der Geltendmachung von Vergütungsansprüchen vor. M hat zulässigerweise von seiner Vertragsfreiheit Gebrauch gemacht und das Änderungsangebot nicht angenommen. c) Ursächlichkeit der Rechtsausübung für die Maßregelung Die Rechtsausübung muss ferner für die Maßregelung ursächlich sein, d.h. die Annahmeverweigerung des Änderungsangebots muss der Grund für die Nichtzuweisung der Überstunden sein. A gibt selbst als Grund an, dass M wohl nicht an der Wirtschaftlichkeit des Unternehmens interessiert sei, weil er nicht das Änderungsangebot angenommen hat. Auch die zeitliche Nähe zwischen der Annahmeverweigerung (Ende Februar 2011) und Beginn der Nichtzuweisung von Überstunden (Mitte März 2011) deutet auf einen Ursachenzusammenhang zwischen der Rechtsausübung und der Maßregelung hin. Somit ist davon auszugehen, dass die Annahmeverweigerung für die Ausnahme von der Überstundenzuweisung ursächlich ist. d) Zwischenergebnis A hat gemäß § 612a BGB gegen das Maßregelungsverbot verstoßen. Rechtsfolge dieses Verstoßes ist, dass M so behandelt werden muss, wie er ohne die Maßregelung stünde. Es besteht somit für A eine Verpflichtung, M wie die anderen Arbeitnehmer mit einer Wochenarbeitszeit von 43 Stunden zu beschäftigen. 3. Verpflichtung aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz Eine Verpflichtung des A zur Zuweisung von Überstunden an M kann sich weiterhin aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz ergeben. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet nicht nur die sachfremde Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer gegenüber vergleichbaren Arbeitnehmern, sondern auch die sachfremde Differenzierung zwischen Arbeitnehmern einer bestimmten Ordnung. a) Ungleichbehandlung des M Für die Beurteilung einer Ungleichbehandlung ist zunächst eine Vergleichsgruppe zu bilden. Welche Aspekte für die Gruppenbildung ausschlaggebend sind und v.a. auf welches zahlenmäßige Verhältnis abzustellen ist, ist bisher noch ungeklärt. Sicher ist bisher nur, dass der Gleichberechtigungsgrundsatz nicht erst dann greift, wenn die Hälfte der Arbeitnehmer an einer günstigeren Regelung teilnehmen.8 Als Vergleichsgruppe sind hier die übrigen 29 Monteure des Betriebes heranzuziehen, die alle das Änderungsangebot unterschrieben haben. Sie

8 PREIS, Individualarbeitsrecht, § 33 II.

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„Der aufsässige Monteur“

Lösungsvorschlag Fall 11

können auf jeden Fall eine Vergleichsgruppe bilden, da hier die 29 Monteure nur einem Monteur gegenüberstehen. Diesen Monteuren werden im Unterschied zu M auch regelmäßig Überstunden zugewiesen. Somit liegt eine Ungleichbehandlung vor. b) Kollektive Maßnahme Bei der Zuweisung der Überstunden muss es sich ferner um eine kollektive Maßnahme des A handeln. Eine kollektive Maßnahme liegt vor, wenn die umstrittene Maßnahme ein generalisierendes Prinzip erkennen lässt.9 A ordnet die Überstunden für alle 29 Monteure an, somit handelt es sich auch unproblematisch um eine kollektive Maßnahme. c) Schlechtere Behandlung des M Weiterhin muss M aufgrund der nicht zugewiesenen Überstunden schlechter behandelt werden als die übrigen Monteure. Bezüglich der Schlechterbehandlung ist auf die konkrete Auswirkung der Maßnahme des Arbeitgebers auf den Arbeitnehmer abzustellen. Zwar bedeuten Überstunden zunächst weniger Freizeit. Aber im vorliegenden Fall sind die Überstunden für M gerade eine Vergünstigung, da er auf die Überstundenvergütung angewiesen ist. Dies wird auch daran deutlich, dass M den A mehrmals um die Zuweisung von Überstunden bittet. Somit wird M aufgrund der Nichtzuweisung von Überstunden schlechter behandelt als seine Kollegen. d) Sachfremdes Kriterium für die Ungleichbehandlung A muss ferner ein sachfremdes Kriterium für die Ungleichbehandlung zugrunde gelegt haben. Grund der Differenzierung ist hier die Nichtannahme des Änderungsangebots durch A (s.o.). Als Rechtfertigung für die Differenzierung könnte man hier anführen, dass es bei dem Änderungsangebot, das M nicht unterschrieben hat, darum geht, Kündigungen zu verhindern und das Unternehmen wieder wettbewerbsfähig zu machen. Allerdings wurde bereits festgestellt, dass der von A angestrebte Wirtschaftlichkeitsgewinn nur durch einen Gesetzesverstoß gegen § 4 Abs. 3 TVG, also durch einen Verstoß gegen den geltenden Tarifvertrag, erzielt werden konnte. Die Ungleichbehandlung ist also schon allein wegen des Gesetzesverstoßes sachfremd. Ferner kann man noch die Einschränkung der Vertragsfreiheit des M in Betracht ziehen. Denn im Falle der Annahme einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung würde M indirekt doch wieder unter Druck gesetzt, dieses Änderungsangebot anzunehmen. Dadurch würde aber seine Vertragsfreiheit zu sehr eingeschränkt. Daher ist die Nichtannahme des Änderungsangebotes ein sachfremdes Kriterium für die Ungleichbehandlung, diese ist also nicht gerechtfertigt. IV. Kausalität des Annahmeverzugs für die Nichtleistung Letztlich muss die Nichtzuweisung der Überstunden für die Nichtleistung derselben kausal gewesen sein. Das ist hier eindeutig der Fall.

9 PREIS, Individualarbeitsrecht, § 33 II.

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Fall 11 Lösungsvorschlag

„Der aufsässige Monteur“

C. Ergebnis A befindet sich bezüglich der nicht zugewiesenen Überstunden im Annahmeverzug gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB. Daher hat M gegen A einen Anspruch auf Zahlung der Überstundenvergütung der ab Mitte März 2011 im Vergleich zu den anderen Monteuren nicht zugewiesenen Überstunden gemäß §§ 611, 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB.

Abwandlung Möglicherweise hat M gegen A einen Anspruch gemäß §§ 611, 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB auf Entgeltfortzahlung für die Zeit nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum Ende des Kündigungsschutzprozesses. Voraussetzung ist hierfür, dass A sich mit der Arbeitsleistung des M in Annahmeverzug gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB befindet. A. Wirksamer Arbeitsvertrag Zunächst muss zwischen M und A ein wirksamer Arbeitsvertrag gemäß § 611 BGB bestehen. Hier könnten sich Bedenken ergeben, da A dem M ja gerade gekündigt hat. Allerdings wurde diese Kündigung in erster Instanz für unwirksam befunden und die zweite Instanz hat bisher noch nichts Gegenteiliges entschieden. Somit liegt ein noch wirksamer Arbeitsvertrag gemäß § 611 BGB zwischen M und A vor. B. Annahmeverzug des A gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB A muss sich gegenüber M im Annahmeverzug gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB befinden. Ein Annahmeverzug könnte darin liegen, dass A den M seit Ablauf der Kündigungsfrist während des Kündigungsschutzprozesses nicht mehr in seinem Betrieb beschäftigt. I. Angebot der Arbeitsleistung durch M M muss A seine Arbeitsleistung angeboten haben. Fraglich ist, in welcher Form ein Arbeitsangebot im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses vorliegen kann. 1. Tatsächliches Angebot gemäß § 294 BGB Zunächst ist die einfachste Form des Angebots zu prüfen, das tatsächliche Angebot gemäß § 294 BGB. Voraussetzung des tatsächlichen Angebots ist, dass der Arbeitnehmer seine Dienste persönlich am Arbeitsplatz anbietet. Ein solches Angebot liegt hier seitens des M nicht vor. 2. Wörtliches Angebot gemäß § 295 BGB M könnte A ein wörtliches Angebot gemäß § 295 BGB gemacht haben. Ein wörtliches Angebot reicht aus, wenn der Arbeitgeber erklärt hat, dass er die Leistung nicht annehmen werde.

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„Der aufsässige Monteur“

Lösungsvorschlag Fall 11

Nach der früheren Rechtsprechung war der häufigste Fall der Ablehnungserklärung i.S.d. § 295 BGB die durch den Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung. Dabei genügt für das wörtliche Angebot jegliche Form des Protests gegen die Kündigung, also auch die Erhebung einer Kündigungsschutzklage.10 Vorliegend hat M eine Kündigungsschutzklage erhoben. Allerdings zog diese Rechtsprechung die nachteilige Folge nach sich, dass der Arbeitnehmer seinen Lohnanspruch bei Ausnutzung der Drei-Wochen-Frist nach § 4 KSchG für die Erhebung der Kündigungsschutzklage für denselben Zeitraum verliert, da der Annahmeverzug erst mit dem Zugang des Angebots begründet wird. Daher wird im Rahmen der Kündigungsschutzklage nicht mehr ein Angebot über § 295 BGB konstruiert. 3. Entbehrlichkeit des Angebots gemäß § 296 BGB Das Angebot des M könnte gemäß § 296 BGB entbehrlich sein. Dann müsste der Arbeitgeber zu einer Mitwirkungshandlung verpflichtet sein, die eine nach dem Kalender bestimmte Zeit ist. Das BAG sieht im gekündigten Arbeitsverhältnis die Zurverfügungstellung eines funktionsfähigen Arbeitsplatzes als eine dem Kalender synchron laufende Mitwirkungshandlung an.11 Bei Versäumung dieser Verpflichtung kommt der Arbeitgeber nach dieser Rechtsprechung gemäß § 296 S. 1 BGB in Annahmeverzug, ohne dass ein Angebot durch den Arbeitnehmer erforderlich ist. Anmerkung: Im ungekündigten Arbeitsverhältnis verlangt das BAG aber nach wie vor ein tatsächliches Angebot.12 Hat der Arbeitgeber allerdings – ohne zu kündigen – den Arbeitnehmer von der Arbeit freigestellt, so ist ein Angebot wiederum entbehrlich.

Hier verweigert A dem M zunächst nach Ablauf der Kündigungsfrist, weiterhin seiner Beschäftigung als Monteur nachzugehen. Somit ist das Angebot des M gemäß § 296 BGB entbehrlich. II. Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft gemäß § 297 BGB M muss weiterhin gemäß § 297 BGB leistungsfähig und leistungsbereit sein. Die Leistungsbereitschaft lässt sich daraus ableiten, dass er eine Kündigungsschutzklage erhoben hat, gegen die Leistungsfähigkeit bestehen hier keine Bedenken. III. Beendigung des Annahmeverzugs Fraglich ist, ob der Annahmeverzug zwischendurch wieder wirksam beendet wurde. In Betracht kommt eine Beendigung aufgrund des Arbeitsangebots des A am 24.6.2011. Im BGB ist die Beendigung des Annahmeverzugs nicht ausdrücklich geregelt. Die Rechtsprechung hat aber als Voraussetzung für die wirksame Beendigung des Annahmeverzugs während eines Kündigungsschutzprozesses bestimmt, dass der Arbeitgeber mit dem Weiterbeschäftigungsangebot gleichzeitig

10 BAG 26.8.1971 AP BGB § 615 Nr. 26. 11 BAG 9.8.1984 AP BGB § 615 Nr. 34 bzgl. einer außerordentlichen Kündigung; BAG 21.3.1985 AP BGB § 615 Nr. 35 bzgl. einer ordentlichen Kündigung. 12 BAG 29.10.1992 EzA BGB § 615 Nr. 77.

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Fall 11 Lösungsvorschlag

„Der aufsässige Monteur“

die Unwirksamkeit der Kündigung anerkennt.13 Deshalb endet der Annahmeverzug des Arbeitgebers nur dann, wenn er die versäumte Arbeitsaufforderung mit der Erklärung verbindet, dass er die Arbeitsleistung als Erfüllung des fortbestehenden Arbeitsvertrags annimmt.14 Im vorliegenden Fall bietet A dem M zwar eine Beschäftigung als Monteur an, was seiner ursprünglichen Beschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist entspricht. Allerdings beschränkt A das Arbeitsangebot ausdrücklich auf die Dauer des Kündigungsschutzprozesses. A erhält somit die Kündigung aufrecht. Der Annahmeverzug ist daher nicht mit dem Weiterbeschäftigungsangebot vom 24.6.2011 beendet. IV. Kausalität des Annahmeverzugs für die Nichtleistung Die Tatsache, dass A dem M nach Ablauf der Kündigungsfrist keinen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt, ist die Ursache dafür, dass M keine Arbeitsleistung erbringt. V. Zwischenergebnis A befindet sich gegenüber M im Annahmeverzug gemäß § 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB. Dieser Annahmeverzug wurde auch nicht durch das Arbeitsangebot vom 24.6.2011 beendet. C. Anrechnung böswillig unterlassener Zwischenverdienste gemäß § 615 S. 2 BGB, § 11 Nr. 2 KSchG Fraglich ist, ob M sich wegen der Ablehnung des Arbeitsangebotes vom 24.6.2011 gemäß § 615 S. 2 BGB, § 11 Nr. 2 KSchG böswillig unterlassene Zwischenverdienste anrechnen lassen muss. Da es sich hier um die Frage der Anrechnung auf einen entgangenen Zwischenverdienst im Zuge einer das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses wegen Unwirksamkeit der Kündigung feststellenden gerichtlichen Entscheidung handelt, ist § 11 Nr. 2 KSchG gegenüber § 615 S. 2 BGB die speziellere Norm.15 I. Zumutbarkeit der angebotenen Arbeit Wenn der Arbeitgeber während eines laufenden Kündigungsrechtsstreits die Weiterbeschäftigung zu den bisherigen Arbeitsbedingungen anbietet, muss die Weiterbeschäftigung nach den konkreten Umständen für den Arbeitnehmer zumutbar sein.16 Für die Ermittlung der Zumutbarkeit ist vor allem auf die Art der Arbeit, die sonstigen Arbeitsbedingungen und die Person des Arbeitgebers abzustellen. Auch spielt der Kündigungsgrund eine Rolle. Insgesamt ist die Frage der Zumutbarkeit unter Berücksichtigung aller Umstände nach Treu und Glauben zu bestimmen.17

13 BAG 7.11.2002 AP BGB § 615 Nr. 98. 14 BAG 24.9.2003 AP KSchG 1969 § 11 Nr. 4; vgl. zur beachtlichen Kritik dieser Sichtweise im Schrifttum ErfK/PREIS § 615 BGB Rn. 67 f. m.w.N. 15 BAG 24.9.2003 AP KSchG 1969 § 11 Nr. 4. 16 BAG 7.11.2002 AP BGB § 615 Nr. 98; BAG 24.9.2003 AP KSchG 1969 § 11 Nr. 4. 17 BAG 24.9.2003 AP KSchG 1969 § 11 Nr. 4.

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„Der aufsässige Monteur“

Lösungsvorschlag Fall 11

Die dem M angebotene Arbeit ist nicht schon deswegen unzumutbar, weil A dieses Angebot auf die Dauer des Kündigungsschutzprozesses beschränkt und somit die Kündigung aufrecht erhält. Der flexible Maßstab der Unzumutbarkeit erlaubt es nicht, alleine darauf abzustellen, dass der Arbeitgeber das Arbeitsangebot nicht in Erfüllung des bisherigen Arbeitsvertrages abgibt. Vielmehr sind die Art der Kündigung sowie das Verhalten des Arbeitgebers im Kündigungsschutzprozess ausschlaggebend.18 Hier handelt es sich um eine Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen. Im Gegensatz zu einer betriebs- oder personenbedingten Kündigung kommt die Unzumutbarkeit der Weiterarbeit bei verhaltensbedingten Kündigungen häufiger in Betracht.19 Als Indiz für die Unzumutbarkeit sind insbesondere die Art und Schwere der gegenüber dem Arbeitnehmer erhobenen Vorwürfe heranzuziehen. M wird vorgeworfen, seinen Arbeitgeber hinter dessen Rücken u.a. als „Idioten“, „Halsabschneider“ und „unfähig“ beschimpft zu haben. Diese Vorwürfe werden auch weiterhin aufrechterhalten. Die Aufrechterhaltung der Vorwürfe im Zusammenhang mit der vorgesehenen Beschäftigung auf einer besonders unbeliebten Baustelle kann betriebs-öffentlich als kompromittierend angesehen werden.20 Außerdem ist nicht ersichtlich, dass M seine Kündigungsschutzklage mit einem Leistungsantrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung verbunden hat, was ein mitentscheidendes Indiz für das Nichtvorliegen von Unzumutbarkeit wäre.21 Es liegt demnach ein nachvollziehbares Motiv für die Ablehnung des Arbeitsangebotes vor. Daher ist die Annahme des Arbeitsangebotes unzumutbar, M hat demnach auch nicht böswillig gehandelt. II. Zwischenergebnis M muss sich nicht böswillig unterlassene Zwischenverdienste anrechnen lassen, weil er das Beschäftigungsangebot vom 24.6.2011 abgelehnt hat. D. Endergebnis M hat gegen A gemäß §§ 611, 615 S. 1, §§ 293 ff. BGB einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung wegen Annahmeverzugs für die Dauer des Kündigungsschutzprozesses. M muss sich dabei keine böswillig unterlassenen Zwischenverdienste gemäß § 11 Nr. 2 KSchG anrechnen lassen.

18 19 20 21

BAG 24.9.2003 AP KSchG 1969 § 11 Nr. 4. BAG 7.11.2002 AP BGB § 615 Nr. 98. BAG 7.11.2002 AP BGB § 615 Nr. 98. BAG 24.9.2003 AP KSchG 1969§ 11 Nr. 4.

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Fall 12 Falldarstellung

„Kündigungsärger mit der Konzernholding“

Fall 12: „Kündigungsärger mit der Konzernholding“ Falldarstellung Der K ist bei der B seit dem 1.3.2002 als Vorstandsassistent gegen ein monatliches Bruttogehalt von 2.500 Euro beschäftigt. K ist einem kleinen Team zugeordnet, in dem der Chef selbst mitarbeitet. Die B ist als Holding an mehreren Tochtergesellschaften beteiligt. Dabei handelt es sich um Gesellschaften mit beschränkter Haftung, die den Verkauf von Kraftfahrzeugen betreiben. An sechs Autohäusern in Deutschland ist die B zu 100%, an einem Tochterunternehmen in Frankreich mit mehreren Enkelunternehmen zu 99,48 % und an weiteren Tochterunternehmen zu 90 % beteiligt. Zwischen den Untergesellschaften und B bestehen Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge. Der Geschäftszweck der B ist auf die Vermögensverwaltung und Geschäftsführung beschränkt. Mit den ihr nachgeordneten Autohäusern teilt die B weder einen Standort noch eine Büroorganisation. Allerdings ordnet die B den Geschäftsführern der Tochtergesellschaften gegenüber von Zeit zu Zeit an, ihr bestimmte Betriebsmittel wie etwa Computer samt Bedienungspersonal zur Verfügung zu stellen, da sie diese in großer Stück- und Personenzahl nicht ständig benötigt. Im gesamten Konzern waren 2002 insgesamt 294 Arbeitnehmer beschäftigt. Bei B selbst waren im gleichen Jahr sieben Mitarbeiter tätig. Im Verlauf des Jahres 2003 waren, bis auf zwei kurzfristige Probearbeitsverhältnisse, nicht mehr als fünf Mitarbeiter beschäftigt. Es existiert kein Betriebsrat. Im Laufe des Jahres 2003 kommt es zwischen K und B zu Spannungen, weil K mindestens zwei Verhandlungstermine mit Kunden der B mangelhaft vorbereitete und es deshalb nicht zum Geschäftsabschluss kam. Eine Abmahnung seitens der B erfolgte nicht. Mit Schreiben vom 6.1.2004, das dem K am selben Tage zugeht, kündigt die B das Arbeitsverhältnis mit K fristgerecht zum 31.3.2004. Mit seiner am 26.1.2004 bei Gericht eingegangenen und der B am 30.1.2004 zugestellten Kündigungsschutzklage macht K die Sozialwidrigkeit der Kündigung geltend. Er ist der Auffassung, dass das KSchG bei B Anwendung findet. Auch wenn die B regelmäßig nur fünf Arbeitnehmer beschäftige, müsse sie sich als Konzernholding zumindest die Arbeitnehmer jener Unternehmen zurechnen lassen, an denen sie zu 100 % beteiligt sei und mit denen sie Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge geschlossen habe. Hier liege wirtschaftliche Identität vor, so dass nicht alleine auf die B für die Anzahl der beschäftigten Arbeitnehmer abgestellt werden dürfe. Alles andere liefe auf eine Umgehung des KSchG hinaus; dies sei verfassungswidrig. Zudem falle die B als millionenschweres Unternehmen nicht unter den Schutzzweck der Kleinbetriebsklausel. Die B meint, dass das KSchG auf sie keine Anwendung finde, weil nur ihre Arbeitnehmer mitzuzählen seien. Sie als Holding bilde mit ihren nachgeordneten Autohäusern keinen einheitlichen Betrieb. Sie sei lediglich Trägerin und Verwalterin von Geschäftsanteilen ihrer Tochtergesellschaften und übe daher nur konzernrechtliche Leitungsmacht aus. Im Übrigen sei die Kündigung aus personenbedingten Gründen gerechtfertigt, weil K schlechte Leistungen erbracht und dies zu dem Betriebsklima abträglichen Querelen im Team geführt habe.

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„Kündigungsärger mit der Konzernholding“

Lösungsvorschlag Fall 12

Frage: Wie wird das Arbeitsgericht über die zulässige Klage entscheiden?

Ü

Rechtsfragen: –

Anwendbarkeit des KSchG



Kleinbetriebsklausel



Gemeinschaftsbetrieb



Berechnungsdurchgriff im Konzern



Anwendung des KSchG trotz Kleinbetrieb?

Lösungsskizze A. Begründetheit der Kündigungsschutzklage des K I. Wahrung der Klagefrist des § 4 KSchG II. Anwendbarkeit des KSchG 1. Persönlicher Anwendungsbereich (§ 1 Abs. 1 KSchG) 2. Sachlicher Anwendungsbereich (§ 23 Abs. 1 S. 2 KSchG) a) Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer im Betrieb der B b) Vorliegen eines Gemeinschaftsbetriebes zwischen B als Konzernholding und den beherrschten Unternehmen c) Berücksichtigung der in den Untergesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer durch kündigungsschutzrechtlichen „Berechnungsdurchgriff im Konzern“ aa) Die verfassungskonforme Auslegung der Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 KSchG bb) Anwendung der Grundsätze zur verfassungskonformen Auslegung der Kleinbetriebsklausel auf eine Konzernholding d) Anwendung des KSchG wegen rechtsmissbräuchlicher Ausnutzung der Konzernstruktur? e) Zwischenergebnis III. Sonstige Unwirksamkeitsgründe für die Kündigung des K IV. Ergebnis B. Gesamtergebnis

Lösungsvorschlag Das Arbeitsgericht wird der zulässigen Klage des K stattgeben, wenn sie begründet ist. Dies ist der Fall, wenn die Kündigung der B vom 6.1.2004 unwirksam ist.

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Fall 12 Lösungsvorschlag

„Kündigungsärger mit der Konzernholding“

A. Begründetheit der Kündigungsschutzklage des K I. Wahrung der Klagefrist des § 4 KSchG Die Klagefrist des § 4 KSchG gilt nach § 23 Abs. 1 KSchG einheitlich seit 1.1.2004 auch für Kleinbetriebe, da die Bereichsausnahme u.a. für die §§ 4 bis 7 KSchG ausdrücklich ausgeklammert worden ist. Darum muss auch in den Fällen, in denen das KSchG wegen Vorliegens eines Kleinbetriebs keine Anwendung auf das jeweilige Arbeitsverhältnis findet, die Klagefrist des § 4 KSchG eingehalten werden, um nicht im Hinblick auf die Geltendmachung der fehlenden sozialen Rechtfertigung materiell präkludiert zu werden. K muss also innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG Klage erhoben haben. Da die streitgegenständliche ordentliche Kündigung dem K am 6.1.2004 zugegangen ist, begann die Frist am 7.1.2004 zu laufen (§ 187 Abs. 1 BGB) und endete mit Ablauf des 27.1.2004 (§ 188 Abs. 2 BGB). Die Klage ist bei Gericht am 26.1.2004 eingegangen, also noch innerhalb der Frist des § 4 KSchG. Allerdings wird die Klage erst erhoben, wenn sie dem Beklagten zugestellt und damit rechtshängig geworden ist (§§ 253, 261 ZPO). Die Zustellung erfolgte am 30.1.2004 und damit außerhalb der Frist. Dies ist jedoch unschädlich, wenn ein Fall des §§ 167, 495 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG vorliegt. Danach wird die Klagefrist auch dann gewahrt, wenn nach innerhalb der Frist erfolgtem Eingang der Klage deren Zustellung „demnächst“ erfolgt. Dies ist stets der Fall, wenn das Gericht die Klage innerhalb einer den jeweiligen Umständen noch angemessenen Frist zustellt, ohne dass es auf ein Verschulden des Klägers ankäme; dieses schadet nur bei längerer Verzögerung.1 Hier sind vier Tage in jedem Fall noch angemessen, zumal die Rechtsprechung sogar zwei Wochen ausreichen lässt, selbst wenn den Kläger ein Verschulden an der Verzögerung trifft.2 Somit hat K die Klagefrist des § 4 KSchG gewahrt. II. Anwendbarkeit des KSchG Im Gegensatz zur Klagefrist kann die soziale Rechtfertigung der ordentlichen Kündigung nach wie vor nur überprüft werden, wenn das KSchG auf das Arbeitsverhältnis des K mit B Anwendung findet. 1. Persönlicher Anwendungsbereich (§ 1 Abs. 1 KSchG) Das Arbeitsverhältnis zwischen K und B müsste im Zeitpunkt der Kündigung länger als sechs Monate bestanden haben, § 1 Abs. 1 KSchG. Da K bei B seit dem 1.3.2002 beschäftigt ist und ihm die Kündigung am 6.1.2004 zuging, ist dies der Fall. Folglich ist der persönliche Anwendungsbereich des KSchG gegeben. 2. Sachlicher Anwendungsbereich (§ 23 Abs. 1 S. 2 KSchG) Der sachliche Anwendungsbereich des KSchG ist seit dem 1.1.2004 zweigeteilt. Während Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach dem 31.12.2003 begonnen hat, gemäß § 23 Abs. 1 S. 3 Halbs. 1 KSchG keinen allgemeinen Kündigungsschutz genießen, wenn im Betrieb in der Regel nicht mehr als zehn Arbeitneh-

1 S. ErfK/KIEL § 4 KSchG Rn. 18. 2 Vgl. BAG 13.5.1987 AP BGB § 209 Nr. 3.

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Lösungsvorschlag Fall 12

mer beschäftigt werden, verbleibt es für Alt-Arbeitnehmer, also solche, deren Arbeitsverhältnis bereits am 31.12.2003 besteht, dabei, dass der sachliche Anwendungsbereich bei in der Regel mehr als fünf im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmern ausschließlich der zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten eröffnet ist (§ 23 Abs. 1 S. 2 KSchG). Hier haben sämtliche bei der B und ihren abhängigen Unternehmen bestehenden Arbeitsverhältnisse einschließlich desjenigen des K vor dem 1.1.2004 begonnen, so dass weiterhin der Schwellenwert „fünf“ gemäß § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG maßgeblich ist. Dessen Erfüllung könnte in Ansehung der B jedoch zweifelhaft sein. a) Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer im Betrieb der B Für die Ermittlung der Beschäftigtenzahl im Betrieb der B ist der Zeitpunkt des Kündigungszugangs maßgebend. Ausgehend von diesem ist die Zahl der regelmäßig beschäftigten ständigen Arbeitnehmer durch einen Rückblick auf die bisherige personelle Situation und eine Vorschau auf die künftige Entwicklung zu bestimmen.3 Im Betrieb der B waren im Zeitpunkt der Kündigung (Januar 2004) nur fünf Arbeitnehmer regelmäßig beschäftigt. Dagegen zählen die zwei kurzfristigen Probearbeitsverhältnisse nicht mit. Die betreffenden Mitarbeiter gehörten nicht ständig der B an und können somit auch nicht die Zahl der Regelarbeitsplätze erhöhen.4 Dass im Jahre 2002 noch sieben Arbeitnehmer beschäftigt waren, erhöht die Zahl der regelmäßig beschäftigten Mitarbeiter im Januar 2004 ebenfalls nicht, da – bei gebotener Einbeziehung der zukünftigen Entwicklung – im Gegenteil ein gegenläufiger Trend in Richtung einer rückläufigen Beschäftigtenentwicklung erkennbar ist. Stellt man getreu dem Wortlaut des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG nur auf den Betrieb der B ab, wird der hier für die Anwendung des KSchG erforderliche Schwellenwert von mehr als fünf regelmäßig beschäftigen Arbeitnehmern somit nicht erreicht, so dass die Kündigung nicht der Prüfung ihrer sozialen Rechtfertigung nach § 1 Abs. 2 KSchG unterliegt. b) Vorliegen eines Gemeinschaftsbetriebes zwischen B als Konzernholding und den beherrschten Unternehmen An diesem Ergebnis könnten jedoch deshalb Zweifel bestehen, weil die B als Holdinggesellschaft mehrere Tochtergesellschaften beherrscht, indem sie insbesondere an sechs Autohäusern in Deutschland zu 100% beteiligt ist und auch mit diesen Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge nach §§ 291 ff. AktG abgeschlossen hat. Die B steht deshalb als herrschendes Unternehmen an der Spitze vertraglich verbundener, jedoch rechtlich selbstständiger Unternehmen (sog. Vertragskonzern). Allerdings ist § 23 Abs. 1 KSchG auch nach den zum 1.1.2004 in Kraft getretenen Änderungen ausdrücklich betriebsbezogen und

3 BAG 31.1.1991 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 11. 4 Vgl. dazu BAG 13.6.2002 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 29.

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Fall 12 Lösungsvorschlag

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schon gar nicht unternehmensübergreifend.5 Daraus folgt, dass bei der Berechnung der für die Anwendung des allgemeinen Kündigungsschutzes notwendigen Arbeitnehmerzahl die von anderen Arbeitgebern (Unternehmen) beschäftigten Arbeitnehmer grundsätzlich nicht mit zu berücksichtigen sind.6 Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn zwei oder mehr Unternehmen einen gemeinsamen Betrieb im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BetrVG gründen. Ein solcher Gemeinschaftsbetrieb könnte hier zwischen der B als Konzernholding und ihren Tochterunternehmen oder zumindest einzelnen von ihnen bestehen, was angesichts der Beschäftigung von fast 300 Arbeitnehmern im gesamten Konzern zur Überschreitung des Schwellenwertes des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG führen würde. Ein Gemeinschaftsbetrieb setzt voraus, dass sich die an ihm beteiligten Unternehmen rechtlich – ausdrücklich oder stillschweigend – verbunden haben, um im Rahmen einer gemeinsamen Arbeitsorganisation unter einheitlicher Leitungsmacht arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt zu verfolgen. Dabei muss insbesondere der Kern der Arbeitgeberfunktion im sozialen und personellen Bereich von derselben institutionellen Leitung ausgeübt werden.7 Fraglich ist, ob ein Gemeinschaftsbetrieb hier schon deshalb vorliegt, weil die B als Holding auf Grund ihrer konzernrechtlichen Leitungsmacht gegenüber den zuständigen Organen der Tochtergesellschaften in bestimmten Bereichen Anordnungen treffen kann. Dies ist zu verneinen. Es ist streng zwischen konzernrechtlicher Weisungsbefugnis und betrieblich-organisatorischem Leitungsapparat zu unterscheiden. Während die Annahme eines Gemeinschaftsbetriebes einen einheitlichen, rechtlich gesicherten betriebsbezogenen Leitungsapparat voraussetzt, erschöpft sich die konzernrechtliche Leitungsmacht in Anweisungen an das Leitungsorgan des beherrschten Unternehmens, noch dazu meist nur auf wirtschaftlichem Gebiet. Zwar ist es im Einzelfall nicht ausgeschlossen, dass die konzernrechtliche Weisungsbefugnis auch auf die betriebliche Ebene durchschlagen kann. Damit erzeugt sie jedoch für sich gesehen noch keinen betriebsbezogenen Leitungsapparat.8 Somit folgt aus der bloßen Eigenschaft der B als Konzernholding noch nicht das Vorliegen eines Gemeinschaftsbetriebes mit den von ihr beherrschten Autohäusern. Kommt es dementsprechend auch im Konzern auf die allgemeinen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Gemeinschaftsbetriebes an, steht der Existenz eines solchen mit der B und den Autohäusern schon entgegen, dass die B als Konzernholding und die von ihr beherrschten Untergesellschaften unterschiedliche Betriebszwecke verfolgen. Während die Autohäuser mit dem Verkauf befasst sind, ist der Geschäftszweck der B als Holdinggesellschaft auf die Vermögensverwaltung und Geschäftsführung beschränkt. Auch kann von einer Ausübung der grundlegenden Arbeitgeberbefugnisse im sozialen und personellen Bereich unter einem einheitlichen organisatorischen Leitungsapparat keine Rede sein, da die B mit den Autohäusern weder einen Standort noch eine Büroorganisation teilt. 5 Vgl. PREIS DB 2004, 70, 78; RICHARDI DB 2004, 486. 6 BAG 12.11.1998 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 20; BAG 29.4.1999 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 21; BAG 13.6.2002 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 29. 7 S. BAG 18.1.1990 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 9. 8 BAG 29.4.1999 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 21; BAG 13.6.2002 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 29.

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Lösungsvorschlag Fall 12

Dem steht auch nicht entgegen, dass die B den Geschäftsführern der Tochtergesellschaften gegenüber gelegentlich anordnet, ihr bestimmte sächliche und personelle Betriebsmittel wie etwa Computer samt Bedienungspersonal zur Verfügung zu stellen. Ohne nähere Anhaltspunkte spricht eine gemeinsame Nutzung von Betriebsmitteln nicht notwendig für eine Vereinbarung zur Führung eines Gemeinschaftsbetriebes. Sie kann auch bedeuten, dass die Holding zur Durchführung ihrer Aufgaben keiner eigenen Betriebsorganisation bedarf und lediglich im Rahmen ihrer konzernrechtlichen Weisungsbefugnis den Organen der abhängigen Tochtergesellschaften gegenüber anordnet, ihr bestimmte Betriebsmittel zur Verfügung zu stellen.9 Anhaltspunkte, die – über die Ausübung der konzernrechtlichen Weisungsmacht der B hinaus – für das Vorliegen einer betrieblich-organisatorischen Führungsvereinbarung sprechen könnten, sind nicht ersichtlich. Folglich scheidet ein den hier maßgeblichen Schwellenwert des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG überschreitender Gemeinschaftsbetrieb zwischen der B und ihren Tochterunternehmen aus. c) Berücksichtigung der in den Untergesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer durch kündigungsschutzrechtlichen „Berechnungsdurchgriff im Konzern“ Möglicherweise muss sich die B die in den abhängigen Konzernunternehmen beschäftigten Arbeitnehmer jedoch in Form eines sog. Berechnungsdurchgriffs im Konzern zurechnen lassen. Dies ist der Fall, wenn eine verfassungskonforme Auslegung des unverändert gebliebenen Betriebsbegriffs in § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG einen solchen „Berechnungsdurchgriff“ gebietet, weil das Festhalten am Begriff des Betriebes hier zu einer funktionswidrigen Aushöhlung des Bestandsschutzes für die Arbeitnehmer führen könnte. aa) Die verfassungskonforme Auslegung der Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 KSchG Nach der Rechtsprechung des BVerfG verstößt die Anknüpfung des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG an den Betriebsbegriff im Grundsatz nicht gegen das aus der objektivrechtlichen Schutzgebotsfunktion des Art. 12 Abs. 1 GG (freie Wahl des Arbeitsplatzes) folgende Postulat eines Mindestschutzes des Arbeitnehmers vor sachfremden und willkürlichen Kündigungen. Auch ist sie mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.10 Allerdings bedarf es einer am Sinn und Zweck der Kleinbetriebsklausel orientierten verfassungskonformen Auslegung des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG, welche die Anwendung der Norm auf solche Unternehmenseinheiten beschränkt, für deren Schutz sie allein bestimmt ist und die das für Arbeitnehmer in Kleinbetrieben bestehende größere rechtliche Risiko eines Arbeitsplatzverlustes zu rechtfertigen vermag.11 Ein „Berechnungsdurchgriff“ auf andere betrieb9 BAG 29.4.1999 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 21; BAG 13.6.2002 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 29. 10 BVerfG 27.1.1998 BVerfGE 97, 169 zu § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG a.F.; diese Rspr. für § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG der aktuellen Fassung bestätigend BVerfG 12.3.2009 - 1 BvR 1250/08; BAG 21.9.2006 NZA 2007, 438, 442; BAG 28.10.2010 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 48 Rn. 22. Vgl. zur Unionsrechtskonformität der Kleinbetriebsklausel EuGH 30.11.1993 AP KSchG § 23 Nr. 13 und BAG 28.10.2010 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 48. 11 BVerfG 27.1.1998 BVerfGE 97, 169, 184 f.

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liche Einheiten eines Unternehmens kommt insofern nur in Betracht, wenn angesichts der vom Arbeitgeber geschaffenen konkreten Organisation die gesetzgeberischen Erwägungen für die Privilegierung des Kleinbetriebs bei verständiger Betrachtung ins Leere gehen und die Bestimmung des Betriebsbegriffs nach herkömmlicher Definition unweigerlich zu einer sachwidrigen Ungleichbehandlung betroffener Arbeitnehmer führen würde.12 Die Herausnahme von Kleinbetrieben aus dem allgemeinen Kündigungsschutz rechtfertigt sich namentlich durch die für einen Kleinbetrieb typische Art der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern, die sich mehr als bei Großbetrieben durch persönlichen Einsatz in Abhängigkeit von einem gedeihlichen Betriebsklima auszeichnet. Häufig arbeitet der Kleinunternehmer selbst als Chef vor Ort in kleinen Teams mit, was ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen ihm und seinen Mitarbeitern für den geschäftlichen Erfolg unabdingbar macht. Auch fällt eine regelmäßig geringe Finanzausstattung ins Gewicht, die es dem Arbeitgeber nicht erlaubt, Abfindungen bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu zahlen. Zudem ist die Verwaltungskapazität des Kleinbetriebes meist so schwach ausgeprägt, dass ein Kündigungsschutzprozess diesen stärker belastet als ein größeres Unternehmen.13 Unter einem Klein„betrieb“ ist also bei gebotener verfassungskonformer Auslegung des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG ein Klein„unternehmen“ zu verstehen. bb) Anwendung der Grundsätze zur verfassungskonformen Auslegung der Kleinbetriebsklausel auf eine Konzernholding Fraglich ist mithin, ob diese Grundsätze über die verfassungskonforme Auslegung der Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG einer Konzernholding wie der B mit nicht mehr als fünf regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmern die Schutzwürdigkeit nimmt und ihr deshalb die in den beherrschten Tochtergesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer hinzugerechnet werden müssen. Dafür könnte sprechen, dass die Finanzausstattung einer Konzernobergesellschaft im Gegensatz zum typischen Kleinbetrieb meist so beschaffen ist, dass sie ohne Weiteres in die Lage versetzt wird, Abfindungen nach § 1a KSchG oder §§ 9, 10 KSchG zu zahlen. Allerdings sprechen hier die übrigen Gesichtspunkte, die einen Ausschluss des Kündigungsschutzes nach dem KSchG rechtfertigen, dafür, der B den Schutz des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG zu versagen. Zum einen entspricht die Art der Zusammenarbeit zwischen K und der B derjenigen in einem typischen Kleinunternehmen, da K als Vorstandsassistent einem kleinen Team zugeordnet ist, in dem der Chef selbst mitarbeitet. Auch beruht der Kündigungsgrund auf Missstimmungen und Querelen, die zu einer Störung des für Kleinbetriebe besonders sensiblen Betriebsklimas geführt haben. Endlich ist die Verwaltungskapazität der B gering. Daraus folgt, dass von den für die Rechtfertigung der Bereichsausnahme des § 23 KSchG maßgeblichen Kriterien nur der Gesichtspunkt der geringen Finanzausstattung auf B als Holdinggesellschaft nicht zutrifft. Dies allein kann aber nicht zu einem konzernrechtlichen „Berechnungsdurchgriff“ führen. Es wäre im Gegenteil ein sachfremder Gesichtspunkt, allein darauf abzustellen, ob eine Konzernholding über ausrei12 BAG 28.10.2010 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 48 Rn. 25; ErfK/KIEL § 23 KSchG Rn. 3a. 13 Vgl. BVerfG 27.1.1998 BVerfGE 97, 169, 177 f.

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Lösungsvorschlag Fall 12

chende finanzielle Mittel verfügt, um ihren Arbeitnehmern im Kündigungsfall eine Abfindung nach §§ 9, 10 KSchG oder § 1a KSchG zu zahlen.14 Dies gilt auch dann, wenn die rechtstatsächliche Entwicklung einen anderen Verlauf genommen haben mag. Ebenso steht auch nicht neues Recht entgegen, mit welchem es der Gesetzgeber betriebsbedingt kündigenden Arbeitgebern seit dem 1.1.2004 ermöglichen will, über ein Abfindungsangebot an den Arbeitnehmer nach Maßgabe des neuen § 1a KSchG einen Kündigungsrechtsstreit zu vermeiden. Dies alles ändert nichts daran, dass das KSchG in erster Linie immer noch kein Abfindungs-, sondern ein Bestandsschutzgesetz ist. Hieran muss sich auch eine (verfassungskonforme) Auslegung der Kleinbetriebsklausel orientieren. Liegen aber bei einer Konzernholding wie der B Kündigungsgründe vor, die wegen der für einen Kleinbetrieb typischen Art der Zusammenarbeit von Arbeitnehmer und Arbeitgeber nach dem Sinn und Zweck des § 23 KSchG eine Trennungsmöglichkeit unter erleichterten Bedingungen erfordern, nützt es einer Holding, die insbesondere (wie hier) einen anderen Betriebszweck als die von ihr beherrschten Untergesellschaften verfolgt, meist wenig, wenn sie mehr finanzielle Möglichkeiten zu Abfindungszahlungen hat als andere Kleinbetriebe. Bietet die B keine Abfindung nach § 1a KSchG an oder lehnt der Arbeitnehmer ein entsprechendes Angebot ab, fehlt es aber an einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit des Arbeitnehmers in den Tochtergesellschaften und stellt dieser keinen Auflösungsantrag nach § 9 KSchG, verwirklicht sich, wenn auch der Arbeitgeber seinerseits Auflösungsgründe nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG (wie in den überwiegenden Fällen) nicht darlegen oder beweisen kann, genau dasjenige Risiko, vor dem § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG Kleinbetriebe gerade schützen will – die erzwungene Weiterbeschäftigung.15 Daran zeigt sich auch, dass ein „Berechnungsdurchgriff“ nicht schon dann zulässig ist, wenn nur einer der vom BVerfG aufgezeigten Gesichtspunkte für einen Kleinbetrieb nicht zutrifft, die eine Herausnahme aus dem sachlichen Anwendungsbereich des KSchG rechtfertigen.16 Es ist vielmehr eine Gesamtschau der für einen Kleinbetrieb typischen Interessenlage vorzunehmen, bei der das „persönliche“ Moment (Querelen, Missstimmungen, etc.) letzten Endes ausschlaggebend ist und somit das Kriterium der Finanzkraft überwiegt. Maßgeblich ist insofern eine alle Umstände des Einzelfalls einbeziehende, wertende Gesamtbetrachtung dahingehend, ob die Anwendung der Kleinbetriebsklausel nach Maßgabe des allgemeinen Betriebsbegriffs unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse dem mit ihr verbundenen Sinn und Zweck (noch) hinreichend gerecht würde.17 Daraus folgt, dass auch bei verfassungskonformer Auslegung des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG die B als Konzernholding unter den Schutzzweck der Kleinbetriebsklausel fällt und ein zur Hinzurechnung der in den Tochterunternehmen beschäftigten Arbeitnehmer führender „Berechnungsdurchgriff im Konzern“ ausscheidet.

14 So zutr. BAG 13.6.2002 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 29. 15 BAG 13.6.2002 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 29. 16 BAG 13.6.2002 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 29; vgl. auch BAG 28.10.2010 AP KSchG 1969 § 23 Nr. 48 Rn. 25. 17 ErfK/KIEL § 23 KSchG Rn. 3a.

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Fall 12 Lösungsvorschlag

„Kündigungsärger mit der Konzernholding“

d) Anwendung des KSchG wegen rechtsmissbräuchlicher Ausnutzung der Konzernstruktur? Der B könnte die Berufung auf die Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG mit der Folge einer Anwendbarkeit des KSchG nach § 242 BGB verwehrt sein, wenn sie ihre Konzernstruktur rechtsmissbräuchlich dazu genutzt hätte, K den allgemeinen Kündigungsschutz zu nehmen. Dafür sind jedoch keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich. Eine Anwendbarkeit des KSchG kommt daher auch nicht gemäß § 242 BGB in Betracht. e) Zwischenergebnis Somit unterliegt die streitgegenständliche ordentliche Kündigung des K durch die B vom 6.1.2004 nicht dem KSchG, so dass eine Prüfung ihrer sozialen Rechtfertigung (§ 1 Abs. 2 KSchG) ausscheidet. III. Sonstige Unwirksamkeitsgründe für die Kündigung des K Die Kündigung des K könnte gemäß §§ 242, 138 Abs. 1 BGB unwirksam sein. Wie bereits angesprochen, gebietet der objektiv-rechtliche Gehalt des Art. 12 Abs. 1 GG als Schutzpflicht ein Mindestmaß an Kündigungsschutz auch für einen Arbeitnehmer im Kleinbetrieb. Der über die Generalklauseln vermittelte Mindestschutz für Arbeitnehmer ist allerdings umso schwächer, je stärker der mit der Kleinbetriebsklausel bezweckte Grundrechtsschutz des Unternehmers (Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) im Einzelfall ins Gewicht fällt. Der Arbeitnehmer soll daher insbesondere vor willkürlichen oder auf sachfremde Motive gestützten Kündigungen geschützt werden; zudem soll auch ein durch langjährige Mitarbeit erdientes Vertrauen in den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses nicht unberücksichtigt bleiben.18 Hier ist es im Vorfeld der streitgegenständlichen Kündigung auf Grund mangelhafter Vorbereitung zweier Verhandlungstermine durch K, in deren Folge der B ein Geschäft entging, zu Spannungen zwischen der B und K gekommen, die sich negativ auf das für Kleinbetriebe besonders wichtige Betriebsklima ausgewirkt haben. Darauf stützt die B die Kündigung ausdrücklich. Insoweit kann sie nicht als willkürlich oder sachfremd qualifiziert werden, zumal die Gründe mit dem verfassungsrechtlich auf Unternehmerseite determinierten Schutzzweck der Kleinbetriebsklausel konform gehen. Es spielt auch keine Rolle, ob die von der B vorgenommene Einstufung der Kündigung als personenbedingt statt verhaltensbedingt zutrifft und schon deshalb keine Abmahnung erforderlich war. Eine dahingehende Würdigung hätte faktisch eine Überprüfung der sozialen Rechtfertigung durch die „Hintertür“ des § 242 BGB zur Folge, was die mit § 23 KSchG verbundene und zu respektierende Entscheidung des Gesetzgebers unterlaufen würde und auch verfassungsrechtlich nicht geboten ist. Schließlich kann sich K auf einen wie auch immer gearteten Vertrauensschutz als langjährig Beschäftigter schon deshalb nicht berufen, weil sein Arbeitsverhältnis erst am 1.3.2002 begonnen hatte. Folglich sind auf §§ 242, 138 BGB gestützte Gründe für die Unwirksamkeit der Kündigung der B nicht ersichtlich.

18 BVerfG 27.1.1998 BVerfGE 97, 169, 179; BAG 21.2.2001 AP BGB § 242 Kündigung Nr. 12; BAG 25.4.2001 AP BGB § 242 Kündigung Nr. 14.

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„Kündigungsärger mit der Konzernholding“

Lösungsvorschlag Fall 12

IV. Ergebnis Die ordentliche Kündigung der B gegenüber K vom 6.1.2004 ist demnach wirksam. B. Gesamtergebnis Die Klage des K ist unbegründet, so dass das Arbeitsgericht sie abweisen wird.

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Fall 13 Falldarstellung

„Die nicht examinierte Lehrerin“

Fall 13: „Die nicht examinierte Lehrerin“ Falldarstellung A hat 2002 lediglich das erste Staatsexamen für das Lehramt abgelegt, trotzdem wird sie an einer vom X – e.V. getragenen Privatschule als Musiklehrerin mit 14 Wochenstunden beschäftigt. In dem zwischen ihr und dem X – e.V. am 1.9.2003 auf unbefristete Dauer geschlossenen Vertrag, der mit „freier Dienstvertrag“ überschrieben ist, wird A als „freie Mitarbeiterin“ bezeichnet. Die Lage ihrer Unterrichtsstunden kann A nicht selber festlegen, da diese fester Bestandteil des Stundenplans sind. Zur Teilnahme an den Lehrerkonferenzen ist A verpflichtet. Auch sonst ist sie in gleicher Weise in den Schulbetrieb integriert wie die zwölf anderen, mit beiden Staatsexamina voll ausgebildeten, festangestellten Lehrer, die vollzeitbeschäftigt sind. Sie erhält eine monatliche Vergütung. Sozialversicherungsbeiträge werden nicht abgeführt. Mit Schreiben vom 31.5.2011 kündigt der Vorstand des X - e.V. das Vertragsverhältnis mit der A ordentlich zum 31.7.2011. Der Vorstand begründet die Kündigung mit der nicht abgeschlossenen Ausbildung der A. Gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und einer schlechten Wirtschaftslage sei es für die Akzeptanz einer Privatschule in der Gesellschaft wichtig, dass sie lediglich voll ausgebildete Lehrkräfte beschäftige. Grund dafür sei, dass die Eltern bezüglich der Zukunft ihrer Kinder verunsichert wären und deshalb in Sachen Ausbildung kein Risiko eingingen. Eine Schule, die nicht voll ausgebildete Lehrkräfte beschäftige, liefe deshalb Gefahr, die Klassen nicht voll besetzen zu können. Die Tatsache, dass A trotz nicht abgeschlossener Ausbildung tadellos unterrichte, ändere nichts an der Gefahr des Schülerrückgangs. Am Nachmittag desselben Tages übergibt der Vorstandsvorsitzende V dem B, einem Kollegen der A, das Kündigungsschreiben mit der Bitte, es der A in ihren Briefkasten zu werfen. B nimmt den Brief ohne Murren entgegen, da sein Nachhauseweg ohnehin am Haus der A vorbeiführt. Er wirft das Kündigungsschreiben um 20.00 Uhr in den Briefkasten der A ein. Diese nimmt das Schreiben allerdings erst am 1.6.2011, bei der allmorgendlichen Briefkastenleerung, zur Kenntnis. A ist der Ansicht, die vom Vorstand des X - e.V. ausgesprochene Kündigung sei unwirksam. Abgesehen davon habe der Vorstand die Kündigung nicht fristgemäß ausgesprochen. Der Vorstand des X - e.V. meint demgegenüber, dass freien Mitarbeitern ohne weiteres gekündigt werden könnte. Überdies habe er aus sozialen Gründen eine längere Kündigungsfrist eingeräumt, als das Gesetz nach § 621 BGB verlange. Frage: A verlangt die Fortsetzung des Vertrags über den 31.7.2011 hinaus. Zu Recht?

Ü

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Rechtsfragen: –

Arbeitnehmerbegriff



Zugang der Kündigungserklärung

„Die nicht examinierte Lehrerin“



Lösungsskizze Fall 13

Abgrenzung betriebsbedingte, verhaltensbedingte, personenbedingte Kündigung

Lösungsskizze A. Wirksamkeit der Kündigung gegenüber K I. Wirksame Kündigungserklärung II. Einhaltung der Kündigungsfrist 1. Länge der Kündigungsfrist a) Arbeitnehmereigenschaft der A Kriterium für Arbeitnehmereigenschaft: persönliche Abhängigkeit: Teilzeitbeschäftigung schließt Arbeitnehmereigenschaft nicht aus Kein Gestaltungsspielraum bezüglich Lage der Arbeitszeit, umfangreiche Nebenpflichten; intensive Einbindung in Schulorganisation Bindung an Lehrplan, lediglich für den Lehrerberuf typische Entscheidungsfreiheit in methodisch-didaktischer Hinsicht b) Zwischenergebnis: A ist Arbeitnehmerin 2. Wahrung der Kündigungsfrist? a) Zugang am 31.5.2011? Erklärung zwar in den Machtbereich der A gelangt Angesichts der Uhrzeit keine Kenntnisnahme mehr zu erwarten Kein Zugang am 31.5.2011 b) Zugang am 1.6.2011 3. Zwischenergebnis III. Anhörung des Betriebsrats IV. Wirksamkeit der Kündigung nach KSchG 1. Anwendbarkeit des KSchG a) Persönlicher Anwendungsbereich b) Sachlicher Anwendungsbereich 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung a) Betriebsbedingte Kündigung aa) Unternehmerische Entscheidung bb) Zwischenergebnis b) Personenbedingte Kündigung c) Verhaltensbedingte Kündigung

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Fall 13 Lösungsvorschlag

„Die nicht examinierte Lehrerin“

d) Mischtatbestand e) Zwischenergebnis B. Ergebnis

Lösungsvorschlag A könnte die Fortsetzung ihres Vertrages über den 31.7.2011 hinaus verlangen, wenn der X - e.V. den mit A bestehenden Vertrag nicht wirksam zu diesem Zeitpunkt gekündigt hätte. Die zum 31.7.2011 gegenüber A ausgesprochene Kündigung ist wirksam, wenn der X - e.V. die Kündigung unter Einhaltung der Kündigungsfrist erklärt hat sowie besondere und allgemeine Kündigungsschranken beachtet worden sind. A. Wirksamkeit der Kündigung gegenüber A I. Wirksame Kündigungserklärung Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen. Der Vorstand des X - e.V. erklärte gegenüber A schriftlich die Kündigung zum 31.7.2011. Zweifel an der Wirksamkeit dieser Willenserklärung bestehen im vorliegenden Fall nicht. Das Schriftformerfordernis für Kündigungen in § 623 BGB ist gewahrt (vgl. §§ 125, 126 BGB). Die inhaltlichen Anforderungen an die Bestimmtheit der Kündigungserklärung sind nicht zweifelhaft. Insbesondere hat der X - e.V. keine außerordentliche, sondern erkennbar eine ordentliche Kündigung zum regulären Termin aussprechen wollen. Nach § 26 Abs. 2 S. 1 BGB ist der Vorstand der gesetzliche Vertreter eines Vereins. Somit wurde die Kündigung durch das vertretungsberechtigte Organ des X. - e.V. erklärt. II. Einhaltung der Kündigungsfrist Weiterhin ist zu prüfen, ob die Kündigungsfrist eingehalten worden ist. Die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist führt zwar nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, hat jedoch zur Folge, dass die Kündigung erst zum nächstmöglichen Kündigungszeitpunkt wirksam wird. In dem Vertrag zwischen A und X - e.V. ist keine Kündigungsfrist vereinbart, so dass auf die gesetzlich festgelegten Kündigungsfristen zurückzugreifen ist. 1. Länge der Kündigungsfrist Der Vorstand des X - e.V. beruft sich auf die Kündigungsfrist des § 621 Nr. 3 BGB. Diese wäre aber nur anwendbar, wenn das zwischen A und X - e.V. geschlossene Vertragsverhältnis kein Arbeitsverhältnis ist. Für ein freies Dienstverhältnis, dessen Vergütung nach Monaten bemessen ist, muss eine Kündigung, die zum Monatsende wirksam werden soll, spätestens bis zum fünfzehnten des Monats erklärt worden sein. Die Kündigungsfrist von Arbeitsverhältnissen ist hingegen

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„Die nicht examinierte Lehrerin“

Lösungsvorschlag Fall 13

in § 622 BGB geregelt. Für ein Arbeitsverhältnis, das mehr als fünf, aber noch keine acht Jahre bestanden hat, beträgt sie zwei Monate zum Ende eines Kalendermonats. Die Länge der Kündigungsfrist hängt im vorliegenden Fall mithin davon ab, ob A Arbeitnehmerin ist. a) Arbeitnehmereigenschaft der A Nach der Rechtsprechung des BAG und der herrschenden Meinung in der Literatur ist Arbeitnehmer, wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrages zur Leistung von entgeltlicher Arbeit im Dienste eines anderen verpflichtet ist. Grundlage dieser Beurteilung ist der Vertrag, der der Zusammenarbeit zugrunde liegt. Der zwischen A und X - e.V. zustande gekommene Vertrag ist mit „freier Dienstvertrag“ überschrieben. A wird im Vertragstext als „freie Mitarbeiterin“ bezeichnet. Aus der im Vertrag getroffenen Bezeichnung können indes keine Rückschlüsse auf die rechtliche Einordnung einer Vertragsbeziehung getroffen werden; es ist vielmehr auf die praktische Durchführung des Vertrages abzustellen. Dass A auf Grund eines privatrechtlichen Vertrages zur Leistung von Arbeit gegen Entgelt verpflichtet ist, ist unproblematisch. Fraglich ist jedoch, ob A ihre Arbeit „im Dienste des X - e.V.“ ausübt. Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BAG ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn A in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Vertragspartner, X - e.V., steht. Dies ist zu bejahen, wenn sie in die Arbeitsorganisation des X-e.V. eingebunden ist, was anhand des Umfangs des Weisungsrechts zu entscheiden ist, das diesem gegenüber A zusteht. Für diese Entscheidung ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die alle das Arbeitsverhältnis kennzeichnenden Umstände einbezieht. A hält ihre Unterrichtsstunden in den Räumen des X - e.V., wie es für eine Schule üblich ist. Sie ist somit bezüglich des Ortes ihrer Tätigkeit weisungsgebunden. Unerheblich für die Frage, ob A Arbeitnehmerin oder Selbständige ist, ist, dass A nur mit 14 Wochenstunden beschäftigt ist. Auch bei der Ausführung von Tätigkeiten in geringem zeitlichen Umfang kann ein hohes Maß an Weisungsgebundenheit bestehen. Daher spricht eine geringe Arbeitszeit nicht gegen die Arbeitnehmereigenschaft des Beschäftigten, die nach herrschender Meinung in Literatur und Rechtsprechung auch Teilzeitbeschäftigten und nebenberuflich Tätigen zukommen kann. Für die Einordnung einer Lehrtätigkeit ist es nach der Rechtsprechung des BAG von besonderer Bedeutung, inwieweit die Lehrkraft ihre Arbeitszeit mitgestalten kann. Es ist ein maßgeblicher Hinweis auf ein Arbeitsverhältnis, wenn der Arbeitgeber innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens über die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers verfügen kann, insbesondere über die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Tage sowie über Beginn und Ende der Arbeitszeit entscheiden kann. A kann die Lage ihrer Stunden nicht selber festlegen, da sie fester Bestandteil des Stundenplans sind. Dies spricht entscheidend für die Arbeitnehmereigenschaft der A. In seiner Rechtsprechung, die sich mit der Arbeitnehmereigenschaft von Lehrkräften beschäftigt, stellt das BAG maßgeblich darauf ab, inwieweit den Betroffe-

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Fall 13 Lösungsvorschlag

„Die nicht examinierte Lehrerin“

nen neben der Unterrichtstätigkeit weitere Nebenpflichten obliegen, aus denen sich ihre Eingliederung in die schulische Organisation ergibt. Im Bereich der allgemeinbildenden Schulen obliegen den Lehrkräften regelmäßig derartige Nebenpflichten. So kann der Schulträger auch außerhalb der Unterrichtszeit über die Arbeitskraft des Dienstverpflichteten verfügen, weil die Lehrkräfte schriftliche Arbeiten korrigieren, mündliche Prüfungen abnehmen, an Fortbildungsveranstaltungen und Konferenzen teilnehmen und Schulsprechstunden abhalten müssen. Derartige Nebenpflichten, insbesondere die Verpflichtung zur Teilnahme an Konferenzen, obliegen auch der A. Ihre damit einhergehende Einbindung in die Schulorganisation spricht daher für die Annahme eines Arbeitsverhältnisses. Auch hinsichtlich des Inhalts ihrer Tätigkeit ist A von zahlreichen Vorgaben des X - e.V. abhängig. Üblicherweise sind Lehrer bei der Auswahl des Unterrichtsstoffes an allgemeine Lehrpläne gebunden. Zwar mag ihr ein gewisser Gestaltungsspielraum verbleiben, wie sie den Unterricht methodisch und didaktisch gestaltet. Ein solcher Spielraum ist der Lehrtätigkeit als solcher jedoch immanent. Insoweit ist die fachliche Weisungsgebundenheit für die Bejahung der persönlichen Abhängigkeit keine notwendige Voraussetzung. Aufgrund des bestehenden Weisungsumfangs des X - e.V. gegenüber der A ist sie bei der Erbringung ihrer Tätigkeit persönlich abhängig. Die Arbeitnehmereigenschaft der A ist entgegen der im Vertrag getroffenen Bezeichnung zu bejahen. b) Zwischenergebnis Mithin ist das zwischen A und X - e.V. am 1.9.2003 begründete Vertragsverhältnis als Arbeitsverhältnis einzustufen. Die maßgebliche Kündigungsfrist richtet sich entgegen der Ansicht des X - e.V. nicht nach § 621 BGB, sondern nach § 622 BGB. Nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB beträgt die Kündigungsfrist für die Kündigung der A zwei Monate zum Monatsende. 2. Wahrung der Kündigungsfrist? Fraglich ist, ob die Kündigungserklärung des X - e.V. rechtzeitig gegenüber A wirksam geworden ist, also die Kündigungsfrist gewahrt ist. Nach § 130 Abs. 1 BGB wird eine unter Abwesenden abgegebene Willenserklärung wirksam, wenn sie dem Empfänger zugeht. Zu prüfen ist also, wann der A die Kündigungserklärung des X - e.V. zugegangen ist. a) Zugang am 31.5.2011 Möglicherweise ist die Kündigung schon mit Einwurf des Kündigungsschreibens durch B am 31.5.2011 zugegangen. Bei Annahme dieses Kündigungszeitpunktes wäre die Kündigungserklärung rechtzeitig mit Wirkung zum 31.7.2011 erfolgt. Eine Willenserklärung ist dem Empfänger i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB zugegangen, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt und für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von dem Inhalt des Schreibens Kenntnis zu nehmen. Für den Zeitpunkt des Zugangs ist es unerheblich, wann der Empfänger die Erklärung tatsächlich zur Kenntnis genommen hat, so dass es nicht darauf ankommt, dass A das Kündigungsschreiben erst am 1.6.2011 gelesen hat. Entschei-

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Lösungsvorschlag Fall 13

dend ist vielmehr, ob von dem Empfänger unter normalen Umständen eine Kenntnisnahme erwartet werden konnte. B hat das Kündigungsschreiben auf Anweisung des V am 31.5.2011 um 20.00 Uhr in den Briefkasten der A geworfen. Durch den Einwurf des Schreibens in den Briefkasten, der zur Entgegennahme von Post angebracht ist, ist das Schreiben in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt der A gelangt und es bestand für sie die Möglichkeit zur Kenntnisnahme. Die bloße Möglichkeit zur Kenntnisnahme reicht jedoch für den Zugang nicht aus. Es muss vielmehr nach der Verkehrsanschauung zu erwarten sein, dass der Empfänger sich alsbald die Kenntnis auch tatsächlich verschafft. Dies ist im vorliegenden Fall zu verneinen. Um 20.00 Uhr wird allgemein keine Post mehr zugestellt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die A ihren Briefkasten immer erst nach der Arbeit leert, ergibt sich daraus kein Unterschied, da die Uhrzeit des Einwurfs weit nach dem Ende der Arbeitszeit der A liegt.1 Daher konnte von A nicht mehr erwartet werden, dass sie zu dieser späten Uhrzeit noch in ihren Briefkasten schaut. Erreicht ein Kündigungsschreiben die Empfangseinrichtung des Adressaten (Briefkasten, Postschließfach, Telefaxgerät) zu einer Tageszeit, zu der nach den Gepflogenheiten des Verkehrs eine Entnahme oder Abholung durch den Adressaten nicht mehr erwartet werden kann, so geht die Willenserklärung erst am Folgetag zu. Daher ist die Kündigungserklärung des X - e.V. gegenüber A nicht am 31.5.2011 wirksam geworden. b) Zugang am 1.6.2011 Nach der allmorgendlichen Postzustellung am 1.6.2011 konnte von A erwartet werden, dass sie von der Kündigungserklärung in ihrem Briefkasten Kenntnis nahm. Dies ist auch tatsächlich erfolgt. Daher ist das Kündigungsschreiben des X - e.V. der A am 1.6.2011 zugegangen. Damit ist die Frist von zwei Monaten zum Monatsende jedoch nicht eingehalten, so dass bei Annahme dieses Zugangszeitpunktes die Kündigung nicht zum 31.7.2011 wirksam werden konnte. 3. Zwischenergebnis Die nicht fristgemäß ausgesprochene Kündigung gilt als zum nächst möglichen Termin erklärt, dies ist hier das Ende des nächsten Kalendermonats, also der 31.8.2011. Anmerkung: Würde hier eine Kündigungsschutzklage und nicht das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses geprüft, müsste an dieser Stelle noch die Klagefrist des § 4 KSchG geprüft werden. Von der ebenfalls an dieser Stelle anzusiedelnden Prüfung allgemeiner Unwirksamkeitsgründe und besonderer Kündigungsverbote wurde mangels Relevanz Abstand genommen.

1 Dazu BAG v. 8.12.1983 AP BGB § 130 Nr. 12, wo bei der Beurteilung des Zugangszeitpunkts auf die übliche Gestaltung des Tagesablaufes des Empfängers bzw. die Gepflogenheiten des Arbeitslebens abgestellt wird.

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Fall 13 Lösungsvorschlag

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III. Anhörung des Betriebsrats Die Wirksamkeit der Kündigung scheitert auch nicht an der fehlenden Anhörung des Betriebsrats (§ 102 BetrVG). Unabhängig von der Frage, ob A Arbeitnehmerin ist und damit in den Geltungsbereich des BetrVG fällt, besteht bei der Privatschule offensichtlich keine Mitarbeitervertretung, so dass schon aus diesem Grunde kein Anhörungserfordernis besteht. IV. Wirksamkeit der Kündigung nach KSchG Die Kündigung gegenüber A könnte gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. Ob die Kündigung sozial gerechtfertigt ist, ist nur dann von Bedeutung, wenn A den allgemeinen Kündigungsschutz gemäß § 1 KSchG genießt, also das KSchG anwendbar ist. 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes Das Kündigungsschutzgesetz ist gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG anwendbar, wenn der Betroffene als Arbeitnehmer bereits mindestens sechs Monate in einem Betrieb beschäftigt ist, und bestimmte Schwellenwerte eingehalten werden. Für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach dem 31.12.2003 begonnen hat, findet das KSchG nur Anwendung, wenn in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer in dem Betrieb beschäftigt werden, § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG, für Arbeitnehmer, die bis zum 31.12.2003 schon beschäftigt waren, gilt ein Schwellenwert von mehr als fünf in der Regel Beschäftigten. Bei X - e.V. sind außer der A noch zwölf weitere vollzeitbeschäftigte Lehrkräfte beschäftigt, der Schwellenwert ist also auf jeden Fall gewahrt, ohne dass es noch darauf ankommt, seit wann die Einzelnen beschäftigt sind. Wie oben festgestellt, ist A Arbeitnehmerin. Sie ist länger als sechs Monate bei X - e.V. beschäftigt. Daher ist das Kündigungsschutzgesetz im vorliegenden Fall persönlich und sachlich für sie anwendbar. 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung Nach § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Fraglich ist daher, ob der X-e.V. sich im vorliegenden Fall auf einen gesetzlich anerkannten Kündigungsgrund berufen kann. a) Betriebsbedingte Kündigung Die Kündigung der A könnte als betriebsbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt sein. Eine betriebsbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2, 3 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung trifft, durch die die Beschäftigungsmöglichkeit eines Arbeitnehmers dauerhaft wegfällt (betriebliches Erfordernis), der Arbeitnehmer weder auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann noch sonstige mildere Mittel statt der Kündigung möglich sind (Dringlichkeit) und der Arbeitgeber eine fehlerfreie Sozialauswahl durchführt.

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Lösungsvorschlag Fall 13

aa) Unternehmerische Entscheidung Unter einer unternehmerischen Entscheidung ist die Bestimmung der Unternehmenspolitik zu verstehen, die der Geschäftsführung zugrunde liegt. Die unternehmerische Entscheidung des X - e.V. liegt in dem Entschluss, zukünftig nur noch voll ausgebildete Lehrkräfte zu beschäftigen. Die Kündigungserklärung selbst kann nicht als unternehmerische Entscheidung betrachtet werden. Vielmehr handelt es sich bei der unternehmerischen Entscheidung stets um eine Reaktion des Arbeitgebers auf außerbetriebliche oder innerbetriebliche Umstände. Grund für die Kündigung ist der von X - e.V. befürchtete Schülerrückgang bei der weiteren Beschäftigung nicht voll ausgebildeter Lehrer. Folglich beruht die unternehmerische Entscheidung des X - e.V., in Zukunft nur noch voll ausgebildete Lehrer zu beschäftigen, auf der Gefahr des Auftragsmangels und somit auf einem außerbetrieblichen Umstand. Außerbetriebliche Umstände können in zweierlei Hinsicht für eine betriebsbedingte Kündigung ursächlich sein. Denkbar ist zum einen, dass der Arbeitgeber die Zahl der benötigten Arbeitskräfte in seinem Betrieb unmittelbar vom Umfang des Arbeitsaufkommens abhängig macht und durch den Ausspruch einer Kündigung lediglich den Personalbestand dem rückläufigen Arbeitsaufkommen anpassen will, ohne dass mit dem Personalabbau weitere Änderungen der innerbetrieblichen Organisation verbunden sind. In diesem Fall liegt der Kündigung eine sog. selbstbindende Unternehmerentscheidung zugrunde, die unmittelbar zum Wegfall von Arbeitsplätzen führt. Zum anderen kann der Arbeitgeber außerbetriebliche Umstände zum Anlass nehmen, um innerbetriebliche Umstrukturierungen durchzuführen. Der Wegfall von Arbeitsplätzen ist dann die unmittelbare Folge dieser gestaltenden Unternehmerentscheidung und ist nur mittelbar auf die jeweiligen außerbetrieblichen Ursachen zurückzuführen. Von der Frage, ob sich die unternehmerische Entscheidung des Arbeitgebers in einer Selbstbindung erschöpft oder gestaltender Natur ist, hängt entscheidend der Umfang der Darlegungs- und Beweislast ab, die dem Arbeitgeber gemäß § 1 Abs. 2 S. 4 KSchG obliegt. So muss der Arbeitgeber, der eine selbstbindende Unternehmerentscheidung getroffen hat, nachweisen, dass die außerbetrieblichen Ursachen, die zum Wegfall des Arbeitsplatzes geführt haben, tatsächlich vorliegen. Trifft der Arbeitgeber eine gestaltende Unternehmerentscheidung, so muss er lediglich den Kausalzusammenhang zwischen der innerbetrieblichen Umgestaltung und dem Wegfall des Arbeitsplatzes nachweisen. Die außerbetrieblichen Ursachen, die ihn zu seiner Entscheidung motiviert haben, muss er hingegen nicht beweisen. Die Entscheidung des X - e.V. ist im vorliegenden Fall darauf beschränkt, die nicht voll ausgebildete Lehrkraft A zu entlassen. Änderungen der Betriebsorganisation sind hiermit nicht verbunden. So werden weder die Fächer, in denen Unterricht erteilt wird, noch die Zahl der Unterrichtsstunden in den jeweiligen Fächern noch die Zahl oder die Größe der Klassen verändert, so dass die von der Schule erbrachte Leistung gleich bleibt. Mithin liegt keine gestaltende unternehmerische Entscheidung vor. Somit käme lediglich eine selbstbindende Unternehmerentscheidung in Betracht. Allerdings müsste der X - e.V. dann darlegen, dass die entsprechenden außerbetrieblichen Umstände tatsächlich vorliegen. Maßgeblicher Zeitpunkt hierfür ist der Ausspruch der Kündigung.

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Fall 13 Lösungsvorschlag

„Die nicht examinierte Lehrerin“

Im Zeitpunkt der Kündigung haben sich die von X - e.V. aufgeführte schlechte Wirtschaftslage und die hohe Arbeitslosigkeit noch nicht auf den Betrieb in Form des Schülerrückgangs ausgewirkt. Anlass der unternehmerischen Entscheidung des X - e.V., nur noch voll ausgebildete Lehrer zu beschäftigen, ist vielmehr die Befürchtung, dass die Schülerzahlen in Zukunft zurückgehen könnten. Mithin ist im Zeitpunkt der Kündigung noch kein außerbetrieblicher Grund gegeben, der eine betriebsbedingte Kündigung rechtfertigen würde. bb) Zwischenergebnis Die Kündigung durch den X - e.V. kann daher nicht auf dringende betriebliche Erfordernisse i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG gestützt werden. b) Personenbedingte Kündigung Die Kündigung der A könnte als personenbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt sein. Eine personenbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn ein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher oder vertraglicher Interessen des Arbeitgebers führt, sich diese Beeinträchtigung aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft fortsetzen wird (Negativprognose) und sie weder durch eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz noch sonstige mildere Mittel abgewendet werden kann (Ultima-Ratio-Prinzip) und das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes überwiegt (Interessenabwägung). Zweifelhaft ist bereits, ob es sich bei dem fehlenden zweiten Staatsexamen der A um einen in der Person liegenden Kündigungsgrund oder um einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund handelt. Gründe in der Person des Arbeitnehmers im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG sind solche, die auf den persönlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten des Arbeitnehmers beruhen. Hierzu kann prinzipiell auch die mangelnde Qualifikation des Arbeitnehmers gehören. Entscheidend für die Abgrenzung zwischen personen- und verhaltensbedingtem Kündigungsgrund ist jedoch die Frage, ob das entsprechende Verhalten durch den Arbeitnehmer steuerbar ist. Nur wenn dies zu verneinen ist, kommt das Institut der (verschuldensunabhängigen) personenbedingten Kündigung in Betracht, während ein steuerbares Verhalten nur unter den Voraussetzungen der (verschuldensabhängigen) verhaltensbedingten Kündigung relevant ist. Im vorliegenden Fall ist das Staatsexamen der A bereits sieben Jahre her. Damit dürfte es A zwar schwer fallen, die fehlende Prüfung nachzuholen, doch erscheint dies keineswegs ausgeschlossen. Der Abschluss ihrer Ausbildung ist der A vielmehr im Zeitpunkt der Kündigung objektiv noch möglich. Damit liegt es nahe, von einem steuerbaren Verhalten auszugehen, das prinzipiell nur eine verhaltensbedingte, aber keine personenbedingte Kündigung rechtfertigen kann. Hinzu kommt, dass die fehlende Qualifikation eines Arbeitnehmers nur dann eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen kann, wenn hierdurch erhebliche betriebliche oder vertragliche Interessen des Arbeitgebers beeinträchtigt werden. Es müssen konkrete Auswirkungen auf den Betrieb tatsächlich feststellbar sein. Allein eine Gefahr für den Betriebsablauf, die sich bisher nicht realisiert hat, reicht nicht aus. Im vorliegenden Fall hat sich die fehlende Qualifikation der A jedoch in keiner Weise nachteilig auf den von ihr erteilten Unterricht aus-

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Lösungsvorschlag Fall 13

gewirkt, so dass konkrete Störungen des Betriebsablaufs nicht eingetreten sind. Auch das berechtigte Interesse des Arbeitgebers am guten Ruf seiner Schule und an der Vermeidung sinkender Schülerzahlen ist bislang nicht beeinträchtigt worden. Bereits aus diesem Grund vermag das fehlende zweite Staatsexamen der A keine personenbedingte Kündigung zu rechtfertigen. Nicht zuletzt ist zu bedenken, dass das allgemeine Verbot widersprüchlichen Verhaltens auch im Bereich des Kündigungsrechts gilt. Daher erscheint es höchst zweifelhaft, ob sich ein Arbeitgeber auf die fehlende formale fachliche Qualifikation berufen kann, wenn er den Arbeitnehmer in Kenntnis dieses Umstandes eingestellt hat und die fehlende formale Qualifikation sich nicht auf die Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung auswirkt. Somit ist die Kündigung der A nicht durch einen Grund in ihrer Person bedingt. c) Verhaltensbedingter Kündigungsgrund Die Kündigung der A könnte als verhaltensbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt sein. Eine verhaltensbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn ein Arbeitnehmer schuldhaft eine Vertragspflicht verletzt, dies zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers führt, sich diese Beeinträchtigung aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft fortsetzen wird (Negativprognose) und nicht durch mildere Mittel, insbesondere durch eine Abmahnung, abgewendet werden kann (Ultima-Ratio-Prinzip) und das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes überwiegt (Interessenabwägung). Da A tadellos unterrichtet, könnte die für eine verhaltensbedingte Kündigung erforderliche Vertragsverletzung allenfalls darin gesehen werden, dass A ohne zweites Staatsexamen und somit die nötige Lehrbefähigung an der Privatschule unterrichtet. Der X - e.V. wusste allerdings, dass er mit der A eine Lehrerin ohne ausreichende Qualifikation einstellt. Hätte er die A zur Nachholung des fehlenden Examens verpflichten wollen, hätte es einer entsprechenden Vereinbarung bedurft. Da eine solche nicht getroffen worden ist, besteht auch keine Verpflichtung der A, die fehlende Qualifikation nachzuholen. Eine schuldhafte Vertragsverletzung der A ist somit nicht erkennbar. d) Mischtatbestand Möglicherweise kann ein Kündigungsgrund aus der Erwägung anzuerkennen sein, dass das fehlende zweite Staatsexamen der A sowohl einen betrieblichen als auch einen persönlichen Bezug aufweist, die zwar jeweils allein keine Kündigung rechtfertigen, möglicherweise aber in ihrer Summe einen Kündigungsgrund darstellen. Das Bundesarbeitsgericht befürwortet für den Fall, dass die Prüfung einzelner Kündigungsgründe nicht zu einer sozialen Rechtfertigung der Kündigung führt, eine „gesamteinheitliche Betrachtungsweise“, wonach zu prüfen sein soll, ob die Kündigungssachverhalte in ihrer Gesamtheit Umstände darstellen, die bei verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen lassen.

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Fall 13 Lösungsvorschlag

„Die nicht examinierte Lehrerin“

Diese Auffassung ist prinzipiell abzulehnen, weil sie zu einer konturenlosen Billigkeitsabwägung unter Auflösung der dogmatischen Struktur der drei Kündigungsgründe des § 1 KSchG führt. Darüber hinaus führt vorliegend auch die Gesamtabwägung zu dem Ergebnis, dass bei verständiger Würdigung und Abwägung der Interessen eine Kündigung nicht gerechtfertigt erscheint. e) Zwischenergebnis Die Kündigung ist mangels eines gesetzlich anerkannten Kündigungsgrundes sozial ungerechtfertigt und somit nach § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam. B. Ergebnis Die Kündigung gegenüber A ist wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Kündigungsschutz aus § 1 KSchG sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam. Allerdings muss A die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung innerhalb von drei Wochen, gerechnet ab dem Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung, gerichtlich geltend machen (§ 4 S. 1 KSchG). Erhebt A nicht fristgerecht Klage, gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam.

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„Gesundheitsprobleme“

Falldarstellung

Fall 14

Fall 14: „Gesundheitsprobleme“ Falldarstellung Der am 8.2.1974 geborene N (verheiratet, drei Kinder) war in der Abteilung Versand und Lager der Schuhfabrik des D (rund 450 Mitarbeiter) seit dem 29.5.2003 als Lagerarbeiter/Kommissionierer beschäftigt. Sein Stundenlohn betrug zuletzt 25,– Euro brutto bei einer 40-Stunden-Woche. Von seiner Einstellung an hatte N erhebliche krankheitsbedingte Fehlzeiten: 2003: eine Fehlzeit von elf Tagen, Ursache von N nicht angegeben; Lohnfortzahlungskosten: 440,– Euro. 2004: vier Fehlzeiten zwischen drei und sieben Tagen, insgesamt 19 Tage, Ursachen von N nicht angegeben; Lohnfortzahlungskosten: 1.160,– Euro. 2005: sechs Fehlzeiten zwischen zwei und elf Tagen, insgesamt 38 Tage, davon 36 Tage wegen diverser Erkrankungen der Atemwege (Bronchitis, Asthma u.a.); Lohnfortzahlungskosten: 2.220,– Euro. 2006: drei Fehlzeiten zwischen sechs und 16 Tagen, insgesamt 37 Tage, alle wegen Atemwegserkrankungen; Lohnfortzahlungskosten: 2.138,– Euro. 2007: vier Fehlzeiten zwischen einem und 16 Tagen, insgesamt 41 Tage, Ursachen von N nicht angegeben; Lohnfortzahlungskosten: 3.487,50 Euro. 2008: vier Fehlzeiten zwischen zehn und 23 Tagen, insgesamt 56 Tage, davon 50 Tage wegen Atemwegserkrankungen; Lohnfortzahlungskosten: 2.608,– Euro. 2009: vier Fehlzeiten zwischen 15 und 24 Tagen, insgesamt 76 Tage, davon 55 wegen Atemwegserkrankungen; Lohnfortzahlungskosten: 6.011,– Euro. 2010: acht Fehlzeiten zwischen einem und 20 Tagen, insgesamt 76 Tage, davon 50 wegen Atemwegserkrankungen; Lohnfortzahlungskosten: 6.100,– Euro. Im Dezember 2009 und Februar 2011 fanden zwischen D und N Gespräche über den Gesundheitszustand von N statt. Im ersten Gespräch erklärte N, er leide seit Jahren an asthmatischer Bronchitis und könne wahrscheinlich die trockene, staubige Luft im Betrieb nicht vertragen. Im zweiten Gespräch erklärte er, er leide immer noch an asthmatischer Bronchitis und könne nicht sagen, wie es gesundheitlich weitergehe. Obwohl D den N bat, seinen Arzt wegen der zu erwartenden Entwicklung seines Gesundheitszustands zu konsultieren, ließ N nichts mehr von sich hören. Als N am 18.4.2011 erneut wegen einer Bronchitis erkrankte, leitete D am 20.4.2011 beim Betriebsrat das Anhörungsverfahren zu einer beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.6.2011 ein, indem er dem Betriebsratsvorsitzenden B ein Schreiben mit den im Einzelnen aufgeschlüsselten Fehlzeiten des N, ihren Ursachen und den daraus resultierenden Lohnfortzahlungskosten übergab. Dem B wurde ferner die Beschäftigungsdauer mitgeteilt, nicht aber der Familienstand und die Unterhaltspflichten des N. Dem B war die familiäre Situation des N jedoch bekannt. Am 22.4.2011 fand eine Sitzung des Betriebsrats statt, auf deren Tagesordnung unter anderem „Anhörung nach § 102 BetrVG“ stand. Während der Sitzung trug B

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Fall 14 Lösungsskizze

„Gesundheitsprobleme“

zwar die Fälle der Mitarbeiter X, Y und Z vor, die aus betriebsbedingten Gründen zur Kündigung anstanden, den Fall N vergaß er jedoch. Sein Versäumnis bemerkte er erst am nächsten Tag, wollte den Fehler jedoch D gegenüber nicht eingestehen und teilte ihm am gleichen Tage schriftlich mit, dass „der Betriebsrat in seiner Sitzung vom 21.4.2011 beschlossen hat, gegen die Kündigung der Mitarbeiter N, X, Y und Z Widerspruch nicht zu erheben“. Daraufhin erklärt D am 22.4.2011 schriftlich die Kündigung, die dem – immer noch arbeitsunfähig erkrankten – N am darauf folgenden Tag zuging. Mit der am 4.5.2011 beim zuständigen Arbeitsgericht eingegangenen Klage macht N die Unwirksamkeit der Kündigung geltend. In der mündlichen Verhandlung Mitte Juli 2011 trägt N unter Bezugnahme auf ein fachärztliches Gutachten vor, die bei ihm vorliegende erhöhte Reizbarkeit des Bronchialsystems werde auch durch die Staubluft am Arbeitsplatz ungünstig beeinflusst. D wendet dagegen ein, dass er N nur als Lagerarbeiter eingestellt habe und einsetzen könne; ein anderer geeigneter Arbeitsplatz stehe nicht zur Verfügung und könne auch nicht durch Ausübung des Direktionsrechts „freigemacht“ werden. Außerdem macht N geltend, er habe Anfang Mai 2011 mit einer Ribomunyl-Therapie begonnen, die nach fachärztlicher Einschätzung zu einer erheblichen Verminderung der zukünftig zu erwartenden Fehlzeiten führe. Frage: Hat die Klage des N Aussicht auf Erfolg? Bearbeitervermerk: Es ist davon auszugehen, dass die Entgeltfortzahlung zu Recht geleistet worden ist und es sich bei den Erkrankungen des N nicht um eine Fortsetzungserkrankung i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 EFZG handelt.

Ü

Rechtsfragen: –

Kündigung wegen häufiger Kurzzeiterkrankungen; Negativprognose



Abgrenzung personen- und verhaltensbedingte Kündigung



Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG

Lösungsskizze A. Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG) Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen gegeben B. Begründetheit der Klage des N I. Wirksamkeit der Kündigungserklärung des D (§§ 104 ff., 623 BGB) II. Einhalten der Kündigungsfrist (§ 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB) III. Einhalten der Klagefrist, § 4 KSchG IV. Kein Eingreifen allgemeiner Unwirksamkeitsgründe Kündigung eines erkrankten Arbeitnehmers verstößt nicht prinzipiell gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) oder gegen die guten Sitten (§ 138 BGB); vgl. § 8 Abs. 1 EFZG

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„Gesundheitsprobleme“

Lösungsskizze Fall 14

V. Anhörung des Betriebsrats (§ 102 BetrVG) 1. Unvollständige Information des Betriebsrats durch den Arbeitgeber Grundsatz: Arbeitgeber muss dem Betriebsrat alle aus seiner Sicht maßgeblichen Umstände mitteilen; unvollständige Unterrichtung führt zur Nichtigkeit der Kündigung Arbeitgeber muss dem Betriebsrat auch Sozialdaten des betroffenen Arbeitnehmers mitteilen Hier: Mitteilung entbehrlich, da positive Kenntnis des Betriebsratsvorsitzenden (Gedanke aus § 2 Abs. 1 BetrVG) 2. Fehlende Information der übrigen Betriebsratsmitglieder durch den Betriebsratsvorsitzenden Grundsatz: Sofern der Arbeitgeber das Anhörungsverfahren ordnungsgemäß eingeleitet hat, gehen Fehler im betriebsratsinternen Willensbildungsprozess zu Lasten des Betriebsrats Arbeitgeber durfte hier von ordnungsgemäßem Verfahren ausgehen VI. Wirksamkeit nach dem KSchG 1. Anwendbarkeit des KSchG (§§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG) 2. Krankheit als personenbedingter Kündigungsgrund (§ 1 Abs. 2 KSchG) a) Erhebliche Fehlzeiten und negative Gesundheitsprognose Erhebliche Fehlzeiten in der Vergangenheit (mehr als 30 Tage pro Jahr) im wesentlichen wegen Atemwegserkrankungen Da die Atemwegserkrankung chronisch ist und durch staubige Luft am Arbeitsplatz begünstigt wird, besteht die Gefahr erheblicher Fehlzeiten auch für die Zukunft Vortrag des N im Prozess (Ribomunyl-Therapie) ist nicht mehr zu berücksichtigen, da der Zeitpunkt des Kündigungszugangs für die soziale Rechtfertigung der Kündigung maßgeblich ist Hinreichende Negativprognose ist daher gegeben b) Erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen oder wirtschaftlichen Interessen Keine Betriebsstörungen ersichtlich, die über die Belastung hinausgingen, die mit jeder krankheitsbedingten Abwesenheit eines Arbeitnehmers verbundenen sind Aber erhebliche wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers, da Lohnfortzahlungskosten für weit mehr als sechs Wochen pro Jahr anfallen c) Vorrang milderer Mittel Atemwegserkrankung des N beruht nicht allein auf den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen, so dass zukünftige Fehlzeiten nicht durch eine Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz vermieden werden können

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Fall 14 Lösungsvorschlag

„Gesundheitsprobleme“

d) Interessenabwägung Zu Lasten des N ist zu berücksichtigen: – Ausmaß der Fehlzeiten und Höhe der Lohnfortzahlungskosten – Abwesenheit des N musste durch andere Arbeitnehmer überbrückt werden (keine Personalreserve) – N ist noch relativ jung, so dass D nicht mit erheblichen Ausfallzeiten/ Lohnfortzahlungskosten rechnen muss Zugunsten des N ist zu berücksichtigen: – Grundsatz: „Zunehmende Länge der Betriebszugehörigkeit bringt erhöhten Bestandsschutz“ hier nicht einschlägig, da das Arbeitsverhältnis von Anfang an mit Fehlzeiten belastet war – Grundsatz: „Erhöhter Bestandsschutz bei betrieblich verursachter Krankheit“ hier nicht einschlägig, da Kausalität nicht exakt nachweisbar – Unterhaltspflichten bei krankheitsbedingter Kündigung nicht ausschlaggebend (str.) – Kündigungsinteresse des D überwiegt gegenüber dem Bestandsinteresse des N VII. Gesamtergebnis Die Kündigung ist sozial gerechtfertigt. Die Klage des N ist unbegründet.

Lösungsvorschlag A. Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage Die von N erhobene Klage vor dem Arbeitsgericht müsste zulässig sein. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG sind die Arbeitsgerichte für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses ausschließlich zuständig. Um einen solchen Fall handelt es sich hier. Nach dem Sachverhalt besteht ein Arbeitsverhältnis, dessen wirksame Beendigung im Streit steht. Ferner hat N die Klage vor dem zuständigen Arbeitsgericht erhoben. Die erhobene Kündigungsschutzklage ist damit zulässig. B. Begründetheit der Klage des N Die Klage des N ist begründet, wenn die von D in einem Schreiben vom 22.4.2011 ausgesprochene Kündigung gegen zwingende Rechtsvorschriften verstößt bzw. nach § 1 KSchG sozial ungerechtfertigt ist. I. Wirksamkeit der Kündigungserklärung Für die Wirksamkeit einer Kündigung ist zunächst Voraussetzung, dass die Kündigungserklärung, selbst eine einseitige rechtsgestaltende Willenserklärung, die notwendigen allgemeinen Voraussetzungen erfüllt. Im vorliegenden Fall bestehen keine Zweifel an der Wirksamkeit der Kündigungserklärung. Von der Bestimmtheit der Kündigungserklärung kann ausgegangen werden. Das gesetzliche

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„Gesundheitsprobleme“

Lösungsvorschlag Fall 14

Schriftformerfordernis nach § 623 BGB wurde gewahrt. Die Kündigung ist dem N auch am 23.4.2011 zugegangen i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB. II. Einhaltung der Kündigungsfrist Nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB beträgt die Kündigungsfrist für ein Arbeitsverhältnis, das fünf Jahre bestanden hat, zwei Monate zum Ende eines Kalendermonats, bei einem achtjährigen Arbeitsverhältnis drei Monate zum Ende eines Kalendermonats (§ 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB). Im vorliegenden Fall ist das Arbeitsverhältnis am 29.5.2003 begründet worden. Die Kündigungserklärung erfolgte am 22.4.2011 zum 30.6.2011. Fraglich könnte sein, ob das Arbeitsverhältnis hier nicht bereits acht Jahre bestanden hat, weil die Kündigungswirkung erst zum 30.6.2011 eintrat. Wäre auf diesen Zeitpunkt abzustellen, wäre eine dreimonatige Kündigungsfrist einzuhalten, so dass dem N erst zum 31.7.2011 hätte gekündigt werden können. Ausdrücklich ergibt sich aus § 622 Abs. 2 BGB nicht, auf welchen Zeitpunkt es für das Bestehen des Arbeitsverhältnisses ankommt. Nach § 622 Abs. 2 BGB ist die Dauer der Kündigungsfrist bei verlängerten Kündigungsfristen davon abhängig, dass das Arbeitsverhältnis eine bestimmte Anzahl von Jahren „bestanden hat“. Bei verständiger Auslegung des Normtextes kann dies nur in dem Sinne verstanden werden, dass im Zeitpunkt der Kündigungserklärung die entsprechende Zeitdauer bereits erreicht worden sein muss. Nach allgemeinen kündigungsrechtlichen Prinzipien gilt für die Bestimmung der Rechtsvoraussetzungen eines Gestaltungsrechts prinzipiell der Zeitpunkt des Ausspruchs der Gestaltungserklärung. So kann auch ein Arbeitsverhältnis bis zum letzten Tag der Probezeit gekündigt werden, auch wenn es erst nach Ablauf der Probezeit endet. Von diesen Grundsätzen ist auch im Rahmen des § 622 Abs. 2 BGB auszugehen. Daraus ergibt sich, dass im Zeitpunkt der Kündigungserklärung, also am 22.4.2011 bzw. 23.4.2011 (Tag des Zugangs), das Arbeitsverhältnis noch nicht acht Jahre bestanden hat. Deshalb richtet sich die Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB. Sie betrug damit zwei Monate zum Ende des Kalendermonats. Der Ausspruch der Kündigung zum 30.6.2011 war daher fristgemäß. III. Einhaltung der Klagefrist Nach § 4 S. 1 KSchG muss ein Arbeitnehmer, der sich gegen die fehlende soziale Rechtfertigung einer Kündigung wendet, innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung Klage beim Arbeitsgericht auf Feststellung erheben, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist. D hat am 22.4.2011 die Kündigung erklärt, die N am 23.4.2011 zugegangen ist. Mit der Klageerhebung am 4.5.2011 hat N die Klagefrist von drei Wochen damit eingehalten. IV. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe Die Kündigung dürfte nicht an allgemeinen Rechtsschranken scheitern (§§ 138, 242 BGB, § 134 BGB). Sonderkündigungsschutzvorschriften, die zur Unwirksamkeit der Kündigung führen könnten, sind im vorliegenden Sachverhalt nicht ersichtlich. Bedenken könnten deshalb bestehen, weil D das Kündigungsverfahren einleitete und die Kündigung erklärte, als N erneut am 18.4.2011 wegen Bronchitis erkrankte. Man könnte erwägen, einen erkrankten Arbeitnehmer wegen sei-

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ner Erkrankung während seiner Arbeitsunfähigkeit zu kündigen, könnte gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) bzw. gegen die guten Sitten (§ 138 BGB) verstoßen. Ein Rechtsgrundsatz, dass eine Kündigung wegen Krankheit treuwidrig bzw. sittenwidrig sein könnte, besteht jedoch nicht. Vielmehr wird prinzipiell ein Kündigungsinteresse des Arbeitgebers anerkannt, wenn die Erkrankungen des Arbeitnehmers ein erhebliches Ausmaß angenommen haben. Die Anerkennung eines Rechtsgrundsatzes, dass die Erklärung einer Kündigung wegen der Erkrankung treu- oder sittenwidrig sei, ist schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil es sonst nicht möglich wäre, sich von einem dauerhaft arbeitsunfähigen Arbeitnehmer zu trennen. Auch aus der gesetzlichen Wertung des § 8 Abs. 1 EFZG ergibt sich, dass der Gesetzgeber stillschweigend von einer zulässigen Kündigung während der Arbeitsunfähigkeit ausgeht. Es heißt dort, dass der Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts nicht dadurch berührt wird, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis „aus Anlass der Arbeitsunfähigkeit“ kündigt. Damit bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass die Kündigung wegen und aus Anlass der Arbeitsunfähigkeit nicht zur Gefährdung der sozialen Absicherung nach dem EFZG führt. Insbesondere will der Gesetzgeber mit dieser Vorschrift vermeiden, dass nur wegen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung das Arbeitsverhältnis gekündigt wird. Im Umkehrschluss folgt jedoch auch aus dieser Norm, dass der Gesetzgeber prinzipiell von der Möglichkeit einer Kündigung wegen Arbeitsunfähigkeit ausgeht. V. Anhörung des Betriebsrats (§ 102 BetrVG) Nach § 102 Abs. 1 BetrVG ist der Arbeitgeber vor Ausspruch jeder Kündigung verpflichtet, dem Betriebsrat die Gründe für die beabsichtigte Kündigung mitzuteilen und ihm Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Ob im vorliegenden Fall eine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung erfolgt ist, ist in zweierlei Hinsicht zweifelhaft, denn B hat dem Betriebsrat die Sozialdaten des N nicht vollständig mitgeteilt und der Betriebsratsvorsitzende hat den Betriebsrat nicht über die geplante Kündigung des N informiert. 1. Unvollständige Information des Betriebsrats durch den Arbeitgeber Nach ständiger Rechtsprechung des BAG kann die ausgesprochene Kündigung nicht nur dann unwirksam sein, wenn der Arbeitgeber gekündigt hat, ohne den Betriebsrat zuvor überhaupt beteiligt zu haben, sondern auch dann, wenn der Arbeitgeber seine Unterrichtungspflicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG nicht richtig, insbesondere nicht ausführlich genug nachgekommen ist. Die Anhörung soll dazu beitragen, dass es gar nicht erst zum Ausspruch einer Kündigung kommt. Sie hat den Sinn, über die reine Unterrichtung hinaus dem Betriebsrat Gelegenheit zu geben, seine Überlegungen zur Kündigungsabsicht vorzubringen. Das kann er nur dann, wenn ihm der Sachverhalt einigermaßen vollständig mitgeteilt wird. Dabei sind an die Mitteilungspflicht im Anhörungsverfahren nicht dieselben Anforderungen zu stellen wie an die Darlegungslast des Arbeitgebers im Prozess. Es gilt der Grundsatz der „subjektiven Determination“. Der Betriebsrat ist immer dann ordnungsgemäß angehört worden, wenn ihm der Arbeitgeber die aus seiner Sicht tragenden Umstände unterbreitet hat. Hinsichtlich dieser Umstände genügt es allerdings in der Regel nicht, dass der Arbeitgeber sie nur pauschal, schlagwort- oder stichwortartig vorträgt oder bloße Werturteile mitteilt. Der für die Kündigung maßgebende Sachverhalt ist vielmehr so zu umschreiben, dass

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der Betriebsrat ohne eigene Nachforschungen in die Lage versetzt wird, die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe zu prüfen und sich über eine Stellungnahme schlüssig zu werden.1 Speziell bei der krankheitsbedingten Kündigung hat der Arbeitgeber die wesentlichen Umstände darzulegen, die die soziale Rechtfertigung dieser Kündigung begründen können. Dazu gehören die einzelnen Fehlzeiten und darüber hinaus die Tatsachen, aus denen sich eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen ergibt.2 Im vorliegenden Fall hat D am 20.4.2011 schriftlich über die beabsichtigte ordentliche Kündigung informiert. In dem an den B gerichteten Schreiben sind im Einzelnen die Fehlzeiten des N, ihre Ursache und die daraus resultierenden Lohnfortzahlungskosten aufgeschlüsselt worden. Darüber hinaus wurde B die Beschäftigungsdauer des N mitgeteilt. Diese Umstände sind die tragenden Säulen für die Beurteilung einer krankheitsbedingten Kündigung. Auf der Basis dieser Daten konnte sich der Betriebsrat ein Bild über die Rechtfertigung der krankheitsbedingten Kündigung machen. Bedenken gegen die Wirksamkeit der Betriebsratsanhörung könnten jedoch deshalb bestehen, weil D es unterlassen hat, auch den Familienstand des N und seine Unterhaltsverpflichtungen mitzuteilen. Es ist zweifelhaft, ob der Familienstand und das Ausmaß der Unterhaltspflichten für die Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung wesentlich sind. Die Rechtsprechung geht regelmäßig davon aus, dass das Ausmaß der Unterhaltspflichten auch bei der personenbedingten Kündigung unter Umständen zu berücksichtigen ist. Dies gilt für alle persönlichen Umstände des Arbeitnehmers, die sich im Rahmen der Interessenabwägung zu Gunsten des Arbeitnehmers auswirken können. Daraus folgt, dass jedenfalls das Lebensalter und die Dauer der Betriebszugehörigkeit, möglicherweise aber auch die Unterhaltspflichten, mitzuteilen sind. Allerdings steht das Anhörungsverfahren unter dem Grundprinzip des Gebots der vertrauensvollen Zusammenarbeit (§ 2 Abs. 1 BetrVG). Daraus folgt, dass das Anhörungsverfahren keine reine Förmelei ist. Weiß der Betriebsrat aus eigener Kenntnis von den kündigungsrelevanten Sozialdaten, so kann aus dem Umstand, dass der Arbeitgeber diese dem Betriebsrat bekannten Daten nicht ausdrücklich mitgeteilt hat, eine Unwirksamkeit der Kündigung aus § 102 Abs. 1 BetrVG nicht hergeleitet werden. Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass D nicht den Betriebsrat bewusst irreführen wollte. Der Betriebsratsvorsitzende, der den Betriebsrat im Rahmen der gefassten Beschlüsse vertritt und zur Entgegennahme von Erklärungen, die dem Betriebsrat gegenüber abzugeben sind, zuständig ist (§ 26 Abs. 2 S. 2 BetrVG), hatte nach dem Sachverhalt positive Kenntnis von den Sozialdaten des N. Die ausdrückliche Mitteilung dieser Sozialdaten im Rahmen der Anhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG war daher verzichtbar.

1 BAG 15.11.1995 AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 73. 2 BAG 8.9.1988 EzA BetrVG 1972 § 102 Nr. 73; BAG 23.9.1992 EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 37.

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2. Fehlende Information der übrigen Betriebsratsmitglieder durch den Betriebsratsvorsitzenden Möglicherweise ist jedoch die Betriebsratsanhörung allein deshalb fehlerhaft, weil der Betriebsrat über die geplante Entlassung des N überhaupt nicht informiert war. Es hat keinen Betriebsratsbeschluss gegeben, weil B die Erörterung in der Betriebsratssitzung vergessen hat. Fraglich ist, ob dieser Mangel im Anhörungsverfahren dem Arbeitgeber insofern zugerechnet werden kann, dass die Kündigung nach § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam ist. Für die Unwirksamkeit der Kündigungserklärung nach § 102 Abs. 1 BetrVG spricht, dass nach § 102 „der Betriebsrat“ anzuhören ist. Der Betriebsratsvorsitzende vertritt den Betriebsrat lediglich „im Rahmen der von ihm gefassten Beschlüsse“ (§ 26 Abs. 2 S. 1 BetrVG). Bei einer wortlautbezogenen Gesetzesinterpretation könnte daher die Unwirksamkeit der Kündigung die Folge sein, weil der Betriebsrat überhaupt nicht angehört worden ist. Bedenken gegen eine solche Interpretation bestehen jedoch deshalb, weil Fehler im Anhörungsverfahren innerhalb der Willensbildung des Betriebsrates generell zu Lasten des Arbeitgebers gehen würden. Im Extremfall könnte der Arbeitgeber wirksam überhaupt gar keine Kündigungen aussprechen, wenn der Betriebsrat bewusst Anhörungsmängel herbeiführt. Aus diesem Grund geht die Rechtsprechung davon aus, dass bei ordnungsgemäßer Einleitung des Anhörungsverfahrens Mängel, die im Verantwortungsbereich des Betriebsrats entstehen, grundsätzlich nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung wegen fehlender Anhörung führen, wenn der Arbeitgeber mit dem Ausspruch der Kündigung bis zum Ablauf der Frist des § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG (eine Woche) wartet. Mängel gehören zur Sphäre des Betriebsrats, d.h. sie gehören zu dessen Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich und gehen nicht zu Lasten des Arbeitgebers.3 Im vorliegenden Fall ist allerdings die Wochenfrist noch nicht abgelaufen. D leitete am 20.4.2011 das Anhörungsverfahren ein. Bereits am 21.4.2011 teilte der B dem D mit, dass gegen die Kündigung ein Widerspruch nicht erhoben wird. Die Wochenfrist muss jedoch nicht in jedem Falle eingehalten werden. Der Betriebsrat kann auch vor Ablauf der Wochenfrist endgültig zur Kündigung Stellung nehmen. Dies hat B mit seiner Erklärung am 21.4.2011 getan. Der Arbeitgeber kann bei Kündigungen vor Ablauf der Frist des § 102 Abs. 2 BetrVG die Kündigung ohne Verletzung des § 102 BetrVG aussprechen, sofern ihm vom Betriebsrat mitgeteilt worden ist, dass dieser der beabsichtigten Kündigung zustimmt bzw. keinen Widerspruch erhebt. Mit dieser Mitteilung des Betriebsrats ist grundsätzlich das Anhörungsverfahren abgeschlossen. Dieser Fall liegt hier vor. B hat ausdrücklich auch gegen die Kündigung des N keinen Widerspruch erhoben. Eine andere Auffassung wird nur dann für gerechtfertigt erachtet, wenn erkennbar nur eine persönliche Stellungnahme des Betriebsratsvorsitzenden erfolgt wäre und gar keine Stellungnahme des Betriebsrats vorläge oder wenn der Arbeitgeber selbst den Fehler durch unsachgemäßes Verhalten veranlasst hätte.4 Auch dieser Sonderfall liegt hier nicht vor. D hat dem zuständigen Betriebsratsvorsitzenden alle notwendigen Daten für die Betriebsratsanhörung mitgeteilt. Ein un-

3 BAG 15.11.1995 AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 73. 4 BAG 15.11.1995 AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 73.

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sachgemäßes Verhalten, das die Fehlerverantwortlichkeit beim Arbeitgeber D gerechtfertigt erscheinen lassen könnte, liegt nicht vor. Vielmehr musste D von einem ordnungsgemäßen Anhörungsverfahren ausgehen, da er von der Sitzung des Betriebsrates am 21.4.2011 wusste oder wissen musste und der Betriebsrat zur Kündigung mehrerer Mitarbeiter Stellung genommen hat. Der Fehler, dass B die Kündigung des N nicht zum Gegenstand der Betriebsratssitzung gemacht hat, ist daher allein eine Fehlerverantwortlichkeit, die in der Zuständigkeitssphäre des Betriebsrats liegt. Der Fehler kann somit nicht zur Unwirksamkeit des Anhörungsverfahrens führen. Eine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG liegt vor. VI. Wirksamkeit nach dem KSchG Die ordentliche Kündigung gegenüber N könnte nach § 1 Abs. 1 und 2 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. 1. Anwendbarkeit des KSchG Das Kündigungsschutzgesetz ist gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 3 KSchG anwendbar, wenn dem Beschäftigungsbetrieb in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer, bzw. für vor dem 31.12.2003 beschäftigte Arbeitnehmer mehr als fünf Arbeitnehmer bis 31.12.2003, angehören und das Arbeitsverhältnis mindestens sechs Monate besteht. Diese Voraussetzungen liegen vor, da N seit dem 29.5.2003 als Lagerarbeiter bei D, der rd. 450 Mitarbeiter beschäftigt, in einem Arbeitsverhältnis steht. Auf die unterschiedlichen Schwellenwerte kommt es daher erkennbar nicht an. 2. Krankheit als personenbedingter Kündigungsgrund (§ 1 Abs. 2 KSchG) Die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses des N könnte rechtsunwirksam sein, wenn sie nicht sozial gerechtfertigt ist. Sozial ungerechtfertigt ist die Kündigung nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Im vorliegenden Fall kommt allein die personenbedingte Kündigung als Rechtfertigungsgrund in Betracht, weil die Kündigung durch D weder auf betriebsbedingte Erfordernisse gestützt wird, noch eine verhaltensbedingte Vertragspflichtverletzung in Rede steht. Der Gesetzgeber hat nähere Voraussetzungen für die Rechtfertigung der personenbedingten Kündigung nicht aufgestellt. Eine personenbedingte Kündigung kann nach den von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen nur durchgreifen, wenn in der Sphäre des Arbeitnehmers liegende Umstände vorliegen, die die Fähigkeit und die Eignung zur Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung ganz oder teilweise entfallen lassen. Grundvoraussetzung ist deshalb, dass es wegen des Eignungswegfalls zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher oder vertraglicher Interessen kommt, die auch künftig das Arbeitsverhältnis belasten (Negativprognose), durch vorrangige mildere Mittel nicht abgewendet werden können und in Abwägung der konkreten Interessen beider Vertragsparteien das Kündigungsinteresse als überwiegend kennzeichnen. Spe-

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ziell für die krankheitsbedingte Kündigung hat die Rechtsprechung diese Voraussetzungen präzisiert. a) Erhebliche Fehlzeiten und negative Gesundheitsprognose Grundvoraussetzung für eine Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen ist, dass sich die Erkrankung betrieblich negativ auswirkt, insbesondere durch erhebliche Fehlzeiten. Die betriebliche Beeinträchtigung ist Teil des Kündigungsgrundes, wobei die Rechtsprechung jedoch ablehnt, eine bestimmte Fehlzeitenquote stets als Kündigungsgrund ausreichen zu lassen. Allerdings können häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit für ein entsprechendes Erscheinungsbild in der Zukunft sprechen. Im vorliegenden Fall sind die einzelnen Fehlzeiten des N unstreitig. Seit Beginn des Arbeitsverhältnisses sind erhebliche Fehlzeiten aufgetreten. Seit 2005 gingen die Fehlzeiten jeweils weit über 30 Arbeitstage hinaus. Dabei sind fast alle krankheitsbedingten Fehltage wegen diverser Erkrankungen der Atemwege festzustellen. In den Jahren 2008 bis 2010 sind allein mindestens 50 Fehltage wegen Atemwegserkrankungen feststellbar. Mithin können erhebliche Fehlzeiten in der Vergangenheit festgestellt werden. Die aufgetretenen Fehlzeiten müssen auch die Besorgnis künftiger Erkrankungen rechtfertigen. Dabei muss jede einzelne Erkrankung, die in der Vergangenheit zu Fehlzeiten geführt hat, die Negativprognose rechtfertigen. Angesichts der Beweisschwierigkeiten des Arbeitgebers sprechen die Erkrankungen in der Vergangenheit für ein entsprechendes Erscheinungsbild in der Zukunft, wenn es dem Arbeitgeber nicht gelingt, die Besorgnis künftiger Erkrankungen zu rechtfertigen. Im vorliegenden Fall erklärt N selbst, dass er die trockene staubige Luft nicht vertragen könne. Er wisse selbst nicht, wie es mit seiner asthmatischen Bronchitis gesundheitlich weitergehe. Irgendwelche Darlegungen, die eine positive Gesundheitsprognose rechtfertigen können, sind aus dem Sachverhalt nicht erkennbar. Damit sind auch die Voraussetzungen einer Wiederholungsgefahr für das Auftreten weiterer Erkrankungen gegeben. Im vorliegenden Fall könnte jedoch der Vortrag des N im Prozess, dass er im Mai 2011 mit einer Ribomunyl-Therapie begonnen habe, die nach fachärztlicher Einschätzung zu einer erheblichen Verminderung der zu erwartenden Fehlzeiten führen könne, eine positive Gesundheitsprognose rechtfertigen. Fraglich ist jedoch, ob dieser Vortrag des N im Prozess überhaupt noch berücksichtigt werden kann. Maßgeblicher Beurteilungszeitraum für die Negativprognose und damit auch für ein wesentliches Element der Rechtfertigung der Kündigung ist generell der Zugang der Kündigungserklärung bei dem gekündigten Arbeitnehmer. Diese strenge Sicht, die auf das Wirksamwerden der Gestaltungserklärung der Kündigung abstellt, rechtfertigt sich daraus, dass die Voraussetzungen eines Gestaltungsrechts im Zeitpunkt seiner Erklärung geprüft werden müssen. Die Rechtfertigungsvoraussetzungen müssen zu diesem Zeitpunkt vorliegen. Spätere Ereignisse können nur im Hinblick auf die erneute Ausübung eines Gestaltungsrechts relevant sein. Die ursprünglichen Wirksamkeitsvoraussetzungen werden durch nachträgliche Ereignisse nicht berührt. Die Rechtsprechung hat zeitweise erwogen, auch nach Zugang der Kündigung eingetretene weitere Umstände, die sich auf die weitere Entwicklung des Gesundheitszustandes auswirken können, zu berücksichtigen. Von dieser Rechtsprechung ist das BAG jedoch wieder abge-

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kehrt. Alle Änderungen der Gesundheitsentwicklung, die auf neuen Kausalverläufen beruhen, könnten jedenfalls nicht berücksichtigt werden. So kann insbesondere eine durch den Arzt veranlasste Therapie nach Ausspruch der Kündigung nicht mehr die Wirksamkeit der Kündigung berühren. Hieraus ergibt sich für den vorliegenden Fall, dass der Einwand des N im Prozess, er habe nunmehr eine Therapie begonnen, die Wirksamkeit der zuvor ausgesprochenen Kündigung nicht berührt. Folglich kann für den vorliegenden Fall von prognosefähigen Fehlzeiten im Umfang von 76 Tagen ausgegangen werden, die N jeweils in den Jahren 2009 und 2010 gehabt hat. Hinsichtlich der Atemwegserkrankungen ist die Negativprognose begründet (55 und 50 Tage), hinsichtlich der übrigen Fehlzeiten hat der Arbeitnehmer keine Gründe dafür vorgetragen, dass künftig Fehlzeiten in diesem Umfang nicht auftreten werden. Die Indizwirkung der Fehlzeiten ist damit nicht erschüttert. b) Erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen oder wirtschaftlichen Interessen Die prognostizierten Fehlzeiten können nur dann eine krankheitsbedingte Kündigung rechtfertigen, wenn eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher oder wirtschaftlicher Interessen vorliegt. Betriebliche Belastungen treten insbesondere durch Betriebsablaufstörungen auf. Auch wenn evident ist, dass jede Fehlzeit eines Arbeitnehmers zu Betriebsstörungen führt, weil die geschuldete Arbeitsleistung in einem bestimmten Umfang nicht zur Verfügung steht, stellt die Rechtsprechung an den Nachweis von Betriebsablaufstörungen erhebliche Anforderungen. So muss konkret dargelegt werden, zu welchen Betriebsstörungen der Ausfall des Arbeitnehmers jeweils geführt hat. Aus dem vorliegenden Sachverhalt sind Betriebsstörungen nicht zu entnehmen. Weitere Ausführungen hierzu erübrigen sich, wenn schon die wirtschaftliche Beeinträchtigung des Arbeitsverhältnisses durch die Belastung mit Entgeltfortzahlungskosten die Kündigung rechtfertigt. Nach der Rechtsprechung kann allein die zu erwartende wirtschaftliche Belastung mit Lohnfortzahlungskosten, die jährlich für einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen aufzuwenden sind, einen Kündigungsgrund darstellen. Dabei können alle Entgeltfortzahlungskosten berücksichtigt werden, die auf die auch in Zukunft zu erwartenden, im Rahmen der negativen Gesundheitsprognose ermittelten Ausfallzeiten entfallen. Außer Betracht bleiben nur solche Kosten für die Entgeltfortzahlung bei einmaligen Erkrankungen, bezüglich derer eine Wiederholungsgefahr nicht zu besorgen ist. Diese Grundvoraussetzung für die Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung liegt hier vor. Die prognosefähigen Fehlzeiten liegen weit über der kündigungsrechtfertigenden Grundvoraussetzung von mindestens 30 Fehltagen pro Kalenderjahr. Bezüglich N muss von prognosefähigen Fehlzeiten in Höhe von 76 Arbeitstagen ausgegangen werden. Ob diese hohen Entgeltfortzahlungskosten die Kündigung rechtfertigen, ist im Rahmen der abschließenden Interessenabwägung zu entscheiden.

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c) Vorrang milderer Mittel Die personenbedingte Kündigung ist nur gerechtfertigt, wenn die Gründe die Kündigung „bedingen“ (§ 1 Abs. 2 S. 1 KSchG). Hieraus und aus der Wertung des § 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG wird das so genannte „Ultima-Ratio-Prinzip“ hergeleitet, wonach der Arbeitgeber stets zu prüfen hat, ob der Arbeitnehmer auf einem anderen freien Arbeitsplatz eingesetzt werden kann, auf dem keine betrieblichen Beeinträchtigungen mehr zu erwarten sind. Kann der Arbeitnehmer nämlich auf einem Arbeitsplatz eingesetzt werden, auf dem krankheitsbedingte Fehlzeiten voraussichtlich nicht auftreten werden, fehlt es an einem Kündigungsinteresse des Arbeitgebers. Die Umsetzungspflicht ist jedoch niemals abstrakt zu betrachten. Entscheidend ist, ob ein Arbeitsplatz frei ist und ob die Umsetzung ein geeignetes Mittel zur Verhinderung der kündigungsbegründenden Belastungen ist. Nach der Rechtsprechung des BAG sind dabei auch gleichwertige „besetzte“ Arbeitsplätze zu berücksichtigen, wenn der Arbeitnehmer auf ihnen im Wege des Direktionsrechts einsetzbar wäre, was den Arbeitgeber auch verpflichten solle, diesen Arbeitsplatz „freizumachen“.5 Es ist nicht erkennbar, dass D den N auf einem anderen Arbeitsplatz einsetzen könnte, der die konkrete Erwartung begründet erscheinen lässt, dass es zu erheblichen Ausfallzeiten nicht mehr kommen kann. N ist als Lagerarbeiter eingestellt worden und kann auch nur in diesem Bereich eingesetzt werden. Darüber hinaus sind die bei N zu beklagenden Erkrankungen nicht allein auf die Betriebssituation zurückzuführen, weil er bereits seit Jahren an asthmatischer Bronchitis leidet. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, die krankheitsbedingten Ausfälle allein auf die betriebliche Verursachung zurückzuführen. Sie werden bei der negativen gesundheitlichen Grunddisposition auch an anderen Arbeitsplätzen auftreten. Eine Umsetzung des Arbeitnehmers scheint deshalb generell nicht geeignet, die betrieblichen Störungen zu vermeiden. d) Interessenabwägung Im Rahmen der stets notwendigen Interessenabwägung sind alle Umstände, die eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen können, umfassend zu berücksichtigen. Dabei ist insbesondere das Ausmaß der Störungen zu gewichten. Es ist auch zu berücksichtigen, ob und inwieweit überhaupt noch Überbrückungsmaßnahmen zumutbar sind. Darüber hinaus ist der konkrete bisherige Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen. – Angesichts des Umstandes, dass eine feste Fehlzeitenquote noch nicht über das Schicksal der Kündigung entscheidet, fällt in der Interessenabwägung erheblich das Ausmaß der krankheitsbedingten Ausfälle ins Gewicht. Sie müssen nach der Rechtsprechung es BAG „außergewöhnlich“ bzw. „extrem“ hoch sein, um allein die weitere Beschäftigung des Arbeitnehmers unzumutbar zu machen. Auch wenn das BAG jede quantifizierbare Betrachtungsweise ablehnt, hat es jedoch entschieden, dass eine die stets zumutbare Sechs-Wochen-Grenze um 15 Tage (= 50 %, insgesamt also 45 Tage) überschreitende Lohnfortzahlung erheblich ist. Prognostizierte Lohnfortzahlungskosten von 60 Arbeitstagen im Jahr (das Dop-

5 BAG 12.7.2007 NZA 2008, 173, 175; BAG 30.9.2010 NZA 2011, 39, 40.

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Lösungsvorschlag Fall 14

pelte des Sechs-Wochen-Zeitraums) hat das BAG als außergewöhnlich hoch bezeichnet.6 Im vorliegenden Fall sind die Entgeltfortzahlungskosten nach diesen Maßstäben außergewöhnlich hoch. Die prognosefähigen Fehlzeiten von 76 Fehltagen überschreiten die Ausfallzeiten um weit mehr als das Doppelte des generell Zumutbaren. – Im Rahmen der Interessenabwägung ist zu Gunsten des Arbeitgebers zu berücksichtigen, wenn er eine Personalreserve vorhält, um die Fehlquote abzudecken. Ausdrückliche Hinweise hierzu sind im Sachverhalt nicht enthalten. Das Fehlen einer Personalreserve führt aber nicht zu einem Ausschluss der krankheitsbedingten Kündigung. Vielmehr ist zu Gunsten des Arbeitgebers zu berücksichtigen, dass bei häufigen Kurzzeiterkrankungen bereits in erheblichem Ausmaß der Ausfall des Arbeitnehmers tatsächlich überbrückt werden musste. Davon ist auch im vorliegenden Fall auszugehen. – Für die Interessenabwägung ist wesentlich, wie das Arbeitsverhältnis bisher verlaufen ist. So muss ein Arbeitgeber gegenüber einem Arbeitnehmer, der jahrelang fehlerfrei oder ohne größere Fehlquoten gearbeitet hat, eine größere Rücksichtnahme walten lassen als gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis von Anfang an gestört war. Im vorliegenden Fall spricht für die Rechtfertigung der Kündigung, dass das Arbeitsverhältnis seit Beginn nicht störungsfrei verlaufen ist. Nach geringeren Fehlzeiten in den ersten beiden Jahren des Beschäftigungsverhältnisses liegen die Fehlzeiten konstant seit 2005 weit über 30 Fehltagen. Hieraus wird erkennbar, dass es sich nicht um eine temporäre Belastung des Arbeitsverhältnisses handelt. – Im Rahmen der Abwägung ist auch das Alter des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Der N war im Kündigungszeitpunkt 37 Jahre alt. Es handelt sich mithin um einen jüngeren Arbeitnehmer. Dem Alter des Arbeitnehmers kommt in der Interessenabwägung ebenfalls ein hohes Gewicht zu. So ist bei einem älteren Arbeitnehmer mehr Rücksichtnahme zu erwarten als bei einem jüngeren Arbeitnehmer, weil typischerweise mit zunehmendem Alter krankheitsbedingte Ausfälle zunehmen. Bei jungen Arbeitnehmern schlägt das Alter in der Interessenabwägung zu deren Lasten zu Buche. Dies gilt nicht nur, weil jüngere Arbeitnehmer bessere Aussichten auf dem Arbeitsmarkt haben, sondern begründet sich insbesondere aus dem Zweck der krankheitsbedingten Kündigung: Grundlage der krankheitsbedingten Kündigung ist eine Negativprognose. Ist mit Ausfallzeiten im bisherigen Umfang aufgrund der negativen Gesundheitsprognose auf nicht absehbare Zeit zu rechnen, so ist die zu erwartende Belastung mit entsprechenden Lohnfortzahlungskosten umso höher, je jünger der Arbeitnehmer ist. Hier konnte im Kündigungszeitpunkt nicht abgesehen werden, ob und inwieweit sich die Gesundheitsdisposition des Arbeitnehmers zu seinen Gunsten verbessert. Aus diesen Gründen spricht das relativ junge Lebensalter des N für die soziale Rechtfertigung der Kündigung. – Im Rahmen der Interessenabwägung ist auch die Dauer der Beschäftigung zu berücksichtigen. Prinzipiell führt eine lange Beschäftigungsdauer zu einem erhöhten Bestandsschutz. Diese allgemeine Abwägungsregel, dass mit zunehmender Dauer sich die Rücksichtnahmepflicht des Arbeitgebers vergrößert, ist jedoch

6 BAG 5.7.1990 AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 26.

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differenziert zu beurteilen. Die Durchschlagskraft dieses Abwägungsgesichtspunktes hängt insbesondere davon ab, ob und inwieweit das Arbeitsverhältnis von Anfang an mit Ausfallzeiten belastet war. Da im vorliegenden Fall das insgesamt acht Jahre dauernde Arbeitsverhältnis stets mit erheblichen Fehlzeiten belastet war, kann dieser Gesichtspunkt nicht zu Gunsten des N ins Gewicht fallen. – Zu Gunsten des Arbeitnehmers fällt jedoch ins Gewicht, wenn die Erkrankungen auf betriebliche Ursachen zurückzuführen sind. Hier trägt N vor, dass er wegen seiner asthmatischen Bronchitis die Arbeitsbedingungen im Lager nicht vertrage. Damit können in einem weiteren Sinne die Ausfallzeiten des Arbeitnehmers auf betriebliche Ursachen zurückgeführt werden. Der Gesichtspunkt der betrieblichen Verursachung hat jedoch in der Interessenabwägung nur dann Gewicht, wenn der Zusammenhang zwischen Erkrankung und Arbeitsbedingungen eindeutig ist. An dieser Eindeutigkeit fehlt es hier. N hat seit Jahren mit einer asthmatischen Bronchitis zu kämpfen. Er weist damit eine „negative gesundheitliche Disposition“ auf. Die betrieblichen Umstände kommen nur als einer von mehreren zusätzlichen Faktoren für die akute Erkrankung in Betracht. Im vorliegenden Fall kann daher die sicherlich nicht gesundheitsfördernde Staubluft zu Gunsten des N berücksichtigt werden; dies kann aber nicht entscheidend für die Rechtfertigung der krankheitsbedingten Kündigung insgesamt sein. Für die negative gesundheitliche Grunddisposition trägt der Arbeitgeber keine Verantwortung. Die Frage könnte anders entschieden werden, wenn der Arbeitgeber gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen schafft, die nach der konkret geschuldeten Arbeitsleistung vermeidbar wären. Ein solcher Fall liegt aber nicht vor. – Umstritten ist, ob und inwieweit allgemeine Gesichtspunkte wie Aussichten auf dem Arbeitsmarkt oder Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers im Rahmen einer personenbedingten Kündigung berücksichtigt werden können. Diese Frage betrifft den Grundsatzstreit, ob im Rahmen einer kündigungsrechtlichen Abwägung jedes nur denkbare Abwägungskriterium berücksichtigt werden muss oder ob bestimmte Kriterien als nicht im Sachzusammenhang mit der Kündigung stehend ausgeschlossen werden müssen. Die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt werden zwar von der Rechtsprechung in den Abwägungsprozessen berücksichtigt; sie haben jedoch keine tragende Rolle in der kündigungsrechtlichen Abwägung. Der generelle Topos der „Aussichten auf dem Arbeitsmarkt“ ist weder bei betriebsbedingten Kündigungen noch bei personen- und verhaltensbedingten Kündigungen ein Merkmal, das rechtssicherer Beurteilung zugänglich ist, weil es von zu vielen Faktoren, die mit der Kündigungsentscheidung des Arbeitgebers nichts zu tun haben, abhängt. Schwieriger ist die Frage zu beurteilen, ob auch die Unterhaltspflichten im Rahmen personen- und verhaltensbedingter Kündigungen als Abwägungstopos heranzuziehen sind. Entscheidend muss der konkrete Kündigungsgrund sein. Das Ausmaß der Unterhaltspflichten ist ein allgemeines soziales Kriterium, das aber das Gewicht des Kündigungsgrundes in der Regel nicht verändert. Das Ausmaß arbeitnehmerseitiger Erkrankungen hängt nicht von den Unterhaltspflichten ab. Wenn man die Unterhaltspflichten als Kriterium berücksichtigen will, wie es die Rechtsprechung überwiegend tut, kann diesem Kriterium jedoch nur eine ganz untergeordnete Bedeutung zukommen.

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Lösungsvorschlag Fall 14

Gewichtet man die Abwägungskriterien im vorliegenden Fall, ist nach den Maßstäben der Rechtsprechung eine krankheitsbedingte Kündigung gerechtfertigt. Die überwiegenden Gründe sprechen hier für das Kündigungsinteresse des D. Die Kündigung des N ist damit krankheits- bzw. personenbedingt i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG und deshalb nicht sozial ungerechtfertigt. VII. Gesamtergebnis Die Kündigung des N ist personenbedingt und damit sozial nicht ungerechtfertigt (§ 1 Abs. 2 KSchG). Die Kündigungsschutzklage des N ist daher unbegründet.

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Fall 15 Falldarstellung

„Morbider Krankenpfleger“

Fall 15: „Morbider Krankenpfleger“ Falldarstellung K ist seit 2005 in der Petrus Krankenhaus GmbH (200 Mitarbeiter) als Krankenpfleger (Intensivmedizin) beschäftigt. Am Morgen des 15.10.2010 findet er zu seinem Entsetzen in seinem Personalpostfach ein Schreiben mit folgendem Inhalt: Letztmalige (6.) Abmahnung „Ihre Nebentätigkeit Sehr geehrter Herr K, uns ist bekannt, dass Sie trotz mehrmaliger diesbezüglicher Aufforderung Ihre Tätigkeit als Leichenbestatter nicht eingestellt haben. Mit der fortgesetzten Tätigkeit verstoßen Sie in erheblichem Umfang gegen Ihre Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis. Dies missbilligen wir ganz entschieden. Wir haben Sie in der Vergangenheit bereits fünf Mal aufgefordert, Ihr vertragswidriges Verhalten einzustellen. Wir werden auf eine Fortsetzung Ihres Verhaltens mit dem Ausspruch einer Kündigung reagieren. Dies ist unsere letztmalige Abmahnung. Mit freundlichen Grüßen“ Der nähere Hintergrund der Abmahnung stellt sich wie folgt dar: Seit 2006 arbeitet K für 10 Stunden die Woche in einem Bestattungsunternehmen als Leichenbestatter, ohne die Zustimmung der Krankenhausleitung eingeholt zu haben. Diese erfährt erstmalig von der Nebentätigkeit des K, als der Geschäftsführer „seinen Krankenpfleger“ bei der Bestattung eines Familienmitglieds wiedererkennt. Die Krankenhausleitung reagiert umgehend und mahnt K wegen seiner unzulässigen Nebentätigkeit ab. Insgesamt kommt es in dem Zeitraum von 2006 – 2010 zu sechs Abmahnungen. Zum Eklat kommt es, als der Geschäftsführer des Krankenhauses K am 24.10.2010 in der Tageszeitung auf einem Foto erkennt, das anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Bestattungsunternehmens alle Mitarbeiter zeigt. Daraufhin wird K, der sich seit dem 26.10.2010 in Spanien im Urlaub befindet, am 28.10.2010 per Brief verhaltensbedingt unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist gekündigt. Erst am 25.11.2010 kehrt K – was die Krankenhausleitung wusste – aus dem Urlaub zurück und nimmt von dem Brief, der bereits am 29.10.2010 in seinen Briefkasten geworfen wurde, Kenntnis. Unmittelbar sucht er einen Rechtsanwalt auf und fragt, ob es Sinn mache, Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung zu erheben. Zur Information des Anwalts hat er einen Auszug aus den Arbeitsrichtlinien des Krankenhauses mit folgendem Inhalt mitgebracht: „Die Ausübung einer Nebentätigkeit ist grundsätzlich zulässig. Über die Aufnahme derselben ist die Krankenhausleitung zu unterrichten. Unzulässig allerdings ist eine Nebentätigkeit, wenn dadurch die Arbeitskraft der Mitarbeiter oder berechtigte Interessen des Krankenhauses erheblich beeinträchtigt werden.“

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„Morbider Krankenpfleger“

Lösungsskizze Fall 15

Der Anwalt des K schätzt die Chancen des K als durchaus gut ein, meint aber, es müsse zunächst ein „gesonderter Zulassungsantrag“ gestellt werden. Am 26.11.2010 erhebt K vor dem örtlich zuständigen Arbeitsgericht Klage und beantragt festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 28.10.2010 nicht aufgelöst worden ist. Gleichzeitig stellt er einen Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage. Frage 1: Wird das Arbeitsgericht dem Antrag des K auf nachträgliche Zulassung stattgeben? Frage 2: Wie wird das Gericht über die Kündigungsschutzklage – unterstellt, dem Zulassungsantrag des K ist entsprochen worden – entscheiden?

Ü

Rechtsfragen: –

Zulassung verspäteter Klage, § 5 KSchG



Zugang der Kündigung während Urlaubsabwesenheit



Verhaltensbedingte Kündigung



Nebentätigkeitsverbote



Mehrfachabmahnung

Lösungsskizze Frage 1: Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage gemäß § 5 KSchG Das Arbeitsgericht wird dem Antrag des K auf Zulassung der verspäteten Klage stattgeben, wenn dieser gemäß § 5 KSchG zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit des Antrags I. Verbindung von Zulassungsantrag und Klageerhebung gemäß § 5 Abs. 2 S. 1 KSchG II. Wahrung der Zwei-Wochen-Frist des § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG B. Begründetheit des Antrags Das Arbeitsgericht wird dem Zulassungsantrag durch Beschluss gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 KSchG stattgeben, wenn K trotz Anwendung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert gewesen ist, seine Kündigungsschutzklage innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung zu erheben. I. Verhinderung rechtzeitiger Klageerhebung Zugang der Kündigung Möglichkeit der Kenntnisnahme trotz Urlaubs II. Kein Verschulden des K K musste mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen rechnen. C. Ergebnis Arbeitsgericht wird Antrag zurückweisen.

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Fall 15 Lösungsskizze

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Frage 2: Kündigungsschutzklage Der Kündigungsschutzklage des K wird stattgegeben, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage I. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG eröffnet II. Örtliche Zuständigkeit/Parteifähigkeit/Prozessfähigkeit III. Statthafte Klageart IV. Feststellungsinteresse § 7 KSchG V. Klagefrist Problem der Begründetheit, da materielle Ausschlussfrist VI. Ergebnis Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage B. Begründetheit der Kündigungsschutzklage Die Kündigungsschutzklage ist begründet, wenn das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 28.10.2010 aufgelöst worden ist. I. Klagefrist gemäß §§ 4, 5, 7 KSchG II. Soziale Rechtfertigung der verhaltensbedingten Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG Die Wirksamkeit der Kündigung und damit ihre soziale Rechtfertigung nach dem KSchG hängen davon ab, ob einer der Kündigungsgründe des § 1 Abs. 2 KSchG vorliegt. 1. Vertragspflichtverletzung Haupt- oder Nebenpflichtverletzung a) Keine Verletzung von Hauptpflichten b) Verletzung von Nebenpflichten; hier: Ausübung einer Nebentätigkeit entgegen einem Nebentätigkeitsverbot aa) Grundsatz: Unwirksamkeit genereller Nebentätigkeitsverbote Berufsfreiheit, Art. 12 GG bb) Ausnahme: Zulässigkeit bei berechtigtem Interesse des Arbeitgebers Widerspruch Tätigkeit Krankenpfleger/Leichenbestatter – berechtigte Interessen des Arbeitgebers Berücksichtigung von Art. 12 GG

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Lösungsvorschlag Fall 15

c) Zwischenergebnis K hat durch die Ausübung seiner Nebentätigkeit als Leichenbestatter Nebenpflichten verletzt. 2. Negativprognose bzgl. weiterer Vertragsverletzungen 3. Verhältnismäßigkeit / Erfordernis einer Abmahnung a) Vorliegen einer Abmahnung Dokumentations- und Warnfunktion b) Problem der Verbindlichkeit bei Mehrfachabmahnungen c) Zwischenergebnis Wirksame Abmahnung und an sich geeignetes Verhalten 4. Interessenabwägung Erforderlichkeit? III. Ergebnis Die Klage ist nicht begründet.

Lösungsvorschlag Frage 1: Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage gemäß § 5 KSchG Das Arbeitsgericht wird dem Antrag des K auf Zulassung der verspäteten Klage stattgeben, wenn dieser gemäß § 5 KSchG zulässig und begründet ist. Anmerkung: Aufgrund der Fallfrage war vorliegend der Antrag nach § 5 KSchG vorweg und unabhängig von der Kündigungsschutzklage des K zu prüfen. Wäre lediglich nach dem Erfolg der Kündigungsschutzklage gefragt worden, wäre Folgendes zu beachten: Die Arbeitsgerichte hatten bis zum 31.3.2008 über den Antrag auf nachträgliche Zulassung durch separaten Beschluss zu entscheiden, der mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden konnte. Nach neuer Rechtslage entscheiden Arbeitsgerichte jedoch nunmehr über alle Anträge auf nachträgliche Zulassung stets durch Urteil. Insofern legt der seit dem 1.4.2008 geltende neugefasste § 5 Abs. 4 S. 1 KSchG fest, dass das Verfahren auf nachträgliche Zulassung mit dem Verfahren über die Klage zu verbinden ist. § 5 KSchG ist hierfür aufbautechnisch im Rahmen der Präklusionsfrist nach §§ 4, 7 KSchG, also in der Begründetheit, zu prüfen. Gemäß § 5 Abs. 4 S. 2 KSchG kann das Arbeitsgericht das Verfahren aber auch zunächst auf die Verhandlung und Entscheidung über den Zulassungsantrag beschränken und durch Zwischenurteil entscheiden. Die Konstellation des Zwischenurteils stellt somit einen weiteren denkbaren Klausuraufhänger für eine isolierte Prüfung des Zulassungsantrags nach § 5 KSchG dar.

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Fall 15 Lösungsvorschlag

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A. Zulässigkeit des Antrags I. Verbindung von Zulassungsantrag und Klageerhebung gemäß § 5 Abs. 2 S. 1 KSchG Die gemäß § 5 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 KSchG regelmäßig erforderliche Verbindung von Zulassungsantrag und Erhebung der Kündigungsschutzklage liegt vor. K hat am 26.11.2010 nicht nur Kündigungsschutzklage erhoben, sondern auch gleichzeitig einen Antrag auf nachträgliche Zulassung der Klage nach § 5 KSchG gestellt. II. Wahrung der Zwei-Wochen-Frist des § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG Nach § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG ist der Antrag auf nachträgliche Zulassung nur innerhalb von zwei Wochen nach Behebung des zur Verspätung der Klage führenden Hindernisses zulässig. Unabhängig von der Frage des genauen Zugangszeitpunkts der Kündigungserklärung der Petrus Krankenhaus GmbH und damit des Beginns der Frist des § 4 KSchG, stellte die Rückkehr des K aus dem Urlaub am 25.11.2010 jedenfalls die Behebung eines Hindernisses zur rechtzeitigen Klageerhebung dar. Da K bereits am 26.11.2010 Klage erhoben hat, ist die Zwei-WochenFrist des § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG somit in jedem Fall gewahrt. Der Antrag des K ist daher zulässig. B. Begründetheit des Antrags Das Arbeitsgericht wird dem Zulassungsantrag durch Beschluss gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 KSchG stattgeben, wenn K trotz Anwendung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert gewesen ist, seine Kündigungsschutzklage innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung zu erheben. I. Verhinderung rechtzeitiger Klageerhebung Zunächst muss K gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 KSchG zur rechtzeitigen Klageerhebung verhindert gewesen sein. Fraglich ist somit, ob die Klage überhaupt zu spät erhoben wurde. Gemäß § 4 S. 1 KSchG muss K die Sozialwidrigkeit einer Kündigung innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung geltend machen. Zweifel an der rechtzeitigen Klageerhebung des K könnten insofern bestehen, als er die Klage erst knapp vier Wochen nach Einwurf der Kündigung in seinen Briefkasten erhebt. Entscheidend ist somit, wann die Kündigung dem K gemäß § 130 Abs. 1 S. 1 BGB zugegangen ist. Die Kündigungserklärung ist zugegangen, sobald sich der Empfänger bei normaler Gestaltung seiner Verhältnisse Kenntnis von der Kündigung verschaffen kann und die Kenntnisnahme nach den Gepflogenheiten des Verkehrs von ihm erwartet werden kann. An sich ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn sich der Kündigungsbrief im Briefkasten des Empfängers befindet.1 Zweifel am Zugang des Kündigungsschreibens mit Einwurf in den Briefkasten könnten vorliegend jedoch insofern bestehen, als K sich im Urlaub befand und somit tatsächlich nicht die Möglichkeit einer Kenntnisnahme bestand. Allerdings entspricht es ständiger Rechtsprechung des BAG, dass ein an die Heimatanschrift des Arbeitnehmers gerichtetes Kündigungsschreiben diesem auch dann zugeht, wenn dem Arbeitgeber bekannt ist, dass der Arbeitnehmer während des 1 ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 620 BGB Rn. 53.

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Lösungsvorschlag Fall 15

Urlaubs verreist ist.2 Die Kündigung ist K somit am 29.10.2010 zugegangen und die Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG begann folglich am 30.10.2010, § 187 Abs. 1 BGB, zu laufen. Die Klageerhebung am 26.11.2010 erfolgte also nicht rechtzeitig. Somit war K an der rechtzeitigen Klageerhebung aufgrund seines Urlaubs verhindert. Anmerkung: Der Zugang des Kündigungsschreibens während des Urlaubs des Arbeitnehmers ist nicht ganz unstrittig. Vgl. für eine ausführliche Darstellung des Meinungsstands, wie sie in Klausuren von den Bearbeitern aber regelmäßig nicht verlangt werden wird, unten Fall 18 „Der low performer“ und Fall 19 „Produktionsdrosselung“.

II. Kein Verschulden des K Ferner darf K an der verspäteten Klageerhebung kein Verschulden treffen. Grundsätzlich kann vom Arbeitnehmer nicht verlangt werden, dass er Vorsorge dafür trifft, dass ihm die Post an seinen Urlaubsort nachgesandt wird. Daher ist für den Fall, dass eine Kündigung während des Urlaubs bei Ortsabwesenheit zugeht und der Arbeitnehmer erst bei seiner Rückkehr nach Ablauf der Drei-Wochen-Frist Kenntnis von ihr erlangt, die Klage nachträglich zuzulassen.3 Eine besondere Sorgfaltspflicht des K könnte jedoch insofern bestehen, als er angesichts der Geschehnisse, insbesondere des Zeitungsfotos, damit rechnen konnte, dass die Krankenhausleitung eine Kündigung ausspricht. Da K der eindringlichen Bitte der Krankenhausleitung nach Aufgabe der Nebentätigkeit als Leichenbestatter nicht nachgekommen ist, sondern sich selbiger nach außen offensichtlich widersetzte, bestand zumindest aus Sicht der Krankenhausleitung eine erkennbare Veranlassung, die Kündigung bereits vor Rückkehr des K aus dem Urlaub auszusprechen und somit – wie angedroht – unmittelbar auf das mehrmals gerügte Verhalten des K zu reagieren. Insofern war K nicht ohne Verschulden an einer rechtzeitigen Klageerhebung gehindert. Anmerkung: a.A. ebenso gut vertretbar; in diesem Sinne wohl LAG Köln 4.3.1996 LAGE § 5 KSchG Nr. 75. Eine derzeit aufgrund ihrer Aktualität besonders examensrelevante Frage dürfte sein, ob dem Arbeitnehmer das Verschulden seines Anwalts gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist, der die Einhaltung der Klagefrist vergessen hat. Lesen Sie hierzu bejahend die Entscheidung des BAG vom 11.12.20084 und die dortige instruktive Erläuterung des Meinungsstands.

C. Ergebnis Der Antrag des K auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage gemäß § 5 KSchG ist unbegründet. Folglich wird ihn das Arbeitsgericht zurückweisen.

2 BAG 16.3.1988 NZA 1988, 875; BAG 24.6.2004 NZA 2004, 1330; vgl. auch BAG 2.3.1989 NZA 1989, 635 zum Zugang einer Kündigung während Untersuchungshaft bzw. Auslieferungshaft im Ausland. 3 ErfK/KIEL § 5 KSchG Rn. 16. 4 BAG 11.12.2008 NZA 2009, 692, 693 f. m.w.N.; bestätigt durch BAG 28.5.2009 NZA 2009, 1052.

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Frage 2: Kündigungsschutzklage Der Kündigungsschutzklage des K wird stattgegeben, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage I. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit Indem K und die Petrus Krankenhaus GmbH über die Wirksamkeit der Kündigung vom 28.10.2010 und damit über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses streiten, ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG eröffnet. II. Örtliche Zuständigkeit/Parteifähigkeit/Prozessfähigkeit Von der örtlichen Zuständigkeit des angerufenen Arbeitsgerichts ist laut Sachverhalt auszugehen. K und die Petrus Krankenhaus GmbH sind gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 50 Abs. 1 ZPO, § 13 Abs. 1 GmbHG parteifähig. K ist zudem nach §§ 51, 52 ZPO prozessfähig; die Petrus Krankenhaus GmbH muss gemäß § 35 Abs. 1 GmbHG durch ihren Geschäftsführer vertreten werden. III. Statthafte Klageart Fraglich ist, welche die statthafte Klageart ist. Die Klageart bestimmt sich nach dem Klageantrag, der wie jede Prozesshandlung der Auslegung zugänglich ist. K begehrt Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 28.10.2010 aufgelöst worden ist. Damit hat er Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG als besondere Form der Feststellungsklage erhoben. Die Kündigungsschutzklage ist unabhängig von der Anwendbarkeit des KSchG statthafte Klageart. § 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG nimmt § 4 KSchG ausdrücklich von der Kleinbetriebsklausel aus. Anmerkung: Auch die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG ist nicht Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 4 KSchG, da sie allein Voraussetzung für die Geltendmachung der Sozialwidrigkeit ist, nicht hingegen für die Erhebung der Kündigungsschutzklage überhaupt.

IV. Feststellungsinteresse Grundsätzlich muss für eine Feststellungsklage ein besonderes Feststellungsinteresse bestehen (vgl. § 256 Abs. 1 ZPO). Bei der Kündigungsschutzklage als besondere Feststellungsklage folgt dieses schon daraus, dass ein gekündigter Arbeitnehmer innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG Klage erheben muss, um die soziale Rechtfertigung überprüfen zu lassen, da ansonsten nach der zwingenden Rechtsfolge des § 7 KSchG die soziale Rechtfertigung der Kündigung als feststehend gilt. Das erforderliche Feststellungsinteresse ist somit für die Klage des K gegeben. V. Klagefrist Zweifel an der Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage könnten insofern bestehen, als K diese erst am 26.11.2010, also knapp vier Wochen, nachdem das Kündigungsschreiben in seinen Briefkasten geworfen worden ist, erhoben hat. Die

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Kündigungsschutzklage unterliegt jedoch keiner prozessrechtlichen Klagefrist. Bei der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG handelt es sich vielmehr um eine materielle Ausschlussfrist, auf die erst in der Begründetheit einzugehen ist. VI. Ergebnis Da auch von einer ordnungsgemäßen Klageerhebung auszugehen ist, ist die Kündigungsschutzklage des K zulässig. B. Begründetheit der Kündigungsschutzklage Die Kündigungsschutzklage ist begründet, wenn das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 28.10.2010 aufgelöst worden ist. Dies ist der Fall, wenn die Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG nicht sozial gerechtfertigt und damit rechtsunwirksam ist. Die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes in betrieblicher und persönlicher Hinsicht gemäß §§ 1, 23 KSchG ist hier unproblematisch. I. Klagefrist gemäß §§ 4, 5, 7 KSchG Die Klage könnte bereits unbegründet sein, weil K die Klagefrist des § 4 KSchG nicht eingehalten hat. Eine Überprüfung der sozialen Rechtfertigung der Kündigung scheidet von Anfang aus, wenn K die Kündigungsschutzklage nicht innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhebt; dann gilt diese gemäß §§ 4 S. 1, 7 KSchG als sozial gerechtfertigt. Nach dem Sachverhalt ist jedoch zu unterstellen, dass dem Antrag des K auf nachträgliche Zulassung der verspätet erhobenen Klage nach § 5 KSchG stattgegeben worden ist. Mit der Zulassung ist erreicht, dass die materiell-rechtliche Fiktion des § 7 KSchG und damit die Präklusion des Einwands fehlender sozialer Rechtfertigung nicht eintritt.5 Die streitgegenständliche Kündigung ist mithin auf ihre soziale Rechtfertigung zu überprüfen. II. Soziale Rechtfertigung der verhaltensbedingten Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG Die Wirksamkeit der Kündigung und damit ihre soziale Rechtfertigung nach dem KSchG hängen davon ab, ob einer der Kündigungsgründe des § 1 Abs. 2 KSchG vorliegt. Vorliegend kommt nur eine Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen in Betracht. 1. Vertragspflichtverletzung Eine Kündigung, die auf Gründe in dem Verhalten eines Arbeitnehmers zurückzuführen ist, setzt zunächst voraus, dass der Arbeitnehmer, hier also K, gegen Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis verstößt. Dies können sowohl Haupt- als auch Nebenpflichten sein.

5 ErfK/KIEL § 5 KSchG Rn. 1.

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a) Keine Verletzung von Hauptpflichten Dass K gegen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis mit der Petrus Krankenhaus GmbH verstoßen hat, insbesondere gegen seine Arbeitspflicht, ist nicht ersichtlich. Dafür, dass sich die Tätigkeit des K als Leichenbestatter nachteilig auf Umfang und Qualität seiner Arbeitsleistung als Krankenpfleger bei der Beklagten auswirkt, fehlen jegliche Anhaltspunkte. Folglich scheidet eine Pflichtverletzung in Bezug auf Hauptleistungspflichten des K aus. b) Verletzung von Nebenpflichten; hier: Ausübung einer Nebentätigkeit entgegen einem Nebentätigkeitsverbot K könnte indes gegen seine arbeitsvertraglichen Nebenpflichten verstoßen, indem er eine Nebentätigkeit als Leichenbestatter ausübt.6 aa) Grundsatz: Unwirksamkeit genereller Nebentätigkeitsverbote Die Ausübung einer Nebentätigkeit ist allerdings grundsätzlich zulässig, soweit keine besonderen gesetzlichen, tariflichen oder einzelvertraglichen Beschränkungen bestehen. Dies folgt schon aus der wertsetzenden Bedeutung der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG sowie der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG.7 Die Ausübung einer Nebentätigkeit allein rechtfertigt daher insofern regelmäßig noch keine Kündigung. Auch die Arbeitsrichtlinien der Beklagten wahren im Übrigen diesen Grundsatz, da sie die Ausübung einer Nebentätigkeit als grundsätzlich zulässig qualifizieren. bb) Ausnahme: Zulässigkeit bei berechtigtem Interesse des Arbeitgebers Ausnahmsweise ist ein Nebentätigkeitsverbot dann zulässig, wenn das Verlangen nach Unterlassung einer Nebentätigkeit auf ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers zurückgeführt werden kann.8 In den Arbeitsrichtlinien des Krankenhauses wird neben der grundsätzlichen Zulässigkeit einer Nebenbeschäftigung lediglich die Ausübung einer solchen Nebentätigkeit für unzulässig erklärt, welche die Arbeitskraft der Mitarbeiter oder berechtigte Interessen des Krankenhauses erheblich beeinträchtigt. Da Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der Arbeitskraft des K als Krankenpfleger durch seine Nebentätigkeit als Leichenbestatter nicht vorliegen (s.o.), müssten durch die Nebentätigkeit des K somit erhebliche Interessen des Krankenhauses verletzt sein. Ausgangspunkt der diesbezüglichen Prüfung ist das Verständnis der „berechtigten Interessen“ als umfassender Begriff.9 Erfasst sind alle Umstände, die für den Bestand und die Verwirklichung der Ziele des Dienstgebers von Bedeutung sein können. Dazu zählen nicht nur die dienstlichen Belange, die innerbetrieblich für einen störungsfreien Ablauf der zu erledigenden Arbeitsaufgaben erforderlich sind. Berechtigte Interessen des Dienstgebers sind auch beeinträchtigt, wenn sich Nebentätigkeiten seiner Mitarbeiter negativ auf die Wahrnehmung des Dienstgebers in der Öffent-

6 Vgl. auch BAG 18.1.1996 DB 1996, 2182 zur Nebentätigkeit eines Orchestermusikers. 7 ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 724. 8 ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 725. 9 Vgl. BAG 28.2.2002 DB 2002, 1560.

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Lösungsvorschlag Fall 15

lichkeit auswirken. Ob solche Interessen des Dienstgebers gegenüber dem Interesse des Arbeitnehmers an der Ausübung der Nebentätigkeit den Vorrang genießen, ist nach den Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Grundrechts der Berufsfreiheit zu entscheiden.10 Von zentraler Bedeutung bei der Beantwortung der Frage, ob die Nebentätigkeit als Leichenbestatter berechtigte Interessen des Krankenhauses erheblich verletzt, ist, dass K als Krankenpfleger für die Erhaltung von Leben und Gesundheit der ihm anvertrauten Personen Sorge zu tragen hat. In Übereinstimmung mit der allgemeinen Aufgabe des Krankenhauses hat er individuell dazu beizutragen, die Genesung der Patienten zu fördern, alles zu unterlassen, was diesem Ziel abträglich sein könnte und somit auf die baldmöglichste Entlassung der in diesem Sinne erfolgreich Betreuten hinzuwirken. Dem entgegengesetzt knüpft die Tätigkeit als Leichenbestatter an die Erfolglosigkeit unternommener Genesungsbemühungen an. Die Tätigkeit zielt nur noch auf die würdevolle Behandlung eines Toten ab. Zwar kann – schon mangels entsprechender Anhaltspunkte – aus der bloßen Tätigkeit des K als Leichenbestatter keineswegs darauf geschlossen werden, dass er seine Aufgaben als Krankenpfleger nicht mehr ordnungsgemäß ausübt. Allerdings kommt es auf einen tatsächlichen Einfluss der Nebentätigkeit auf die Hauptbeschäftigung überhaupt nicht an, da bei offensichtlicher Schlechtleistung des K im Bereich der Hauptbeschäftigung diese selbst und nicht die Nebentätigkeit Anknüpfungspunkt für eine verhaltensbedingte Kündigung wäre. Entscheidend ist, dass die Tätigkeit als Leichenbestatter an sich bereits geeignet ist, bei Patienten gewisse Befürchtungen oder zumindest Irritationen hervorzurufen. Sie könnten den Eindruck gewinnen, von einem solchen Krankenpfleger nicht in der gebotenen Weise, also ausschließlich zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit, behandelt zu werden. Unerheblich in diesem Zusammenhang ist, dass keine Anhaltspunkte für eine diesbezügliche Besorgnis der Patienten bestehen. Entscheidend ist allein die mögliche negative Auswirkung der Nebentätigkeit auf die Darstellung des Krankenhauses in der Öffentlichkeit. Die Gefahr, dass der Genesungsverlauf bereits behandelter Patienten nachteilig beeinflusst wird oder sich potentielle Patienten gegen eine Behandlung in dem Krankenhaus entscheiden und dass der mögliche Anschein entsteht, dass sich Mitarbeiter des Krankenhauses Vorteile für ihre Nebentätigkeit verschaffen und Zielkonflikte entstehen, verletzt somit berechtigte Interessen des Krankenhauses erheblich. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Entscheidung über eine erhebliche Interessenverletzung in das Grundrecht des K aus Art. 12 Abs. 1 GG hineinwirkt. Dem Krankenhaus drohen durch die den Zielen eines Krankenhauses krass zuwiderlaufende Tätigkeit des K gravierende Nachteile. Die Beschränkung des K hingegen, nicht als Bestatter tätig sein zu dürfen, schränkt die Möglichkeit einer Nebenbeschäftigung nur unerheblich ein. Daraus folgt, dass sich die Beklagte auf berechtigte Interessen für das Verbot der Nebentätigkeit des K als Leichenbestatter stützen kann.

10 BAG 28.2.2002 DB 2002, 1560.

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c) Zwischenergebnis K hat durch die Ausübung seiner Nebentätigkeit als Leichenbestatter somit seine Nebenpflichten aus dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten verletzt. 2. Negativprognose Ferner müsste in Bezug auf weitere Vertragsverletzungen eine negative Prognose möglich sein. Da ein Arbeitnehmer durch den Ausspruch einer Kündigung nicht bestraft werden, sondern das Arbeitsverhältnis nur für die Zukunft aufgehoben werden soll, ist entscheidend, ob die Vertragsstörung so geartet war, dass daraus geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde seine Vertragspflichten auch zukünftig nicht ordnungsgemäß erfüllen. Eine diesbezügliche Besorgnis lässt sich im vorliegenden Fall schon im Hinblick auf den langjährigen Dauerzustand begründen, den K trotz mehrfacher Abmahnungen durch die Krankenhausleitung nicht behoben hat, indem er seine verbotene Nebentätigkeit fortsetzte. Die Abmahnung dient gerade als Prognosegrundlage in Ansehung einer Fortsetzung des vertragswidrigen Verhaltens.11 Folglich ist eine Negativprognose bei K gerechtfertigt. 3. Verhältnismäßigkeit/Erfordernis einer Abmahnung Fraglich ist, ob die Krankenhausleitung mit dem Ausspruch der verhaltensbedingten Kündigung dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ordnungsgemäß entsprochen hat. a) Vorliegen einer Abmahnung Allgemein anerkannt ist, dass ein Arbeitgeber, der einem Arbeitnehmer verhaltensbedingt kündigen möchte, zunächst eine oder mehrere (siehe dazu unter b) Kündigungsandrohungen in Form einer Abmahnung formulieren muss, in denen eine beanstandungsfreie Leistung für die Zukunft eingefordert (Dokumentationsfunktion) und zugleich darauf hingewiesen wird, dass bei Nichtänderung des Verhaltens im Sinne eines Wiederholungsfalls eine Kündigung erfolgen werde (Warnfunktion). Das Erfordernis einer Abmahnung kann auch dem Rechtsgedanken des § 314 Abs. 2 S. 1 BGB als allgemeine Regelung zur Kündigung von Dauerschuldverhältnissen entnommen werden. Diesem Erfordernis ist die Krankenhausleitung an sich in den Jahren 2006 – 2010 mehrfach nachgekommen, indem sie den K zur Einstellung seiner Nebentätigkeit unter Androhung etwaiger Konsequenzen für den Bestand seines Arbeitsverhältnisses aufgefordert hat. Auch der im Sachverhalt wörtlich wiedergegebenen Abmahnung ist deutlich zu entnehmen, dass die Krankenhausleitung die Nebentätigkeit des K nicht weiter zu dulden gewillt ist und notfalls entschlossen ist, K zu kündigen. b) Problem der Verbindlichkeit bei Mehrfachabmahnungen Allerdings könnte die Androhung entsprechender Konsequenzen durch den Umstand entkräftet worden sein, dass K über den Zeitraum insgesamt sechs Mal abgemahnt worden ist. So ist für den Fall, dass einem Arbeitnehmer mehrmals „ernsthafte Konsequenzen“ angedroht worden sind, zu bedenken, dass die Warn11 Vgl. zur Negativprognose bei Abmahnungen ErfK/OETKER § 1 KSchG Rn. 196.

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Lösungsvorschlag Fall 15

funktion einer Abmahnung erheblich dadurch abgeschwächt werden kann, dass ein Arbeitgeber bei ständig neuen bzw. fortgesetzten Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers stets nur mit einer Kündigung droht, ohne jedoch jemals tatsächliche arbeitsrechtliche Konsequenzen folgen zu lassen.12 Ein Mindestmaß an Verbindlichkeit einer Kündigungsandrohung ist vor dem Hintergrund ihrer Funktion jedoch erforderlich: Eine Abmahnung warnt einen Arbeitnehmer nur dann tatsächlich, wenn der Arbeitnehmer die Drohung, ihm werde bei der nächsten gleichartigen Pflichtverletzung gekündigt, auch ernst nehmen muss. Auch an der Aufrechterhaltung des Warncharakters der Abmahnungen durch die Krankenhausleitung könnten Zweifel insofern bestehen, als K insgesamt bereits fünf Mal abgemahnt worden ist und insoweit die „Glaubwürdigkeit“ der in der Abmahnung angedrohten Konsequenzen vom 15.10.2010 zumindest fragwürdig erscheinen könnte. Auf der anderen Seite erscheint es unbillig, einem Arbeitgeber, der besonders duldsam ist, die Möglichkeit einer Kündigung gänzlich abzusprechen. Im Grundsatz muss jedem Arbeitgeber das Recht, ein Arbeitsverhältnis bei berechtigtem Interesse kündigen zu können, erhalten bleiben. Daher bedeutet die mögliche Entwertung des Abmahnungscharakters durch den Ausspruch einer Vielzahl von Abmahnungen nicht, dass bei der Wiederholung bzw. Fortsetzung der Pflichtverletzung überhaupt nicht mehr wirksam gekündigt werden kann. Insbesondere bei geringfügigen Pflichtverletzungen ist ganz allgemein zu bedenken, dass sich der Arbeitgeber bei Arbeitnehmern mit einem hohen sozialen Besitzstand schnell in einem Konflikt zwischen der Notwendigkeit einer Mindestanzahl von Abmahnungen und der Gefahr eines Verbindlichkeitsverlusts derselben befinden kann.13 Zwar ist die fortgesetzte Ausübung der Nebentätigkeit sicherlich nicht als eine lediglich geringfügige Pflichtverletzung – etwa gleich dem Zuspätkommen eines Arbeitnehmers – zu bezeichnen. Grundsätzlich hat sich jedoch die Einschränkung herausgebildet, dass eine Vielzahl ausgesprochener Abmahnungen der Wirksamkeit einer Kündigung jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn die letzte Abmahnung vor Ausspruch der Kündigung besonders eindringlich gestaltet war.14 Die besondere Deutlichkeit bzw. Vehemenz der letzten Abmahnung lässt insofern die Verbindlichkeit der zuvor erklärten Abmahnungen wieder aufleben. Demnach müsste auch die Krankenhausleitung dem K zu erkennen gegeben haben, dass ihm bei weiterer Ausübung der Nebentätigkeit gekündigt wird. Die spezielle Vehemenz der Aufforderung leitet sich bereits aus der Überschrift „letztmalige Abmahnung“ ab. Zudem nimmt die Krankenhausleitung in der Abmahnung selbst auf die zurückliegenden Abmahnungen Bezug und stellt zugleich klar, dass K nunmehr eine letzte Chance zugestanden wird, seine Vertragsverletzung einzustellen. Der Voraussetzung einer besonderen Verbindlich- bzw. Eindeutigkeit der letzten Abmahnung ist somit entsprochen worden. Der Umstand, dass die Krankenhausleitung in der Vergangenheit mehrfach Abmahnungen ausgesprochen hat, ohne K tatsächlich zu kündigen, steht der Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung daher nicht entgegen.

12 BAG 15.11.2001 AP KSchG 1969 § 1 Abmahnung Nr. 4. 13 Vgl. hierzu BAG 16.9.2004 AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 50. 14 BAG 15.11.2001 AP KSchG 1969 § 1 Abmahnung Nr. 4; BAG 16.9.2004 NZA 2005, 459, 460 f.

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„Morbider Krankenpfleger“

c) Zwischenergebnis K ist von der Petrus Krankenhaus GmbH somit wirksam abgemahnt worden. Infolgedessen liegt bei K an sich ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund vor. 4. Interessenabwägung Fraglich ist, ob es nach der Bejahung des Kündigungsgrundes einer weiteren Gewichtung der Vertragsinteressen bedarf. Der Wortlaut des § 1 Abs. 2 KSchG schreibt eine solche im Unterschied zu § 626 Abs. 1 BGB jedenfalls nicht vor. Soweit eine weitere Interessenabwägung dennoch insbesondere von der Rechtsprechung für notwendig erachtet wird und gefragt wird, ob ein Tatbestand vorliegt, der bei gewissenhafter Abwägung der beiderseitigen Interessen einen verständig urteilenden Arbeitgeber zur Kündigung veranlassen würde,15 überzeugt dies nicht. Speziell im vorliegenden Fall wird deutlich, dass eine entsprechende Interessenabwägung bereits tatbestandsimmanent vorzunehmen ist. Danach ist die Ausübung einer Nebentätigkeit K zwar grundsätzlich gestattet, findet jedoch ihre Grenze dort, wo berechtigte Interessen der Krankenhausleitung erheblich beeinträchtigt sind. III. Ergebnis Die Kündigung ist aus Gründen, die im Verhalten des K liegen, gerechtfertigt. Indem die Krankenhausleitung K zudem letztmalig abgemahnt hat, ist auch dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprochen. Die Kündigung ist wirksam und die Kündigungsschutzklage daher nicht begründet.

15 Vgl. etwa BAG 22.7.1982 AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 5; vgl. auch BAG 15.11.2001 AP KSchG 1969 § 1 Abmahnung Nr. 4.

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„Pünktliche Verspätungen“

Falldarstellung

Fall 16

Fall 16: „Pünktliche Verspätungen“ Falldarstellung Ausgangsfall Dem jetzt 26-jährigen F, der seit Beginn des Jahres 2005 als Dreher bei der A-GmbH, einem Betrieb mit 150 Arbeitnehmern, beschäftigt ist, fällt das allmorgendliche Aufstehen schwer. Er kommt daher gelegentlich zu spät zur Arbeit, obwohl sein Vorgesetzter besonderen Wert auf pünktliches Erscheinen legt. Als die dunkle Jahreszeit beginnt – im Oktober und November 2005 –, häufen sich diese Vorkommnisse. In dieser Zeit erscheint F drei- bis viermal pro Woche fünf bis zehn Minuten nach Arbeitsbeginn auf dem Betriebsgelände. Mit Schreiben an den F vom 8.12.2005 führt die Personalstelle diese „schwerwiegenden Verstöße gegen die Arbeitspflicht“ im Einzelnen auf. Sie fordert von F die strikte Einhaltung der Arbeitszeiten und droht im Falle der weiteren Unpünktlichkeit mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Eine Abschrift des Schreibens wird zur Personalakte genommen. F, der um seinen Arbeitsplatz bangt, trifft Vorkehrungen, morgens rechtzeitig aufzustehen. Entsprechend gelingt es ihm, in der Folgezeit seine Arbeit pünktlich aufzunehmen. Fünf Jahre später, im Herbst 2010, kommt F erneut häufig zwischen sieben und zwölf Minuten zu spät zur Arbeit. Mitte November fasst der Geschäftsführer der A-GmbH, B, angesichts der Vorkommnisse den Entschluss, F zu kündigen. Vorher unterrichtet er den Betriebsrat. Dieser stimmt der Kündigung nach Beratung und Anhörung des F am 23.11.2010 zu. B übergibt dem F noch am selben Tag ein Schreiben, in dem er ihm fristgemäß kündigt und die Gründe für diese Kündigung mitteilt. F erhebt am 10.12.2010 Klage vor dem örtlich zuständigen Arbeitsgericht auf Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der A-GmbH vom 23.11.2010 nicht aufgelöst wurde. Frage: Hat die Klage Aussicht auf Erfolg?

Abwandlung Wie sich im November 2010 herausstellt, hatte F einen Arbeitskollegen damit beauftragt, die Stechkarte des F während des Urlaubs seines Vorgesetzten in der ersten Oktoberwoche morgens mitzubetätigen, so dass sein verspäteter Arbeitsantritt nicht bemerkt wurde. Nun kündigt B dem F wiederum am 23.11.2010 nach Anhörung des Betriebsrats. Frage: Sind die Erfolgsaussichten der Klage in diesem Fall anders zu beurteilen?

Ü

Rechtsfragen: –

Voraussetzungen einer verhaltensbedingten Kündigung, insbesondere schuldhafte Vertragspflichtverletzung



Ultima-Ratio-Prinzip

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Fall 16 Lösungsskizze

„Pünktliche Verspätungen“

Lösungsskizze Ausgangsfall A. Zulässigkeit der Klage I. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG) II. Instanzielle Zuständigkeit (§ 8 Abs. 1 ArbGG) III. Örtliche Zuständigkeit (§§ 46 Abs. 2 ArbGG, 17 Abs. 1, 29, 35 ZPO) IV. Parteifähigkeit (§§ 46 Abs. 2 ArbGG, 50 Abs. 1 ZPO) Rechtsfähigkeit des F und der A-GmbH (§ 13 Abs. 1 GmbHG) V. Prozessfähigkeit (§§ 46 Abs. 2 ArbGG, 52 ZPO): Geschäftsfähigkeit des F Vertretung der A-GmbH durch ihren Geschäftsführer (§ 35 Abs. 1 GmbHG) VI. Postulationsfähigkeit: Kein Anwaltszwang vor dem Arbeitsgericht (§ 11 ArbGG) VII. Klageart: Kündigungsschutzklage i.S.d. § 4 KSchG VIII. Feststellungsinteresse IX. Form (§§ 46 Abs. 2 ArbGG, 253 ZPO) X. Zwischenergebnis: Klage zulässig B. Begründetheit der Klage I. Wirksame Kündigungserklärung der A-GmbH (§§ 104 ff. BGB) II. Einhalten der Klagefrist, § 4 KSchG III. Anhörung des Betriebsrats (§ 102 BetrVG) IV. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes (§§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG) 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung: Voraussetzungen der verhaltensbedingten Kündigung? a) Schuldhafte Verletzung einer Vertragspflicht Arbeitnehmer muss seine Arbeit pünktlich aufnehmen; diese Pflicht hat F verletzt Mit verspätetem Arbeitsantritt gehen regelmäßig Störungen des Betriebsablaufs einher Verschulden des F i.S.d. § 276 BGB gegeben (Fahrlässigkeit) b) Fehlen milderer Mittel (Ultima-Ratio-Prinzip) Arbeitgeber muss zunächst Abmahnung aussprechen

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„Pünktliche Verspätungen“

Lösungsskizze Fall 16

A-GmbH hat 2005 gegenüber F Abmahnung wegen morgendlicher Verspätungen ausgesprochen Abmahnung wegen Zeitablaufs unwirksam, da Warnfunktion (Wiederholung des vertragswidrigen Verhaltens gefährdet unmittelbar den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses) nicht mehr präsent A-GmbH hätte erneute Abmahnung aussprechen müssen c) Zwischenergebnis: Kündigung nicht sozial gerechtfertigt C. Ergebnis: Klage zulässig und begründet

Abwandlung A. Zulässigkeit der Klage B. Begründetheit der Klage Wirksame Kündigungserklärung Betriebsratsanhörung Allgemeiner Kündigungsschutz aus § 1 KSchG (KSchG anwendbar und Klagefrist eingehalten) I. Soziale Rechtfertigung der Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG Voraussetzungen der verhaltensbedingten Kündigung? 1. Schuldhafte Verletzung einer Vertragspflicht Verpflichtung des Arbeitnehmers, seine Stechkarte selbst bei tatsächlichem Arbeitsbeginn zu betätigen Störung im Vertrauensbereich Verschulden des F i.S.d. § 276 BGB gegeben (Vorsatz) 2. Fehlen milderer Mittel (Ultima-Ratio-Prinzip): Arbeitgeber muss zunächst Abmahnung aussprechen Abmahnung bei Störungen im Vertrauensbereich nur erforderlich, wenn Arbeitnehmer davon ausgehen durfte, dass sein Verhalten vertragsgemäß sei bzw. nicht den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses akut gefährde Abmahnung hier wegen Schwere des Vertrauensbruchs entbehrlich 3. Interessenabwägung Zugunsten des F zu berücksichtigen: Arbeitsverhältnis bestand fünf Jahre ohne Störungen im Vertrauensbereich Zu Lasten des F zu berücksichtigen: Vorsätzliche, wiederholte Pflichtverletzung, die gerade unter Ausnutzung der Abwesenheit des Vorgesetzten erfolgte Kündigungsinteresse der A-GmbH überwiegt gegenüber dem Bestandsinteresse des F 4. Zwischenergebnis: Kündigung sozial gerechtfertigt II. Einhaltung der Kündigungsfrist (§ 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB) C. Ergebnis: Klage zulässig, aber unbegründet

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Fall 16 Lösungsvorschlag

„Pünktliche Verspätungen“

Lösungsvorschlag Ausgangsfall Die Klage des F hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit der Klage Die Klage des F ist zulässig, wenn die folgenden Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen: I. Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit Die Zulässigkeit der Klage setzt zunächst voraus, dass der Rechtsstreit in die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit fällt. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG sind die Gerichte für Arbeitssachen für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses zuständig. F ist in die Arbeitsorganisation der A-GmbH eingebunden, da er hinsichtlich Arbeitsort, -zeit und -inhalt an die Weisungen der A-GmbH gebunden ist. Da F mithin zur Leistung von entgeltlicher Arbeit im Dienste der A-GmbH verpflichtet ist, ist er Arbeitnehmer i.S.d. § 5 ArbGG. Die Klage des F über den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses mit der A-GmbH fällt daher in die Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit. II. Instanzielle Zuständigkeit F hat die Klage beim Arbeitsgericht erhoben. Gemäß § 8 Abs. 1 ArbGG sind die Arbeitsgerichte für Verfahren im ersten Rechtszug zuständig, so dass die instanzielle Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gegeben ist. III. Örtliche Zuständigkeit F hat die Klage beim örtlich zuständigen Arbeitsgericht erhoben. Über § 46 Abs. 2 ArbGG gelten – mit Ausnahme der Regelung über den besonderen Gerichtsstand nach § 48 Abs. 1a ArbGG – für die örtliche Zuständigkeit die Bestimmungen der ZPO hinsichtlich des Gerichtsstandes. Gemäß § 17 Abs. 1 ZPO wird der allgemeine Gerichtsstand einer Gesellschaft durch ihren Sitz bestimmt. Für eine gegen die A-GmbH gerichtete Klage ist danach das Gericht zuständig, in dessen Einzugsbereich die A-GmbH ihren Sitz hat. Gemäß § 29 ZPO ist für Streitigkeiten über das Bestehen eines Vertragsverhältnisses das Gericht des Ortes zuständig, an dem die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist. Danach wäre das Gericht zuständig, in dessen Einzugsbereich der Betrieb der A-GmbH liegt. Sofern der allgemeine Gerichtsstand gemäß § 13 ZPO und der besondere Gerichtsstand gemäß § 29 ZPO auseinanderfallen, hat der Kläger gemäß § 35 ZPO die Wahl, welches Gericht er anrufen will. IV. Parteifähigkeit Gemäß §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 50 Abs. 1 ZPO ist parteifähig, wer rechtsfähig ist. Sowohl F als natürliche Person als auch die A-GmbH (vgl. § 13 Abs. 1 GmbHG) sind rechtsfähig und damit parteifähig.

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„Pünktliche Verspätungen“

Lösungsvorschlag Fall 16

V. Prozessfähigkeit Gemäß §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 52 ZPO richtet sich die Prozessfähigkeit natürlicher Personen nach ihrer Geschäftsfähigkeit. Diese steht bei F außer Zweifel. Gemäß §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 51 Abs. 1 ZPO, 35 Abs. 1 GmbHG muss die A-GmbH im Prozess durch ihren Geschäftsführer vertreten werden. VI. Postulationsfähigkeit Gemäß § 11 ArbGG besteht in einem erstinstanzlichen Verfahren kein Anwaltszwang. VII. Klageart Fraglich ist, was die statthafte Klageart ist. Die Klageart bestimmt sich nach dem Klageantrag, der wie jede Prozesshandlung der Auslegung zugänglich ist. K begehrt Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 23.11.2010 aufgelöst worden ist. Damit hat er Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG als besondere Form der Feststellungsklage erhoben. Die Kündigungsschutzklage ist unabhängig von der Anwendbarkeit des KSchG statthafte Klageart, § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG nimmt § 4 KSchG ausdrücklich von der Kleinbetriebsklausel aus. Anmerkung: Auch die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG ist nicht Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 4 KSchG, da sie allein Voraussetzung für die Geltendmachung der Sozialwidrigkeit ist, nicht hingegen für die Erhebung der Kündigungsschutzklage überhaupt.

VIII. Feststellungsinteresse Grundsätzlich muss für eine Feststellungsklage ein besonderes Feststellungsinteresse bestehen (vgl. § 256 Abs. 1 ZPO). Bei der Kündigungsschutzklage als besonderer Feststellungsklage folgt dieses schon daraus, dass ein gekündigter Arbeitnehmer innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG Klage erheben muss, um die soziale Rechtfertigung überprüfen zu lassen, da ansonsten nach der zwingenden Rechtsfolge des § 7 KSchG die soziale Rechtfertigung der Kündigung als feststehend gilt. Das erforderliche Feststellungsinteresse ist somit für die Klage des K gegeben. IX. Ordnungsgemäße Klageerhebung Die Form, insbesondere der notwendige Inhalt der beim Arbeitsgericht zur Klageerhebung einzureichenden Klageschrift, ergibt sich aus §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 253 ZPO. Es ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. X. Zwischenergebnis Die von F beim Arbeitsgericht erhobene Kündigungsschutzklage ist zulässig.

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Fall 16 Lösungsvorschlag

„Pünktliche Verspätungen“

B. Begründetheit der Klage Die Klage des F ist begründet, wenn die angegriffene Kündigung nicht den zwingenden Rechtsvorschriften über die Wirksamkeit und ggf. die soziale Rechtfertigung einer Kündigung entspricht. I. Wirksame Kündigungserklärung der A-GmbH Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen. Zweifel an der Wirksamkeit der Willenserklärung bestehen im vorliegenden Fall nicht. Eine besondere Form der Kündigung ist gemäß § 623 BGB vorgeschrieben. Die Schriftform ist vorliegend gewahrt (vgl. §§ 125, 126 BGB). Von seinem Inhalt war das Schreiben der A-GmbH hinreichend bestimmt, so dass für F der Wille der A-GmbH, das Vertragsverhältnis mit Wirkung für die Zukunft zu beenden, zweifelsfrei erkennbar war. Verstöße gegen die §§ 134, 138 BGB sind nicht ersichtlich. B ist als Geschäftsführer der A-GmbH zu deren Vertretung berechtigt (vgl. § 35 Abs. 1 GmbHG), so dass die von ihm abgegebene Erklärung für die A-GmbH wirkt (vgl. § 164 Abs. 1 BGB). Die Kündigung ist dem F auch zugegangen i.S.d. § 130 BGB. II. Einhalten der Klagefrist, § 4 KSchG Gemäß § 4 S. 1 KSchG muss eine Kündigungsschutzklage binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhoben werden. Nach Ablauf dieser Frist gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an wirksam. Die Kündigung ist dem F am 23.11.2010 zugegangen, so dass die Klagefrist gemäß § 187 Abs. 1 BGB am 24.11.2010 um 0 Uhr beginnt. Sie endet daher gemäß § 188 Abs. 2 BGB am 14.12.2010 um 24 Uhr. Da F am 10.12.2010, seine Klage erhoben hat, ist die DreiWochen-Frist gemäß § 4 S. 1 KSchG gewahrt. F kann sich daher noch auf eine eventuelle Sozialwidrigkeit der Kündigung berufen. III. Anhörung des Betriebsrats Gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG ist der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung verpflichtet, dem Betriebsrat die Gründe für die beabsichtigte Kündigung mitzuteilen und ihm Gelegenheit zur Äußerung zu geben. B hat als Vertreter der A-GmbH den Betriebsrat unterrichtet. Dieser hat nach Beratung und Anhörung des F der Kündigung zugestimmt. Daher ist die Kündigung des F nicht wegen fehlender Betriebsratsanhörung gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam. IV. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG Die Kündigung gegenüber F könnte gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes Das Kündigungsschutzgesetz ist gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG anwendbar, wenn der Betroffene als Arbeitnehmer in einem Betrieb beschäftigt ist, dem in

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„Pünktliche Verspätungen“

Lösungsvorschlag Fall 16

der Regel mehr als fünf (bis 31.12.2003) bzw. mehr als zehn (ab 1.1.2004) Arbeitnehmer angehören, und das Arbeitsverhältnis bereits mindestens sechs Monate besteht. Wie bereits festgestellt, ist F Arbeitnehmer. Da die A-GmbH 150 Arbeitnehmer beschäftigt, weist der Beschäftigungsbetrieb die für beide Schwellenwerte nötige Betriebsgröße auf. F ist bereits seit 2005 und damit seit mehr als sechs Monaten für die A-GmbH tätig. Daher ist das Kündigungsschutzgesetz im vorliegenden Fall anwendbar. 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung Nach § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Im vorliegenden Fall begründet die A-GmbH die Kündigung mit dem wiederholten, verspäteten Arbeitsantritt des F. Da es sich hierbei um ein steuerbares Verhalten des F handelt, ist das Institut der verhaltensbedingten Kündigung einschlägig. Eine verhaltensbedingte Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG ist sozial gerechtfertigt, wenn ein Arbeitnehmer schuldhaft eine Vertragspflicht verletzt, dies zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers führt, sich diese Beeinträchtigung aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft fortsetzen wird (Negativprognose) und nicht durch mildere Mittel, insbesondere durch eine Abmahnung, abgewendet werden kann (Ultima-Ratio-Prinzip) und das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes überwiegt (Interessenabwägung). a) Schuldhafte Verletzung einer Vertragspflicht Sofern zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer nichts Abweichendes vereinbart ist, hat der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung grundsätzlich innerhalb der betrieblichen Arbeitszeit zu erbringen. Der Arbeitnehmer ist daher verpflichtet, seine Arbeit pünktlich mit Beginn der betrieblichen Arbeitszeit aufzunehmen. Diese Verpflichtung hat F verletzt, indem er im Herbst 2010 häufig zwischen 7 und 12 Minuten zu spät gekommen ist und dadurch seine Arbeitsleistung erst nach Beginn der betrieblichen Arbeitszeit aufgenommen hat. Mit einer derartigen Verletzung der Arbeitspflicht geht regelmäßig eine Störung des Betriebsablaufs einher, denn ansonsten müsste angenommen werden, dass der Arbeitnehmer in der fraglichen Zeit überflüssig und sein Einsatz für den Arbeitgeber nicht von Nutzen wäre. Daher spricht eine Vermutung dafür, dass auch die Verspätungen des F zu entsprechenden Störungen geführt haben. Mithin obläge dem F die Beweislast dafür, dass derartige Störungen ausnahmsweise nicht aufgetreten sind. Anhaltspunkte, auf die F einen entsprechenden Vortrag stützen könnte, sind jedoch nicht ersichtlich. Eine Verletzung der Arbeitspflicht rechtfertigt nur dann eine Kündigung, wenn den Arbeitnehmer ein Verschulden an dem vertragswidrigen Verhalten trifft. Als Verschulden ist gemäß § 276 Abs. 1 S. 1 BGB sowohl vorsätzliches als auch fahrlässiges Handeln zu betrachten. Hinweise für ein vorsätzliches Zuspätkommen des A liegen nicht vor, so dass lediglich Fahrlässigkeit in Betracht kommt. Fahrlässig handelt gemäß § 276 Abs. 1 S. 2 BGB, wer die im Verkehr objektiv erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Die Verspätungen des F beruhen darauf, dass ihm

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„Pünktliche Verspätungen“

– insbesondere im Winter – das frühe Aufstehen schwer fällt. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Schwierigkeiten unabänderlich wären, wie dies beispielsweise bei krankhaften Schlafstörungen anzunehmen wäre. Vielmehr dürfte es dadurch zu den Verspätungen kommen, dass F nicht in hinreichendem Maße für ein rechtzeitiges Aufstehen Vorsorge trifft, was beispielsweise durch zeitigeres Zubettgehen am Vorabend oder durch ein besseres Absichern des Aufweckens am Morgen erfolgen könnte. Indem F derartige Vorkehrungen unterlässt, obwohl er um seine „morgendlichen Startschwierigkeiten“ weiß, lässt er die im Verkehr objektiv erforderliche Sorgfalt außer Acht. Die Verletzung der Arbeitspflicht durch F ist mithin fahrlässig i.S.d. § 276 Abs. 1 S. 2 BGB. b) Fehlen milderer Mittel (Ultima-Ratio-Prinzip) Eine verhaltensbedingte Kündigung ist jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn dem Interesse des Arbeitgebers an einem Ende des vertragswidrigen Verhaltens nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Dies ergibt sich aus dem Ultima-Ratio-Prinzip, das nicht nur in § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG seinen Niederschlag gefunden hat, sondern auch darüber hinaus als Grundprinzip des allgemeinen Kündigungsschutzes zu beachten ist. Zu den milderen Mitteln, die der Arbeitgeber vor Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung ergreifen muss, gehört insbesondere die Erteilung einer Abmahnung. Das Erfordernis einer Abmahnung kann auch dem Rechtsgedanken des § 314 Abs. 2 S. 1 BGB als allgemeine Regelung zur Kündigung von Dauerschuldverhältnissen entnommen werden. Erst wenn der Arbeitnehmer das vertragswidrige Verhalten trotz einer ordnungsgemäßen Abmahnung nicht unterlässt, ist eine Kündigung unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit zulässig. Vor Ausspruch der Kündigung hat die A-GmbH gegenüber F eine ordnungsgemäße Abmahnung wegen wiederholter Verspätungen ausgesprochen. Allerdings ist diese Abmahnung im Jahre 2005 erfolgt. Fraglich ist daher, ob sie im Zeitpunkt der Kündigung noch wirksam ist. In diesem Zusammenhang ist der Zweck der Abmahnung zu berücksichtigen: Diese dient nicht nur dazu, ein genau zu bezeichnendes Fehlverhalten zu rügen, sondern es muss für den Arbeitnehmer auch erkennbar werden, dass bei einer Wiederholung dieses Verhaltens der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses unmittelbar in Gefahr ist. Eine Abmahnung, die längere Zeit vor dem kündigungsrelevanten Verhalten ausgesprochen ist, ist nur dann noch wirksam, wenn sie im Zeitpunkt der Kündigung die angestrebte Warnfunktion noch erfüllt. Eine Regelausschlussfrist, nach deren Ablauf die Warnfunktion und damit die Wirksamkeit der Abmahnung erlischt, gibt es nicht. Vielmehr ist anhand der Umstände des Einzelfalles zu ermitteln, ob dem Arbeitnehmer noch bewusst war, dass eine Wiederholung des gerügten Verhaltens das Arbeitsverhältnis akut gefährdet. Mit anderen Worten ist danach zu fragen, ob der Arbeitnehmer nach § 242 BGB davon ausgehen durfte, dass er wegen seiner Verfehlung nicht mehr belangt wird.1 Im vorliegenden Fall wird die Warnfunktion durch die Abmahnung, die vor fünf Jahren ausgesprochen wurde, nicht mehr erfüllt. Verspätungen, wie sie in der damaligen Abmahnung gerügt wurden, sind zwischen dem Ausspruch der Abmahnung im Dezember 2005 und dem Herbst des Jahres 2010 nicht mehr vorgekommen. Zwar durfte F 1 JUNKER, Arbeitsrecht, Rn. 406.

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„Pünktliche Verspätungen“

Lösungsvorschlag Fall 16

nicht davon ausgehen, dass die A-GmbH nun sein häufiges Zuspätkommen sanktionslos hinnehmen würde, doch musste er nicht mehr damit rechnen, dass durch erneute, wiederholte Verspätungen der Bestand des Arbeitsverhältnisses akut gefährdet sei. Dies gilt umso mehr, als das Arbeitsverhältnis im Zeitpunkt der Abmahnung erst einige Monate bestand. Erfahrungsgemäß spricht ein Arbeitgeber gegenüber einem Arbeitnehmer, der dem Betrieb noch nicht lange angehört, schneller eine Kündigung aus als gegenüber einem Arbeitnehmer, der bereits seit mehreren Jahren zur Zufriedenheit des Arbeitgebers tätig ist. Mithin ist die Abmahnung vom 8.12.2005 durch Zeitablauf wirkungslos geworden. Die A-GmbH wäre mithin verpflichtet gewesen, gegenüber F zunächst eine erneute Abmahnung auszusprechen. Da sie dies unterlassen hat, verstößt die Kündigung des F gegen das Ultima-Ratio-Prinzip Anmerkung: a.A. mit entsprechender Begründung vertretbar.

c) Zwischenergebnis Mangels wirksamer Abmahnung ist die Kündigung nicht sozial gerechtfertigt i.S.d. § 1 KSchG. C. Ergebnis Die Klage des F ist daher nicht nur zulässig, sondern auch begründet. Das Arbeitsgericht wird feststellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen F und der A-GmbH durch die Kündigung vom 23.11.2010 nicht aufgelöst worden ist.

Abwandlung A. Zulässigkeit der Klage Die Klage ist, ebenso wie im Ausgangsfall, zulässig. B. Begründetheit der Klage Die Klage des F ist begründet, wenn die angegriffene Kündigung nicht den zwingenden Rechtsvorschriften über die Wirksamkeit und ggf. die soziale Rechtfertigung einer Kündigung entspricht. Die Kündigungserklärung ist, ebenso wie im Ausgangsfall, wirksam, da die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen der §§ 104 ff. BGB vorliegen. Auch der Betriebsrat wurde gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG angehört. Eine vom Ausgangsfall abweichende Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage könnte sich jedoch hinsichtlich der sozialen Rechtfertigung der Kündigung ergeben. I. Soziale Rechtfertigung der Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG Im vorliegenden Fall begründet die A-GmbH die Kündigung nicht mit dem wiederholten, verspäteten Arbeitsantritt des F, welcher mangels Abmahnung nicht zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung geeignet ist. Die A-GmbH stützt die Kündigung vielmehr auf die Tatsache, dass F während des Urlaubs seines Vorgesetzten seine Stechkarte durch einen Arbeitskollegen hat betätigen lassen und

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Fall 16 Lösungsvorschlag

„Pünktliche Verspätungen“

somit seinen Arbeitgeber über den wahren Zeitpunkt seines (verspäteten) Arbeitsbeginns getäuscht hat. Einschlägig ist hier wiederum das Institut der verhaltensbedingten Kündigung. Eine verhaltensbedingte Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG ist sozial gerechtfertigt, wenn ein Arbeitnehmer schuldhaft eine Vertragspflicht verletzt, dies zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers führt, sich diese Beeinträchtigung aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft fortsetzen wird (Negativprognose) und nicht durch mildere Mittel, insbesondere durch eine Abmahnung, abgewendet werden kann (Ultima-Ratio-Prinzip) und das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes überwiegt (Interessenabwägung). 1. Schuldhafte Verletzung einer Vertragspflicht Zweifellos ist der Arbeitnehmer verpflichtet, seine Stechkarte selbst und in der Weise zu betätigen, dass der auf der Karte angegebene Arbeitsbeginn mit dem tatsächlichen Arbeitsbeginn übereinstimmt. Diese Pflicht hat F vorsätzlich und damit schuldhaft i.S.d. § 276 Abs. 1 BGB verletzt. Durch die Pflichtverletzung des F ist zwar keine Störung im Betriebsablauf eingetreten, doch hat sie das Vertrauensverhältnis zwischen F und der A-GmbH beeinträchtigt. Aufgrund der Manipulation der Stechkarte wird die A-GmbH nun den Angaben des F im Hinblick auf ihren Wahrheitsgehalt ein begründetes Misstrauen entgegenbringen. Ein grundsätzliches Vertrauen des Arbeitgebers in die Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit seiner Mitarbeiter ist jedoch für die Zusammenarbeit unerlässlich, da eine vollständige Kontrolle des Arbeitnehmers weder wünschenswert noch möglich ist. Mithin ist auch eine Vertragsverletzung, die zu einer Störung im Vertrauensbereich führt, grundsätzlich geeignet, eine ordentliche, verhaltensbedingte Kündigung zu rechtfertigen. 2. Fehlen milderer Mittel (Ultima-Ratio-Prinzip) Eine verhaltensbedingte Kündigung ist jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn dem Interesse des Arbeitgebers an einem Ende des vertragswidrigen Verhaltens nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Anerkannt ist, dass der Arbeitgeber unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit vor einer Kündigung eine Abmahnung aussprechen muss, sofern sich die Kündigung auf eine Störung im Leistungsbereich stützt. Fraglich ist jedoch, inwieweit eine vorherige Abmahnung auch bei einer Vertragsverletzung erforderlich ist, die zu einer Störung im Vertrauensbereich geführt hat. Diese Frage ist vor dem Hintergrund der Funktion einer Abmahnung zu beantworten. Diese erfüllt neben der Rüge eines bestimmten, genau bezeichneten Fehlverhaltens eine Warnfunktion dergestalt, dass für den Arbeitnehmer erkennbar werden muss, dass bei einer Wiederholung des gerügten Verhaltens der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses in Gefahr ist. Eine Abmahnung ist mithin entbehrlich, da ungeeignet, wenn sie den verfolgten Zweck nicht erfüllen kann. Dies ist in analoger Anwendung des § 323 Abs. 2 BGB, auf den die den Rechtsgedanken der Abmahnung enthaltende Vorschrift des § 314 Abs. 2 BGB in ihrem

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Lösungsvorschlag Fall 16

Satz 2 verweist,2 insbesondere in zwei Fällen anzunehmen, (bei denen regelmäßig auch der Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung gemäß § 626 BGB zulässig wäre): Zum einen läuft eine Abmahnung dann leer, wenn eine Verhaltensänderung des Arbeitnehmers objektiv nicht zu erwarten ist, da der Arbeitnehmer erkennbar nicht gewillt ist, sich vertragsgerecht zu verhalten. Zum anderen ist eine Abmahnung überflüssig, da ungeeignet, wenn das gerügte Fehlverhalten so schwerwiegend ist, dass die daraus folgende Negativprognose auch durch ein zukünftiges vertragsgerechtes Verhalten nicht mehr entkräftet werden kann. Unter diesem Gesichtspunkt hat das BAG in seiner älteren Rechtsprechung eine Abmahnung bei Vertragsverletzungen, die zu Störungen im Vertrauensbereich führen, grundsätzlich für entbehrlich gehalten. Seit Beginn der 1980er Jahre hat das BAG seine Ansicht dahingehend modifiziert, dass bei Störungen im Vertrauensbereich eine Abmahnung jedenfalls dann erforderlich sei, wenn der Arbeitnehmer annehmen durfte, sein Verhalten sei nicht vertragswidrig bzw. werde vom Arbeitgeber zumindest nicht als ein erhebliches, den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdendes Fehlverhalten angesehen.3 Dieser Auffassung ist zuzustimmen, da die Abmahnung in diesen Fällen geeignet ist, das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wiederherzustellen. Stellt der Arbeitnehmer infolge seiner Verhaltensänderung seine Zuverlässigkeit auf Dauer unter Beweis, wird dadurch die Negativprognose, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen würde, entkräftet. Die Rechtsprechung geht insofern von dem Erfahrungssatz aus, es sei nicht stets und von vornherein ausgeschlossen, verlorenes Vertrauen durch künftige Vertragstreue zurückzugewinnen.4 Im vorliegenden Fall durfte F jedoch weder davon ausgehen, sein Verhalten sei vertragsgemäß, noch durfte er annehmen, die A-GmbH werde die Täuschung über den Beginn seiner Arbeitszeit als unerheblich ansehen, denn für eine solche Annahme liegen keine vertretbaren Gründe vor. Insbesondere gab es keine unklare Regelung oder gängige Betriebspraxis, die eine derartige Annahme des F als vertretbar erscheinen ließe. Vielmehr musste F, wie jedem Arbeitnehmer, klar sein, dass eine Manipulation der Stechkarte das Vertrauen seines Arbeitgebers erheblich beeinträchtigen und damit den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses akut gefährden würde. Mithin war eine Abmahnung des F nicht erforderlich, um ihm die Vertragswidrigkeit seines Verhaltens vor Augen zu führen. Vielmehr lässt bereits der mehrfache, vorsätzliche Pflichtverstoß Anfang Oktober eine klare Negativprognose für die weitere Vertragsbeziehung zu, so dass die Möglichkeit zur Rückkehr zu dem erforderlichen Vertrauensverhältnis nicht mehr besteht. Mithin war eine Abmahnung des F vor Ausspruch einer Kündigung nicht erforderlich. Die Kündigung widerspricht daher nicht dem Ultima-Ratio-Prinzip.

2 BAG 19.4.2007 NZA-RR 2007, 571, 576; vgl. auch ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 626 BGB Rn. 28 f. 3 BAG 10.2.1999 AP KSchG 1969 § 15 Nr. 42, BAG 2.3.2006 NZA-RR 2006, 636, 640; BAG 18.9.2008 DB 2009, 964; BAG 23.10.2008 AP BGB § 626 Nr. 218. 4 BAG 10. 6. 2010 NZA 2010, 1227, 1231.

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Fall 16 Lösungsvorschlag

„Pünktliche Verspätungen“

3. Interessenabwägung Eine Beendigungskündigung ist nur dann sozial gerechtfertigt, wenn das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes überwiegt. Zugunsten des F ist hier zu berücksichtigen, dass sein Arbeitsverhältnis bereits seit fünf Jahren ohne Störungen im Vertrauensbereich bestanden hat. Zu seinen Lasten wirkt es sich hingegen aus, dass er die Pflichtverletzung vorsätzlich begangen hat und sie sich mehrfach wiederholt hat. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Manipulation der Stechkarte gerade während der Abwesenheit seines Vorgesetzten erfolgte. Dadurch hat F eine Situation ausgenutzt, in der die Kontrollmöglichkeiten des Arbeitgebers eingeschränkt waren, ohne dass diese Einschränkung auf Leichtfertigkeit oder schlechter Organisation des Arbeitgebers beruhte. Daher überwiegt das Interesse der A-GmbH an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber dem Interesse des F am Erhalt seines Arbeitsplatzes. 4. Zwischenergebnis Die Kündigung ist sozial gerechtfertigt und daher nicht wegen Verstoßes gegen die Anforderungen des § 1 Abs. 2 KSchG unwirksam. II. Einhaltung der Kündigungsfrist In dem Vertrag zwischen F und der A-GmbH ist keine Kündigungsfrist vereinbart, so dass auf die gesetzlich festgelegten Kündigungsfristen zurückzugreifen ist. Gemäß § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB beträgt die Kündigungsfrist für Arbeitnehmer, die mehr als fünf, aber noch keine acht Jahre für den kündigenden Arbeitgeber tätig sind, zwei Monate zum Ende eines Kalendermonats. Da die Kündigung F am 23.11.2010 zugegangen sein wird, endet das Arbeitsverhältnis daher am 31.1.2011. C. Ergebnis Die Klage des F ist daher zulässig, aber unbegründet. Das Arbeitsgericht wird feststellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen F und der A-GmbH durch die Kündigung vom 23.11.2010 mit Wirkung zum 31.1.2011 aufgelöst worden ist.

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„Überteuertes Gemüse“

Falldarstellung

Fall 17

Fall 17: „Überteuertes Gemüse“ Falldarstellung A ist seit fünf Jahren als Einkäufer für Obst und Gemüse bei der B-GmbH angestellt, die regelmäßig mehr als zehn Vollzeitarbeitnehmer beschäftigt. Der B geht am 15.1.2011 ein anonymes Schreiben zu, das die Behauptung enthält, dass A von dem Lieferanten X Bargeld erhalten habe. Daraufhin überprüft die B die Unterlagen des A und gelangt zu der Auffassung, dass A Kartoffeln und Zwiebeln zu überhöhten Preisen eingekauft habe. Die B-GmbH legt dem A am 26.1.2011 den Sachverhalt dar und konfrontiert ihn mit ihrem Verdacht, dass A sie vorsätzlich geschädigt und ,Schmiergeld’ angenommen habe. A streitet die Vorwürfe pauschal ab. Bei weiteren Überprüfungen stellt die B am 2.2.2011 fest, dass A im letzten Jahr ein schriftliches Angebot der Firma Y über Kartoffeln der Sorte Nicola unberücksichtigt gelassen und statt dessen Kartoffeln bei dem Lieferanten X gekauft hat, obwohl der Preis 5.000 Euro höher war als bei der Firma Y. Über dieses Vorkommnis findet kein Gespräch mit A statt. Nach Anhörung des Betriebsrats geht dem A am 16.2.2011 die fristlose Kündigung zu. A erhebt am 2.3.2011 Kündigungsschutzklage. Während des arbeitsgerichtlichen Prozesses entdeckt B einen weiteren Vorgang. A hatte auch ein günstigeres Angebot des Lieferanten Y über Zwiebeln außer Acht gelassen und die Zwiebeln zu höheren Preisen bei dem Lieferanten X gekauft. Nach erneuter Anhörung des Betriebsrats bringt die B-GmbH auch diese Verdachtsmomente in den Prozess ein. Nach diesem weiteren Vorwurf lässt sich A in der Verhandlung dahingehend ein, dass er die Waren bei X eingekauft habe, da zwischen den Waren des Lieferanten Y und denen des Lieferanten X große Qualitätsunterschiede bestünden. Die Preise des Y sind regelmäßig niedrig, da Y Obst und Gemüse von schlechter Qualität vertreibt, das teilweise sogar überlagert ist. Diese Aussage erweist sich als zutreffend. Frage: Wie wird das Arbeitsgericht über die Begründetheit der Klage des A entscheiden?

Ü

Rechtsfragen: –

Außerordentliche Kündigung



Verdachtskündigung

Lösungsskizze A. Begründetheit der Kündigungsschutzklage des A I. Kündigungserklärung (§§ 104 ff. BGB)

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Fall 17 Lösungsskizze

„Überteuertes Gemüse“

II. Einhaltung der Klagefrist (§§ 13 Abs. 1 S. 2, 4 S. 1 KSchG) Klageerhebung innerhalb von drei Wochen nach Kündigungszugang III. Anhörung des Betriebsrates nach § 102 Abs. 1 BetrVG IV. Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung: § 626 BGB 1. Vorliegen eines wichtigen Grundes i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB a) Grund, der an sich geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen Grundsatz: Gründe in der Person oder im Verhalten des Arbeitnehmers können außerordentliche Kündigung rechtfertigen (betriebliche Gründe nur in seltenen Ausnahmefällen) aa) Systematische Einordnung der Verdachtskündigung Verdacht einer strafbaren/vertragswidrigen Handlung ist im Verhältnis zur Kündigung wegen tatsächlicher Begehung dieser Handlung ein eigenständiger Kündigungsgrund Personenbedingte Kündigung, da der Nachweis, dass der Arbeitnehmer die Tat schuldhaft begangen hat, gerade nicht geführt werden kann bb) Zulässigkeit einer Verdachtskündigung Verdachtskündigung verstößt weder gegen Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK noch gegen Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers, das als Teil der Berufsfreiheit durch Art. 12 GG geschützt ist cc) Voraussetzungen der Verdachtskündigung (1) Erhebliche Beeinträchtigung der vertraglichen Interessen des Arbeitgebers durch den Tatverdacht Die Fähigkeit des A zur Erbringung der vertraglich geschuldeten Leistung (Tätigkeit als Verkäufer) besteht fort Der Tatverdacht führt zu einer Störung im Vertrauensbereich, da der Arbeitgeber an der Loyalität des A zweifelt Diese Störung ist erheblich, da eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt wäre, wenn A die Tat tatsächlich begangen hätte Daher entfällt die Eignung des A für die Tätigkeit als Einkäufer durch den Tatverdacht (2) Hinreichende Bemühungen des Arbeitgebers zur Aufklärung des Sachverhalts (Ultima-Ratio-Prinzip) Anhörung des Arbeitnehmers ist Wirksamkeitsvoraussetzung der Verdachtskündigung Anhörung des A am 26.1.2011 zu dem ersten Tatverdacht Erneute Anhörung des A nach dem 1.2.2011 zu neuen Verdachtsmomenten mangels Kooperationsbereitschaft des A überflüssig Erneute Anhörung des A zu den während des Prozesses aufgetauchten Verdachtsmomenten überflüssig, da Äußerungsmöglichkeit des A vor Gericht

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„Überteuertes Gemüse“

Lösungsvorschlag Fall 17

(3) Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte für einen dringenden Verdacht (Negativprognose) Im Kündigungszeitpunkt bestand hinreichend dringender Tatverdacht A entkräftet den dringenden Tatverdacht im Prozess Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts ist der Zeitpunkt des Kündigungszugangs (str.) Prognosekorrektur führt nicht zu Unwirksamkeit der Kündigung, ggf. jedoch zu Wiedereinstellungsanspruch (4) Zwischenergebnis: Der Verdacht gegen A ist an sich zur Rechtfertigung einer außerordentlichen, personenbedingten Kündigung geeignet b) Unzumutbarkeit der Einhaltung der Kündigungsfrist Zugunsten des A zu berücksichtigen: fünfjähriger, störungsfreier Bestand des Arbeitsverhältnisses Zu Lasten des A zu berücksichtigen: Verdacht mehrerer schwerer Vertragsverletzungen mit hohem finanziellem Schaden Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses überwiegt gegenüber dem Interesse des A an der Einhaltung der Kündigungsfrist c) Zwischenergebnis: Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB liegt vor 2. Kündigungserklärungsfrist aus § 626 Abs. 2 BGB Fristbeginn: Kenntnis der kündigungsbegründenden Geschehnisse, die Gesamtwürdigung ermöglichen: 2.2.2011 3. Zwischenergebnis Die außerordentliche Kündigung seitens der B-GmbH erfüllt die Voraussetzungen des § 626 BGB B. Ergebnis Kündigungsschutzklage des A unbegründet

Lösungsvorschlag A. Begründetheit der Kündigungsschutzklage des A Die Klage ist begründet, wenn die angegriffene Kündigung nicht die Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung erfüllt. I. Kündigungserklärung Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen.

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Fall 17 Lösungsvorschlag

„Überteuertes Gemüse“

An der Wirksamkeit der Kündigungserklärung der B-GmbH bestehen im Hinblick auf Schriftform (vgl. §§ 623, 125, 126 BGB), hinreichende inhaltliche Bestimmtheit (§ 145 BGB), Vertretungsmacht des Erklärenden (§§ 164 BGB, § 35 Abs. 1 GmbHG) und Zugang (§ 130 BGB) keine Bedenken. II. Einhaltung der Klagefrist Gemäß § 13 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 4 S. 1 KSchG können Arbeitnehmer die Unbegründetheit einer außerordentlichen Kündigung nur innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung durch eine Kündigungsschutzklage geltend machen. Diese Klagefrist ist gewahrt, da A die Klage gegen die Kündigung, die ihm am 16.2.2011 zugegangen ist, am 2.3.2011 erhebt. III. Anhörung des Betriebsrates nach § 102 Abs. 1 BetrVG Gemäß § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG ist vor jeder Kündigung der Betriebsrat zu hören. Dieses Anhörungserfordernis gilt auch für eine außerordentliche Kündigung. Dabei ist der Arbeitgeber verpflichtet, dem Betriebsrat die Gründe für die beabsichtigte Kündigung mitzuteilen und ihm Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Eine entsprechende Anhörung ist hinsichtlich der am 26.1.2011 entstandenen Verdachtsmomente ebenso erfolgt wie in Bezug auf die am 2.2.2011 und die während des Kündigungsschutzprozesses entdeckten Verdachtsmomente. Die prozessuale Berücksichtigung letzterer, vor dem Kündigungszeitpunkt begründeten, dem Arbeitgeber aber zuvor unbekannten Tatsachen erforderte insofern in analoger Anwendung des § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG das Nachholen der Anhörung. IV. Voraussetzungen des § 626 BGB Fraglich ist, ob die außerordentliche Kündigung, die die B-GmbH gegenüber A ausgesprochen hat, den Voraussetzungen des § 626 BGB genügt. Gemäß § 626 BGB ist eine außerordentliche Kündigung nur dann gerechtfertigt, wenn ein wichtiger Kündigungsgrund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB gegeben und die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten worden ist. 1. Vorliegen eines wichtigen Grundes Ein wichtiger Grund ist gegeben, wenn Tatsachen vorliegen, die prinzipiell geeignet sind, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen und dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragspartner die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. a) Grund, der an sich geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen Die B-GmbH begründet die Kündigung des A mit der Vermutung, dieser habe die B-GmbH vorsätzlich geschädigt, indem er überteuerte Ware bei dem Lieferanten X eingekauft und dafür von X Schmiergelder angenommen habe. Im Zeitpunkt der Kündigungserklärung sind diese Vorwürfe jedoch nicht nachweisbar. Vielmehr liegt lediglich ein entsprechender Verdacht vor, auf den die Arbeitgeberin ihre Kündigung stützt. Fraglich ist, inwieweit in einem solchen Verdacht ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB liegen kann.

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„Überteuertes Gemüse“

Lösungsvorschlag Fall 17

Als wichtiger Grund für eine außerordentliche arbeitgeberseitige Kündigung kommen, ähnlich wie § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG dies für die ordentliche Kündigung vorsieht, Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, in Betracht. Auf betriebliche Erfordernisse hingegen kann eine außerordentliche Kündigung, anders als eine ordentliche Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG, nur in Ausnahmefällen gestützt werden. aa) Systematische Einordnung der Verdachtskündigung Nach ständiger Rechtsprechung des BAG kann nicht nur eine erwiesene Vertragsverletzung, sondern auch schon der Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer schwerwiegenden Pflichtverletzung eine Kündigung rechtfertigen. Anmerkung: Für die kündigungsrechtliche Beurteilung der Pflichtverletzung, auf die sich der Verdacht bezieht, ist ihre strafrechtliche Bewertung nicht maßgebend. Entscheidend ist der Verstoß gegen vertragliche Haupt- oder Nebenpflichten und der mit ihm verbundene Vertrauensbruch,1 so dass auch der Verdacht einer nicht strafbaren, aber erheblichen Pflichtverletzung ein wichtiger Grund sein kann.2

Der Verdacht einer strafbaren oder vertragswidrigen Handlung stellt gegenüber der tatsächlichen Begehung dieser Tat einen eigenständigen Kündigungssachverhalt dar. Während bei einem erwiesenen Fehlverhalten das Institut der verhaltensbedingten Kündigung einschlägig ist, handelt es sich bei einer Verdachtskündigung jedoch um eine personenbedingte Kündigung. Es ist der Verdachtskündigung immanent, dass ein vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers gerade nicht nachweislich vorliegt, wie es für eine verhaltensbedingte Kündigung notwendig wäre. Ansatzpunkt der Verdachtskündigung als personenbedingter Kündigung ist vielmehr, dass durch den Tatverdacht die Eignung des Arbeitnehmers für die vertraglich geschuldete Tätigkeit entfällt, weil dieser nicht mehr das für eine weitere Zusammenarbeit erforderliche Vertrauen des Arbeitgebers genießt. bb) Zulässigkeit einer Verdachtskündigung Bedenken gegen die Zulässigkeit einer Verdachtskündigung werden in der Literatur mit unterschiedlichen Ansatzpunkten geäußert. So wird zum einen bezweifelt, ob eine Verdachtskündigung mit der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK vereinbar ist.3 Dieses Argument greift jedoch nicht durch, da die Unschuldsvermutung der EMRK lediglich den Staat und seine Institutionen bindet, jedoch keine Wirkung zwischen Privatpersonen entfaltet. Zum anderen werden Zweifel an der Vereinbarkeit einer Verdachtskündigung mit der Berufsfreiheit des Arbeitnehmers, die durch Art. 12 GG geschützt ist, vorgebracht. Zwar ist zutreffend, dass bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des „wichtigen Grundes“ i.S.d. § 626 BGB die Grundrechte berücksichtigt werden müssen. Dies gilt jedoch nicht nur für die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers, die dessen Interesse am Erhalt seines Arbeitsplatzes schützt, sondern in gleicher Weise für die Berufsfreiheit des Arbeitgebers, die auch dessen Interesse an der Kündigung eines Arbeitnehmers umfasst, wenn die Grundlage für eine zukünftige vertrau1 BAG 10.6.2010 NZA 2010, 1227, 1230; BAG 25.11.2010 DB 2011, 880. 2 Vgl. ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 626 BGB Rn. 173. 3 So SCHÜTTE NZA-Beil. 2/1991, 17 ff.; DÖRNER NZA 1993, 873 ff.

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Fall 17 Lösungsvorschlag

„Überteuertes Gemüse“

ensvolle Zusammenarbeit entfallen ist. Bei der Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechtspositionen wird die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers dadurch hinreichend berücksichtigt, dass die Verdachtskündigung nur dann zulässig ist, wenn der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen hat, aber dennoch objektive Tatsachen einen dringenden Tatverdacht begründen.4 Mithin ist eine Verdachtskündigung als Spezialfall der personenbedingten Kündigung prinzipiell zulässig. cc) Voraussetzungen der Verdachtskündigung Als Spezialfall der personenbedingten Kündigung setzt die Verdachtskündigung voraus, dass ein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher oder vertraglicher Interessen des Arbeitgebers führt, die nicht durch andere mildere Mittel abgewendet werden kann (Ultima-Ratio-Prinzip; insb. Bemühen um Sachverhaltsaufklärung durch Anhörung des Arbeitnehmers), und sich diese Beeinträchtigung aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft fortsetzen wird (Negativprognose; insb. Dringlichkeit des Verdachts). (1) Erhebliche Beeinträchtigung der vertraglichen Interessen des Arbeitgebers Damit der Tatverdacht als in der Person des A liegender Grund eine Kündigung rechtfertigt, müssten durch den Tatverdacht vertragliche Interessen der B-GmbH in erheblichem Maße beeinträchtigt worden sein. Der Tatverdacht hat keinen unmittelbaren Einfluss auf die Fähigkeit des A, die vertraglich geschuldete Tätigkeit als Einkäufer für Obst und Gemüse auszuüben. Eine fehlende Eignung könnte sich lediglich daraus ergeben, dass der Tatverdacht das Vertrauensverhältnis zwischen A und der B-GmbH zerstört hat. Auf Grund der Verdachtsmomente wird die B-GmbH nun der Tätigkeit des A im Hinblick auf dessen Loyalität ein erhebliches Misstrauen entgegenbringen. Ein grundsätzliches Vertrauen des Arbeitgebers in die Loyalität und Ehrlichkeit seiner Mitarbeiter ist jedoch für die Zusammenarbeit unerlässlich, da eine vollständige Kontrolle des Arbeitnehmers weder wünschenswert noch möglich ist. Mithin sind auch Umstände, die zu einer Störung im Vertrauensbereich führen, grundsätzlich geeignet, eine personenbedingte Kündigung zu rechtfertigen. Da der Verdacht eines vertragswidrigen oder strafbaren Verhaltens jedoch unabhängig vom Verschulden des Arbeitnehmers zu beurteilen ist und das Interesse des Arbeitnehmers an der Beibehaltung seines Arbeitsplatzes durch Art. 12 GG geschützt ist, sind an die Zulässigkeit einer Verdachtskündigung strenge Anforderungen zu stellen. Daher liegt nur dann eine erhebliche Störung im Vertrauensbereich vor, die eine Kündigung rechtfertigen kann, wenn die Tat, derer der Arbeitnehmer verdächtigt wird, im Falle ihrer tatsächlichen Begehung eine (verhaltensbedingte, ggf. außerordentliche) Kündigung rechtfertigen würde. Der Arbeitnehmer ist grundsätzlich verpflichtet, bei der Ausführung der ihm übertragenen Tätigkeiten im Interesse des Arbeitgebers zu handeln. Daher ist ein Arbeitnehmer, der die Tätigkeit eines Einkäufers ausübt, prinzipiell verpflichtet, 4 BAG 14.9.1994 AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 24.

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Lösungsvorschlag Fall 17

das nach dem Preis-Leistungsverhältnis für den Arbeitgeber günstigste Angebot anzunehmen. Hätte A, wie ihm dies vorgeworfen wird, die preiswerteren Angebote anderer Anbieter ausgeschlagen und die teureren Angebote des X angenommen, ohne dass ein qualitativer Unterschied zwischen den angebotenen Waren bestand, hätte A eine Vertragspflichtverletzung begangen. Zwar wäre in diesem Falle problematisch, ob die B-GmbH zunächst gegenüber A eine Abmahnung hätte aussprechen müssen. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, dass mit dem Einkauf überteuerter Waren zudem Geldzahlungen des X verbunden waren. In der Annahme von Schmiergeldern liegt ein zusätzlicher Verstoß gegen die Treuepflicht des Arbeitnehmers, da aus einem solchen Verhalten hervorgeht, dass der Arbeitnehmer weniger im Interesse seines Arbeitgebers als im eigenen Interesse handelt. Daher wäre ohne Abmahnung eine verhaltensbedingte, außerordentliche Kündigung gerechtfertigt, wenn A die ihm vorgeworfenen Taten tatsächlich begangen hätte.5 Mithin führt der Tatverdacht gegenüber A zu einer erheblichen Beeinträchtigung der vertraglichen Interessen der B-GmbH, die bei erwiesener Tat eine außerordentliche Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen würde. (2) Hinreichende Bemühungen des Arbeitgebers zur Aufklärung des Sachverhalts (Ultima-Ratio-Prinzip) Nach dem Ultima-Ratio-Prinzip ist eine Kündigung nur dann gerechtfertigt, wenn dem Kündigungsinteresse des Arbeitgebers nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Daher muss der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Verdachtskündigung alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die Störung im Vertrauensbereich, die durch den Tatverdacht eingetreten ist, zu beseitigen. Zu den Mitteln, die hierfür geeignet sind, gehört insbesondere eine Aufklärung des Sachverhalts. Denn hierbei könnte sich die Unschuld des Arbeitnehmers herausstellen, so dass die für die Zusammenarbeit erforderliche Vertrauensbasis wiederhergestellt wäre. Daher ist eine Verdachtskündigung erst zulässig, wenn auch die Aufklärungsbemühungen des Arbeitgebers die Verdachtsmomente, die das Vertrauensverhältnis belasten, nicht ausräumen können. Zu der Verpflichtung des Arbeitgebers, alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts zu unternehmen, gehört insbesondere eine Anhörung des beschuldigten Arbeitnehmers. Diese Anhörung ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG Wirksamkeitsvoraussetzung der Verdachtskündigung, sodass ein schuldhaftes Unterlassen der Anhörung zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Für eine ordnungsgemäße Anhörung des Arbeitnehmers ist es nicht ausreichend, dass der Arbeitnehmer lediglich mit einem pauschalen Vorwurf konfrontiert wird. Der Arbeitgeber muss den Sachverhalt vielmehr unter Heranziehung all seiner bisherigen Erkenntnisse soweit konkretisieren, dass der Arbeitnehmer sich darauf substantiiert einlassen kann.6 Dabei muss er alle erheblichen Umstände angeben, aus denen er den Verdacht ableitet.7

5 Vgl. LAG Hamburg 26.9.1990 LAGE BGB § 626 Nr. 58. 6 BAG 13.9.1995 AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 25. 7 BAG 28.11.2007 NZA-RR 2008, 344, 346.

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Fall 17 Lösungsvorschlag

„Überteuertes Gemüse“

Die B-GmbH hat dem A am 26.1.2011 den Sachverhalt dargelegt und ihn mit dem Verdacht konfrontiert, er habe sie vorsätzlich geschädigt, indem er Kartoffeln und Zwiebeln zu überhöhten Preisen von X eingekauft und Schmiergeld angenommen habe. Damit hat die Arbeitgeberin dem A alle Erkenntnisse, die sie im Zeitpunkt der Anhörung hatte, so konkret mitgeteilt, dass A die Möglichkeit gehabt hätte, sich gegen die Anschuldigungen zu verteidigen. Dass A diese Möglichkeit nicht genutzt hat, ändert nichts daran, dass hinsichtlich des ersten Tatverdachts eine ordnungsgemäße Anhörung vorliegt. Allerdings hat die B-GmbH den A nicht erneut angehört, als sich am 2.2.2011 weitere Verdachtsmomente in Bezug auf den Einkauf von Kartoffeln zu überhöhten Preisen von X ergeben haben. Da die B-GmbH ihre Kündigung auch auf diesen Verdacht stützt, wäre sie prinzipiell zu einer erneuten Anhörung des A verpflichtet gewesen. Fraglich ist, ob die Verdachtskündigung durch diese unterbliebene Anhörung unwirksam wird. In diesem Zusammenhang ist der Zweck der Anhörung zu berücksichtigen: Sie dient einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts. Diesen Sinn kann sie allerdings nur dann erfüllen, wenn der Arbeitnehmer bereit ist, sich zu den Verdachtsmomenten zu äußern und damit zur Ermittlung der tatsächlichen Geschehnisse beizutragen. In der Anhörung vom 26.1.2011 hat sich A nicht substantiiert zu den Vorwürfen geäußert, sondern diese pauschal abgestritten. B konnte daher ohne Verschulden davon ausgehen, dass A nicht bereit sei, durch eine substantiierte Stellungnahme an einer Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, so dass sich eine weitere Anhörung als nicht zweckdienlich darstellte. Die unterbliebene weitere Anhörung führt daher nicht zur Unwirksamkeit der Verdachtskündigung.8 Weitere Verdachtsmomente, die den Einkauf von Zwiebeln zu überhöhten Preisen betreffen, werden während des Prozesses von B eingeführt. Auch hierzu hat die B-GmbH den A nicht erneut gehört. Prinzipiell ist es dem Arbeitgeber gestattet, während des Kündigungsschutzprozesses weitere Gründe für die streitige Kündigung vorzubringen, sofern diese im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits vorlagen. Eine außergerichtliche Anhörung des Arbeitnehmers ist hier nicht erforderlich, da der Arbeitnehmer während des Rechtsstreits vor Gericht die Möglichkeit hat, sich zu den neu in den Prozess eingebrachten Vorwürfen zu äußern. Danach ist A ausreichend angehört worden. Die B-GmbH hat alle Möglichkeiten zur Sachverhaltsaufklärung ausgeschöpft, ohne dadurch die bestehenden Verdachtsmomente ausräumen zu können. Daher verstößt der Ausspruch der Verdachtskündigung nicht gegen das Ultima-Ratio-Prinzip. (3) Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte für einen dringenden Verdacht (Negativprognose) Eine personenbedingte Kündigung setzt weiterhin voraus, dass eine hinreichend gesicherte Negativprognose dergestalt besteht, dass sich die Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers in Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach fortsetzen wird. Im Falle einer Verdachtskündigung ist daher erforderlich, dass die Störung im Vertrauensbereich voraussichtlich fortbestehen wird, da der Tatverdacht so

8 So auch BAG 28.11.2007 NZA-RR 2008, 344, 346.

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„Überteuertes Gemüse“

Lösungsvorschlag Fall 17

dringend ist, dass mit seiner Entkräftung nicht zu rechnen ist. Insofern ist ein Tatverdacht dringend, wenn eine große Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der gekündigte Arbeitnehmer die Straftat oder die Pflichtverletzung begangen hat.9 Im Zeitpunkt des Ausspruchs der angegriffenen Kündigung bestand ein derartiger dringender Tatverdacht. Der anonyme Brief, den die B-GmbH erhalten hatte, sowie die zwei Einkaufsvorgänge, in denen A das preiswertere Angebot des Anbieters Y zugunsten eines teureren Angebots des X ausgeschlagen hatte, sowie die Tatsache, dass A nicht zu einer Äußerung zu diesen Vorgängen bereit war, begründeten eine hinreichend große Wahrscheinlichkeit dafür, dass A die entsprechenden Taten begangen hat. Im Kündigungsschutzprozess lässt sich A allerdings dahingehend ein, dass er die Waren deshalb bei X eingekauft hätte, weil zwischen den preiswerteren Waren des Anbieters Y und den teureren Waren des X erhebliche Qualitätsunterschiede bestünden. So seien Obst und Gemüse des Y regelmäßig von schlechterer Qualität, teilweise sogar überlagert. Diese Aussage erweist sich als zutreffend. Da der Einkauf qualitativ schlechter Ware auf Dauer die Abwanderung vieler Kunden zur Folge haben dürfte, liegen derartige Geschäfte nicht im Interesse des Arbeitgebers. In Bezug auf das Preis-Leistungsverhältnis waren daher die Angebote des X, die A namens der B-GmbH angenommen hat, günstiger. Daher hat A seine arbeitsvertraglichen Pflichten nicht verletzt, indem er die Angebote des Y ausgeschlagen hat. Nach dem Erkenntnisstand in der mündlichen Verhandlung kann sich der Verdacht eines vertragswidrigen Verhaltens des A daher allein auf den anonymen Brief stützen, den die B-GmbH erhalten hat. Dieser Verdacht ist jedoch nicht hinreichend dringend, um eine Kündigung rechtfertigen zu können. Denn es sind zahlreiche Gründe denkbar, die den Absender dieses Briefes zu unwahren Behauptungen über ein vertragswidriges Verhalten des A bewogen haben könnten, beispielsweise Neid eines Kollegen oder der Versuch eines Konkurrenzunternehmens, einen fähigen Einkäufer „loszuwerden“. Legt man daher die Tatsachen zugrunde, die zum Abschluss der mündlichen Verhandlung bekannt waren, wäre die Kündigung des A mangels eines dringenden Tatverdachts unwirksam. Fraglich ist daher, welcher Beurteilungszeitpunkt für das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts maßgeblich ist. Prinzipiell ist die Wirksamkeit einer Kündigung auf Grund der Sachlage zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung zu beurteilen. Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht soll dies auch für die Verdachtskündigung gelten.10 Dies hätte zur Folge, dass die Kündigung des A wirksam ist, ihm jedoch auf Grund der später bekannt gewordenen Entlastungsmomente ggf. ein Wiedereinstellungsanspruch zusteht, den er allerdings mit einem entsprechenden Antrag im Prozess geltend machen muss. Im Gegensatz dazu vertritt das BAG die Auffassung, dass für die Beurteilung der Wirksamkeit einer Verdachtskündigung auch später bekannt gewordene be- oder entlastende Umstände heranzuziehen sind, die bereits im Zeitpunkt des Kündi-

9 BAG 10.2.2005 NZA 2005, 1056, 1059; BAG 12.5.2010 NZA-RR 2011, 15; BAG 25.11.2010 DB 2011, 880. 10 SPV/VOSSEN, Rn. 714.

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Fall 17 Lösungsvorschlag

„Überteuertes Gemüse“

gungszugangs vorgelegen haben.11 Danach würde das bisherige Arbeitsverhältnis zwischen A und der B-GmbH mangels wirksamer Kündigung fortbestehen, ohne dass A einen entsprechenden ausdrücklichen Antrag in den Prozess einbringen müsste. Gegen die vom BAG vertretene Ansicht spricht indes, dass die Kündigung wegen eines tatsächlich vorliegenden vertragswidrigen Verhaltens und die Kündigung wegen eines Verdachts zwei voneinander unabhängige Kündigungssachverhalte darstellen. Nur bei der Kündigung wegen eines tatsächlichen vertragswidrigen Verhaltens kommt es darauf an, ob das Verhalten des Arbeitnehmers im Zeitpunkt der Kündigungserklärung tatsächlich gegen arbeitsvertragliche Pflichten verstößt und dadurch vertragliche Interessen des Arbeitgebers beeinträchtigt werden. Im Gegensatz dazu ist für die Verdachtskündigung maßgeblich, ob im Zeitpunkt der Kündigungserklärung tatsächlich ein entsprechender Tatverdacht vorlag, der zu einer Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer führt. Das BAG selbst führt zur Begründung seiner Auffassung an, es seien die objektiven Umstände im Zeitpunkt der Kündigungserklärung maßgeblich. Dies ist zweifellos zutreffend, doch handelt es sich bei diesen objektiven Umständen im Falle der Verdachtskündigung nicht um die Frage, ob der Arbeitnehmer die Tat begangen hat oder nicht. Es kommt vielmehr darauf an, ob der Arbeitgeber bei verständiger Würdigung der Sachlage einen entsprechenden Tatverdacht hegen durfte. Zu berücksichtigen sind daher alle Gegebenheiten, die bei verständiger Würdigung der Sachlage im Kündigungszeitpunkt einen Verdacht gegen A begründeten oder entkräfteten. Hierzu gehören aber nur die für den Arbeitgeber erkennbaren Gegebenheiten, nicht hingegen die Tatsache, dass bereits im Kündigungszeitpunkt feststand, dass A die Schädigungen zu Lasten der B-GmbH nicht begangen hat. Stellt sich nachträglich heraus, dass der Verdacht, auf den ein Arbeitgeber eine Kündigung gestützt hat, unbegründet ist, handelt es sich um ein Problem der Prognosekorrektur. Dieses ist nach zutreffender Ansicht nicht dadurch zu lösen, dass die – im Kündigungszeitpunkt wirksame – Kündigung im Nachhinein unwirksam wird, sondern führt gegebenenfalls zu einem Wiedereinstellungsanspruch des Arbeitnehmers. Anmerkung: Im Hinblick auf einen Wiedereinstellungsanspruch wäre im vorliegenden Fall jedoch zu berücksichtigen, dass A selbst die Aufklärung des Sachverhalts vor Ausspruch der Kündigung verhindert hat, indem er zu den Vorwürfen nicht Stellung genommen hat, obwohl er diese bereits zum damaligen Zeitpunkt hätte entkräften können. Unter dem Aspekt des „venire contra factum proprium“ erscheint es daher problematisch, ob A in schützenswerter Weise darauf vertrauen durfte, sein Arbeitsverhältnis nicht zu verlieren, wenn der Verdacht zu einem späteren Zeitpunkt entkräftet wird. Wie dieses Problem zu lösen ist, kann hier jedoch dahinstehen, da ein eventueller Wiedereinstellungsanspruch nicht von der Fallfrage umfasst ist.

(4) Zwischenergebnis Der Verdacht der B-GmbH gegen A, dieser habe seinen Arbeitgeber durch überteuerte Einkäufe geschädigt und habe in diesem Zusammenhang Schmiergelder 11 BAG 14.9.1994 AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 24.

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„Überteuertes Gemüse“

Lösungsvorschlag Fall 17

angenommen, ist grundsätzlich geeignet, um eine ordentliche personenbedingte Kündigung zu rechtfertigen. b) Unzumutbarkeit der Einhaltung der Kündigungsfrist Damit ein Kündigungsgrund einen wichtigen Grund i.S.d. § 626 BGB darstellt, der eine fristlose Kündigung rechtfertigt, muss der Kündigungsgrund so schwer wiegen, dass dem Arbeitgeber unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragspartner die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. In der Interessenabwägung, die ebenfalls auf Grund der Sachlage im Zeitpunkt der Kündigungserklärung vorzunehmen ist, lässt sich zugunsten des A anführen, dass dieser bereits seit fünf Jahren für die B-GmbH beschäftigt ist. In dieser Zeit ist es offensichtlich nicht zu nennenswerten Störungen zwischen A und der B-GmbH gekommen. Dafür, dass der B-GmbH die Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar ist, spricht jedoch, dass sich der Verdacht nicht nur auf ein vertragswidriges Verhalten bezieht, sondern auf mehrfache Verfehlungen. Dabei handelt es sich jeweils um Vertragsverletzungen, die – sofern sie tatsächlich vorliegen – dem Arbeitgeber finanzielle Schäden in beträchtlicher Höhe zufügen. Zumal A nicht willens war, zu der Aufklärung der Vorfälle beizutragen, ist es der B-GmbH nicht zumutbar, A bis zum Ablauf der regulären Kündigungsfrist von zwei Monaten zum Monatsende (§ 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB), also bis zum Ende des Monats April, weiterzubeschäftigen. c) Zwischenergebnis Damit liegt ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB für eine fristlose Kündigung vor. 2. Kündigungserklärungsfrist Gemäß § 626 Abs. 2 BGB muss eine fristlose Kündigung innerhalb von zwei Wochen erfolgen, nachdem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat. Nicht ausreichend ist die Kenntnis des konkreten, die Kündigung auslösenden Anlasses. Die Frist beginnt vielmehr erst dann zu laufen, wenn der Kündigungsberechtigte sichere und möglichst vollständige Kenntnis der kündigungsbegründenden Geschehnisse hat, so dass ihm eine Gesamtwürdigung der Sachlage möglich ist. Auch bei einer Verdachtskündigung stellt die vermutete Handlung, etwa eine Straftat, keinen Dauerzustand dar, die es dem Arbeitgeber ermöglicht, bis zum Vollbeweis der Handlung, etwa der strafrechtlichen Verurteilung, zu einem beliebigen Zeitpunkt die Kündigung auszusprechen. Besitzt der Arbeitgeber Anhaltspunkte für einen Verdacht, der zur fristlosen Kündigung berechtigt, ist er gehalten, Ermittlungen anzustellen und den Arbeitnehmer anzuhören, ohne dass die Frist des § 626 Abs. 2 BGB zu laufen beginnt. Dabei dürfen die Ermittlungen jedoch nicht hinausgezögert werden. Sind diese Ermittlungen abgeschlossen, beginnt die Ausschlussfrist.12

12 BAG 28.11.2007 NZA-RR 2008, 344, 346.

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Fall 17 Lösungsvorschlag

„Überteuertes Gemüse“

Anmerkung: Anstatt eigene Ermittlungen durchzuführen, darf der Arbeitgeber natürlich auch das Ergebnis eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft und auch eines Strafverfahrens abwarten. Allerdings bindet ihn eine solche Vorgehensweise nach der Rechtsprechung dann aber dahingehend, dass er – falls sich keine neuen Tatsachen ergeben haben – nicht mehr doch noch eigene Ermittlungen aufnehmen und dann zwei Wochen nach Abschluss dieser Ermittlungen kündigen kann.13

Erste Verdachtsmomente haben sich für die B-GmbH am 15.1.2011 ergeben, als ihr das anonyme Schreiben zugeht, das Beschuldigungen des A enthält. Daraufhin erfolgt eine Überprüfung der Unterlagen des A, woraus sich weitere Verdachtsmomente ergeben. Allein auf Grund dieser Nachforschungen ist der B-GmbH jedoch noch keine Gesamtwürdigung der Umstände möglich. Da auch die Anhörung des A am 26.1.2011 nicht zur Klärung der Sachlage beigetragen hat, waren aus der Sicht der B-GmbH weitere eigene Überprüfungen notwendig, die bis zum 2.2.2011 angedauert haben. Erst als sich durch diese Ermittlungen der Anfangsverdacht gegen A bestätigt hat, sah sich die B-GmbH in der Lage, über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zu entscheiden. Maßgeblich für den Beginn der Kündigungserklärungsfrist ist vorliegend daher der 2.2.2011. Damit ist die Kündigung, die dem A am 16.2.2011 zugegangen ist, noch rechtzeitig erfolgt (vgl. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). 3. Zwischenergebnis Die außerordentliche Kündigung seitens der B-GmbH erfüllt die Voraussetzungen des § 626 BGB. B. Ergebnis Die Kündigungsschutzklage des A ist unbegründet.

13 BAG 17.3.2005 NZA 2006, 101.

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„Der low performer“

Falldarstellung

Fall 18

Fall 18: „Der low performer“ Falldarstellung A ist seit 1992 ununterbrochen bei einem Einzelhandelsunternehmen, der U-GmbH (U), als einer von rund 35 Kommissionierern in deren Zentrallager beschäftigt. Dort bearbeitet er Warenbestellungen, indem er Lieferungen durch Entnahmen aus dem Lager zusammenstellt, auf Vollständigkeit und Beschaffenheit hin überprüft und anschließend fachgerecht verlädt. Als U im Jahr 2008 in eine bedrohliche betriebswirtschaftliche Situation gerät, werden einige unternehmerische Entscheidungen getroffen. Unter anderem wird ein Prämiensystem eingeführt, wodurch die Mitarbeiter zu überobligatorischen Leistungen animiert werden sollen. So können sich die Kommissionierer ab Januar 2009 zusätzlich zu dem unverändert fortbestehenden Zeitlohn eine monatliche Prämie verdienen. Zur Bemessung dieser Prämie hat U die einzelnen Arbeitsschritte der Kommissionierer mit Planzeiten versehen und dadurch eine Normalleistung definiert. Soweit ein Kommissionierer schneller bzw. mehr als vorgesehen arbeitet, mithin die Normalleistung übertrifft, erhält er eine entsprechende Prämie. Gleichzeitig führt U ein neues EDV-System ein. Die Kommissionierer sollen fortan alle Warenentnahmen mit Hilfe von EDV-Geräten abbuchen sowie den weiteren Verlauf des Versandauftrags in das System eingeben. Hierdurch wird u.a. die für die Prämienzahlung erforderliche Leistungserfassung ermöglicht. Die Kommissionierer werden Ende November 2008 im Rahmen einer eintägigen Fortbildung in der Handhabung der EDV-Geräte geschult und haben den Dezember 2008 über die Gelegenheit, die Geräte probehalber in der Praxis zu benutzen. Die Leistungserfassung ergibt, dass A im Verhältnis zu den anderen Kommissionierern eine deutlich niedrigere Arbeitsleistung erbringt. Dies ist darin begründet, dass A erhebliche Probleme im Umgang mit dem neuen EDV-Gerät hat und für dessen korrekte Bedienung erheblich mehr Zeit aufwenden muss als alle anderen Kommissionierer. A erbringt im Jahr 2009 nur rund 60 % der Durchschnittsleistung. Deshalb erteilt U dem A mit Schreiben vom 12.11.2009 eine Abmahnung, in der seine Minderleistungen im Einzelnen aufgelistet sind. Ferner fordert U den A dazu auf, eine Leistung von mindestens 100 % zu erbringen. Anderenfalls werde das Arbeitsverhältnis gekündigt. Die Abmahnung bleibt aber erfolglos. Auch im ersten Quartal 2010 liegen die monatlichen Leistungswerte des A um rund 35 bis 40 % unter der Durchschnittsleistung aller Kommissionierer. Demgegenüber übertreffen die anderen Kommissionierer die von U festgelegte Normalleistung durchschnittlich um 5 % und erarbeiten sich somit regelmäßig Prämien. A wird mit Schreiben vom 28.4.2010 nochmals von U mit gleichem Inhalt abgemahnt. Im Rahmen einer auswärtigen Betriebsfeier am Abend des 20.8.2010 führen der Personalleiter (P) und der Betriebsratsvorsitzende (B) des Unternehmens ein vertrauliches Gespräch, in dem P dem B seine Absicht mitteilt, das Arbeitsverhältnis mit A durch ordentliche Kündigung zum 28.2.2011 zu beenden. Zur Begrün-

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Fall 18 Lösungsskizze

„Der low performer“

dung verweist P auf die unterdurchschnittliche Arbeitsleistung des A sowie auf die beiden erfolglosen Abmahnungen. B sichert P zu, den Fall in der nächsten Betriebsratssitzung zu behandeln. In dieser stimmt der Betriebsrat einer Kündigung grundsätzlich zu, schlägt aber vor, A zunächst ein neues Vertragsangebot zu unterbreiten, wobei die Grundvergütung entsprechend der Minderleistung herabzusetzen sei. Nachdem A indes das Angebot der U, zu einer um ein Drittel geringeren Grundvergütung weiterzuarbeiten, ablehnt, kündigt P im Namen der U das Arbeitsverhältnis mit A durch Schreiben vom 26.8.2010 zum 28.2.2011. Dabei wurde berücksichtigt, dass ein anderweitiger, den Qualifikationen des A entsprechender Arbeitsplatz im Betrieb der U nicht vorhanden ist. Um A den Brief mit der Kündigung zu übergeben, begibt sich die Sekretärin (S) des P am Donnerstag, den 26.8.2010, zur Wohnung des A. Dort trifft sie aber nur dessen Ehefrau (F) an, die eine Entgegennahme des Schreibens mit den Worten „Ich nehme nichts an, was nicht an mich adressiert ist!“ ablehnt. Deshalb gibt S das Schreiben am Freitag, den 27.8.2010 auf den Postweg. Schließlich wirft der Postbote den Brief am Morgen des 30.8.2010 in den Briefkasten des A. Dieser hatte jedoch zwei Wochen Urlaub genommen und war, wie S bekannt war, in die Niederlande verreist. Von dem Inhalt des Kündigungsschreibens nimmt A erst nach seiner Rückkehr am 10.9.2010 Kenntnis. A erhebt daraufhin am Freitag, den 17.9.2010 Klage vor dem örtlich zuständigen Arbeitsgericht auf Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der U vom 26.8.2010 nicht aufgelöst wurde. A hält die Kündigung für sozial ungerechtfertigt. Zur Begründung führt er unter anderem an, dass die Ergebnisse eines Prämiensystems keine Kündigung rechtfertigen könnten. Außerdem bemerkt A, er habe – was zutrifft – stets sein Bestes gegeben und dies habe doch offenbar bis zur Einführung des Prämiensystems der U auch ausgereicht. Auch bemühe er sich im Umgang mit dem neuen EDV-System, sehe sich aber außerstande, dieses schneller zu bedienen und so in seiner Arbeitszeit mehr Kommissionsaufträge zu erledigen. Frage: Wie wird das Arbeitsgericht entscheiden?

Ü

Rechtsfragen: –

Kündigung wegen dauerhafter und erheblicher Minderleistung des Arbeitnehmers



Abgrenzung zwischen personen-, verhaltens- und betriebsbedingter Kündigung



Leistungsbegriff im Arbeitsverhältnis



Zugangsverständnis einer Willenserklärung

Lösungsskizze A. Zulässigkeit I. Rechtsweg und Zuständigkeit

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„Der low performer“

Lösungsskizze Fall 18

Rechtswegzuständigkeit nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG; instanzielle Zuständigkeit gemäß § 8 Abs. 1 ArbGG; örtliche Zuständigkeit nach § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. §§ 12 ff. ZPO II. Partei- und Prozessfähigkeit III. Statthafte Klageart Kündigungsschutzklage nach § 4 S. 1 KSchG IV. Feststellungsinteresse Präklusionswirkung des § 7 KSchG V. Zwischenergebnis Klage des A ist zulässig. B. Begründetheit I. Wirksame Kündigungserklärung 1. Schriftform und Bestimmtheit der Kündigungserklärung 2. Personalchef als kündigungsberechtigte Person Bevollmächtigung von Betriebs-/Personalleiter 3. Zwischenergebnis Wirksame Kündigungserklärung der U an A II. Einhaltung der Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG 1. Anwendbarkeit und Rechtsfolge von § 4 S. 1 KSchG 2. Berechnung der Klagefrist a) Zugang der Kündigung am 26.8.2010 gemäß § 130 BGB durch Übergabeversuch an F aa) F als Empfangsbotin des A bb) Zurechenbare Zugangsvereitelung durch F Anwendung des § 242 BGB und Zurechnung des Verhaltens des Empfangsbotens b) Zwischenergebnis Kein Zugang am 26.8.2010. Da die übrigen in Betracht kommenden Zugangszeitpunkte eine fristgerechte Klageerhebung zur Folge haben, kann die Frage, ob die Kündigung am 30.8. oder erst am 10.9.2010 zugegangen ist, hier dahinstehen. Jedenfalls keine Heilung möglicher Unwirksamkeitsgründe nach § 7 KSchG. III. Kündigungsfrist des § 622 Abs. 2 BGB 1. Berechnung der Kündigungsfrist § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 BGB 2. Einhaltung der Kündigungsfrist

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Fall 18 Lösungsskizze

„Der low performer“

a) Fristwahrender Zugang des Kündigungsschreibens am 30.8.2010 aa) Personalisiertes Zugangsverständnis im Arbeitsrecht Urlaubsbedingte Abwesenheit/Kenntnisnahme unter normalen Umständen bb) Objektives Zugangsverständnis Risikoverteilung Absender/Empfänger b) Zwischenergebnis Zugang des Kündigungsschreibens am 30.8.2010 trotz urlaubsbedingter Abwesenheit des A. Die Frist des § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 BGB für eine Kündigung zum 28.2.2011 ist folglich gewahrt. IV. Anhörung des Betriebsrats Anhörung in Amtseigenschaft während der Arbeitszeit V. Wirksamkeit nach § 1 KSchG Kündigung gemäß § 1 Abs. 1, 2 KSchG unwirksam, wenn sozial ungerechtfertigt. 1. Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes Wartezeit und Mindestgröße 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung a) Betriebsbedingte Kündigung Direktionsrecht nach § 106 GewO b) Verhaltensbedingte Kündigung aa) Pflichtverletzung Inhalt der Arbeitspflicht (1) Objektiver Leistungsbegriff Leistungsbestimmung nach Personengruppen Durchschnittsberechnung (2) Subjektiver Leistungsbegriff Leistung des individuell „Bestmöglichen“ (3) Stellungnahme bb) Zwischenergebnis Mangels Pflichtverletzung scheidet eine verhaltensbedingte Kündigung nach dem vorzugswürdigen subjektiven Leistungsbegriffs aus. c) Personenbedingte Kündigung aa) Erhebliche Störung des Austauschverhältnisses Rechtfertigung durch graduelles Leistungsdefizit Arbeitnehmer zur vorausgesetzten Leistungserbringung ganz oder teilweise nicht mehr in der Lage

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„Der low performer“

Lösungsvorschlag Fall 18

Objektive Minderleistung bewirkt erhebliche Störung des Äquivalenzverhältnisses. „Drittellehre“ des BAG bb) Negative Prognose cc) Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen dd) Milderes Mittel ee) Interessenabwägung Leistungsförderung durch Prämiensystem Ablehnung des Weiterbeschäftigungsangebots VI. Ergebnis Die personenbedingte Kündigung des A ist sozial gerechtfertigt. Die Kündigungsschutzklage ist zulässig, aber unbegründet. Das Arbeitsgericht wird die Kündigungsschutzklage des A daher abweisen.

Lösungsvorschlag Das Arbeitsgericht wird der Klage des A stattgeben, wenn diese zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Rechtsweg und Zuständigkeit A wendet sich als Arbeitnehmer mit seiner Klage vor dem örtlich zuständigen Arbeitsgericht gegen die schriftliche Kündigung durch seinen Arbeitgeber U. Insofern liegt eine die ausschließliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts begründende bürgerliche Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG vor. Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist gegeben. Verhandelt wird vor dem nach § 8 Abs. 1 ArbGG instanziell und nach § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. §§ 12 ff. ZPO örtlich zuständigen Arbeitsgericht im Urteilsverfahren, vgl. §§ 2 Abs. 1, 5, 46 Abs. 1 ArbGG. II. Partei- und Prozessfähigkeit Hinsichtlich der Partei- und Prozessfähigkeit des A als natürliche Person bestehen keine Zweifel. Die Parteifähigkeit der U richtet sich gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 50 Abs. 1 ZPO nach der Rechtsfähigkeit und die Prozessfähigkeit gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 52 Abs. 1 ZPO nach der Geschäftsfähigkeit. U kann als Gesellschaft mit beschränkter Haftung gemäß § 13 Abs. 1 GmbHG selbst Träger von Rechten und Pflichten sein, respektive klagen und verklagt werden. Die U-GmbH ist damit rechts- und parteifähig. Das Gesetz ordnet in § 35 Abs. 1 GmbHG für die GmbH als juristische Person des Handelsrechts eine gesetzliche Vertretung an, mithin vertritt der Geschäftsführer die Gesellschaft im Prozess.

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Fall 18 Lösungsvorschlag

„Der low performer“

III. Statthafte Klageart A wendet sich gegen die schriftliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch U vom 26.8.2010. Einschlägige Klageart ist demnach die Kündigungsschutzklage nach § 4 S. 1 KSchG. IV. Feststellungsinteresse Die Kündigungsschutzklage ist eine besondere Feststellungsklage.1 Insoweit wäre an sich nach § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 256 ZPO die Darlegung eines besonderen Feststellungsinteresses erforderlich. Im Falle der Kündigungsschutzklage nach § 4 S. 1 KSchG ergibt sich das Feststellungsinteresse des Arbeitnehmers aber bereits daraus, dass die Klageerhebung notwendig ist, um die Präklusionswirkung des § 7 KSchG zu verhindern.2 V. Zwischenergebnis Die Klage des A ist zulässig. B. Begründetheit Die Klage des A ist begründet, wenn das Arbeitsverhältnis nicht durch die von U ausgesprochene Kündigung zum 28.2.2011 aufgelöst wird. Dazu müsste die Kündigung sozialwidrig sein oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam sein. I. Wirksame Kündigungserklärung Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst eine wirksame Kündigungserklärung voraus. 1. Schriftform und Bestimmtheit der Kündigungserklärung Bei einer Kündigung handelt es sich um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung, so dass ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen zu beurteilen ist, §§ 104 ff. BGB.3 Durch die schriftliche Kündigungserklärung der U gegenüber A wird dem Schriftformerfordernis in § 623 BGB entsprochen, so dass eine Nichtigkeit nach § 125 S. 1 BGB außer Betracht bleibt. Die inhaltlichen Anforderungen an die Bestimmtheit der Kündigungserklärung sind nicht zweifelhaft. Insbesondere hat U keine außerordentliche, sondern erkennbar eine ordentliche Kündigung zum regulären Kündigungstermin aussprechen wollen. 2. Personalchef als kündigungsberechtigte Person Fraglich könnte sein, ob der die Kündigung erklärende P auch zur Kündigung berechtigt war. Im Grundsatz muss die Kündigung bei juristischen Personen vom Organ abgegeben werden.4 Trotz des höchstpersönlichen Charakters des Kündi1 BAG 2.4.1987 NZA 1987, 808, 810; ErfK/KIEL § 4 KSchG Rn. 9; APS/HESSE § 4 KSchG Rn. 18; KR/FRIEDRICH § 4 KSchG Rn. 17. 2 BAG 11.2.1981 DB 1981, 2233, 2233; ErfK/KIEL § 4 KSchG Rn. 9. 3 ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 620 BGB Rn. 16. 4 PREIS, Individualarbeitsrecht, § 56 III.

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„Der low performer“

Lösungsvorschlag Fall 18

gungsrechts ist eine Vertretung aber nicht ausgeschlossen. 5 Die Kündigung kann durch einen Bevollmächtigten erklärt werden, was auf Arbeitgeberseite die Regel sein dürfte. Regelmäßig besitzt der Betriebs- oder der Personalleiter eine Vollmacht zur Kündigung.6 Es ist zu unterstellen, dass P als Personalchef entweder durch eine die Kündigungsvollmacht beinhaltende Generalvollmacht oder durch eine isolierte Vollmacht zur Kündigung berechtigt war. Mit Blick auf § 174 BGB wird davon auszugehen sein, dass das Kündigungsschreiben an A einen entsprechenden Nachweis der Bevollmächtigung enthielt. Im Übrigen wäre Gegenteiliges nicht schädlich, da Personalleiter ebenso wenig wie Prokuristen (wegen § 15 Abs. 2 HGB) eine Vollmachtsurkunde vorlegen müssen.7 Das „Inkenntnissetzen“ im Sinne des § 174 S. 2 BGB gegenüber den Betriebsangehörigen liegt in der Regel darin, dass der Arbeitgeber bestimmte Mitarbeiter zum Beispiel durch die Bestellung zum Prokuristen, Generalbevollmächtigten oder Leiter der Personalabteilung in eine Stellung beruft, mit der das Kündigungsrecht verbunden zu sein pflegt.8 3. Zwischenergebnis Insgesamt liegt also eine wirksame Kündigungserklärung der U an A vor. II. Einhaltung der Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG Die Kündigung könnte nach § 7 KSchG rechtswirksam sein, wenn die Kündigungsschutzklage nicht fristgerecht nach § 4 S. 1 KSchG erhoben wurde. 1. Anwendbarkeit und Rechtsfolge von § 4 S. 1 KSchG § 4 S. 1 KSchG gilt gemäß § 23 Abs. 1 KSchG unabhängig von der Betriebsgröße und ist demnach vorliegend anwendbar. Nach § 4 S. 1 KSchG muss eine Kündigungsschutzklage binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhoben werden. Nach Ablauf dieser Frist gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam. Zwar ist streitig, ob diese Rechtsfolge alle Unwirksamkeitsgründe umfasst oder z.B. die Frage der Kündigungsberechtigung9 und der Einhaltung der Kündigungsfrist10 ausklammert bleiben. Dieser Streit kann jedoch dahinstehen, wenn die Klage gemäß § 4 S. 1 KSchG fristgerecht erhoben wurde. 2. Berechnung der Klagefrist Für die Berechnung der Klagefrist gelten über die Verweisung des § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 222 Abs. 2 ZPO die §§ 187 ff. BGB. Entscheidend ist, wann A die Kündigung zugegangen ist. Hierbei kommen drei voneinander zu trennende Zeitpunkte in Betracht.

5 ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 620 BGB Rn. 23. 6 PREIS, Individualarbeitsrecht § 56 III. 7 BAG 29.10.1992 NZA 1993, 307, 308; BAG 11.7.1991 NZA 1992, 449, 450 f.; ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 620 BGB Rn. 24. 8 BAG 29.10.1992 NZA 1993, 307, 308. 9 So BENDER/SCHMIDT NZA 2004, 358, 362. 10 So BAG 15.12.2005 NJW 2006, 2284, 2285 f.

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Fall 18 Lösungsvorschlag

„Der low performer“

Frühester Zugangszeitpunkt könnte der 26.8.2010 sein, als S die schriftliche Kündigung an F übergeben wollte, diese jedoch die Annahme verweigerte. Dann hätte die Klageerhebung bis zum 16.9.2010 erfolgen müssen. Die Klage des A ist aber erst am 17.9.2010 beim Arbeitsgericht eingegangen, so dass die Frist des § 4 S. 1 KSchG in diesem Falle nicht eingehalten worden wäre. Die Kündigung könnte aber auch erst durch den Einwurf in den Briefkasten des A am 30.8.2010 zugegangen sein. Dann wäre die Drei-Wochen-Frist am 20.9.2010 abgelaufen und die Klageerhebung am 17.9.2010 demnach noch rechtzeitig erfolgt. Erst recht läge eine fristgerechte Klageerhebung vor, wenn man die Urlaubsrückkehr des A am 10.9.2010 als maßgeblichen Zugangszeitpunkt ansehen würde. Demnach wäre die Kündigung gemäß § 7 KSchG nur dann rechtswirksam, wenn die versuchte Übergabe der schriftlichen Kündigung an F am 26.8.2010 einen Zugang der Kündigung bewirkte. a) Zugang der Kündigung am 26.8.2010 gemäß § 130 BGB durch Übergabeversuch an F Eine Willenserklärung ist dem Empfänger i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB zugegangen, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt und für ihn unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von dem Inhalt des Schreibens Kenntnis zu nehmen.11 Dies vorausgesetzt, erscheint es in zweierlei Hinsicht problematisch, einen Zugang der Kündigungserklärung an A durch die fehlgeschlagene Übergabe an F anzunehmen. Fraglich ist zunächst, ob die Kündigung als verkörperte Willenserklärung bereits durch den Zustellungsversuch an einen Dritten derart in die Verfügungsgewalt des Empfängers geraten kann, dass ein Zugang bejaht werden kann. Darüber hinaus ist problematisch, ob die Annahmeverweigerung durch den Dritten einem Zugang entgegensteht. aa) F als Empfangsbotin des A Eine Willenserklärung muss nicht zwingend dem Empfänger gegenüber abgegeben werden, um nach § 130 Abs. 1 BGB wirksam zu sein. Sie geht einem Abwesenden auch dann zu, wenn der Erklärende sie einem Empfangsboten übergibt. Der Zugang ist in einem solchen Fall in dem Zeitpunkt erfolgt, in dem nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge die Weiterleitung an den Adressaten zu erwarten war.12 Demnach wäre der Zustellversuch an F unschädlich, wenn diese Empfangsbotin des A ist. Empfangsbote ist, wer vom Empfänger zur Entgegennahme von Erklärungen bestellt worden ist oder nach der Verkehrsanschauung als bestellt und geeignet anzusehen ist, ohne Empfangsvertreter nach § 164 Abs. 3 BGB zu sein.13 Ehegatten, die schriftliche Erklärungen innerhalb der gemeinsamen Wohnung entgegennehmen, fungieren unter Berücksichtigung der Gesamtumstände regelmäßig lediglich als unselbstständige Empfangseinrichtungen und nicht als Hilfsperson mit eigener Empfangszuständigkeit. Sie sind damit

11 BGH 27.10.1982 NJW 1983, 929, 930; BAG 11.11.1992 NJW 1993, 1093, 1095; Palandt/ELLENBERGER § 130 BGB Rn. 5. 12 Palandt/ELLENBERGER § 130 BGB Rn. 9. 13 BSG 7.10.2004 NJW 2005, 1303, 1304; Palandt/ELLENBERGER § 130 BGB Rn. 9.

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„Der low performer“

Lösungsvorschlag Fall 18

als Empfangsboten anzusehen.14 F ist folglich Empfangsbotin des A. Der Versuch der S, den Zugang des Kündigungsschreibens durch Übergabe an die Ehefrau des eigentlichen Empfängers A herbeizuführen, ist folglich nicht zu beanstanden. bb) Zurechenbare Zugangsvereitelung durch F Fraglich ist jedoch, wie es sich auswirkt, dass F die Entgegennahme des Kündigungsschreibens kategorisch ablehnt. Es wäre denkbar, die grundlose Ablehnung durch einen Empfangsboten dem Erklärungsempfänger zuzurechnen, so dass dieser sich nach Treu und Glauben so behandeln lassen muss, als sei ihm das Schreiben im Zeitpunkt der Ablehnung zugegangen.15 Dann wäre A nach § 242 BGB so zu behandeln, als sei ihm die Kündigung bereits am 26.8.2010 zugegangen. Gegen eine solche Auslegung des § 130 Abs. 1 S. 1 BGB ist jedoch einzuwenden, dass dann die Gefahr besteht, einen Zugang auch anzunehmen, wenn der Empfangsbote eigenmächtig, ohne ein Einvernehmen mit dem Erklärungsempfänger hergestellt zu haben, die Annahme der Erklärung verweigert. Wenn der Erklärungsempfänger aber keinen Einfluss auf das Verhalten des Empfangsboten genommen hat, kann auch kein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Erklärungsempfängers angenommen werden, welches aber Voraussetzung für die Anwendung des § 242 BGB wäre.16 Hier ist ein derartiges Einvernehmen zwischen den Ehepartnern indes nicht ersichtlich. Demzufolge ist die Kündigungserklärung nicht bereits durch den Übergabeversuch der S am 26.8.2010 zugegangen. Anmerkung: Die (genaue) Kenntnis dieses Meinungsstreits kann vom Klausurbearbeiter nicht erwartet werden. Erforderlich ist es jedoch, die Frage des Zugangs zu problematisieren. Wer der Gegenposition folgt und einen Zugang annimmt, muss zu Beginn der nachfolgenden Prüfungspunkte jeweils feststellen, ob die Heilungswirkung des § 7 KSchG eingreift. Dies ist bei den Prüfungspunkten II. und III. streitig.

b) Zwischenergebnis Da die übrigen in Betracht kommenden Zugangszeitpunkte eine fristgerechte Klageerhebung zur Folge haben, kann die Frage, ob die Kündigung am 30.8. oder erst am 10.9.2010 zugegangen ist, an dieser Stelle (noch) dahinstehen. Eine Heilung möglicher Unwirksamkeitsgründe nach § 7 KSchG kommt nicht in Betracht. III. Kündigungsfrist des § 622 Abs. 2 BGB Weiterhin müsste die Kündigungsfrist gewahrt worden sein. Die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist führt zwar im Regelfall nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Die Auslegung einer solchen Kündigung hat jedoch zur Folge, dass die Kündigung erst zum nächstmöglichen Kündigungszeitpunkt wirksam wird.17 14 BGH 13.1.1951 NJW 1951, 313; BAG 9.6.2011 NZA 2011, 847, 848; BSG 7.10.2004 NJW 2005, 1303, 1304; Palandt/ELLENBERGER § 130 BGB Rn. 9. 15 SCHWARZ NJW 1994, 891, 892. 16 BAG 11.11.1992 NJW 1993, 1093, 1095; BAG 9.6.2011 NZA 2011, 847, 849; OLG Hamm 16.4.1982 VersR 1982, 1070; Palandt/ELLENBERGER § 130 BGB Rn. 16; ErfK/ MÜLLER-GLÖGE § 620 BGB Rn. 55. 17 BAG 15.12.2005 NZA 2006, 791, 793; BENDER/SCHMIDT NZA 2004, 358, 363.

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Fall 18 Lösungsvorschlag

„Der low performer“

1. Berechnung der Kündigungsfrist In dem Arbeitsvertrag zwischen A und U ist keine Kündigungsfrist vereinbart, so dass auf die gesetzlich festgelegten Kündigungsfristen zurückzugreifen ist. Deren Länge hängt von der Dauer der Betriebszugehörigkeit ab.18 A ist seit 1992 in dem Betrieb des U angestellt, so dass er zum Kündigungszeitpunkt 18 Jahre bei U beschäftigt war. Gemäß § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 BGB beträgt die Kündigungsfrist für Arbeitnehmer, die mehr als fünfzehn, aber noch keine zwanzig Jahre für den kündigenden Arbeitgeber tätig sind, sechs Monate zum Ende eines Kalendermonats. 2. Einhaltung der Kündigungsfrist Die Kündigungsfrist wird durch den nach § 130 Abs. 1 BGB zu bestimmenden Zugang der Kündigung in Gang gesetzt.19 Laut der Kündigungserklärung vom 26.8.2010 soll das Arbeitsverhältnis zum 28.2.2011 beendet werden. Die sechsmonatige Kündigungsfrist ist demnach nur dann gewahrt, wenn die Kündigung A bis Ende August 2010 zugegangen ist. Wie bereits festgestellt, ist die Kündigungserklärung A nicht durch die versuchte Übergabe von S an F zugegangen. a) Fristwahrender Zugang des Kündigungsschreibens am 30.8.2010 Möglicherweise ist die Kündigung A aber mit dem Einwurf des Kündigungsschreibens durch den Postboten am 30.8.2010 zugegangen. Durch den Einwurf des Kündigungsschreibens am 30.8.2010 in den Briefkasten des A gelangt das Kündigungsschreiben in dessen Machtbereich.20 Die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch A bestand zu dem Zeitpunkt, zu dem unter normalen Umständen mit einer Leerung des Briefkastens zu rechnen ist. Die Leerung des Briefkastens erfolgt regelmäßig vormittags,21 so dass der bereits morgens eingeworfene Brief am selben Tag zugeht. Demzufolge wäre die Kündigung fristwahrend am 30.8.2010 zugegangen. aa) Personalisiertes Zugangsverständnis im Arbeitsrecht22 Allerdings könnte die urlaubsbedingte Abwesenheit des A zu dem nunmehr maßgeblichen Zeitpunkt dem Zugang der Kündigungserklärung am 30.8.2010 entgegenstehen. Fraglich ist daher, ob die urlaubsbedingte Abwesenheit eines Arbeitnehmers derart von den gewöhnlichen Umständen abweicht, dass der Absender mit einer Kenntnisnahme durch den Empfänger nicht rechnen konnte.

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ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 622 BGB Rn. 2. ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 622 BGB Rn. 11. Vgl. Palandt/ELLENBERGER § 130 BGB Rn. 6. BAG 8.12.1983 NJW 1984, 1651, 1652; a.A. Palandt/ELLENBERGER § 130 BGB Rn. 6 (Briefe, die bis 18:00 Uhr eingeworfen werden, gehen noch am gleichen Tage zu) m.w.N. 22 Angesichts der Hinweise im Sachverhalt kann man erwarten, dass der verständige Klausurbearbeiter das Problem der urlaubsbedingten Abwesenheit des A aufwirft und sich hiermit auseinandersetzt. Eine dem vorliegenden Lösungsvorschlag vergleichbare Argumentationsdichte kann nicht erwartet werden und wäre ggf. bei der Bewertung (besonders) positiv zu berücksichtigen.

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Lösungsvorschlag Fall 18

Es ließe sich aufgrund der engen Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vertreten, den Zugang im Rahmen des Arbeitsverhältnisses individuell zu bestimmen. Dies hieße, dass der Arbeitgeber, der von der urlaubsbedingten Abwesenheit seines Arbeitnehmers weiß, berechtigterweise nicht damit rechnen kann, dass eine an die Heimatadresse seines Arbeitnehmers gerichtete Kündigungserklärung dem Arbeitnehmer vor seiner Urlaubsrückkehr zugeht.23 Für eine subjektive Auslegung des § 130 Abs. 1 S. 1 BGB spricht, dass der Arbeitnehmer mit der Inanspruchnahme des Urlaubs lediglich ein in § 1 BUrlG verbürgtes Recht wahrnimmt, was ihm nicht zum Nachteil gereichen kann. Dann müsste der Arbeitgeber die urlaubsbedingte Abwesenheit respektieren. Entscheidend ist nach dieser Ansicht die Kenntnis des Arbeitgebers von der urlaubsbedingten Abwesenheit des Arbeitnehmers. P wird als Personalleiter über die Urlaubszeiten der Arbeitnehmer informiert sein. Angesichts der bei S bestehenden Kenntnis über die Ortsabwesenheit des A ist auch davon auszugehen, dass P weiß, dass A verreist ist.24 Dessen Kenntnis wiederum wird, weil er bevollmächtigt ist, die GmbH in Personalangelegenheiten zu vertreten, U über § 166 Abs. 1 BGB zugerechnet. Mithin war U die Urlaubsabwesenheit des A bekannt. Nach dieser Ansicht wäre die Kündigungserklärung A nicht allein durch den Einwurf in den Briefkasten am 30.8.2010, sondern erst durch die konkrete Möglichkeit zur Kenntnisnahme bei seiner Rückkehr am 10.9.2010 zugegangen, was für die Einhaltung des Kündigungstermins zum 28.2.2011 zu spät gewesen wäre. bb) Objektives Zugangsverständnis Gegen ein besonderes Zugangsverständnis im Arbeitsrecht bestehen aber erhebliche Bedenken. Dem Wortlaut des § 130 Abs. 1 S. 1 BGB lässt sich nicht entnehmen, dass eine Kündigung z.B. der Wohnung dem Erklärungsempfänger auch dann zugeht, wenn dieser urlaubsbedingt ortsabwesend ist, dies jedoch nicht für eine Kündigungserklärung gelten soll, die das Arbeitsverhältnis betrifft. Der Zugang der Post während der urlaubsbedingten Abwesenheit ist ein allgemeines Risiko des Arbeitnehmers. Er muss dafür sorgen, dass ihn wichtige Post auch während des Urlaubs erreicht. Unterlässt der Arbeitnehmer derartige Vorkehrungen, hat dies auf den Zugang von Willenserklärungen jeglicher Absender keinen Einfluss. Abweichend zum allgemeinen Rechtsverkehr für den Fall der Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer besondere Zugangsvoraussetzungen zu errichten, entbehrt einer einsichtigen Begründung. Bereits deshalb ist eine spezifisch arbeitsrechtliche Auslegung des im Allgemeinen Teil des BGB stehenden § 130 Abs. 1 S. 1 BGB abzulehnen. Weiterhin sprechen Sinn und Zweck des § 130 Abs. 1 S. 1 BGB gegen dessen subjektives Verständnis. Die klare Bestimmung des Zugangs einer Willenserklärung ist aus Gründen der Rechtssicherheit erforderlich. Der Absender einer Erklärung muss erkennen können, wann diese zugeht und damit wirksam ist. Dies wird jedoch erschwert, wenn der Zugang von der Ortsabwesenheit des Erklärungsempfängers abhängig gemacht 23 BAG 16.12.1980 NJW 1981, 1470; CORTS DB 1979, 2081, 2083; POPP DB 1989, 1133, 1135. 24 Sollte S über die Urlaubsgesuche selbst entscheiden und deshalb nur sie alleine Kenntnis über die Ortsabwesenheit des A haben, kann die Kenntnis der S dem P analog § 166 Abs. 1 BGB zugerechnet werden, weil S dann als sog. Wissensvertreterin gehandelt hat.

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wird. Da es prinzipiell zur Privatsphäre des Arbeitnehmers gehört, wie er seinen Urlaub verbringt, darf die Mitteilung eventueller Reisepläne keinen Einfluss auf den Zugang von Willenserklärungen haben. Eine Differenzierung derart, dass eine Kündigung gegenüber einem Arbeitnehmer ausgeschlossen ist, der den Arbeitgeber von seinen Reisevorhaben unterrichtet hat, während eine Kündigung von Arbeitnehmern möglich ist, die dem Arbeitgeber ihre Abwesenheit nicht mitgeteilt haben, erscheint ungerechtfertigt. Auch ist es möglich, dass der Arbeitnehmer seine Urlaubspläne kurzfristig ändert und trotz vorheriger Ankündigung nicht verreist. Dem Arbeitgeber würde damit bei einer subjektiven Auslegung des Zugangsbegriffes eine über das normale Transportrisiko hinausgehende Unsicherheit aufgebürdet, ob der Arbeitnehmer tatsächlich verreist ist oder nicht. Daher ist auch im Arbeitsrecht von einem objektiven Zugangsbegriff auszugehen.25 Durch eine objektive Auslegung des § 130 Abs. 1 S. 1 BGB besteht auch nicht die Gefahr einer Verkürzung von Arbeitnehmerrechten. In der wesentlichen Frage der rechtzeitigen Erhebung der Kündigungsschutzklage nach § 4 S. 1 KSchG hat der Arbeitnehmer auch in diesem Fall die Möglichkeit, nachträglich eine Klagezulassung nach § 5 KSchG zu erlangen. Somit ist eine Abweichung vom objektiven Zugangsbegriff auch nicht durch die konkrete Interessenlage des Erklärungsempfängers geboten. b) Zwischenergebnis Die urlaubsbedingte Abwesenheit des A ändert demnach nichts an dem Befund, dass das Kündigungsschreiben mit dem Einwurf in den Briefkasten des A am 30.8.2010 zugegangen ist. Die Frist des § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 BGB für eine Kündigung zum 28.2.2011 ist folglich gewahrt. IV. Anhörung des Betriebsrats Die Kündigung könnte gemäß § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG unwirksam sein. Voraussetzung hierfür ist, dass der Betriebsrat nicht angehört wurde. Nach dem Sinn und Zweck der Regelung gilt diese Rechtsfolge auch bei einer fehlerhaften Anhörung.26 Für eine ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats müsste der Arbeitgeber zunächst seiner Mitteilungspflicht gemäß § 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG Genüge tun. Inhaltlich erfüllt der Arbeitgeber seine Mitteilungspflichten, wenn er dem Betriebsrat die Gründe der Kündigung nennt, die Personalien des zu kündigenden Arbeitnehmers mitteilt und die Art der Kündigung angibt.27 P teilte dem B während einer Unterredung am Abend des 20.8.2010 den Kündigungssachverhalt des A mit, spezifiziert durch Grund, Art und Termin der Kündigung. Damit hat P den inhaltlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Mitteilung im Sinne des § 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG entsprochen. Die Mitteilung erfolgte gegenüber B, der als Betriebsratsvorsitzender nach § 26 Abs. 2 S. 2 BetrVG richtiger Adressat der Erklärung ist. Gegen die ordnungsgemäße Einleitung des Anhörungsverfahrens könnte aber sprechen, dass B im Rahmen einer „auswärtigen Betriebsfeier“ von P über die 25 BAG 16.3.1988 NJW 1989, 606, 607; BAG 2.3.1989 NJW 1989, 2213, 2214; siehe auch BAG 24.6.2004 NZA 2004, 1330. 26 BAG 16.9.1993 DB 1994, 381; SPV/PREIS, Rn. 311. 27 ErfK/KANIA § 102 BetrVG Rn. 5; SPV/PREIS, Rn. 326 ff.

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Lösungsvorschlag Fall 18

Kündigung informiert wurde. Fraglich ist, ob eine Mitteilung an den Betriebsrat deshalb unwirksam ist, weil sie außerhalb des Betriebes und der Arbeitszeit stattfindet. Einen Anhaltspunkt bietet das Gesetz in §§ 30 S. 1, 37 Abs. 3, 39 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 BetrVG. Hieraus ergibt sich, dass der Betriebsrat die ihm obliegenden gesetzlichen Aufgaben grundsätzlich während der Arbeitszeit durchführen soll. Demgemäß hat auch die Information des Betriebsrates regelmäßig während der Arbeitszeit des Betriebsratsmitglieds und innerhalb der Arbeitsräume zu erfolgen.28 Allerdings zeigt § 37 Abs. 3 BetrVG, dass eine Betriebsratstätigkeit auch außerhalb der Arbeitszeit erforderlich sein kann und vom Gesetzgeber zugelassen wird. Dennoch verpflichtet der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit, § 2 Abs. 1 BetrVG, den Arbeitgeber, dafür zu sorgen, dass Betriebsratsmitglieder in ihrer Amtseigenschaft nur während der Arbeitszeit in Anspruch genommen werden. Anhörungsverfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG sind grundsätzlich während der Arbeitszeit in den Betriebsräumen einzuleiten.29 Infolgedessen ist der Betriebsratsvorsitzende nicht dazu verpflichtet, Erklärungen des Arbeitgebers außerhalb der Arbeitszeit und der Betriebsräume entgegenzunehmen. Wenn aber der Betriebsratsvorsitzende, wie hier geschehen, die zur „Unzeit“ erfolgte Mitteilung des Arbeitgebers nicht nur widerspruchslos entgegennimmt, sondern sogar eine Behandlung in der nächsten Betriebsratssitzung zusichert, wird eine formell einwandfreie Einleitung des Anhörungsverfahrens nach § 102 Abs. 1 BetrVG durch den Arbeitgeber zu bejahen sein.30 Letztlich hat der Betriebsratsvorsitzende die vorgesehene Kündigung des A auch in die Betriebsratssitzung eingebracht und der Betriebsrat hat der Kündigung zugestimmt. Insgesamt hat damit ein ordnungsgemäßes Anhörungsverfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG stattgefunden. Eine Unwirksamkeit der Kündigung nach § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG scheidet aus. V. Wirksamkeit nach § 1 KSchG Die Kündigung gegenüber A könnte aber gemäß § 1 Abs. 1, 2 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. 1. Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes Nach § 1 Abs. 1 KSchG findet das KSchG nur Anwendung, wenn der zu kündigende Arbeitnehmer bereits sechs Monate ununterbrochen in einem Arbeitsverhältnis stand. A ist seit 1992 ununterbrochen bei U beschäftigt und erfüllt damit die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG. Die U-GmbH beschäftigt zumindest 35 Kommissionierer, so dass die nach § 23 Abs. 1 KSchG für die Anwendbarkeit des § 1 KSchG erforderliche Mindestbetriebsgröße gegeben ist. 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung Die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses von A ist rechtsunwirksam, wenn sie nicht sozial gerechtfertigt ist. Sozial ungerechtfertigt ist die Kündigung nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Er28 ErfK/KANIA § 102 BetrVG Rn. 4. 29 BAG 27.8.1982 NJW 1983, 2835. 30 Vgl. BAG 27.8.1982 NJW 1983, 2835; ErfK/KANIA § 102 BetrVG Rn. 4.

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fordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. a) Betriebsbedingte Kündigung31 Zunächst wäre an eine betriebsbedingte Kündigung zu denken. Eine betriebsbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2, 3 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung trifft, durch die die Beschäftigungsmöglichkeit eines Arbeitnehmers dauerhaft wegfällt, der Arbeitnehmer weder auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann noch sonstige mildere Mittel statt der Kündigung möglich sind und der Arbeitgeber die Sozialauswahl ordnungsgemäß durchführt.32 Fraglich erscheint, ob die Einführung der EDV-Geräte eine derart gravierende innerbetriebliche Veränderung darstellt, dass die bisherigen Kommissionierertätigkeit wegfällt und neue wesensverschiedene Arbeitsplätze geschaffen werden. Hiergegen spricht, dass die grundsätzliche Aufgabe der Kommissionierer, Warenbestellungen und Versandaufträge zu bearbeiten, bestehen bleibt. Auch bleibt das Zentrallager als Ort und Sachgrund für die Tätigkeit unverändert. Die einzige innerbetriebliche Veränderung liegt darin, dass die arbeitsvertraglichen Anforderungen an die Tätigkeit geändert werden. Aus technischen Gründen wird die zusätzliche Handhabung von EDV-Geräten notwendig, welche die gleich gebliebenen Arbeitsschritte dokumentieren. Eine betriebsbedingte Kündigung kommt bei geänderten Anforderungen an den konkreten Arbeitsplatz aber allenfalls dann in Betracht, wenn die vom Arbeitgeber aufgestellte Forderung nach zusätzlichen Kenntnissen des Mitarbeiters so weit außerhalb der üblichen Schwankungsbreite steht, dass sie vom Direktionsrecht nicht mehr gedeckt ist.33 Durch das arbeitsvertragliche Direktionsrecht kann der Arbeitgeber die im Arbeitsvertrag nur rahmenmäßig umschriebene Leistungspflicht nach Zeit, Ort und Art bestimmen, vgl. § 106 GewO.34 Das Direktionsrecht muss sich dabei innerhalb der durch den Arbeitsvertrag aufgestellten Grenzen bewegen, so dass dem Arbeitnehmer kein anderer Tätigkeitsbereich zugewiesen werden darf. Entscheidend ist daher, ob sich durch das neu eingeführte EDV-System das bisherige Tätigkeitsbild maßgeblich geändert hat. Gegen eine wesentliche Änderung der arbeitsvertraglich festgelegten Anforderungen spricht bereits, dass die Bedienung des Gerätes im Rahmen einer eintägigen Schulung zu erlernen war. Auch können mit Ausnahme des A alle Kommissionierer ohne Probleme mit den neuen Geräten umgehen. Demnach findet keine prägende Veränderung des Tätigkeitsbildes statt. Die vorgenommene „Technisierung“ des Arbeitsplatzes liegt innerhalb der üblichen Schwankungsbreite und ist vom Direktionsrecht des Arbeitgebers gedeckt. Hie-

31 Die maßgeblichen Gründe für die Kündigung liegen hier eindeutig entweder im Verhalten oder in der Person des Arbeitnehmers. Infolgedessen ist es nicht (besonders) negativ zu bewerten, wenn die Möglichkeit einer betriebsbedingten Kündigung nicht erkannt wird; keinesfalls ist eine betriebsbedingte Kündigung als fern liegend oder abwegig zu erachten. 32 SPV/PREIS, Rn. 902 ff. 33 APS/DÖRNER/VOSSEN § 1 KSchG Rn. 248a; HUNOLD NZA 2000, 802, 806. 34 BAG 25.10.1989 NZA 1990, 561, 562; ErfK/PREIS § 106 GewO Rn. 2; PREIS, Individualarbeitsrecht, § 18 VI 1.

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Lösungsvorschlag Fall 18

raus folgt im Umkehrschluss, dass die Arbeitsplätze der Kommissionierer als solche fortbestehen. Eine betriebsbedingte Kündigung scheidet aus. b) Verhaltensbedingte Kündigung Die Kündigung des A wegen Unterschreitung der durchschnittlichen Arbeitsleistung könnte aber als verhaltensbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt sein. Eine verhaltensbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn ein Arbeitnehmer schuldhaft eine Vertragspflicht verletzt. Darüber hinaus muss die Vertragsverletzung auch künftig negative Auswirkungen zeitigen und darf nicht durch mildere Mittel, insbesondere eine Abmahnung, abgewendet werden können. Schließlich ist anhand einer Interessenabwägung darüber zu entscheiden, ob die Vertragsverletzung so gewichtig ist, dass sie das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt des Arbeitsplatzes überwiegt.35 aa) Pflichtverletzung Problematisch erscheint bereits die rechtswidrige Verletzung einer arbeitsvertraglichen Pflicht durch A. U macht A den kündigungsrelevanten Vorwurf, keine ausreichende Arbeitsleistung zu erbringen. Grund zur Beanstandung ist dabei nicht die Qualität der von A erbrachten Leistung; der Vorwurf lautet vielmehr, dass A seit Einführung des neuen EDV-Gerätes in der vorgesehenen Zeit nicht genügend Ware kommissioniert, mithin mengenmäßig zu wenig arbeitet. Zur Begründung bezieht sich U, wie aus den beiden Abmahnungen hervorgeht, zum einen auf die Minderleistung des A im Vergleich zum Abteilungsdurchschnitt. Zum anderen fordert U den A auf, eine Leistung von mindestens 100 % zu erbringen. Als Maßstab zur Definition der einhundertprozentigen Arbeitsleistung zieht U die im Rahmen eines Prämiensystems festgelegte „Normalleistung“ heran. Insoweit ist fraglich, ob die konkrete quantitative Arbeitsleistung des A tatsächlich als eine die vertraglichen Pflichten verletzende Minderleistung anzusehen ist. Dies hängt davon ab, zu welcher Leistung der Arbeitnehmer genau verpflichtet ist. Der konkrete Inhalt der Verpflichtung zur Arbeitsleistung ergibt sich zunächst aus dem Inhalt des Arbeitsvertrages. Dieser enthält regelmäßig Aussagen über Ort, Art und Zeit der zu leistenden Arbeit.36 Diese Faktoren stehen hier aber nicht in Frage. Streitig ist vielmehr die Quantität der von A geforderten Arbeitsleistung, wozu der Arbeitsvertrag des A allerdings keine Angaben macht. Problematisch ist demzufolge, wie der Inhalt der Arbeitspflicht zu präzisieren ist, wenn der Arbeitsvertrag Qualität und Quantität der Leistung nicht regelt. (1) Objektiver Leistungsbegriff Man könnte die vertraglich geforderte Arbeitsleistung objektiv bestimmen. Dann hätte der Arbeitgeber, sofern arbeitsvertraglich nichts Abweichendes vereinbart ist, bei verständiger Auslegung des Arbeitsvertrages nach § 157 BGB einen Anspruch auf eine objektive Normalleistung des Arbeitnehmers und nicht

35 Vgl. zu den Voraussetzungen einer verhaltensbedingten Kündigung SPV/PREIS, Rn. 1196 ff. 36 PREIS, Individualarbeitsrecht, § 26 III.

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nur darauf, dass der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung im Rahmen des persönlichen Leistungsvermögens unter angemessener Anspannung seiner Kräfte und Fähigkeiten erbringt.37 Um eine Pflichtverletzung des A annehmen zu können, müsste demnach die von A erbrachte Arbeitsleistung dauerhaft hinter der objektiv zu bestimmenden Normalleistung liegen. A kommissioniert im Verhältnis zu den anderen Kommissionierern permanent deutlich weniger Ware. Die von ihm erbrachte Arbeitsleistung beträgt 2009 und im 1. Quartal 2010 nur zwischen 60 und 65 % der durch U definierten Normalleistung. Entscheidend ist damit, ob die durch U definierte Normalleistung die objektiv zu bestimmende Normalleistung widerspiegelt. Das wäre nicht der Fall, wenn U einen willkürlichen Leistungsmaßstab aufgestellt hätte, der bestimmte Personengruppen bevorzugt oder benachteiligt. Die Leistung wird nach einem Planzeiten- und Prämienabrechnungssystem gemessen, das auf einem Planzeitenkatalog aufbaut. Dass die von U dargelegte Methode der Ermittlung des Leistungsgrades Fehler aufweist, die einzelne Arbeitnehmer benachteiligen würden oder das prozentuale Verhältnis der Leistungsgrade zueinander verschiebt, ist nicht erkennbar.38 Vielmehr sind die einzelnen Arbeitsschritte unabhängig von den sie ausführenden Personen mit Planzeitwerten versehen. Aus dem Verhältnis der monatlichen Arbeitsleistung zu der monatlichen Arbeitszeit ergibt sich eine objektive Aussage über die erledigte Arbeitsmenge. Dies bietet einen objektiven Vergleichsmaßstab. Dass die Normalleistung jedenfalls nicht willkürlich definiert ist, zeigt im Übrigen auch der Umstand, dass sie von der Durchschnittsleistung der Kommissionierer um 5 % nach unten abweicht. Gegen die Durchschnittsberechnung zur Bestimmung der objektiven Normalleistung ließe sich jedoch einwenden, dass in einer sehr guten Arbeitsgruppe schon der an sich gute Arbeitnehmer, bezogen auf diese Gruppe, unterdurchschnittliche Arbeitsleistungen erbringt bzw. umgekehrt die Leistung eines absolut betrachtet schwachen Mitarbeiters im Vergleich zu einem noch schwächeren Kollegen überdurchschnittlich ist.39 Allerdings liegt es in der Logik eines arithmetischen Mittels, dass sowohl die überdurchschnittlichen als auch die unterdurchschnittlichen Werte Berücksichtigung finden. Sofern die miteinander verglichenen Personen einer vergleichbaren Aufgabe unter vergleichbaren Bedingungen nachgehen, kann nicht entgegnet werden, es seien überproportional viele „high-performer“ mitberücksichtigt.40 Dann ist nämlich die vermeintlich „hohe“ Leistung eben nur Durchschnitt. Entscheidend ist zur Begründung einer Minderleistung, dass vergleichbare Arbeitnehmer den vergleichbaren Aufgaben unter vergleichbaren Bedingungen nachgehen konnten. Insofern müsse jeder Arbeitnehmer, der sich am Durchschnitt messen lassen soll, in etwa die gleiche Chance gehabt haben, durchschnittliche Erfolge zu erzielen.41 Es gilt, anhand der Tätigkeit den größten gemeinsamen Nenner zu finden, ohne Unterschiede in der 37 V. HOYNINGEN-HUENE/LINCK § 1 KSchG Rn. 427. 38 Vgl. zu den Anforderungen der Vergleichsgruppenbildung zur Begründung einer Minderleistung vgl. ausf. FRIEMEL/WALK NJW 2010, 1557, 1559 f. 39 So BAG 22.7.1982 AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 5 m. Anm. OTTO = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 10 m. Anm. WEISS. 40 GREINER RdA 2007, 22, 32. 41 BAG 27.11.2008 NZA 2009, 842; FRIEMEL/WALK NJW 2010, 1557, 1560.

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Aufgabe zu ignorieren. Die Vergleichsgruppe ist dabei durch die Personen zu bilden, deren bisherige Tätigkeiten denen des zu kündigenden Arbeitnehmers entsprechen. Die von U aufgestellte Leistungserfassung bezog alle Kommissionierer ein und ist daher unter diesem Gesichtspunkt – da Anhaltspunkte für unterschiedliche Bedingungen nicht vorlagen – nicht zu beanstanden. Ein weiteres Kriterium, durch welches die Durchschnittsrechnung zulässigerweise beanstandet werden kann, ist die Größe des Arbeitnehmerkreises, aus dem der Durchschnitt gewonnen wird. Doch auch die Gruppengröße von 35 Personen ist vorliegend geeignet, einen aussagekräftigen Durchschnittswert zu gewinnen. Gegen die Maßstabsbildung bestehen demnach keine Bedenken, so dass die von U festgelegte Normalleistung einer objektiven Normalleistung entspricht. Allerdings ist hinsichtlich des Vergleichszeitraums die Darlegung einer längerfristigen deutlichen Unterschreitung der Durchschnittsleistung zu verlangen, wobei die erforderliche Zeitspanne vom Einzelfall abhängt.42 Die Leistungen des A unterschreiten die Normalleistung vorliegend dauerhaft um mehr als ein Drittel. Nach dem objektiven Leistungsverständnis erbringt A eine Minderleistung, die wegen der erheblichen Abweichung auch als Pflichtverletzung zu werten ist. (2) Subjektiver Leistungsbegriff Die zu erbringende Arbeitsleistung ließe sich aber auch subjektiv festlegen, so dass sich der Inhalt des Leistungsversprechens innerhalb des vom Arbeitgeber durch Ausübung des Direktionsrechts festgelegten Arbeitsinhalts nach dem persönlichen, subjektiven Leistungsvermögen des Arbeitnehmers bestimmt. Der Arbeitnehmer muss danach tun, was er soll und zwar so gut, wie er es kann. Die Leistungspflicht ist dann im Gegensatz zur objektiven Bestimmung nicht starr, sondern dynamisch und orientiert sich an der Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers.43 A gibt nach seiner zutreffenden Aussage „sein Bestes“. Damit leistet er unter angemessener Anspannung seiner geistigen und körperlichen Kräfte auf Dauer und ohne Gefährdung seiner Gesundheit das, wozu er imstande ist. Der Umstand, dass seine Arbeitsleistung dennoch vergleichsweise unterdurchschnittlich bleibt, ist belanglos. Nach dem subjektiven Leistungsbegriff genügt derjenige, der nur unterdurchschnittlich leistungsfähig ist, mit einer unterdurchschnittlichen Leistung seiner Arbeitspflicht genauso, wie von einem zu überdurchschnittlichen Leistungen fähigen Arbeitnehmer auch eine überdurchschnittliche Leistung gefordert werden kann. Dem subjektiven Leistungsverständnis zufolge liegt zumindest dem Grunde nach keine Schlechtleistung, mithin keine Pflichtverletzung durch A vor. Eine verhaltensbedingte Kündigung wäre bereits im Ansatz ungerechtfertigt. (3) Stellungnahme Fraglich ist, welcher Leistungsbegriff vorzugswürdig ist. Unter systematischen Gesichtspunkten könnte die Haftung wegen Pflichtverletzungen nach § 280 Abs. 1 BGB, der auch auf Schlechtleistungen im Arbeitsverhältnis Anwen-

42 FRIEMEL/WALK NJW 2010, 1557, 1560. 43 BAG 21.5.1992 NJW 1993, 154, 155; BAG 11.12.2003 NJW 2004, 2545, 2546; BAG 17.1.2008 NZA 2008, 693, 694; ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 643; PREIS, Individualarbeitsrecht, § 26 III 1; HROMADKA/MASCHMANN, Arbeitsrecht Bd. 1, § 6 Rn. 83.

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dung findet,44 für eine objektive Bestimmung des Leistungsprogramms sprechen. Die im Rahmen von § 280 Abs. 1 BGB ebenfalls erforderliche Pflichtverletzung ist nämlich objektiv zu bestimmen.45 Dann scheint es sachgerecht, die für eine Kündigung notwendige Pflichtverletzung ebenfalls objektiv festzulegen. Gegen den Vergleich zu § 280 Abs. 1 BGB spricht jedoch, dass die objektive Bestimmung des Leistungsprogramms nur als Gegensatz zum subjektiven Tatbestandsmerkmal des Vertretenmüssens zu verstehen ist. Der Leistungsmaßstab an sich wird damit nicht normiert, sondern muss aus dem Schuldverhältnis selbst entnommen werden. Sieht das Schuldverhältnis eine subjektive Leistungspflichtbestimmung vor, besteht also kein Widerspruch zu der in § 280 Abs. 1 BGB vorzunehmenden Auslegung des Merkmals „Pflichtverletzung“.46 Gegen den objektiven Leistungsbegriff spricht entscheidend der personale Charakter des Arbeitsverhältnisses. Der Arbeitsvertrag richtet sich im Gegensatz zum Dienstverschaffungsvertrag auf die Arbeitskraft des Arbeitnehmers als einen wesentlichen Teil der Persönlichkeit des Arbeitnehmers. Dieser drückt sich vor allem darin aus, dass der Arbeitnehmer grundsätzlich nicht einen bestimmten Arbeitserfolg schuldet, sondern nur verpflichtet ist, die eigene Arbeitskraft während der vereinbarten Arbeitszeit im Rahmen der vertraglichen und gesetzlichen Grenzen zur Leistung der „versprochenen Dienste“ unter Aufwendung aller seiner Kräfte und Möglichkeiten voll einzusetzen.47 Infolgedessen ist eine objektiv bestimmte Leistungsquantität oder -qualität mit der Individualität der persönlichen Arbeitspflicht unvereinbar. Der Umfang der Arbeitspflicht kann daher nur nach dem subjektiven Leistungsvermögen des jeweiligen Arbeitnehmers bestimmt werden. Der Arbeitsvertrag kann den Arbeitnehmer im Gegensatz zu der Regelung des § 243 Abs. 1 BGB nur dazu verpflichten, die „versprochenen Dienste“ zu leisten. Mit dieser Auslegung steht es im Einklang, dass es im Arbeits- und Dienstvertragsrecht keine Vorschriften zur Mängelgewährleistung gibt. Diese würden im Zweifel einen objektiv zu bestimmenden Fehlerbegriff voraussetzen (vgl. §§ 434 Abs. 1 S. 2, 633 Abs. 1 S. 2 BGB), was aufgrund des personalen Charakters der Arbeitsleistung aber unzulässig ist. Insgesamt sprechen die besseren Gründe daher für den subjektiven Leistungsbegriff. Hiernach ist die vergleichsweise schlechte Arbeitsleistung des A nicht als Minderleistung zu qualifizieren. Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor. Anmerkung: a.A. mit entsprechender Begründung vertretbar. In diesem Falle wären die nachfolgenden Ausführungen zur Negativprognose, einem möglichen milderen Mittel und der Interessenabwägung bereits hier anzubringen.

bb) Zwischenergebnis Mangels Pflichtverletzung scheidet eine verhaltensbedingte Kündigung nach der vorzugswürdigen Auslegung des Leistungsbegriffs damit aus.

44 45 46 47

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ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 673. Palandt/GRÜNEBERG § 280 BGB Rn. 3. GOTTHARDT, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, Rn. 21 f. ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 643.

„Der low performer“

Lösungsvorschlag Fall 18

Anmerkung: Eine längerfristige deutliche Überschreitung der durchschnittlichen Fehlerquote kann im Einzelfall allerdings gleichwohl ein Anhaltspunkt für eine vorwerfbare Verletzung vertraglicher Pflichten im Sinne eines Indizes dafür sein,48 dass der Arbeitnehmer entsprechend dem subjektiven Leistungsverständnis seine persönliche Leistungsfähigkeit nicht ausgeschöpft hat.49

c) Personenbedingte Kündigung Möglicherweise lässt sich die Kündigung des A jedoch als personenbedingte Kündigung rechtfertigen. Dies setzt voraus, dass Gründe in der Person des Arbeitnehmers die Erreichung des Vertragszwecks unmöglich machen. Gründe in der Person des Arbeitnehmers sind solche, die auf den persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des Arbeitnehmers beruhen.50 Demnach müsste die Fähigkeit oder Eignung des A, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, entfallen sein. aa) Erhebliche Störung des Austauschverhältnisses A ist nicht in der Lage, mit der neuen EDV-Technik so umzugehen, wie es die anderen Kommissionierer tun. Dies ist allerdings darauf beschränkt, dass A vergleichsweise länger braucht, um die entsprechenden Bedienungsvorgänge am Gerät vorzunehmen. Keineswegs ist er grundsätzlich außerstande, das EDV-Gerät zu bedienen. Die generelle Fähigkeit, mit der neu eingeführten Technik umzugehen und die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, ist ihm also nicht abzusprechen. Auch wenn A die vertraglich geschuldete Leistung an sich erbringen kann, weicht sie vom Umfang her erheblich von der vergleichbarer Arbeitnehmer ab. Problematisch ist, ob das bei A vorhandene quantitative Leistungsdefizit eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen kann. Voraussetzung hierfür ist, dass das dem Arbeitsvertrag zugrunde liegende Austauschverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung durch das Leistungsdefizit erheblich gestört ist.51 Gegen die Annahme, eine Störung des Austauschverhältnisses liege bereits bei einer Leistungsminderung vor, spricht, dass der Arbeitnehmer trotz der verminderten Leistungsfähigkeit die von ihm vertraglich geschuldete Leistung erbringt. Eine solche Sichtweise würde jedoch verkennen, dass der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Vertragsverhältnisses haben kann, selbst wenn der Arbeitnehmer zwar dauerhaft entsprechend dem subjektiven Leistungsbegriff die vertraglich vereinbarte Leistung erbringt, er gleichwohl aber deutlich hinter dem objektiven Leistungsmaßstab hinterherhinkt. Eine personenbedingte Kündigung kann also auch dann sozial gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitnehmer aus Gründen, die in seiner Sphäre liegen, die jedoch nicht von ihm verschuldet sein müssen, zu der nach dem Vertrag vorausgesetzten Arbeitsleistung ganz oder teilweise nicht mehr in der Lage ist.52 Der Arbeit48 49 50 51 52

BAG 27.11.2008 AP BGB § 611 Abmahnung Nr. 33. BAG 17.1.2008 NZA 2008, 693. BAG 25.8.1988 NZA 1989, 464, 466; ErfK/OETKER § 1 KSchG Rn. 99. GREINER RdA 2007, 22, 30. BAG 11.12.2003 NJW 2004, 2545, 2548; BAG 3.6.2004 NJW 2005, 90, 93; ErfK/ OETKER § 1 KSchG Rn. 99.

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Fall 18 Lösungsvorschlag

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nehmer, der trotz angemessener Bemühung die Normalleistung unterschreitet, verstößt dann zwar nicht gegen den Vertrag, gleichwohl kann die dauerhafte, nicht verhaltensgesteuerte Minderleistung die zur Vertragsbedingung erhobene Erwartung des Arbeitgebers von einem ausgewogenen Verhältnis von Leistung und Gegenleistung erschüttern und zu einer Störung des Austauschverhältnisses führen, die ein Festhalten am Vertrag für die enttäuschte Vertragspartei als nicht mehr zumutbar erscheinen lässt.53 Entscheidend ist, ob die objektive Minderleistung eine erhebliche Störung des Äquivalenzverhältnisses bewirkt. Die Parteien des gegenseitigen Vertrages gehen typischerweise davon aus, dass die Leistung des anderen Teils der eigenen gleichwertig ist.54 Diese Vorstellung der Parteien ist regelmäßig Geschäftsgrundlage. Weichen die tatsächlichen Verhältnisse von den Erwartungen schwerwiegend ab, kann der in ihrer Erwartung enttäuschten Partei ein Recht zur Anpassung oder Kündigung zustehen. Zunächst ist unter Bezugnahme auf obige Ausführungen davon auszugehen, dass die Erwartungen der U an die Leistung des A, nämlich die Erbringung der allgemein definierten Normalleistung, zulässig sind. Über die Zulässigkeit einer personenbedingten Kündigung des A entscheidet die Frage, ob seine Minderleistung derart „schwerwiegend“ ist, dass die Geschäftsgrundlage gestört ist. Als Anhaltspunkt dienen bei quantitativen Minderleistungen Werte, aufgrund derer bereits über die Erheblichkeit von Minderleistung im Rahmen von krankheitsbedingten Kündigungen geurteilt wurde. Das BAG hat es in diesem Kontext als Störung des Leistungsgleichgewichts angesehen, wenn eine schwerbehinderte Arbeitnehmerin die Normalleistung dauerhaft um ein Drittel unterschritt.55 A erbringt regelmäßig nur 60 bis 65 % der Durchschnittsleistung und bleibt damit quantitativ noch weiter unter der objektiven Normalleistung, als es die „Drittellehre“ des BAG fordert. Folglich ist eine schwerwiegende Störung des Vertragsgleichgewichts anzunehmen, die geeignet ist, eine personenbedingte Kündigung zu tragen. Anmerkung: Auch in den Fällen einer überdurchschnittlichen Fehlerquote des Arbeitnehmers, also einer qualitativen Minderleistung, richtet das BAG die Prüfung am Maßstab aus, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung beeinträchtigt ist.56 Eine Störung des Verhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung könne jedoch anders als bei den Fällen quantitativer Minder-

53 Die besondere Schwierigkeit des Falles besteht darin, dass die Unterschreitung des objektiven Leistungsminimums zwar keine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen kann, weil die Bestimmung des arbeitsvertraglichen Pflichtenprogramms einem subjektiven Leistungsmaßstab folgt, gleichwohl aber eine personenbedingte Kündigung tragen kann. Dogmatisch kann hierzu auf die in § 313 BGB geregelte Störung der Geschäftsgrundlage zurückgegriffen werden. Die zwar vertragsgemäße, den Arbeitgeber aber aufgrund der Äquivalenzstörung erheblich belastende Vertragsdurchführung ist an die tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen bzw. durch eine Kündigung aufzulösen. Hierzu instruktiv GREINER RdA 2007, 22, 28 f. 54 BGH 13.6.1980 BGHZ 77, 359, 363. 55 BAG 26.9.1991 NZA 1992, 1073, 1076. 56 BAG 17.1.2008 NZA 2008, 693, 695.

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Lösungsvorschlag Fall 18

leistungen nicht anhand absoluter Bezugsgrößen angenommen werden. Solche absoluten Bezugsgrößen, etwa dergestalt, dass bei einer doppelten oder dreifachen Fehlerquote ein Kündigungsgrund angenommen wird, berücksichtigten bei einer qualitativen Minderleistung nach Ansicht des BAG nicht hinreichend, dass je nach Art der Tätigkeit und der dabei möglicherweise auftretenden Fehler diesen ein sehr unterschiedliches kündigungsrelevantes Gewicht beizumessen sei. Es seien insofern zum einen Tätigkeiten denkbar, bei denen bereits ein einmaliger Fehler derart weitreichende Konsequenzen hat, dass eine Vertragspflichtverletzung erheblich eher anzunehmen sei als bei anderen Fehlern (z.B. Sorgfaltspflichten eines Piloten). Zum anderen gäbe es Tätigkeiten, bei denen Fehler nach der Art der Tätigkeit vom Arbeitnehmer kaum zu vermeiden und vom Arbeitgeber eher hinzunehmen seien, weil ihre Folgen das Arbeitsverhältnis nicht allzu stark belasten. Deshalb sei in den Fällen qualitativer Minderleistungen über die bloße Betrachtung der Fehlerhäufigkeit hinaus eine einzelfallbezogene Betrachtungsweise unter Berücksichtigung der konkreten Arbeitsanforderungen und der konkreten Gegebenheiten des Arbeitsplatzes geboten. Für die Einzelfallbetrachtung relevant ist insofern neben der tatsächlichen Fehlerzahl Art, Schwere und Folgen der fehlerhaften Arbeitsleistung des betreffenden Arbeitnehmers.

bb) Negative Prognose Darüber hinaus setzt die Kündigung aus personenbedingten Gründen stets voraus, dass auch für die Zukunft nicht mit einer Wiederherstellung des Gleichgewichts von Leistung und Gegenleistung zu rechnen ist.57 Die Prognose fällt durch die Aussage des A, er sehe sich außerstande, das EDV-Gerät schneller zu bedienen und dadurch mehr zu leisten, negativ aus. cc) Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen Allerdings wird durch die Person des Arbeitnehmers die Kündigung grundsätzlich nur dann bedingt, wenn erhebliche vertragliche oder betriebliche Interessen diese notwendig machen. Insoweit müssen konkrete Auswirkungen auf den Betrieb tatsächlich feststellbar sein; allein eine Gefahr für Arbeitsablauf oder Betriebsfrieden reicht nicht aus.58 Ausnahmsweise kommt es auf das Vorliegen tatsächlicher Betriebsstörungen nicht an, wenn feststeht, dass wegen eines rechtlichen oder tatsächlichen Leistungshindernisses die Möglichkeit zur Vertragsdurchführung auf Dauer entfällt.59 A beteuert, stets sein Bestes gegeben zu haben, und gesteht gleichzeitig ein, seine Tätigkeit nicht schneller vollbringen zu können, mithin ist ihm eine Leistungssteigerung gänzlich unmöglich. Er ist zur Vertragsdurchführung dauerhaft nicht in der Lage. Demnach kommt es auf eine tatsächliche Betriebsstörung nicht an. Vielmehr indiziert die erhebliche Vertragsstörung bereits die Notwendigkeit der personenbedingten Kündigung. dd) Milderes Mittel Eine personenbedingte Kündigung ist aber nur dann sozial gerechtfertigt, wenn kein milderes Mittel zur Wiederherstellung eines Vertragsgleichgewichts zur

57 BAG 12.4.2002 NJW 2002, 3271, 3273. 58 BAG 20.7.1989 NJW 1990, 597, 598; SPV/PREIS, Rn. 1193. 59 BAG 11.12.2003 NJW 2004, 2545, 2548.

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„Der low performer“

Verfügung steht.60 Ein Einsatz des A auf einem anderen Arbeitsplatz ist ausgeschlossen. Darüber hinaus hat A ein Angebot der U, ihn zu geänderten Vertragsbedingungen zu beschäftigen, abgelehnt. Dabei lag die Herabsetzung der Grundvergütung um ein Drittel im neuen Vertragsangebot der U noch unter der nominellen Minderleistung des A und war infolgedessen jedenfalls angemessen. Soweit das BAG in seiner neueren Rechtsprechung auch bei einer personenbedingten Kündigung die Abmahnung zu den gleich geeigneten, milderen Mitteln zählt61, wurde diesem Erfordernis durch die Abmahnungen der U vom 12.11.2009 und 28.4.2010 entsprochen.62 ee) Interessenabwägung Letztlich ist eine personenbedingte Kündigung aber nur dann gerechtfertigt, wenn unter Berücksichtigung der in der Rechtsordnung verankerten Wertentscheidungen zum Schutz der Person des Arbeitnehmers eine so starke Beeinträchtigung schutzwerter betrieblicher, unternehmerischer oder vertraglicher Interessen des Arbeitgebers vorliegt, dass diese im konkreten Fall die zugunsten des Arbeitnehmers bestehenden Rechtspositionen überwiegt.63 Zugunsten des A könnte man argumentieren, dass die Einschränkung der Eignung oder Fähigkeit zur Erbringung der Arbeitsleistung zumindest auch auf betriebliche Umstände, nämlich die Einführung der neuen EDV-Geräte durch den Arbeitgeber zurückzuführen ist. Allerdings wird man dem Arbeitgeber auch zugestehen müssen, die technischen Anforderungen an den Arbeitsplatz zu novellieren. Sofern sich diese Änderungen, wie hier der Fall, auch innerhalb der üblichen Schwankungsbreite halten und infolgedessen vom Direktionsrecht gedeckt sind, erscheint es ungerechtfertigt, diese „betrieblichen Umstände“ im Rahmen der Interessenabwägung zugunsten des Arbeitnehmers wirken zu lassen. Weiterhin ist auch das unternehmerische Interesse der U zu berücksichtigen, durch die Einführung des Prämiensystems die Kommissionierer insgesamt zu überobligatorischen Leistungen zu animieren. Insofern ist zu befürchten, dass es der Arbeitsmoral der anderen Kommissionierer abträglich sein wird, wenn sich herausstellt, dass es von Arbeitgeberseite geduldet wird, dass einzelne Arbeitnehmer bei gleicher Grundvergütung erheblich weniger leisten. Dies würde nicht zuletzt die definierte Normalleistung als Schwellenwert für die Prämienzahlung in Frage stellen. Letztlich spricht für die soziale Rechtfertigung der Kündigung, dass A das angemessene Angebot der U zur Weiterbeschäftigung abgelehnt hat. A hat sich damit sehenden Auges gegen eine Korrektur des vertragswidrigen Zustandes gewehrt und muss demnach auch hinnehmen, dass U diesen vertragswidrigen Zustand mit Rechtsmitteln beseitigt.

60 SPV/PREIS, Rn. 1199. 61 Kritisch hierzu PREIS, Individualarbeitsrecht, § 64 I 4. 62 Eine vorherige Abmahnung wäre aber auch deshalb entbehrlich gewesen, weil die personenbedingte Kündigung nicht an ein steuerbares Verhalten anknüpft, vgl. BAG 4.6.1997 AP § 626 BGB Nr. 137. Vgl. zu den Anforderungen an eine Abmahnung im Fall einer quantitativen Minderleistung BAG 27.11.2008 AP BGB § 611 Abmahnung Nr. 33. 63 ErfK/OETKER § 1 KSchG Rn. 108 f.

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„Der low performer“

Lösungsvorschlag Fall 18

VI. Ergebnis Die personenbedingte Kündigung des A ist sozial gerechtfertigt. Die Kündigungsschutzklage ist zulässig, aber unbegründet. Das Arbeitsgericht wird die Kündigungsschutzklage des A daher abweisen.

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Fall 19 Falldarstellung

„Produktionsdrosselung“

Fall 19: „Produktionsdrosselung“ Falldarstellung Der 50-jährige Familienvater und als „eingefleischter“ Kölner und Fortuna KölnFan bekannte A ist seit 20 Jahren bei der Maschinenbau-GmbH (M-GmbH) in Köln als Mechaniker beschäftigt, ebenso wie der dort seit fünf Jahren arbeitende 30-jährige ledige B. Wegen Rückgangs der Nachfrage beschloss der Geschäftsführer G der GmbH jedoch, die Produktion zu drosseln, wodurch im Werk Köln beim Bau von Fräsmaschinen der Beschäftigungsbedarf für zwei Arbeitnehmer entfallen würde. A und B sollten deshalb zum 30.11.2010 gekündigt werden. Der Betriebsrat wurde ordnungsgemäß angehört, hatte sich aber noch nicht geäußert. Zuvor hatte G den A schriftlich über den Wegfall seines Arbeitsplatzes in Köln informiert und ihm wegen seiner langjährigen Dienste eine freie Stelle als Mechaniker im Düsseldorfer Werk der M-GmbH bei ansonsten gleichbleibenden Arbeitsbedingungen und Anforderungen angeboten. Anbei übersandte er einen entsprechenden Arbeitsvertrag. Dessen Unterzeichnung sei erforderlich, da A bei seiner Einstellung auf einer Klausel im Arbeitsvertrag bestanden hatte, die ihm eine ausschließliche Tätigkeit im Kölner Werk garantiert. Er könne über dieses Angebot erstmal in Ruhe, maximal aber zwei Wochen, nachdenken. Nach diesen zwei Wochen lehnte A in einem Gespräch mit G das Änderungsangebot ab. G hielt diesen Entschluss des A für verfehlt und versicherte ihm, wie auch schon das Schreiben betonte, dass eine Beendigungskündigung ausgesprochen werden müsse, wenn A das Angebot ablehnte. Er würde ihm aber jetzt erst einmal eine Änderungskündigung zuschicken, denn dann könne er sich noch mal überlegen, ob er nicht doch der Vertragsänderung zustimmen wolle. A versicherte dem G jedoch, dass er sein Angebot, in Düsseldorf zu arbeiten, nie im Leben – nicht einmal für mehr Geld – annehmen werde. Er sei zwar über das Angebot dankbar. Sein Entschluss sei nach reiflicher Überlegung jedoch absolut felsenfest. Selbst wenn man ihm nun eine Änderungskündigung zuschicken wolle, werde er dieses Angebot ablehnen. Denn er wolle lieber entlassen werden und sich einen neuen Job in Köln suchen, statt auch nur einen Tag in Düsseldorf arbeiten zu müssen, wo „dä Lück bedrissenes Alt dringe un‘ zu dä falsche Fortuna jon“. Dafür sei er einfach zu sehr Kölner. G könne sich also definitiv die Mühe sparen, ihm eine Änderungskündigung zuzuschicken. Dermaßen vom unumstößlichen Willen des A überzeugt, unterließ G letztlich auch den Ausspruch der Änderungskündigung und entschloss sich, gegenüber A eine Beendigungskündigung auszusprechen. Den Brief mit der Kündigung des A zum 30.11.2010 warf der Postbote am 29.4.2010 um 10.00 Uhr in den Briefkasten des A. A befand sich jedoch gerade auf einer zweiwöchigen Reise. Wie jedes Jahr verbrachte er auch diesmal seinen Urlaub in Italien. Von dem Inhalt des Kündigungsschreibens nimmt A erst nach seiner Rückkehr, am 5.5.2010, Kenntnis. Der Sekretärin des G war bekannt, dass A Urlaub hatte und, wie jedes Jahr, nach Italien fahren wollte. Des Weiteren kannte sie eine Adresse, bei der sich A im Laufe seiner Rundreise einfinden wollte, wenn auch noch ungewiss war, wann.

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Falldarstellung Fall 19

Nachdem A die Weiterbeschäftigung im Düsseldorfer Werk abgelehnt hatte, bot G auch dem B schriftlich die Weiterbeschäftigung als Mechaniker auf der freien Stelle im Düsseldorfer Werk der M-GmbH an. Allerdings teilte G dem B im Schreiben mit, dass die Stelle mit einer Gehaltseinbuße von monatlich 400 Euro verbunden sei. Lehne er dieses Angebot ab, so müsse ihm gegenüber aber eine Beendigungskündigung ausgesprochen werden. Noch innerhalb der gewährten zweiwöchigen Überlegungsfrist suchte B das Gespräch mit G, und teilte ihm mit, dass er das Weiterbeschäftigungsangebot zu diesen Konditionen ablehne. Er sei jedoch mit einer Gehaltseinbuße von 200 Euro einverstanden, eine Weiterbeschäftigung in Düsseldorf sei für ihn kein Problem. Er wolle aber keinesfalls seinen Job verlieren, brauche das Geld jedoch zur Finanzierung seines kostspieligen Hobbys, der Froschzucht. Über die erneuten Komplikationen genervt, die der Versuch, einen der zwei in Köln zu reduzierenden Arbeitsplätze durch eine Weiterbeschäftigung im Düsseldorfer Werk „zu retten“, mit sich zu bringen schien, beschloss G, gegenüber B eine Beendigungskündigung auszusprechen. Er hielt es allerdings auch für sinnlos, dem B ein weiteres Angebot im Wege der Änderungskündigung zu unterbreiten, da dieser ja betont hatte, er könne sich sein Hobby bei einer solchen Gehaltseinbuße nicht mehr leisten. Es war im Betrieb jedem bekannt, wie leidenschaftlich B die Froschzucht betrieb, so dass G davon ausging, B würde eine Gehaltseinbuße in Höhe von 400 Euro für „unzumutbar“ halten. Dem B schickte die Sekretärin die Kündigung per Einschreiben vom 23.9.2010. Der Postbote traf am 24.9.2010 den B nicht in seiner Wohnung an. So hinterließ er einen Benachrichtigungszettel im Briefkasten, den B am selben Tag fand. Von seinem Meister hatte B einen Hinweis erhalten, dass G nach dem Verhandlungsversuch beschlossen hatte, ihm in Kürze zu kündigen. Deshalb holte B das Einschreiben nicht von der Post ab. Nachdem das Einschreiben eine Woche bei der Post gelegen hatte, ging es an die M-GmbH zurück mit der Bemerkung, dass die Zustellung erfolglos versucht worden sei. Daraufhin schickte die M-GmbH ein erneutes Einschreiben mit der Kündigung an B, das dieser am 7.10.2010 erhielt. Zuvor unternahm B jedoch einen weiteren Versuch, eine Einigung über die Weiterbeschäftigung im Düsseldorfer Werk zu erzielen. Mit Schreiben vom 28.9.2010 – auf das G jedoch nicht mehr reagierte – erklärte er, dass er auch mit einer Gehaltseinbuße von 300 Euro einverstanden sei, es ließe sich doch „über alles reden“. Als A aus dem Urlaub zurückkommt, möchte er wissen, warum ihm die Kündigung nicht an die Urlaubsadresse geschickt worden ist. Er macht geltend, dass statt seiner dem 30-jährigen ledigen Mechaniker M hätte gekündigt werden müssen, der erst seit fünf Jahren bei der GmbH beschäftigt ist. M hat zwei Jahre wie A in der Montage-Abteilung als Mechaniker gearbeitet und ist als Mechaniker bei der Haustechnik beschäftigt. Er meint, er habe mit der ganzen Angelegenheit bei den Fräsmaschinen nichts zu tun. Eine Arbeit außerhalb von Köln lehnt A weiterhin definitiv ab. B trägt vor, die Kündigung habe er erst am 7.10.2010 erhalten. G hätte ihm nur aufgrund seiner Ablehnung der Gehaltseinbuße von 400 Euro doch nicht sofort kündigen dürfen, sondern ihm die neuen Arbeitsbedingungen erstmal in Form einer Änderungskündigung anbieten müssen. Wenn er sich mit den angebotenen Vertragsänderungen vorbehaltlos einverstanden erklärt hätte, hätte er die Mög-

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„Produktionsdrosselung“

lichkeit verloren, die soziale Rechtfertigung gemäß § 2 KSchG überprüfen zu lassen. Wäre er aber vorher darauf hingewiesen worden, dass es auch schon beim schriftlichen Vertragsänderungsangebot der M-GmbH neben der Ablehnung oder Annahme die Möglichkeit der Vorbehaltsannahme gab, hätte er schon diesen Änderungsvertrag unter Vorbehalt angenommen. Er wisse von einem befreundeten Rechtsreferendar zudem, dass der fehlende Widerspruch des Betriebsrats der Weiterbeschäftigung in Düsseldorf nicht entgegenstehe. Frage: Sind die gegenüber A und B ergangenen Kündigungen wirksam und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt?

Ü

Rechtsfragen: –

Betriebsbedingte Kündigung



Zugang der Kündigungserklärung während Urlaubsabwesenheit



Zugang bei treuwidriger Zugangsverzögerung



Vorrang der Änderungs- vor einer Beendigungskündigung



Auswahlrelevanter Personenkreis bei Sozialauswahl

Lösungsskizze A. Wirksamkeit der Kündigung gegenüber A I. Wirksame Kündigungserklärung Allgemeine Wirksamkeitsvoraussetzungen für einseitige Willenserklärungen §§ 104 ff. BGB, Schriftformerfordernis nach § 623 BGB; Auslegung der Kündigungserklärung als Beendigungskündigung trotz vorherigem Änderungsangebot II. Einhaltung der Kündigungsfrist 1. Länge der Kündigungsfrist Sieben Monate zum Monatsende (§ 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 BGB) 2. Rechtzeitiges Wirksamwerden der Kündigungserklärung a) Zugang i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB am 29.4.2010 Erklärung zwar in den Machtbereich des A gelangt Problem: Ist trotz urlaubsbedingter Abwesenheit des A Kenntnisnahme zu erwarten? aa) Kein Zugang am 29.4.2010, wenn konkrete Möglichkeit zur Kenntnisnahme erforderlich bb) Zugang am 29.4.2010, wenn abstrakte Möglichkeit zur Kenntnisnahme ausreichend Diese Auffassung ist angesichts der Erfordernisse des rechtsgeschäftlichen Verkehrs vorzugswürdig b) Zwischenergebnis: Kündigungsfrist ist gewahrt

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„Produktionsdrosselung“

Lösungsskizze Fall 19

III. Anhörung des Betriebsrates (§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG) IV. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes (§§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG) 2. Soziale Rechtfertigung der betriebsbedingten Kündigung a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung Entschluss zu Produktionseinschränkung = gestaltende Unternehmerentscheidung als Reaktion auf Nachfragerückgang bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit Produktionseinschränkung führt zu geringerem Personalbedarf in Montageabteilung, wo A beschäftigt ist cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses (Ultima-Ratio-Prinzip) Berufung auf Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Werk in Düsseldorf auch ohne Widerspruch des Betriebsrats möglich (1) Weiterbeschäftigung in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens setzt voraus, dass freier Arbeitsplatz mit dem bisherigen vergleichbar ist und der Arbeitnehmer den dortigen Anforderungen entspricht Vorliegend keine Vergleichbarkeit, da die M-GmbH den A auf dem neuen Arbeitsplatz nicht kraft Direktionsrechts weiterbeschäftigen kann, sondern es einer Änderung des Arbeitsvertrags bedarf (2) Weiterbeschäftigung nach Änderung der Arbeitsbedingungen Aus Ultima-Ratio-Grundsatz resultiert Vorrang der Änderungs- vor der Beendigungskündigung Hier: Arbeitgeber sprach ohne vorherige Änderungskündigung die Beendigungskündigung aus. Problem: War Ausspruch der Änderungskündigung entbehrlich, da der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer bereits eine Vertragsänderung angeboten hatte, die der Arbeitnehmer abgelehnt hat? (a) Frühere Rechtsprechung des BAG Arbeitgeber war verpflichtet, dem Arbeitnehmer von sich aus eine zumutbare Weiterbeschäftigung auf einem vorhandenen freien Arbeitsplatz auch zu geänderten Bedingungen anzubieten. Dabei hatte er klarzustellen, dass bei Ablehnung des Änderungsangebots eine Kündigung beabsichtigt ist. Dem Arbeitnehmer war eine Überlegungsfrist von einer Woche einzuräumen (sog. „Wochengespräch“). Lehnte er das Änderungsangebot ab, konnte der Arbeitgeber sofort eine Beendigungskündigung aussprechen und musste nicht mehr auf das mildere Mittel der Änderungskündigung zurückgreifen Danach vorliegend kein Verstoß gegen den Vorrang der Änderungskündigung (b) Neue Rechtsprechung des BAG Das mittels Änderungskündigung unterbreitete Angebot, den Arbeitnehmer zu geänderten Vertragsbedingungen weiterzubeschäftigen, darf nur in Extrem-

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fällen unterbleiben. Ein solcher ist nicht schon dann anzunehmen, wenn der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung dem Arbeitnehmer das Angebot gemacht hat, den Vertrag der noch bestehenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit anzupassen, und der Arbeitnehmer dieses Angebot abgelehnt hat Hier: Vorrang der Änderungskündigung entfällt, da A unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, er werde die geänderten Arbeitsbedingungen im Fall des Ausspruchs einer Änderungskündigung unter keinen Umständen, auch nicht unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung, annehmen dd) Zwischenergebnis Kündigung des A ist durch dringendes betriebliches Erfordernis bedingt, da keine milderen Mittel vorhanden b) Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG aa) Auswahlrelevanter Personenkreis (1. Stufe) Problem: Einbeziehung des M in die Sozialauswahl? Voraussetzung: Vergleichbarkeit des M mit A Versetzung des A auf Arbeitsplatz des M ohne Vertragsänderung möglich Fachliche Eignung des A für die Tätigkeit des M Keine Beschränkung der Sozialauswahl auf Arbeitnehmer der Betriebsabteilung, in der sich die kündigungsbegründende Unternehmerentscheidung unmittelbar auswirkt bb) Berücksichtigung und Gewichtung der Auswahlkriterien (2. Stufe) M weniger schutzbedürftig als A cc) Ausnahmen von der Sozialauswahl im berechtigten betrieblichen Interesse (3. Stufe) keine Anhaltspunkte dd) Zwischenergebnis Sozialauswahl verstößt gegen § 1 Abs. 3 KSchG V. Ergebnis Kündigung ist wegen Verstoßes gegen § 1 KSchG unwirksam B. Wirksamkeit der Kündigung gegenüber B I. Kündigungserklärung Auslegung der Kündigungserklärung als Beendigungskündigung trotz vorherigem Änderungsangebot II. Einhaltung der Kündigungsfrist 1. Länge der Kündigungsfrist Zwei Monate zum Monatsende (§ 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB) 2. Rechtzeitiges Wirksamwerden der Kündigungserklärung a) Zugang i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB am 23.9.2010

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Lösungsskizze Fall 19

Nur Benachrichtigung zugegangen i.S.d. § 130 BGB Verfügungsmacht und Möglichkeit zur Kenntnisnahme der Kündigungserklärung selbst erst nach Abholung (7.10.2010) Aber: B muss Kündigungserklärung wegen treuwidriger Zugangsverzögerung analog § 162 Abs. 1 BGB als rechtzeitig gelten lassen b) Zwischenergebnis: Kündigungsfrist ist gewahrt III. Anhörung des Betriebsrates (§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG) IV. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes (§§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG) 2. Soziale Rechtfertigung der betriebsbedingten Kündigung a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses (Ultima-Ratio-Prinzip) Berufung auf Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Werk in Düsseldorf auch ohne Widerspruch des Betriebsrats möglich Aus Ultima-Ratio-Grundsatz resultiert Vorrang der Änderungs- vor der Beendigungskündigung Hier: Arbeitgeber sprach ohne vorherige Änderungskündigung die Beendigungskündigung aus. Problem: War Ausspruch der Änderungskündigung entbehrlich? (1) Entbehrlichkeit der Änderungskündigung wegen vorheriger Ablehnung einer Vertragsänderung B hat nicht unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, er werde die geänderten Arbeitsbedingungen im Fall des Ausspruchs einer Änderungskündigung unter keinen Umständen, auch nicht unter dem Vorbehalt der sozialen Rechtfertigung, annehmen. Die M-GmbH durfte mithin nicht davon ausgehen, dass der Ausspruch einer Änderungskündigung entbehrlich war (2) Zumutbarkeit der Änderung als Grenze des Vorrangs der Änderungskündigung Nach neuer Rechtsprechung des BAG gilt zur Beurteilung der Unzumutbarkeit ein subjektiver Maßstab: Der Arbeitnehmer müsse selbst entscheiden, ob er Einbußen oder Nachteile akzeptiere, die mit einer neuen Stelle verbunden seien. Eine Änderungskündigung sei nur entbehrlich, wenn der Arbeitgeber bei vernünftiger Betrachtung nicht mit einer Annahme des neuen Vertragsangebots durch den Arbeitnehmer rechnen konnte und ein derartiges Angebot im Gegenteil eher beleidigenden Charakter gehabt hätte. Dies könne jedoch nur in Extremfällen angenommen werden, etwa wenn die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit lediglich eine offensichtlich völlig unterwertige Beschäftigung darstellen würde Hier: Kein solcher Extremfall aus Sicht des Arbeitnehmers

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Fall 19 Lösungsvorschlag

„Produktionsdrosselung“

b) Zwischenergebnis: Kündigung des B nicht durch dringendes betriebliches Erfordernis bedingt V. Ergebnis Kündigung ist wegen Verstoßes gegen § 1 KSchG unwirksam

Lösungsvorschlag A. Wirksamkeit der Kündigung gegenüber A Die Kündigung gegenüber A zum 30.11.2010 ist wirksam, wenn die M-GmbH die Kündigung unter Einhaltung der Kündigungsfrist erklärt hat sowie besondere und allgemeine Kündigungsschranken beachtet worden sind. I. Kündigungserklärung Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen. Die M-GmbH erklärte gegenüber A schriftlich die Kündigung zum 30.11.2010. Das Schriftformerfordernis für die Kündigung von Arbeitsverhältnissen nach § 623 BGB ist mithin gewahrt (vgl. §§ 125, 126 BGB). Die inhaltlichen Anforderungen an die Bestimmtheit der Kündigungserklärung sind nicht zweifelhaft. Insbesondere hat die M-GmbH keine Änderungskündigung, sondern eine ordentliche Beendigungskündigung zum regulären Kündigungstermin aussprechen wollen. Eine Änderungskündigung besteht, wie die Legaldefinition des § 2 S. 1 KSchG zeigt, aus zwei Willenserklärungen, nämlich der Kündigungserklärung sowie einem bestimmten bzw. bestimmbaren, somit den Voraussetzungen des § 145 BGB entsprechenden Angebot zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen. Zwar hat A vor der schriftlichen Kündigung auch ein solches Änderungsangebot erhalten. Eine unbedingte Kündigungserklärung ohne gleichzeitiges oder vorausgegangenes Änderungsangebot, auf das in dieser Kündigung Bezug genommen wird, ist nach §§ 133, 157 BGB jedoch nicht als Änderungs-, sondern als Beendigungskündigung auszulegen.1 Das Änderungsangebot kann somit zwar wie vorliegend bereits vor Ausspruch der Kündigung abgegeben worden sein. In diesem Fall muss der Arbeitgeber aber beim späteren Ausspruch der Kündigung klarstellen, dass er das Änderungsangebot trotz der gescheiterten Vertragsverhandlungen aufrechterhält. Hiervon kann nach den Angaben des Sachverhalts erkennbar nicht ausgegangen werden, da vom objektiven Empfängerhorizont her nur mit dem Ausspruch einer Beendigungskündigung gerechnet werden konnte. Dies verdeutlicht insbesondere die Verbindung des Änderungsantrags mit einer – zum Zeitpunkt der Kündigung bereits abgelaufenen – Annahmefrist nach § 147 BGB. Es ist letztlich auch davon auszugehen, dass die Kündigung durch das vertretungsberechtigte Organ der GmbH, den Geschäftsführer G, erklärt worden ist (vgl. § 35 Abs. 1 GmbHG).

1 BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1289, 1290 f.

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Lösungsvorschlag Fall 19

II. Einhaltung der Kündigungsfrist Weiterhin ist zu prüfen, ob die Kündigungsfrist eingehalten worden ist. Die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist führt zwar nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, hat jedoch zur Folge, dass die Kündigung erst zum nächstmöglichen Kündigungszeitpunkt wirksam wird. In dem Vertrag zwischen A und der M-GmbH ist keine Kündigungsfrist vereinbart, so dass auf die gesetzlich festgelegten Kündigungsfristen zurückzugreifen ist. 1. Länge der Kündigungsfrist Die maßgebliche Kündigungsfrist richtet sich hier nach § 622 BGB, da A als Arbeitnehmer bezeichnet ist. Mithin kann davon ausgegangen werden, dass zwischen der M-GmbH und A ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen ist. Nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 BGB beträgt die Kündigungsfrist für die Kündigung des A sieben Monate zum Monatsende, da A seit 20 Jahren bei der M-GmbH beschäftigt ist. 2. Rechtzeitiges Wirksamwerden der Kündigungserklärung Fraglich ist, ob die Kündigungserklärung der M-GmbH rechtzeitig gegenüber A wirksam geworden ist, also die Kündigungsfrist gewahrt wurde. Nach § 130 Abs. 1 BGB wird eine unter Abwesenden abgegebene Willenserklärung wirksam, wenn sie dem Empfänger zugeht. Zu prüfen ist also, wann dem A die Kündigungserklärung der M-GmbH zugegangen ist. a) Zugang am 29.4.2010 Möglicherweise ist die Kündigung dem A schon mit dem Einwurf des Kündigungsschreibens durch den Postboten am 29.4.2010 zugegangen. Bei Annahme dieses Zugangszeitpunkts wäre die Kündigungserklärung rechtzeitig mit Wirkung zum 30.11.2010 erfolgt. Eine Willenserklärung ist dem Empfänger i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB zugegangen, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt und für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von dem Inhalt des Schreibens Kenntnis zu nehmen. Da es für den Zugang auf die Möglichkeit zur Kenntnisnahme ankommt, ist es unerheblich, wann der Empfänger den Inhalt der Erklärung tatsächlich zur Kenntnis nimmt. Durch den Einwurf des Kündigungsschreibens am 29.4.2010 in den Briefkasten des A gelangt das Kündigungsschreiben in den Machtbereich des Empfängers A. Unter Zugrundelegung normaler Umstände wäre mit einer Kenntnisnahme durch A noch am selben Tage zu rechnen. Allerdings befindet sich A zu diesem Zeitpunkt auf einer zweiwöchigen Urlaubsreise in Italien. Dieser Umstand könnte dem Zugang der Kündigungserklärung am 29.4.2010 entgegenstehen. Zu prüfen ist daher, ob die urlaubsbedingte Abwesenheit eines Arbeitnehmers ein Umstand ist, der von den gewöhnlichen Umständen abweicht, so dass der Absender mit einer Kenntnisnahme durch den Empfänger nicht rechnen konnte.

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Fall 19 Lösungsvorschlag

„Produktionsdrosselung“

Die Frage ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Der Streit entzündet sich an der Frage, ob es auf die konkrete oder auf die abstrakte Möglichkeit der Kenntnisnahme unter verkehrsüblichen Umständen ankommt. aa) Konkrete Möglichkeit der Kenntnisnahme Nach einer früher zum Teil in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung2 soll bei einer Kündigung während des Urlaubs des Arbeitnehmers auf die konkrete Möglichkeit der Kenntnisnahme abzustellen sein. Danach ist eine Kündigungserklärung nur dann zugegangen i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB, wenn der Arbeitgeber trotz Urlaubsabwesenheit des Arbeitnehmers dessen Kenntnisnahme im konkreten Fall berechtigterweise erwarten kann. Weiß der Arbeitgeber, dass sich der Arbeitnehmer während seines Urlaubs nicht zu Hause aufhält, sondern verreist ist, kann er nicht damit rechnen, dass dieser die Kündigungserklärung vor seiner Rückkehr zur Kenntnis nehmen kann. Diese Ansicht wurde mit dem Vertrauensschutz zugunsten des Arbeitnehmers begründet. Vor dem Hintergrund, dass der Arbeitgeber wisse, dass sich der Arbeitnehmer im Urlaub befindet, wird von dieser Auffassung das Interesse des Arbeitgebers an einer Kündigung auch während der Urlaubsabwesenheit als in der Regel nicht schutzwürdig angesehen. Demgegenüber überwiege das Interesse des Arbeitnehmers, nicht während seiner dem Arbeitgeber bekannten Abwesenheit vom Heimatort von einer Kündigungserklärung überrascht zu werden. Der Arbeitnehmer dürfe mangels gegenteiliger Anhaltspunkte darauf vertrauen, dass sich während seiner dem Arbeitgeber bekannten Urlaubsreise an dem Arbeitsverhältnis nichts ändern werde. Dies gelte umso mehr, als der Arbeitnehmer einen gesetzlichen Anspruch auf Urlaubsgewährung gegenüber dem Arbeitgeber hat (BUrlG). Die Inanspruchnahme des Urlaubs als gesetzlich verbürgtes Recht des Arbeitnehmers müsse daher durch den Arbeitgeber respektiert werden. Wenn der Arbeitnehmer nicht aufgrund bestimmter Vorkommnisse mit einer Kündigung durch den Arbeitgeber rechnen müsse, sei er auch nicht verpflichtet, Vorkehrungen zu treffen, damit Post seines Arbeitgebers ihn auch während seiner Urlaubsreise erreiche. Überdies sei der Arbeitgeber nicht schutzwürdig, wenn er zudem die Urlaubsanschrift kenne. Dann sei er zumindest verpflichtet, die Kündigungserklärung an die Urlaubsadresse zu versenden. Im vorliegenden Fall wusste zumindest die Sekretärin, dass sich A im Urlaub befindet. Wenn – wovon auszugehen ist – der Geschäftsführer G über Urlaubsgesuche nicht selbst entscheidet, sondern mit der Erledigung dieser Angelegenheiten seine Sekretärin in eigener Verantwortung betraut, muss er sich analog § 166 Abs. 1 BGB deren Kenntnis als sog. Wissensvertreterin zurechnen lassen. Die Kenntnis des G wiederum wird, weil der G die GmbH gemäß § 35 Abs. 1 GmbHG vertritt, der GmbH als Arbeitgeberin unmittelbar über § 166 Abs. 1 BGB zugerechnet. Mithin war der Arbeitgeberin, der GmbH, die Urlaubsabwesenheit des A bekannt. Die Möglichkeit, die Kündigungserklärung an die Urlaubsanschrift des A zu senden, scheidet im vorliegenden Fall allerdings aus. Zwar kannte die Sekretärin eine Adresse, bei der sich A im Laufe seiner Rundreise einfinden wollte, doch

2 BAG 16.12.1980 AP BGB § 130 Nr. 11; CORTS DB 1979, 2081; POPP DB 1989, 1133.

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Lösungsvorschlag Fall 19

war ungewiss, wann dies sein würde. Daher bestand die Gefahr, dass A diese Station seiner Rundreise bereits wieder verlassen hätte, bevor die Kündigungserklärung dort eingetroffen wäre. Da für den Arbeitgeber vom rechtzeitigen Zugang der Kündigungserklärung gravierende Rechtsfolgen abhängen, braucht er sich auf einen Nachsendungsversuch, dessen Erfolg derartig ungewiss ist, nicht einzulassen. Dass dem Arbeitgeber ein Nachsenden der Kündigungserklärung an die Urlaubsadresse des Arbeitnehmers nicht möglich oder nicht zumutbar ist, ändert nach der dargestellten Auffassung jedoch nichts daran, dass die an die Heimanschrift geschickte Kündigungserklärung erst bei Rückkehr des Arbeitnehmers diesem zugeht. Ursache hierfür ist, dass der Arbeitnehmer im Regelfall nicht verpflichtet ist, seine Urlaubsadresse zu hinterlassen. Zudem stünde sonst ein Arbeitnehmer, der eine weite Auslandsreise oder Rundreise unternimmt und daher schwerer erreichbar ist, besser als ein Kollege, der seinen Urlaub in der Nähe seines Wohnorts verbringt. Nach dieser Ansicht wäre die Kündigungserklärung dem A nicht allein durch den Einwurf in den Briefkasten am 29.4.2010 zugegangen. Vielmehr wäre die Erklärung erst durch die konkrete Möglichkeit des A zur Kenntnisnahme bei seiner Rückkehr am 5.5.2010 zugegangen, für die Einhaltung des Kündigungstermins zum 30.11.2010 daher verspätet. bb) Abstrakte Möglichkeit der Kenntnisnahme Nach der mittlerweile in Rechtsprechung und Literatur herrschenden Meinung3 soll es bei einer Kündigungserklärung während des Urlaubs des Arbeitnehmers nicht auf die konkrete, sondern auf die abstrakte Möglichkeit zur Kenntnisnahme ankommen. Danach geht eine Kündigungserklärung, die der Arbeitgeber während der Urlaubsabwesenheit des Arbeitnehmers an dessen Heimadresse richtet, auch dann i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB zu, wenn der Arbeitnehmer diese erst bei seiner Rückkehr tatsächlich zur Kenntnis nehmen kann und der Arbeitgeber dies weiß. Die Vertreter dieser Auffassung berufen sich zur Begründung auf die Erfordernisse des rechtsgeschäftlichen Verkehrs. Um diesen gerecht zu werden, sei ein objektiver Zugangsbegriff notwendig. Um eine sachgerechte Verteilung des Transportrisikos des Erklärenden und des Kenntnisnahmerisikos des Empfängers zu erreichen, was sowohl im Interesse des Erklärenden als auch im Interesse des Erklärungsempfängers sei, müssten die konkreten Umstände des Einzelfalles insoweit außer Betracht bleiben. Das Abstellen auf die Zugangsmöglichkeit im konkreten Fall widerstrebt dem Grundsatz der Rechtssicherheit, der für den Zugang von Kündigungserklärungen wesentlich ist. Die Anforderungen an den Arbeitgeber würden überspannt, wenn dieser in jedem Einzelfall die konkrete Möglichkeit des Arbeitnehmers zur Kenntnisnahme der Kündigungserklärung nachweisen müsste. Dies ist außerordentlich schwierig, wenn sich die Umstände des Urlaubs durch Nichtantritt der Urlaubsreise wegen Krankheit, Hotelwechsel oder kurzfristiger Änderung der Urlaubspläne durchaus verändern. Mit dem Abstellen auf die konkrete Zugangs-

3 BAG 16.3.1988 AP BGB § 130 Nr. 16; BAG 2.3.1989 AP BGB § 130 Nr. 17; BAG 24.6.2004 NZA 2004, 1330.

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möglichkeit würde dem Arbeitgeber daher eine über das normale Transportrisiko hinausgehende Unsicherheit aufgebürdet. Auch sollte die Kündigungsmöglichkeit des Arbeitgebers nicht davon abhängig sein, ob er von den Urlaubsplänen der Arbeitnehmer Kenntnis hat oder nicht. Da es prinzipiell zur Privatsphäre des Arbeitnehmers gehört, wie er seinen Urlaub verbringt, darf die Mitteilung eventueller Reisepläne keinen Einfluss auf sein Arbeitsverhältnis haben. Eine Differenzierung derart, dass eine Kündigung gegenüber einem Arbeitnehmer ausgeschlossen ist, der den Arbeitgeber von seinen Reisevorhaben unterrichtet hat, während eine Kündigung von Arbeitnehmern möglich ist, die dem Arbeitgeber ihre Abwesenheit nicht mitgeteilt haben, erscheint daher ungerechtfertigt. Dem Arbeitgeber prinzipiell bei Urlaubsgewährung die Möglichkeit einer wirksamen Zustellung von Erklärungen an die Heimatanschrift des Arbeitnehmers zu verweigern, erscheint ebenfalls nicht gerechtfertigt. So ist der Zugang der Post während der urlaubsbedingten Abwesenheit ein Risiko, das den Arbeitnehmer allgemein trifft. Er muss Vorsorge dafür tragen, dass ihm wichtige Schreiben auch während des Urlaubs zugehen. Unterlässt der Arbeitnehmer derartige Vorkehrungen, hat dies auf den Zugang von Willenserklärungen anderer Absender keinen Einfluss. Allein für den Fall der Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer besondere Zugangsvoraussetzungen zu errichten, während dies im allgemeinen Rechtsverkehr nicht der Fall ist, entbehrt einer einsichtigen Begründung. In der wesentlichen Frage der rechtzeitigen Erhebung der Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG hat der Arbeitnehmer überdies die Möglichkeit, nachträglich eine Klagezulassung nach § 5 KSchG zu erlangen. Somit ist eine Abweichung vom objektiven Zugangsbegriff auch nicht durch die konkrete Interessenlage des Erklärungsempfängers geboten. Hieraus folgt, dass es nur darauf ankommt, ob A unter Zugrundelegung normaler Umstände die Möglichkeit der Kenntnisnahme hatte. Da die Kündigung am 29.4.2010 um 10.00 Uhr in den Briefkasten des A gelangte, ist normalerweise damit zu rechnen, dass der Briefkasten noch am selben Tage geleert wird. Somit ist die Kündigung am 29.4.2010 zugegangen. b) Zwischenergebnis Aufgrund des Zugangs am 29.4.2010 ist die Frist des § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 BGB für eine Kündigung zum 30.11.2010 gewahrt. III. Anhörung des Betriebsrates (§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG) Gemäß § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG ist vor jeder Kündigung der Betriebsrat zu hören. Eine Anhörung ist erfolgt. Eine Äußerung des Betriebsrates ist nicht erforderlich. IV. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG Die Kündigung gegenüber A könnte gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. Ob die Kündigung sozial gerechtfertigt ist, ist nur dann von Bedeutung, wenn A den allgemeinen Kündigungsschutz gemäß § 1 KSchG genießt, also das KSchG anwendbar ist.

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Lösungsvorschlag Fall 19

1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes Das Kündigungsschutzgesetz ist gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG anwendbar, wenn der Betroffene als Arbeitnehmer in einem Betrieb beschäftigt ist, dem in der Regel mehr als fünf vor dem 31.12.2003 eingestellten Arbeitnehmer (§ 23 Abs. 1 S. 2 KSchG) bzw. mehr als zehn Arbeitnehmer (§ 23 Abs. 1 S. 3 KSchG) angehören, und das Arbeitsverhältnis bereits mindestens sechs Monate besteht. Angaben zur Größe des Betriebes in Köln liegen nicht vor. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die M-GmbH ein größeres Werk ist, das die Grenze des § 23 Abs. 1 S. 2, 3 KSchG überschreitet. A selbst ist Arbeitnehmer und mehr als sechs Monate bei der M-GmbH beschäftigt, so dass auch die persönlichen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des KSchG gegeben sind. 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung Nach § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. In Betracht kommt im vorliegenden Fall nur die Rechtfertigung einer Kündigung aus betrieblichen Erfordernissen, denn die Kündigung des A geht einher mit einer Produktionsdrosselung in seinem Beschäftigungsbetrieb und es sind daneben bei A weder verhaltensbedingte noch personenbedingte Gründe erkennbar. Eine betriebsbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 und 3 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung trifft, durch die die Beschäftigungsmöglichkeit eines Arbeitnehmers dauerhaft wegfällt (betriebliches Erfordernis), der Arbeitnehmer weder auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann noch sonstige mildere Mittel statt der Kündigung möglich sind (Dringlichkeit) und der Arbeitgeber eine fehlerfreie Sozialauswahl durchführt. a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung Unter einer unternehmerischen Entscheidung ist die Bestimmung der Unternehmenspolitik zu verstehen, die der Geschäftsführung zugrunde liegt. Die unternehmerische Entscheidung der M-GmbH liegt in dem Entschluss, die Produktion von Fräsmaschinen zu drosseln. Die Kündigungserklärung selbst kann nicht als unternehmerische Entscheidung betrachtet werden. Vielmehr handelt es sich bei der unternehmerischen Entscheidung stets um eine Reaktion des Arbeitgebers auf außerbetriebliche oder innerbetriebliche Umstände. Grund für die Kündigung ist der Rückgang bei der Nachfrage nach Fräsmaschinen. Dabei handelt es sich um einen außerbetrieblichen Umstand. Außerbetriebliche Umstände können in zweierlei Hinsicht für eine betriebsbedingte Kündigung ursächlich sein. Denkbar ist zum einen, dass der Arbeitgeber die Zahl der benötigten Arbeitskräfte in seinem Betrieb unmittelbar vom Umfang des Arbeitsaufkommens abhängig macht und durch den Ausspruch einer Kündigung lediglich den Personalbestand dem rückläufigen Arbeitsaufkommen anpassen will, ohne dass mit dem Personalabbau weitere Änderungen der innerbetrieblichen

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Fall 19 Lösungsvorschlag

„Produktionsdrosselung“

Organisation verbunden sind. In diesem Fall liegt der Kündigung eine sog. selbstbindende Unternehmerentscheidung zugrunde, die unmittelbar zum Wegfall von Arbeitsplätzen führt. Zum anderen kann der Arbeitgeber außerbetriebliche Umstände zum Anlass nehmen, um innerbetriebliche Veränderungen durchzuführen. Der Wegfall von Arbeitsplätzen ist dann die unmittelbare Folge dieser gestaltenden Unternehmerentscheidung und ist nur mittelbar auf die jeweiligen außerbetrieblichen Ursachen zurückzuführen. Bei einer Betriebseinschränkung handelt es sich regelmäßig um eine innerbetriebliche Veränderung, der eine gestaltende Unternehmerentscheidung zugrunde liegt. Im vorliegenden Fall ist nicht erkennbar, dass eine feste Relation zwischen der Zahl der produzierten Fräsmaschinen und der Zahl der dazu benötigten Arbeitnehmer bestünde. Ein solcher Berechnungsmodus für den Personalbedarf dürfte sich für die Fertigung komplizierter Maschinen kaum aufstellen lassen, da der Fertigungsprozess aus zahlreichen Einzelschritten besteht und im Einzelfall je nach Kundenwunsch variieren kann. Daher hat die M-GmbH im vorliegenden Fall keine selbstbindende, sondern eine gestaltende Unternehmerentscheidung getroffen. Eine derartige unternehmerische Entscheidung wird nur daraufhin geprüft, ob sie tatsächlich getroffen wurde und weder offenbar unsachlich oder willkürlich ist. Einer weitergehenden Prüfung, ob die Entscheidung unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoll ist, steht die durch Art. 14 GG garantierte unternehmerische Entscheidungsfreiheit entgegen. Vom Vorliegen einer gestaltenden unternehmerischen Entscheidung ist dann auszugehen, wenn die entsprechenden Pläne des Arbeitgebers feststehen und hinsichtlich des Zeitpunkts und der Art ihrer Durchführung bereits konkrete Formen angenommen haben. Der Entschluss der M-GmbH zur Produktionsdrosselung ist definitiv, und für seine Umsetzung besteht, wie sich aus dem 30. November als Kündigungstermin für A und B ergibt, ein konkreter Zeitplan. Es liegen keinerlei Anzeichen dafür vor, dass der Entschluss zur Produktionsdrosselung offensichtlich unsachlich oder willkürlich wäre. Mithin liegt der Kündigung des A eine den Anforderungen des § 1 Abs. 2 KSchG entsprechende unternehmerische Entscheidung zugrunde. bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit Weitere Voraussetzung für die soziale Rechtfertigung der betriebsbedingten Kündigung ist, dass diese (gestaltende oder selbstbindende) Unternehmerentscheidung kausal zum dauerhaften Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten führt. Diese Voraussetzung ist nicht nur dann erfüllt, wenn die veränderten betrieblichen Verhältnisse den Wegfall des konkreten Arbeitsplatzes des gekündigten Arbeitnehmers bedingen. Es genügt vielmehr, dass ein rechnerischer Überhang an Arbeitskräften entstanden ist. Entscheidend ist also die Verringerung des Personalbedarfs, die sich prozentual auf eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern niederschlägt, zu der auch der gekündigte Arbeitnehmer gehört. Die unternehmerische Entscheidung muss mithin zu der Konsequenz führen, dass der Arbeitgeber nicht mehr alle zu dieser Gruppe gehörenden Arbeitnehmer vertragsgemäß beschäftigen kann.

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Lösungsvorschlag Fall 19

Durch die unternehmerische Entscheidung der M-GmbH, die Produktion auf unabsehbare Zeit zu drosseln, wurde nicht mehr die gleiche Anzahl an Arbeitskräften für die Produktion benötigt. Durch die unternehmerische Entscheidung sind damit dauerhaft Beschäftigungsmöglichkeiten in der Gruppe der in der Produktion beschäftigten Mechaniker, zu der auch der gekündigte A gehört, weggefallen. cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses Ein „dringendes“ betriebliches „Erfordernis“ liegt nur vor, wenn nach dem Zweck der betriebsbedingten Kündigung dem Kündigungsinteresse nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Zu den milderen Mitteln, die der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Beendigungskündigung ergreifen muss, gehört gemäß § 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG insbesondere die Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz in einem anderen Betrieb des Unternehmens oder die Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz unter Änderung sonstiger Vertragsbedingungen, auch wenn diese Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten erst nach Fortbildung oder Umschulung des Arbeitnehmers offen stehen. Hier stand ein freier Arbeitsplatz in einem zur M-GmbH gehörenden Werk in Düsseldorf zur Verfügung. Nach dem Wortlaut der Norm greift dieses mildere Mittel jedoch nur, wenn der Betriebsrat aus diesem Grunde der Kündigung widersprochen hat. Ein entsprechender Widerspruch liegt im vorliegenden Fall aber nicht vor. Nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur steht eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG der sozialen Rechtfertigung einer Kündigung jedoch unabhängig vom Widerspruch des Betriebsrats entgegen.4 Dies ergibt sich aus dem Zweck dieser Vorschrift. So wurde Abs. 2 S. 2 und 3 erst nachträglich in § 1 KSchG eingefügt, um die individualrechtliche Position des Arbeitnehmers zu verbessern. Diese Absicht des Gesetzgebers würde jedoch vereitelt, wenn die Berufung auf eine anderweitige Weiterbeschäftigungsmöglichkeit vom Widerspruch des Betriebsrats abhängig gemacht würde. Daher ist das Vorliegen einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG in diesem Fall trotz fehlendem Widerspruch des Betriebsrats zu prüfen. (1) Weiterbeschäftigung in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens Als milderes Mittel kommt aufgrund des freien Arbeitsplatzes im Düsseldorfer Werk zunächst die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens nach § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 lit. b KSchG in Betracht. Der freie Arbeitsplatz müsste hierfür jedoch mit dem bisherigen vergleichbar sein und der Arbeitnehmer den dortigen Anforderungen entsprechen. Zwar verlangt der Arbeitsplatz von A die gleichen Anforderungen. Die Vergleichbarkeit ist allerdings nur dann gegeben, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf dem neuen Arbeitsplatz kraft seines Direktionsrechts weiterbeschäftigen kann, ohne dass es einer Änderung des Arbeitsvertrags bedarf.5 Vorliegend steht der Vergleichbarkeit und damit der Weiterbeschäftigung in einem

4 ErfK/OETKER § 1 KSchG Rn. 376; kritisch JUNKER, Arbeitsrecht, § 6 Rn. 373. 5 BAG 29.3.1990 AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 50.

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„Produktionsdrosselung“

anderen Betrieb des Unternehmens entgegen, dass die M-GmbH A aufgrund der Klausel im Arbeitsvertrag, die ihm eine Beschäftigung in Köln zusichert, nicht auf den neuen Arbeitsplatz in Düsseldorf kraft seines Direktionsrechts versetzen kann. Vielmehr wäre eine Änderung des Arbeitsvertrags erforderlich. (2) Weiterbeschäftigung nach Änderung der Arbeitsbedingungen Damit kommt eine Weiterbeschäftigung des A nach Änderung der Vertragsbedingungen i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG als milderes Mittel vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Betracht. § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG normiert insofern auch den aus dem Ultima-Ratio-Prinzip resultierenden Vorrang der Änderungs- gegenüber der Beendigungskündigung. In Betracht zu ziehen sind für vorrangige Änderungskündigungen alle Vertragsänderungen, die das konkrete betriebliche Bedürfnis befriedigen, das zum Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit führt. Dies können beispielsweise die Versetzung auf einen anderen (geringerwertigen) Arbeitsplatz, die Kürzung übertariflicher Leistungen, aber auch das Angebot der Teilzeitbeschäftigung sein. Vorliegend hätte die Änderung des Arbeitsvertrags des A dahingehend, dass eine Beschäftigung in Düsseldorf möglich würde, bei im Übrigen gleichbleibenden Bedingungen das betriebliche Bedürfnis der M-GmbH gleichsam befriedigen können. Danach hätte die M-GmbH vorrangig eine Änderungskündigung statt einer Beendigungskündigung aussprechen müssen, da diese eine solche Änderung des Arbeitsvertrags hätte ermöglichen können. Da sie dies unterließ, wäre grundsätzlich vom Fehlen der Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses auszugehen. Allerdings verlangt § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG auch, dass der Arbeitnehmer sein Einverständnis mit den geänderten Arbeitsbedingungen erklärt hat. Fraglich ist in diesem Kontext, wie es sich auswirkt, dass A die Annahme eines Vertragsänderungsangebots durch die M-GmbH bereits vor dem Ausspruch der Beendigungskündigung abgelehnt hatte. Insofern könnte die Erklärung einer Änderungskündigung, die ebenfalls ein Angebot auf Vertragsänderung enthalten hätte, entbehrlich geworden sein. (a) Frühere Rechtsprechung des BAG Im Wege der Rechtsfortbildung hat das BAG in seiner früheren Rechtsprechung das Entfallen des Vorrangs der Änderungskündigung vom Ergebnis der Verhandlungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer abhängig gemacht, die der Arbeitgeber einzuleiten hatte.6 Ausgangspunkt war die Pflicht des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer von sich aus eine zumutbare Weiterbeschäftigung auf einem vorhandenen freien Arbeitsplatz auch zu geänderten Bedingungen anzubieten. Der Arbeitgeber hatte dabei klarzustellen, dass bei Ablehnung des Änderungsangebots eine Kündigung beabsichtigt sei, und ihm eine Überlegungsfrist von einer Woche einzuräumen (sog. „Wochengespräch“). Lehnte der Arbeitnehmer das Änderungsangebot sodann vorbehaltlos und endgültig ab, konnte der Arbeitgeber zu einer Beendigungs- statt einer Änderungskündigung greifen. Allerdings konnte der Arbeitnehmer das Angebot auch unter einem dem § 2 KSchG entsprechenden Vorbehalt annehmen mit der Folge, dass der Arbeitgeber dann eine Änderungskündigung aussprechen konnte. Unterließ es der Arbeitgeber entgegen 6 BAG 27.9.1984 AP KSchG 1969 § 2 Nr. 8.

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dieser Maßgabe, dem Arbeitnehmer vor Ausspruch der Beendigungskündigung ein mögliches und zumutbares Angebot zu unterbreiten, dann war ein Verstoß der Kündigung gegen den Vorrang milderer Mittel anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer einem vor der Kündigung gemachten entsprechenden Vorschlag zumindest unter Vorbehalt zugestimmt hätte. Es war mithin eine hypothetische Prüfung des Änderungsangebots vorzunehmen, wobei für die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung auf einen objektiven Maßstab zurückgegriffen wurde. Das Angebot einer Stelle mit geringerwertigen Arbeitsbedingungen sollte danach entbehrlich sein, wenn es aus der Perspektive eines objektiv urteilenden Arbeitgebers dem sozialen und wirtschaftlichen Status des Mitarbeiters widersprach. Dies war dann anzunehmen, wenn die Tätigkeit eine erheblich geringere Qualifikation erforderte oder die Vergütung erheblich niedriger war. Nach diesen Grundsätzen verstößt die Beendigungskündigung der M-GmbH nicht gegen den Vorrang milderer Mittel, da dem A das Angebot einer Weiterbeschäftigung zu gleichen Arbeitsbedingungen mit Ausnahme des Arbeitsortes mit dem Hinweis unterbreitet wurde, dass die Ablehnung des Angebots eine Beendigungskündigung nach sich ziehen würde. A lehnte dieses Angebot allerdings mit Ablauf der von der M-GmbH gewährten Annahmefrist von zwei Wochen, also einer ausreichenden Überlegungsfrist, ab. (b) Neue Rechtsprechung des BAG In seinen Grundsatzentscheidungen vom 21.4.2005 hat das BAG unter teilweiser Aufgabe seiner vorherigen Rechtsprechung den Vorrang der bestandsschutzsichernden Änderungskündigung gestärkt.7 Danach sollen folgende Grundsätze gelten: Besteht eine beiden Parteien objektiv mögliche und zumutbare Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu geänderten Vertragsbedingungen, hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer diese wie nach bisheriger Rechtsprechung anzubieten. Dabei sei der Arbeitgeber jedoch nicht grundsätzlich dazu verpflichtet, mit dem Arbeitnehmer eine einvernehmliche Lösung in einer Art „Vorverfahren“ zu suchen, etwa indem er zunächst ein Gespräch mit dem Arbeitnehmer führt. Insofern stünde dem Arbeitgeber das Recht zu, auch ohne vorherige Verhandlungen mit dem Arbeitnehmer direkt eine Änderungskündigung auszusprechen, indem er das Änderungsangebot und die Kündigung miteinander verbindet. Suche der Arbeitgeber aber eine einvernehmliche Lösung, indem er dem Arbeitnehmer zunächst keine Änderungs- oder Beendigungskündigung, sondern lediglich ein Änderungsangebot überreicht, so müsse dem Arbeitnehmer entgegen der bisherigen Rechtsprechung keine zwingende Überlegungsfrist von einer Woche gewährt werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Kündigungen erfordere eine solche Rechtsfortbildung nicht. Ganz entscheidend geändert wurden allerdings die Grundsätze, wann die Ablehnung des Änderungsangebots dazu führt, dass der Ausspruch einer Änderungskündigung entbehrlich wird.

7 BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1289; BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1294.

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Anmerkung: Erklärt der Arbeitnehmer sein Einverständnis mit den neuen Bedingungen, bedarf es einer Änderungskündigung freilich schon deswegen nicht, weil hierdurch wirksam eine Vertragsänderung vereinbart wurde. Erklärt der Arbeitnehmer sein Einverständnis mit den neuen Bedingungen vor Ausspruch der Kündigung hingegen lediglich unter Vorbehalt, liegt darin die Ankündigung, eine Änderungsschutzklage für den Fall der dann noch immer vor der Beendigungskündigung vorrangig auszusprechenden Änderungskündigung zu erheben.

Das durch eine Änderungskündigung unterbreitete Angebot, den Arbeitnehmer zu geänderten Vertragsbedingungen weiterzubeschäftigen, dürfe nur in Extremfällen unterbleiben. Ein solcher sei aber nicht schon dann anzunehmen, wenn der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung dem Arbeitnehmer das Angebot gemacht hat, den Vertrag der noch bestehenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit anzupassen, und der Arbeitnehmer dieses Angebot abgelehnt hat. Denn die Ablehnung der einverständlichen Abänderung (etwa aufgrund einer emotionalen Blockadehaltung) schließe nicht zwangsläufig aus, dass der Arbeitnehmer bereit sei, zu den geänderten Bedingungen weiterzuarbeiten, wenn sich in einem Änderungsschutzverfahren nach § 2 KSchG die Berechtigung der Änderung herausstellt. Eine sofortige Beendigungskündigung sei deswegen strenger als nach bisheriger Rechtsprechung nur dann zulässig, wenn der Arbeitnehmer unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe, er werde die geänderten Arbeitsbedingungen im Fall des Ausspruchs einer Änderungskündigung unter keinen Umständen, auch nicht unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung, annehmen.8 Die mit dieser Anforderung verbundenen Beweisschwierigkeiten versucht das BAG dabei in jüngster Rechtsprechung dadurch zu vermeiden, dass es als Indiz einer „Extremsituation“ auch das Verhalten des betroffenen Arbeitnehmers nach Ausspruch der Beendigungskündigung und während des Kündigungsschutzprozesses heranzieht.9 Beruft er sich trotz Kenntnis von einer freien Stelle nicht zeitnah auf diese, sondern erst lange nach Beginn der Auseinandersetzung, so spreche vieles dafür, dass er sich in keinem Fall mit einer Annahme – auch nicht unter Vorbehalt – einverstanden erklärt hätte. Zwar reicht es nach diesen Rechtsprechungsgrundsätzen für die Entbehrlichkeit der Änderungskündigung grundsätzlich somit nicht aus, dass die M-GmbH dem A vor Ausspruch der Beendigungskündigung das Angebot gemacht hat, den Vertrag der noch bestehenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit anzupassen, und dieser das Angebot abgelehnt hat. Indem A im Gespräch mit G jedoch versicherte, dass er sein Angebot, in Düsseldorf zu arbeiten nie im Leben – nicht einmal für mehr Geld – annehmen werde, selbst wenn man ihm nun eine Änderungskündigung zuschicke, hat er unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, er werde die geänderten Arbeitsbedingungen im Fall des Ausspruchs einer Änderungskündigung unter keinen Umständen, auch nicht unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung, annehmen. Hierbei betonte er nicht nur die Unumstößlichkeit seines Entschlusses. Dass er keinesfalls von einer Vorbehaltsannahme im Sinne des § 2 KSchG Gebrauch gemacht hätte, verdeutlicht die Aussage des A, dass er lieber entlassen werden wolle, um sich einen neuen Job in Köln zu su-

8 BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1289; BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1294. 9 BAG 21.9.2006 NZA 2007, 431, 435; BAG 3.4.2008 NZA 2008, 812, 813.

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Lösungsvorschlag Fall 19

chen, statt auch nur einen Tag in Düsseldorf arbeiten zu müssen. Bei einer Annahme unter Vorbehalt, wäre dies jedoch erforderlich gewesen. Mithin liegt ein „Extremfall“ vor, der zur Entbehrlichkeit eines weiteren Angebots zur Vertragsänderung durch eine Änderungskündigung führt. Dies resultiert letztlich aus der Erwägung, dass ein Arbeitnehmer, der wie vorliegend erkennen lässt, dass er das Änderungsangebot in keinem Fall annehmen werde, widersprüchlich handeln würde, wenn er sich später auf eine mögliche Änderungskündigung beruft. Da A es darüber hinaus nach Ausspruch der Kündigung weiterhin „definitiv“ ablehnt, außerhalb von Köln tätig zu werden, spricht auch dieses Indiz dafür, dass es in keinem Fall – auch nicht unter Vorbehalt – zu einer Annahme der Änderungskündigung durch A gekommen wäre. Somit war ein erneutes Angebot einer Vertragsänderung im Rahmen einer Änderungskündigung für die M-GmbH entbehrlich, so dass die Beendigungskündigung nicht gegen den Vorrang des milderen Mittels der Weiterbeschäftigung zu geänderten Vertragsbedingungen nach § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG verstößt. Ob die Entbehrlichkeit der Änderungskündigung vorliegend auch aus einer Unzumutbarkeit der Vertragsänderung resultieren könnte, ist nicht mehr zu untersuchen. dd) Zwischenergebnis Die Kündigung gegenüber A ist jedenfalls durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. b) Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG Die Kündigung des A könnte jedoch trotzdem sozial ungerechtfertigt sein, wenn der Arbeitgeber keine den Anforderungen des § 1 Abs. 3 KSchG entsprechende Sozialauswahl durchgeführt hat. Die Prüfung der vom Arbeitgeber vorzunehmenden Sozialauswahl vollzieht sich in drei Schritten: Zunächst ist der auswahlrelevante Personenkreis (vergleichbare Arbeitnehmer des betroffenen Betriebs) zu bestimmen. Alsdann ist zu prüfen, ob die sozialen Gesichtspunkte im Sinne des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG berücksichtigt und hinreichend gewichtet worden sind. Schließlich ist zu prüfen, ob dem Ergebnis der Sozialauswahl berechtigte betriebliche Bedürfnisse entgegenstehen (§ 1 Abs. 3 S. 2 KSchG). aa) Auswahlrelevanter Personenkreis (1. Stufe) Fraglich ist zunächst, zwischen welchen Arbeitnehmern die Sozialauswahl durchzuführen ist. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG obliegt es dem gekündigten Arbeitnehmer, andere Arbeitnehmer zu benennen, die der Arbeitgeber in die Sozialauswahl hätte einbeziehen müssen. A beruft sich insofern lediglich auf M. Zumal Angaben über die übrigen Beschäftigten der GmbH fehlen, ist die Prüfung darauf zu beschränken, ob M in die Sozialauswahl hätte einbezogen werden müssen.

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Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Sozialauswahl lediglich auf den Betrieb, also nicht auf das Unternehmen oder gar den Konzern, erstreckt.10 Da A und M im Werk Köln der M-GmbH beschäftigt sind, sind unter dem Aspekt des Betriebsbezuges als äußerste Grenze der Sozialauswahl beide Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einzubeziehen. Es bedarf jedoch einer weiteren qualitativen Bestimmung des auswahlrelevanten Personenkreises. Nach ganz herrschender Rechtsprechung und Meinung in der Literatur findet die Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG nur zwischen „vergleichbaren Arbeitnehmern“ statt. Die Vergleichbarkeit setzt voraus, dass der Arbeitnehmer, dessen konkreter Arbeitsplatz weggefallen ist, die Arbeit eines anderen Arbeitnehmers, dessen Arbeitsplatz noch besteht, übernehmen kann. Maßgeblich hierfür ist zum einen der Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers. So ist die Vergleichbarkeit nach der herrschenden Meinung nur dann zu bejahen, wenn der unmittelbar betroffene Arbeitnehmer die Tätigkeit seines Kollegen ohne Änderung seines Arbeitsvertrages übernehmen könnte, die Versetzung auf den anderen Arbeitsplatz also durch das Direktionsrecht, § 106 GewO, des Arbeitgebers gedeckt ist. Wäre hingegen eine Änderungskündigung erforderlich, so schließt dies die Vergleichbarkeit aus. Zum anderen richtet sich die Vergleichbarkeit nach dem Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes, dessen Übernahme durch den unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer in Rede steht. Ist die auf diesem Arbeitsplatz zu verrichtende Tätigkeit identisch mit der bisher von dem unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer ausgeübten Tätigkeit, so ist die Vergleichbarkeit problemlos zu bejahen. Handelt es sich hingegen um eine nur partiell identische oder um eine andersartige Tätigkeit, so ist zu prüfen, ob der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsplatz weggefallen ist, diese aufgrund seiner individuellen Ausbildung und seiner fachlichen Qualifikation übernehmen kann. Erforderlich ist in diesem Falle eine alsbaldige Substituierbarkeit, an der es fehlt, wenn der unmittelbar betroffene Arbeitnehmer eine nicht unerhebliche Einarbeitungszeit benötigt. Diese Voraussetzungen für eine Vergleichbarkeit zwischen A und M sind im vorliegenden Fall gegeben. A ist als Mechaniker für die M-GmbH eingestellt worden, ohne dass seine Tätigkeit in seinem Arbeitsvertrag weiter präzisiert oder eingeschränkt wird. Daher könnte die M-GmbH den A aufgrund ihres arbeitgeberseitigen Direktionsrechts auf den Arbeitsplatz des M versetzen, ohne dass es einer Änderung des Vertrages bedürfte. Allerdings ist die Tätigkeit, die M gegenwärtig ausübt, nicht mit der von A ausgeübten Tätigkeit identisch. Da M jedoch zuvor, ebenso wie A, in der Montageabteilung gearbeitet hat und sodann in den Bereich „Haustechnik“ gewechselt ist, kann davon ausgegangen werden, dass auch M einen solchen Wechsel vollziehen könnte. Dem Sachverhalt ist nicht zu entnehmen, dass es sich um eine besonders qualifizierte Tätigkeit handelt, die durch A nicht ausgeübt werden könnte. Insoweit sind A und M daher miteinander vergleichbar.

10 BAG 22.5.1986 AP KSchG 1969 § 1 Konzern Nr. 4; das gilt auch dann, wenn sich der Arbeitgeber ein betriebsübergreifendes Versetzungsrecht vorbehalten hat (BAG 15.12.2005 AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 76; BAG 2.6.2005 AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 73; BAG 31.5.2007 AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 94).

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Lösungsvorschlag Fall 19

Umstritten ist, ob weitere Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um die Vergleichbarkeit zu bejahen. Während die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur die dargestellten Voraussetzungen genügen lässt, werden bisweilen weitere Einschränkungen des auswahlrelevanten Personenkreises gefordert. Dies wird insbesondere mit der Systematik des § 1 Abs. 2 und 3 KSchG begründet. Während § 1 Abs. 2 KSchG die Anforderungen an die betrieblichen Umstände enthalte, die prinzipiell eine Kündigung rechtfertigen können, diene Abs. 3 der personellen Konkretisierung dieses zur Kündigung berechtigenden, betrieblichen Erfordernisses. Die unternehmerische Entscheidung, die den Kündigungsgrund darstellt, ist jedoch regelmäßig auf eine bestimmte innerbetriebliche Zwecksetzung, beispielsweise die Produktionsdrosselung in einer bestimmten Betriebsabteilung, bezogen. Hieraus wird gefolgert, dass nur diejenigen Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einzubeziehen seien, deren (bisherige) Tätigkeit gerade dieser innerbetrieblichen Zwecksetzung dient. Die Sozialauswahl soll mithin nur zwischen den Arbeitnehmern stattfinden, die unmittelbar von dem zur Kündigung führenden Ereignis betroffen sind.11 Im vorliegenden Fall führt die unternehmerische Entscheidung der M-GmbH, die Produktion von Fräsmaschinen zu reduzieren, lediglich in der Montage unmittelbar zum Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten, während die Arbeit der „Haustechnik“ von dieser Entscheidung unberührt bleibt. Nach dieser Ansicht wären daher A und M nicht miteinander vergleichbar, da sie nur zufällig dieselbe Ausbildung haben, aber in ganz unterschiedlichen Abteilungen arbeiten. Dieser Auffassung ist entgegenzuhalten, dass sie den Kreis der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer ungebührlich einschränkt. Für den Betriebsbezug der Sozialauswahl spricht zunächst der Wortlaut des § 1 KSchG: So ist in § 1 Abs. 3 KSchG von „betrieblichen“ Erfordernissen die Rede. Zudem wird hier auf § 1 Abs. 2 KSchG verwiesen, der ebenfalls von „betrieblichen“ Erfordernissen spricht, die der Weiterbeschäftigung dieses Arbeitnehmers in diesem „Betrieb“ entgegenstehen. Daher enthält der Wortlaut des § 1 KSchG keinerlei Anhaltspunkte für eine Beschränkung der Sozialauswahl auf die Arbeitnehmer einzelner Betriebsabteilungen. Auch die Systematik des § 1 Abs. 2 und 3 KSchG gebietet eine solche Einschränkung nicht. Zwar ist es zutreffend, dass die unternehmerische Entscheidung, die der Kündigung zugrunde liegt, stets auf eine bestimmte innerbetriebliche Zwecksetzung bezogen ist, die regelmäßig in einer bestimmten Betriebsabteilung verwirklicht wird. Allerdings wird der mögliche Tätigkeitsbereich der Arbeitnehmer im Regelfall nicht auf diese Betriebsabteilung begrenzt sein. Vielmehr enthalten Arbeitsverträge üblicherweise lediglich eine qualitative Tätigkeitsbeschreibung, so dass der Arbeitgeber durch Ausübung seines Direktionsrechts festlegt, zu welcher innerbetrieblichen Zwecksetzung der Arbeitnehmer eingesetzt wird. Damit ist es letztendlich Zufall, in welcher Abteilung der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Kündigungserklärung gerade beschäftigt ist. Daher erscheint eine Differenzierung nach Betriebsabteilungen nicht angebracht.

11 Vgl. WANK RdA 1987, 129.

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Fall 19 Lösungsvorschlag

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Überdies könnten die Grundsätze zur Sozialauswahl umgangen werden, indem der Arbeitgeber im Rahmen seines Direktionsrechts vor Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen die Arbeitnehmer auf den anderen Arbeitsplatz versetzt, um sie von der Sozialauswahl auszunehmen. Daher sind für die Vergleichbarkeit allein der Arbeitsvertrag und die Qualifikation des unmittelbar betroffenen Arbeitnehmers maßgeblich. Da A aufgrund seines Arbeitsvertrages und seiner Qualifikation den Arbeitsplatz des M übernehmen könnte, ist M mit A vergleichbar mit der Folge, dass M in die Sozialauswahl einbezogen werden muss. bb) Berücksichtigung und Gewichtung der Auswahlkriterien (2. Stufe) Gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG muss der Arbeitgeber bei der Sozialauswahl die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers ausreichend in seinen Erwägungen berücksichtigen. Im vorliegenden Fall liegen zu den ersten drei sozialen Gesichtspunkten Angaben vor. A ist seit 20 Jahren im Betrieb tätig, während M erst seit fünf Jahren bei der M-GmbH beschäftigt ist. A ist überdies wesentlich älter als M, weshalb seine Chancen geringer sein dürften, eine neue Anstellung zu finden. Zudem ist A verheiratet und hat Unterhaltspflichten, während M ledig ist und keine weiteren Unterhaltsverpflichtungen hat. Demnach ist A eindeutig sozial schwächer als M. Die Sozialauswahl fällt damit zu Gunsten des A aus. Anmerkung: Das Lebensalter als Kriterium der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG ist nicht unproblematisch. Ihm sollte neben der Betriebszugehörigkeit keine ausschlaggebende Bedeutung zukommen. Denn das Lebensalter zu gewichten, beinhaltet die Gefahr, die Jüngeren oder je nachdem auch die Älteren zu benachteiligen. Die Einbeziehung des Alters als Kriterium der sozialen Auswahl stellt allerdings keine unzulässige unmittelbare Diskriminierung auf Grund des Alters gemäß Art. 2 Nr. 2 lit. a der RL 2000/78/EG dar.12 Gemäß Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG sind Ungleichbehandlungen auf Grund des Alters nämlich dann keine unmittelbare Diskriminierung, wenn sie durch ein legitimes, insbesondere beschäftigungs- oder arbeitsmarktpolitisches Ziel, objektiv gerechtfertigt sind und das Mittel zur Erreichung des Zweckes angemessen und erforderlich ist. Das kann für den Fall des § 1 Abs. 3 KSchG bejaht werden.13 Dennoch scheint die pauschale Wertung, dass jedenfalls Arbeitnehmer höheren Alters schwerer einen Arbeitsplatz finden als jüngere, zweifelhaft. Richtigerweise ist § 1 Abs. 3 KSchG richtlinienkonform so auszulegen, dass dem Alter kein zu großes Gewicht beigemessen werden darf und ein Schematismus zu vermeiden ist. Es bietet sich an, Altersgruppen zu bilden, innerhalb derer dann eine Sozialauswahl stattfindet. So würde eine gleichmäßige, altersunabhängige Auswahl gewährleistet, da in jeder Gruppe, sprich jeder Altersklasse, Kündigungen ausgesprochen werden, die innerhalb derselben aber dem Alter schon deswegen kein übermäßiges Gewicht beimessen können, weil es kaum Altersunterschiede gibt.14

12 Vgl. BAG 6.11.2008 NZA 2009, 361. 13 PREIS NZA 2006, 401, 409. 14 A.A. ArbG Osnabrück 5.2.2007 NZA 2007, 626.

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Lösungsvorschlag Fall 19

cc) Ausnahmen von der Sozialauswahl im berechtigen betrieblichen Interesse (3. Stufe) Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass bezüglich des M Ausnahmen von der Sozialauswahl aus berechtigten betrieblichen Interessen nach § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG gerechtfertigt sind. dd) Zwischenergebnis Die von der M-GmbH durchgeführte Sozialauswahl entspricht daher nicht den Anforderungen des § 1 Abs. 3 KSchG. V. Ergebnis Die Kündigung gegenüber A ist wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Kündigungsschutz aus § 1 KSchG sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam. Allerdings muss A die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung innerhalb von drei Wochen, gerechnet ab dem Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung, gerichtlich geltend machen (§ 4 S. 1 KSchG). Erhebt A nicht fristgerecht Klage, gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam. B. Wirksamkeit der Kündigung gegenüber B Die gegenüber B ausgesprochene Kündigung ist wirksam, wenn die M-GmbH die Kündigung unter Einhaltung der Kündigungsfrist erklärt hat sowie besondere und allgemeine Kündigungsschranken beachtet worden sind. I. Kündigungserklärung Die Kündigungserklärung erfolgte mit Schreiben vom 23.9.2010 durch Einschreiben. Zweifel an der Wirksamkeit dieser Kündigungserklärung liegen nicht vor. Auch die Kündigungserklärung vom 23.9.2010 stellt keine Änderungs-, sondern eine ordentliche Beendigungskündigung dar. Wenngleich die M-GmbH dem B vor der schriftlichen Kündigung auch ein Änderungsangebot unterbreitet hat, ist die unbedingte Kündigungserklärung als Beendigungskündigung auszulegen. Insoweit ergeben sich keine Abweichungen zur Lage des A. II. Einhaltung der Kündigungsfrist Weiterhin ist zu prüfen, ob die Kündigungsfrist eingehalten worden ist. In dem Vertrag zwischen B und der M-GmbH ist keine Kündigungsfrist vereinbart, so dass auf die gesetzlich festgelegten Kündigungsfristen zurückzugreifen ist. 1. Länge der Kündigungsfrist Da B fünf Jahre bei der M-GmbH beschäftigt ist, beträgt die Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB zwei Monate zum Monatsende. Damit die Kündigung am 30.11.2010 fristgerecht wirksam werden kann, müsste die Kündigung daher spätestens zum 30.9.2010 zugegangen sein. 2. Rechtzeitiges Wirksamwerden der Kündigungserklärung Fraglich ist, ob die Kündigungserklärung der M-GmbH rechtzeitig gegenüber B wirksam geworden ist, also die Kündigungsfrist gewahrt ist. Nach § 130 Abs. 1

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Fall 19 Lösungsvorschlag

„Produktionsdrosselung“

BGB wird eine unter Abwesenden abgegebene Willenserklärung wirksam, wenn sie dem Empfänger zugeht. Zu prüfen ist also, wann B die Kündigungserklärung der M-GmbH zugegangen ist. a) Zugang am 23.9.2010 Möglicherweise ist die Kündigung B schon mit dem Einwurf des Benachrichtigungszettels in den Hausbriefkasten am 23.9.2010 zugegangen. Bei Annahme dieses Zugangszeitpunkts wäre die Kündigungserklärung rechtzeitig mit Wirkung zum 30.11.2010 erfolgt. Eine Willenserklärung ist dem Empfänger i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB zugegangen, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt und für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von dem Inhalt des Schreibens Kenntnis zu nehmen. Durch den Einwurf des Benachrichtigungsscheins ist zwar diese Benachrichtigung, nicht jedoch die Kündigungserklärung selbst in den Machtbereich des Empfängers B gelangt, denn das Einschreiben selbst verblieb bei der Post. Da aus dem Benachrichtigungsschein weder der Absender noch der Inhalt des Einschreibens erkennbar sind, bestand für B allein durch den Einwurf des Benachrichtigungsschreibens keine Möglichkeit, vom Inhalt der eingeschriebenen Erklärung Kenntnis zu nehmen. Die bloße Benachrichtigung des Empfängers und die Niederlegung des Kündigungsschreibens bei der Post erfüllt damit nicht die Anforderungen an einen Zugang i.S.d. § 130 Abs. 1 BGB. Das Kündigungsschreiben selbst ist erst am 7.10.2010 in den Machtbereich des B gelangt, so dass dieser von seinem Inhalt Kenntnis nehmen konnte. Bei einem Zugang der Kündigungserklärung zu diesem Zeitpunkt wäre die Kündigung zum 30.11.2010 wegen Überschreitung der Frist nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB nicht mehr fristgemäß. Allerdings hätte B bereits nach Zugang des Benachrichtigungsscheins am 23.9.2010 die Möglichkeit gehabt, das Einschreiben bei der Post abzuholen und von seinem Inhalt Kenntnis zu nehmen. B hat dies unterlassen, da er aufgrund des Hinweises des Meisters davon ausging, dass es sich bei dem Einschreiben um die angekündigte Kündigung handeln würde. In Anbetracht dieses Verhaltens erscheint es fraglich, ob sich B auf den verspäteten Zugang der Kündigungserklärung berufen kann. Eine Verpflichtung des B, die Erklärung als rechtzeitig gegen sich gelten zu lassen, könnte sich auf Grundlage der §§ 162 Abs. 1, 242 BGB ergeben. Gemäß § 162 Abs. 1 BGB muss sich derjenige, der den Eintritt einer für ihn nachteiligen Bedingung treuwidrig verhindert, so behandeln lassen, als wäre die Bedingung eingetreten. Zwar gilt § 162 BGB unmittelbar nur für rechtsgeschäftliche Bedingungen i.S.d. § 158 BGB, so dass im vorliegenden Fall lediglich eine analoge Anwendung in Betracht kommt. Die analoge Anwendung einer Vorschrift setzt voraus, dass eine planwidrige Regelungslücke besteht und der Grundgedanke der Vorschrift auf den nicht geregelten Sachverhalt angesichts einer vergleichbaren Interessenlage übertragbar ist. Eine spezielle Regelung für Fälle der sog. „Zugangsverzögerung“ besteht nicht. § 162 Abs. 1 BGB enthält den allgemeinen Rechtsgedanken, dass niemand davon profitieren soll, dass er treuwidrig ein be-

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Lösungsvorschlag Fall 19

stimmtes, für ihn nachteiliges Ereignis verhindert. Der Zugang der Kündigungserklärung vor dem 30.9.2010 ist für B insofern nachteilig, als dadurch die Frist für eine Kündigung zum 30.11.2010 eingehalten wäre und sein Arbeitsverhältnis früher enden würde. Den Eintritt dieses Ereignisses hat B verhindert, indem er das Kündigungsschreiben nach Erhalt des Benachrichtigungsschreibens nicht abgeholt hat und dadurch den Zugang solange hinausgezögert hat, bis die Kündigung zum 30.11.2010 wegen Fristüberschreitung nicht mehr möglich war. Fraglich ist jedoch, ob es sich hierbei um ein treuwidriges Verhalten des B handelt. Ein treuwidriges Handeln setzt kein Verschulden voraus. Ausreichend ist vielmehr, dass das in Rede stehende Verhalten objektiv gegen die Maßstäbe verstößt, deren Einhaltung nach Treu und Glauben im Rechtsverkehr erwartet werden darf. Grundsätzlich besteht keine allgemeine Pflicht des Erklärungsempfängers, für den Empfang von Schriftstücken zu sorgen. Ebenso wenig besteht eine Pflicht, dass der Empfänger einer Benachrichtigung über die Niederlegung einer Zustellung das für ihn niedergelegte Schriftstück zeitnah abholen muss. Daher ist es auch für die Frage des Zugangs einer schriftlichen Erklärung unerheblich, ob sich der Zugang einer Erklärung verzögert. Prinzipiell muss der Erklärende dafür Sorge tragen, dass der Erklärungsempfänger die Erklärung zur Kenntnis nehmen kann. Daraus folgt auch, dass grundsätzlich der Zugang einer per ÜbergabeEinschreiben erfolgten Kündigung erst eintritt, wenn der Adressat das Einschreiben innerhalb der von der Post mitgeteilten Aufbewahrungspflicht auch tatsächlich abholt.15 Dies gilt prinzipiell auch dann, wenn der Arbeitnehmer mit der Kündigung rechnen musste.16 Wenn der Arbeitnehmer mit dem Zugang einer Erklärung rechnen musste und die Zugangsverzögerung allein aus dem Verhalten des Erklärungsempfängers resultiert, muss für den Zugang der Willenserklärung jedoch etwas anderes gelten. So ist es als treuwidrig anzusehen, wenn der Empfänger grundlos die Annahme einer Willenserklärung ablehnt, obwohl er im Rahmen vertragliche Beziehungen mit rechtserheblichen Mitteilungen gerechnet hat. Gleichsam handelt der Adressat einer per Übergabe-Einschreibens erklärten Kündigung in diesem Sinne rechtsmissbräuchlich, wenn er es unterlässt, das Einschreiben im Hinterlegungszeitraum abzuholen, obwohl er davon ausgehen musste, dass dieses Schreiben die Kündigung des Arbeitsverhältnisses enthält.17 Wenn der Empfänger durch einen entsprechenden Benachrichtigungszettel erfährt, dass ein Einschreiben für ihn bei der Post niedergelegt ist, darf der Erklärende erwarten, dass der Empfänger das Einschreiben abholt. Eine Einlösung dürfte in diesen Fällen wohl binnen einer Woche erwartet werden können.18 Unterlässt der Empfänger dies wie vorliegend, handelt er treuwidrig i.S.d. § 242 BGB. Analog § 162 Abs. 1 BGB kann er sich dann auf die Verspätung und damit die Fristversäumnis nicht berufen, wenn der Erklärende die Erklärung unverzüglich wiederholt.19 Daher muss sich B analog § 162 BGB so behandeln lassen, als ob ihm die Kündigung zum normalen Zeitpunkt zugegangen wäre. Als Zugangszeitpunkt ist in

15 16 17 18 19

BAG 7.11.2002 NZA 2003, 719. ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 620 BGB Rn. 54. BAG 7.11.2002 NZA 2003, 719. ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 620 BGB Rn. 54. Vgl. BAG 18.2.1977 AP BGB § 130 Nr. 10; BAG 7.11.2002 NZA 2003, 719.

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diesem Fall der Zeitpunkt anzunehmen, zu dem unter Berücksichtigung der Verkehrssitte erwartet werden kann, dass der Empfänger das Einschreiben abholt. Dies dürfte regelmäßig der nächste Werktag sein. Aber selbst wenn man im vorliegenden Fall einen späteren Zeitpunkt für angemessen hielte, ist von einem Zugang vor dem 30.9.2010 auszugehen und damit die Frist von zwei Monaten nach § 622 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB gewahrt. b) Zwischenergebnis Die Kündigung ist daher zum 30.11.2010 fristgerecht erfolgt. III. Anhörung des Betriebsrates (§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG) Die Anhörung des Betriebsrates ist erfolgt. IV. Wirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG Die Kündigung gegenüber B könnte gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes Die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG sind im vorliegenden Fall gegeben. Insoweit gilt für B nichts anderes als für A. 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung Bei der Kündigung gegenüber B handelt es sich, ebenso wie bei der Kündigung gegenüber A, um eine betriebsbedingte Kündigung. Eine betriebsbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 und 3 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung trifft, durch die die Beschäftigungsmöglichkeit eines Arbeitnehmers dauerhaft wegfällt (betriebliches Erfordernis), der Arbeitnehmer weder auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann noch sonstige mildere Mittel statt der Kündigung möglich sind (Dringlichkeit) und der Arbeitgeber eine fehlerfreie Sozialauswahl durchführt. a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung Der Kündigung des B liegt die gestaltende unternehmerische Entscheidung der M-GmbH zugrunde, der rückläufigen Nachfrage nach Fräsmaschinen durch eine Produktionsdrosselung zu begegnen. Mithin liegt der Kündigung des B eine den Anforderungen des § 1 Abs. 2 KSchG entsprechende unternehmerische Entscheidung zugrunde. bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit Durch die unternehmerische Entscheidung der M-GmbH, die Produktion auf unabsehbare Zeit zu drosseln, wurde nicht mehr die gleiche Anzahl an Arbeitskräften für die Produktion benötigt. Durch die unternehmerische Entscheidung sind

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Lösungsvorschlag Fall 19

damit dauerhaft Beschäftigungsmöglichkeiten in der Gruppe der in der Produktion beschäftigten Mechaniker, zu der auch der gekündigte B gehört, weggefallen. cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses Ein „dringendes“ betriebliches „Erfordernis“ liegt nur vor, wenn nach dem Zweck der betriebsbedingten Kündigung dem Kündigungsinteresse nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Zu den milderen Mitteln, die der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Beendigungskündigung ergreifen muss, gehört gemäß § 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG insbesondere die Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz in einem anderen Betrieb des Unternehmens oder die Weiterbeschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz unter Änderung sonstiger Vertragsbedingungen, auch wenn diese Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten erst nach Fortbildung oder Umschulung des Arbeitnehmers offen stehen. Wie bereits ausgeführt, sind diese Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten entgegen dem Wortlaut der Norm unabhängig vom Widerspruch des Betriebsrats zu prüfen. Vorliegend war ein freier Arbeitsplatz in einem zur M-GmbH gehörenden Werk in Düsseldorf verfügbar. Dieser hätte nach der Qualifikation des B von diesem besetzt werden können. Da diese Stelle jedoch mit einer Gehaltseinbuße verbunden gewesen wäre, wäre für die Weiterbeschäftigung eine Vertragsänderung erforderlich. Mithin verstößt die Kündigung des B zwar nicht gegen § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 lit. b KSchG, der nur bei einer Weiterbeschäftigung einschlägig ist, die mittels Ausübung des Direktionsrechts realisierbar wäre. Allerdings kommt eine Weiterbeschäftigung des A nach Änderung der Vertragsbedingungen i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG als milderes Mittel vor dem Ausspruch einer Beendigungskündigung in Betracht, da diese das betriebliche Bedürfnis der M-GmbH gleichsam hätte befriedigen können. Hieraus resultiert, dass die M-GmbH grundsätzlich eine Änderungskündigung statt einer Beendigungskündigung hätte aussprechen müssen, da diese eine solche Änderung des Arbeitsvertrags hätte ermöglichen können. Da sie dies unterließ, wäre grundsätzlich vom Fehlen der Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses auszugehen. Allerdings verlangt § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG, dass der Arbeitnehmer sein Einverständnis mit den geänderten Arbeitsbedingungen erklärt hat. Auch hier ist fraglich, wie es sich auswirkt, dass B die Annahme eines Vertragsänderungsangebots durch die M-GmbH vor dem Ausspruch der Beendigungskündigung abgelehnt hatte. Insofern könnte die Erklärung einer Änderungskündigung, die ebenfalls ein Angebot auf Vertragsänderung enthalten hätte, wie bei der Kündigung des A entbehrlich geworden sein. (1) Entbehrlichkeit der Änderungskündigung wegen vorheriger Ablehnung einer Vertragsänderung Nach der neuen Rechtsprechung des BAG darf das durch eine Änderungskündigung unterbreitete Angebot, den Arbeitnehmer zu geänderten Vertragsbedingungen weiterzubeschäftigen, nur noch in Extremfällen unterbleiben.20 Ein solcher

20 BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1289; BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1294.

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sei aber nicht schon dann anzunehmen, wenn der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung dem Arbeitnehmer das Angebot gemacht hat, den Vertrag der noch bestehenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit anzupassen, und der Arbeitnehmer dieses Angebot abgelehnt hat. Denn die Ablehnung der einverständlichen Abänderung (etwa aufgrund einer emotionalen Blockadehaltung) schließe nicht zwangsläufig aus, dass der Arbeitnehmer bereit sei, zu den geänderten Bedingungen weiterzuarbeiten, wenn sich in einem Änderungsschutzverfahren nach § 2 KSchG die Berechtigung der Änderung herausstellt. Eine sofortige Beendigungskündigung sei deswegen nur zulässig, wenn der Arbeitnehmer unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe, er werde die geänderten Arbeitsbedingungen im Fall des Ausspruchs einer Änderungskündigung unter keinen Umständen, auch nicht unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung, annehmen.21 Vorliegend lehnte B nicht mit dieser Klarheit das vor der Kündigung unterbreitete Vertragsänderungsangebot der M-GmbH ab. Vielmehr hat er sich als grundsätzlich verhandlungsbereit erwiesen und gab zu erkennen, dass er jedenfalls nicht prinzipiell etwas gegen eine Weiterbeschäftigung im Düsseldorfer Werk einzuwenden hatte. B lehnte das Weiterbeschäftigungsangebot insofern lediglich zu den vorgeschlagenen Konditionen ab. Seine Verhandlungsbereitschaft signalisierte er dabei schon dadurch, dass er sich mit einer Gehaltseinbuße von 200 Euro einverstanden erklärte und äußerte, dass eine Weiterbeschäftigung in Düsseldorf für ihn „kein Problem“ sei. Zudem betonte er, dass er keinesfalls seinen Job verlieren wolle. Er lehnte vielmehr lediglich das konkrete Angebot zur einvernehmlichen Vertragsänderung der M-GmbH ab. Damit wurde aber der Ausspruch einer Änderungskündigung nicht entbehrlich, da es gerade Sinn des Verfahrens nach § 2 KSchG ist, die Frage der Zumutbarkeit der geänderten Vertragsbedingung zu überprüfen, ohne dass der Arbeitnehmer den sofortigen Verlust seines Arbeitsplatzes fürchten muss. Nach diesen Äußerungen des B durfte die M-GmbH jedenfalls nicht annehmen, dass die Ablehnung der einverständlichen Abänderung durch B zugleich bedeutete, dass er nicht bereit sei, zu den geänderten Bedingungen weiterzuarbeiten, wenn sich in einem Änderungsschutzverfahren nach § 2 KSchG die Berechtigung der Änderung herausstellt. Hierfür spricht auch das weitere Verhalten des B nach dem Gespräch mit G. Das BAG zieht insofern in jüngerer Rechtsprechung das Verhalten des betroffenen Arbeitnehmers nach Ausspruch der Beendigungskündigung und während des Kündigungsschutzprozesses als Indiz einer „Extremsituation“ heran.22 Beruft er sich trotz Kenntnis von einer freien Stelle nicht zeitnah auf diese, sondern erst lange nach Beginn der Auseinandersetzung, so spreche vieles dafür, dass er sich in keinem Fall mit einer Annahme – auch nicht unter Vorbehalt – einverstanden erklärt hätte. Einen ähnlichen Indizcharakter dürfte auch dem Verhalten des B vor der konkreten Kenntnis von der Beendigungskündigung innewohnen. Mit Schreiben vom 28.9.2010 erklärte B, dass er auch mit einer Gehaltseinbuße von 300 Euro einverstanden sei, es ließe sich doch „über alles reden“, was erneut die grundsätzlich bestehende Verhandlungsbereitschaft des B über die Weiterbeschäftigung im Düsseldorfer Werk verdeutlichte. Doch auch das Verhalten des B nach Kenntnis der Beendigungskündigung spricht in seiner Indizwirkung nicht dafür,

21 BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1289; BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1294. 22 BAG 21.9.2006 NZA 2007, 431, 435; BAG 3.4.2008 NZA 2008, 812, 813.

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Lösungsvorschlag Fall 19

dass B die geänderten Vertragsbedingungen im Fall des Ausspruchs einer Änderungskündigung unter keinen Umständen, auch nicht unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung, angenommen hätte. Denn B beruft sich nicht erst lange nach Beginn der Auseinandersetzung auf die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf der freien Stelle im Düsseldorfer Werk. Vielmehr betont er, dass er sich mit den angebotenen Vertragsänderungen unter Vorbehalt einverstanden erklärt hätte, wenn er gewusst hätte, dass es auch schon beim schriftlichen Vertragsänderungsangebot der M-GmbH neben der Ablehnung oder Annahme die Möglichkeit der Vorbehaltsannahme gegeben hätte. Allein aufgrund der Ablehnung des vorherigen Angebots auf Vertragsänderung durfte die M-GmbH mithin nicht von einer Entbehrlichkeit des vorrangigen Ausspruchs einer Änderungs- statt einer Beendigungskündigung ausgehen. (2) Zumutbarkeit der Änderung als Grenze des Vorrangs der Änderungskündigung Allerdings könnte ein weiteres mit einer Änderungskündigung verbundenes Angebot auf Vertragsänderung aufgrund von Unzumutbarkeit der geänderten Vertragsbedingungen entbehrlich sein. Insofern ging G davon aus, dass B die Gehaltseinbuße von 400 Euro als unzumutbar empfinden würde, da diese die Finanzierung seines geliebten Hobbys gefährden würde. Wie bereits ausgeführt wurde, hatte der Arbeitgeber nach bisheriger Rechsprechung des BAG dem Arbeitnehmer vor Ausspruch der Beendigungskündigung ein mögliches und zumutbares Angebot zu unterbreiten.23 Es war ein Verstoß der Kündigung gegen den Vorrang milderer Mittel anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer einem vor der Kündigung gemachten entsprechenden Vorschlag zumindest unter Vorbehalt zugestimmt hätte. Hierzu wurde eine hypothetische Prüfung des Änderungsangebots vorgenommen, wobei für die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung auf einen objektiven Maßstab zurückgegriffen wurde. Das Angebot einer Stelle mit geringerwertigen Arbeitsbedingungen sollte danach entbehrlich sein, wenn es aus der Perspektive eines objektiv urteilenden Arbeitgebers dem sozialen und wirtschaftlichen Status des Mitarbeiters widersprach. Dies war dann anzunehmen, wenn die Tätigkeit eine erheblich geringere Qualifikation erforderte oder die Vergütung erheblich niedriger war. Diese Sichtweise wurde vielfach kritisiert, da eine solche heteronome Beurteilung der Zumutbarkeit für den Arbeitnehmer mit der vom BAG geteilten Annahme eines im Arbeitnehmerschutzgedanken wurzelnden prinzipiellen Vorrangs der Änderungs- vor der Beendigungskündigung für unvereinbar gehalten wurde.24 Solle dem Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers Rechnung getragen werden, so sei es nicht plausibel, den Anspruch des Arbeitnehmers auf Weiterbeschäftigung auf einem anderen freien Arbeitsplatz unter Hinweis darauf zu negieren, dass dieser Arbeitsplatz für den Arbeitnehmer unzumutbar sei. Auch in seiner neueren Rechtsprechung betont das BAG, dass eine Weiterbeschäftigung zu geänderten Vertragsbedingungen beiden Parteien nicht nur objektiv möglich, sondern auch zumutbar sein müsste. Allerdings ist das BAG in sei23 BAG 27.9.1984 AP KSchG 1969 § 2 Nr. 8. 24 ANNUSS/BARTZ NJW 2006, 2153, 2155.

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nen Urteilen vom 21.4.2005 von seiner bisher objektiven Betrachtung der Zumutbarkeit von geringerwertigen Arbeitsbedingungen abgerückt und beurteilt diese Frage nunmehr – wie von den Kritikern der früheren Rechtsprechung gefordert – anhand eines subjektiven Maßstabs.25 Der Arbeitnehmer müsse selbst entscheiden, ob er Einbußen oder Nachteile akzeptiere, die mit einer neuen Stelle verbunden seien. Eine Änderungskündigung dürfe nur unterbleiben, wenn der Arbeitgeber bei vernünftiger Betrachtung nicht mit einer Annahme des neuen Vertragsangebots durch den Arbeitnehmer rechnen konnte und ein derartiges Angebot im Gegenteil eher beleidigenden Charakter gehabt hätte. Dies könne jedoch nur in Extremfällen angenommen werden. Ein solcher könnte vorliegen, wenn die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit lediglich eine offensichtlich völlig unterwertige Beschäftigung darstellen würde. Dies könne dann gegeben sein, wenn der betroffene Arbeitnehmer so weit in der Personalhierarchie zurückgestuft würde, dass viele seiner bisher Untergegebenen ihm nunmehr Weisungen erteilen könnten.26 Als Beispiel nennt das BAG insofern die Degradierung des bisherigen Personalchefs zum Pförtner. Anmerkung: Dass das BAG einerseits betont, dass es auf die subjektive Sichtweise der Arbeitnehmers ankommen müsse, es aber anderseits darauf abstellt, ob der Arbeitgeber bei vernünftiger Betrachtung nicht mit einer Annahme des neuen Vertragsangebots durch den Arbeitnehmer rechnen konnte, erscheint inkonsequent.27 Denn letztere Formulierung legt wiederum eine heteronome Beurteilung nahe, von der sich das BAG gerade abwenden wollte.

Nach diesen Grundsätzen konnte das Angebot einer Weiterbeschäftigung mittels Änderungskündigung vorliegend nicht schon deswegen unterbleiben, weil G davon ausging, dass B die verringerte Vergütung für unzumutbar hielt. Ein „Extremfall“ im Sinne der Rechtsprechung konnte von G nicht angenommen werden, da die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in Düsseldorf nicht „völlig unterwertig“ war. Insofern entsprach sie zum einen den Qualifikationen des B. Ihre Unterwertigkeit ergab sich zum anderen ausschließlich aus der Gehaltseinbuße in Höhe von 400 Euro. Diesbezüglich oblag es aber einzig dem B, darüber zu entscheiden, ob er die Gehaltseinbuße akzeptiert, die mit einer neuen Stelle verbunden war. Insofern könnte er freilich auch andere Gründe haben, wie die Bindung an den Arbeitgeber oder die Hoffnung auf einen Aufstieg im Arbeitsverhältnis, warum sich ein Arbeitnehmer mit schlechteren Arbeitsbedingungen arrangieren will. B betonte in diese Richtung weisend, dass er keinesfalls seinen Arbeitsplatz verlieren wolle. Auch aus der Höhe der Gehaltseinbuße ergibt sich nichts anderes.28 Vielmehr zeigte sich B mit einer Gehaltseinbuße in Höhe von monatlich 200 Euro bzw. 300 Euro einverstanden und betonte darüber hinaus, dass man „über alles reden“ könne. Aus dieser Verhandlungsbereitschaft konnte, wie bereits ausgeführt, geschlossen werden, dass eine 100 Euro höhere Gehaltseinbuße 25 BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1289, 1292; BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1294, 1296; vgl. auch BAG 21.9.2006 NZA 2007, 431, 434 f. 26 BAG 21.9.2006 NZA 2007, 431 ff. 27 ANNUSS/BARTZ NJW 2006, 2153, 2155. 28 Vgl. hierzu Beispiele in der Rechtsprechung: keine Unzumutbarkeit bei Absenkung des jährlichen Gehalts von etwa 139.000 Euro auf 68.900 Euro (BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1289) oder von mehr als 2.800 Euro monatlich auf ca. 1.550 Euro (BAG 21.4.2005 NZA 2005, 1294).

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Lösungsvorschlag Fall 19

zumindest einer Vorbehaltsannahme nach § 2 KSchG durch B nicht unüberbrückbar im Weg stand. Dementsprechend konnte die Erklärung einer Änderungskündigung von der M-GmbH nicht als „sinnlos“ unterlassen werden. Auch bei der Ermittlung der subjektiven Einschätzung der Zumutbarkeit einer Vertragsänderung zieht das BAG als Indiz einer „Extremsituation“ das Verhalten des betroffenen Arbeitnehmers nach Ausspruch der Beendigungskündigung und während des Kündigungsschutzprozesses heran,29 welches vorliegend ebenfalls gegen eine Entbehrlichkeit der Änderungskündigung spricht (siehe oben). Anmerkung: Denkbar ist auch eine Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung für den Arbeitgeber.30 Insofern galt schon nach bisheriger Rechtsprechung, dass Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Beförderung und Weiterbeschäftigung auf einem höherwertigen Arbeitsplatz haben.31

Da die M-GmbH entgegen diesen Maßgaben unter Missachtung des Vorrangs der Änderungskündigung eine Beendigungskündigung gegenüber B aussprach, war die Kündigung nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. b) Zwischenergebnis Die Kündigung des B ist daher nicht sozial gerechtfertigt i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG. V. Ergebnis Die Kündigung gegenüber B ist wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Kündigungsschutz aus § 1 KSchG rechtsunwirksam. Allerdings muss B die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung innerhalb von drei Wochen, gerechnet ab dem Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung, gerichtlich geltend machen (§ 4 S. 1 KSchG). Erhebt B nicht fristgerecht Klage, gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam.

29 BAG 21.9.2006 NZA 2007, 431, 435; BAG 3.4.2008 NZA 2008, 812, 813. 30 Zwar prüfte das BAG in seinen Entscheidungen vom 21.4.2005 nicht, ob eine Unzumutbarkeit für den Arbeitgeber die Unterbreitung einer Vertragsänderung entbehrlich machen kann. In diese Richtung weist jedoch die Entscheidung des BAG vom 21.9.2006 NZA 2007, 431, 435. 31 BAG 29.3.1990 NJW 1991, 587, 589.

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Fall 20 Falldarstellung

„Schichtwechsel“

Fall 20: „Schichtwechsel“ Falldarstellung K ist seit dem 29.1.2003 im Verpackungsbetrieb des P als Packerin im Einschichtbetrieb von 6.00 Uhr bis 14.45 Uhr beschäftigt. Sie hat eine vierjährige Tochter, die ihr Mann, der in einem anderen Unternehmen von 13.00 Uhr bis 21.00 Uhr beschäftigt ist, mittags in einen Ganztageskindergarten bringt, wo sie bis spätestens 18.00 Uhr abgeholt werden muss. Wegen eines von dem Arbeitgeber P erwarteten höheren Produktionsaufkommens beabsichtigt er, in seinem Betrieb mit Wirkung vom 1.7.2010 eine zweite Schicht einzuführen, die als Wechselschicht mit der Frühschicht durchgeführt werden soll. Nachdem ein Gespräch zwischen P und K ergebnislos verlaufen war, übergab P der K nach vorheriger Anhörung des Betriebsrats am 23.4.2010 folgendes Schreiben: „Sehr geehrte Frau K, auf Grund des ab Juli 2010 wegen der Stilllegung unseres Konkurrenzunternehmens Z zu erwartenden Auftragsmehreingangs hat sich die Unternehmensleitung entschlossen, das bisherige Einschichtsystem aufzugeben und eine zweite Schicht einzuführen, die als Spätschicht von 14.00 Uhr bis 22.45 Uhr neben die bisherige Arbeitszeit tritt, die als Frühschicht bestehen bleibt. Um die Belastungen, die sich durch die späte Arbeitszeit ergeben, auf alle Mitarbeiter gleichmäßig zu verteilen, werden wir eine Wechselschicht in der Weise einführen, dass die Arbeit abwechselnd von Woche zu Woche in Früh- und Spätschicht zu verrichten ist. Mit dieser Verfahrensweise wird überdies sichergestellt, dass alle Mitarbeiter weiterhin stets mit den ihnen bekannten Kollegen und Vorgesetzten zusammenarbeiten, was nach unserem Personalkonzept unerlässlich ist. Da Sie sich nicht zum Abschluss eines entsprechenden Änderungsvertrags entschließen konnten, kündigen wir hiermit Ihr Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 30.6.2010. Zugleich bieten wir Ihnen an, Sie ab 1.7.2010 in der beschriebenen Weise in Wechselschicht bei im Übrigen unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen. Mit freundlichen Grüßen ...“ K nimmt das Änderungsangebot gegenüber P unter dem Vorbehalt, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt ist, an und erhebt alsbald Klage vor dem zuständigen Arbeitsgericht. Sie trägt vor, P habe die Notwendigkeit eines Wechselschichtbetriebs nicht hinreichend dargetan. Es wäre ohne weiteres möglich gewesen, die neu einzustellenden Mitarbeiter ausschließlich in der Spätschicht zu beschäftigen und für die bisherige Stammbelegschaft alles beim Alten zu lassen. Im Übrigen könne P sein Führungskonzept auch dadurch verwirklichen, dass er bei grundsätzlich bestehender Wechselschicht einzelne Arbeitnehmer nur in der Früh- oder Spätschicht einsetze. Organisatorisch sei dies machbar, weil P – unstreitig – mindestens vier Mitarbeiterinnen ausschließlich in der Früh- bzw. Spätschicht einsetze. P macht dagegen geltend, es

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„Schichtwechsel“

Lösungsskizze Fall 20

sei ihm nicht möglich, Arbeitnehmer zu finden, die bereit wären, ausschließlich in der Spätschicht zu arbeiten. K hingegen verweist darauf, dass die neu eingestellte Arbeitnehmerin Y durchaus bereit wäre, ausschließlich in der Spätschicht beschäftigt zu werden. Im Zuge der Einführung der Spätschicht stellt P zum 1.7.2010 zusätzlich zu den vorhandenen 40 Mitarbeitern weitere 40 Mitarbeiter neu ein, darunter die 20-jährige, ledige, kinderlose S. Die Verträge der neu eingestellten Mitarbeiter enthalten die Klausel, dass aus betrieblichen Erfordernissen eine Änderung der Arbeitsschichten möglich ist. S wird zunächst als Packerin mit 40 Wochenstunden abwechselnd in der Früh- und in der Spätschicht eingesetzt. Mitte Juli 2011 verzeichnet P einen merklichen Auftragsrückgang. Zwar liegt die zu erwartende Produktion immer noch um einiges höher als im Frühjahr 2010, eine zweite Schicht erscheint P jedoch nicht mehr rentabel. Er entschließt sich, wieder zum Einschichtbetrieb zurückzukehren. Um die eingehenden Aufträge bewältigen zu können, müssten hier jedoch nicht, wie bisher in jeder Schicht 40 Arbeitnehmer, sondern 60 Arbeitnehmer beschäftigt sein. Es kommt P sehr gelegen, dass zu diesem Zeitpunkt zehn der langjährig bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer in den Ruhestand eintreten, doch reicht dies zum Abbau der überflüssigen Beschäftigungskapazitäten nicht aus. Da er aber auch die 40 neu gewonnenen Mitarbeiter nicht wieder in die Arbeitslosigkeit entlassen will, bietet er diesen nach Anhörung des Betriebsrats schriftlich über den 31.8.2011 hinaus eine Teilzeitbeschäftigung mit 75% der bisherigen Arbeitszeit an. S nimmt das Angebot gegenüber P nur unter dem Vorbehalt der sozialen Rechtfertigung der Änderung der Arbeitsbedingungen an und erhebt unverzüglich gegen die entsprechende Änderungskündigung Klage. Frage: Sind die Klagen von K und S begründet?

Ü

Rechtsfragen: –

Voraussetzungen einer Änderungskündigung



Voraussetzungen einer betriebsbedingten Kündigung

Lösungsskizze A. Begründetheit der Klage der K I. Wirksame Kündigungserklärung (§§ 104 ff., 623 BGB) II. Einhaltung der Klagefrist (§ 4 KSchG) III. Vorbehaltsfrist (§ 2 S. 2 KSchG) IV. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe V. Anhörung des Betriebsrats (§ 102 BetrVG) VI. Allgemeiner Kündigungsschutz aus §§ 2, 1 KSchG 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes (§§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG)

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Fall 20 Lösungsskizze

„Schichtwechsel“

2. Soziale Rechtfertigung der betriebsbedingten Änderungskündigung a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung Entschluss zur Produktionsausweitung durch Einführung einer Spätschicht Personalführungskonzept: Gleichbleibende personelle Zusammensetzung der Fertigungsgruppen bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit in ihrer bisherigen Ausgestaltung Zweischichtsystem führt zum Wegfall von Arbeitsplätzen für Arbeitnehmer, die nur in der Frühschicht tätig sind cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses (Ultima-Ratio-Prinzip) Einsatz der neu eingestellten Arbeitnehmer ausschließlich in der Frühschicht kein geeignetes milderes Mittel, da dies nicht dem Personalführungskonzept des P entspricht Einsatz der K ausschließlich in der Frühschicht und Einsatz der Y ausschließlich in der Spätschicht möglich; die tatsächliche Handhabe zeigt, dass das Personalführungskonzept des P auch dann verwirklicht werden kann, wenn einzelne Arbeitnehmer vom Wechselschichtbetrieb ausgenommen werden b) Zwischenergebnis Kündigung der K ist nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt VII. Ergebnis Klage ist begründet, denn Kündigung ist wegen Verstoßes gegen §§ 2, 1 KSchG unwirksam B. Begründetheit der Klage der S I. Wirksame Kündigungserklärung (§§ 104 ff., 623 BGB) II. Einhaltung der Klagefrist (§ 4 KSchG) III. Vorbehaltsfrist (§ 2 S. 2 KSchG) IV. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe V. Anhörung des Betriebsrats (§ 102 BetrVG) VI. Allgemeiner Kündigungsschutz aus §§ 2, 1 KSchG 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes (§§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG) 2. Soziale Rechtfertigung der betriebsbedingten Änderungskündigung a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung Entschluss zur Produktionseinschränkung durch Abschaffung der Spätschicht wegen Auftragsrückgangs

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„Schichtwechsel“

Lösungsvorschlag Fall 20

Weiterbeschäftigung eines Teils der Arbeitnehmer mit voller Stundenzahl; Weiterbeschäftigung der übrigen Arbeitnehmer als Teilzeitkräfte bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit in ihrer bisherigen Ausgestaltung Einschichtsystem führt zum Wegfall von Arbeitsplätzen für Arbeitnehmer, die in Wechselschicht tätig sind Wegfall von Vollzeitarbeitsplätzen cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses (Ultima-Ratio-Prinzip) Beendigungskündigung gegenüber wenigen Arbeitnehmern kein milderes Mittel als Änderungskündigung zur Arbeitszeitverkürzung gegenüber vielen Arbeitnehmern b) Verhältnismäßigkeit des Änderungsangebots Maßstab: Höhe der finanziellen Einbußen c) Fehlerfreie Sozialauswahl aa) Verpflichtung zum Ausspruch von Beendigungskündigungen? Keine Verpflichtung des Arbeitgebers, statt vieler Änderungskündigungen Beendigungskündigungen gegenüber wenigen sozial starken Arbeitnehmern auszusprechen bb) Überprüfung der Sozialauswahl Maßgebliches Kriterium: Unterhaltspflichten d) Zwischenergebnis Änderungskündigung sozial gerechtfertigt VII. Ergebnis Klage unbegründet, denn Kündigung ist sozial gerechtfertigt i.S.d. §§ 2, 1 KSchG

Lösungsvorschlag A. Begründetheit der Klage der K Die Klage der K ist begründet, wenn die angegriffene Kündigung nicht den zwingenden Rechtsvorschriften über die Wirksamkeit und ggf. die soziale Rechtfertigung einer Änderungskündigung entspricht. I. Wirksame Kündigungserklärung Die Wirksamkeit einer Kündigung setzt zunächst voraus, dass die Kündigungserklärung wirksam ist. Da es sich bei der Kündigung um eine einseitige, rechtsgestaltende Willenserklärung handelt, ist ihre Wirksamkeit anhand der allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104 ff. BGB) zu beurteilen. Zweifel an der Wirksamkeit der Willenserklärung bestehen im vorliegenden Fall nicht. Nach § 623 BGB bedarf die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zu ihrer

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Fall 20 Lösungsvorschlag

„Schichtwechsel“

Wirksamkeit der Schriftform (§§ 125, 126 BGB). § 623 BGB betrifft nur Kündigungen, die auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses angelegt sind. Die Änderungskündigung als Beendigungskündigung verbunden mit einem Angebot auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen wird mithin auch von § 623 BGB erfasst, da sie bei Nichtannahme des Angebots durch den Arbeitnehmer zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt (§ 2 KSchG). Bei der Änderungskündigung ist zu beachten, dass es sich um ein einheitliches Rechtsgeschäft handelt, das lediglich aus zwei Willenserklärungen, nämlich Kündigungserklärung und Änderungsangebot, zusammengesetzt ist.1 Daher ist neben der Kündigung auch das Änderungsangebot formbedürftig.2 Die Annahme des Arbeitnehmers (ggf. unter Vorbehalt nach § 2 KSchG) ist dagegen formfrei, da sie zum einen nicht mehr Bestandteil der Kündigung ist und zum anderen ein Änderungsvertrag nicht formbedürftig ist. In der vorbehaltlosen Weiterarbeit kann somit beispielsweise eine konkludente Annahme des Änderungsangebots liegen. In dem Schreiben des P vom 23.4.2010 wird K neben der Erklärung der Kündigung zum 30.6.2010 zugleich die Weiterbeschäftigung in Wechselschicht ab dem 1.7.2010 angeboten, so dass § 623 BGB gewahrt wurde. Der Inhalt des Schreibens des P war auch hinreichend bestimmt. Will ein Arbeitgeber eine Änderungskündigung aussprechen, so muss für den Arbeitnehmer zum einen der Wille des Arbeitgebers erkennbar sein, das Vertragsverhältnis mit den bislang geltenden Vertragsbedingungen mit Wirkung für die Zukunft zu beenden. Zum anderen muss mit der Kündigung ein Änderungsangebot verbunden sein, das den allgemeinen zivilrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit genügt, wobei die Bestimmbarkeit des Angebots ausreicht.3 Beide Voraussetzungen erfüllt die Kündigungserklärung des P vom 23.4.2010. Die Kündigung ist der K auch zugegangen i.S.d. § 130 BGB. II. Einhaltung der Klagefrist Gemäß § 4 S. 1 KSchG muss eine Kündigungsschutzklage binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhoben werden. Dies gilt nach § 4 S. 2 KSchG auch für eine Klage, mit der der Arbeitnehmer die Feststellung begehrt, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam ist. Nach Ablauf dieser Frist gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an wirksam und ein vom Arbeitnehmer nach § 2 KSchG erklärter Vorbehalt erlischt. Mangels anderweitiger Angaben im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass K ihre Klage innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG erhoben hat. III. Vorbehaltsfrist Die K müsste die Erklärung, dass sie die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu den geänderten Arbeitsbedingungen unter dem Vorbehalt annehme, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt ist (§ 1 Abs. 1 S. 1 – 3, Abs. 3 S. 1, 2 KSchG), ihrem Arbeitgeber P gegenüber innerhalb der Kündigungsfrist, spätestens jedoch innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündi-

1 BAG 7.6.1973 AP BGB § 626 Änderungskündigung Nr. 1. 2 BAG 28.10.2010 NZA-RR 2011, 155, 156. 3 BAG 16.9.2004 AP KSchG 1969 § 2 Nr. 78; BAG 10.9.2009 NZA 2010, 333, 335.

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Lösungsvorschlag Fall 20

gung abgegeben haben, § 2 S. 2 KSchG. Aus dem Sachverhalt ist erkennbar, dass die K den Vorbehalt vor Erhebung der Klage vor dem zuständigen Arbeitsgericht gegenüber P erklärt hat. Mangels anderweitiger Sachverhaltsangaben ist auch hierbei davon auszugehen, dass K die Frist des § 2 S. 2 KSchG eingehalten hat. Anmerkung: Die Drei-Wochen-Frist des § 2 S. 2 KSchG gilt als Mindestfrist nicht nur für die Erklärung des Vorbehalts, sondern muss vom Arbeitgeber auch als Mindestfrist für die Setzung einer Frist für die Erklärung der vorbehaltlosen Annahme beachtet werden. Unterschreitet der Arbeitgeber bei der Bestimmung einer Frist zur Annahme des Änderungsangebots diese Mindestfrist, führt dies jedoch nicht dazu, dass es überhaupt an einer Fristsetzung für eine vorbehaltlose Annahme des Änderungsangebots fehlt und die Frist nach § 147 BGB zu bestimmen wäre. An die Stelle der zu kurzen Frist tritt vielmehr die Frist des § 2 S. 2 KSchG.4 Wird vom Arbeitgeber hingegen gar keine Frist für die vorbehaltlose Annahme gesetzt, findet die Drei-Wochen-Frist umgekehrt aber keine analoge Anwendung als Höchstfrist.5 Es bleiben vielmehr die allgemeinen Regeln der Annahme, insbesondere § 147 BGB, anwendbar.6 Das einem Abwesenden gemachte Änderungsangebot kann dann beispielsweise gemäß § 147 Abs. 2 BGB bis zu dem Zeitpunkt angenommen werden, in dem der Arbeitgeber den Eingang der Antwort unter regelmäßigen Umständen erwarten darf.

IV. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe Es sind keine allgemeinen Unwirksamkeitsgründe oder Kündigungsverbote aus dem Sachverhalt ersichtlich. V. Anhörung des Betriebsrats Gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG ist der Arbeitgeber vor Ausspruch jeder Kündigung verpflichtet, dem Betriebsrat die Gründe für die beabsichtigte Kündigung mitzuteilen und ihm Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Das Anhörungserfordernis gilt auch für eine Änderungskündigung, da es sich dabei um eine „echte“ Kündigung handelt. P hat den Betriebsrat im vorliegenden Fall ordnungsgemäß angehört, so dass die Kündigung der K nicht wegen Verstoßes gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam ist. VI. Allgemeiner Kündigungsschutz aus §§ 2, 1 KSchG Die Änderungskündigung gegenüber K könnte gemäß §§ 2, 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes Das Kündigungsschutzgesetz ist gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 2 KSchG anwendbar, wenn der Betroffene als Arbeitnehmer in einem Betrieb beschäftigt ist, dem in der Regel mehr als fünf Arbeitnehmer angehören, sein Arbeitsverhältnis bereits mindestens sechs Monate besteht und es vor dem 31. Dezember 2003 begonnen hat (vgl. § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG). K ist in die Arbeitsorganisation des P

4 BAG 18.5.2006 AP KSchG 1969 § 2 Nr. 83; BAG 1.2.2007 AP KSchG 1969 § 2 Nr. 132. 5 BAG 6.2.2003 NZA 2003, 659. 6 ErfK/OETKER § 2 KSchG Rn. 30.

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Fall 20 Lösungsvorschlag

„Schichtwechsel“

eingebunden, da sie hinsichtlich Arbeitsort, -zeit und -inhalt an die Weisungen des P gebunden ist. Da K mithin zur Leistung von entgeltlicher Arbeit im Dienste des P verpflichtet ist, ist sie Arbeitnehmerin. Weil P 40 Arbeitnehmer beschäftigt, weist der Beschäftigungsbetrieb die nötige Betriebsgröße auf. K ist bereits seit dem 29.1.2003 und damit auch seit mehr als sechs Monaten für P tätig. Daher ist das Kündigungsschutzgesetz im vorliegenden Fall anwendbar, so dass sich K auf eine eventuelle fehlende soziale Rechtfertigung der Kündigung gemäß §§ 2, 1 KSchG berufen kann. 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung Hat ein Arbeitnehmer das in der Änderungskündigung enthaltene Angebot unter dem Vorbehalt des § 2 S. 1 KSchG angenommen, ist gerichtlich zu überprüfen, ob die Änderungskündigung gemäß §§ 2, 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG sozial gerechtfertigt ist. Das setzt voraus, dass die Vertragsänderung durch Gründe, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb zu den bisherigen Vertragsbedingungen entgegenstehen, bedingt ist und die vorgeschlagene Änderung der Vertragsbedingungen dem Arbeitnehmer zumutbar ist. Im vorliegenden Fall begründet P die Kündigung mit der Einführung einer zweiten Schicht, die als Wechselschicht zu der bereits bestehenden Frühschicht abgeleistet werden soll. Da es sich hierbei um eine Änderung der Betriebsorganisation handelt, ist das Institut der betriebsbedingten Änderungskündigung einschlägig. Die soziale Rechtfertigung einer betriebsbedingten Änderungskündigung setzt gemäß §§ 2, 1 Abs. 2 und 3 KSchG voraus, dass der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung trifft, durch welche die Beschäftigungsmöglichkeit eines Arbeitnehmers zu den bisherigen Vertragsbedingungen dauerhaft wegfällt (betriebliches Erfordernis), der Arbeitnehmer weder ohne Vertragsänderung auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann noch sonstige mildere Mittel statt der Kündigung möglich sind (Dringlichkeit), die vorgeschlagene Vertragsänderung dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht und der Arbeitgeber eine fehlerfreie Sozialauswahl durchführt. a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung Unter einer unternehmerischen Entscheidung ist die Bestimmung der Unternehmenspolitik zu verstehen, die der Geschäftsführung zugrunde liegt. Sie ist regelmäßig darauf gerichtet, einen oder mehrere innerbetriebliche Aufgabenbereiche in ihrer Qualität oder Quantität zu verändern. Die unternehmerische Entscheidung des P liegt zunächst in dem Entschluss, die Produktion auszuweiten, da P aufgrund der Stilllegung eines Konkurrenzunternehmens mit einem Auftragsmehreingang rechnet. Zur Ausweitung der Produktion hat sich P entschlossen, zusätzlich zu der bereits bestehenden Frühschicht eine Spätschicht einzuführen. Da P mithin Veränderungen in der innerbetrieblichen Organisation vornimmt, liegt eine gestaltende Unternehmerentscheidung vor. Dafür, dass die beiden Schichten im Wechselschichtbetrieb durchgeführt werden sollen, sind nach Darstellung des P zwei Überlegungen maßgeblich: Zum einen soll die personelle Zusammensetzung der Fertigungsgruppen gewahrt bleiben, damit die Arbeitnehmer

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„Schichtwechsel“

Lösungsvorschlag Fall 20

jeweils mit den ihnen vertrauten Arbeitskollegen zusammenarbeiten und stets denselben Vorgesetzten als Ansprechpartner haben. Zudem soll die Belastung, die insbesondere mit der Arbeit in der Spätschicht verbunden ist, gleichmäßig auf die Beschäftigten verteilt werden. Dieses Personalführungskonzept ist Bestandteil der unternehmerischen Entscheidung des P. Angesichts der Berufs- und Eigentumsfreiheit des Arbeitgebers, die durch Art. 12, 14 GG geschützt ist, unterliegen unternehmerische Entscheidungen des Arbeitgebers nur einer begrenzten gerichtlichen Kontrolle. So ist im Hinblick auf eine gestaltende Unternehmerentscheidung gerichtlich nachprüfbar, ob die vom Arbeitgeber als Kündigungsgrund angeführte Unternehmerentscheidung tatsächlich vorliegt und die angegriffene Kündigung erforderlich macht. Vom Vorliegen einer unternehmerischen Entscheidung ist dann auszugehen, wenn die entsprechenden Pläne des Arbeitgebers feststehen und hinsichtlich des Zeitpunkts und der Art ihrer Durchführung bereits konkrete Formen angenommen haben. In Bezug auf ihren Inhalt ist die Arbeitgeberentscheidung nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung oder ihrer betriebswirtschaftliche Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen, sondern nur darauf, ob sie offenbar unvernünftig oder willkürlich ist. Der Entschluss des P, die Produktion auszuweiten und zu diesem Zweck eine zweite Schicht einzuführen, ist definitiv und für seine Umsetzung besteht, wie sich aus dem 30.6.2010 als Kündigungstermin für K ergibt, ein konkreter Zeitplan. Hinweise darauf, dass dieser Entschluss offenbar unsachlich oder willkürlich ist, sind nicht ersichtlich. Vielmehr erscheint die Erwartung des P, die Stilllegung des Konkurrenzunternehmens werde für ihn zu einem Auftragszuwachs führen, ebenso nachvollziehbar wie die Absicht, dem erwarteten Produktionszuwachs durch eine umfangreichere zeitliche Auslastung der vorhandenen Produktionsmittel zu begegnen. Auch im Hinblick auf das Personalführungskonzept, das P zur Umsetzung der Produktionserweiterung aufgestellt hat, hat P tatsächlich eine unternehmerische Entscheidung getroffen. So ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung der Betrieb bereits auf Wechselschicht umgestellt worden. Allerdings sind dabei nicht, wie von P ursprünglich angestrebt, alle Arbeitnehmer nach wie vor in festen Fertigungsgruppen mit einem feststehenden Ansprechpartner tätig, sondern einzelne Mitarbeiter sind von dem Wechselschichtsystem ausgenommen und werden ausschließlich in der Früh- bzw. Spätschicht eingesetzt. Damit hat die von P getroffene Unternehmerentscheidung nicht den von ihm behaupteten Inhalt, alle Arbeitnehmer in das Wechselschichtsystem einzubeziehen. Es liegt lediglich eine unternehmerische Entscheidung des Inhalts vor, die große Mehrzahl der Arbeitnehmer im Wechselschichtbetrieb einzusetzen. Diese Entscheidung des P ist weder unsachlich noch willkürlich, da sie dem Zweck dient, Produktivität und Effizienz der Arbeitsleistung zu fördern und die mit der Spätschicht verbundene Belastung gleichmäßig auf die Beschäftigten zu verteilten. Mithin liegt der Kündigung der K eine den Anforderungen der §§ 2, 1 Abs. 2 KSchG entsprechende unternehmerische Entscheidung zugrunde. bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit Weitere Voraussetzung für die soziale Rechtfertigung der betriebsbedingten Änderungskündigung ist, dass die Unternehmerentscheidung kausal zum dauerhaf-

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„Schichtwechsel“

ten Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten zu den gegenwärtigen Vertragsbedingungen führt. Diese Voraussetzung ist nicht nur dann erfüllt, wenn die veränderten betrieblichen Verhältnisse den Wegfall des konkreten Arbeitsplatzes des gekündigten Arbeitnehmers in seiner bisherigen Ausgestaltung bedingen. Es genügt vielmehr, dass ein rechnerischer Überhang an Arbeitskräften entstanden ist. Entscheidend ist also die Verringerung des Personalbedarfs, die sich prozentual auf eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern niederschlägt, zu der auch der gekündigte Arbeitnehmer gehört. Die unternehmerische Entscheidung muss mithin zu der Konsequenz führen, dass der Arbeitgeber nicht mehr alle zu dieser Gruppe gehörenden Arbeitnehmer vertragsgemäß beschäftigen kann. Die unternehmerische Entscheidung des P, zu einem Zwei-Schicht-Wechselbetrieb mit im Wesentlichen fester Arbeitsgruppenzusammensetzung überzugehen, hat zur Folge, dass sich die Beschäftigungsmöglichkeit für Arbeitnehmer, die allein in der Frühschicht tätig sind, verringert. Damit bedingt die Unternehmerentscheidung des P einen rechnerischen Überhang an Arbeitskräften, die, wie auch K, aufgrund ihres Arbeitsvertrages nur zur Arbeit in der Frühschicht herangezogen werden können. cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses Ein „dringendes“ betriebliches „Erfordernis“ liegt nur vor, wenn nach dem Zweck der betriebsbedingten Kündigung dem Kündigungsinteresse nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Insoweit ist insbesondere zu prüfen, ob das unternehmerische Konzept nicht auch durch andere Maßnahmen auf technischem, organisatorischem oder wirtschaftlichem Gebiet ebenso gut verwirklicht werden könnte wie durch den Ausspruch der Änderungskündigung. Anmerkung: Das Ultima-Ratio-Prinzip steht einer betriebsbedingten Änderungskündigung auch dann entgegen, wenn der Arbeitgeber die angestrebte Änderung der Arbeitsbedingungen bereits durch Ausübung seines Direktionsrechts hätte herbeiführen können. Sofern eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu vertraglich unveränderten Arbeitsbedingungen besteht, ist die Änderung der Arbeitsbedingungen durch Direktionsrecht nämlich milderes Mittel gegenüber dem Ausspruch einer Kündigung. Darüber hinaus spielt die Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz gemäß § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG im Rahmen der Prüfung der Dringlichkeit einer betriebsbedingten Änderungskündigung keine Rolle. Denn die Frage, ob eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu geänderten, den Arbeitnehmer weniger belastenden Arbeitsbedingungen zur Verfügung steht, ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit des Änderungsangebots und ebendort zu untersuchen. Vgl. für eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Änderungsangebots die Klage der S.

K führt hinsichtlich des unternehmerischen Konzepts aus, P habe insgesamt die Notwendigkeit eines Wechselschichtbetriebes nicht hinreichend dargetan, denn es wäre ohne weiteres möglich gewesen, die neu einzustellenden Mitarbeiter ausschließlich in der Spätschicht zu beschäftigen und für die bisherige Stammbelegschaft alles beim Alten zu lassen. Dieser Einwand der K greift jedoch nicht durch. So wäre mit einem Zweischichtbetrieb ohne wöchentlichen Wechsel zwischen Früh- und Spätschicht zwar das unternehmerische Ziel des P, die Arbeitnehmer möglichst in festen Fertigungsgruppen zu beschäftigen, erreicht worden. Die weiterhin von P angestrebte gleichmäßige Verteilung der Belastungen, die

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Lösungsvorschlag Fall 20

mit der Spätschichtarbeit verbunden sind, wäre damit jedoch nicht realisiert worden. Ähnlich wie die Entscheidung, ob ein Arbeitgeber das in seinem Betrieb anfallende Arbeitsvolumen mit Voll- oder mit Teilzeitkräften bewältigen will, handelt es sich bei der Einführung von Wechselschichtbetrieb oder nicht wechselndem Schichtbetrieb um eine legitime Unternehmerentscheidung. Diese kann nicht unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit einer Inhaltskontrolle unterworfen werden, die angesichts der Art. 12, 14 GG ausgeschlossen ist. Bedenken gegen die Erforderlichkeit der Änderungskündigung gegenüber K bestehen allerdings insoweit, als auch vier andere Arbeitnehmer ausschließlich in der Früh- bzw. Spätschicht eingesetzt werden und P für diese eine Ausnahme von der grundsätzlich gleichbleibenden Zusammensetzung der Fertigungsgruppen zulässt. An diesem Verhalten muss sich P auch im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Änderungskündigung messen lassen, die er gegenüber K ausgesprochen hat. Durch sein eigenes Verhalten hat P zweifelsfrei zu erkennen gegeben, dass seine unternehmerischen Zielvorstellungen auch dann verwirklicht werden können, wenn nicht alle Arbeitnehmer in den Wechselschichtbetrieb einbezogen werden. Zwar träte eine Gefährdung des unternehmerischen Konzepts ein, wenn ein wesentlicher Teil der Arbeitnehmer aus dem Wechselschichtbetrieb ausgenommen würde. Es sind jedoch keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass eine Ausnahme von sechs Arbeitnehmern anders zu beurteilen wäre als eine Ausnahme von vier Arbeitnehmern, zumal es sich bei dem Betrieb des P offensichtlich um einen größeren Betrieb handelt. Außerdem ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass der Wunsch der K, in der Frühschicht zu verbleiben, nicht auf persönlicher Bequemlichkeit beruht, sondern wegen des Kindergartenbesuchs ihres Kindes und der Berufstätigkeit ihres Mannes für K die einzige Möglichkeit zur Fortsetzung ihrer Tätigkeit darstellt. Da die Arbeitnehmerin Y bereit wäre, ausschließlich in der Spätschicht zu arbeiten, könnte P die K in der Frühschicht belassen, ohne dass er dadurch einseitig in die vertraglichen Rechte anderer Arbeitnehmer eingreifen müsste, was regelmäßig unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit nicht verlangt werden kann. Da eine Weiterbeschäftigung der K in der Frühschicht mithin möglich wäre, ohne dass das unternehmerische Konzept des P gefährdet würde, war die gegenüber K ausgesprochene Änderungskündigung nicht erforderlich. b) Zwischenergebnis Die von P gegenüber K ausgesprochene Änderungskündigung ist wegen Verstoßes gegen das Ultima-Ratio-Prinzip sozial ungerechtfertigt i.S.d. §§ 2, 1 Abs. 2 KSchG. VII. Ergebnis Die Kündigung gegenüber K ist wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Kündigungsschutz aus §§ 2, 1 KSchG sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam. Die Klage der K ist daher begründet.

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B. Begründetheit der Klage der S Die Klage der S ist begründet, wenn die angegriffene Kündigung nicht den zwingenden Rechtsvorschriften über die Wirksamkeit und ggf. die soziale Rechtfertigung einer Änderungskündigung entspricht. I. Wirksame Kündigungserklärung An der Wirksamkeit der Kündigungserklärung des P gegenüber S bestehen vor dem Hintergrund der §§ 104 ff., 623 BGB keine Zweifel. Insbesondere enthält sie ein Angebot zur Änderung der Arbeitsbedingungen, das hinreichend bestimmt ist i.S.d. § 145 BGB. II. Einhaltung der Klagefrist Gemäß § 4 S. 1 KSchG muss eine Kündigungsschutzklage binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung erhoben werden. Dies gilt nach § 4 S. 2 KSchG auch für eine Klage, mit der der Arbeitnehmer die Feststellung begehrt, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam ist. Nach Ablauf dieser Frist gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an wirksam und ein vom Arbeitnehmer nach § 2 KSchG erklärter Vorbehalt erlischt. S hat unverzüglich, und damit wohl innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG, Klage erhoben. III. Vorbehaltsfrist S müsste die Erklärung, dass sie die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu den geänderten Arbeitsbedingungen unter dem Vorbehalt annehme, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt ist (§ 1 Abs. 1 S. 1 - 3, Abs. 3 S. 1, 2 KSchG), ihrem Arbeitgeber P gegenüber innerhalb der Kündigungsfrist, spätestens jedoch innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung abgegeben haben, § 2 S. 2 KSchG. Dies ist hier der Fall. IV. Allgemeine Unwirksamkeitsgründe Es sind keine allgemeinen Unwirksamkeitsgründe oder Kündigungsverbote aus dem Sachverhalt ersichtlich. V. Anhörung des Betriebsrats Da P den Betriebsrat vor Ausspruch der Änderungskündigung angehört hat, ist die Kündigung der S nicht wegen Verstoßes gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam. VI. Allgemeiner Kündigungsschutz aus §§ 2, 1 KSchG Die Änderungskündigung gegenüber S könnte gemäß §§ 2, 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG unwirksam sein, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. 1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes S ist, ebenso wie K, Arbeitnehmerin. Da auch die übrigen Voraussetzungen der §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG vorliegen, ist das Kündigungsschutzgesetz im vor-

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Lösungsvorschlag Fall 20

liegenden Fall anwendbar, so dass sich S auf eine eventuell fehlende soziale Rechtfertigung der Kündigung gemäß §§ 2, 1 KSchG berufen kann. 2. Soziale Rechtfertigung der Kündigung Hat ein Arbeitnehmer das in der Änderungskündigung enthaltenen Angebot unter dem Vorbehalt des § 2 S. 1 KSchG angenommen, ist gerichtlich zu überprüfen, ob die Änderungskündigung gemäß §§ 2, 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG sozial gerechtfertigt ist. Ebenso wie bei einer Änderungskündigung wegen Einführung des Wechselschichtbetriebes handelt es sich auch bei einer Änderungskündigung wegen Abschaffung des Wechselschichtbetriebes um eine betriebsbedingte Änderungskündigung. Die soziale Rechtfertigung einer betriebsbedingten Änderungskündigung setzt gemäß §§ 2, 1 Abs. 2 und 3 KSchG voraus, dass der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung trifft, durch die die Beschäftigungsmöglichkeit eines Arbeitnehmers zu den bisherigen Vertragsbedingungen dauerhaft wegfällt (betriebliches Erfordernis), der Arbeitnehmer weder ohne Vertragsänderung auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann noch sonstige mildere Mittel statt der Kündigung möglich sind (Dringlichkeit), die vorgeschlagene Vertragsänderung dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht und der Arbeitgeber eine fehlerfreie Sozialauswahl durchführt. a) Dringendes betriebliches Erfordernis i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG aa) Unternehmerische Entscheidung Die unternehmerische Entscheidung des P liegt in dem Entschluss, die Arbeitskapazität in seinem Betrieb zu reduzieren, indem er die zweite Schicht abschafft und wieder zu einem Einschichtbetrieb zurückkehrt, in der verbleibenden Frühschicht aber mehr Arbeitnehmer einsetzt als bisher in den einzelnen Schichten beschäftigt waren (60 statt bisher 40 Arbeitnehmer). Grund für diese Entscheidung ist der Auftragsrückgang, also ein außerbetrieblicher Umstand. Diesen nimmt P zum Anlass, um innerbetriebliche Veränderungen durchzuführen. Daher liegt keine selbstbindende, sondern eine gestaltende Unternehmerentscheidung vor. Bestandteil dieser Entscheidung ist auch der Entschluss des P, die langjährig bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer weiterhin mit der vollen Stundenzahl zu beschäftigen und alle 40 im Jahre 2010 neu eingestellten Mitarbeiter lediglich als Teilzeitkräfte weiterzubeschäftigen. Daher spricht P gegenüber allen im vergangenen Jahr eingestellten Arbeitnehmern eine Änderungskündigung zur Reduzierung des Beschäftigungsumfangs aus, statt den Personalabbau mit Hilfe einer geringeren Zahl an Beendigungskündigungen durchzuführen. Zwar ist der Ausspruch einer Änderungskündigung selbst ebenso wenig eine unternehmerische Entscheidung wie der Ausspruch einer Beendigungskündigung. Das der Änderungskündigung der S zugrundeliegende Personalkonzept, das eine bestimmte Verteilung anfallenden Arbeitsvolumens auf Voll- oder Teilzeitkräfte vorsieht, fällt jedoch in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers. Da der Arbeitgeber frei entscheiden kann, inwieweit er die in seinem Betrieb anfallenden Arbeiten durch Vollzeitbeschäftigte oder durch Teilzeitbeschäftigte erledigen lassen will, muss er auch bei einem notwendigen Personalabbau die Wahl

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Fall 20 Lösungsvorschlag

„Schichtwechsel“

haben, ob er gegenüber einigen Arbeitnehmern eine Beendigungskündigung ausspricht oder ob er gegenüber einer größeren Zahl von Arbeitnehmern zum milderen Mittel der Änderungskündigung greift. Das unternehmerische Konzept des P ist lediglich daraufhin zu überprüfen, ob die behauptete Entscheidung tatsächlich getroffen wurde und weder offenbar unsachlich noch willkürlich ist. Dieser Prüfung hält die kündigungsbegründende Entscheidung des P stand. bb) Kausaler, dauerhafter Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit Weitere Voraussetzung für die soziale Rechtfertigung der betriebsbedingten Änderungskündigung ist, dass die Unternehmerentscheidung kausal zum dauerhaften Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten zu den gegenwärtigen Vertragsbedingungen führt. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die Zahl der benötigten Arbeitnehmer abnimmt und sich diese Verringerung des Personalbedarfs prozentual auf eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern niederschlägt, zu der auch der gekündigte Arbeitnehmer gehört. Die unternehmerische Entscheidung muss mithin zu der Konsequenz führen, dass der Arbeitgeber nicht mehr alle zu dieser Gruppe gehörenden Arbeitnehmer vertragsgemäß beschäftigen kann. Die unternehmerische Entscheidung des P, zukünftig nur noch eine geringere Anzahl von Arbeitskräften im Einschichtbetrieb zu beschäftigen, wirkt sich auf die Beschäftigungsmöglichkeit der Arbeitnehmer in zweierlei Hinsicht aus: Zunächst entfällt durch die Abschaffung der Wechselschicht für alle Arbeitnehmer, die, wie S, abwechselnd in der Früh- und in der Spätschicht tätig waren, die Möglichkeit, zukünftig im Hinblick auf die Lage der Arbeitszeit zu den bisherigen Arbeitsbedingungen weiterbeschäftigt zu werden. Allerdings enthalten die Arbeitsverträge zwischen P und den 2010 neu eingestellten Arbeitnehmern die Klausel, dass aus betrieblichen Erfordernissen eine Änderung der Arbeitsschichten möglich ist. Diese Arbeitnehmer können daher kraft Direktionsrecht in die Frühschicht versetzt werden. Auch nach Abschaffung der Wechselschicht besteht für sie daher noch die Möglichkeit, ohne Änderung des Arbeitsvertrages weiterbeschäftigt zu werden. Die unternehmerische Entscheidung des P erschöpft sich jedoch nicht in einer Änderung der Lage der Arbeitszeit. Würden die 80 Arbeitnehmer, die bisher im Wechselschichtbetrieb tätig waren, fortan in unverändertem Umfang in der Frühschicht beschäftigt, wären hier mehr Arbeitnehmer beschäftigt, als es nach Einschätzung des P zur Bewältigung des Arbeitsaufkommens erforderlich ist. Auch wenn in der Frühschicht zukünftig mehr Arbeitnehmer benötigt werden als bisher, nämlich 60 statt 40 Arbeitnehmer, und zehn Arbeitnehmer in den Ruhestand eintreten, kann dadurch der rechnerische Überhang an Arbeitskräften nicht aufgefangen werden. Vielmehr besteht auch dann noch ein rechnerischer Arbeitnehmerüberhang im Umfang von zehn Vollzeitstellen. Um das Beschäftigungsvolumen auf das erforderliche Maß zu reduzieren, sieht die unternehmerische Entscheidung des P vor, die 40 Arbeitnehmer, die im Jahre 2010 eingestellt worden sind, zukünftig nur noch als Teilzeitkräfte mit 75% der bisherigen Arbeitszeit zu beschäftigen. Für diese Arbeitnehmer entfällt daher die Möglichkeit zur vertragsgemäßen Weiterbeschäftigung nicht nur im Hinblick auf die Lage der Arbeitszeit, sondern auch auf den Umfang der Arbeitszeit.

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„Schichtwechsel“

Lösungsvorschlag Fall 20

cc) Dringlichkeit des betrieblichen Erfordernisses Ein „dringendes“ betriebliches „Erfordernis“ liegt nur vor, wenn nach dem Zweck der betriebsbedingten Kündigung dem Kündigungsinteresse nicht durch andere mildere Maßnahmen Rechnung getragen werden kann. Problematisch ist die Erforderlichkeit der Änderungskündigung, die P gegenüber S ausspricht, allein in Bezug auf die Verkürzung der Arbeitszeit. Eine Reduktion der Arbeitszeit, also der Hauptleistungspflicht, durch Direktionsrecht ist regelmäßig ausgeschlossen, zumal hiermit im vorliegenden Fall eine Verringerung der Vergütung verbunden ist. Insofern ist der Ausspruch einer Änderungskündigung prinzipiell notwendig, wenn der Arbeitnehmer in Zukunft in einem geringeren Umfang beschäftigt werden soll. Unter dem Gesichtspunkt milderer Mittel wäre allerdings der mögliche Einwand der S zu erwägen, das Mittel der Beendigungskündigung sei ein milderes Mittel, weil von der Beendigungskündigung weniger Arbeitnehmer betroffen würden, von der Änderungskündigung zur Arbeitszeitverkürzung jedoch eine größere Anzahl von Mitarbeitern. Eine derartige Auffassung verkennt, dass ein Arbeitnehmer gegen seine Kündigung niemals einwenden kann, dass der Arbeitgeber schließlich einem anderen Mitarbeiter kündigen könne. Das Kündigungsschutzgesetz stellt für die Beurteilung der Kündigung auf die zweiseitige Rechtsbeziehung ab, so dass nur die spezifischen, aus Sinn und Zweck des Vertrages und des Gesetzes herleitbaren Interessen der Vertragsparteien für die Frage nach der Rechtfertigung der Kündigung eine Rolle spielen. Aus dieser strikten arbeitsvertragsbezogenen Konzeption des Kündigungsschutzes ergibt sich, dass sich der Katalog milderer Maßnahmen regelmäßig auf die Rechtsbeziehung der streitenden Vertragsparteien beschränken muss. Überdies ist zu berücksichtigen, dass die Änderungskündigung ihrerseits ein milderes Mittel gegenüber der Beendigungskündigung darstellt. Wenn also der Arbeitgeber P sich entschließt, das überflüssige Beschäftigungsvolumen durch Änderungskündigungen abzubauen, verwirklicht er damit insgesamt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Eine andere Betrachtung, die eine geringere Anzahl von Beendigungskündigungen als milderes Mittel betrachtet als eine größere Anzahl von Änderungskündigungen, wäre keine Verwirklichung des Ultima-Ratio-Prinzips, sondern dessen Verkehrung. Daher ist die Erforderlichkeit der Änderungskündigungen im vorliegenden Fall zu bejahen, da die unternehmerische Entscheidung des P die Änderungskündigung unabwendbar macht und das unternehmerische Konzept nicht mit anderen Maßnahmen als durch eine Reduzierung der Arbeitszeit realisiert werden kann. b) Verhältnismäßigkeit des Änderungsangebots Nach bislang herrschender Rechtsprechung reicht zur Bejahung einer zulässigen betriebsbedingten Änderungskündigung das Vorliegen eines dringenden betrieblichen Erfordernisses nicht aus. Vielmehr ist in einem weiteren Prüfungsschritt zu untersuchen, ob die vorgeschlagenen Änderungen vom Arbeitnehmer billigerweise hingenommen werden müssen. Damit ist allerdings keine bloße „Billigkeitskontrolle“ gemeint. Vielmehr ist anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsat-

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Fall 20 Lösungsvorschlag

„Schichtwechsel“

zes zu prüfen, ob die vorgeschlagene Vertragsänderung dem Arbeitnehmer zumutbar ist.7 Gegenstand der Prüfung ist jedoch – anders als bei der Erforderlichkeitsprüfung im Rahmen des Kündigungsgrundes – nicht die prinzipielle Rechtfertigung einer Vertragsänderung, sondern die Verhältnismäßigkeit gerade der vom Arbeitgeber angebotenen, neuen Vertragsbedingungen. Das Änderungsangebot muss in seiner konkreten Ausgestaltung zur Erreichung des vom Arbeitgeber verfolgten Ziels geeignet, erforderlich und angemessen sein. Für die Bewertung der Angemessenheit kann im vorliegenden Fall nur die Höhe der finanziellen Einbußen entscheidend sein, die S aufgrund der Herabsetzung der Arbeitszeit erleidet, denn inhaltlich bleibt ihre Tätigkeit unverändert. Für die Problematik, ob die Reduktion der Arbeitszeit und die damit verbundene Reduktion des Entgelts aus finanziellen Gründen zumutbar ist, gibt es in der Rechtsprechung und in der Literatur keine festen Richtwerte. Als geeigneter Denkansatz könnte zu berücksichtigen sein, dass der Arbeitnehmer durch die Herabsetzung der Arbeitszeit nicht schlechter gestellt wird, als er im Falle der Beendigungskündigung und der damit eintretenden, zumindest vorübergehenden Arbeitslosigkeit stünde. Vor diesem Hintergrund ist die der S angebotene Arbeitszeitverkürzung zumutbar, da auch der auf 75% reduzierte Arbeitslohn noch oberhalb des gegenwärtigen Arbeitslosengeldes (§ 149 SGB III) liegt. Für die Zumutbarkeit des Änderungsangebots spricht außerdem, dass S bei einer Weiterbeschäftigung mit reduzierter Stundenzahl von einer vollen sozialrechtlichen Absicherung profitieren würde, die beim Bezug von Arbeitslosengeld nur eingeschränkt bestünde. Überdies kann die Bedeutung des Arbeitsverhältnisses nicht ausschließlich in der Sicherung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage gesehen werden, denn bekanntlich ist die Teilnahme am Berufsleben sowohl für die persönliche als auch für die gesellschaftliche Anerkennung des Betroffenen von nicht zu unterschätzendem Wert. Daher entspricht die von P vorgeschlagene Vertragsänderung dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. c) Fehlerfreie Sozialauswahl Ebenso wie eine Beendigungskündigung ist auch eine Änderungskündigung nur dann sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber eine den Anforderungen des § 1 Abs. 3 KSchG entsprechende Sozialauswahl durchgeführt hat. Dies ergibt sich zwingend aus der Verweisung in § 2 S. 1 KSchG auf § 1 Abs. 3 S. 1 u. 2 KSchG. aa) Verpflichtung zum Ausspruch von Beendigungskündigungen? Zu erwägen ist, ob § 1 Abs. 3 KSchG den Arbeitgeber P möglicherweise dazu verpflichtet, statt Änderungskündigungen gegenüber 40 Arbeitnehmern Beendigungskündigungen gegenüber zehn Arbeitnehmern auszusprechen. Für eine solche Verpflichtung könnte folgender Gedankengang sprechen: Spräche ein Arbeitgeber zum Personalabbau eine geringere Anzahl von Beendigungskündigungen aus, wären davon nur die sozial stärkeren Arbeitnehmer betroffen, während die sozial schwächeren Arbeitnehmer ihre volle Arbeitszeit und ihren vollen Verdienst behielten. Spricht der Arbeitgeber hingegen gegenüber allen

7 Vgl. ErfK/OETKER § 2 KSchG Rn. 42 m. zahlr. w. N.

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„Schichtwechsel“

Lösungsvorschlag Fall 20

Arbeitnehmern eine Änderungskündigung aus, stehen die sozial stärkeren Arbeitnehmer besser und die sozial schwachen Arbeitnehmer dadurch schlechter als im Falle von Beendigungskündigungen. Eine derartige Interpretation des § 1 Abs. 3 KSchG würde jedoch in unzulässiger Weise die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers unterlaufen. Auch würde eine solche Verpflichtung des Arbeitgebers vom Zweck des § 1 Abs. 3 KSchG, welcher vor allem der personellen Konkretisierung bei Vorliegen eines betriebsbedingten Kündigungsgrundes liegt, nicht gedeckt. Zudem handelt es sich bei § 1 Abs. 3 KSchG um eine spezialgesetzliche Konkretisierung des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Letzterer kann jedoch nur einen Anspruch auf Besserstellung dessen begründen, der von einer Begünstigung ausgeschlossen worden ist, nicht hingegen unmittelbare Eingriffe in Rechtspositionen Dritter rechtfertigen. Mithin verpflichtet § 1 Abs. 3 KSchG den Arbeitgeber nicht zum Ausspruch einzelner Beendigungskündigungen statt zahlreicher Änderungskündigungen. 8 bb) Überprüfung der Sozialauswahl Die Überprüfung der Sozialauswahl folgt im Rahmen der Änderungskündigung der gleichen dreistufigen Prüfungsabfolge wie bei der Beendigungskündigung: Zunächst ist der auswahlrelevante Personenkreis (vergleichbare Arbeitnehmer des betroffenen Betriebs) zu bestimmen. Alsdann ist zu prüfen, ob die Sozialkriterien berücksichtigt und hinreichend gewichtet worden sind. Bei der Änderungskündigung ist jedoch nicht darauf abzustellen, wer von den vergleichbaren Arbeitnehmern am härtesten von einem Verlust des Arbeitsplatzes betroffen wäre, sondern wie sich die angebotene Vertragsänderung auf den sozialen Status vergleichbarer Arbeitnehmer auswirkt.9 Hierfür sind die in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG genannten Kriterien in gleicher Weise anzuwenden wie bei einer Beendigungskündigung, ohne dass diese um weitere, den Besonderheiten einer Änderungskündigung Rechnung tragende Kriterien ergänzt werden müsste.10 Bezüglich der Frage, welches Gewicht dabei den einzelnen Sozialkriterien beizumessen ist, stellt das BAG auf die Art der angebotenen Vertragsänderung ab. Insofern stehen bei einer Vertragsänderung, mit der eine Änderung des Arbeitsinhalts verbunden ist, das Lebensalter und die Betriebszugehörigkeit im Vordergrund, während bei einer Vertragsänderung, die bei gleichbleibender Tätigkeit lediglich zu einer Änderung des Arbeitsumfangs und des Arbeitsentgelts führt, die Unterhaltspflichten vorrangig zu berücksichtigen sind. Schließlich ist zu prüfen, ob dem Ergebnis der Sozialauswahl berechtigte betriebliche Bedürfnisse entgegenstehen (§ 1 Abs. 3 S. 2 KSchG). Da im vorliegenden Fall im Rahmen der Sozialauswahl maßgeblich auf die Unterhaltspflichten abzustellen ist, dürfte S, der keine Unterhaltspflichten gegenüber einem Ehepartner oder Kindern obliegen, weniger schutzbedürftig sein als viele der übrigen bei P beschäftigten Arbeitnehmer. Will der Arbeitgeber P gegenüber 40 seiner bisher vollzeitig Beschäftigten eine Änderungskündigung zur Reduzierung der Arbeitszeit aussprechen, gehört S daher mit Sicherheit zu den Arbeitnehmern, denen die Arbeitszeit- und die dadurch mitbedingte Entgeltredu-

8 Siehe auch BAG 19.5.1993 AP KSchG 1969 § 2 Nr. 31. 9 BAG 12.8.2010 NZA 2011, 460, 465; ErfK/OETKER § 2 KSchG Rn. 52. 10 BAG 12.8.2010 NZA 2011, 460, 464; ErfK/OETKER § 2 KSchG Rn. 52.

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Fall 20 Lösungsvorschlag

„Schichtwechsel“

zierung gemäß § 1 Abs. 3 KSchG am ehesten zuzumuten ist. Außerdem obliegt es nach ständiger Rechtsprechung des BAG dem gekündigten Arbeitnehmer, andere Arbeitnehmer zu benennen, die der Arbeitgeber aufgrund einer geringeren sozialen Schutzbedürftigkeit hätte entlassen müssen. Dafür, dass andere Arbeitnehmer hinsichtlich der vorgeschlagenen Vertragsänderung weniger schutzbedürftig seien, hat S jedoch nichts vorgetragen. Daher ist davon auszugehen, dass die von P durchgeführte Sozialauswahl im Hinblick auf S fehlerfrei war. Ob dies auch im Hinblick auf die übrigen 2010 eingestellten Arbeitnehmer zutrifft, die eine Änderungskündigung erhalten haben, kann dahinstehen, da dadurch die Wirksamkeit der Kündigung gegenüber S unberührt bleibt. d) Zwischenergebnis Die von P gegenüber S ausgesprochene Änderungskündigung ist sozial gerechtfertigt i.S.d. §§ 2, 1 Abs. 2 KSchG. VII. Ergebnis Die Kündigung gegenüber S ist rechtswirksam. Die Klage der S ist daher unbegründet.

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„Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“

Falldarstellung

Fall 21

Fall 21: „Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“ Falldarstellung A ist seit 2001 bei der Gastronomie-Service und Hotel GmbH (G) in dem durch sie betriebenen Restaurant „Waldcafé“ als Kellner beschäftigt. Das „Waldcafé“ ist nicht zuletzt wegen des großen Kuchen- und Tortenangebots bei älteren Menschen sehr beliebt. Zudem wird ein musikalisches Begleitprogramm geboten. Einziger Nachteil ist die recht abgelegene Lage des Waldcafés. Diese wird zum Verhängnis, als in unmittelbarer Stadtnähe ein anderes Café eröffnet und die städtischen Verkehrsbetriebe zudem noch nahezu alle Busverbindungen zum Waldcafé streichen. Angesichts der schwierigen Lage entscheidet sich die G, den Betrieb des Waldcafés zum 1.9.2010 einzustellen und nach möglichen Pächtern Ausschau zu halten. Nach viermonatiger Suche steht fest, dass das „Waldcafé“ von B übernommen wird. Dieser pachtet die Räumlichkeiten zum 1.1.2011 und führt zunächst umfangreiche Umbaumaßnahmen durch, im Zuge derer er sich von einem Großteil des Inventars trennt. Profitieren kann B jedoch von der erst kürzlich rundum erneuerten Kühlanlage und den nahezu neuen Elektrogeräten. Auch das ihm zusagende Mobiliar nutzt er. Abgesehen davon ändert sich das gastronomische Konzept jedoch grundlegend. Der neue Name des Restaurants „1000 und 1 Nacht“ ist Programm: Angeboten werden ausschließlich arabische Gerichte, die von einem darauf spezialisierten Koch zubereitet und von arabischem Personal serviert werden. Am Wochenende versüßt Bauchtanz den kulinarischen Genuss. Wie bereits von B erwartet und beabsichtigt, ändert sich die Kundschaft völlig. „1000 und 1 Nacht“ wird vornehmlich von arabischen Landsleuten des B frequentiert, die das kulinarische und kulturelle „Stück Heimat“ schätzen. Als A von der Fortführung des Restaurants erfährt, sucht er B am 13.1.2011 auf und erklärt seine Arbeitsbereitschaft. Vorsorglich kündigt dieser A am 14.1.2011 ordnungsgemäß. A trägt vor, dass sein Arbeitsverhältnis auf B übergegangen sei, da dieser neben Teilen der Einrichtung insbesondere auch von der so wichtigen Kühleinrichtung profitiere und diese nutze. Nicht ausschlaggebend jedenfalls könne sein, dass er nunmehr andere Speisen servieren müsse; seine Arbeit bleibe identisch. B hingegen beruft sich darauf, dass sich der gesamte Charakter des Restaurants ganz grundlegend verändert habe. Schon deswegen müsse es ihm freistehen, sich seine Belegschaft selbst auszusuchen. Weitaus weniger weitreichend sind die Veränderungen bei dem ebenfalls im Eigentum der G stehenden Tagungszentrum mit Übernachtungsmöglichkeiten, in dem insgesamt 20 Arbeitnehmer beschäftigt sind. G entschließt sich, das Tagungsrestaurant mit 12 Mitarbeitern auszugliedern, da mit dem Verlust des Waldcafés wichtige Synergieeffekte ausbleiben und die profitable Fortführung des Tagungsrestaurants damit nicht möglich ist. Die M-Gruppe wird als neuer Pächter des Restaurants ab 1.2.2011 gewonnen. Diese nutzt das vorhandene Inventar, die Küchengeräte und beschäftigt den Großteil der Belegschaft weiter. Angesichts des fließenden „Übergangs“ und der – bis auf veränderte Kleidung und Dekoration – unveränderten Fortführung speisen auch die Tagungsgäste nach wie vor in dem tagungseigenen Restaurant. Am 3.12.2010 unterrichtet G anlässlich eines Personalgesprächs die im Restaurantmanagement beschäftigte

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Fall 21 Lösungsskizze

„Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“

und gelernte Hotelkauffrau C darüber, dass der Betrieb des Restaurants zum 1.1.2011 eingestellt und ab dem 1.2.2011 von der M-Gruppe übernommen werde. Obwohl zunächst entschlossen, unter den neuen Bedingungen tätig zu werden, entschließt sich C letztlich doch, dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses am 3.2.2011 schriftlich zu widersprechen. Sie weist darauf hin, dass – was zutrifft – sich die M-Gruppe in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation befinde und es bereits zu diversen Betriebsaufgaben gekommen sei. Daher ziehe sie es vor, in dem Tagungszentrum als Verwaltungskraft beschäftigt zu werden. Mit Schreiben vom 4.2.2011, das der C am gleichen Tage zugeht, kündigt G daraufhin das Arbeitsverhältnis mangels Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten aus betriebsbedingten Gründen ordentlich zum nächstmöglichen Zeitpunkt. Dagegen wehrt sich die C mit fristgemäß erhobener Kündigungsschutzklage. Sie macht geltend, dass anderen Arbeitnehmern hätte gekündigt werden müssen. Insbesondere sei sie als 45-jährige Arbeitnehmerin mit drei unterhaltsberechtigten Kindern und 15-jähriger Betriebszugehörigkeit schutzwürdiger als die im Servicemanagement tätige 35-jährige K, die erst fünf Jahre bei G arbeite und nur ein unterhaltsberechtigtes Kind habe. Die K ist ebenso wie die C gelernte Hotelkauffrau und in der gleichen Vergütungsgruppe wie C. C wäre auch in der Lage, die Aufgaben der K nach kurzer Einarbeitungszeit zu übernehmen. G bezweifelt, ob C überhaupt noch wirksam habe widersprechen können. Zumindest wirke sich der Widerspruch zu Lasten der C aus; sie habe es sich letztlich selbst zuzuschreiben, dass sie ihren Arbeitsplatz verloren habe. Frage 1: Besteht zwischen A und B ein wirksames Arbeitsverhältnis? Frage 2: Ist die Kündigungsschutzklage der C begründet?

Ü

Rechtsfragen: –

Betriebsübergang, § 613a BGB



Widerspruch gegen Betriebsübergang



Betriebsbedingte Kündigung



Sozialauswahl bei Widerspruch gegen Betriebsübergang

Lösungsskizze Frage 1: Bestehen eines wirksamen Arbeitsverhältnisses zwischen A und B A. Bestand eines Arbeitsverhältnisses zwischen G und A seit 2001 B. Übergang des Arbeitsverhältnisses auf B durch Betriebsübergang gemäß § 613a Abs. 1 BGB I. Übertragung durch Rechtsgeschäft/Wechsel der Rechtspersönlichkeit II. Übergang des Betriebes oder eines Betriebsteils 1. Früher: Übergang einer organisatorischen Einheit 2. Heute: Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit 3. Prüfungsmaßstab und Kriterien für den Übergang der wirtschaftlichen Einheit

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„Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“

Lösungsskizze Fall 21

Sinn und Zweck des Abstellens auf die wirtschaftliche Einheit: Rechtsfolgen sollen denjenigen treffen, der das wirtschaftliche Substrat aus einer übergegangenen Einheit zieht („gemachtes Bett“ = teleologische Tatbestandsbestimmung), sprich Gesamtbetrachtung, unter notwendiger Einbeziehung folgender Kriterien: a) Ähnlichkeit der Tätigkeit/Dauer der Unterbrechung b) Übernahme der Stammkundschaft c) Übernahme von Personal d) Wert der immateriellen Betriebsmittel e) Übergang materieller Betriebsmittel f) Art des Unternehmens g) Möglichkeit der Arbeitsleistung durch A h) Gesamtbetrachtung C. Ergebnis Frage 2: Begründetheit der Kündigungsschutzklage der C A. Bestand eines Arbeitsverhältnisses zwischen G und C I. Ursprüngliches Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses zwischen G und C II. Übergang des Arbeitsverhältnisses auf die M nach § 613a Abs. 1 BGB 1. Vorliegen eines Betriebs- bzw. Betriebsteilübergangs a) Übertragung durch Rechtsgeschäft b) Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit 2. Widerspruch der C gemäß § 613a Abs. 6 BGB a) Schriftform des Widerspruchs b) Fristgemäße Erklärung III. Zwischenergebnis B. Wirksamkeit der Kündigung I. Materielle Präklusion gemäß §§ 4 S. 1, 7 KSchG II. Unwirksamkeit gemäß § 613a Abs. 4 S. 1 BGB III. Soziale Rechtfertigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG 1. Kündigungsgrund: dringende betriebliche Erfordernisse 2. Sozialauswahl a) Auswirkung des Widerspruchs nach § 613a Abs. 6 BGB auf die Sozialauswahl

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Fall 21 Lösungsvorschlag

„Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“

b) Vergleichbarer Personenkreis c) Ausreichende Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte C. Ergebnis

Lösungsvorschlag Frage 1: Bestehen eines wirksamen Arbeitsverhältnisses zwischen A und B Zwischen B und A besteht ein Arbeitsverhältnis, wenn B gemäß § 613a Abs. 1 S. 1 BGB in die Rechte und Pflichten des zwischen G und A begründeten Arbeitsverhältnisses eingetreten ist. A. Bestand eines Arbeitsverhältnisses zwischen G und A seit 2001 Ursprünglich bestand zwischen G und A seit 2001 ein Arbeitsverhältnis. B. Übergang des Arbeitsverhältnisses auf B durch Betriebsübergang gemäß § 613a Abs. 1 BGB In die Rechte und Pflichten des zwischen G und A begründeten Arbeitsverhältnisses könnte B im Wege eines Betriebsübergangs gemäß § 613a Abs. 1 BGB zum 1.1.2011 eingetreten sein. I. Übertragung durch Rechtsgeschäft/Wechsel der Rechtspersönlichkeit Die gemäß § 613a Abs. 1 S. 1 BGB erforderliche Übertragung eines Betriebes oder Betriebsteils durch Rechtsgeschäft liegt vor, da B das „Waldcafé“ von der G zum 1.1.2011 gepachtet hat. Zugleich liegt mit der Fortführung der Geschäfte durch B auch ein für § 613a Abs. 1 BGB erforderlicher Wechsel der Rechtspersönlichkeit des Betriebsinhabers vor. II. Übergang des Betriebes oder eines Betriebsteils Fraglich ist, ob es mit der Verpachtung des „Waldcafés“ zum Übergang eines Betriebes bzw. Betriebsteils gekommen ist. Der Begriff des „Betriebs“übergangs i.S.d. § 613a Abs. 1 BGB war sehr umstritten und ist erst in jüngerer Zeit, insbesondere auf Grund gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, einer näheren Klärung zugeführt worden. 1. Früher: Übergang einer organisatorischen Einheit Zunächst entsprach es der überwiegenden Auffassung, dass der Betriebsbegriff des § 613a BGB mit dem allgemeinen arbeits- bzw. betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriff übereinstimmt, also eine organisatorische Einheit unter arbeitstechnischer Zweckverfolgung übergehen muss. Dementsprechend kam es allein auf die sächlichen und immateriellen Betriebsmittel an, die das wirtschaftliche Substrat bilden, mit dem der Unternehmer die Erlöse und insbesondere die Löhne erwirtschaftet. Die Arbeitnehmer selbst sollten allerdings nicht zum Be-

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„Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“

Lösungsvorschlag Fall 21

trieb i.S.d. § 613a Abs. 1 BGB gehören, da der Übergang ihrer Arbeitsverhältnisse ausweislich des Wortlauts nicht der Tatbestands-, sondern der Rechtsfolgenseite der Norm zuzuordnen sei. Dem Normzweck des § 613a Abs. 1 BGB jedoch konnte durch dieses Verständnis nicht angemessen entsprochen werden, da entscheidend ist, dass über § 613a Abs. 1 BGB nur derjenige in die Rechte und Pflichten aus einem Arbeitsverhältnis eintreten soll, der das wirtschaftliche Substrat aus einer abgrenzbaren wirtschaftlichen Einheit zieht. Jene Feststellung jedoch konnte nicht allein unter Berücksichtigung der sächlichen und immateriellen Betriebsmittel beantwortet werden, da es etwa in Dienstleistungsbetrieben insbesondere auf die Fachkunde des beschäftigten Personals ankommt. Insgesamt hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es einer stark teleologischen Betrachtung bedarf. 2. Heute: Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit Unter Übernahme der maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH1 entspricht es nunmehr gefestigter Rechtsprechung des BAG, dass allein entscheidend ist, ob die Identität einer wirtschaftlichen Einheit gewahrt bleibt.2 Dementsprechend ist B in die Rechte und Pflichten des Arbeitsverhältnisses eingetreten, wenn er von der G mit der Übernahme des „Waldcafés“ eine wirtschaftliche Einheit übernommen hat und die Identität derselben gewahrt wurde. Der Begriff „Einheit“ bezieht sich dabei auf eine organisierte Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigener Zielsetzung.3 Anmerkung: Auch bei der Eingliederung einer Einheit in eine andere Organisationsstruktur, die mitunter missverständlich unter dem Schlagwort der identitätszerstörenden Eingliederung diskutiert wird, kann ein Betriebsübergang, genauer die Wahrung der wirtschaftlichen Identität, vorliegen. Insofern kann nach der Rechtsprechung des EuGH ein Betriebsübergang auch dann gegeben sein, „wenn der übertragene Unternehmens- oder Betriebsteil seine organisatorische Selbständigkeit nicht bewahrt, sofern die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten wird und sie es dem Erwerber erlaubt, diese Faktoren zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen“.4

3. Prüfungsmaßstab und Kriterien für den Übergang der wirtschaftlichen Einheit Bei der Prüfung, ob eine Einheit übergegangen ist, müssen sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Es ist somit eine typologische Gesamtbetrachtung anzustellen, welche die Frage nach dem Übergang einer wirtschaftlichen Einheit unter Abstellen auf verschiedene Kriterien beantwortet. Maßgeblich sind als Teilaspekte der Gesamtwürdigung die Art des betreffenden Unternehmens oder Betriebs, der etwaige Übergang der materiellen Betriebsmittel wie Gebäude und bewegliche Güter, der Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs, die etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft, der etwaige Übergang der Kundschaft sowie der Grad der

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Grdl. EuGH 11.3.1997 AP EWG-Richtlinie Nr. 77/187 Nr. 14 – „Ayse Süzen“. Grdl. BAG 13.11.1997 AP BGB § 613a Nr. 169, 170. Vgl. nur BAG 2.12.1999 AP BGB § 613a Nr. 188. EuGH 12.2.2009 NZA 2009, 251 – „Klarenberg“.

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Fall 21 Lösungsvorschlag

„Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“

Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeit.5 Unter Anwendung dieser Einzelkriterien erscheint fraglich, ob mit der Pacht des Restaurants die Identität einer wirtschaftlichen Einheit gewahrt worden ist. a) Ähnlichkeit der Tätigkeit/ Dauer der Unterbrechung Zweifel hinsichtlich eines hohen Ähnlichkeitsgrades vor und nach der Pacht der Gaststättenräume durch B könnten bereits insofern bestehen, als sich die Namensbezeichnung des Restaurants verändert hat. Hinzu kommt, dass sich grundlegende Veränderungen auch in Bezug auf den tatsächlichen Restaurantbetrieb feststellen lassen: Während zuvor vor allem Kuchen angeboten wurde, ist das Speisenangebot nunmehr ausschließlich arabisch geprägt. Der orientalische Name „1000 und 1 Nacht“ unterscheidet sich deutlich von der Bezeichnung Waldcafé und gibt rein äußerlich bereits einen „Programmwechsel“ vor. Hinzu kommt, dass das kulinarische Angebot durch kulturelle Darbietungen abgerundet wird. Insofern werden nicht nur andere Speisen, sondern auch eine gänzlich andere Atmosphäre geboten. Größer kann der Unterschied im Angebot zwischen Gaststätten kaum sein, so dass bis auf den Umstand, dass ebenfalls Speisen geboten werden, keine Ähnlichkeit zwischen den vor und nach der Pacht wahrgenommenen Tätigkeiten besteht. Hinzu kommt, dass jedwede Tätigkeit in dem Restaurant für einen Zeitraum von vier Monaten eingestellt worden ist. b) Übernahme der Stammkundschaft Gegen die Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit spricht des Weiteren, dass sich der Kundenstamm des Restaurants grundlegend geändert hat. B zieht durch sein grundverschiedenes Konzept nunmehr bewusst Gäste mit einem anderen Geschmack und anderen Interessen an. Insoweit kann B infolge einer bewussten Entscheidung nicht etwa auf eine über Jahre gewachsene und dem Restaurant eng verbundene Stammkundschaft zurückgreifen. Vielmehr ist es so, dass B das Risiko der neuen (Stamm)Kundschaftsakquise und somit auch das gastronomische Unternehmensrisiko vollumfänglich – neu – trägt. Insofern besteht kein Unterschied zu einem Restaurant, das in erst neu errichteten Räumlichkeiten seinen Betrieb aufnimmt. c) Übernahme von Personal Die Wahrung einer wirtschaftlichen Identität kann auch in der Übernahme des Personals begründet liegen. Laut Sachverhalt hat B angesichts der intendierten Tätigkeitsänderung kaum Belegschaft übernommen. Insbesondere in Branchen, in denen es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft oder das Knowhow ankommt, ist die Übernahme des Personals jedoch von besonderer Bedeutung für die Wahrung einer wirtschaftlichen Einheit.6 Speziell bei Gastronomiebetrieben kommt dem Personal insofern eine zentrale Rolle zu, als gerade die besondere Freundlichkeit des Servicepersonals, die hohe Qualifizierung des Kü5 Vgl. nur BAG 18.4.2002 AP BGB § 613a Nr. 232; BAG 16.5.2002 AP BGB § 613a Nr. 237. 6 EuGH 11.3.1997 AP EWG-Richtlinie Nr. 77/187 Nr. 14 – „Ayse Süzen“; BAG 13.11.1997 AP BGB § 613a Nr. 169.

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Lösungsvorschlag Fall 21

chenpersonals oder auch ihre spezielle, kulinarische Ausrichtung den Beurteilungsmaßstab für ein gutes Restaurant bilden und die so wichtige Anziehungskraft auf die (Stamm)Kundschaft ausüben. In diesem Zusammenhang ist von ganz zentraler Bedeutung, dass B angesichts der kompletten Menüumstellung auch nicht den zuvor tätigen Koch weiterbeschäftigt, sondern nunmehr einen auf arabische Gerichte spezialisierten Landsmann beschäftigt. Gerade von den Fähigkeiten bezüglich der Auswahl und Herstellung der angebotenen Speisen sind jedoch das Ansehen und langfristige Überleben eines Gastronomiebetriebs abhängig. Auch die Nichtübernahme spricht somit entscheidend gegen die Wahrung der wirtschaftlichen Einheit. d) Wert der immateriellen Betriebsmittel Auch der Wert der immateriellen Betriebsmittel spricht gegen die Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit. Insbesondere der zu den immateriellen Betriebsmitteln zählende „good will“ des Betriebes gibt für eine Identitätswahrung nichts her, da der B sich durch sein gegenüber G radikal verändertes Gastronomiekonzept im Gegenteil ein neues Image verschafft hat, welches einer Neugründung gleichkommt. e) Übergang materieller Betriebsmittel Zu bedenken bleibt allerdings, dass B durchaus von der Übernahme materieller Betriebsmittel (Mobiliar, Elektrogeräte, Kühlanlagen) erheblich profitieren konnte. Grundsätzlich kommt solchen Betriebsmitteln bereits insofern eine wichtige Bedeutung zu, als sie letztlich in einer Vielzahl der Fälle einerseits die unbedingt erforderliche Infrastruktur für die erfolgreiche Fortsetzung jedes wirtschaftlichen Handelns bilden, andererseits jedoch besonders kostenintensiv sind.7 f) Art des Unternehmens Bei der Beantwortung der Frage, wie die einzelnen Kriterien in die konkrete Gesamtwürdigung, ob eine wirtschaftliche Einheit erhalten ist, einfließen, ist ganz entscheidend die Art des Unternehmens zu berücksichtigen. Es ist besonders zu beachten, dass den maßgeblichen Kriterien je nach der ausgeübten Tätigkeit und selbst nach den Produktions- oder Betriebsmethoden, die in dem „Betrieb“ angewendet werden, unterschiedliches Gewicht zukommt.8 In diesem Zusammenhang ist die bereits zuvor erwähnte Feststellung entscheidend, dass gerade in Dienstleistungsbetrieben, zu denen auch die Gastronomie zu zählen ist, immaterielle Werte wie Know-how, Atmosphäre und Kundenstamm im Vordergrund stehen.9 Sie prägen oder begründen die für ein Restaurant so wichtige Reputation und sind der entscheidende Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg. Zwar steht außer Frage, dass B erst durch die Übernahme der materiellen Betriebsmittel in die Lage versetzt worden ist, das Restaurant weiterzubetreiben. Entscheidend ist jedoch, dass es ihm letztlich völlig offen stand, wie er die entsprechende Infrastruktur nutzen würde. Auf Grund seiner Entscheidung, das Restaurant unter

7 Vgl. dazu EuGH 20.11.2003 NZA 2003, 1385 ff. 8 EuGH 10.12.1998 NZA 1999, 189. 9 ErfK/PREIS § 613a BGB Rn. 13.

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Verfolgung eines völlig unterschiedlichen Konzeptes zu betreiben, hat er das unternehmerische Risiko für „1000 und 1 Nacht“ neu begründet. g) Möglichkeit der Arbeitsleistung durch A Unbeachtlich ist auch der Vortrag des A, er könne seine Tätigkeit auch in dem Restaurant „1000 und 1 Nacht“ erbringen. Entscheidend ist nicht die zweifelsohne bestehende Arbeitsbereitschaft und -fähigkeit des A, sondern die davon isoliert zu beantwortende Frage, ob eine wirtschaftliche Einheit erhalten bleibt. Nur für den Fall, dass sich der Erwerber in „ein gemachtes Bett“ legt, soll er auch in die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis einsteigen. Die Wahrung der wirtschaftlichen Identität liegt bei Fehlen der sonstigen Voraussetzungen nicht schon deshalb vor, weil einzelne Arbeitnehmer ihre aus dem alten Arbeitsverhältnis geschuldete Arbeitsleistung auch beim neuen Betriebsinhaber erbringen könnten.10 h) Gesamtbetrachtung Aus alledem ergibt sich, dass außer dem Übergang materieller Betriebsmittel sämtliche anderen Kriterien gegen die Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit und damit gegen einen Betriebsübergang von G auf B sprechen. Es ist bei der Gewichtung der einzelnen Kriterien jedoch eine wertende Betrachtungsweise zugrunde zu legen und zu fragen, welche Umstände „den eigentlichen Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs“ ausmachen.11 Da für die Gäste eines Restaurants letztlich weitgehend irrelevant ist, mit welchen Betriebsmitteln der Betreiber die besondere Atmosphäre schafft oder sein Konzept verfolgt, tritt die Übertragung der materiellen Betriebsmittel nach dieser Maßgabe hinter die übrigen gewichtigeren Gesichtspunkte wie die lange Schließung, den Wegfall der Kundschaft und die fehlende Übernahme des Personals, insbesondere des Kochs zurück, die der Wahrung der wirtschaftlichen Identität im Ergebnis entgegenstehen.12 C. Ergebnis Im Ergebnis ist festzustellen, dass keine Wahrung der wirtschaftlichen Identität gegeben ist. B ist somit nicht gemäß § 613a Abs. 1 S. 1 BGB in die Rechte und Pflichten des zwischen A und G begründeten Arbeitsverhältnisses eingetreten. Folglich besteht zwischen A und B kein Arbeitsverhältnis. Frage 2: Begründetheit der Kündigungsschutzklage der C Die Kündigungsschutzklage der C ist begründet, wenn das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 4.2.2011 aufgelöst worden ist. Dies setzt voraus, dass die Kündigung sozial nicht gerechtfertigt oder aus anderen Gründen unwirksam ist.

10 BAG 11.9.1997 NZA 1998, 31, 33. 11 BAG 6.4.2006 AP BGB § 613a Nr. 299; BAG 13.6.2006 AP BGB § 613a Nr. 305. 12 Vgl. dazu auch BAG 11.9.1997 NZA 1998, 31, 33.

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Lösungsvorschlag Fall 21

A. Bestand eines Arbeitsverhältnisses zwischen G und C I. Ursprüngliches Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses zwischen G und C Ursprünglich lag ein Arbeitsverhältnis zwischen G und C vor. II. Übergang des Arbeitsverhältnisses auf die M nach § 613a Abs. 1 BGB Fraglich ist jedoch, ob auch im Zeitpunkt der Kündigung (4.2.2011) noch ein Arbeitsverhältnis zwischen G und C bestand, das durch eine Kündigung aufgelöst werden konnte. Zwar hat die Kündigungsschutzklage nur einen punktuellen Streitgegenstand. Das schließt jedoch die Überprüfung, ob im Zeitpunkt der Kündigung ein Arbeitsverhältnis bestanden hat, nicht aus.13 Dem Bestand des Arbeitsverhältnisses könnte die Rechtsfolge des § 613a Abs. 1 BGB entgegenstehen, wonach der Erwerber in die Rechte und Pflichten der Arbeitsverhältnisse solcher Arbeitnehmer eintritt, die in einem übergegangenen Betrieb oder Betriebsteil beschäftigt sind. Dies könnte mit der Übernahme des Restaurantbetriebes durch die M zum 1.2.2011 geschehen sein. 1. Vorliegen eines Betriebs- bzw. Betriebsteilübergangs a) Übertragung durch Rechtsgeschäft Indem M und G einen Pachtvertrag über die Übernahme des Restaurants geschlossen haben, hat M dieses durch Rechtsgeschäft übernommen. b) Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit Vorliegend könnte es sich bei dem Tagungsrestaurant um einen Betriebsteil handeln. Indem nunmehr jedoch im Zuge einer teleologischen Tatbestandsbetrachtung vornehmlich auf den Begriff der wirtschaftlichen Einheit abgestellt wird, verliert die Interpretation des Begriffs „Betriebsteil“ ihre eigenständige Bedeutung.14 Entscheidend ist vielmehr, ob bei der Übernahme durch die M-Gruppe die wirtschaftliche Einheit des tagungseigenen Restaurants gewahrt worden ist. Bei der Prüfung, ob dies der Fall ist, sind als Teilaspekte der Gesamtwürdigung die Art des betreffenden Unternehmens, der etwaige Übergang der materiellen Betriebsmittel, der Wert der immateriellen Aktiva, die etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft, der etwaige Übergang der Kundschaft sowie die Ähnlichkeit der Tätigkeiten und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung der Tätigkeit zu berücksichtigen (vgl. oben). Für den Übergang einer wirtschaftlichen Einheit und ihrer Identitätswahrung spricht zunächst, dass die durch M wahrgenommene Geschäftstätigkeit nahezu identisch mit der zuvor ausgeübten Tagungsgastronomie ist und bereits nach einmonatiger Unterbrechung aufgenommen wurde. Von zentraler Bedeutung ist, dass sich offensichtlich das Konzept, die Tagungsgäste zu versorgen, nicht geändert hat. Weder bestehen Anhaltspunkte für eine konzeptionelle Menüänderung noch solche für einen Qualitätsunterschied des Essens. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass M die zwölfköpfige Belegschaft mitsamt dem in der Gastronomie besonders wichtigen Küchenpersonal übernommen hat und zudem die materiellen Betriebsmittel unverändert nutzt. 13 Vgl. BAG 18.9.1999 NZA 1999, 870, 871. 14 Vgl. ErfK/PREIS § 613a BGB Rn. 7.

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Letztlich resultiert diese Fortführung darin, dass sich der Kundenstamm nach wie vor aus den auf eine Verpflegung angewiesenen Tagungsgästen zusammensetzt. Insgesamt ist somit festzustellen, dass mit dem Tagungsrestaurant eine wirtschaftliche Einheit auf die M übergegangen und deren Identität gewahrt worden ist. Nach der Rechtsfolge des § 613a Abs. 1 BGB ist das Arbeitsverhältnis zwischen C und G somit an sich zum 31.1.2011 beendet worden. 2. Widerspruch der C gemäß § 613a Abs. 6 BGB Allerdings könnte C dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses gemäß § 613a Abs. 6 BGB ordnungsgemäß widersprochen haben. Folge davon wäre das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses zwischen C und G. a) Schriftform des Widerspruchs Gemäß § 613a Abs. 6 BGB muss der Widerspruch schriftlich erfolgen. Die Schriftform hat C eingehalten. b) Fristgemäße Erklärung Weiterhin müsste C den Widerspruch fristgemäß erklärt haben. Dem könnte entgegenstehen, dass C den Widerspruch erst am 3.2.2011, also knapp zwei Monate nach der Information, erklärt hat, sich aus § 613a Abs. 6 BGB aber ergibt, dass der Widerspruch innerhalb eines Monats nach Zugang der Unterrichtung zu erklären ist. Allerdings beginnt die Frist für die Erklärung des Widerspruchs nach § 613a Abs. 6 BGB nur dann zu laufen, wenn die Unterrichtung des Arbeitgebers ihrerseits gemäß § 613a Abs. 5 BGB ordnungsgemäß erfolgt ist, nämlich durch Textform. Daran fehlt es im vorliegenden Fall, weil C anlässlich eines Personalgesprächs lediglich mündlich unterrichtet worden ist. Insofern hat die Frist des § 613a Abs. 6 BGB noch nicht zu laufen begonnen. Hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht oder nicht ordnungsgemäß i.S.d. § 613a Abs. 5 BGB unterrichtet, muss vom Arbeitnehmer keine Höchstfrist – etwa in entsprechender Anwendung von § 5 Abs. 3 S. 2 KSchG – für die Ausübung seines Widerspruchs beachtet werden.15 Das Widerspruchsrecht unterliegt in einem solchen Fall lediglich der allgemeinen Grenze der Verwirkung.16 Von einer solchen kann vorliegend jedoch nicht ausgegangen werden, da eine Erklärung des Widerspruchs lediglich zwei Monate nach der formfehlerhaften Unterrichtung erfolgt ist. Somit hat C dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf M wirksam widersprochen. Anmerkung: Mit der Verwirkung wird die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten ausgeschlossen. Sie dient dem Vertrauensschutz und verfolgt nicht den Zweck, den Schuldner stets dann von seiner Verpflichtung zu befreien, wenn dessen Gläubiger längere Zeit seine Rechte nicht geltend gemacht hat (sog. Zeitmoment). Der Berechtigte muss vielmehr neben dem Zeitmoment auch unter Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erweckten, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wolle, so dass der Verpflichtete sich darauf einstellen durfte, nicht

15 BAG 2.4.2009 AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 9. 16 BAG 2.4.2009 AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 9; ErfK/PREIS § 613a BGB Rn. 101a.

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Lösungsvorschlag Fall 21

mehr in Anspruch genommen zu werden (sog. Umstandsmoment). Hierbei muss das Erfordernis des Vertrauensschutzes auf Seiten des Verpflichteten das Interesse des Berechtigten derart überwiegen, dass ihm die Erfüllung des Anspruches nicht mehr zuzumuten ist. Dies ist freilich eine Frage des Einzelfalls.

III. Zwischenergebnis Im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs (4.2.2011) bestand somit weiterhin ein Arbeitsverhältnis zwischen C und G. B. Wirksamkeit der Kündigung Das Arbeitsverhältnis ist durch die Kündigung aufgelöst worden, wenn die Kündigung sozial gerechtfertigt und nicht aus anderen Gründen unwirksam ist. I. Materielle Präklusion gemäß §§ 4 S. 1, 7 KSchG C müsste zunächst die Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG gewahrt haben, die seit der ab 1.1.2004 geltenden Neufassung nahezu sämtliche Unwirksamkeitsgründe der Kündigung erfasst und gemäß § 23 Abs. 1 KSchG auch für Kleinbetriebe und Arbeitsverhältnisse innerhalb der Wartezeit von sechs Monaten (§ 1 Abs. 1 KSchG) gilt. Mit ihren Einwänden gegen die soziale Rechtfertigung der Kündigung oder der Geltendmachung sonstiger Gründe, aus denen ihre Rechtsunwirksamkeit folgt, ist C indes nicht materiell präkludiert, da sie binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung Kündigungsschutzklage erhoben hat, §§ 4 S. 1, 7 KSchG. II. Unwirksamkeit gemäß § 613a Abs. 4 S. 1 BGB Die Kündigung könnte bereits gemäß § 613a Abs. 4 S. 1 BGB unwirksam sein. Dies setzt voraus, dass G die Kündigung „wegen“ des Übergangs des Betriebsteils „Tagungsrestaurant“ ausgesprochen hat. Schwierig ist die Begriffsbestimmung des Tatbestandsmerkmals „wegen“, zumal § 613a Abs. 4 S. 2 BGB klarstellt, dass das Recht zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus anderen Gründen unberührt bleibt. Deshalb ist auf Grund dieses Konkurrenzverhältnisses stets zu prüfen, ob es – neben dem Betriebsübergang – einen sachlichen Grund gibt, der „aus sich heraus“ die Kündigung zu rechtfertigen vermag, so dass der Betriebsübergang nur äußerer Anlass, nicht aber der tragende Grund für die Kündigung gewesen ist.17 Fraglich ist deshalb, was gilt, wenn wie im vorliegenden Fall der bisherige Betriebsinhaber einem Arbeitnehmer, der dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widersprochen hat, mit der Begründung kündigt, nunmehr bestehe für ihn keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr. Zwar ist eine Mitursächlichkeit des Betriebsübergangs gegeben, da der Arbeitsplatz der C bei Fortführung des Betriebsteils durch G nicht entfallen wäre. Tragender Grund für die Kündigung ist jedoch nicht der Übergang des Tagungsrestaurants als solcher, sondern die mit dem Widerspruch der C verbundene Weigerung der Fortsetzung der Tätigkeit beim neuen Inhaber M. Folglich liegt keine nach § 613a Abs. 4 S. 1 BGB unzulässige Kündigung „wegen“ des Betriebsübergangs vor, wenn der Betriebsveräußerer auf den Widerspruch des Arbeitnehmers das Fehlen einer Beschäftigungsmöglichkeit für diesen Arbeitnehmer geltend macht; in diesem Fall han-

17 BAG 19.5.1988 AP BGB § 613a Nr. 75; BAG 18.7.1996 AP BGB § 613a Nr. 147.

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delt es sich vielmehr um eine nach § 1 Abs. 2 KSchG zu beurteilende betriebsbedingte Kündigung aus sonstigen Gründen i.S.d. § 613a Abs. 4 S. 2 BGB.18 Die auf fehlende Beschäftigungsmöglichkeit gestützte Kündigung der C ist daher nicht schon nach § 613a Abs. 4 S. 1 BGB unwirksam. III. Soziale Rechtfertigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG Die Kündigung könnte gemäß § 1 Abs. 2 KSchG nicht sozial gerechtfertigt sein. Dann muss zunächst das Kündigungsschutzgesetz anwendbar sein. Der sachliche Anwendungsbereich des KSchG ist nach § 23 Abs. 1 KSchG in der seit 1.1.2004 geltenden Fassung zweigeteilt. Während für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach dem 31.12.2003 begonnen hat, der allgemeine Kündigungsschutz erst dann eingreift, wenn im Betrieb in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt werden (§ 23 Abs. 1 S. 3 Halbs. 1 KSchG), gilt für „Alt-Arbeitnehmer“ weiterhin der allgemeine Kündigungsschutz bei mehr als fünf Arbeitnehmern (§ 23 Abs. 1 S. 2 KSchG). Da die C seit 15 Jahren bei G beschäftigt ist, gilt für sie als „Alt-Arbeitnehmerin“ (wie auch für die sonstigen bei G beschäftigten Arbeitnehmer) der alte Schwellenwert des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG. Das Tagungsrestaurant ist auf die M mit 12 beschäftigten Arbeitnehmern übergegangen, während im gesamten Tagungszentrum 20 Arbeitnehmer regelmäßig beschäftigt sind. Folglich ist der hier maßgebliche Schwellenwert von mehr als fünf regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmern im Restbetrieb erreicht. Auch ist der persönliche Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes eröffnet, da C als Restaurantmanagerin weder Organmitglied noch Gesellschafterin der G ist (s. § 14 Abs. 1 KSchG). 1. Kündigungsgrund: dringende betriebliche Erfordernisse Nach § 1 Abs. 1 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung im Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Vorliegend könnte ein betriebsbedingter Kündigungsgrund vorliegen. Dringende betriebliche Erfordernisse für eine Kündigung liegen vor, wenn die Durchführung oder eingeleitete Durchführung einer unternehmerischen Entscheidung einer Beschäftigungsmöglichkeit die Grundlage entzieht.19 Die G hat die unternehmerische Entscheidung, den Betrieb des Tagungsrestaurants auf Grund entfallener Synergieeffekte und dadurch bedingter Unwirtschaftlichkeit einzustellen, mit der Folge getroffen, dass die Beschäftigungsmöglichkeit der C als Restaurantmanagerin weggefallen ist. Die unternehmerische Entscheidung der G ist nicht offensichtlich unsachlich oder willkürlich; daher liegt ein dringendes betriebliches Erfordernis für die Kündigung der C vor. Auch besteht keine andere Beschäftigungsmöglichkeit i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG.

18 BAG 21.3.1996 AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 81; BAG 18.3.1999 AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 41; ErfK/PREIS § 613a BGB Rn. 155 f. 19 BAG 19.6.1991 NZA 1991, 891.

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„Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“

Lösungsvorschlag Fall 21

2. Sozialauswahl Weitere Voraussetzung für die soziale Rechtfertigung der Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG, dass der Arbeitgeber eine ordnungsgemäße Sozialauswahl vorgenommen hat. Bei der Auswahl der C müsste G somit die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter sowie die Unterhaltspflichten (für eine Schwerbehinderung der C ist nichts ersichtlich) ausreichend berücksichtigt und die zur Kündigung führenden dringenden betrieblichen Erfordernisse auf den sozial schutzwürdigsten Arbeitnehmer konkretisiert haben. a) Auswirkung des Widerspruchs nach § 613a Abs. 6 BGB auf die Sozialauswahl Etwas anderes könnte sich ausnahmsweise aus dem Umstand ergeben, dass C dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf die M widersprochen hat. Inwieweit ein widersprechender Arbeitnehmer überhaupt verlangen kann, in die Sozialauswahl einbezogen zu werden, ist indes strittig. Die Meinungen in der Literatur reichten bislang von einer Durchführung der Sozialauswahl ohne jede Besonderheit, also einer grundsätzlichen Unbeachtlichkeit des Widerspruchs, bis zum Ausschluss des widersprechenden Arbeitnehmers von der Sozialauswahl. Nach überwiegender Meinung im Schrifttum verwehrt hingegen der völlig grundlose Widerspruch ein späteres Berufen auf die Sozialauswahl. Auch das BAG hatte sich zunächst dieser differenzierenden Ansicht angeschlossen und festgestellt, dass objektiv vertretbare Gründe für den Widerspruch Berücksichtigung finden müssten.20 Von dieser Rechtsprechung ist es nunmehr zu Recht abgewichen. Nach neuer Rechtsprechung können sich Arbeitnehmer, die einem Übergang widersprochen haben, auch auf eine mangelhafte Sozialauswahl berufen. In Anbetracht der durch Gesetzesänderung zum 1.1.2004 bewirkten abschließenden Verengung des § 1 Abs. 3 KSchG auf die vier im Gesetz genannten Sozialauswahlkriterien hält das BAG die dem Widerspruch zugrundeliegenden Beweggründe des Arbeitnehmers nunmehr für unbeachtlich.21 Da Gründe und Motive für die Wirksamkeit des Widerspruchs irrelevant seien, seien sie auch im Rahmen der Sozialauswahl ohne Bedeutung. Andernfalls werde das Widerspruchsrecht entwertet. Beweggründe für den Widerspruch können auch nicht über § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG Berücksichtigung finden. Etwas anderes kommt nur in Betracht, wenn etwa der Widerspruch einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern gegen einen Betriebsteilübergang tiefgreifende Umorganisationen notwendig macht, die zu schweren betrieblichen Ablaufstörungen führen können.22 Dieser Neuorientierung der Rechtsprechung ist zuzustimmen. Freilich ist in Hinblick auf die Sozialauswahl aber gleichwohl eine Rechtsmissbrauchskontrolle des Widerspruchs geboten. Eine rechtsmissbräuchliche Berufung auf den Widerspruch der C besteht hier jedoch ersichtlich nicht.23 Vielmehr weist sie auf die objektiv gegebene Tatsache hin, dass sich die M-Gruppe in einer wirtschaftlich schwierigen Situation befinde und es bereits zu diversen Betriebsaufgaben

20 BAG 7.4.1993 AP KSchG 1969 § 1 Sozialauswahl Nr. 22. 21 BAG 31.5.2007 AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 94; dazu EYLERT/SPINNER BB 2008, 50. 22 BAG 31.5.2007 AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 94. 23 Vgl. ausf. zur rechtsmissbräuchlichen Ausübung des Widerspruchsrechts ErfK/ PREIS § 613a BGB Rn. 110 f.

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Fall 21 Lösungsvorschlag

„Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“

gekommen sei. Damit ist nicht auszuschließen, dass ihr Arbeitsplatz bei der M auf absehbare Zeit gefährdet ist oder sie zumindest eine baldige wesentliche Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen zu gewärtigen hat. Da die C dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf M nicht rechtsmissbräuchlich widersprochen hat, kommt sie somit in den Genuss einer vollständigen Berücksichtigung der sozialen Gesichtspunkte nach Maßgabe des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG. b) Vergleichbarer Personenkreis Bei der von C als weniger schutzwürdig bezeichneten K müsste es sich zunächst um eine vergleichbare Arbeitnehmerin handeln. Die Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern verlangt, dass sie nach ihrem Arbeitsvertragsinhalt austauschbar sind, also kraft Direktionsrecht mit den anderen Aufgaben beschäftigt werden können.24 Die K ist ebenso wie die C gelernte Hotelkauffrau und in derselben Vergütungsgruppe beschäftigt. Damit sind sie nach dem Inhalt ihrer Arbeitsverträge vergleichbar, also austauschbar. Das Erfordernis, dass die Arbeitnehmer nicht auf verschiedenen Ebenen der Betriebshierarchie stehen dürfen,25 ist in Bezug auf C und K ebenfalls erfüllt, was insbesondere durch die gleiche Eingruppierung illustriert wird. Darüber hinaus müssten C und K auch aktuell vergleichbar sein. Maßgebend für eine nicht mehr gegebene Vergleichbarkeit können Kenntnisse und Fähigkeiten in bestimmten Projekten sein, die sich andere Arbeitnehmer erst durch längere Einarbeitungszeiten aneignen müssten.26 Insofern könnten an der Vergleichbarkeit der C mit der K Zweifel bestehen, da die C bisher als Restaurantmanagerin, die K hingegen im Servicemanagement beschäftigt ist und die C erst nach einer gewissen Einarbeitungszeit in der Lage wäre, die Aufgaben der K zu übernehmen. Allerdings liefe die Annahme, dass auch die generelle Notwendigkeit einer Einarbeitungszeit bereits der Vergleichbarkeit entgegensteht, auf eine außerordentlich geringe Vergleichbarkeitsquote hinaus. Es ist zwangsläufig so, dass ein Arbeitnehmer, der bestimmte Aufgaben über einen längeren Zeitraum wahrnimmt, gegenüber anderen Arbeitnehmern einen deutlichen Routine- und Kenntnisvorsprung hat. Daher steht die Notwendigkeit einer kurzen Einarbeitungszeit wegen eines aktuellen Routinevorsprungs der Vergleichbarkeit nicht entgegen.27 Somit sind C und K vergleichbare Arbeitnehmer, unter denen eine soziale Auswahl vorzunehmen ist. c) Ausreichende Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte Bei der Entscheidung, C zu kündigen, müsste G gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG die sozialen Gesichtspunkte „Dauer der Betriebszugehörigkeit“, „Lebensalter“ und „Unterhaltspflichten“ ausreichend berücksichtigt haben. Hier ist C hinsichtlich aller drei Sozialkriterien deutlich schutzwürdiger als K. C ist 45 Jahre alt, weist eine 15jährige Betriebszugehörigkeit auf und hat drei unterhaltsberechtigte Kinder. Dagegen ist K erst 35, arbeitet erst seit fünf Jahren bei G und hat nur ein unterhaltsberechtigtes Kind. Überwiegen alle drei Sozialauswahlkriterien in ei24 BAG 15.6.1989 AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 18; BAG 17.9.1998 AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 36. 25 Sog. horizontale Vergleichbarkeit im Gegensatz zur vertikalen Vergleichbarkeit, s. BAG 23.3.1990 EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 29 mit Anm. PREIS. 26 ErfK/OETKER § 1 KSchG Rn. 325. 27 BAG 25.4.1985 AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 7.

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„Vom Waldcafé zur Bauchtanzbar“

Lösungsvorschlag Fall 21

ner derart deutlichen Weise, reduziert sich das Auswahlermessen des Arbeitgebers „auf Null“, so dass G der vergleichbaren Arbeitnehmerin K hätte kündigen müssen. C. Ergebnis Bei seiner Entscheidung, C zu kündigen, hat G soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend beachtet. Die Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 1, 3 S. 1 KSchG rechtsunwirksam und das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst worden. Die Kündigungsschutzklage der C ist begründet.

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Fall 22 Falldarstellung

„Befristungen ohne Ende?“

Fall 22: „Befristungen ohne Ende?“ Falldarstellung Ausgangsfall A arbeitete auf der Grundlage eines schriftlich geschlossenen und bis zum 31.12.2008 befristeten Arbeitsvertrags seit dem 1.1.2007 als Kundenbetreuerin bei der E-GmbH (E). Kurz vor Ablauf der Befristung, am 5.12.2008, vereinbarte sie schriftlich erneut einen befristeten Arbeitsvertrag, der vom 1.1.2009 bis einschließlich 31.12.2009 laufen sollte. Das Angebot zum Abschluss des neuen Arbeitsvertrags wurde der A jedoch nicht durch die E, sondern durch die vor fünf Jahren gegründete F-GmbH (F) unterbreitet, deren Unternehmensgegenstand konzerninterne und -externe Arbeitnehmerüberlassung ist. Die F verfügt seit ihrer Gründung über eine Erlaubnis zur wirtschaftlichen Arbeitnehmerüberlassung nach dem AÜG. Sowohl die E als auch die F sind 100 %-ige Tochtergesellschaften der D-AG (D). Dieser ausdrücklich sachgrundlos befristete Arbeitsvertrag der A sah vor, dass sie zu unveränderten Arbeitsbedingungen für den bisherigen Stundenlohn in Höhe von 10 Euro weiterhin als Kundenbetreuerin beschäftigt werde, ihre Arbeitsleistung nunmehr jedoch im Rahmen von Arbeitnehmerüberlassung zu erbringen habe. Infolgedessen wurde A aufgrund einer Vereinbarung zwischen F und ihrem vorherigen Arbeitgeber E zunächst bis zum 31.12.2009 zur Arbeitsleistung überlassen. Am 12.11.2009 schlossen A und F einen weiteren, vom 1.1.2010 bis zum 31.12.2010 sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag, sowie F und E die entsprechende Überlassungsvereinbarung. Da die F mit der Arbeit von A zufrieden war, erhöhte sie in diesem Vertrag allerdings den Stundenlohn von 10 Euro auf 10,50 Euro. A wurde während der gesamten vierjährigen Dauer ihrer Arbeitsverhältnisse mit Unternehmen der D durchgängig auf ihrem früheren Arbeitsplatz bei der E und in unveränderter Funktion als Kundenbetreuerin eingesetzt. Am 13.1.2011 geht beim zuständigen Arbeitsgericht eine Klage der A ein, in der sie die Feststellung begehrt, dass das Arbeitsverhältnis mit der F nicht aufgrund Befristung zum 31.12.2010 beendet wurde. A vertritt die Auffassung, dass die sachgrundlosen Befristungen vom 5.12.2008 und 12.11.2009 wegen Verstoßes gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG unwirksam seien. Bei der E und der F handele es sich nämlich nur formal um zwei verschiedene Arbeitgeber. Immerhin seien beide Gesellschaften 100 %-ige Tochtergesellschaften der D. Jedenfalls sei aber die Konzernstruktur dazu missbraucht worden, um die sachgrundlose Befristung des ursprünglichen Arbeitsverhältnisses mit der E unter Umgehung von § 14 Abs. 2 TzBfG über zwei Jahre hinaus zu verlängern. Schließlich habe sie seit dem 1.1.2007 durchgängig auf demselben Arbeitsplatz bei der E gearbeitet. Selbst wenn das vorherige Arbeitsverhältnis mit der E als unschädlich für die mit der F geschlossenen Befristungsvereinbarungen angesehen würde, sei das Arbeitsverhältnis mit der F nicht aufgrund der Befristung zum 31.12.2010 beendet worden. Denn die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2009 könne keinesfalls als Vertragsverlängerung im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG angesehen werden, da durch die Änderung der Vertragsbedingungen der Vertrag vom 5.12.2008 nicht

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„Befristungen ohne Ende?“

Falldarstellung Fall 22

verlängert, sondern neu abgeschlossen worden sei. Demgegenüber macht die F geltend, dass die vorherige Beschäftigung der A bei E keinesfalls zu einem Verstoß der Befristung gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG führen könne, da die F und E rechtlich als voneinander völlig unabhängig zu betrachten seien. Deswegen könne von einer rechtsmissbräuchlichen Nutzung der durch die Konzernstruktur eröffneten Befristungsmöglichkeiten keine Rede sein. Eine „Rückleihe“ an den alten Arbeitgeber sei insofern eine vom Gesetz geduldete und damit zulässige Gestaltungsmöglichkeit. Darüber hinaus könne der Befristungsvereinbarung vom 12.11.2009 doch nicht deswegen der Charakter einer Verlängerung im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG abgesprochen werden, weil man A mit der Erhöhung der Vergütung etwas Gutes habe tun wollen. Frage: Wie wird das Arbeitsgericht entscheiden?

Abwandlung 1 Auch die B streitet mit ihrer Arbeitgeberin, der G-GmbH (G), darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis aufgrund Befristung zum 31.12.2010 beendet wurde. G betreibt eine Fabrik für Spezialwerkzeuge, die in der Luft- und Weltraumtechnik verwendet werden. B war bei der G im Zeitraum vom 1.1.2009 bis zum 31.12.2010 aufgrund zweier befristeter Arbeitsverträge beschäftigt. Zunächst war sie aufgrund eines befristeten Arbeitsvertrags vom 1.1.2009 bis einschließlich 1.10.2009 beschäftigt worden. Die Befristung wurde damit begründet, dass G beabsichtigte, ab dem 1.10.2009 die von B zu erledigenden Arbeiten aus Gründen der Personalkosteneinsparung nicht mehr von einem Stammarbeitnehmer, sondern von einem Leiharbeitnehmer durchführen zu lassen. Hierzu wollte die G ab dem 1.10.2009 einen Leiharbeitnehmer bei der F entleihen. Am 15.12.2009 vereinbarten B und G dennoch erneut schriftlich einen befristeten Arbeitsvertrag, der vom 1.1.2010 bis zum 31.12.2010 Bestand haben sollte. Grund hierfür war, dass G kurz nach Ablauf des ersten befristeten Arbeitsverhältnisses einen außerplanmäßigen und außerordentlich arbeitsintensiven Projektauftrag erhalten hatte, der bis Anfang 2011 verwirklicht sein musste, der sich allerdings nicht mit dem bestehenden Personalbestand bewältigen ließ. Auf einen Einsatz von Leiharbeitnehmern wollte die G nicht mehr zurückgreifen, da sie von der Arbeitsleistung des von der F entliehenen Arbeitnehmers nicht überzeugt gewesen war. In der beim zuständigen Arbeitsgericht bereits am 15.12.2010 eingegangenen Klage vertritt B die Ansicht, dass die Befristung des Arbeitsvertrags vom 15.12.2009 nicht gerechtfertigt ist. Es handele sich insofern um eine Befristung ohne ausreichenden sachlichen Grund. Zudem sei der zunächst befristete Projektauftrag mittlerweile vom Auftraggeber als Dauerauftrag an die G vergeben worden. Im Falle der Wirksamkeit der Befristung habe sie wegen des nunmehr weiterhin bestehenden Personalbedarfs zumindest einen Anspruch auf Wiedereinstellung gegenüber der G. Die G macht dahingegen geltend, dass die erste Befristung des Arbeitsvertrags lediglich verlängert worden sei, so dass es überhaupt keines Sachgrundes für die Befristungsabrede vom 15.12.2009 bedurft hätte. Die kurzzeitige Unterbrechung der Arbeit der B bei ihr könne insofern doch keinen Unterschied ausmachen. Abgesehen davon liege aber auch ein Sachgrund für die Befristung vor, weil die B lediglich wegen und für das Großprojekt eingestellt worden sei. Dass sich der Projektauftrag später zu einem Dauerprojekt gewandelt

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Fall 22 Falldarstellung

„Befristungen ohne Ende?“

habe, sei zuvor nicht abzusehen gewesen und könne deswegen auch keine Rolle spielen. Auch ein Wiedereinstellungsanspruch der B lasse sich nicht mit dem Wandel zum Dauerprojekt begründen. Frage: Wie wird das Arbeitsgericht entscheiden?

Abwandlung 2 Auch der E bereitet die Befristung eines Arbeitsverhältnisses Probleme. Mit C hatte sie sich am 15.12.2010 mündlich über dessen Einstellung und die Details des Arbeitsvertrags geeinigt. Insbesondere vereinbarten beide eine Befristung des Vertrags vom 1.1.2011 bis zum 30.10.2011, weil E die künftige Entwicklung der Auftragslage wegen der unsicheren Konjunktur- und Absatzentwicklung nicht ausreichend abschätzen könne. C nahm seine Arbeit am 4.1.2011 bei der E auf. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag wurde von C allerdings erst am 7.1.2011 unterzeichnet. Dieser sah als Ende des befristeten Arbeitsverhältnisses nunmehr allerdings den 31.12.2011 vor. Eine Woche nach Dienstantritt äußert C gegenüber der E nunmehr Zweifel bezüglich der Wirksamkeit der vereinbarten Befristung bis zum 31.12.2011. Zum einen sei die Befristung nicht durch einen Sachgrund gerechtfertigt. Zum anderen habe die mündliche Abrede vom 15.12.2010 das Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG nicht gewahrt. Daran könne auch die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags am 7.1.2011 nichts ändern. Dieser Mangel habe auch Auswirkungen auf den später unterzeichneten Vertrag. Die E hält die Einwände des C für unerheblich. Schon die mündliche Vereinbarung vom 15.12.2010 stelle eine wirksame Befristung dar. Denn die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags am 7.1.2011 habe als Bestätigung des mündlich vereinbarten Arbeitsvertrags im Sinne des § 141 BGB den ursprünglichen Formmangel nachträglich geheilt. Jedenfalls aber könne in der Unterzeichung des Arbeitsvertrags am 7.1.2011 ein Neuabschluss eines befristeten Arbeitsvertrags gesehen werden. Dies zeige bereits die Tatsache, dass eine Änderung der Befristungsdauer vorgenommen wurde. Die Befristung des Arbeitsvertrags sei darüber hinaus auch durch einen Sachgrund gerechtfertigt. Frage: Ist das Arbeitsverhältnis des C wirksam durch den Arbeitsvertrag vom 15.12.2010 oder den schriftlichen Arbeitsvertrag vom 7.1.2011 befristet worden?

Ü

372

Rechtsfragen: –

Entfristungsklage



Streitgegenstand der Entfristungsklage bei sog. Kettenbefristungen



Voraussetzungen der sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1, Halbs. 2 TzBfG



Anschlussverbot des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG: vertragsrechtlicher Arbeitgeberbegriff; fragliche rechtsmissbräuchliche Umgehung durch konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung; Auslegung des Tatbestandsmerkmals „zuvor“



Sachgrundlose Befristung durch „Verlängerung“ des Arbeitsvertrags i.S.d. § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG: Problem der Änderung von Vertragsbedingungen bei Abschluss der neuen Befristungsvereinbarung

„Befristungen ohne Ende?“

Lösungsskizze Fall 22



Sachgrundbefristung gemäß § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG, insbesondere die sog. Projektbefristung



Wiedereinstellungsanspruch



„Nachholung der Schriftform“ des § 14 Abs. 4 TzBfG

Lösungsskizze Ausgangsfall A. Zulässigkeit der Klage I. Rechtsweg und Zuständigkeit II. Statthafte Klageart Entfristungsklage gemäß § 17 S. 1 TzBfG III. Feststellungsinteresse Resultiert aus Gefahr der Präklusion gemäß § 17 S. 1, 2 TzBfG i.V.m. § 7 KSchG IV. Klagefrist Drei-Wochen-Frist des § 17 S. 1 i.V.m. § 7 KSchG ist lediglich eine materiellrechtliche Ausschlussfrist V. Partei- und Prozessfähigkeit VI. Zwischenergebnis B. Begründetheit der Klage I. Wirksame Begründung eines Arbeitsverhältnisses Rechtliche Beziehung zwischen Leiharbeitnehmer und sog. Verleiher ist das Arbeitsverhältnis i.S.d. § 611 BGB II. Wirksamkeit der Befristung des Arbeitsvertrags 1. Streitgegenstand: Befristung des letzten Arbeitsvertrags 2. Keine Präklusion nach § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG durch Wahrung der Klagefrist des § 17 S. 1 TzBfG 3. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG 4. Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 TzBfG a) Bestehen eines sachlichen Grundes für die Befristung gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG b) Sachgrundlose Befristung gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG aa) Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aufgrund der vorherigen Beschäftigung bei der E

373

Fall 22 Lösungsskizze

„Befristungen ohne Ende?“

„Derselbe Arbeitgeber“ i.S.v. § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG ist allein der Vertragsarbeitgeber, also diejenige natürliche oder juristische Person, die mit dem Arbeitnehmer den befristeten Arbeitsvertrag geschlossen hat Hier: (-), da F und E gemäß § 13 Abs. 1 GmbH selbstständige juristische Personen sind (1) Berücksichtigung des Konzernbezugs im Rahmen der Arbeitgeberstellung Nach BAG ändert auch die Konzernverbundenheit der Arbeitgeber nichts daran, dass ausschließlich eine vertragsrechtliche Betrachtung des Arbeitgeberbegriffs vorzunehmen ist (2) Rechtsmissbräuchliche Umgehung des Anschlussverbots? Umstritten ist, ob auch der Abschluss eines sachgrundlos befristeten Vertrags als rechtsmissbräuchlich anzusehen ist, wenn der ehemalige Arbeitnehmer eines Entleihers als Leiharbeitnehmer unter Beibehaltung seines Arbeitsplatzes zum Verleiher wechselt Nach BAG ist im Abschluss eines solchen befristeten Arbeitsvertrags unter Nutzung der vorliegenden Vertragsgestaltung keine gegen § 242 BGB verstoßende Umgehung des Anschlussverbots des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG (und damit auch nicht der Höchstbefristungsdauer des § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG) zu sehen (3) Zwischenergebnis Kein Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG durch vorherige Beschäftigung der A bei E (a.A. gut vertretbar) bb) Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aufgrund der vorherigen Befristungsvereinbarung vom 5.12.2008 Kein Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG, wenn Befristungsvereinbarung vom 5.12.2008 Verlängerung i.S.v. § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG wäre; insofern ist die Vertragsverlängerung vom Neuabschluss, der wegen eines vorangegangenen befristeten Arbeitsverhältnisses mit demselben Arbeitgeber nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG unzulässig wäre, abzugrenzen (1) Verlängerung des sachgrundlos befristeten Vertrags gemäß § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG Eine Vertragsverlängerung i.S.v. § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG setzt voraus, dass sich die Vertragslaufzeit des Folgevertrags unmittelbar an die Laufzeit des zu verlängernden Vertrags anschließt und die Verlängerung noch vor Ablauf der Vertragslaufzeit des zu verlängernden Vertrags vereinbart wird Hier: (+) (a) Auffassung des BAG Nach Auffassung des BAG bezieht sich eine Verlängerung darüber hinaus lediglich auf die Vertragslaufzeit, während eine inhaltliche Änderung der Vertragsbedingungen grundsätzlich mit dem Begriff der Verlängerung unvereinbar ist; da in der Befristungsvereinbarung vom 12.11.2009 der Stundenlohn der A erhöht wurde, liegt danach keine Verlängerung vor, sondern eine nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG unzulässige Vorbeschäftigung bei demselben Arbeitgeber

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„Befristungen ohne Ende?“

Lösungsskizze Fall 22

(b) Kritik Sichtweise des BAG ist weder durch den Gesetzeswortlaut noch durch den Zweck des § 14 Abs. 2 TzBfG gerechtfertigt, trotz der veränderten Vergütungsvereinbarung ist davon auszugehen, dass die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2009 eine Verlängerung i.S.v. § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG darstellt (2) Zwischenergebnis Befristung des Arbeitsverhältnisses vom 12.11.2009 verstößt nicht gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG, sondern erfüllt die Voraussetzungen einer durch § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG gerechtfertigten sachgrundlosen Befristung III. Ergebnis Die Klage der A ist unbegründet

Abwandlung 1 A. Zulässigkeit der Klage Besonderheit hier: neben dem Antrag nach § 17 S. 1 TzBfG begehrt B Wiedereinstellung für den Fall, dass die Befristung wirksam sein sollte; objektive Klagehäufung in Form eines Eventualklageverhältnisses ist als sog. innerprozessuale Bedingung zulässig (siehe auch § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 260 ZPO) B. Begründetheit der Klage I. Wirksamkeit der Befristung des Arbeitsvertrags 1. Streitgegenstand: Befristung des letzten Arbeitsvertrags 2. Keine Präklusion nach § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG durch Wahrung der Klagefrist des § 17 S. 1 TzBfG Klageerhebung vor dem vereinbarten Vertragsende ist für die Frist des § 17 S. 1 TzBfG unschädlich 3. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG 4. Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 TzBfG a) Sachgrundlose Befristung gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG aa) Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aufgrund der vorherigen Beschäftigung bei der G Da B bereits vom 1.1.2009 bis zum 1.10.2009 bei der G beschäftigt war, liegt ein Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG vor bb) Verlängerung des sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrags gemäß § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG Befristung vom 15.12.2009 stellt auch keine Verlängerung dar, da sich die Anschlussbefristung nicht ohne zeitliche Unterbrechung an den zu verlängernden Vertrag anschließt

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Fall 22 Lösungsskizze

„Befristungen ohne Ende?“

cc) Zwischenergebnis b) Bestehen eines sachlichen Grundes für die Befristung gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG Einschlägig ist § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG. Der projektbedingte personelle Arbeitskräftemehrbedarf stellt einen Befristungsgrund i.S.v. § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG dar. Die erforderliche Prognose im Zeitpunkt des Vertragsschlusses, dass aufgrund greifbarer Tatsachen mit einiger Sicherheit der Wegfall des Mehrbedarfs mit dem Auslaufen des befristeten Arbeitsverhältnisses zu erwarten ist, fiel positiv aus. Es war davon auszugehen, dass der Projektauftrag Anfang 2011 wegfällt. Dass sich die Prognose im Nachhinein als falsch erwiesen hat, ist unschädlich. 5. Ergebnis Der auf die Unwirksamkeit der Befristung bezogene Feststellungsantrag der B ist unbegründet II. Anspruch auf Wiedereinstellung nach Ablauf der Befristung? 1. Die Rechtsprechung des BAG zum Wiedereinstellungsanspruch bei betriebsbedingter Kündigung 2. Keine Übertragbarkeit der Grundsätze zum Wiedereinstellungsanspruch bei betriebsbedingter Kündigung auf befristete Arbeitsverhältnisse 3. Ergebnis B hat gegen das G auch keinen Anspruch aus § 242 BGB auf Wiedereinstellung III. Gesamtergebnis Klage der B somit insgesamt unbegründet

Abwandlung 2 A. Wirksame Befristung durch Arbeitsvertrag vom 15.12.2010 I. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG Mündliche Vereinbarung verstößt gegen § 14 Abs. 4 TzBfG i.V.m. § 126 Abs. 1, Abs. 2 BGB II. Heilung durch Bestätigung gemäß § 141 BGB? Keine Bestätigung der formnichtigen Befristungsabrede gemäß § 141 BGB; nach BAG keine unmittelbare Anwendung des § 141 Abs. 2 BGB (strittig); mündlich geschlossener Arbeitsvertrag ist – abgesehen von der Befristung – von Anfang an wirksam und bildet die rechtliche Grundlage für die daraus resultierenden Rechte und Pflichten der Parteien, § 16 S. 1 Halbs. 1 TzBfG; auch analoge Anwendung des § 141 Abs. 2 BGB muss nach Rechtsprechung des BAG wegen des Schutzzwecks des § 14 Abs. 4 TzBfG ausscheiden III. Ergebnis Befristungsabrede vom 15.12.2010 ist bereits wegen Verstoßes gegen § 14 Abs. 4 TzBfG unwirksam

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„Befristungen ohne Ende?“

Lösungsvorschlag Fall 22

B. Wirksame Befristung durch Arbeitsvertrag vom 7.1.2011 I. Auf Befristung des Arbeitsverhältnisses gerichtete beiderseitige Willenerklärungen Voraussetzung für eine (nachträgliche) Befristung ist, dass die Parteien übereinstimmende, auf diese Rechtsfolge gerichtete Willenserklärungen abgeben (Abgrenzung der bloßen Niederschrift der vorherigen mündlichen Abrede zur eigenständigen Befristungsvereinbarung); hier gegeben, da die Parteien vorliegend eine mündliche Befristungsabrede getroffen haben, die inhaltlich mit der in dem später unterzeichneten schriftlichen Arbeitsvertrag enthaltenen Befristung nicht übereinstimmt II. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG III. Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 TzBfG 1. Sachgrundlose Befristung gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG Durch Arbeitsaufnahme am 4.1.2011 ist ein Arbeitsverhältnis i.S.d. § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG zustande gekommen, das der sachgrundlosen Befristung des Arbeitsverhältnisses vom 7.1.2011 als Vorbeschäftigung entgegensteht 2. Bestehen eines sachlichen Grundes für die Befristung gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG greift nicht ein, da Arbeitgeber die gewöhnliche, durch allgemeine Bedarfsschwankungen begründete Unsicherheit über den zukünftigen Bedarf an Arbeitskräften, die zum typischen unternehmerischen Risiko gehört, nicht auf den Arbeitnehmer abwälzen darf IV. Ergebnis Befristungsabrede vom 7.1.2011 ist unwirksam C. Gesamtergebnis

Lösungsvorschlag Ausgangsfall Das Arbeitsgericht wird der Klage der A stattgeben, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit der Klage I. Rechtsweg und Zuständigkeit A wendet sich mit ihrer Klage vor dem laut Sachverhalt zuständigen Arbeitsgericht gegen die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der F aufgrund Befristung zum 31.12.2010. Somit ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG eröffnet, weil die Parteien über das Bestehen oder Nichtbestehen eines (befristeten) Arbeitsverhältnisses streiten.

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Fall 22 Lösungsvorschlag

„Befristungen ohne Ende?“

II. Statthafte Klageart Da A die Feststellung begehrt, dass ihr Arbeitsverhältnis mit der F nicht aufgrund Befristung zum 31.12.2010 beendet wurde, entspricht ihr Begehren einer sog. Entfristungsklage nach § 17 S. 1 TzBfG. Anmerkung: Es handelt sich bei der Entfristungsklage nach § 17 TzBfG ebenso wie bei der Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG um eine Klage mit punktuellem Streitgegenstand. Streitgegenstand ist allein die Wirksamkeit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund einer Befristungsabrede. Will der Kläger hingegen geltend machen, dass auch aus anderen Gründen ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht, z.B. aufgrund der Fiktion des § 15 Abs. 5 TzBfG, so muss er – wie im Verhältnis von Kündigungsschutzklage und allgemeiner Feststellungsklage – neben der Entfristungsklage eine allgemeine Feststellungsklage erheben, gerichtet auf die Feststellung, dass zwischen den Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht.1

III. Feststellungsinteresse Als besondere Art einer Feststellungsklage bedarf auch die Entfristungsklage grundsätzlich eines besonderen Feststellungsinteresses gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. §§ 495, Abs. 1, 256 Abs. 1 ZPO. Dieses ergibt sich bereits aus der Gefahr der Präklusion, welche für die Entfristungsklage aus § 17 S. 1, 2 TzBfG i.V.m. § 7 KSchG resultiert. IV. Klagefrist Darüber hinaus unterliegt die Entfristungsklage keiner prozessrechtlichen Klagefrist. Die Drei-Wochen-Frist des § 17 S. 1 TzBfG stellt insofern keine Zulässigkeitsvoraussetzung für die Klage dar. Auf Grund der Verweisung in § 17 S. 2 TzBfG auf § 7 KSchG ergibt sich, dass die Befristung „als von Anfang an rechtswirksam gilt“, wenn nicht innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 17 S. 1 TzBfG Klage erhoben wird. Mit der Rechtsfolge des § 7 KSchG wird damit gerade nicht die Verweigerung einer Sachentscheidung bezweckt, sondern lediglich die Einflussnahme der Drei-Wochen-Frist auf das Ergebnis der Sachentscheidung normiert. Die Klagefrist des § 17 S. 1 TzBfG stellt deshalb keine prozessuale Frist, sondern – wie die Parallelvorschrift des § 4 KSchG – eine materiell-rechtliche Präklusionsfrist dar, deren etwaige Versäumung nicht zur Unzulässigkeit, sondern zur Unbegründetheit der Klage führt.2 V. Partei- und Prozessfähigkeit Sowohl A als natürliche Person als auch die F-GmbH als juristische Person (vgl. § 13 Abs. 1 GmbHG) sind rechtsfähig und damit gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 50 Abs. 1 ZPO parteifähig. Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 51 Abs. 1 ZPO, § 35 Abs. 1 GmbHG muss sich die F im Prozess durch ihren Geschäftsführer vertreten lassen, während an der Geschäfts- und damit auch der Prozessfähigkeit der A keine Zweifel bestehen.

1 ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 17 TzBfG Rn. 2 m.w.N. 2 BAG 20.1.1999 NZA 1999, 671 zu § 1 Abs. 5 BeschFG a.F.

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„Befristungen ohne Ende?“

Lösungsvorschlag Fall 22

VI. Zwischenergebnis Anhaltspunkte dafür, dass die weiteren Sachentscheidungsvoraussetzungen für die Klage der A (etwa ordnungsgemäße Klageerhebung, anderweitige Rechtshängigkeit oder entgegenstehende Rechtskraft) nicht gegeben sein könnten, liegen nicht vor, so dass die Entfristungsklage der A zulässig ist. B. Begründetheit der Klage Die Klage der A ist begründet, wenn die Befristung des Arbeitsvertrags unwirksam ist. I. Wirksame Begründung eines Arbeitsverhältnisses A und F haben ein rechtswirksames (Leih-)Arbeitsverhältnis gemäß § 611 BGB begründet, nach welchem die A ihre Arbeitsleistung im Rahmen von Arbeitnehmerüberlassung zu erbringen hat. Eine etwaige Unwirksamkeit der Befristung berührt gemäß § 16 S. 1 Halbs. 1 TzBfG nicht die wirksame Begründung dieses Arbeitsverhältnisses. Anmerkung: Von Arbeitnehmerüberlassung spricht man, wenn ein Arbeitgeber (Verleiher) einem Dritten (Entleiher) seine Arbeitnehmer (Leiharbeitnehmer) vorübergehend zur Arbeitsleistung überlässt, vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 AÜG. Eine arbeitsvertragliche Beziehung zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer wird dabei allerdings nicht begründet (Umkehrschluss aus § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG). Ein Vertragsverhältnis besteht vielmehr nur zwischen dem Verleiher und dem Leiharbeitnehmer in Form eines Arbeitsvertrags sowie zwischen dem Entleiher und dem Verleiher (sog. Arbeitnehmerüberlassungsvertrag, der einen Vertragstyp sui generis als Unterfall eines Dienstverschaffungsvertrags darstellt). Wie das Verhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer genau zu qualifizieren ist, ist umstritten, für den vorliegenden Fall aber nicht weiter bedeutsam, vgl. hierzu PREIS, Individualarbeitsrecht, § 10 VI 1.

II. Wirksamkeit der Befristung des Arbeitsvertrags Die Befristung des Arbeitsverhältnisses wäre wirksam, wenn A die Befristung nicht innerhalb der Frist des § 17 S. 1 TzBfG angegriffen hätte, die Schriftform des § 14 Abs. 4 TzBfG gewahrt worden wäre und der Befristung entweder ein Sachgrund nach § 14 Abs. 1 TzBfG bzw. die Voraussetzungen einer sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG zugrunde gelegen hätten. 1. Streitgegenstand: Befristung des letzten Arbeitsvertrags Da vorliegend mehrere Befristungsabreden getroffen wurden und die A sich darüber hinaus in der Klagebegründung auf die Unwirksamkeit sowohl der Befristung vom 5.12.2008 als auch vom 12.11.2009 beruft, ist für die nachfolgende Prüfung zunächst entscheidend, auf welche Befristungsabreden sich die Kontrolle durch die Entfristungsklage bezieht. Für sog. Kettenbefristungen stellt sich insofern die Frage, ob die Wirksamkeit aller in einer ununterbrochenen Reihe geschlossenen Verträge zu überprüfen ist, oder ob es genügt, dass der letzte Vertrag die sachliche Rechtfertigung in sich trägt. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist bei mehreren aufeinander folgenden, befristeten Arbeitsverträgen grundsätzlich nur die Befristung des letzten Ar-

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Fall 22 Lösungsvorschlag

„Befristungen ohne Ende?“

beitsvertrags im Rahmen der arbeitsgerichtlichen Befristungskontrolle auf ihre sachliche Rechtfertigung hin zu prüfen.3 Durch den Abschluss eines weiteren befristeten Arbeitsvertrags stellten die Parteien ihr Arbeitsverhältnis auf eine neue Rechtsgrundlage, die künftig für ihre Rechtsbeziehung allein maßgebend sein soll. Damit werde aber zugleich ein eventuell bestehendes unbefristetes Arbeitsverhältnis aufgehoben. Denn der Abschluss eines neuen, befristeten Vertrags zeige, dass die Beteiligten selbst nicht davon ausgingen, dass bereits ein wirksames, unbefristetes Arbeitsverhältnis zwischen ihnen besteht. Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass nur die zuletzt vereinbarte Befristung auf ihre Rechtswirksamkeit hin zu prüfen sei, lässt das BAG allerdings dann zu, wenn die Vertragsparteien in einem nachfolgenden befristeten Vertrag dem Arbeitnehmer das Recht vorbehalten haben, die Wirksamkeit der vorangegangenen Befristung überprüfen zu lassen.4 In diesem Fall sei die arbeitsgerichtliche Befristungskontrolle auch für den davor liegenden Vertrag eröffnet. Anmerkung 1: Dazu genügt nach Ansicht des BAG allerdings nicht schon ein einseitig erklärter Vorbehalt des Arbeitnehmers. Eine Befristungskontrolle des vorangegangenen Vertrags finde vielmehr nur dann statt, wenn die Parteien den Folgevertrag unter dem Vorbehalt abgeschlossen haben, dass zwischen ihnen nicht bereits ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht.5 Der Vorbehalt muss somit vertraglich vereinbart sein. Anmerkung 2: Die Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf den letzten Arbeitsvertrag wird insbesondere in der Literatur stark kritisiert.6 Durch die Ausblendung aller vorherigen Umstände der Vertragsbeziehung wird häufig kein wirklichkeitsgetreues Bild erzeugt. Gerade bei viele Jahre andauernden Befristungsketten können sich Zweifel daran einstellen, dass an dieser Stelle noch eine die Befristung rechtfertigende Überbrückungssituation vorliegt. Hierauf hat das BAG reagiert und Ende 2010 zwei Verfahren ausgesetzt7 und dem EuGH nach Art. 267 AEUV u.a. die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob diese Beschränkung der Kontrolle auf den letzten Arbeitsvertrag bei Vorliegen mehrjähriger Befristungsketten mit der Vorgabe der Sozialpartnerrahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der RL 1999/70/EG, nämlich der Verhinderung von Missbrauch durch aufeinanderfolgende Befristungen, vereinbar ist. Der EuGH entschied in der vielbeachteten Rechtssache Kücük, dass eine formale Beschränkung der Kontrolle auf das letzte Arbeitsverhältnis mit Unionsrecht im Einklang stehe, es gleichwohl angezeigt sein könne, insbesondere Anzahl und Dauer vorangegangener Befristungen mit in die Kontrolle einzubeziehen.8 Die formale Beschränkung auf den letzten Arbeitsvertrag ist 3 Vgl. nur BAG 8.5.1985 AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 97; BAG 4.6.2003 NZA-RR 2003, 621, 623; BAG 16.11.2005 NZA 2006, 785; BAG 18.6.2008 NZA 2009, 35. Angesichts der materiellen Präklusionsfrist des § 1 Abs. 5 BeschFG a. F. (nunmehr: § 17 S. 1, S. 2 TzBfG) zweifelnd wohl BAG 26.7.2000 NZA 2001 264, 265; vgl. auch PREIS, Individualarbeitsrecht, § 70 II 1g. 4 BAG 16.11.2005 NZA 2006, 785, 787; BAG 18.6.2008 NZA 2009, 35. 5 BAG 4.6.2003 NZA-RR 2003, 621, 623; BAG 16.11.2005 NZA 2006, 785, 787. 6 APS/BACKHAUS § 14 TzBfG Rn. 57 ff.; KR/LIPKE § 14 TzBfG Rn. 52 ff.; Laux/Schlachter/SCHLACHTER § 14 TzBfG Rn. 17 f.; Staudinger/PREIS Neubearbeitung 2012, § 620 BGB Rn. 41, 54; BROSE NZA 2009, 706, 709 f.; PREIS/GREINER RdA 2010, 148, 156 f. 7 BAG 27.10.2010 NZA-RR 2011, 272 (zwischenzeitlich wegen Erledigung eingestellt); BAG 17.11.2010 NZA 2011, 34. 8 EuGH 26.1.2012 NZA 2012, 135, 138 – „Kücük“.

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„Befristungen ohne Ende?“

Lösungsvorschlag Fall 22

insbesondere wegen § 17 S. 1 TzBfG nicht zu beanstanden. Es ist nun Aufgabe des BAG, die Vorgaben des EuGH in nationales Recht umzusetzen. Eine rechtsbeständige Anweisung zur Klausurlösung kann daher an dieser Stelle noch nicht gegeben werden. Es gilt, die Rechtsprechung des BAG in dieser Sache zu verfolgen.9

Streitgegenstand der Klage der A ist mangels Anhaltspunkten für einen solchen Vorbehalt somit ausschließlich die Befristung des letzten Arbeitsvertrags vom 12.11.2009, während die vorhergehenden Arbeitsverträge nicht der Befristungskontrolle unterliegen. Dies ergibt sich im Übrigen auch daraus, dass der A wegen Ablaufs der Klagefrist des § 17 S. 1 TzBfG die Berufung auf die Unwirksamkeit der früheren Befristung vom 5.12.2008 gemäß § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG ohnehin verwehrt wäre. Insoweit bestätigt § 17 TzBfG (wie schon die Vorgängernorm des § 1 Abs. 5 BeschFG 1996 a. F.) die dargestellte Rechtsprechung des BAG, welche die Befristungskontrolle bei sog. Kettenbefristungen auf den zuletzt befristeten Arbeitsvertrag beschränkt. 2. Keine Präklusion nach § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG durch Wahrung der Klagefrist des § 17 S. 1 TzBfG Damit A die Unwirksamkeit der Befristung vom 12.11.2009 zum 31.12.2010 geltend machen kann, müsste sie die auf Feststellung des trotz Befristung nicht beendeten Arbeitsverhältnisses gerichtete Klage nach § 17 S. 1 TzBfG innerhalb von drei Wochen nach dem vereinbarten Ende des befristeten Arbeitsvertrags erhoben haben. Vorliegend hat A ihre Klage am 13.1.2011 und damit innerhalb von drei Wochen nach dem vereinbarten Vertragsende zum 31.12.2010 erhoben (§§ 253, 261 ZPO). Folglich ist A hinsichtlich des Vortrags etwaiger Unwirksamkeitsgründe nicht materiell gemäß § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG präkludiert. Anmerkung: Anders als bei der Kündigungsschutzklage ist die Klagefrist im Rahmen der Entfristungsklage bei allen Unwirksamkeitsgründen einzuhalten, also auch dann, wenn die Unwirksamkeit der Befristung wegen fehlender Schriftform (§§ 14 Abs. 4, 16 TzBfG) geltend gemacht wird.10

3. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG Laut Sachverhalt wurde die nach § 14 Abs. 4 TzBfG für die Befristungsvereinbarung erforderliche Schriftform im Sinne des § 126 Abs. 1, Abs. 2 BGB gewahrt. 4. Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 TzBfG Nach § 14 Abs. 1 TzBfG wäre die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2009 grundsätzlich nur wirksam, wenn sie durch einen ausreichenden sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Liegt kein solcher Sachgrund für die Befristung vor, könnte die Befristung allerdings auch ohne sachlichen Grund unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 TzBfG zulässig sein. Anmerkung: Seit Inkrafttreten des TzBfG kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass das Erfordernis eines Sachgrundes für die Befristung entfällt, wenn die Anwendbarkeitsvoraussetzungen des KSchG nach §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG nicht 9 Zu den zahlreichen Vorschlägen in der Literatur siehe statt vieler PREIS/LOTH EzA § 14 TzBfG Nr. 80 m.w.N. 10 ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 17 TzBfG Rn. 11; PREIS, Individualarbeitsrecht, § 70 II 1 g.

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Fall 22 Lösungsvorschlag

„Befristungen ohne Ende?“

vorliegen. Vor Inkrafttreten des TzBfG wurde die Befristung hingegen als Möglichkeit, die Normen des zwingenden Kündigungsschutzrechts zu umgehen, angesehen und lediglich aus diesem Grund davon abhängig gemacht, dass für die Befristungsvereinbarung ein „sachlicher Grund“ bestand.11 Diese sog. Umgehungstheorie des BAG hatte jedoch zur Folge, dass – sofern nicht ein gesetzlicher Sonderkündigungsschutz anwendbar war – die Befristungskontrolle an den allgemeinen Kündigungsschutz gekoppelt war. Keines sachlichen Grundes bedurften daher befristete Arbeitsverhältnisse in Kleinbetrieben mit fünf oder weniger Arbeitnehmern, in denen das KSchG gemäß § 23 Abs. 1 a. F. nicht anzuwenden war, oder wenn lediglich eine Befristungsdauer von bis zu sechs Monaten vorgesehen war (vgl. § 1 Abs. 1 KSchG).12 Da diese Einschränkungen im Gesetzeswortlaut des TzBfG jedoch keinen Niederschlag gefunden haben, sind befristete Arbeitsverhältnisse seit Inkrafttreten des TzBfG unabhängig von ihrer Dauer und der Betriebsgröße anhand der §§ 14 ff. TzBfG zu beurteilen.13

a) Bestehen eines sachlichen Grundes für die Befristung gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG Eine Befristung nach § 14 Abs. 1 TzBfG kommt vorliegend nicht in Betracht. Nach dem Wortlaut des § 14 Abs. 1 TzBfG, der den Begriff des sachlichen Grundes zwar nicht näher definiert, im Katalog des § 14 Abs. 1 S. 2 TzBfG jedoch nicht abschließend („insbesondere“) Beispiele solcher Sachgründe aufzählt, ist das Bestehen des Sachgrunds eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Befristung. Hieraus resultiert, dass derjenige die Darlegungs- und Beweislast trägt, der sich auf die Wirksamkeit der Befristung beruft.14 Da die F sich nicht auf das Vorliegen eines Sachgrunds im Sinne des § 14 Abs. 1 TzBfG beruft, ist sie dieser Darlegungs- und Beweislast nicht nachgekommen, so dass eine Befristung nach § 14 Abs. 1 TzBfG bereits aus diesem Grund ausscheidet. Anmerkung: Damit war auf die vielfältigen Probleme der Befristung von Leiharbeitsverhältnissen aus sachlichen Gründen, deren Kenntnis von Kandidaten des Ersten Staatsexamens nicht erwartet wird, nicht einzugehen.15

b) Sachgrundlose Befristung gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG Da es sich vorliegend um eine kalendermäßige Befristung (vgl. die Definition des § 3 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 TzBfG) handelt, könnte die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2009 jedoch auch ohne sachlichen Grund nach Maßgabe des § 14 Abs. 2, Abs. 2a, Abs. 3 TzBfG wirksam gewesen sein. Allerdings kommt vorliegend weder eine Anwendung des § 14 Abs. 2a TzBfG in Betracht (die F ist bereits vor fünf Jahren gegründet worden), noch des § 14 Abs. 3 TzBfG (Angaben zum Alter der A sind nicht vorgegeben), so dass lediglich § 14 Abs. 2 TzBfG eingreifen könnte. Nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG ist die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig. Bis zu dieser Gesamtdauer ist die höchstens dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrags nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG möglich. Eine Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG wäre jedoch 11 12 13 14 15

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BAG 12.10.1960 AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 16. LAG Bremen 17.3.1995 AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 175. BAG 6.11.2003 NZA 2005, 218, 219; anderer Ansicht SCHIEFER DB 2000, 2121. ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 17 TzBfG Rn. 13 f. Vgl. überblicksartig DÜWELL/DAHL NZA 2007, 889 ff.

„Befristungen ohne Ende?“

Lösungsvorschlag Fall 22

bereits dann unzulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat, § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. aa) Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aufgrund der vorherigen Beschäftigung bei der E Eine solche unzulässige Vorbeschäftigung könnte darin zu sehen sein, dass A bei der E aufgrund des schriftlich geschlossenen und bis zum 31.12.2008 befristeten Arbeitsvertrags vom 1.1.2007 an als Kundenbetreuerin beschäftigt war. § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG setzt allerdings voraus, dass die Beschäftigung auch bei „demselben Arbeitgeber“ erfolgt ist. Die A macht insofern geltend, dass es sich bei ihrem vorherigen Arbeitgeber E und der F nur formal um zwei verschiedene Arbeitgeber handelt. Arbeitgeber im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG ist jedoch allein der Vertragsarbeitgeber, also diejenige natürliche oder juristische Person, die mit dem Arbeitnehmer den befristeten Arbeitsvertrag geschlossen hat.16 Maßgeblich ist somit entgegen der Sichtweise der A die „formale“ Betrachtung anhand des vertragsrechtlichen Arbeitgeberbegriffs.17 Da sowohl die E als auch die F gemäß § 13 Abs. 1 GmbH als eigenständige juristische Personen anzusehen sind und Arbeitgeber des Leiharbeitnehmers einzig der Verleiher ist (s. o.), stellt die Beschäftigung der A bei der E daher keine der Befristungsvereinbarung vom 12.11.2009 entgegenstehende Vorbeschäftigung im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG bei „demselben Arbeitgeber“ dar. Insofern ist es für die Beurteilung des Tatbestandsmerkmals „derselbe Arbeitgeber“ bedeutungslos, wenn ein Arbeitnehmer wie die A in demselben Betrieb oder Betriebsteil schon einmal bei einem anderen Arbeitgeber beschäftigt gewesen ist.18 Das Anschlussverbot des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG ist insofern arbeitgeber- und nicht betriebsbezogen. Anmerkung: Die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG liegen sogar dann nicht vor, wenn der jetzige Arbeitgeber den Betrieb bzw. Betriebsteil erst vom ehemaligen Arbeitgeber übernommen hat, nachdem das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer beendet wurde.19 Da es sich bei der Vorbeschäftigung im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG um ein Arbeitsverhältnis handeln muss, sind vorangegangene Tätigkeiten bei demselben Arbeitgeber als freier Mitarbeiter oder Beamter unschädlich. Auch das Berufsausbildungsverhältnis im Sinne von § 3 BBiG ist kein vorangegangenes Arbeitsverhältnis nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG.20 Ebenso wenig schließt die frühere Beschäftigung als Praktikant, Volontär oder Umschüler eine sachgrundlose Erstbefristung nach Abs. 2 aus, wenn die Vordienstzeit in keinem Arbeitsverhältnis verbracht wurde.21 Handelte

16 BAG 10.11.2004 NZA 2005, 514; BAG 18.10.2006 NZA 2007, 443 ff.; so schon zur Vorgängerregelung in § 1 Abs. 3 BeschFG 1996 BAG 25.4.2001 AP BeschFG 1996 § 1 Nr. 10. 17 Vgl. auch ErfK/MÜLLER-GLÖGE § 14 TzBfG Rn. 93 m.w.N. 18 BAG 10.11.2004 NZA 2005, 514, 515 f.; BAG 18.10.2006 NZA 2007, 443, 444 f. 19 BAG 10.11.2004 NZA 2005, 514, 515 f. 20 BAG 21.9.2011 NZA 2012, 255, 256. 21 BAG 19.10.2005 AP TzBfG § 14 Nr. 19.

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Fall 22 Lösungsvorschlag

„Befristungen ohne Ende?“

es sich aber in Wahrheit um ein echtes Arbeitsverhältnis, ist eine sachgrundlose Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG ausgeschlossen.

(1) Berücksichtigung des Konzernbezugs im Rahmen der Arbeitgeberstellung Fraglich ist, ob es sich bei E und F deshalb um „denselben Arbeitgeber“ gemäß § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG handeln könnte, weil beide 100 %-ige Tochtergesellschaften der D-AG sind. Nach der Rechtsprechung des BAG ändert jedoch auch die Konzernverbundenheit der Arbeitgeber nichts daran, dass ausschließlich eine vertragsrechtliche Betrachtung des Arbeitgeberbegriffs im Rahmen des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG vorzunehmen ist.22 Das TzBfG habe insofern gegenüber der Vorgängerregelung im BeschFG 1996 hinsichtlich des Merkmals des Arbeitgebers keine Änderung erfahren. Wie im zeitlichen Geltungsbereich der Vorgängerregelung habe der Gesetzgeber des TzBfG für die Zulässigkeit der sachgrundlosen Befristung lediglich auf das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses mit dem Arbeitgeber abgestellt. Eine mögliche Anknüpfung an die vorherige Tätigkeit des Arbeitnehmers in dem Betrieb oder für dessen Betriebsinhaber sowie an die Unternehmens- bzw. Konzernzugehörigkeit sei aber gerade unterblieben. Aus diesem Grund müsse es auch ohne Bedeutung sein, ob die Vorbeschäftigung konzerndimensionalen Charakter hatte und einen Einsatz in einem Konzernunternehmen ermöglicht hat. Somit kann eine unzulässige Vorbeschäftigung der A nicht bereits aus der Konzernverbundenheit der E und F hergeleitet werden. Anmerkung: Andere Ansicht mit entsprechender Begründung vertretbar.23 Dass für die Beschäftigungszeit der A bei E und F auch nicht auf den Konzern D selbst als Arbeitgeber im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG zurückgegriffen werden kann, resultiert bereits daraus, dass Konzerne gemäß § 18 Abs. 1 Abs. 2 AktG lediglich Zusammenfassungen mehrerer rechtlich selbstständiger Unternehmen unter einer einheitlichen Leitung darstellen. Mangels eigener Rechtsträgereigenschaft kann ein Konzern hingegen nicht Vertragspartner und damit Arbeitgeber sein.24

(2) Rechtsmissbräuchliche Umgehung des Anschlussverbots? Allerdings fragt sich, ob die zwischen der E, F und A gewählte Vertragsgestaltung als rechtsmissbräuchliche Umgehung des Anschlussverbots gemäß § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG (und damit zugleich der in § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG enthaltenen Höchstbefristungsdauer) anzusehen ist. Zweifel resultieren vorliegend daraus, dass A während der gesamten vierjährigen Dauer ihrer Arbeitsverhältnisse mit Unternehmen der D durchgängig auf ihrem früheren Arbeitsplatz bei der E und in unveränderter Funktion als Kundenbetreuerin eingesetzt wurde, wobei ihre Beschäftigung auf dem Arbeitsplatz bei der E lediglich zwei Jahre lang aufgrund von Arbeitnehmerüberlassung erfolgte.

22 BAG 18.10.2006 NZA 2007, 443, 444 f. 23 Anderer Ansicht etwa STRAUB NZA 2001, 919, 927; vgl. auch KDZ/DÄUBLER, KSchR, § 14 TzBfG Rn. 162, die jedenfalls für den Fall, dass innerhalb eines Konzerns oder einer anderen Gruppe verbundener Unternehmen die Personalentscheidungen von einer Stelle getroffen werden, eine erweiternde Auslegung des Begriffs „derselbe Arbeitsgeber“ verlangen. 24 HENSSLER, Der Arbeitsvertrag im Konzern, S. 38.

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„Befristungen ohne Ende?“

Lösungsvorschlag Fall 22

Wie schon bezüglich § 1 BeschFG 1996 bzw. 1985 erkennt die Rechtsprechung hinsichtlich § 14 Abs. 2 TzBfG an, dass die Ausnutzung der durch das TzBfG eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten zur sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen unter bestimmten Voraussetzungen gegen § 242 BGB verstoßen und deshalb rechtsmissbräuchlich sein kann, da der Grundsatz von Treu und Glauben als Gebot der Redlichkeit und als allgemeine Schranke der Rechtsausübung eine allen Rechten, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung bildet.25 Eine gegen § 242 BGB verstoßende Rechtsausübung oder Ausnutzung einer Rechtslage ist dabei immer dann als missbräuchliche Rechtsüberschreitung anzusehen, wenn sie zu einem mit Treu und Glauben unvereinbaren, schlechthin untragbaren Ergebnis führt.26 Dies ist unter anderem der Fall, wenn ein Vertragspartner auf eine für sich genommen rechtlich zulässige Gestaltung in einer mit Treu und Glauben unvereinbaren Weise zu dem alleinigen Zweck zurückgreift, sich zum Nachteil des Vertragspartners Vorteile zu verschaffen, die nach dem Normzweck nicht vorgesehen sind. Eine solche missbräuchliche, dem Zweck des § 14 Abs. 2 TzBfG widersprechende Vertragsgestaltung hat das BAG beispielsweise angenommen, wenn mehrere rechtlich und tatsächlich verbundene Vertragsarbeitgeber in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken abwechselnd mit demselben Arbeitnehmer befristete Arbeitsverträge geschlossen haben, eine Befristung des Arbeitsvertrags ohne Sachgrund ohne Auswechslung des Arbeitgebers nicht mehr möglich gewesen wäre und der Arbeitgeberwechsel ausschließlich erfolgt ist, um auf diese Weise über die gesetzlich vorgesehenen Befristungsmöglichkeiten hinaus sachgrundlose Befristungen aneinanderreihen zu können. Einen Rechtsmissbrauch hat das BAG hingegen verneint, wenn für den Austausch des Vertragsarbeitgebers andere, rechtlich nicht zu missbilligende Gründe maßgeblich waren.27 Fraglich ist, ob der Abschluss eines sachgrundlos befristeten Vertrags als rechtsmissbräuchlich anzusehen ist, wenn der ehemalige Arbeitnehmer eines Entleihers als Leiharbeitnehmer unter Beibehaltung seines Arbeitsplatzes zum Verleiher wechselt, wie es vorliegend geschehen ist. Nach Ansicht des BAG kommt es auch in diesen Fällen auf die Umgehungsabsicht der Parteien an. Die Tatsache, dass der Vertrag mit dem Verleihunternehmen nur zu dem Zweck geschlossen wurde, den Arbeitgeber mittels Arbeitnehmerüberlassung wieder auf demselben Arbeitsplatz wie bisher einzusetzen, genügt noch nicht, ein solches kollusives Zusammenwirken anzunehmen. 28 Hinzukommen müsste vielmehr, dass es den Parteien gerade darauf ankam, die Bestimmungen des § 14 Abs. 2 TzBfG zu umgehen. Ein Indiz hierfür kann z.B. sein, dass die Arbeitnehmerüberlassung nach Erreichen der Höchstbefristungsdauer vereinbart wurde.29 Hier hätte der vom 1.1.2007 bis 31.12.2008 dauernde Vertrag zwischen A und E nicht erneut sachgrundlos befristet werden können. Dies alleine genügt jedoch nicht, einen gegen § 242 BGB verstoßenden Rechtsmissbrauch anzunehmen. Es müssten darüber hinaus weitere Missbrauchsindizien vorliegen. Insbesondere die Umstände, dass 25 BAG 9.3.2011 NZA 2011, 1147, 1149 f.; BAG 18.10.2006 NZA 2007, 443, 444 f.; vgl. zu § 1 BeschFG etwa BAG 25.4.2001 NZA 2001, 1384, 1385 f. 26 Palandt/GRÜNEBERG § 242 BGB Rn. 40. 27 BAG 25.4.2001 NZA 2001, 1384, 1386. 28 BAG 9.3.2011 NZA 2011, 1147, 1150. 29 BAG 9.3.2011 NZA 2011, 1147, 1150.

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Fall 22 Lösungsvorschlag

„Befristungen ohne Ende?“

für den Arbeitnehmer erkennbar ist, dass ein Wechsel des Vertragsarbeitgebers vollzogen wird und das neue Beschäftigungsverhältnis im Rahmen von Arbeitnehmerüberlassung erfolgt, sollen einem Missbrauch entgegenstehen.30 Hinzu kommt, dass die von den beteiligten Arbeitgebern gewählte Verfahrensweise der „Rücküberlassung“ für sich genommen weder gegen die für die Arbeitnehmerüberlassung geltenden Vorschriften des AÜG31 noch gegen § 14 Abs. 2 TzBfG verstieße. Das BAG erkennt in diesem Zusammenhang zwar an, dass die Beschäftigung eines Arbeitnehmers bei einem Arbeitgeber im Rahmen von zwei sachgrundlos befristeten Arbeitsverträgen über einen Zeitraum von insgesamt vier Jahren nicht der vom Gesetzgeber mit § 14 Abs. 2 TzBfG verfolgten beschäftigungspolitischen Zielsetzung entspricht.32 Dennoch könne eine Unwirksamkeit der Befristung wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben nicht angenommen werden. Aus der Entstehungsgeschichte des § 14 Abs. 2 TzBfG sei nämlich kein gesetzgeberischer Wille dahingehend erkennbar, die sachgrundlose Befristung mit einem erlaubt tätigen Verleiher bei einem vorherigen Einsatz des Arbeitnehmers im bisherigen Einsatzbetrieb beschränken zu wollen. Der Gesetzgeber habe für die Zulässigkeit der sachgrundlosen Befristung gerade nicht auf die vorherige Beschäftigung in einem Betrieb oder für einen Betriebsinhaber, sondern nur auf den rechtlichen Bestand eines Arbeitsverhältnisses mit dem Vertragsarbeitgeber abgestellt.33 Auch aus einer Beschäftigungsdauer von vier Jahren auf demselben Arbeitsplatz lasse sich letztlich nichts anderes herleiten, denn der Gesetzgeber habe in anderen Fällen – das BAG verweist insofern auf die Regelung des § 14 Abs. 2a TzBfG – einen solchen zeitlichen Rahmen für eine sachgrundlose Befristung zugelassen. Jedenfalls bis zu dieser zeitlichen Grenze kann die Ausnutzung der durch § 14 Abs. 4 TzBfG und das AÜG eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten regelmäßig nicht als rechtsmissbräuchlich angesehen werden.34 Ein Rechtsmissbrauch könnte nach Ansicht des BAG allerdings beim Hinzutreten weiterer Umstände anzunehmen sein, etwa bei einer länger als vierjährigen Beschäftigung für einen Arbeitgeber wie zum Beispiel durch den Abschluss eines weiteren sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrags mit einem dritten Arbeitgeber.35 Danach begründet im vorliegenden Fall der „Rücküberlassung“ die vorherige Beschäftigung der A bei der E grundsätzlich weder einen Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG (und der Höchstbefristungsdauer des § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG) noch eine nach § 242 BGB unzulässige Umgehung dieser Vorschrift, da die vom BAG für maßgeblich erachtete Vier-Jahres-Grenze des § 14 Abs. 2a TzBfG nicht erreicht wurde.

30 BAG 9.3.2011 NZA 2011, 1147, 1150. 31 Allerdings ist auch die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung nicht ganz unproblematisch. Besonders strittig ist insofern, ob die dauerhafte einmalige Arbeitnehmerüberlassung durch ausschließlich konzernintern tätige Verleihunternehmen mit dem geltenden AÜG vereinbar ist. Befürwortend MELMS/LIPINSKI BB 2004, 2409 ff.; ablehnend BRORS/SCHÜREN BB 2004, 2745 ff. 32 BAG 18.10.2006 NZA 2007, 443, 445. 33 BAG 18.10.2006 NZA 2007, 443, 445 f. 34 Siehe die ähnlich gelagerten Fälle BAG 18.10.2006 NZA 2007, 443, 445 f.; bestätigt durch BAG 17.1.2007 NZA 2007, 566, 570; BAG 9.3.2011 NZA 2011, 1147, 1149. 35 BAG 18.10.2006 NZA 2007, 443, 446.

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„Befristungen ohne Ende?“

Lösungsvorschlag Fall 22

Anmerkung: Eine andere Ansicht ist an dieser Stelle gut vertretbar.36 Hierzu hätte der Bearbeiter den Sinn und Zweck des Gesetzes heranziehen können, der Ausgangspunkt für die Betrachtung des Rechtsmissbrauchs ist. Dieser liegt, wie das BAG selbst anerkennt, schwerpunktmäßig in einer beschäftigungspolitischen Zielsetzung.37 Die Vorschrift soll nach dem Willen des Gesetzgebers nicht nur den Schutz befristet beschäftigter Arbeitnehmer verbessern und einen flexibleren Arbeitskräfteeinsatz für Arbeitgeber ermöglichen, sondern für befristet beschäftigte Arbeitnehmer vor allem als Alternative zur Arbeitslosigkeit eine Brücke zur Dauerbeschäftigung bilden.38 Deswegen will die Regelung in § 14 Abs. 2 S. 1 und S. 2 TzBfG den Arbeitgeber dazu veranlassen, den Arbeitnehmer nach Ausschöpfung der Möglichkeit zur sachgrundlosen Befristung entweder unbefristet bzw. im Rahmen einer Sachgrundbefristung weiterzubeschäftigen oder bei weiter bestehendem vorübergehenden Arbeitskräftebedarf einen anderen Arbeitnehmer befristet einzustellen.39 Gerade dieser von § 14 Abs. 2 TzBfG bezweckten Entscheidung entledigt sich der Arbeitgeber jedoch, wenn er den Arbeitnehmer nach Ablauf der Befristungsdauer als Entleiher auf demselben Arbeitsplatz weiterbeschäftigen kann. Eine darüber hinausgehende Flexibilisierung des vorübergehenden Arbeitskräftebedarfs in zeitlicher Hinsicht hat der Gesetzgeber aber gerade nur unter den im Streitfall nicht vorliegenden Voraussetzungen des § 14 Abs. 2a bzw. Abs. 3 TzBfG sowie § 14 Abs. 2 S. 3 TzBfG ermöglichen wollen. Vor diesem Hintergrund ist insbesondere der Verweis des BAG auf die Befristungsdauer des § 14 Abs. 2a TzBfG nur wenig überzeugend.40 Da dieser nur einen Ausnahmetatbestand für Existenzgründer normiert, erscheint dessen Wertung nicht verallgemeinerungsfähig,41 jedenfalls nicht unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks der allgemeinen Regelung des § 14 Abs. 2 TzBfG. Überzeugender dürfte insofern sein, aus § 14 Abs. 2a TzBfG den Umkehrschluss zu ziehen, dass eine Überschreitung des Zwei-Jahres-Zeitraums ausschließlich in dem dort normierten Ausnahmefall mit seiner ganz spezifischen Interessenlage zulässig sein soll.42 Darüber hinaus konnte der Bearbeiter für eine rechtsmissbräuchliche Umgehung mit dem Konzernbezug argumentieren, welcher zwar im Rahmen des Begriffs „desselben Arbeitgebers“ unbeachtlich ist. Die faktische Nähe der beiden Arbeitgeber konnte aber als Indiz für eine Umgehung des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG gewertet werden.43 Wurde entgegen dem BAG in der gewählten Vertragsgestaltung eine rechtsmissbräuchliche und damit unzulässige Umgehung des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG gesehen, stellt sich die Frage nach den Rechtsfolgen.44 Klar dürfte insoweit sein, dass die Befristung zum 31.12.2010 rechtsunwirksam wäre und gemäß § 16 S. 1 Halbs. 1 TzBfG ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit zustande kommt. Der Bearbeiter hätte sich dann allerdings fragen können, mit wem dieses Arbeitsverhältnis zustande 36 Vgl. etwa BOEMKE, AP TzBfG § 14 Verlängerung Nr. 4; BROSE DB 2008, 1378, 1380 ff.; PREIS, Individualarbeitsrecht, § 70 II 2 a. 37 BAG 18.10.2006 NZA 2007, 443, 445. 38 BT-Drs. 14/4374 S. 13 f. 39 BT-Drs. 14/4473 S. 14. 40 Vgl. auch BROSE DB 2008, 1378, 1380 f. 41 BROSE DB 2008, 1378, 1380 Fn. 37. 42 PREIS/GREINER RdA 2010, 148, 161. 43 Vgl. BROSE DB 2008, 1378, 1381; zu unionsrechtlichen Aspekten, die für eine Berücksichtigung des Konzernbezugs als Indiz eine rechtmissbräuchlichen Umgehung des Anschlussverbots sprechen, Staudinger/PREIS, Neubearbeitung 2012, § 620 BGB Rn. 218. 44 Hierzu ausführlich BOEMKE, AP TzBfG § 14 Verlängerung Nr. 4.

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Fall 22 Lösungsvorschlag

„Befristungen ohne Ende?“

kommt: Mit dem Arbeitgeber, der den zweiten sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag geschlossen hat (hier also mit der Beklagten), oder aber mit dem Arbeitgeber, mit dem der erste sachgrundlos befristete Arbeitsvertrag geschlossen wurde, also dem Arbeitgeber, bei dem der Beschäftigungsbedarf besteht.45 Nach den gesetzlichen Vorschriften wäre davon auszugehen, dass allein die letzte Befristung als unwirksam anzusehen wäre mit der Folge, dass mit dem Arbeitgeber, der den zweiten sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag geschlossen hat, das Arbeitsverhältnis als unbefristetes Arbeitsverhältnis fortbesteht. Allerdings liegen nicht die Voraussetzungen des Verbots der sachgrundlosen Befristung wegen Verstoßes gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG vor, sondern ein Fall des Rechtsmissbrauchs. Da der Rechtsmissbrauch gerade darin gesehen werden müsste, dass sich der bisherige Arbeitgeber eines Dritten bedient, um das Verbot der Vorbeschäftigung zu umgehen, obwohl bei ihm weiterer Beschäftigungsbedarf besteht, könnte als Rechtsfolge des § 242 BGB auch ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber angenommen werden, bei dem der Arbeitnehmer tatsächlich beschäftigt wird.46 Freilich konnte und wurde vom Bearbeiter die Kenntnis des bestehenden Streitstands und eine derart vertiefte Argumentation nicht erwartet. Es wurde jedoch verlangt, dass das Problem des Verstoßes gegen § 242 BGB angesichts der deutlichen Sachverhaltsangaben angesprochen und mit einer vertretbaren, eigenständigen Argumentation gelöst wurde. Keinesfalls musste der Bearbeiter aber erkennen, dass als Rechtsfolge der rechtsmissbräuchlichen Umgehung des Anschlussverbots auch ein Arbeitsverhältnis zum vorherigen Arbeitgeber diskutiert werden konnte.

(3) Zwischenergebnis Die Beschäftigung der A bei der E im Zeitraum vom 1.1.2007 bis zum 31.12.2008 führt nicht zu einem Verstoß der zwischen A und F vereinbarten Befristung vom 12.11.2009 gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG bzw. einer nach § 242 BGB rechtsmissbräuchlichen Umgehung des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. bb) Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aufgrund der vorherigen Befristungsvereinbarung vom 5.12.2008 Die sachgrundlose Befristung vom 12.11.2009 könnte allerdings gegen das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG verstoßen, weil A bereits aufgrund der Befristungsvereinbarung vom 5.12.2008 im Zeitraum vom 1.1.2009 bis zum 31.12.2009 bei der F beschäftigt war. Insofern bestand zum Zeitpunkt der Befristung vom 12.11.2009 ein befristetes Arbeitsverhältnis zu demselben Arbeitgeber im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. Damit scheidet eine alleinige Legitimation dieser Befristungsvereinbarung über § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG, der grundsätzlich nur bei der erstmaligen sachgrundlosen Befristung eines Arbeitsvertrags eingreift, vorliegend aus. Anmerkung: Aufgrund der deutlichen Sachverhaltsangaben musste der Bearbeiter diese Frage auch dann zumindest hilfsgutachterlich untersuchen, wenn er entgegen der Ansicht des BAG zuvor bereits von einem Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aufgrund der Vorbeschäftigung bei der E ausgegangen ist.

45 BOEMKE, AP TzBfG § 14 Verlängerung Nr. 4. 46 So BOEMKE, AP TzBfG § 14 Verlängerung Nr. 4.

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„Befristungen ohne Ende?“

Lösungsvorschlag Fall 22

(1) Verlängerung des sachgrundlos befristen Arbeitsvertrags gemäß § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG Die Befristung vom 12.11.2009 könnte jedoch lediglich als Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrags anzusehen sein, die nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG sachgrundlos bis zur Gesamtdauer von zwei Jahren vereinbart werden kann. Da es vorliegend zwischen der A und der F um zwei befristete Arbeitsverträge im Zeitraum vom 1.1.2009 bis zum 31.12.2010 geht, ist sowohl die Anzahl möglicher Verlängerungen, als auch die in jedem Fall zu beachtende Höchstüberlassung von zwei Jahren nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG nicht überschritten worden. Fraglich bleibt folglich einzig, ob die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2009 tatsächlich eine Verlängerung darstellt. Eine Verlängerung im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG ist insofern vom Neuabschluss, der wegen eines vorangegangenen befristeten Arbeitsverhältnisses mit demselben Arbeitgeber nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG unzulässig wäre, abzugrenzen. Eine Verlängerung im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG liegt vor, wenn das Arbeitsverhältnis einvernehmlich über den zunächst vereinbarten Endtermin hinaus fortgesetzt wird. Dies setzt zunächst voraus, dass sich die Anschlussbefristung ohne zeitliche Unterbrechung an den zu verlängernden Vertrag anschließt, wozu die Verlängerung bereits vor Ablauf des zu verlängernden Vertrags erfolgt sein muss.47 Die Verlängerungsvereinbarung wurde zwischen A und F am 12.11.2009 und damit noch vor Ablauf der ursprünglichen Befristung bis zum 31.12.2009 geschlossen, wobei das Arbeitsverhältnis darüber hinaus auch ohne zeitliche Unterbrechung ab dem 1.1.2010 fortgeführt wurde. Der zeitliche Rahmen des § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG wurde mithin eingehalten. Fraglich ist aber, wie sich die Erhöhung des Stundenlohns der A um 0,50 Euro auf das Vorliegen einer Verlängerung auswirkt. (a) Auffassung des BAG Das BAG geht nämlich darüber hinaus davon aus, dass sich eine Verlängerung lediglich auf die Vertragslaufzeit beziehen darf und mit diesem Begriff deshalb eine inhaltliche Änderung der Vertragsbedingungen grundsätzlich nicht vereinbar ist.48 Dies resultiere aus einer an Gesetzeswortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck des § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG orientierten Auslegung. Der Begriff der „Verlängerung“ beziehe sich grammatikalisch nur auf die Laufzeit des Vertragsverhältnisses. Auch zeige die Gesetzessystematik, dass die durch § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG geschaffene Möglichkeit zur Verlängerung eines sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrags einen Ausnahmetatbestand darstelle, der es gebiete, die Voraussetzungen, unter denen eine Verlängerung zulässig ist, auf die Verschiebung des Beendigungszeitpunkts streng zu begrenzen.49 Diese auf die Änderung der Vertragslaufzeit limitierte Abgrenzung der Verlängerung zum Neuabschluss 47 BAG 25.10.2000 AP BeschFG 1996 § 1 Nr. 6; BAG 23.8.2006 AP TzBfG § 14 Verlängerung Nr. 1; BAG 23.8.2006 NZA 2007, 204, 205. 48 BAG 18.1.2006 NZA 2006, 605, 606 f.; BAG 23.8.2006 NZA 2007, 204, 205; BAG 20.2.2008 NZA 2008, 883; vgl. zu § 1 BeschFG BAG 26.7.2000 NZA 2001, 263; BAG 25.10.2000 NZA 2001, 659. 49 BAG 23.8.2006 NZA 2007, 204, 206.

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Fall 22 Lösungsvorschlag

„Befristungen ohne Ende?“

resultiere letztlich auch aus dem Gesetzeszweck. Der Gesetzgeber habe den Arbeitnehmer bei der Entscheidung über die Verlängerung des nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG befristeten Arbeitsverhältnisses davor schützen wollen, dass der Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses davon abhängig macht, dass der Arbeitnehmer geänderte Arbeitsbedingungen akzeptiert oder dass Letzterer durch das Angebot anderer Arbeitsbedingungen zum Abschluss eines weiteren sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrags veranlasst wird.50 Lediglich ausnahmsweise steht nach Auffassung des BAG eine Änderung der Vertragsbedingungen in der Befristungsvereinbarung der Annahme einer Verlängerung nicht entgegen. Dies ist nach der Rechtsprechung des BAG zum einen der Fall, wenn bereits zuvor erfolgte Änderungen der Vertragsbedingungen lediglich in den Text der Verlängerungsvereinbarung aufgenommen werden.51 Diese können etwa auf der Änderung einer für das Arbeitsverhältnis anzuwendenden Kollektivvereinbarung oder auf zwischenzeitlich getroffenen Abreden über die für das Vertragsverhältnis geltenden Arbeitsbedingungen beruhen. In beiden Fällen wird nur der zum Zeitpunkt der Verlängerung geltende Vertragsinhalt in der Urkunde dokumentiert oder, in Worten einer jüngeren Entscheidung des BAG, in der Verlängerungsvereinbarung die Vertragsbedingungen lediglich „an die zum Zeitpunkt der Verlängerung geltende Rechtslage angepasst“.52 Eine Änderung der Vertragsbedingungen soll zum anderen dann unschädlich sein, wenn im Verlängerungsvertrag Arbeitsbedingungen vereinbart werden, auf die der befristet beschäftigte Arbeitnehmer einen Anspruch hat.53 Da in der Befristungsvereinbarung vom 12.11.2009 nicht nur ein neuer Beendigungszeitpunkt, sondern auch ein 50 Cent höherer Stundenlohn vereinbart wurde, läge nach dieser Sichtweise keine zulässige Verlängerung im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG, sondern ein gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG verstoßender Neuabschluss eines befristeten Arbeitsvertrags vor. Insofern ist die inhaltliche Änderung der bisherigen Arbeitsbedingungen von keiner der vom BAG entwickelten Ausnahmen gedeckt. Dass die Vereinbarung aus der Sicht der A durch die Gehaltsverbesserung letztlich verbesserte Arbeitsbedingungen enthält, ist nach Ansicht des BAG dabei unbeachtlich.54 (b) Kritik Die Sichtweise des BAG ist abzulehnen.55 Es überzeugt nicht, dass eine Veränderung der Arbeitsbedingungen, insbesondere Änderungen zugunsten des Arbeitnehmers, zwar im Zeitpunkt der Verlängerung unzulässig sein und zur Unzulässigkeit der weiteren sachgrundlosen Befristung führen soll, Änderungen vor und nach der Verlängerung im Wege der Vereinbarung aber unproblematisch möglich sind.56 Es ist außerdem fraglich, ob es tatsächlich die Funktion des Merkmals 50 51 52 53 54 55

BAG 18.1.2006 NZA 2006, 605, 606 f.; BAG 23.8.2006 NZA 2007, 204, 206. BAG 23.8.2006 NZA 2007, 204, 205. BAG 12.8.2009 – 7 AZR 270/08, n. v. BAG 16.1.2008 NZA 2008, 701; BAG 12.8.2009 – 7 AZR 270/08, n.v. BAG 23.8.2006 NZA 2007, 204, 205. APS/BACKHAUS § 14 TzBfG Rn. 374 ff.; PREIS, Individualarbeitsrecht, § 70 II 2 b; PREIS NZA 2005, 714, 716; vgl. auch die Kritik von PREIS/GREINER RdA 2010, 148, 159. 56 PREIS, Individualarbeitsrecht, § 70 II 2 b.

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Lösungsvorschlag Fall 22

„Verlängerung“ widerspiegelt, eine Bestandssicherung der ursprünglich vereinbarten Vertragsbedingungen zu gewährleisten, wie es die Auslegung des BAG nahe legt.57 Insofern scheint es entgegen der Interpretation des BAG weder durch den Gesetzeswortlaut noch durch den Zweck des § 14 Abs. 2 TzBfG gerechtfertigt werden zu können, dass im Zuge einer „Verlängerung“ keine „Veränderung“ der Arbeitsbedingungen möglich sein soll. Schon das vorgebrachte Wortlautargument kann als Zirkelschluss bezeichnet werden, weil gerade zu begründen wäre, ob es sich um eine „bloße“ Verlängerung handeln muss.58 Entscheidend ist jedoch, dass das BAG zweckwidrig das Wort „unveränderte“ in § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG hineininterpretiert.59 Diese Hürde lässt sich auch durch den Gesetzeszweck des § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG nicht plausibel erklären. Das teleologische Argument, dass § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG den Arbeitnehmer davor schützen wolle, dass der Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses davon abhängig macht, dass der Arbeitnehmer geänderte Arbeitsbedingungen akzeptiert, versagt jedenfalls im Falle der Veränderung von Arbeitsbedingungen zugunsten des Arbeitnehmers schon im Ansatz.60 Denn eine Beeinträchtigung der Entschlussfreiheit des Arbeitnehmers kann bei für ihn günstigeren Vereinbarungen nicht angenommen werden. Folglich ist trotz der veränderten Vergütungsvereinbarung davon auszugehen, dass die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2009 eine Verlängerung im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG darstellt. (2) Zwischenergebnis Mithin verstößt die Befristung des Arbeitsverhältnisses vom 12.11.2009 nicht gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG, sondern erfüllt die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG. Damit handelte es sich bei der Befristung bis zum 31.12.2010 um eine materiellrechtlich rechtswirksame sachgrundlose Befristung. Anmerkung: Vorliegend war auch die Auffassung des BAG gut vertretbar. Der Bearbeiter hätte dann zum Ergebnis kommen müssen, dass die streitgegenständliche Befristungsvereinbarung nicht über § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG gerechtfertigt ist, sondern gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG verstößt. Da die Befristung zum 31.12.2010 rechtsunwirksam und gemäß § 16 S. 1 Halbs. 1 TzBfG ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit mit der F zustande gekommen wäre, wäre die Klage der A begründet.

III. Ergebnis Da die Befristungsvereinbarung vom 12.11.2009 wirksam zustande gekommen ist, ist die Klage der A unbegründet. Das Arbeitsgericht wird die zulässige Klage somit abweisen.

57 58 59 60

APS/BACKHAUS § 14 TzBfG Rn. 372 ff. So APS/BACKHAUS § 14 TzBfG Rn. 374. PREIS NZA 2005, 714, 716. APS/BACKHAUS § 14 TzBfG Rn. 374.

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Fall 22 Lösungsvorschlag

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Abwandlung 1 Das Arbeitsgericht wird der Klage der B stattgeben, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit der Klage Anhaltspunkte dafür, dass die Sachentscheidungsvoraussetzungen für die vorliegende Klage nicht gegeben sein könnten, sind nicht ersichtlich (vgl. zum Rechtsweg, der Zuständigkeit, der Klagefrist und der Partei- und Prozessfähigkeit die übertragbaren Ausführungen zum Ausgangsfall). Es ist jedoch zu beachten, dass die Klage der B zwei Anträge umfasst. Da B in erster Linie die Befristung des Arbeitsvertrags vom 15.12.2009 angreift, ist ihr diesbezügliches Begehren nach § 17 S. 1 TzBfG auf die Feststellung gerichtet, dass das zwischen ihr und der G bestehende Arbeitsverhältnis nicht auf Grund der Befristung vom 15.12.2009 zum 31.12.2010 beendet ist. Nur für den Fall, dass sich die Befristung als wirksam erweisen sollte, begehrt B Wiedereinstellung. Der hierauf bezogene Antrag ist daher nur hilfsweise gestellt und fällt dem Arbeitsgericht nur dann zur Prüfung an, wenn der Hauptantrag keinen Erfolg hat. Eine solche objektive Klagehäufung in Form eines Eventualklageverhältnisses ist als sog. innerprozessuale Bedingung zulässig (siehe auch § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 260 ZPO). Folglich ist die Klage der B zulässig. B. Begründetheit der Klage Die Klage der B ist begründet, wenn die Befristung des Arbeitsvertrags unwirksam ist. Das hilfsweise Begehren der B auf Wiedereinstellung ist nur dann zu prüfen, wenn sich die Befristung als rechtswirksam erweisen sollte. I. Wirksamkeit der Befristung des Arbeitsvertrags Die Befristung des zwischen B und G geschlossenen Arbeitsverhältnisses im Sinne des § 611 BGB wäre wirksam, wenn B die Befristung nicht innerhalb der Frist des § 17 S. 1 TzBfG angegriffen hätte, die Schriftform des § 14 Abs. 4 TzBfG gewahrt wurde und der Befristung entweder ein Sachgrund nach § 14 Abs. 1 TzBfG oder die Voraussetzungen einer sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG zugrunde gelegen hätten. Da vorliegend jedoch mehrere Befristungsabreden getroffen wurden, ist zunächst zu entscheiden, welche Befristungsabrede der Kontrolle durch die Entfristungsklage unterliegt. 1. Streitgegenstand: Befristung des letzten Arbeitsvertrags Streitgegenstand der Klage der B ist nach den bereits dargestellten Rechtsprechungsgrundsätzen (vgl. im Ausgangsfall unter B II 1) ausschließlich die Befristung des zwischen B und G abgeschlossen letzten Arbeitsvertrags vom 15.12.2009, während der vorhergehende Arbeitsvertrag nicht der Befristungskontrolle unterliegt. Dies ergibt sich vorliegend auch daraus, dass B in ihrem Klageantrag nur den letzten Arbeitsvertrag angegriffen hat und ihr wegen Ablaufs der Klagefrist des § 17 S. 1 TzBfG die Berufung auf die Unwirksamkeit der früheren Befristungen gemäß § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG ohnehin verwehrt wäre. Die vom BAG entwickelte Ausnahme vom Grundsatz, dass nur die zuletzt vereinbarte Befristung auf ihre Rechtswirksamkeit zu prüfen sei, wenn die Vertragspar-

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teien in einem nachfolgenden befristeten Vertrag dem Arbeitnehmer das Recht vorbehalten haben, die Wirksamkeit der vorangegangenen Befristung überprüfen zu lassen, greift darüber hinaus nicht ein. Anmerkung: Im vorliegenden Fall musste der Klausurbearbeiter somit erkennen, dass die erste Befristung des Arbeitsverhältnisses der B vom 1.1.2009 bis zum 1.10.2009 trotz der ausführlichen Sachverhaltsangaben zur Begründung einer Sachgrundbefristung nicht zu prüfen war.

2. Keine Präklusion nach § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG durch Wahrung der Klagefrist des § 17 S. 1 TzBfG B müsste die auf Feststellung des trotz Befristung nicht beendeten Arbeitsverhältnisses gerichtete Klage nach § 17 S. 1 TzBfG innerhalb von drei Wochen nach dem vereinbarten Ende des befristeten Arbeitsvertrags erhoben haben. Da B ihre Klage am 15.12.2010 und damit vor dem vereinbarten Vertragsende zum 31.12.2010 erhoben hat (§§ 253, 261 ZPO), fragt sich, ob eine Erhebung der Klage vor Ablauf der Befristung überhaupt möglich ist. Insofern könnte die in § 17 S. 1 TzBfG verwendete Formulierung „innerhalb“ rein grammatikalisch auch als „zwischen“ Beendigung und Ablauf der Drei-Wochen-Frist verstanden werden. Eine solche Lesart des § 17 S. 1 TzBfG widerspräche jedoch dem Sinn und Zweck der Vorschrift, möglichst schnell Klarheit über den Bestand des Arbeitsverhältnisses und damit Rechtssicherheit zu schaffen. Deswegen ist die Formulierung „innerhalb“ im Rahmen des § 17 S. 1 TzBfG als ein „spätestens nach“ zu lesen. Auf diese Weise kann nicht nur bereits zu einem früheren Zeitpunkt Rechtssicherheit über den Bestand des Arbeitsverhältnisses erlangt werden, sondern auch die Schaffung „vollendeter Tatsachen“ verhindert werden. Damit wird die Frist des § 17 S. 1 TzBfG folglich auch bei Klageerhebung vor dem vereinbarten Vertragsende gewahrt.61 B ist hinsichtlich des Vortrags etwaiger Unwirksamkeitsgründe nicht materiell gemäß § 17 S. 2 TzBfG, § 7 KSchG präkludiert. 3. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG Laut Sachverhalt wurde die nach § 14 Abs. 4 TzBfG für die Befristungsvereinbarung erforderliche Schriftform im Sinne des § 126 Abs. 1, Abs. 2 BGB gewahrt. 4. Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 TzBfG Die Befristungsvereinbarung vom 15.12.2009 könnte allerdings unwirksam sein, wenn sie nicht durch einen ausreichenden Grund gerechtfertigt und auch kein Fall einer sachgrundlosen Befristung gemäß § 14 Abs. 2, Abs. 2a, Abs. 3 TzBfG gegeben wäre. Eine Prüfung, ob die streitgegenständliche Befristungsvereinbarung durch einen sachlichen Grund gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG gerechtfertigt ist, wäre dabei entbehrlich, wenn sie ohnehin als sachgrundlose Befristung zulässig war. Zur sachgrundlosen Rechtfertigung der kalendermäßigen Befristung (vgl. die Definition des § 3 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 TzBfG) des Arbeitsvertrags der B vom 15.12.2009 kommt jedoch mangels dahingehender Sachverhaltsangaben vorliegend weder eine Anwendung des § 14 Abs. 2a TzBfG noch des § 14 Abs. 3 TzBfG 61 BAG 10.3.2004 NZA 2004, 925, 926 m.w.N.

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„Befristungen ohne Ende?“

in Betracht. Fraglich ist, ob die Befristungsvereinbarung durch § 14 Abs. 2 TzBfG gerechtfertigt ist. Anmerkung: Die Anwendbarkeit des § 14 Abs. 2 TzBfG setzt keine Vereinbarung der Parteien voraus, die Befristung auf diesen Rechtfertigungstatbestand stützen zu wollen. Die Vorschrift enthält insofern kein Zitiergebot. Es genügt vielmehr, dass der Rechtfertigungsgrund für die Befristung bei Vertragsschluss objektiv vorlag.62 Ebenso wie sich der Arbeitgeber bei einer Sachgrundbefristung zu deren Rechtfertigung auch auf einen anderen als den im Arbeitsvertrag genannten Sachgrund berufen oder er sich auf einen Sachgrund stützen kann, wenn im Arbeitsvertrag § 14 Abs. 2 TzBfG als Rechtfertigungsgrund für die Befristung genannt ist, kann er die Befristung mit § 14 Abs. 2 TzBfG begründen, wenn im Arbeitsvertrag ein Sachgrund für die Befristung angegeben ist. Wird im Arbeitsvertrag ein Sachgrund für die Befristung angegeben, rechtfertigt dies also nicht ohne Weiteres die Annahme, dass die Befristungsmöglichkeit nach § 14 Abs. 2 TzBfG abbedungen werden soll. Vielmehr müssten im Einzelfall noch zusätzliche Umstände für die Annahme einer Abbedingung des Rechts zur sachgrundlosen Befristung hinzutreten. Dies gilt auch dann, wenn die vorangegangenen Arbeitsverträge im Gegensatz zum neu geschlossenen Arbeitsvertrag ausdrücklich auf der Grundlage des § 14 Abs. 2 TzBfG befristet waren.63 Beruft sich der Arbeitgeber wie im vorliegenden Fall nicht nur auf einen Sachgrund, sondern auch auf die Zulässigkeit als sachgrundlose Befristung, ist von Klausurbearbeitern somit in der Regel neben der Sachgrundbefristung die Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung zu prüfen!

a) Sachgrundlose Befristung gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG Nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG ist die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig. Gemäß § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG ist bis zu dieser Gesamtdauer die höchstens dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrags möglich. Eine Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG wäre jedoch bereits dann unzulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hätte, § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. aa) Verstoß gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aufgrund der vorherigen Beschäftigung bei der G Eine solche unzulässige Vorbeschäftigung könnte vorliegend darin zu sehen sein, dass B vom 1.1.2009 bis zum 1.10.2009 bei der G, und damit demselben Arbeitgeber im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG (vgl. zum Begriff „desselben Arbeitgebers“ ausführlich im Ausgangsfall unter B II 4 b aa), beschäftigt war. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG und der herrschenden Auffassung im Schrifttum stellte dabei jedes „jemals zuvor“ in der Vergangenheit liegende Ar-

62 BAG 4.12.2002 NZA 2003, 916, 917; BAG 4.6.2003 NZA 2003, 1143, 1144; BAG 12.8.2009 – 7 AZR 270/08. 63 BAG 12.8.2009 – 7 AZR 270/08.

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Lösungsvorschlag Fall 22

beitsverhältnis ein „bereits zuvor“ bestehendes Arbeitsverhältnis im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG dar.64 Unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung hat das BAG sich jedoch nunmehr den Stimmen in der Literatur angeschlossen, die es für erforderlich halten, das Tatbestandsmerkmal „zuvor“ des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG teleologisch zu begrenzen.65 In seiner Entscheidung vom 6.4.2011 geht das BAG davon aus, dass eine „Zuvor-Beschäftigung“ nicht gegeben ist, wenn das frühere Arbeitsverhältnis mehr als drei Jahre zurückliegt.66 Da zwischen den beiden befristeten Arbeitsverhältnissen der B mit der G aber nur zwei Monate lagen, verletzt die Befristungsvereinbarung zwischen B und G nach allen Auffassungen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. Ob eine teleologische Reduktion des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG vorzunehmen ist, kann mithin offen bleiben. Anmerkung: Sollte der Meinungsstreit in einer Klausur entscheidungserheblich sein, so dürfte für den Bearbeiter insbesondere die Kenntnis der Argumentation des BAG unerlässlich sein. Allerdings erschließt sich diese nicht ohne Weiteres, weshalb nachfolgend eine etwas detailliertere Darstellung erfolgt, die in diesem Umfang keinesfalls von einem Klausurbearbeiter erwartet würde: Das BAG leitet die Drei-Jahres-Frist – wenig überzeugend – rechtsfortbildend in Anlehnung an die regelmäßige Verjährungsfrist des § 195 BGB ab. Für diese Sichtweise verweist das BAG auf eine teleologische Auslegung des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. Die in § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG eröffnete Möglichkeit zur sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen solle zum einen dem Arbeitgeber ermöglichen, auf eine unsichere und schwankende Auftragslage und wechselnde Marktbedingungen durch Neueinstellungen flexibel zu reagieren.67 Zum anderen solle die befristete Beschäftigung für den Arbeitnehmer eine Alternative zur Arbeitslosigkeit und eine Brücke zur Dauerbeschäftigung darstellen.68 Damit wolle § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG aber nicht per se den Abschluss sachgrundlos befristeter Arbeitsverträge verhindern, sondern nur den Missbrauch der Möglichkeit zur sachgrundlosen Befristung durch sog. „Kettenbefristungen“.69 Entsprechend dieser Zielsetzung rechtfertige der mit § 14 Abs. 2 TzBfG verfolgte Normzweck kein lebenslanges Verbot der Vorbeschäftigung. Die Anwendung des Anschlussverbots sei daher nur insoweit gerechtfertigt, als dies zur Verhinderung von Befristungsketten erforderlich sei. Das sei bei lange Zeit zurückliegenden Beschäftigungen jedoch typischerweise nicht der Fall. Entscheidend gegen ein Verständnis des Anschlussverbots im Sinne eines zeitlich uneingeschränkten Verbots der Vorbeschäftigung spricht nach Auffassung des BAG aber letztlich eine „verfassungsorientierte“ Auslegung.70 Ein zeitlich völlig unbeschränktes Verbot der Vorbeschäftigung würde die Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien und die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers in übermäßiger Weise beschränken und ein Einstellungshindernis darstellen, das auch unter Berücksichtigung des mit dem Anschluss-

64 BAG 29.7.2009 – 7 AZN 368/09, ZTR 2009, 544 f.; APS/BACKHAUS § 14 TzBfG Rn. 381 m.w.N.; PREIS/GOTTHARDT DB 2000, 2065, 2072; Laux/Schlachter/SCHLACHTER § 14 TzBfG Rn. 111 m.w.N. 65 LÖWISCH BB 2001, 254, 254 f.; PERSCH ZTR 2010, 2. 66 BAG 6.4.2011 NZA 2011, 905; bestätigt durch BAG 21.9.2011 NZA 2012, 255; siehe zur Reaktion im Schrifttum PREIS, Individualarbeitsrecht, § 70 II 2 a m.w.N. 67 BAG 6.4.2011 NZA 2011, 905. 68 BAG 6.4.2011 NZA 2011, 905. 69 BAG 6.4.2011 NZA 2011, 905. 70 BAG 6.4.2011 NZA 2011, 905.

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verbot verfolgten Schutzzwecks nicht gerechtfertigt sei.71 Auch der Wortlaut des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG gebiete nicht zwingend ein Auslegungsergebnis in dem Sinne, dass „bereits zuvor“ gleichbedeutend mit „jemals zuvor“ sei.72 Ginge man davon aus, dass der Gesetzgeber eine sachgrundlose Befristung generell nicht mehr habe zulassen wollen, wenn der Arbeitnehmer bereits irgendwann zuvor einmal in einem Arbeitsverhältnis zum Arbeitgeber gestanden habe, so sei dies im Gesetzestext jedenfalls nur unvollständig zum Ausdruck gekommen.73 Der Rechtsprechungswandel des BAG vermag allerdings nicht zu überzeugen. Wenngleich die Ausgestaltung des Anschlussverbots im Sinne eines Verbots jeder vorherigen Tätigkeit bei demselben Arbeitgeber rechtspolitisch kritikwürdig ist (beispielsweise könnte selbst jemand, der als Werkstudent bei einem Arbeitgeber nur kurzzeitig beschäftigt war, später nicht als examinierter Wissenschaftler bei dem gleichen Unternehmer sachgrundlos befristet beschäftigt werden), so hat sich der Gesetzgeber bewusst dazu entschieden, die erleichterte Befristung nur bei der erstmaligen Befristung eines Arbeitnehmers durch einen Arbeitgeber zuzulassen. Denn dass mit der Regelung des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG nicht nur Kettenbefristungskonstellationen ausgeschlossen werden, wurde im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich angemerkt und kritisiert.74 Gleichwohl wurde die Vorschrift in dieser Form verabschiedet. Es mag zwar richtig sein, dass das Wort „zuvor“ durchaus auch einschränkend entgegen einemVerständnis als „jemals zuvor“ ausgelegt werden kann.75 Angesichts des klar erkennbaren rechtspolitischen Willens des Gesetzgebers besteht jedoch für eine solche einschränkende Auslegung kein Raum. Letztlich kann § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG auch unter Zugrundelegung eines solchen Verständnisses angesichts des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers nicht als verfassungswidrig bezeichnet werden, zumal der Gesetzgeber – verfassungskonform – auch ganz auf die Möglichkeit sachgrundloser Befristungen verzichten könnte.76

bb) Verlängerung des sachgrundlos befristen Arbeitsvertrags gemäß § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG Die vormalige Beschäftigung der B bei G stünde jedoch dann einer erneuten sachgrundlosen Befristung nicht entgegen, wenn es sich bei dem Vertrag vom 15.12.2009 lediglich um eine Verlängerung des Vertrages vom 1.1.2009 im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG handeln würde. Voraussetzung wäre, dass die Höchstbefristungsdauer von zwei Jahren noch nicht ausgeschöpft wurde und die Anzahl der Vertragsverlängerungen drei nicht übersteigt. Der Vertrag vom 15.12.2009 stellt den zweiten befristeten Arbeitsvertrag der B bei G dar, es liegt also eine an sich zulässige Anzahl von Verlängerungen vor. Auch wurde mit dem Vertrag von 1.1.2009 bis 1.10.2009 die Höchstbefristungsdauer des § 14 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 TzBfG noch nicht erreicht. Zweifel an der Zu-

71 72 73 74

BAG 6.4.2011 NZA 2011, 905. BAG 6.4.2011 NZA 2011, 906 f. BAG 6.4.2011 NZA 2011, 907. BT-Drs. 14/4625 S. 18; APS/BACKHAUS § 14 TzBfG Rn. 381; Laux/Schlachter/ SCHLACHTER § 14 TzBfG Rn. 112. 75 Staudinger/PREIS, Neubearbeitung 2012, § 620 BGB Rn. 184. 76 APS/BACKHAUS § 14 TzBfG Rn. 381; Staudinger/PREIS, Neubearbeitung 2012, § 620 BGB Rn. 184.

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Lösungsvorschlag Fall 22

lässigkeit der Befristung ergeben sich jedoch aufgrund der Unterbrechung der Beschäftigung zwischen dem 1.10.2009 und dem 1.1.2010. G beruft sich darauf, dass die Beschäftigung der B bei der G lediglich kurzzeitig unterbrochen worden sei, was für das Vorliegen einer Verlängerung des ersten befristeten Arbeitsverhältnisses keinen Unterschied machen könne. Danach wäre in der streitgegenständlichen Befristungsvereinbarung kein gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG verstoßender Neuabschluss eines befristeten Arbeitsvertrags zu sehen, sondern eine zulässige sachgrundlose Befristung im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG. Eine Verlängerung setzt jedoch voraus, dass sich die Anschlussbefristung ohne zeitliche Unterbrechung an den zu verlängernden Vertrag anschließt. Kurzfristige Unterbrechungen, auch von nur einem arbeitsfreien Tag, führen dazu, dass es sich nicht mehr um eine Verlängerung handelt. Danach muss die Verlängerung an dem auf den letzten Tag des vorangegangenen Arbeitsverhältnisses folgenden Tag beginnen.77 Da vorliegend zwischen den beiden Arbeitsverhältnissen ein Zeitraum von zwei Monaten liegt, ist eine Verlängerung im Sinne von § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG nicht gegeben, sondern von einem Verstoß der Befristungsvereinbarung vom 15.12.2009 gegen § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG auszugehen. cc) Zwischenergebnis Die Befristung vom 15.12.2009 ist nicht als sachgrundlose Befristung aufgrund von § 14 Abs. 2 TzBfG zulässig. b) Bestehen eines sachlichen Grundes für die Befristung gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG Die Befristung zum 31.12.2009 wäre mithin nur dann wirksam, wenn ein sachlicher Grund im Sinne des § 14 Abs. 1 S. 1 TzBfG vorgelegen hätte. Als sachlicher Grund kommt vorliegend in Betracht, dass der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung nur vorübergehend gemäß § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG bestand. Unter diesen Oberbegriff lassen sich sowohl der vorübergehend erhöhte Arbeitskräftebedarf als auch der in Zukunft wegfallende Arbeitskräftebedarf fassen.78 Allerdings muss eine Prognose im Zeitpunkt des Vertragsschlusses ergeben, dass aufgrund greifbarer Tatsachen mit einiger Sicherheit der Wegfall des Mehrbedarfs mit dem Auslaufen des befristeten Arbeitsverhältnisses zu erwarten ist.79 Der Arbeitgeber darf unter Berufung auf diesen Tatbestand nicht die gewöhnliche, durch allgemeine Bedarfsschwankungen begründete Unsicherheit über den zukünftigen Bedarf an Arbeitskräften als typischen Bestandteil des unternehmerischen Risikos auf den Arbeitnehmer abwälzen.80 Bei einem projektbedingten personellen Mehrbedarf handelt es sich hingegen in der Regel um einen die Befristung auf-

77 KR/LIPKE § 14 TzBfG Rn. 393; Staudinger/PREIS, Neubearbeitung 2012, § 620 BGB Rn. 191. 78 BAG 17.1.2007 NZA 2007, 566, 569; PREIS, Individualarbeitsrecht, § 70 II 1 c. 79 BAG 15.3.1995 AP Art. 13 Einigungsvertrag Nr. 15; BAG 25.8.2004 NZA 2005, 357; BAG 17.3.2010 NZA 2010, 633, 634. 80 BAG 22.3.2000 AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 221.

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grund von § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG tragenden, nur vorübergehenden Arbeitskräftebedarf.81 Da G durch die Beschäftigung der B einen solchen außerplanmäßigen und außerordentlich arbeitsintensiven Projektauftrag erfüllen wollte, der sich nicht mit dem bestehenden Personalbestand bewältigen ließ, ist vorliegend von einem erhöhten Arbeitskräftebedarf auszugehen. Darüber hinaus war zu erwarten, dass die im Rahmen des Projekts durchgeführten Aufgaben nicht dauerhaft anfallen. Da der Projektauftrag laut Sachverhalt (zunächst) befristet war und bis Anfang 2011 verwirklicht sein musste, konnte davon ausgegangen werden, dass mit Projektabschluss der Beschäftigungsbedarf entfiele. Dass der zunächst befristete Projektauftrag mittlerweile vom Auftraggeber als Dauerauftrag an die G vergeben wurde, wirkt sich insofern nicht aus, als es für das Vorliegen oder Nichtvorliegen des sachlichen Grundes ausschließlich auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ankommt. Spätere Umstände berühren ihn nicht mehr.82 Einzig, wenn bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses beabsichtigt war, den Arbeitnehmer in demselben Projekt weiterzubeschäftigen, kann eine andere Bewertung geboten sein.83 Dies war jedoch vorliegend nicht der Fall. Daher bestand zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gemäß § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG ein Sachgrund für die Befristung vom 15.12.2009. Folglich ist die Befristung des Arbeitsvertrags der B mit der G durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt. Anmerkung 1: Die Projektbefristung ist ein typischer Fall des vorübergehenden betrieblichen Bedarfs an Arbeitsleistung nach § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG. Es ist bei diesem Befristungsgrund insbesondere zu prüfen, ob es sich nicht in Wirklichkeit um Dauer- oder gar Pflichtaufgaben des Arbeitgebers handelt. Für die hierzu erforderliche Prognose müssen ausreichend konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Für das Vorliegen einer zulässigen Projektbefristung spricht es in diesem Zusammenhang regelmäßig, wenn dem Arbeitgeber für die Durchführung der im Projekt verfolgten Tätigkeiten von einem Dritten finanzielle Mittel oder sonstige Sachleistungen zur Verfügung gestellt werden.84 Wird ein Arbeitnehmer hingegen für ein bestimmtes Forschungsvorhaben befristet beschäftigt und ist er tatsächlich überwiegend mit projektfremden Tätigkeiten beschäftigt, spricht dies gegen das Vorliegen eines Sachgrunds aus § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG.85 Anmerkung 2: Der Vollständigkeit halber: Die in einer Klausur nicht zu prüfende erste Befristung des Arbeitsvertrags der G (vgl. die Ausführungen zum Streitgegenstand der Entfristungsklage, 1. Abwandlung B I 1), bei welcher der vorübergehende betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung damit begründet wurde, dass die G beabsichtige, zukünftig die von der B zu erledigenden Aufgaben von einem Leiharbeitnehmer durchführen zu lassen, wäre nicht aufgrund von § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG gerechtfertigt gewesen.86 Durch den Einsatz von Leiharbeitnehmern entfiel lediglich der Bedarf an der Beschäftigung von Arbeitnehmern, die in einem Arbeitsverhältnis zum Betriebsinhaber stehen. Darauf kommt es jedoch für den Sachgrund des § 14

81 Vgl. etwa BAG 7.11.2007 NZA 2008, 467 m. w. N. aus der Rechtsprechung. 82 BAG 8.5.1985 AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 97; BAG 16.11.2005 AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 264; BAG 20.1.2010 AP TzBfG § 14 Nr. 68. 83 BAG 3.10.1984 NZA 1985, 561, 561. 84 BAG 7.11.2007 NZA 2008, 467. 85 BAG 7.5.2008 – 7 AZR 146/07, n.v. 86 Vgl. hierzu BAG 17.1.2007 NZA 2007, 566, 569 f.

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Lösungsvorschlag Fall 22

Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG nicht an, sondern auf den Bedarf an der Arbeitsleistung innerhalb der betrieblichen Organisation des Arbeitgebers. Der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung besteht aber so lange, wie der Arbeitgeber die von dem befristet eingestellten Arbeitnehmer ausgeübten Tätigkeiten innerhalb seiner betrieblichen Organisation erledigt. Dies ist auch dann der Fall, wenn er die Arbeiten mit Hilfe von Leiharbeitnehmern verrichtet.

5. Ergebnis Der auf die Unwirksamkeit der Befristung bezogene Feststellungsantrag der B ist unbegründet. II. Anspruch auf Wiedereinstellung nach Ablauf der Befristung? Möglicherweise steht der B gegen die G der von ihr hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Wiedereinstellung nach Ablauf der wirksamen Befristung des Arbeitsvertrags zu. Dies könnte sich daraus ergeben, dass der zunächst befristete Projektauftrag mittlerweile vom Auftraggeber als Dauerauftrag an die G vergeben wurde. Fraglich ist jedoch, ob ein solcher Wiedereinstellungsanspruch bei befristeten Arbeitsverträgen besteht. 1. Die Rechtsprechung des BAG zum Wiedereinstellungsanspruch bei betriebsbedingter Kündigung Ein Wiedereinstellungsanspruch ist nach gefestigter Rechtsprechung des BAG jedenfalls für den Bereich der betriebsbedingten Kündigung anerkannt.87 Danach kann dem gekündigten Arbeitnehmer ein Anspruch auf Wiedereinstellung zustehen, wenn sich zwischen dem Zugang der Kündigung und dem Ablauf der Kündigungsfrist eine unvorhersehbare Weiterbeschäftigungsmöglichkeit ergibt; wenn sich also die im maßgeblichen Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs nicht zu beanstandende Prognose des Wegfalls des Beschäftigungsbedürfnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nachträglich als unzutreffend erweist. Die Rechtsgrundlage für den Wiedereinstellungsanspruch folgt aus einer vertraglichen Nebenpflicht (§ 242 BGB), die aus den Vorgaben des KSchG und der mit diesem Gesetz konkretisierten Schutzgebotsfunktion des Art. 12 Abs. 1 GG gespeist wird. Hintergrund ist, dass der mit Art. 12 Abs. 1 GG (freie Arbeitsplatzwahl) intendierte und einfachgesetzlich durch das KSchG umgesetzte Bestandsschutz nicht deshalb leer laufen darf, weil der für die soziale Rechtfertigung und Wirksamkeit der Kündigung maßgebliche Beurteilungszeitpunkt aus Gründen der Rechtssicherheit auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung vorverlagert ist. In diesem Fall fungiert der Wiedereinstellungsanspruch als notwendiges Korrektiv dafür, dass sich die betriebsbedingte Kündigung im Zeitpunkt ihres Ausspruchs zwar als wirksam erweist, die maßgeblichen Umstände sich aber während der noch laufenden Kündigungsfrist entgegen der ursprünglichen Prognose nachträglich verändern.88

87 BAG 27.2.1997 AP KSchG 1969 § 1 Wiedereinstellung Nr. 1; BAG 4.12.1997 AP KSchG 1969 § 1 Wiedereinstellung Nr. 4; BAG 28.6.2000 AP KSchG 1969 § 1 Wiedereinstellung Nr. 6, vgl. ausf. hierzu m.w.N. ErfK/PREIS § 611 BGB Rn. 324. 88 BAG 28.6.2000 AP KSchG 1969 § 1 Wiedereinstellung Nr. 6.

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Fall 22 Lösungsvorschlag

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2. Übertragbarkeit der Grundsätze zum Wiedereinstellungsanspruch bei betriebsbedingter Kündigung auf befristete Arbeitsverhältnisse? Fraglich ist, ob die Grundsätze zum Wiedereinstellungsanspruch bei betriebsbedingter Kündigung auf befristete Arbeitsverhältnisse übertragen werden können, wenn sich nach dem Vertragsschluss die in diesem Zeitpunkt richtige Prognose des Arbeitgebers, dass nur ein vorübergehender Arbeitskräftebedarf besteht, als falsch erweist. Dafür könnte sprechen, dass auch die Befristungskontrolle auf der Grundlage von § 14 Abs. 1 TzBfG trotz primärer Umsetzung von Vorgaben des sekundären europäischen Unionsrechts (Sozialpartnerrahmenvereinbarung im Anhang der Richtlinie 99/70/EG über befristete Arbeitsverträge) der aus Art. 12 Abs. 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates für den Bestand von Arbeitsverhältnissen dient. Auch ist nicht nur bei betriebsbedingten Kündigungen, sondern auch bei Befristungsabreden eine Prognose über den Wegfall des Beschäftigungsbedarfs zu treffen, die sich, wie auch der vorliegende Fall zeigt, nachträglich als unzutreffend herausstellen kann. Gegen eine Übertragbarkeit spricht jedoch, dass das Befristungskontroll- und das Kündigungsschutzrecht insbesondere seit Inkrafttreten des TzBfG systematisch und teleologisch nicht gleichgesetzt werden können. Das Befristungskontrollrecht dient in Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben vornehmlich der Bekämpfung missbräuchlicher Nutzung befristeter Arbeitsverträge durch Kettenbefristungen.89 Bei der Überprüfung des sachlichen Grundes wird gerade kein fiktiver Kündigungsschutzprozess geführt. Insbesondere kommt es für die Wirksamkeit der Befristung nicht darauf an, ob der Arbeitgeber gerade zum vereinbarten Fristende wirksam hätte kündigen können.90 Dies gilt erst recht für befristete Arbeitsverträge unter dem TzBfG. Dieses hat das gesamte Befristungskontrollrecht von seiner früheren dogmatischen Grundlage im Kündigungsrecht, die von der rechtsfortbildenden Rechtsprechung entwickelt worden ist und sich auf den Gedanken der „Umgehung“ des gesetzlichen Kündigungsschutzrechts stützte, gelöst (vgl. die Anmerkung im Ausgangsfall unter B II 4). Das letztlich ausschlaggebende Argument gegen einen Wiedereinstellungsanspruch bei befristeten Arbeitsverträgen ist jedoch, dass der befristet eingestellte Arbeitnehmer keinen mit einem unbefristet beschäftigten Arbeitnehmer vergleichbaren Bestandsschutz genießt.91 Während dem Arbeitnehmer bei einem Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit durch die Kündigung ein auf Dauer angelegter Besitzstand entzogen wird, besitzt ein nur anfänglich befristet eingestellter Arbeitnehmer zu keinem Zeitpunkt eine schützenswerte Position hinsichtlich der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über das vereinbarte Ende hinaus. Sein Arbeitsverhältnis ist zeitlich von vornherein begrenzt. Bei ihm wird also kein vorhandener Besitzstand beseitigt. Er kann deshalb nicht darauf vertrauen, dass sein Arbeitsverhältnis fortgesetzt wird, wenn sich die Verhältnisse nach Vertragsschluss ändern sollten. Dies liegt vielmehr im Belieben des Arbeitgebers. Insgesamt erweisen sich die systematischen und teleologischen Unterschiede zwischen der Situation bei betriebsbedingter Kündigung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses und bei einem befristeten Arbeitsvertrag als so gewichtig, dass 89 Siehe PREIS/GOTTHARDT ZESAR 2003, 13 f. 90 BAG 21.2.2001 AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 226. 91 BAG 20.2.2002 AP KSchG 1969 § 1 Wiedereinstellung Nr. 11.

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Lösungsvorschlag Fall 22

der für die betriebsbedingte Kündigung entwickelte Wiedereinstellungsanspruch nicht auf Befristungen übertragen werden kann. B kann somit einen solchen gegenüber der G nicht geltend machen. Anmerkung: Ein Wiedereinstellungsanspruch kann sich aber dann ergeben, wenn der Arbeitgeber unmissverständlich (aber durchaus auch konkludent) zum Ausdruck gebracht hat, er werde das befristete Arbeitsverhältnis unter bestimmten Bedingungen fortsetzen. Er hat sich dann im Wege der sog. Selbstbindung auf eine unbefristete Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses festgelegt.92

3. Ergebnis B hat gegen die G auch keinen Anspruch aus § 242 BGB auf Wiedereinstellung nach Ablauf der Befristung des Arbeitsvertrags vom 15.12.2009. III. Gesamtergebnis Da die Klage der B somit insgesamt unbegründet ist, wird das Arbeitsgericht sie abweisen.

Abwandlung 2 Fraglich ist, ob das Arbeitsverhältnis des C durch den Arbeitsvertrag vom 15.12.2010 oder den schriftlichen Arbeitsvertrag vom 7.1.2011 wirksam befristet wurde. A. Wirksame Befristung durch Arbeitsvertrag vom 15.12.2010 C und E haben sich am 15.12.2010 mündlich über die Einstellung des C, die Details sowie die Befristung des Arbeitsvertrags vom 1.1.2011 bis zum 30.10.2011 geeinigt. Das hierdurch unzweifelhaft bestehende Arbeitsverhältnis des C mit der E wäre wirksam durch diesen Arbeitsvertrag vom 15.12.2010 befristet worden, wenn die Schriftform des § 14 Abs. 4 TzBfG gewahrt wurde und der Befristung entweder ein Sachgrund nach § 14 Abs. 1 TzBfG oder die Voraussetzungen einer sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG zugrunde gelegen hätten. I. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG Die Unwirksamkeit der Befristung könnte sich jedoch bereits aus § 14 Abs. 4 TzBfG wegen Verstoßes gegen die Schriftform des § 126 BGB ergeben. § 126 BGB verlangt die eigenhändige Unterschrift von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, welche durch die nur mündlich vereinbarte Befristung am 15.12.2010 nicht erfolgt ist. Somit liegt ein Verstoß gegen das Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 92 BAG 26.8.1998 AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 202; auch aus dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes kann ein Anspruch auf Wiedereinstellung entstehen, wenn Jahr für Jahr alle Saisonarbeitnehmer in der Saison wieder eingestellt werden, die dies verlangen, der Arbeitgeber den Beginn der Saison ohne Vorbehalt am Schwarzen Brett bekanntgibt und sogar Arbeitnehmer neu einstellt, vgl. BAG 29.1.1987 NZA 1987, 627.

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Fall 22 Lösungsvorschlag

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TzBfG vor, der gemäß § 125 S. 1 BGB die Nichtigkeit der Befristung nach sich zieht. II. Heilung durch Bestätigung gemäß § 141 BGB? Fraglich ist, ob die formnichtige mündliche Befristungsabrede durch die Unterzeichnung des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 7.1.2011 gemäß § 141 BGB rückwirkend wirksam geworden ist. Nach § 141 Abs. 1 BGB ist die Bestätigung eines nichtigen Rechtsgeschäfts durch denjenigen, der es vorgenommen hat, als erneute Vornahme zu beurteilen. Die Bestätigung hat somit keine rückwirkende Kraft. Vielmehr entsteht durch die in ihr liegende Neuvornahme ein wirksames Geschäft.93 Bei nichtigen Verträgen besteht jedoch nach § 141 Abs. 2 BGB die Besonderheit, dass die Parteien, die einen solchen bestätigen, im Zweifel verpflichtet sind, einander zu gewähren, was sie haben würden, wenn der Vertrag von Anfang an gültig gewesen wäre. § 141 Abs. 2 BGB enthält mithin eine schuldrechtliche Rückwirkung im Verhältnis der Vertragsparteien zueinander. Denn insofern entspricht es regelmäßig den Interessen der Vertragsparteien, den zunächst nichtigen, später aber wirksam gewordenen Vertrag auch in der Zeit zwischen dem Vertragsschluss und der Bestätigung zu erfüllen.94 Nach Ansicht des BAG ist § 141 Abs. 2 BGB auf die nach Vertragsbeginn erfolgte schriftliche Niederlegung einer mündlich und damit formnichtig getroffenen Befristungsabrede indes nicht anwendbar.95 Eine unmittelbare Anwendung scheitere schon an den gesetzlichen Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 BGB. Der mündlich geschlossene Arbeitsvertrag sei nämlich – abgesehen von der Befristung – von Anfang an wirksam und bilde die rechtliche Grundlage für die daraus resultierenden Rechte und Pflichten der Parteien. Aus der Befristung als solcher ergäben sich überhaupt keine Ansprüche, die schon für die Zeit vor der Bestätigung im Sinne des § 141 Abs. 2 BGB erfüllt werden könnten.96 Bei einer zunächst formnichtigen, später schriftlich festgehaltenen Befristung habe § 141 Abs. 2 BGB daher keinen Anwendungsbereich. Die Vorschrift kann nach Auffassung des BAG auf die nachgeholte Befristungsabrede darüber hinaus auch nicht analog angewandt werden.97 Selbst wenn angenommen würde, das Gesetz zur Schriftform sei lückenhaft, weil der Gesetzgeber den Fall der Nachholung nicht geregelt habe, stünden der analogen Anwendung im Wege teleologischer Auslegung Sinn und Zweck des Schriftformerfordernisses in § 14 Abs. 4 TzBfG entgegen. Das Schriftformerfordernis bezwecke im Hinblick auf die besondere Bedeutung der Befristung, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne weitere rechtsgeschäftliche Erklärung führe, die Gewährleistung größtmöglicher Rechtssicherheit. Der Arbeitnehmer solle bei Vertragsbeginn durch das Lesen der Vereinbarungen erkennen, dass er keinen Dauerarbeitsplatz erhalte, um gegebenenfalls den Vertragsschluss zu Gunsten anderer Angebote ablehnen zu können. Außerdem diene das Schriftformerforder93 BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575, 576 f. m.w.N.; Palandt/ELLENBERGER § 141 BGB Rn. 8. 94 Erman/A. ARNOLD § 141 BGB Rn. 7. 95 BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575, 576 f.; BAG 16.3.2005 NZA 2005, 923, 924 f. 96 BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575, 576 f.; BAG 16.3.2005 NZA 2005, 923, 924 f. 97 BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575, 577; BAG 16.3.2005 NZA 2005, 923, 925.

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Lösungsvorschlag Fall 22

nis der Beweiserleichterung. Dadurch solle unnötiger Streit der Parteien über das Vorliegen und den Inhalt einer Befristung vermieden werden.98 Mit dieser Zwecksetzung wäre es nicht vereinbar, wenn die analoge Anwendung des § 141 Abs. 2 BGB der Geltendmachung der Formnichtigkeit einer zunächst nur mündlich vereinbarten Befristung entgegenstünde. Denn dies eröffne die Möglichkeit, darüber zu streiten, ob überhaupt mündlich eine Befristung vereinbart wurde, die im Nachhinein bestätigt werden konnte. Einen derartigen Streit wolle das Schriftformerfordernis des § 14 Abs. 4 TzBfG jedoch gerade verhindern. Anmerkung: A.A. hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 141 Abs. 2 BGB vertretbar. Insofern wird im Schrifttum mitunter darauf abgestellt, dass die (vom Arbeitsvertrag isoliert zu betrachtende) Befristungsabrede selbst das formbedürftige Rechtsgeschäft, also der „nichtige Vertrag“ im Sinne des § 141 Abs. 2 BGB sei, der sodann bestätigt würde.99 Aber selbst wenn der Bearbeiter entgegen der Auffassung des BAG davon ausgeht, dass § 141 Abs. 2 BGB auf die nach Vertragsbeginn erfolgte schriftliche Niederlegung einer mündlich und damit formnichtig getroffenen Befristungsabrede anwendbar wäre, so bliebe zu prüfen, ob im schriftlichen Arbeitsvertrag vom 7.1.2011 eine Bestätigung der bis dahin nichtigen Befristungsabrede im Sinne von § 141 BGB gesehen werden könnte. Das BAG betont in diesem Zusammenhang, dass eine Bestätigung gemäß § 141 BGB voraussetzt, dass die Parteien den Grund der Nichtigkeit kennen oder zumindest Zweifel an der Rechtsbeständigkeit der Vereinbarung haben. Fehle das Bewusstsein der möglichen Fehlerhaftigkeit des Rechtsgeschäfts, könne nicht von einer Bestätigung im Sinne des § 141 BGB ausgegangen werden.100 Gegen das Vorliegen einer Bestätigung im Sinne des § 141 BGB spricht im Übrigen nicht schon zwingend die Tatsache, dass in der Vereinbarung vom 7.1.2011 durch die Änderung des Befristungsendes eine eigenständige, rechtsgestaltende Regelung getroffen wurde. Nach der Rechtsprechung des BGH kann mit der Bestätigung nämlich auch eine Vertragsänderung oder -ergänzung verbunden werden.101 Letztlich wird vom BGH sogar eine Abänderungsvereinbarung als mögliche Grundlage einer Bestätigung anerkannt.102 Sofern ein Bearbeiter gleichwohl annimmt, dass die vorliegende Regelung aufgrund ihres neuen Inhalts nicht geeignet sei, eine „Bestätigung“ darzustellen, dürfte dies jedoch nicht negativ bewertet werden. Negativ zu bewerten wäre es aber, wenn der Bearbeiter eine Anwendung des § 141 BGB bereits mit diesem Argument abgelehnt hätte und gänzlich auf die Darstellung der Rechtsprechung des

98 BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575, 577; BAG 16.3.2005 NZA 2005, 923, 925 mit Verweis auf BT-Drs. 14/626 S. 11 zu § 623 BGB in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung. 99 BAUER BB 2001, 2526, 2528; STRAUB NZA 2001, 919, 927; die Ansicht des BAG ebenfalls ablehnend BAHNSEN NZA 2005, 676, 677; kritisch auch PREIS NZA 2005, 714, 717. Eine weitere Ansicht vertritt GREINER RdA 2009, 82, 89 f., der in der schriftlichen Niederlegung des Arbeitsvertrags einen Heilungsvertrag sieht, der die ursprüngliche rechtsgeschäftliche Einigung der Parteien formwirksam werden und die Wirkungen der §§ 16 S. 1, 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG rückwirkend entfallen lasse. 100 BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575, 577 m.w.N. 101 BGH 1.10.1999 NJW 1999, 3704, 3705; Palandt/ELLENBERGER § 141 BGB Rn. 6; Staudinger/ROTH § 141 BGB Rn. 15. 102 BGH 6.5.1982 NJW 1982, 1981.

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Fall 22 Lösungsvorschlag

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BAG verzichtet hätte. Insofern wurde ein Eingehen auf diese Rechtsprechung angesichts der deutlichen Sachverhaltshinweise auch in diesem Fall erwartet. Der Bearbeiter hätte mit diesem Argument den Meinungsstreit lediglich im Ergebnis „dahinstehen“ lassen können.

Die formnichtige mündliche Befristungsabrede vom 15.12.2010 wurde durch die Unterzeichnung des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 7.1.2011 nach hier vertretener Ansicht mithin nicht gemäß § 141 BGB rückwirkend geheilt. III. Ergebnis Die Befristungsabrede vom 15.12.2010 ist bereits wegen Verstoßes gegen § 14 Abs. 4 TzBfG unwirksam. Die Missachtung des Schriftformerfordernisses des § 14 Abs. 4 TzBfG führt jedoch nicht zur Nichtigkeit des gesamten Arbeitsvertrags. Gemäß § 16 S. 1 Halbs. 1 TzBfG gilt der rechtsunwirksam befristete Arbeitsvertrag vielmehr als auf unbestimmte Zeit geschlossen. An die Stelle des unwirksam befristeten Arbeitsvertrags tritt ein unbefristeter Arbeitsvertrag. B. Wirksame Befristung durch Arbeitsvertrag vom 7.1.2011 Das Arbeitsverhältnis des C mit der E könnte jedoch durch den schriftlichen Arbeitsvertrag vom 7.1.2011 befristet worden sein. Denn ein wie hier bereits bestehender, unbefristeter Arbeitsvertrag kann auch noch nachträglich befristet werden. Das gilt auch für einen mangels Schriftform unwirksam befristeten Arbeitsvertrag, der ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit nach sich zieht.103 I. Auf Befristung des Arbeitsverhältnisses gerichtete beiderseitige Willenserklärungen Voraussetzung für eine (nachträgliche) Befristung ist, dass die Parteien übereinstimmende, auf diese Rechtsfolge gerichtete Willenserklärungen abgeben haben. Daran fehlt es nach der Rechtsprechung des BAG in der Regel, wenn die Parteien nach Vertragsbeginn lediglich eine bereits zuvor mündlich vereinbarte Befristung in einem schriftlichen Arbeitsvertrag niederlegen. Dadurch wollten sie im Allgemeinen nur das zuvor Vereinbarte schriftlich festhalten und keine eigenständige, rechtsgestaltende Regelung treffen.104 Anders verhält es sich nach jüngerer Rechtsprechung des BAG jedoch, wenn die Parteien vor Vertragsbeginn und vor Unterzeichnung des schriftlichen Arbeitsvertrags mündlich keine Befristung vereinbart haben oder wenn sie eine mündliche Befristungsabrede getroffen haben, die inhaltlich mit der in dem später unterzeichneten, schriftlichen Arbeitsvertrag enthaltenen Befristung nicht übereinstimmt.105 In diesem Fall werde im schriftlichen Arbeitsvertrag nicht lediglich eine zuvor vereinbarte mündliche Befristung schriftlich niedergelegt, sondern eine davon abweichende und damit eigenständige Befristungsabrede getroffen, durch die das zunächst bei Vertrags103 BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575, 577; BAG 13.6.2007 NZA 2008, 108, 109; BAG 16.4.2008 NZA 2008, 1184, 1185. 104 BAG 1.12.2004 NZA 2005, 575, 577; BAG 13.6.2007 NZA 2008, 108, 109; BAG 16.4.2008 NZA 2008, 1184, 1185. 105 BAG 13.6.2007 NZA 2008, 108, 109; BAG 16.4.2008 NZA 2008, 1184, 1185; kritisch PREIS/GREINER RdA 2010, 148, 161.

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„Befristungen ohne Ende?“

Lösungsvorschlag Fall 22

beginn unbefristet entstandene Arbeitsverhältnis nachträglich befristet werde, sofern die weiteren Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Befristung vorlägen. Entsprechend diesen Grundsätzen ist davon auszugehen, dass im schriftlichen Arbeitsvertrag vom 7.1.2011 eine eigenständige Befristungsvereinbarung geschlossen wurde. Die schriftliche Vertragsfassung wich vorliegend von der vorangegangenen mündlichen Absprache inhaltlich ab, da in ihr eine längere Befristungsdauer vereinbart wurde, als die mündliche Vereinbarung vom 15.12.2010 vorsah. Anmerkung: Etwas ganz anderes gilt nach jüngerer Rechtsprechung des BAG im Übrigen auch dann, wenn der Arbeitgeber den Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrags von der Unterzeichnung der Vertragsurkunde durch den Arbeitnehmer abhängig gemacht hat. In diesen Fällen geht es allerdings nicht um eine nachträgliche Befristung eines bereits unbefristet zustande gekommenen Arbeitsvertrags, sondern um den erstmaligen Abschluss des Arbeitsvertrags. Ein ihm gegenüber bis zur Arbeitsaufnahme abgegebenes, schriftliches Vertragsangebot könne der Arbeitnehmer nur durch eine den Anforderungen des § 126 Abs. 2 BGB genügende Annahmeerklärung annehmen. Habe der Arbeitgeber in den Vertragsverhandlungen der Parteien den Abschluss des befristeten Arbeitsvertrags ausdrücklich unter den Vorbehalt eines schriftlichen Vertragsschlusses gestellt oder dem Arbeitnehmer die schriftliche Niederlegung des Vereinbarten angekündigt, so sei diese Erklärung ohne Hinzutreten von außergewöhnlichen Umständen nach dem maßgeblichen Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) dahingehend zu verstehen, dass der Arbeitgeber dem sich aus § 14 Abs. 4 TzBfG ergebenden Schriftformgebot entsprechen wollte und seine auf den Vertragsschluss gerichtete Erklärung nur durch eine die Form des § 126 Abs. 2 BGB genügende Unterzeichnung der Vertragsurkunde angenommen werden kann. Dies gelte auch dann, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer – ohne vorangegangene Absprache – ein von ihm bereits unterschriebenes Vertragsformular mit der Bitte um Unterzeichnung übersendet hat.106

II. Schriftformerfordernis, § 14 Abs. 4 TzBfG Durch die Unterzeichnung des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 7.1.2011 wurde die für Befristungsvereinbarungen erforderliche Schriftform des § 14 Abs. 4 TzBfG im Sinne des § 126 Abs. 1, Abs. 2 BGB gewahrt. III. Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen gemäß § 14 Abs. 1, Abs. 2 TzBfG Allerdings wäre der Arbeitsvertrag vom 7.1.2011 als Befristungsvereinbarung unwirksam, wenn die Befristung nicht durch einen ausreichenden Grund gerechtfertigt und auch kein Fall einer sachgrundlosen Befristung gemäß § 14 Abs. 2, Abs. 2a, Abs. 3 TzBfG gegeben wäre. Eine Prüfung, ob die Befristungsvereinbarung durch einen sachlichen Grund gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG gerechtfertigt ist, wäre dabei entbehrlich, wenn sie bereits als sachgrundlose Befristung zulässig wäre. Zur sachgrundlosen Rechtfertigung der kalendermäßigen Befristung (vgl. die Definition des § 3 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 TzBfG) des Arbeitsvertrags vom 7.1.2011 kommt jedoch mangels dahingehender Sachverhaltsangaben vorliegend weder eine Anwendung des § 14 Abs. 2a TzBfG noch des § 14 Abs. 3 TzBfG in

106 BAG 16.4.2008 NZA 2008, 1184, 1185 f.

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Fall 22 Lösungsvorschlag

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Betracht. Fraglich ist, ob die Befristungsvereinbarung durch § 14 Abs. 2 TzBfG gerechtfertigt ist. 1. Sachgrundlose Befristung gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG Nach § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 TzBfG ist die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig. Gemäß § 14 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 TzBfG ist bis zu dieser Gesamtdauer auch die höchstens dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrags möglich. Eine Befristung nach § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG wäre indes unzulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hätte, § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG. Eine solche Vorbeschäftigung mit demselben Arbeitgeber resultiert vorliegend daraus, dass C und E bereits am 15.12.2010 mittels der formnichtigen Befristungsvereinbarung einen unbefristeten Arbeitsvertrag geschlossen haben (vgl. 2. Abwandlung A II). Mit der tatsächlichen Arbeitsaufnahme am 4.1.2011 kam sodann ein Arbeitsverhältnis im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG zustande.107 Anmerkung: Die Rechtsprechung differenziert insofern zwischen dem Abschluss des Arbeitsvertrags und dem Entstehen des Arbeitsverhältnisses, auf das § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG abstellt. Das Arbeitsverhältnis verlangt auch die tatsächliche Arbeitsaufnahme.108

Einer sachgrundlosen Befristung des Arbeitsvertrags vom 7.1.2011 nach § 14 Abs. 2 TzBfG steht mithin das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG entgegen. Anmerkung: Der Aufbau einer Klausur zur nachträglichen Wahrung der Schriftform ist also nicht ganz unkompliziert, wenn auch eine sachgrundlose Befristung in Frage steht. In diesen Fällen muss der Bearbeiter erkennen, dass der rein formale Schriftformmangel der Befristungsvereinbarung vom 15.12.2010 sich für die nachträgliche Befristungsvereinbarung im Zusammenspiel mit dem Vorbeschäftigungsverbot als materiellrechtlicher Befristungsmangel auswirkt. Dies hat auch weitere Auswirkungen, etwa dass der Arbeitgeber die Möglichkeit der sofortigen Kündigung gemäß § 16 S. 2 verliert.

2. Bestehen eines sachlichen Grundes für die Befristung gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG Die Befristungsvereinbarung vom 7.1.2011 wäre mithin nur dann wirksam, wenn ein sachlicher Grund im Sinne des § 14 Abs. 1 S. 1 TzBfG vorgelegen hätte. Als sachlicher Grund kommt vorliegend lediglich in Betracht, dass der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung des C nur vorübergehend gemäß § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG bestanden hat. Unter § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG ist zwar so-

107 Anderer Ansicht GREINER RdA 2009, 82, 89 f. Der von ihm angenommene, aus dem schriftlichen Arbeitsvertrag resultierende Heilungsvertrag (siehe Fn. 99), ließe auch Wirkungen des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG rückwirkend entfallen. 108 Vgl. hierzu kritisch GREINER RdA 2009, 82, 83 ff.

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„Befristungen ohne Ende?“

Lösungsvorschlag Fall 22

wohl der vorübergehend erhöhte Arbeitskräftebedarf sowie der in Zukunft wegfallende Arbeitskräftebedarf zu fassen.109 Allerdings muss eine Prognose im Zeitpunkt des Vertragsschlusses ergeben, dass aufgrund greifbarer Tatsachen mit einiger Sicherheit der Wegfall des Mehrbedarfs mit dem Auslaufen des befristeten Arbeitsverhältnisses zu erwarten ist.110 Indem E die Befristung damit begründet, dass er die künftige Entwicklung der Auftragslage wegen der unsicheren Konjunktur- und Absatzentwicklung nicht ausreichend abschätzen könne, genügt er den Anforderungen an diese Prognose nicht. Denn der Arbeitgeber darf nicht unter Ausnutzung des § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG die gewöhnliche, durch allgemeine Bedarfsschwankungen begründete Unsicherheit über den zukünftigen Bedarf an Arbeitskräften, die zum typischen unternehmerischen Risiko gehört, auf den Arbeitnehmer abwälzen.111 Die Befristung des Arbeitsverhältnisses ist somit auch nicht nach § 14 Abs. 1 TzBfG wirksam befristet worden. IV. Ergebnis Da weder die sachgrundlose Befristung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG zulässig, noch ein Sachgrund für die Befristung des Arbeitsverhältnisses im Sinne des § 14 Abs. 1 TzBfG gegeben war, ist die Befristungsvereinbarung vom 7.1.2011 unwirksam. Das Arbeitsverhältnis vom 7.1.2011 gilt daher nach § 16 S. 1 TzBfG als auf unbestimmte Zeit begründet. C. Gesamtergebnis Weder der Arbeitsvertrag vom 15.12.2010 noch der schriftlichen Arbeitsvertrag vom 7.1.2011 wurden wirksam befristet. Will C gerichtlich geltend machen, dass die Befristung des Arbeitsvertrags rechtsunwirksam ist, so muss er nach § 17 S. 1 TzBfG innerhalb von drei Wochen nach dem vereinbarten Ende des befristeten Arbeitsvertrags Klage beim Arbeitsgericht auf Feststellung erheben, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgrund Befristung beendet wurde. Streitgegenstand der Klage wäre dann nach den bereits dargestellten Rechtsprechungsgrundsätzen (vgl. im Ausgangsfall unter B II 1) ausschließlich die Befristung des zwischen dem C und der E abgeschlossenen letzten Arbeitsvertrags vom 7.1.2011, während der vorhergehende mündliche Arbeitsvertrag nicht der Befristungskontrolle unterläge.

109 BAG 17.1.2007 NZA 2007, 566, 569; PREIS, Individualarbeitsrecht, § 70 II 1 c. 110 BAG 15.3.1995 AP Art. 13 Einigungsvertrag Nr. 15; BAG 25.8.2004 NZA 2005, 357. 111 BAG 22.3.2000 AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 221.

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