Klaus G. Saur - Die Berliner Jahre 9783110216288, 9783110216271

A great publisher, who often set the tone during his active professional years, is now retiring. Over the decades Klaus

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German Pages 176 Year 2009

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Klaus G. Saur - Die Berliner Jahre
 9783110216288, 9783110216271

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Eine Festschrift – im 21. Jahrhundert?
Wissen Sie, das ist eine lange Geschichte
Worte für Klaus G. Saur am 29. September 2008
Worte für Klaus G. Saur am 29. September 2008
„…geht selbst so wie ich ohne Ziel auf die kleinen Entdeckungsreisen des Zufalls“
Begegnung im Zug
Großartig, großmütig, galant, großzügig, gefährlich – K. G. Saur
„Freiheit des Denkens, Freiheit der Rede“
Der Kugelblitz
Er kam, sah und siegte
Kontinuität und Neuaufbau. Ostberliner Mittelalterhistoriker nach der „Wende“
Ein spezieller Bücherwurm
Der uneitelste Mensch der Welt
Dem Verleger Klaus G. Saur mitgegeben
Der Sinn ist nicht verloren
Ein Fest der Künste. Der Kunsthändler Paul Cassirer als Verleger
Hommage für einen unermüdlichen Kultur-Pendler zwischen Berlin und München
Über Klaus G. Saur und andere Gottesgaben
Ankunft in Berlin
Der große Wissenschaftsverleger
Klaus G. Saurs ansteckende Leidenschaft für die Verlagsgeschichte
Klaus G. Saur kauft K. G. Saur
Die Jacobs Universität Bremen – und ihre Mäzene
Hase & Igel
Klaus G. Saur und die Altertumswissenschaften: Etappen einer Annäherung
Der Nachbar
Der Gastgeber
„Unendlich viele Verdienste“ – Klaus G. Saur und die Staatsbibliothek zu Berlin
Lob des Verlegers Klaus G. Saur
Entrepreneur und Enzyklopädist
Qui Vive
Elite-Universitäten – wieder entdeckt und missverstanden
Reden und Handeln
Bibliothek soll Spaß machen!

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Klaus G. Saur − Die Berliner Jahre



Klaus G. Saur − Die Berliner Jahre Herausgegeben von Sven Fund

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2009

Dieser Band wurde freundlicherweise durch die Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen gefördert.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-021627-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Inhalt Dr. Sven Fund Eine Festschrift – im 21. Jahrhundert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sven Fund Wissen Sie, das ist eine lange Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph Markschies Worte für Klaus G. Saur am 29. September 2008 . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Claudia Lux Worte für Klaus G. Saur am 29. September 2008 . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Jan-Pieter Barbian „… geht selbst so wie ich ohne Ziel auf die kleinen Entdeckungsreisen des Zufalls“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Arnulf Baring Begegnung im Zug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Baumhçver Großartig, großmütig, galant, großzügig, gefährlich – K.G. Saur . . . . Dr. Klaus Beckschulte „Freiheit des Denkens, Freiheit der Rede“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Wolfgang Benz Der Kugelblitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Beuermann Er kam, sah und siegte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Michael Borgolte Kontinuität und Neuaufbau. Ostberliner Mittelalterhistoriker nach der „Wende“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Christina von Braun Ein spezieller Bücherwurm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Torsten Casimir Der uneitelste Mensch der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Joachim W. Dudenhausen Dem Verleger Klaus G. Saur mitgegeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Volker Gerhardt Der Sinn ist nicht verloren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Monika Grtters Ein Fest der Künste. Der Kunsthändler Paul Cassierer als Verleger . .

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Inhalt

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brcher Hommage für einen unermüdlichen Kultur-Pendler zwischen Berlin und München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Hein Über Klaus G. Saur und andere Gottesgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Jakob Hein Ankunft in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. h. c. Klaus-Dieter Lehmann Der große Wissenschaftsverleger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Links Klaus G. Saurs ansteckende Leidenschaft für die Verlagsgeschichte . . Prof. Dr. Wulf D. von Lucius Klaus G. Saur kauft K. G. Saur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Reimar Lst Die Jacobs Universität Bremen – und ihre Mäzene . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Marzin Hase & Igel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Hermann Parzinger Klaus G. Saur und die Altertumswissenschaften: Etappen und Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christian Prosl Der Nachbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Victoria Scheibler Der Gastgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Schneider-Kempf und Dr. Martin Hollender „Unendlich viele Verdienste“ – Klaus G. Saur und die Staatsbibliothek zu Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Klaus Siebenhaar Lob des Verlegers Klaus G. Saur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alexander Skipis Entrepreneur und Enzyklopädist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Friedrich-Leopold Freiherr von Stechow Qui Vive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. jur. George Turner Elite-Universität – wieder entdeckt und missverstanden . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Jochen Vogel Reden und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Karin von Welck Bibliothek soll Spaß machen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eine Festschrift – im 21. Jahrhundert? Ein großer Verleger, während seiner beruflich aktiven Phase mehrfach stilprägend, geht in den Ruhestand. Klaus G. Saur hat über Jahrzehnte Verlagsprojekte heute beinahe unvorstellbaren Ausmaßes erdacht und umgesetzt. Neben unternehmerischem Mut hat er dabei oft genug bewiesen, dass Unmachbares eben doch zu realisieren ist – das Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums ist das wohl augenfälligste Projekt im Bereich des eigentlich Unmachbaren. Angesichts des verlegerischen Vermächtnisses, das Klaus Saur mit dem Eintritt in den Ruhestand – sicher zur weiteren Vollendung in den kommenden Jahren – hinterlässt, stellt sich die Frage nach dem richtigen Format einer Festschrift, noch dazu im 21. Jahrhundert. Der Leser könnte auf den Gedanken kommen, eine Festschrift appelliere an die Eitelkeit und sei unmodern. Unmodern – das ist sie gewiss. Und doch: Wann immer wir in den vergangenen Monaten neugierigen Lesern einen Blick über unsere Schultern gestattet haben bei der Zusammenstellung dieser Festschrift, so wurde klar: einen Menschen und Verleger wie Klaus G. Saur ohne Festschrift in den Ruhestand zu verabschieden, würde uns der Erfahrungen, Geschichten und Anekdoten berauben, die ihn ausmachen und uns oft genug bereichert haben. Bei jeder Festschrift stellt sich die Frage nach der richtigen Darbietungsform, und bei der Würdigung eines Verlegers ist dies umso mehr der Fall. Beiträgern enge Vorgaben zu Umfang, Struktur und gar Inhalt der laudationes zu machen, verbot sich bei der illustren Schar an Autorinnen und Autoren, die einen Stück des Weges mit Klaus G. Saur gegangen sind und seine Berliner Jahre zu einem großen Teil ausmachen. Beiträge nach Bedeutung der Autoren, Stellenwert der persönlichen Beziehungen, chronologischem Eingang der Beiträge oder ähnlichen Kriterien anzuordnen und dem Werk damit im Nachhinein eine Struktur zu geben, die das Leben niemals hat, schien kaum angemessen. Wir haben uns entschieden, dies nicht zu tun und die Beiträge unabhängig von Umfang, Beiträger und Art des Inhalts anzuordnen. Entstanden ist, so meinen wir, ein Mosaik von Begegnungen, Bedeutsamem und Amüsantem, das die Jahre Klaus Saurs als Geschäftsführenden Gesellschafter beim Verlag Walter de Gruyter nachzeichnet.

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Eine Festschrift – im 21. Jahrhundert?

Wie sehr Klaus G. Saur in dieser Zeit das Unternehmen und sein verlegerisches Umfeld geprägt hat, ist bei der Vorbereitung dieser Festschrift mehr als augenfällig geworden. Die Beiträgerinnen und Beiträger widmeten sich mit Leidenschaft und der für eine Publikation dieser Art auch erforderlichen Disziplin der Herausforderung, auf wenigen Seiten ihre ganz persönlichen Erfahrungen und Gedanken zu Papier zu bringen. Ihnen allen danken wir für ihr Mittun sehr herzlich. Es macht einen Verlag aus, in vielen kleinen Arbeitsschritten und mit Respekt vor dem inhaltlichen Charakter eines Buchs dem Gedachten eine angemessene Gestalt zu geben. Christiane Geissler, Sabine Scholz und Florian Ruppenstein haben diese Aufgabe gern angenommen und mit viel Liebe zum Detail umgesetzt. Für ihren Einsatz neben der täglichen Arbeit danke ich Ihnen sehr herzlich. Sven Fund

Wissen Sie, das ist eine lange Geschichte Magnifizienz, lieber Herr Markschies, Spectabilitäten, Frau Generaldirektorin, liebe Frau Lux, Exzellenzen, lieber Herr Professor Lehmann, liebe Gesellschafterinnen und Gesellschafter, verehrte Beiräte, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Saur, lieber Herr Saur, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie im Namen des Verlags Walter de Gruyter herzlich im altehrwürdigen Senatssaal der Humboldt-Universität Gemeinsam mit Ihnen feiern wir heute ein Phänomen in einer Branche, die an Phänomenen und vermeintlichen Phänomenen gewiss nicht arm ist. Das Phänomen – Klaus G. Saur – ist seit atemberaubenden 50 Jahren ein aktiver Bestandteil der Verlagsbranche und hat ihr in prominenten Positionen gedient. Geprägt hat er sie allerdings auf beinahe gegenteilige Weise, nämlich aus dem Hintergrund. In das Jahr seines Berufsjubiläums fällt ein weiteres Ereignis, das für uns alle eine deutliche Veränderung bedeutet. Klaus Saur geht nach vier Jahren als Geschäftsführender Gesellschafter der Verlagsgruppe de Gruyter in den Ruhestand. Ruhestand? Das ist kaum denkbar, aber dazu später mehr. Klaus Saur hat die Verlagsgruppe de Gruyter in den vergangenen vier Jahren stärker geprägt als es vielen Geschäftsführern in einem Unternehmerleben gelingt. Und er hat es in einer Vielzahl von Aspekten getan. Diese Prägungen sind nicht zuletzt Saurs ganz eigener Art geschuldet – dem Phänomen Saur eben. Mehr als alles andere zeichnet Klaus G. Saur seine Aktivität aus. Immer bestens informiert und vermutlich noch besser vorbereitet, ist Saur stets auf der Suche nach neuen Kontakten, in seinen eigenen Worten „außerordentlich hervorragenden Gelehrten“, die er der beeindruckenden Liste der Autoren, Freunde und Förderer des Verlags de Gruyter zuführen kann. Niemanden, den er nicht kennt, niemand, dem er unbekannt ist. Zu allem von Relevanz hat er eine Meinung, und die

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Sven Fund

basiert meist auf akribischer Recherche. Nicht ohne Grund war er 50 Jahre lang Verleger von Referenzwerken, jener Produkte also, die den Zugang zu Wissen vereinfachen und strukturieren sollen. In diesem Zusammenhang beeindruckt mich – zweitens – besonders, dass Klaus G. Saur über ein häufig beschriebenes phänomenales Gedächtnis verfügt, dessen Inhalt er spielerisch einsetzt. „Wissen Sie, Herr Fund, bei den Buchhändlertagen 1972, Sie waren noch nicht geboren…“ – so oder ähnlich begann in der Zeit unserer Zusammenarbeit bei de Gruyter manche Geschichte. Und so geschah es häufig, dass wir von seinem Lebensalter und vor allem seiner Erfahrung profitieren konnten. Ich weiß heute, dass auch dies nicht nur Genialität ist, sondern das Ergebnis eiserner Disziplin: Monatlich werden „Zahlen und Ereignisse“ diktiert und feinsäuberlich abgelegt. Falls man nach 36 Jahren doch nicht ganz sicher ist, an welchem Wochentag die Buchhändlertage 1972 begannen. Erst in der vergangenen Woche konnte ich ein Bonmot von Klaus Saur aufschnappen, das mich zu seiner dritten besonders erwähnenswerten Facette bringt. „Das ist wieder mal so eine Geschichte, es sind viel zu viele, die immer kommen, aber es war halt so irr“. Nein, die Rede ist nicht von nagender Selbstkritik, er halte angesichts voller Terminkalender morgens um halb Neun sein Gegenüber von der Arbeit ab. Es ist das Bekenntnis zur Leidenschaft an Geschichten, am Fabulieren und daran, sich in Geschichten und Anekdoten auch gern einmal zu verlieren. Wer jedoch denkt, dort rede jemand ohne Richtung vor sich hin, irrt gewaltig. Kein Apercu, keine kleine Geschichte, die nicht eine Moral enthält. Für mich persönlich, mit einer gewissen KonzernErfahrung, ist die Art der Wissensvermittlung a la Saur eine ganz neue, und noch dazu eine, die ich schätzen gelernt habe – selbst um Halb Neun bei gut gefülltem Schreibtisch. Zum Erzählen und Fabulieren gehört unweigerlich die auch schriftlich eingesetzte Form des Saurschen Gebrauchs der deutschen Sprache, Facette vier des hier untersuchten Phänomens. Ich denke, dass wir heute, in Anwesenheit einiger Germanisten, die rhetorische Figur des Hyperlativs ausrufen und in die wissenschaftliche Diskussion einführen können. Ich zitiere recht willkürlich aus einem Dokument, das mir in den vergangenen Tagen in die Hände fiel: „Das Jahr 2007 war bei de Gruyter von einer außerordentlich hervorragenden Entwicklung weltweit gekennzeichnet“. Oder: „Herr Professor Müller-Lüdenscheid

Wissen Sie, das ist eine lange Geschichte

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ist der allerbedeutendste und exzellenteste Wissenschaftler nicht nur in seinem Fach, sondern überhaupt.“ Ein fünftes und mehr als augenfälliges Attribut des Phänomens Saur ist sein ungebrochener Wille zur Neuerung. Nicht nur im augenfälligen Sinne wurde unter seiner Geschäftsführung der Staub von den Büchern des Verlagsarchivs gewirbelt. Als ich 2004 das erste Mal in den Räumen von de Gruyter zu Besuch war, fand ich die – milde gesagt – antiquierte Atmosphäre zwar romantisch und den idealen Rahmen für die Verfilmung eines historischen Romans. Arbeiten wollen hätte ich in diesen Räumen aber nicht, hätte ich doch kaum die Chance gesehen, in Staub und dunklem Holz über die Zukunft unserer Branche und die Rolle de Gruyters darin nachzudenken. Klaus Saur hat auch sonst viele alte Zöpfe abgeschnitten, wie ich meine, ohne dem Unternehmen seinen ganz eigenen Charakter und seine Seele zu nehmen. Und er hat neue Ideen im Wochentakt geboren und ihre Realisierung mit einer Zähigkeit verfolgt, die einem unwillkürlich Respekt abverlangt. Nach wie vor ist de Gruyter kein ausschließlich rendite- und finanzmarktorientiertes Gebilde, und Saurs verlegerisches Wirken hat daran ebenso viel Anteil wie die überaus noble Gesinnung unserer Gesellschafter, denen Zukunftsfähigkeit und Unabhängigkeit des Unternehmens über Dividendenausschüttungen gehen. Für mich sind die Berliner Jahre Klaus Saurs die bemerkenswerteste Zeit seiner fünfzigjährigen Berufslaufbahn. Nachdem er bei Saur vor allem durch die Schaffung von Hilfsmitteln zur Erschließung unseres Weltwissens und seiner Buch gewordenen Artefakte auf sich aufmerksam machte, hat sich hier, bei de Gruyter, der Verleger im klassischen, inhaltlichen Sinne Bahn gebrochen. Denn viel mehr als ein genialer Verkäufer seiner Produkte – und ohne Frage auch seiner selbst – ist Klaus Saur ein Überzeugungstäter. Lange bevor selbst ernannte Content-Experten die Mehrfachnutzung von Inhalten als clevere Geschäftsidee entdeckten, verdiente Klaus Saur damit bereits Geld – und investierte es in seine Überzeugung. Geprägt durch die Geschichte seiner Familie und die von ihm stark empfundene historische Verpflichtung, den industriellen Mord vor allem an Juden, aber auch an vielen anderen Menschen, zu sühnen, hat Klaus Saur Zeit seines Lebens Publikationsprojekte zu Themen realisiert, die ihm am Herzen liegen. Da diese Projekte oft wirtschaftlich nicht dazu taugten, davon das täglich Brot zu kaufen, wurde Klaus Saur zu einem begnadeten Strippenzieher auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Unermüdlich warb er

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Sven Fund

Gelder für Projekte ein, deren Realisierung sich andere Verleger nicht zutrauten und die sie wohl nie fertig gebracht hätten. Neben harter Arbeit und guten Verbindungen braucht es dazu eine weitere Facette des Phänomens Klaus Saur: Charme. Den stellt er zwar durchaus immer wieder in den Dienst der Sache, er missbraucht ihn jedoch nie. Mit dem Eintritt Klaus Saurs in den sogenannten Ruhestand – auch diese Kategorie wird er sicher neu definieren – verabschieden de Gruyter und die deutsche Buchbranche heute Abend einen Verleger von echtem Schrot und Korn. Und die Schuhe, die er seinen Nachfolgern hinterlässt, sind wahrlich groß. Ich bin sicher, dass es uns bei de Gruyter gemeinsam – meinen Kolleginnen und Kollegen und mir – gelingen wird, dieses große Erbe anzutreten und im Saurschen Sinne mit Kreativität, Energie und unternehmerischer Weitsicht in die Zukunft zu führen. Wir sind sicher, dass wir trotz aller Unkenrufe gemeinsam mit Ihnen, unseren Autorinnen und Autoren, unseren Partnern, unseren Kundinnen und Kunden, Walter de Gruyter in einem sich rasch ändernden Umfeld erfolgreich entwickeln werden. Die Digitalisierung unserer Produkte, die Internationalisierung unseres Unternehmens und die Orientierung unseres Handelns am Wohl unserer Gesellschafter und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind dabei zentrale Eckpfeiler. Wir sind bereit, und wir freuen uns auf die Herausforderungen, die vor uns liegen. Und natürlich hoffen wir auf Ihre weitere Sympathie auf diesem Weg. Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau, so sagt man wohl. Und so ist es ganz besonders bei Klaus Saur. Seine fast unerschöpfliche Kraft schöpft er aus einer Beziehung, die spätestens mit dem allmorgendlichen Telefonat um 8:30 Uhr beginnt. Zu dieser Zeit hat Klaus Saur schon den ersten und aus seiner Sicht natürlich besten Espresso Berlins sowie einen Berg Post vom Vortag hinter sich. Nach kurzem Telefonat beginnt der Tag dann richtig, wird kalkuliert, korrespondiert und vor allem über Mittag auch gern parliert. Liebe Frau Saur, Ihnen, dem offensichtlichen Quell dieser Kraft, die wir meist genossen, oft ungläubig zur Kenntnis genommen und mach mal auch verflucht haben, unseren ganz herzlichen Dank. Nicht nur Ihrem Mann, auch Ihnen schuldet de Gruyter viel.

Wissen Sie, das ist eine lange Geschichte

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Lieber Herr Saur, wir alle bei de Gruyter sind Ihnen sehr dankbar für das, was Sie in den vergangenen Jahren für uns geleistet haben. Sie haben uns neues Selbstvertrauen und neue wirtschaftliche Kraft gegeben, und so blicken wir heute mehr denn je zuversichtlich in die Zukunft. Dafür unser aller Dank. Ich persönlich möchte Ihnen für die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit in den vergangenen Monaten sehr herzlich danken. Wir beide wussten stets, dass der Übergang Ihnen schwer fallen würde. Gerade deshalb haben Sie Ihr Wissen und Ihre Erfahrung generös geteilt, weit über das hinaus, was man erwarten dürfte. Ich habe viel von Ihnen gelernt – danke. Ein großer Verleger verabschiedet sich in den Ruhestand – nach 50 Jahren beeindruckenden Wirkens. Ich bin sicher, dass viele Menschen auch in Zukunft den fundierten Rat Klaus G. Saurs suchen werden, und ich freue mich, dass einer wie Saur uns sicher noch lange erhalten bleiben wird. Im Namen der Gesellschafter, des Beirats und aller Kolleginnen und Kollegen ist es mir eine große Freude, gemeinsam mit Ihnen den Eintritt Klaus Saurs in den Ruhestand feiern zu können. Ich darf nun Herrn Professor Christoph Markschies, dem Präsidenten der Humboldt-Universität und dem Hausherrn dieser herrlichen Räume, das Wort übergeben. Und ich freue mich auf seinen und den Festvortrag von Frau Professorin Claudia Lux, der Präsidentin des Weltverbandes der Bibliotheken und der Generaldirektorin der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Sven Fund

Worte für Klaus G. Saur am 29. September 2008 A wie abäugeln – nein, liebe festliche Versammlung und vor allem lieber Klaus Saur und liebe Frau Saur, so lieber nicht beginnen. Wenn der Meister des laudatorischen Alphabets zu loben ist, sollten sich die Gesellen lieber nicht in diesem Genre versuchen. Auch dann nicht, wenn ein großes Inventarwerk im Geiste des Verlegers Saur, überraschenderweise schon rund hundert Jahre vor seiner Geburt vom todesmutigen Verleger Salomon Hirzel gegründet, reichlich Material für ein Saursches Alphabet böte und „abäugeln“ ganz gewiß der erste einschlägige Begriff ist – aber auch so darf ich natürlich niemals beginnen. Selbst wenn sich vom Verleger des Wörterbuchs der Brüder Grimm, vom nämlichen Salomon Hirzel, vergleichsweise leicht Brücken ins Leipziger Verlegermilieu und noch leichter zum Berliner Georg Andreas Reimer schlagen ließen – wenn der Meister der anekdotischen Verlagsgeschichten zu loben ist, sollten sich die Gesellen lieber nicht in diesem Genre versuchen. Also bloß kein Alphabet, ja keine Dilettantenexkurse in Verlagsgeschichte – und was dann? Der heute zu Lobende ist ein Meister vieler Genres – leider auch ein Meister des autobiographischen Genres. Wenn ein solcher Meister zu loben ist, werden die Gesellen unweigerlich fehlen, müssen die Gesellen fehlen – indem sie mindestens eine unter vielen schlechterdings entscheidenden und durchschlagenden Geschäftsideen ignorant vergessen, mindestens eine besonders ehrenvolle Senatorenwürde liederlich unterschlagen, mindestens eine Völker besonders tief verbindende Bücherspende luschig auslassen: Ehrenbürger, Ehrendoktor, Ehrenmitglied, Ehrensenator – was das Grimmsche Wörterbuch sub voce notiert, hat er empfangen und noch viel mehr dazu. A wie Auszeichnung, E wie Ehrenprofessor. Und wer je das Vergnügen hatte, in der Genthiner Straße oder anderswo die Geschichte des Hauses vom erwähnten Georg Andreas Reimer, Schwiegervater des gleichfalls erwähnten Hirzel, bis auf den heutigen Tag vorgestellt zu bekommen, ahnt, wie schwer man als Geselle insbesondere die Teleologien des Meisters hinbekommt, jene kaum spürbaren Teleologien in der Autobiographie, die alle Verlagsgeschichte, ja die Geschichte des Buches überhaupt fein und dezent,

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Christoph Markschies

aber im Ergebnis doch deutlich bei Klaus G. Saur enden läßt. Also heute abend auch keine bemühte, aber ganz gewiß unvollständige, angemessener Teleologie entbehrende Biographie des Jubilars, ja keine Dilettantenexkurse in Verlegergeschichte, ebenso wenig wie in Verlagsgeschichte und laudatorischen Alphabeten. Wovon aber dann reden? Vielleicht – das bietet sich ja in BerlinMitte an – von den Erfahrungen eines lesenden Arbeiters im Präsidentenamt mit dem Verleger Klaus G. Saur und den Fragen, die sich aus solchen Erfahrungen ergeben? Meine erste Begegnung als Leser mit dem Verleger Klaus Saur datiert auf den ersten Tag meines Studiums – Sie ahnen das: Einführung in das Bibliographieren in der Universitätsund in der Fakultätsbibliothek. Studienbeginn mit K.G. Saur. D wie Deutsches Biographisches Archiv. G wie Gesamtverzeichnis. K wie Kürschner. Und so weiter und so fort. Friedrich Pfäfflin hat das wunderbar als „ein enzyklopädisches Weltreich“ bezeichnet, in dem wie einst bei Karl die Sonne nicht untergeht. Frage: Was für ein Großprojekt wird er nun beginnen, da der Verlag in Genthiner Straße flott gemacht wurde, das schwankende Schifflein zu einem majestätisch die Meere pflügenden Großsegler sich gemausert hat? Meine nächste intensivere Begegnung mit Klaus Saur begann mit einem kräftigen Erschrecken. Sie ahnen: Wer wie ich kaum etwas lieber tut, als in antiken Texten zu lesen, und in wessen Arbeitszimmer daher zwei Farben im Bücherregal dominieren – Orange und Blau, der zuckte zusammen, als eines Tages von eben jenen orangenen und blauen Bändern das typographisch so eindrückliche Signet Benedictus Gotthelf Teubners verschwand. Sorgte sich, ob sein eigenes oranges Bändchen wohl nun den Weg in die schrecklichen Ramschantiquariate oder gar schlimmere Wege antreten müsse. Hätte ich damals schon gewußt, daß der Verantwortliche solchen Verschwindens schon seit Jahren aufsichtsrätliche Verantwortung für den Verlag eines engen Freundes von Teubner trug – Sie wissen alle, daß ich Friedrich Arnold Brockhaus meine – dann wäre mir eher deutlich gewesen, daß auch in diesem Fall der einstige Leipziger Student der Rechte recht behalten hat: „Name ist Schall und Rauch“. Wichtig ist ja allein, daß auch hier wieder einmal Klaus Saur ein großes altes Unternehmen vor dem Ruin gerettet hat, aus den Fängen einer Familie, die es, wenn ich das recht weiß, eher als Appendix zu einer Banknotenpapierdruckerei führte. Und typographisch betrachtet ist das Aufstapeln von Büchern im Verlagssignet ja mindestens so elegant wie das Aufstapeln der Buchstaben B – G – T ; der vor seinem Bücherregal sinnierende Autor der Biblioteca Scriptorum Graecorum et Romanorum

Worte für Klaus G. Saur am 29. September 2008

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Teubneriana erkennt das dezente Signet aus der Ferne ohnehin nicht, zumal bei näherer Betrachtung die orangenen und blauen Bände übrigens bisweilen ja noch ein drittes Verlagssignet tragen, ein merkwürdig verschlungenes „O“, das Signet eines bekannten Hildesheimer Verlagshauses. Wenn ich so weiterrede, meine Damen und Herren, droht aber wieder Gefahr der billigen Gesellenkopie von ungleich perfekteren Werken des Meisters. Denn natürlich könnte ich jetzt beispielsweise weiter über Brockhaus und Teubner parlieren, einst und heute, ante und post. Ihnen beispielsweise die schöne Geschichte erzählen, daß 1813 bei der Völkerschlacht von Leipzig Teubner von Marodeuren eine Kuh erhandelt hatte, sie nach dem Keller des Reichelschen Gartens (also dem Wohnhaus von Brockhaus trieb) und sie dort schlachtete. In der Teubner-Festschrift von 1911 heißt es weiter: „der Mediziner Puchelt zerlegt sie kunstgerecht, und Brockhaus sorgt für die Zubereitung. Die schon bestehende Geschäftsverbindung zwischen Brockhaus und Teubner schließt sich währenddem enger“. Frage: Sind die wunderbaren Essen, zu denen Klaus Saur in die Genthiner Straße und in viele andere ausgesuchte Örtlichkeiten lädt, nun eine direkte Folge seines immensen verlagsgeschichtlichen Wissens? Ist er gar in seiner kurzen Zeit ein Reimer Redivivus geworden, der er schon ein Teubner Redivivus war? Oder sind die Essen nur ein kluger Rat einer klugen Ehefrau, wie schon bestehende Geschäftsverbindungen enger geknüpft werden können? Und wo werden wir uns mit ihm das nächste Mal sehen? „So viele Berichte, so viele Fragen“. Wenn der Geselle den Meister also nicht durchs Alphabet loben sollte, nicht durch Verlags- und auch nicht durch Verlegergeschichte – dann könnte er ihn ja wenigstens als Hausherr in diesem – aber da stock’ ich schon – wunderschönen Saal loben. Als Präsident der Einrichtung, an der Klaus Saur nicht nur als Honorarprofessor wirkt, an der es vielmehr auch eine von ihm gestiftete „Klaus G. Saur-Bibliothek“ gibt. Auf der Homepage dieser Einrichtung kann man die verheißungsvollen Worte lesen „Die Bibliothek ist wochentags fast immer offen“ und „die Bibliothek steht prinzipiell allen Interessierten offen“. Wie üblich eilt die virtuelle Realität der materiellen Realität voraus, aber so etwa planen wir für die im nächsten Jahr zu eröffnende große neue Universitätsbibliothek hinter dem Bahndamm und sind Klaus Saur tief dankbar dafür, daß er auch für dieses Großprojekt wieder seinen klugen Rat und seine rastlose Tat zur Verfügung stellt, wie auch schon vorher im Rahmen des Institutes für Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Wovon hätte der Hausherr nun nicht alles zu sprechen und wenn er für

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Christoph Markschies

die Akademie drüben das Wort ergreifen wollte, auch gleich noch von einem Wissenschaftspreis und von vielen anderen Klein- und Großprojekten. Frage, ich gestehe offen: bange Frage des lesenden Arbeiters im Präsidenten- und Sekretarsamte: Wird er, der in Berlin so viel saniert hat, nun nach München entschwinden, wie schon vorher sein Leibund Magenlaudator, gleichfalls Honorarprofessor am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft, besonders herzlich begrüßt an dieser Stelle? Eigentlich, lieber Herr Lehmann, hätten Sie schon bei der Nennung von einer der beiden Farben der Bibliotheca Teubneriana eigens begrüßt werden müssen, aber solche Insiderscherze pflegen das Publikum mindestens so lange zu langweilen, bis es Aufklärung beim Buffet erhalten kann. Also lieber weiter im Text der Frage: Wird Klaus G. Saur also mit Klaus D. Lehmann nach München entschwinden und uns hier wieder in den alten, gemütlichen, schrecklichen West- und Ostberliner Trott verfallen lassen? Und nun in Osteuropa oder sonst wo immer sanieren? Aufbauen? Zusammenfügen? Doch halt. Im Alphabet wollten wir uns ja nicht versuchen. Da zitiert der Theologe lieber den Apostel: lµ c´moito. Zu deutsch: Das sei ferne. Oder noch präziser: Das wäre absurd. Viele, die sich anschicken, in den Ruhestand zu treten, werden festgehalten. Und von alt-neuen Freunden mit alten wie neuen Aufgaben gelockt, umgarnt, gefesselt. Da bilden wir natürlich keine Ausnahme: Aller Dank hat Hintergedanken. Aber zu banal darf man das natürlich nicht anstellen, das Umgarnen. Sonst merkt es der kluge Geschäftsmann. Und verständige Menschenkenner. Also zum Schluß noch einmal nach Leipzig. Zu einem der beiden Verleger, die ihre Geschäftsbeziehungen beim Essen zu vertiefen pflegten. Zu Brockhaus. Die Festschrift zum zweihundertsten Geburtstag des Verlages Brockhaus – übrigens das erste Buch, das mir Klaus Saur geschenkt hat – schließt mit einem schönen Motto, mit dem ich auch schließen kann. Eigentlich soll man ja kein fremdes geistiges Eigentum stehlen und schon gar nicht am Schluß einer Laudatio für einen so engagierten Kämpfer für geistiges Eigentum und seine juristische Absicherung in Zeiten räuberischen elektronischen Publizierens – aber nun habe ich heute abend ja immer wieder und wieder gesagt, worüber ich nicht reden kann, reden sollte, reden darf – und also wechsle ich zum guten Schluß einmal trotzig das Genre und rede einmal so, wie schon ein anderer geredet hat und variiere, was über einen von Klaus Saur beaufsichtigten Verlag gesagt wurde, auf Klaus Saur: Fünfzig Jahre Verleger Klaus Saur – ein guter Anfang! Ich reihe mich als Leser, als Autor, als Akademie-Sekretar, als

Worte für Klaus G. Saur am 29. September 2008

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Präsident nur zu gern ein in die Schar der Gratulanten und hoffe, Sie, meine Damen und Herren, und allzumal den zu Lobenden mit meiner Gratulation nicht allzusehr gelangweilt zu haben. Christoph Markschies

Worte für Klaus G. Saur am 29. September 2008 Lieber Klaus G. Saur, es ist heute ja nicht das erste Mal, dass wir Klaus G. Saur als Verleger verabschieden, und wir alle werden auch heute nicht ganz sicher sein können, ob es das letzte Mal ist. Halten wir also die Möglichkeit offen, dass wir uns in Zukunft noch einmal zu einem solchen feierlichen Ereignis treffen können, aber feiern wir mit dem Jubilar gemeinsam diesen besonderen Anlass: sein Ausscheiden aus dem Verlag de Gruyter nach einer sehr erfolgreichen Arbeit in den letzten vier Jahren und sein 50jähriges Berufsjubiläum als Verleger. Wenn Sie Klaus G. Saur gut kennen, dann wissen Sie, dass er sich in sympathischer Art und Weise über sich selbst freuen kann und ihm die Anzahl der bei seinen Festen und Ehrungen anwesenden Exzellenzen, Magnifizenzen, Präsidenten und Präsidentinnen, Generaldirektoren und Generaldirektorinnen sowie sonstige Honorationen äußerst wichtig ist. Ich heiße die so Angesprochenen daher heute hier extra noch einmal in seinem Namen herzlich willkommen. Das bedeutet aber keineswegs, dass er mit Nicht-Honorationen den Kontakt abbricht, nein, er hat eine Art von altmodischer Treue und bewundernswerter Freundschaft. So trifft man immer wieder auf Menschen, die sich freuen, dass er ihnen noch immer zum Geburtstag einen Gruß schickt, obwohl sie ihm eigentlich nicht mehr „nützen“ können. Man findet diese Eigenschaft von ihm sehr schön und ist erfreut, wenn er auch solche Freundschaften immer wieder aktiviert. Er vergißt keinen Geburtstag, kein Jubiläum und ist so außergewöhnlich gastfreundlich und großzügig, dass er sich extra entschuldigt, wenn er mal nur Wein und Brezeln spendiert, weil die Schar der Gäste wieder zu große Ausmaße angenommen hat. Man kann ihn auch einladen, muss aber dann sehr geschickt mit dem Bezahlen schneller sein als er, was meist nur durch eine Vorbesprechung mit dem zuständigen Kellner gelingt. Wenn er wirklich jemanden besonders mag, dann sind seine Lobeshymnen nicht zu toppen: Worte wie glänzend, hervorragend, wunderbar, perfekt strömen nur so aus ihm heraus, so dass der oder die

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so Geehrte manchmal nicht ganz sicher sein kann, ob nicht vielleicht in der Übertreibung schon ein erstes Fünkchen amüsante Distanz zur Ehrung liegt. Eine weitere Eigenschaft, die ein Teil seiner positiven Energie ausmacht, ist seine Ungeduld. Heute das ist eine Ausnahme, dass er geduldig zuhört – oder zuhören muss. Und ich verrate nichts Neues, wenn ich Ihnen sage, dass er auch diesen Abschied sorgfältig bis ins Detail plant, die Auswahl der Vortragenden trifft, die Selektion der Gäste persönlich überwacht und bewusst entscheidet, wer diesmal nicht eingeladen werden soll. Nachdem er mir also aufgetragen hat, dass ich heute zu Ihnen reden muss, wurde ich in den de Gruyter Verlag zitiert, mit einem vorzüglichen Espresso bestochen und erhielt – übrigens zum ersten Mal, obwohl wir uns schon über 23 Jahre kennen – einen einstündigen Vortrag über sein Leben und ein entsprechendes Manuskript mit über 14 Seiten, das ich Ihnen heute vortragen soll. Leider habe ich das Manuskript verloren, was ich ihm natürlich nicht sagen konnte, so dass ich seine Lebensdaten nur noch aus der Erinnerung präsentieren kann. Selbstverständlich wird Klaus G. Saur nach mir reden und Ihnen sogleich erläutern, welche Fehler in diesem Vortrag gemacht wurden. Ich habe deshalb schon mal 5 Fehler für ihn eingebaut, und bin sicher, dass er sie alle findet. Klaus G. Saur wurde am 27. Juli 1941 in Pullach bei München geboren. Die meisten von Ihnen werden Pullach im Isartal gar nicht kennen oder nur in Verbindung mit dem bisherigen Sitz des Bundesnachrichtendienstes (BND), mit dem Klaus allerdings nichts zu tun hat, da er Geheimnisse zu gerne verrät. Dass sein Vater ein hoher Nazi war, von dem er sich in aller Deutlichkeit distanziert, hat er bei vielen Gelegenheiten dargelegt und eine besondere Aufgabe in seinem Verlegerleben darin gesehen, sich in Sachen Exil, Holocaust und Aufklärung über den nationalsozialistischen Terror sowie in der Stiftung „Weiße Rose“ zu engagieren. Schon mit 12 Jahren arbeitet er regelmäßig im Verlag seines Vaters mit, dem Verlag Dokumentation der Technik. Von 1957 bis 1959 besucht er die höhere Handelsschule in München. In dieser Zeit hilft er im Verlag bei der Bearbeitung der monatlichen Universalbibliographie Technik und Wirtschaft, die erste Repro-Kumulationsbibliografie, die auf der Auswertung von Nationalbibliographien, die weltweit von Nationalbibliotheken erstellt werden, erfolgt.

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Nun müßte ich, wenn es nach Klaus G. Saur ginge, mit den einzelnen Stationen seines Verlegerlebens fortfahren. Das werde ich auch, aber entsprechend dem internationalen Motto meiner IFLA-Präsidentschaft „Libraries on the Agenda – Bibliotheken auf die Tagesordnung“ – werde ich mich vorwiegend auf seine Beziehungen zu Bibliotheken konzentrieren. Denn tatsächlich ist Klaus G. Saur ein verhinderter Bibliothekar. Er hat selbst erzählt, dass er sich in jungen Jahren einmal vergeblich um eine Ausbildungsstelle zum Bibliothekar bemühte. Und so wurde er – zum Glück, wie die Bibliothekare sagen, als sie ihn 1999 zum Ehrenmitglied ihres Verbandes machen – Verleger, ein Verleger mit einer besonderen Affinität zu Bibliotheken und Bibliothekaren, und einer, der seine wirtschaftlichen Erfolge auf seinen guten Beziehungen zu Bibliotheken aufbaut. Er weiß, Bibliotheken haben international eine riesige Kaufkraft. Da sich Bibliothekare immer etwas mehr für die Menschen als für Geld interessieren, werde ich Ihnen nur selten erfolgreiche Auflagenzahlen benennen, sondern lieber ein wenig vom Menschen Klaus G. Saur und seiner Arbeit aus der Sicht der Bibliothekare berichten. Menschen sind es auch, die Klaus G. Saur 1958 noch nicht einmal 18jährig bei seiner ersten Teilnahme an den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt am meisten beeindrucken. Er besucht die Deutsche Bücherei in Leipzig, wobei ungeklärt ist, ob er es in noch kurzen oder schon in langen Hosen tat, wie ein ausführlicher Aufsatz in seiner Festschrift darlegt, und fragt dort nach den Beziehungen zur Deutschen Bibliothek in Frankfurt. Ab Januar 1960 beginnt Klaus G. Saur seine Lehre bei Santo Vanasia in Köln, einer internationalen Exportbuchhandlung, die allerdings ein Jahr nach seinem Eintritt in Konkurs geht. Nach dieser beeindruckenden Erfahrung führt er seine Ausbildung im Westdeutschen Verlag in Opladen weiter und besucht die Deutsche Buchhändlerschule in Köln-Rodenkirchen. Dort ist er bekannt und beliebt als Kenner des kaufmännischen Rechnens, deren Geheimnisse er bereitwillig anderen in nur zwei Tagen vermittelt. Nach bestandener Prüfung folgt eine kurze Tätigkeit beim Westdeutschen Verlag und erste Kontakte mit dem Institut für Publizistik in Berlin – das den prd, den publizistikwissenschaftlichen Referatedienst produziert, den Klaus G. Saur dann ab 1967 in München verlegt. 1969, als ich an diesem Institut studierte, fiel mir mit diesem Produkt zum ersten Mal etwas aus seinem Verlag in die Hände.

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Nach Abschluss der Buchhändlerschule wird er im Frühjahr 1962 Vertriebsleiter beim Vulkan Verlag von Dr. W. Classen in Essen, wo er das ,Pressehandbuch Exportwerbung‘ bearbeitet. Wegen Erkrankung seines Vaters kehrt er im November 1963 nach München zurück und tritt in den väterlichen, Verlag für Dokumentation der Technik in Pullach ein. Dort kümmert er sich um die erste Herausgabe des Internationalen Verlagsadressbuchs – heute das Publishers International ISBN Directory in der 35. Ausgabe. Er bereist das Land und besucht Bibliotheken schon mit der Idee im Koffer, einen Fachverlag für das Buchund Bibliothekswesen zu entwickeln. Erneut trifft er auf der Buchmesse in Leipzig mit Bibliothekaren zusammen, die zukünftig das Bibliothekswesen der DDR bestimmen werden. Drei Dinge werden ihm damals schon bescheinigt: Ein Interesse an Rezensionen, die er tatsächlich liest, eine umfangreiche Reisetätigkeit und eine emsige Geschäftstätigkeit – kreativ und erfolgreich, das ist der Eindruck der Bibliothekare von ihm. Folgerichtig erscheint 1966 die erste Ausgabe des World Guide to Libraries. Angeblich hat er dabei den Namen „World Guide to…“ erfunden, der wird aber schon 1962 im Verlag seines Vaters genutzt, was nicht ausschließt, dass er es dennoch selbst erfunden hat. Im gleichen Jahr wird der Verlag auf ihn und seinen Bruder übertragen, doch erst einige Jahre nach dem Tod des Vaters wird der Familienname für den Verlag eingeführt, dessen Benutzung er zuvor noch aus den bekannten Gründen gescheut hat. Nachdem er 1967 die Mehrwertsteuer auf einer Tagung des Börsenvereins erklärt bekommt, entwickelt er eine Tabelle zum Ablesen der Mehrwertsteuer, von der er 100.000 Stück verkauft. Eine Tabelle, die auch ich bei einem meiner Ferienjobs damals benutzt habe, wie ich mich gut erinnere. Der Bruder verläßt nach eigenen Angaben 1970 den Verlag, Klaus behauptet es war 1969. Im August 1968 nimmt Klaus G. Saur an seiner ersten IFLA Konferenz in Frankfurt/Main teil, der Konferenz des Weltverbands der Bibliotheken. Dadurch entstehen Kontakte zu wichtigen aktiven und zukünftigen Bibliotheksdirektoren, wie auch zu Hans-Peter Geh, der den Kongress als junger Bibliotheksrat in Frankfurt mit organisiert und später IFLA Präsident wird. Klaus G. Saur zählt in dem mir überlassenen Manuskript anläßlich dieser Konferenz seine ersten Kontakte zu wichtigen deutschen und internationalen Bibliothekaren in einer langen Liste auf: da war HansWilhelm Eppelsheimer, der Sacherschließungspapst der damaligen Zeit,

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Hermann Liebars von IFLA und Gustav Hofmann, ehemaliger Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek und ebenfalls Präsident der IFLA bis 1963, Wilhelm Hoffmann, Bibliothekar und Präsident der Schillergesellschaft, Joachim Wieder von der Bibliothek der Technischen Universität in München, Franz Kaltwasser, später Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek, sowie Horst Kunze, Generaldirektor der Deutschen Staatsbibliothek Unter den Linden. Sie merken – es sind alles Männer, an die er sich erinnert, denn die damalige Bibliothekswelt war zumindestens auf der Leitungsebene eine Männerwelt. Und in Wirklichkeit sind es noch viel mehr Bibliothekare, die sich erinnern, Klaus G. Saur auf genau diesem IFLA-Kongress in Frankfurt 1968 zum ersten Mal getroffen zu haben. Da dem Börsenverein ein Buffet für die Bibliothekare zu teuer war, haben einige Verleger zusammengelegt und einen Empfang organisiert. Klaus G. Saur kann heute noch denjenigen Verlag benennen, der damals zwar versprochen hat, den Empfang für die Bibliothekare zu unterstützen, seinen Anteil aber nie bezahlte. Ansonsten ist er nicht nachtragend. Es war eine besondere IFLA Konferenz, jene im Jahr 1968, denn während dieser Zeit im August fand der Einmarsch der Warschauer Pakt Staaten in Prag statt und die Situation der russischen Bibliothekskollegen und derjenigen aus der DDR war außerordentlich angespannt. Im gleichen Jahr fand zum 20jährigen Verlagsjubiläum in Pullach eine Feier statt – die K. G. Saur als den ersten seiner später berühmten Empfänge im Münchener Verlagshaus deklariert. Natürlich nimmt er auch am internationalen Verlegerkongress im gleichen Jahr teil, aber in seinen schriftlichen Erinnerungen gibt es hier keine Person, die er speziell benennt – im Unterschied zu den Bibliothekaren. Wichtiger ist ihm sein Besuch in Israel mit dem Ehepaar Walter und Inge Jens und sein persönlichen Erfolg dort, mit seinem Charme geschickt die vorsichtige Distanz der israelischen Kollegen zu deutschen Verlegern und Buchausstellungen aufzuweichen. 1970 erscheint in seinem Verlag die erste Ausgabe des deutschen Who is who auf der Frankfurter Buchmesse, das für ihn selbst ein wichtiges Arbeitsinstrument ist, denn er informiert sich immer bestens über seine Gesprächspartner. In einem Exklusivvertrag mit dem Börsenverein übernimmt der Saur Verlag für einige Jahre die Produktion des „Verzeichnis Lieferbarer Bücher“, ein Werk das nicht nur jeder Buchhändler, sondern auch alle Bibliotheken benötigen. Der wirtschaftliche Erfolg bringt dem Verlag eine positive Entwicklung.

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Als junger Mensch fällt er auf mit diesem Verlag, viele Bibliothekare haben dies bestätigt, als sie in einer Festschrift für ihn ihre ersten Begegnungen mit ihm beschrieben. Er ist überaus freundlich, charmant und neugierig, und weiß gleich alles über seine Gesprächspartner, die er auf ihre Veröffentlichungen oder ihre Positionen im Bibliothekswesen direkt anspricht. Das Jahr 1971 markiert einige wichtige Entscheidungen, die Klaus G. Saur in seinem Verhältnis zu Bibliothekaren auszeichnen. Er entwickelt in seinem Verlag die Reihe Bibliothekspraxis und wünscht sich Günther Pflug, in dem er schon den zukünftigen Generaldirektor der Deutschen Bibliothek in Frankfurt erkennt, zum Herausgeber. Im gleichen Jahr unterzeichnet er den Vertrag mit IFLA, der das Zeitschriften- und Buchprogramm des Weltverbands der Bibliotheken umfasst. Die erste Publikation aus dieser Kooperation des „Verlags Dokumentation Saur OHG“ ist das IFLA Jahrbuch 1972, das erste Werk in der IFLA-Reihe erscheint 1974, und das erste Heft des IFLAJournals 1975. Von 1973 an nimmt Klaus G. Saur in den folgenden 30 Jahren an allen IFLA-Kongressen teil. Und der Saur Verlag gibt seinen ersten IFLA-Empfang auf dem Kongress schon 1969, und danach jedes weitere Jahr bis 2001. Klaus G. Saur schafft sich damit eine internationale Fangemeinde, der er dann wieder gezielt seine Verlagspublikationen verkauft. Seine regelmäßigen Besuche in Bibliotheken und vor allem bei den Bibliotheksdirektoren bringen ihm nicht nur einen exzellenten Überblick über die Themen im Bereich Bibliothek und Information ein, sondern man trägt auch außergewöhnliche Ideen an ihn heran, die die Arbeit der Bibliothekare erleichtern sollen. Einer dieser Vorschläge kommt im Januar 1975 von Reinhard Oberschelp aus der Landesbibliothek Hannover, der ihm die Idee zu einem Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen bibliographisch erfaßten Schrifttums von 1700 bis 1965 vorschlägt. Schon Mitte Dezember des gleichen Jahrs liegen die ersten zwei Bände der 150 bändigen Ausgabe von 1911 – 1965 vor. Danach erscheint mit weiteren 160 Bänden das Verzeichnis für die Jahre 1700 bis 1910. Ein grandioser Erfolg und für uns Bibliothekare, die Mitte der 80iger Jahre ihre Ausbildung machen, das Verzeichnis, in dem mit 1mal Nachschlagen nahezu alle älteren Werke bibliographiert werden können. Klaus G. Saur betont gerne, dass die Bibliotheksdirektoren ihm damals von diesem Projekt abraten – sicher vor allen Dingen deshalb, weil man Sorge hat, dass der schöne Erwerbungsetat allein nach München fließen wird. Und so kommt es dann auch.

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Dieses Werk wird an alle wissenschaftlichen Bibliotheken flächendeckend verkauft, mit einer Ausnahme, die der Verleger natürlich niemals bekannt gibt und die nur durch Zufall in einem FAZ-Artikel Erwähnung findet. Es ist zunächst ein hohes Investitionsrisiko. Doch Klaus G. Saur, immer kühler Rechner und leidenschaftlicher Verleger, fragt seine Freunde und findet bei Harrassowitz Zuspruch und Aufträge. Dann folgt ab 1976 ein weiteres Großprojekt: der Marburger Index, eine Dokumentation der Kunst und Architekturgeschichte auf Mikrofiche. Dieser bringt ihm zunächst einen wirtschaftlichen Verlust ein und den Verlag an den Rand der Krise – Jahre später (1985) aber auch seinen ersten Ehrendoktor Titel, dem weitere folgen. Die nächsten Jahre mit der schnellen Expansion seiner Subunternehmen in New York und London sowie dem Projekt „British Library Catalogue“ bringen den Verlag im Sommer 1980 schließlich in eine existentielle Krise. Alle Kosten werden heruntergefahren, Klaus G. Saur fliegt nur noch Stand by und verzichtet sogar auf seinen geliebten Espresso – aber lädt dennoch den einen oder anderen Geschäftspartner – sprich Bibliothekar – zum Essen ein. Am 30. September 1980, also morgen vor 28 Jahren, kommt die Rettung. Seine Freunde lassen ihn nicht im Stich, bedeutende neue Bestellungen laufen ein, auch von Bibliotheken, und ein Großauftrag von Harrassowitz rettet die schwierige Situation. Auch der teure Mietvertrag in London kann gekündigt werden. 1981 kann der Saur-Verlag wieder Gewinne erzielen und ein neues Groß-Projekt, das Biographische Handbuch der Deutschen Emigration 1933 – 1945 wird als das Standardwerk eine der wichtigsten Publikationen für Klaus G. Saur und ist für ihn Anlass, mehr zum Thema Holocaust und Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu veröffentlichen. Über Jahrzehnte hat der Verlag Dokumentation, dann SaurVerlag, den Büchern einen Einband in der Farbe ,orange‘ gegeben. Es ist sein Markenzeichen, das dann in den 80er Jahre mit einigen anderen Farbakzenten ergänzt wird. Eine frühere Ausnahme wird nur von Klaus-Dieter Lehmann erreicht – damals noch Bibliothekar an der Universitäts- und Stadtbibliothek Frankfurt. Ich selbst lerne Klaus G. Saur 1985 kennen und frage ihn wenig später, ob er meine Arbeit über das chinesische Bibliothekswesen in der Reihe Bibliothekspraxis veröffentlichen will. Er stimmt sofort zu und es erscheint ebenfalls in orange. Nach einer sehr guten Entwicklung des Verlags bis 1987 – von 1963 bis 1987 vermehrt sich der Umsatz des Verlags um mehr als 170 mal und

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das Meiste davon durch Bibliotheken – verkauft Klaus G. Saur zum 1. Juli 1987 den Saur-Verlag an die Reed Gruppe, zum Bereich von Butterworth und Bowker – Bowker, der 30 Jahre zuvor sein absolutes Vorbild als Verlag in der von ihm selbst angestrebten Qualität war. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt er jedem seiner Bekannten, dass er den Verlag verkauft hat. Ein besseres Marketing für seine Rede beim Bibliothekartag in Augsburg, wo er die Gründe erläutern muss, hätte er nicht produzieren können. Bis auf den letzten Platz ist das Auditorium besetzt und an den Seiten und oben stehen die Bibliothekarinnen und Bibliothekare und lauschten, was ihr geliebter Verleger zu seinem feigen Abgang zu sagen hat. Und dann die Erleichterung, gepaart mit etwas Skepsis, als er mitteilt, dass er zwar den Verlag verkauft habe, aber weiterhin der Geschäftsführer des Saur Verlags bleibe. Einige können sich aber dennoch beim anschließenden Empfang mit Speis und Trank nicht zurückhalten, und schlagen zu, als sei es der letzte Saur-Empfang bei einem Bibliothekartag. Im gleichen Jahr 1987 wird Klaus G. Saur auch Mitglied im Beirat der Deutschen Bibliothek. Von 1987 bis 2003 sehen ihn die Bibliothekarinnen und Bibliothekare zwar immer mal wieder unter neuem Label, wie Elsevier oder Thomson, aber er steht zu seinem auf Bibliotheken orientierten Programm. Alles läuft weiter und wird nach der Wende durch Aktivitäten in Leipzig und durch große und alte Projekte wie Kürschners Gelehrtenkalender oder die Altertumswissenschaften aus dem Teubner-Verlag ergänzt. Immer wieder erzählt er selbst von seinem geschickten und erfolgreichen Verhandeln. Stärker als zuvor rücken die Universitäten in seinen Blick, vor allem die Universitäten der neuen Bundesländer und die Bibliotheken der ehemaligen UdSSR. In dieser Zeit wird er von Ehrungen geradezu überschüttet: Ehrendoktor, Ehrensenator, Honorarprofessor, Bundesverdienstkreuz – Preise und Ehrungen ohne Ende und Mitgliedschaften in Freundeskreisen. Doch dann kommt 2003. Er muss gehen, er muss seinen geliebten Verlag verlassen, die Altersgrenze von 60 Jahren ist schon überschritten. Den Bibliothekaren gegenüber betont er immer wieder, dass er noch Vorsitzender im Beirat des Saur-Verlags bleibt, andere Verlage berät und bald auch Beiratsmitglied bei de Gruyter wird. Aber ehrlich mal – ein Leben als Beiratsmitglied ist für diesen umtriebigen und rastlosen Gestalter, diesen wirtschaftlich denkenden Kopf kein Leben. Alle, die sich an diese Zeit erinnern, wissen es – plötzlich ist er nicht mehr, wie er immer war. Er kränkelt, man merkt

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ihm an, dass ihm die Arbeit fehlt, doch alle sind nett zu ihm und sagen nichts. Und sie wissen nicht, mit welcher Energie und Zähigkeit er schon 2004 im Beirat des de Gruyter Verlags anbietet, sich selbst als befristeter Geschäftsführer, der dafür sogar nach Berlin kommen will. Tatsächlich gelingt es ihm, die Gesellschafter für diese Entscheidung zu gewinnen und am 1. Januar 2005 den Vorsitz der Geschäftsführung zu übernehmen. Aus dem Projekt Berlin, das er anfangs als „ich bleib’ da nur in der Woche und am Wochenende bin ich wieder in München“ verkauft, wird sein neues Leben in der Hauptstadt. Das schöne Haus in München bleibt immer häufiger unbewohnt – denn auch seine Frau, die in wunderbarer Weise sein Leben begleitet und ihn stützt, kommt immer länger nach Berlin. So unterstützt und noch beflügelt durch den Erwerb einer Espressomaschine für sein neues Büro in Berlin, die dafür sorgt, seinen Energiepegel oben zu halten, begibt er sich an die Sanierung des de Gruyter Verlags. Die Kostensenkungen beginnen mit der Abbestellung der Süddeutschen Zeitung im Wert von 350 Euro, die aus dem Postkasten von de Gruyter immer gestohlen wird, bis hin zu großen Richtungsentscheidungen für die Produktion, um den Verlag aus der Verlustzone in eine Gewinnzone zu bringen. Im Vergleich zu damals hat sich heute die Gewinnsituation bei de Gruyter verzwölffacht. Doch die Bibliothekare hat das nicht mehr so interessiert. Sie freuen sich über die Einladung zu seinem 65. Geburtstag und über die schöne kleine Bibliographie mit seinen Reden und Aufsätzen der Jahre 1963 – 2006, nicht auf Microfiche, sondern fein gedruckt. Zwischen März und August 2006 wird es noch einmal spannend. Sein alter Saur Verlag steht zum Verkauf und Klaus G. Saur versucht wieder einmal die Quadratur des Kreises und kauft seinen alten Verlag, der nun schon Saur-Niemeyer-Verlag heißt, für de Gruyter. Für das deutsche Bibliothekswesen ist es erneut eine spektakuläre Angelegenheit, der große Freund der Bibliothekare und Bibliothekarinnen, denn inzwischen waren auch einige Frauen in Leitungspositionen hinein gewachsen, kauft seinen alten Bibliotheksverlag, so wird er ja immer betrachtet, wieder zurück. Und er läßt alle wissen, zu welch günstigem Preis. Die Besonderheit des Saur Verlags, dass in den ersten neun Monaten des Jahres grundsätzlich mit Verlust gearbeitet wird und in den letzten drei Monaten alle Gewinne eingefahren werden, was wohl an dem merkwürdigen Kaufverhalten der Bibliothekare liegt, führt dazu, dass im Jahr der Übernahme 2006 ein sogenannter „windfall profit“ erzielt wird, da er die Verluste der ersten Monate nicht übernehmen

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muss, sondern nur die Gewinnphasen mitnehmen kann. Dies kommt dem neuen Großverlag de Gruyter nun zu Gute und unterstützt die von Klaus G. Saur geplante Modernisierung des Verlags mit Online-Versionen der Zeitschriften, E-Book Produktion und Digitalisierung der Bestände. Wenn er nun geht, hinterläßt er ein großes Werk. Und was sagen die angehenden Bibliothekare über ihn? Man schätzt ihn als wandelnde Buchhandelsgeschichte, Zahlen, Fakten, Personen hat er sofort im Kopf und spannender als er kann es kein anderer erzählen. Die aktuellen An- und Verkäufe im Verlagsbereich kennt und analysiert er. Man bewundert, dass alles, was er ist, mit Büchern zu tun hat, dass alles, was er will, mit Büchern zu tun hat, dass alle Menschen, die er kennt, mit Büchern zu tun haben. Er ist für Bibliothekare ein wunderbarer Freund und eine große Persönlichkeit. Nur wenn er sagt: „Wissen Sie“ oder auch „Wissen Sie noch“ – dann schrecken alle seine Zuhörer zusammen, denn natürlich wissen sie es nicht mehr, was er jetzt erzählen wird, und man muss vorsichtig sein, denn keiner hat ein so gutes Gedächtnis wie er selbst – auch für angeblich Nebensächliches. Claudia Lux

„…geht selbst so wie ich ohne Ziel auf die kleinen Entdeckungsreisen des Zufalls“ Franz Hessels „Spazieren in Berlin“ als Einladung zur Erkundung der Großstadt

1. Wer war Franz Hessel? Geboren wurde er am 21. November 1880 in Stettin, wo der Vater als Getreidehändler und Bankier zu Wohlstand kam. Doch das Leben von Franz Hessel spielte sich geografisch und geistig in einem Städtedreieck zwischen Berlin, München und Paris ab. 1888 zogen Heinrich und Fanny Hessel mit ihren Kindern von der pommerschen Hafenstadt nach Berlin. Franz Hessel wuchs in einer zwischen dem Landwehrkanal und dem Tiergarten gelegenen Villa auf. Der Reichtum des Vaters sicherte ihm den Genuss einer „Jugend in würdig-unbeschwerter Weise.“1 Die wunderbare Sorglosigkeit, Offenheit und Freiheit dieser Welt hat Franz Hessel in seinem ersten Roman „Der Kramladen des Glücks“, der 1913 bei Rütten & Loening in Frankfurt am Main erschienen ist, festgehalten. Nach seinem Abitur am Joachimsthalschen Gymnasium in BerlinWilmersdorf ging Hessel 1899 nach München. Dort schloss er sich dem Schwabinger Künstlerkreis um Stefan George, Ludwig Klages und Karl Wolfskehl an, wahrte jedoch eine kritische Distanz zu dessen elitärer Esoterik. Zusammen mit Franziska zu Reventlow (1871 – 1918) gab Hessel 1904 den „Schwabinger Beobachter“ heraus – die Parodie einer Zeitung, deren Ausgaben als Schreibmaschinendurchschläge vervielfältigt und in die Briefkästen eines ausgewählten Adressatenkreises verteilt wurden. 1905 erschien im S. Fischer Verlag Hessels erster Gedichtband: „Verlorene Gespielen“. Die Welt der Münchner Bohème scheint ihm dann aber doch zu klein geworden zu sein. 1906 emigrierte Hessel erstmals nach Paris, wo er am Montparnasse der künstlerischen Avantgarde Europas begegnete. Die französische Metropole entwickelte sich für ihn zu einer „,Schule 1

Mayer, Lebendige Schatten, S. 53.

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des Genusses‘, zu einer Schule des Flanierens, zu einer Traumstadt“.2 Und Paris wurde für ihn lange Zeit zu einer zweiten Heimat. 1913 heiratete er dort die Berlinerin Künstlerin Helen Anita Grund (1886 – 1982), die er im Herbst 1912 im Café du Dôme kennen gelernt hatte. „Sie haben ja Augen wie Goethe in mittleren Jahren“: So seltsam wie dieses erste Kompliment, an das sich Helen Hessel in einer Rede zum zehnten Todestag ihres Mannes 1951 erinnerte, verlief auch ihre Ehe. Dem gebildeten Schöngeist, phantasievollen Träumer und Liebhaber der Menschen stand eine mit viel Lebensenergie, Realitätsnähe und Sinn für das Praktische ausgestattete Ehefrau gegenüber, die sich sowohl in ihrer Ehe als auch in ihrer geistigen Entfaltung als Modejournalistin für die Frankfurter Zeitung in den 1920er Jahren oder als Übersetzerin von Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ (Rowohlt Verlag, 1959) alle Freiheiten nahm. Die spätere Liebe Helen Hessels zu ihrem Mann und zu Henri-Pierre Roché (1879 – 1959) hat François Truffaut 1962 zu seiner einfühlsamen Verfilmung des Romans „Jules und Jim“ (1953 bei Gallimard erschienen) inspiriert, in dem der französische Schriftsteller diese Dreiecksbeziehung aus den 1920er Jahren zu seinem Freund und seiner Geliebten nachgezeichnet hat. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete die „Pariser Romanze“, an die Franz Hessel 1920 in seinem ersten bei Ernst Rowohlt veröffentlichten Roman wehmütig erinnert. Ende Juli 1914 wird der erste Sohn, Ulrich, noch in Genf geboren, wo sich die Hessels seit dem Winter aufhielten. Kurze Zeit später muss Franz Hessel nach einer Rekrutenausbildung als Landsturmmann, Zensor und Briefträger im Elsaß und in Polen dem kaiserlichen Deutschland dienen. Nach dessen Untergang kehrte Hessel nach Berlin zurück, wo 1917 sein zweiter Sohn Stéphane geboren worden war. Es begann ein Jahrzehnt großer Produktivität als Schriftsteller und Übersetzer. Die Inflation raubte ihm das Vermögen, das er von seinem 1900 verstorbenen Vater geerbt hatte. Damit war Franz Hessel erstmals in seinem Leben gezwungen, für Geld zu arbeiten. Macht nichts: In einer Anfang Oktober 1922 in der Wochenzeitschrift „Tage-Buch“ unter dem Pseudonym Schnellpfeffer veröffentlichten Glosse „Genieße froh, was du nicht hast“ verkündete er seine neue Lebensphilosophie: „Ich bin auch einer von denen, die sich erst Zeit ließen und nachher nicht auf den Schwung aufpassten. Aber

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Vollmer, Der Flaneur, S. 729.

Franz Hessels „Spazieren in Berlin“

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nun kann mir die Armut nichts mehr anhaben. Ich genieße. Alles, was in den bestauntesten Schaufenstern ausliegt.“3 Bis 1933 schrieb Hessel zahlreiche Essays, Porträts von Menschen und Städten, Glossen und Kritiken für angesehene Zeitungen und Zeitschriften, veröffentlichte Erzählungen und Romane, steuerte Einführungen und Vorworte zu Anthologien und den Text zu einem Bildband über Marlene Dietrich (Kindt & Bucher, Berlin 1931) bei. Doch keins seiner Bücher „hat Erfolg beim großen Publikum gehabt“, wie seine Frau im Rückblick feststellen musste, „so sehr auch die Kritik immer wieder auf die Vollkommenheit der Sprache, die Originalität und Weisheit seiner Gedankengänge, die silberstiftzarte Zeichnung seiner gestalten hinwies.“4 Im Hauptberuf war Hessel seit 1923 als Lektor im Rowohlt Verlag beschäftigt. Die Herausgabe der Literaturzeitschrift „Vers und Prosa“ im Jahre 1924 blieb eine Episode. Doch zusammen mit Paul Mayer (1889 – 1970) wurde Hessel in der Weimarer Republik zu einem präzisen Beobachter und nachhaltigen Förderer der nationalen wie internationalen Literatur der Moderne. Obwohl persönlich eher ein Einzelgänger und Einsiedler, nahm Hessel doch intensiv am gesellschaftlichen Leben Berlins teil: sei es aus Anlass der legendären Verlagsfeiern bei Ernst Rowohlt, bei denen er mit Martin Beradt, Valeriu Marcu, Rudolf Olden, Alfred Polgar, Leopold Schwarzschild und Wilhelm Speyer zusammentraf, oder im Hause seines Freundes Walter Benjamin, wo er Otto Klemperer, Siegfried Kracauer, Asja Lacis und Laszlo Moholy-Nagy begegnete. Neben den aufwändigen Arbeiten als Lektor, Schriftsteller und Feuilletonist betätigte sich Hessel auch als Übersetzer von Meisterwerken der französischen Literatur. 1921 hatte er bereits für die von Franz Blei im Georg Müller Verlag herausgegebene Stendhal-Ausgabe zwei Novellen und den Essay „Über die Liebe“ übersetzt. Von 1923 bis 1926 lektorierte er die 44 Bände umfassende Balzac-Ausgabe im Rowohlt Verlag und lieferte selbst zwei Bände in makelloser Übersetzung. Es folgten Übersetzungen der Werke Baudelaires (1924), der Erinnerungen von Giacomo Casanova (1925), dessen Gesamtwerk er zusammen mit Ignaz Jezower in zehn Bänden herausgab, der Erinnerungen Yvette Guilberts unter dem Titel „Lied meines Lebens“ (1928), der Unterhaltungen Clemenceaus mit seinem Sekretär (zusammen mit Paul 3 4

Hessel, Sämtliche Werke, Band V, S. 18 – 20, hier S. 18. Helen Hessel, C’était un brave. Eine Rede zum 10. Todestag Franz Hessels, in: Letzte Heimkehr nach Paris, S. 69 – 94, hier S. 89.

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Mayer, 1930). Auch Werke von Julien Green, von Paul Valéry und seines Freundes Henri-Pierre Roché wurden von ihm übertragen. Eine Sonderstellung nehmen die Übersetzungen des zweiten und dritten Bandes von Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ein, die Hessel 1926/27 zusammen mit Walter Benjamin in Paris vornahm. Auf ausdrücklichen Wunsch von Jules Romains durfte Hessel von 1935 bis 1938 für den Rowohlt Verlag sieben Bände des insgesamt 27 Bände umfassenden Romanzyklus „Die guten Willens sind“ veröffentlichen – unter ausdrücklicher Nennung seines Namens, obwohl Hessel als sogenannter „Nichtarier“ bereits 1935 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde und damit einem Berufsverbot unterlag. Die mit der nationalsozialistischen Machtübernahme ausbrechende „Zeit der Finsternis“ machte, wie sich Paul Mayer erinnert, „für Hessel aus seinem heimlichen Berlin eine unheimliche Stadt, die er trotz allem noch liebte. Der Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten beraubt, musste er die wenigen, aber auserlesenen Einrichtungsgegenstände seiner Wohnung verkaufen. Ein Stück nach dem anderen verschwand, auf dem der Blick geruht hatte; zuletzt fehlte auch die jahrhundertealte Truhe, und das Zimmer war kahl wie der Ausblick in die Zukunft. […] Franz Hessel, einer der liebenswertesten Menschen, wurde das Opfer der grausamsten Zeit.“5 Bei einem Spaziergang Mascha Kalékos mit „dem seltsamen heiligen Franz“ durch die Berliner Kaiserallee kommentierte er sein Befremden gegenüber dem Zeitgeschehen mit einer Verszeile: „Und Heimat ist Geheimnis –/nicht Geschrei!“.6 1933 erschien mit der Prosasammlung „Ermunterungen zum Genuß“ sein letztes Buch zu Lebzeiten. Ernst Rowohlt, der nicht nur ein Auge für die literarischen und übersetzerischen Qualitäten Hessels, sondern auch ein Herz für den Menschen hatte, beschäftigte seinen Lektor genauso inoffiziell weiter wie den ebenfalls mit Berufsverbot belegten Paul Mayer – solange es ging. Doch als der Verleger selbst im Sommer 1938 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde, war auch Hessel schließlich zur Emigration gezwungen. Auf Initiative seiner zwischenzeitlich von ihm geschiedenen und wieder geheirateten Ehefrau und mit einem von Jean Giraudoux, dem 5 6

Mayer, Lebendige Schatten, S. 58 – 59. Zitiert aus einem Vortrag von Mascha Kaléko vom Februar 1956 in Kassel bei Manfred Flügge, Sichtbare Vergangenheit, in: Letzte Heimkehr nach Paris, S. 151 – 173, hier S. 172.

Franz Hessels „Spazieren in Berlin“

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damaligen Pressechef des französischen Außenministeriums, vermittelten Einreisevisum kam Franz Hessel im Oktober 1938 an der Gare du Nord an. Doch diese „Letzte Heimkehr nach Paris“, die er auf ergreifende Weise in einem literarischen Fragment beschrieben hat, ist gekennzeichnet von wehmütigen Erinnerungen, Trauer über das verlorene Leben in Berlin und Bitterkeit im Hinblick auf das, was ihn jetzt erwartete. Er war nun nicht mehr ein gern gesehener Gast und mit der weltoffenen Metropole vertrauter Freund, sondern nur noch „Zaungast“ und „Métèque“ – einer der zahlreichen zur Last fallenden politischen Emigranten und als Deutscher ein misstrauisch beobachteter potentieller Feind Frankreichs. Immerhin kam er dank der Vermittlung seines Freundes Wilhelm Speyer (1887 – 1952) als Bibliothekar bei Baronin Aléx de Rothschild unter. Neben dieser Sinekure konnte er unter dem Pseudonym Hesekiel bis zum August 1939 Feuilletons in der Pariser Tageszeitung veröffentlichen. Noch vor dem deutschen Überfall auf Frankreich wichen Franz, Helen und Ulrich Hessel im April 1940 nach Sanary-sur-Mer aus, wo sie zunächst im Haus von Aldous Huxley, später in einem kleinen Miethaus unterkommen. Am 29. Mai 1940 wird Hessel zusammen mit seinem Sohn Ulrich und zahlreichen anderen deutschen Emigranten als „feindlicher Ausländer“ im Lager Les Milles interniert. Die sanitären und hygienischen Bedingungen waren für Hessel ebenso wie für Tausende seiner Leidensgenossen – unter ihnen Lion Feuchtwanger und Alfred Kantorowicz – eine physische und seelische Last. Nach einem leichten Schlaganfall wurde Hessel Ende Juli 1940 entlassen. Doch er erholte sich nicht mehr von dieser letzten demütigenden Erfahrung und starb am 6. Januar 1941 in seinem spartanisch eingerichteten Turmzimmer. Zehn Jahre später hat sich Helen Hessel in einer Art nachgetragener Liebe an den Tod und an das besondere Wesen ihres Mannes erinnert: „Er starb, wie er gelebt hatte, arm an Besitz, sanft, ohne Klage und ohne Kampf. […] Franz Hessel liebte Menschen. Er liebte sie gewissermaßen ohne Ansehen der Person. […] Es sind aber tatsächlich immer und überall viele Menschen um ihn gewesen, nicht nur interessante und bedeutende, sondern auch solche, die nichts weiter zu bieten hatten als eine kuriose Manier, belanglos zu sein. Hessel nahm alle mit der gleichen unbefangenen Freundlichkeit an, denn, genau wie er sich nie um eine Begegnung oder Bekanntschaft mit Berühmtheiten bemühte, lehnte er auch niemanden ab. Was das Leben ihm zutrug, war ihm

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willkommen.“7 Ähnlich liebevoll schrieb sein Kollege und Freund Paul Mayer: „Er bedurfte der Schätze der äußeren Welt nicht, um den Zauber des Daseins zu empfinden. […] Das Fluidum der Güte ging von ihm aus. Toleranz war sein Wesen. […] Humor besaß er, der nie bitter wurde, und die Selbstironie des Weisen. […] Er steckte voller Schnurren, Geschichten, Rätseln und Reimen.“8 Und Alfred Polgar (1873 – 1955), in dessen Nachlass sich das Manuskript von Hessels letztem, unvollendet gebliebenem Roman „Alter Mann“ fand, porträtierte den Freund 1948 als „Lastträger“: „Er war eine reine Seele und schrieb ein reines Deutsch. Unter seinem Blick und Wort wandelte sich die Finsternis rundum zu einer Nacht aus tausendundeiner, schrumpfte diese Welt voll Teufeln zu einem Spielwerk zusammen, dessen Mechanismus zu betrachten die Qual, in ihm eingeschlossen zu sein, lohnt.“9

2. „Spazieren in Berlin“ Mitten in der Hektik der modernen Großstadt, umgeben von Autos, Bussen, Eisenbahnen, Straßenbahnen, U-Bahnen, entdeckte Franz Hessel das Spazierengehen: „Diese recht altertümliche Form der Fortbewegung auf zwei Beinen, sollte gerade in unserer Zeit, in der es soviel andre weit zweckmäßigere Transportmittel gibt, zu einem besonders reinen zweckentbundenen Genuß werden.“10 Während für seine Zeitgenossen feststand, dass es das „Flanieren“ nicht mehr gibt, da es „dem Rhythmus unserer Zeit“ widerspricht, propagierte Hessel genau dies: Spazieren um seiner selbst willen, als Müßiggang und als Übermut – wie das Dichten. Den „zeitgenössischen Spaziergangsaspiranten“ empfahl er den Besuch der eigenen Stadt oder des eigenen Stadtviertels, um dort Dinge zu entdecken, die sie bislang noch überhaupt nicht gesehen oder wahrgenommen hatten. „Erlebe im Vorübergehn die merkwürdige Geschichte von ein paar Dutzend Straßen. Beobachte nebenbei, wie sie einander das Leben zutragen und wegsaugen, wie sie abwechselnd stiller und lebhafter, vornehmer und ärmlicher, kompakter 7 Helen Hessel, C’était un brave, S. 69, 72 und 73. 8 Mayer, Lebendige Schatten, S. 54 – 55. 9 Alfred Polgar, Der Lastträger, in: Letzte Heimkehr nach Paris, S. 103 – 106, hier S. 106. 10 S. hierzu und zum Folgenden Franz Hessel, Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen“, in: Sämtliche Werke, Bd. V, S. 68 – 73.

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und bröckliger werden, wie und wo alte Gärten sich inselhaft erhalten mit seltenen Bäumen, Zypressen und Buchsbaum und regenverwaschenen Statuen, oder verkommen und von nachbarlichen Brandmauern bedrängt absterben. […] Und neben all diesem Bleibenden oder langsam Vergehenden bietet sich deiner Wanderschau und ambulanten Nachdenklichkeit die Schar der vorläufigen Baulichkeiten, der Abbruchgerüste, Neubauzäune, Bretterverschläge, die zu leuchtenden Farbflecken werden im Dienst der Reklame, zu Stimmen der Stadt, zu Wesen, die rufend und winkend auf dich einstürmen mit Forderungen und Verlockungen, während die alten Häuser selbst langsam von dir wegrücken. […] Verfolge im Vorübergehn die Lebensgeschichte der Läden und der Gasthäuser. Lern das Gesetz, das einen abergläubisch machen kann, von den Stätten, die kein Glück haben, obwohl sie günstig gelegen scheinen, den Stätten, wo die Besitzer und die Art des Feilgebotenen immer wieder wechseln. […] Wieviel Schicksal, Gelingen und Versagen kannst du aus Warenauslagen und ausgehängten Speisekarten ablesen, ohne daß du durch Türen trittst und Besitzer und Angestellte siehst.“ En passant, ohne einzutreten oder sich einzulassen, die vielfältige und reichhaltige Poesie der Straße und des Alltags zu erkennen, war nach Auffassung Hessels das Privileg des Spaziergängers. „An wie viel erinnern sich seine Sinne! Viele fremde Straßen von früher sind dann mit in der vertrauten, durch die er geht. Und was sieht ihn alles an! Die Straße lässt ihre älteren Zeiten durchschimmern durch die Schicht der Gegenwart. Was kann man da alles erleben! Nicht etwa an den offiziell historischen Stellen, nein, irgendwo in ganz ruhmloser Gegend.“ So wie ein Schriftsteller wirkliche Menschen, ihr Denken und ihre Gefühle, ihr Handeln und ihre Interaktionen als Vorlage für die Literatur nimmt, so liest auch der Spaziergänger „die Straße wie ein Buch, er blättert in Schicksalen, wenn er an Hauswänden entlang schaut. […] Der richtige Spaziergänger ist wie ein Leser, der ein Buch wirklich nur zu seinem Zeitvertreib und Vergnügen liest – auch das ist ein selten werdender Menschenschlag heutzutage, da die meisten Leser in falschem Ehrgeiz wie auch die Theaterbesucher sich für verpflichtet halten, ihr Urteil abzugeben.“ Nicht das Wandern oder das in den 1920er Jahren moderne „Footing“, sondern nur das entspannte und ziellose Spazierengehn versprach den höchsten Genuß. Seinen hektisch umhereilenden, an der Oberfläche verharrenden und die Essenz des Lebens verfehlenden Zeitgenossen legte Hessel eine solche „Schule des Genusses“ nahe:

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„Gibt es so etwas? Es sollte das geben, heute mehr denn je. Und wir sollten alle aus Menschenliebe in dieser Schule lehren und lernen.“ Die Philosophie oder Poetik des Spazierengehens, die Hessel in diesem Essay für die Literarische Welt aus dem Jahr 1932 reflektierend vorstellt, hat er selbst auf seinen Lebensort Berlin angewandt. Am 27. Januar 1929 warb Hessel in der Reisebeilage der Kçlnischen Zeitung mit einem Essay für „Das andere Berlin“.11 Den skeptisch bis ablehnend auf die Reichshauptstadt blickenden Rheinländern machte er deutlich: „Berlin selbst in der Stadt, die so heißt, zu entdecken ist gar nicht so leicht. Diese Stadt ist sozusagen immer unterwegs, im Begriff anders zu werden. Sie ruht nicht in ihrem Gestern aus. Und das Heute, die neuen Theaterbauten, Warenhäuser, Verlagshäuser, Fabriken, planvoll angelegten Wohnblöcke in der Stadt und Siedlungen der Umgegend, das alles ist noch so im Werden, man kann es kaum als Gegenwart empfinden. So sucht man denn nach sichtbarer Vergangenheit.“ Neben den historischen Schichten deckt Hessel vor allem auch die sozialen Schichten auf. Ihn interessiert dabei nicht der oberflächliche Glanz der mondänen Metropole mit ihren Stars aus Politik, Wirtschaft und Kultur, um den man in anderen Regionen Deutschlands die Reichshauptstadt beneidete, sondern das soziale Elend. „Wer eine Großstadt kennenlernen will, darf die Quartiere der Armut nicht auslassen. […] geh’ in die Höfe hinein, den schrecklichen ersten und den schrecklichern zweiten, sieh’ die fahlen Kinder, die da lungern und hocken, geh’ an ihnen vorbei eine ausgetretene Stiege hinauf, und wenn du es dir zumuten kannst, tritt ein in eine der dumpfen Wohnküchen. Sieh’ in die Gesichter derer, die abends aus der Halle des Ringbahnhofs heimtreiben. Steh’ einmal morgens, wenn die Bude geräumt wird, vor der ,Palme‘, einem der Asyle für Obdachlose, und lasse dir die Gäste entgegenkommen.“ Diesem Milieu der Armut, das in der Berichterstattung der Zeit nicht vorkam und auch im Gedächtnis der Gegenwart keine Rolle mehr spielt, obwohl es mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise zu einem Schicksal für Millionen Menschen wurde, hat Hessel 1930 unter der Überschrift „Herberge und Heimat“ einen liebevollen Einblick in der von Martin Hürlimann herausgegebenen Zeitschrift Atlantis. Lnder/Vçlker/Reisen gewidmet.12 11 Franz Hessel, Sämtliche Werke, Bd. III, S. 272 – 276. 12 Heft 12, Dezember 1930, S. 705 – 717 (mit 24 Photos). Wiedergegeben in Franz Hessel, Sämtliche Werke, Bd. III, S. 276 – 279.

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Als ein „Bilderbuch ohne Bilder aus Gegenwart und Vergangenheit, aus Wiedersehn und Zufallsentdeckung“ hat Franz Hessel selbst sein Meisterwerk „Spazieren in Berlin“ charakterisiert.13 Es erschien 1929 im Verlag Dr. Hans Epstein, Leipzig & Wien. Hessel schlüpft in die Rolle des Flaneurs, um den „Zeitlupenblick des harmlosen Zuschauers“ auf die unterschiedlichen Bezirke Berlins und ihre Besonderheiten zu richten. Die Langsamkeit, mit der er sich in die Straßen hineinbewegt, weckt das Misstrauen der Geschäftigen. Denn: „Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin.“ (S. 7) 14 Die „Heimatkunde“, die der Autor flanierend betreibt, bezieht die große Vergangenheit, die Geschichten der Straßen und Gebäude, der Viertel und Plätze, der glanzvollen Fassaden der Schlösser, Palais’, Banken oder Ministerien, der elenden Hinterhöfe, der Kirchen und Friedhöfe, der Parks, Gärten und Laubenkolonien, der Wälder und Seen ebenso mit ein wie den Blick auf die städtebauliche Neugestaltung der Zukunft, die zu jener Zeit vom Berliner Stadtbaurat Martin Wagner (1885 – 1957) rund um den Alexanderplatz, den Potsdamer Platz und den Bülowplatz vorangetrieben wurde. Die besondere Schönheit Berlins entdeckt Hessel vor allem in der Welt der Arbeit. Daher gewährt er immer wieder Einblicke in die Produktionsstätten von Borsig, Siemens und anderen Großunternehmen. Neben den Fabriken sind es vor allem die kleinen und mittleren Handwerksbetriebe, die Warenhäuser Wertheim und Tietz, die vielfältig spezialisierten Fachgeschäfte und die unterschiedlichen Wochenmärkte in den Bezirken, das Ullsteindruckhaus und die Sarottiwerke in Tempelhof, deren Arbeiten und Angeboten er nachgeht. Den heutigen Leser dieser genauen Beobachtungen und einfühlsamen Beschreibungen befällt unweigerlich eine wehmütige Erinnerung an eine in der Weltwirtschaftskrise ausgehöhlte und im Zweiten Weltkrieg endgültig untergegangene Welt. So wird Berlin nie mehr sein. Hessel erzählt auch von der „Lebenslust“: den zahlreichen Möglichkeiten, in Kaffeehäusern, Restaurants und Bierpalästen den Hunger und Durst zu stillen, im Sportpalast die besondere Atmosphäre des Sechs-Tage-Rennens und auf der Avus spektakuläre Autorennen zu erleben oder das Nachtleben in den Variétés, Tanzpalästen, Bars und Bordellen auszukosten. Mit dem 13 So die „Selbstanzeige“ in der Zeitschrift „Tage-Buch“ vom 25. 5. 1929, wiedergegeben in Sämtliche Werke, Bd. III, S. 379 – 380, hier S. 379. 14 Die Seitenangaben zu den Zitaten folgen der Ausgabe Franz Hessel, „Ein Flaneur in Berlin“, die 1984 im Berliner Verlag Das Arsenal erschienen ist.

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Bus unternimmt er eine „Rundfahrt“ und lässt sich damit auf die für Touristen übliche Sight-Seeing-Tour zu den „Highlights der City“ ein. Doch im Gegensatz zum Fremdenführer oder zur neuesten Auflage des Baedeker begnügt sich Hessel nicht mit der Oberfläche, die schnell durchfahren und wortreich beschrieben wird, sondern er erzählt die Geschichten hinter den Fassaden. Dabei verweist er immer wieder auf literarische Texte, in denen das historisch bedeutsame Berlin aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Gesicht erhält: auf E.T.A. Hoffmanns „Des Vetters Eckfenster“ und Wilhelm Raabes „Sperlingsgasse“, auf die Tagebücher Lilly Partheys aus den 1820er Jahren und die Aufzeichnungen Karl August von Varnhagens (1834 – 1858), Felix Ebertys „Jugenderinnerungen eines alten Berliners“ (1878), Gustav Langenscheidts „Naturgeschichte des Berliners“ (1878), Jules Laforgues „Berlin. Der Hof und die Stadt“ (1887) und Ernst Consentius’ „AltBerlin. Anno 1740“ (1907), auf die Werke Theodor Fontanes und Georg Herrmanns, auf Hans Mackowskys „Häuser und Menschen im alten Berlin“ (1923) oder auf Wilhelm Speyers Gegenwartsroman „Charlott etwas verrückt“ (1927). Neben der Literatur bezieht Hessel sein Wissen auch aus den Museen. Beide Reichtümer – die der Literatur und die der Museen – gibt der Autor als Empfehlung an den Leser weiter. Das Märkische Museum bietet ihm Informationen zur Stadtgeschichte, die bedeutenden Sammlungen der Museumsinsel die Vertrautheit mit der antiken Kultur und der Kunstgeschichte, das Kronprinzenpalais die Kunst der Moderne, das Kunstgewerbemuseum ist in der Prinz-Albrecht-Straße zu entdecken, der zum Museum umfunktionierte Hamburger Bahnhof ermöglicht die Begegnung mit der Geschichte und Gegenwart des Verkehrs. Die Einzigartigkeit der auf der Museumsinsel vereinigten Schätze, die wir gerade erst wieder mühsam rekonstruieren und in einen Zusammenhang stellen, war Hessel noch präsent und bewusst: „Die Welt, die hier mit Schinkels jonischer Säulenhalle beginnt, ist des jungen Berliner Akademoshain – oder war es wenigstens für meine Generation – und was er auch später im Louvre und Vatikan, in den Museen von Florenz, Neapel, Athen wird zu sehen bekommen, er kann darüber die Säle des Alten und Neuen Museums und unserer großen Bildergalerien nicht vergessen, ja selbst die Wandelgänge hinter den Säulen hier nach dem Platz zu und innen am Neuen Museum entlang und rings um die Nationalgalerie sind ihm dauernder Besitz und Stätte unvergesslicher Stunden.“ (S. 95)

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Doch längst nicht alles löst bei Hessel Wohlgefallen aus. Der Dom erscheint keines Besuches wert, „denn auch innen verletzt dieses Riesengefüge aus eitel Quantität, Material und schlecht angewandter Gelehrsamkeit jedes religiöse und menschliche Gefühl. […] Mit Recht verkündet ein marmorner Engel ,Er ist nicht hier, Er ist auferstanden‘. Wahrhaftig, hier ist Er sicher nicht.“ (S. 97) Als architektonisch misslungen und als überflüssiges Verkehrshindernis fällt auch die KaiserWilhelm-Gedächtniskirche in Ungnade, sodass er sich wünscht, sie möge „wenigstens ein bisschen altern und zerfallen“ (S. 135/36). Ohnehin finden alle Gebäude aus der Gründerzeit und dem Wilhelminischen Kaiserreich keine Anerkennung auf dem Hintergrund der baulichen Maßstäbe, die Knobelsdorff, Schinkel und Schadow im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Berlin gesetzt haben. In der Friedrich-Wilhelm-Universität herrscht Massenbetrieb und Hessel erblickt in den Räumen der Alma Mater zu viele „examensüchtige Gesichter“ (S. 111) Auch das Geschehen an der Börse betrachtet Hessel aus der Distanz der Galerie genauso wie ihm die Grundstück- und Häuserspekulation als „eine der merkwürdigsten Mischungen aus Hasardspiel und Spürsinn“ (S. 148) erscheint. Am Landwehrkanal trauert er der „Entweihung der Stille“ nach (S. 167), die der vertraute Ort seiner Kindheit durch die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts erlitten hat. Bei einer Spreefahrt mit einem Vergnügungsdampfer nach Grünau fühlt er sich angesichts der folkloristischen Musikbegleitung und der beleibten Mitreisenden „ins Altertümliche geraten“ (S. 194), sodass er sich am Fahrtziel „unter Preisgabe meines Retourbilletts an Eisbeingeboten vorbei rasch in den Wald“ entzieht. (S. 196) Überhaupt atmet der Leser mit Hessel auf, sobald er von der Stadt in die Landschaft hinüberwechselt – sei es im Tiergarten, in der Hasenheide, in Dahlem, im Grunewald, am Nikolassee und Wannsee, am Havelsee mit der Silhouette Potsdams, in Königswusterhausen, im Humboldt- und im Friedrichshain, in Pankow oder in Niederschönhausen. Mariendorf verleitet Hessel zu einem kleinen Exkurs über die Filmstadt Berlin, die die zahlreichen Kinogänger zu der Sehnsucht animiert, auch einmal auf der Leinwand erscheinen zu dürfen (S. 186). Doch diese glitzernde Scheinwelt kontrastiert er sogleich wieder durch seine Beschreibungen der sozialen Elendsviertel im Berliner Norden, Osten und Südwesten: Kreuzberg, Neukölln, Britz, Wedding, Tegel, Alexanderplatz, Große Frankfurter Straße, Schöneberg, die ihn „ungewöhnlich traurig“ zurücklassen (S. 267). Der Spaziergang durch das Zeitungsviertel in der südlichen Friedrichstadt verrät eine intime

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Kenntnis der Machtstrukturen, der Gesetze des Marktes und der besonderen Atmosphäre in den Zeitungsredaktionen. Auch die Verletzungen, die ein so schöngeistiger und bescheidener Schriftsteller wie Hessel dort erlitten hat, kommen deutlich zum Ausdruck. „Glücklich angelangt, findest du den Ersehnten [Redakteur] meist von anderen Großen des Reichs umgeben. In leichtem und sicherem Ton reden sie miteinander. Da sitzest du nun und fassest kaum Mut, in Gegenwart dieser Geistverteiler deine kleine Sache vorzubringen. Man ist sehr freundlich zu dir. Man wird schnell dein Geschriebenes prüfen. So bald wird es allerdings wohl kaum unterzubringen sein. Es liegt so viel vor. Und das Aktuelle muß natürlich vorgehen, daß sie unaktuell sind, das ist ja gerade der Reiz deiner kleinen Schöpfungen.“ (S. 259) Auch der Buchhandel bietet nicht das, was sich Hessel wünschen würde. Die Buchhändler sind zwar „sehr unterrichtet“ und „studieren eifrig das vaterländische Börsenblatt“ (S. 260). Doch auch sie sind in Eile und haben keine Zeit mehr. So gehören Buchhandlungen als „Stätten der Konversation und Geselligkeit“ (S. 259), die sie einmal waren, wohl endgültig der Vergangenheit an. Am Ende seines ebenso kenntnisreichen wie liebevollen Spaziergangs durch Berlin wendet sich Hessel an die Berliner selbst. Er empfiehlt ihnen, sich „so wie ich ohne Ziel auf die kleinen Entdeckungsreisen des Zufalls“ zu begeben. Was sich dabei entdecken ließe: die Schönheit der Landschaft in und um Berlin; die vollendete Vergangenheit in den tieferen Schichten der Gegenwart; die zahlreichen Geschichten, die uns die Literatur über die Stadt vermittelt und die uns die Augen für bislang Übersehenes öffnet; die erstaunliche Vielfalt des Lebens der Menschen und dessen ständiger Wandel. Für all dies muss man sich nur Zeit lassen, Spazierengehen und dabei Sehen lernen. „Wir wollen es uns zumuten, wir wollen ein wenig Müßiggang und Genuß lernen und das Ding Berlin in seinem Neben- und Durcheinander von Kostbarem und Garstigem, Solidem und Unechtem, Komischem und Respektablen so lange anschauen, lieb gewinnen und schön finden, bis es schön ist.“ (S. 275)

Literatur Franz Hessel, Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. von Hartmut Vollmer und Bernd Witte, Igel Verlag Literatur, Oldenburg 1999 Franz Hessel, Herberge und Heimat, Bilder aus Berlin (mit 24 Photos), in: Atlantis. Länder/Völker/Reisen, H. 12, Dezember 1930, S. 705 – 717

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Franz Hessel, Vorwort zu Berliner Gedichte. Hg. von Kurt Lubasch und Emil F. Tuchmann für den Berliner Bibliophilen-Abend zum 10. März 1931, Berlin 1931, S. 6 – 7 Franz Hessel, Ein Flaneur in Berlin. Mit Fotografien von Friedrich Seidenstücker, Walter Benjamins Skizze „Die Wiederkehr des Flaneurs“ und einem „Waschzettel“ von Heinz Knobloch, Das Arsenal, Berlin 1984 Franz Hessel, Tagebuchnotizen (1928 – 1932). Hg. und mit Anmerkungen versehen von Karin Grund, in: Juni. Magazin für Literatur und Politik, 3 (1989), S. 36 – 49 Letzte Heimkehr nach Paris. Franz Hessel und die Seinen im Exil. Hg. von Manfred Flügge, Das Arsenal, Berlin 1989 Franz Hessel: Nur was uns anschaut, sehen wir. Ausstellungsbuch. Erarbeitet von Ernest Wichner und Herbert Wiesner, Literaturhaus Berlin 1998 Walter Benjamin 1892 – 1940. Eine Ausstellung des Theodor W. Adorno Archivs Frankfurt am Main in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. Bearbeitet von Rolf Tiedemann, Christoph Gödde und Henri Lonitz, 3., durchgesehene und erweiterte Auflage, Marbach 1991 (= Marbacher Magazin 55/1990) Stéphane Hessel, Tanz mit dem Jahrhundert. Erinnerungen. Aus dem Französischen von Roseli und Saskia Bontjes van Beek, Arche Verlag, ZürichHamburg 1998 Dieter Hildebrandt, Genieße froh, was du nicht hast. Nie war Farnz Hessel aktueller als heute oder Warum das Berlin der Gegenwart den Flaneur der Vergangenheit braucht, in: Die Zeit Nr. 12 vom 17. 3. 1995, S. 72 Paul Mayer, Lebendige Schatten. Aus den Erinnerungen eines Rowohlt-Lektors, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1969 Jörg Plath, Liebhaber der Großstadt. Ästhetische Konzeptionen im Werk Franz Hessels, IGEL Verlag Wissenschaft, Paderborn 1994 „Genieße froh, was du nicht hast“. Der Flaneur Franz Hessel. Hg. von Michael Opitz und Jörg Plath, Königshausen & Neumann, Würzburg 1997 Hartmut Vollmer, Der Flaneur in einer „quälenden Doppelwelt“ – Über den wiederentdeckten Dichter Franz Hessel, in: Neue deutsche Hefte 34/H. 4 (1987), S. 725 – 735

Jan-Pieter Barbian

Begegnung im Zug Im Juni 2002, auf der Rückfahrt von einer Zusammenkunft des Bremer Tabak-Collegiums in Halle, traf ich überraschend in meinem Abteil Klaus G. Saur wieder, der wie ich an der Veranstaltung in den ehrwürdigen Franckeschen Stiftungen teilgenommen hatte. Wir hatten bis dahin noch nie persönlich miteinander gesprochen. Sofort entwickelte sich eine lebhafte Unterhaltung, bei der wir viele gemeinsame Interessen entdeckten, uns auch über Menschen austauschten, die wir gemeinsam kannten. Saur beeindruckte mich vom ersten Moment an durch seine Präsenz, seine vielfältigen Kenntnisse, seine Verbindungen, viele ehrenamtliche Aktivitäten, die er allerdings nur ganz beiläufig erwähnte. Ich gewann den Eindruck eines sehr liebenswürdigen und gebildeten Zeitgenossen, der sich offenkundig um vieles kümmerte, das außerhalb seines eigentlichen Berufsfeldes lag. In der Folgezeit traf ich ihn in Berlin immer wieder. Erstaunlich, wo überall er engagiert war. Er betrieb einen Förderverein für die Staatsbibliothek, gewann beispielsweise den französischen Botschafter dazu, mit einem Fundraising-Dinner am Pariser Platz Geld für den Ankauf eines Konvoluts von Briefen Thomas Manns zusammenzubringen. Ich erinnere gut seine Ansprache an die Versammelten während des Essens, die er mit großer Eindringlichkeit zu überzeugen wusste, wie wichtig gerade diese Briefe für die Öffentlichkeit seien. Mehrfach nahm ich an Veranstaltungen in der Staatsbibliothek teil, manchmal Unter den Linden, häufiger an der Potsdamer Straße, bei denen Saur bekannte Zeitgenossen befragte. Immer außerordentlich intensiv, bestens vorbereitet. Es war jedes Mal ein Genuss, das Feuerwerk zu erleben, mit dem Saur auch bedächtige Zeitgenossen in seinen Bann zog, lebhaft werden ließ, so dass man immer wieder bedauernd feststellen musste, dass die Zeit viel zu schnell vergangen war, man gerne länger zugehört hätte. Erst allmählich lernte ich den Geschäftsmann Saur kennen und bewundern. In den Berliner Jahren galt sein Hauptaugenmerk dem berühmten Verlag Walter de Gruyter, dessen Geschäftsführender Gesellschafter er wurde. Tief beeindruckt verließ ich die Geschäftsräume in der Genthiner Straße, in denen man neben der quirligen heutigen Verlagsarbeit ein lebendiges Museum deutscher Gelehrsamkeit findet,

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ein Archiv vieler bedeutender Forscher. Vom Kriege unzerstört, bewahrt das Gebäude den Geist einer Zeit, in der Berlin weltweit wissenschaftlichen Ruhm genoss. Man kann übrigens im Verlag auch herrlich speisen und trinken. Saur schätzt offenkundig gute Tropfen. Im Laufe der Zeit wurde mir klar, was für eine ungewöhnliche, widersprüchliche Natur Saur ist. Offenkundig konnte er als Verleger nur deshalb erfolgreich sein, weil er zielstrebig und zähe Nüchternheit walten ließ. Seine mäzenatische Großzügigkeit, mit der er beispielsweise polnischen Institutionen jahrzehntelang wertvolle Buchgeschenke machte, Bibliotheken stiftete, wäre ohne seine finanziellen Erfolge gar nicht denkbar gewesen. Ich erinnere eine bewegende Zusammenkunft in der polnischen Botschaft, bei der Saur in Würdigung seines andauernden noblen Engagements ein hoher polnischer Orden verliehen wurde. Auf der anderen Seite ist Saur gar nicht kühl kalkulierend, sondern kühn, wagemutig. Er scheut sich nicht, große Risiken einzugehen, wenn er von einem Vorhaben überzeugt ist. Vermutlich liegt in Mischung der Antriebe, der Motive das Geheimnis seines Erfolgs. Seine Aufgeschlossenheit und Neugier hat ihn dazu gebracht, immer weiter zu wachsen, immer wieder Neues zu versuchen, sich freiwillig immer mehr Verpflichtungen zu widmen. Saur hat sich nicht nur weltweit um Bücher und Bibliotheken, sondern auch durch seine nimmermüden kulturellen Aktivitäten anhaltend verdient gemacht. Arnulf Baring

Großartig, großmütig, galant, großzügig, gefährlich – K. G. Saur Eine kleine Geschichte über K. G. S.? Du lieber Gott – Hunderte – aber der Mann hat vier Ehrendoktortitel, zwei Honorarprofessuren, ist Ehrensenator der Universitäten Leipzig, München, Erlangen, hat diverse Lehraufträge, Ehrenämter ohne Zahl, Orden und Auszeichnungen vom Pour le Mérite bis zur Friedrich-Perthes-Medaille des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels … Über ihn ist alles gesagt, hervorgehoben, beglaubigt, vermutet worden – und zwar vom Bundespräsidenten bis zu Magnifizenzen – das oftmals auch noch gut und vieles richtig, in erhabenen Worten und vorgetragen in mit Geschichte aufgeladenen Hallen. Lassen Sie mich einige Beispiele aufzählen, warum ich Klaus Saur neben großmütig, das ist er manchmal, galant, wenn er will, großzügig immer, nur ab und zu gefährlich, wenn man nicht aufpasst, nenne.

Redetalent Fantastisch, faszinierend, fulminant, fabelhaft, filigran – falls Sie seine letzte Rede nicht live gehört haben, erzählt er sie auch gerne nochmal. „Habe ich Ihnen von dem großartigen Abend im Bellevue mit dem Bundespräsidenten zu Ehren der Theodor-HeussAusgabe erzählt, wo ich … ? Nein, also, …“ Machen Sie nie den Fehler „nein“ zu sagen und die Geschichte doch schon zu kennen – er merkt’s, hält Sie für einfältig und würdigt Sie zukünftig keiner solchen mehr.

Lebensenergie K.G. Saurs Lebensenergie – ist erschütternd. Nach acht Stunden Aufsichtsratssitzung und fünf Stunden Zugfahrt, kommt er munter auf mich zu: „Habe ich Ihnen eigentlich schon … „ „nein“ also.

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Vergeblich sucht man nach der Quelle, den Geheimnissen, den Ursachen der Energie – der Mann ist schließlich älter als ich – dann irgendwann nach Haltung. Glauben Sie bloß nicht an Schlaf, wenn K.G. Saur in Sitzungen die Augen schließt. Blitzartig schlägt er mit der entscheidenden Zahl zu, während man selber versucht, diese auch nur in dem Papierwust zu finden.

Gedächtnis Sein legendäres Gedächtnis. Ich habe einmal mit einem berühmten Hirnforscher darüber gesprochen. Das gibt’s doch einfach nicht, einer der alles behält, chronologisch, fotogenau, vernetzt, abruf- und einsetzbar. Vielleicht eine Anomalie der rechten Synapsendichte? Nicht unbedingt, so was gibt’s, sagt der berühmte Forscher. Ein Freund seines Freundes und Künstlers Igor Sacharow-Ross – sei genauso phänomenal wissend, präsent, computergleich, wach in einem überhöhten Zustand, der Name des Mannes sei Saur, Klaus Saur – ich schweige.

Frauen Saur hat’s mit Frauen! Nein, nein, nicht so, Lilo ist Lilo, bleibt Lilo, ist die Wunderbarste, da herrscht allgemeine Übereinstimmung. Aber sehn Sie sich mal die Firmen, Verbände, Stiftungen an, denen Klaus Saur vorsitzt – oder lieber mitmischt, Fäden zieht – überall Frauen. Bei Brockhaus hat er nach 200 Jahren eine in den Aufsichtsrat gehievt, der Saur-Verlag wird von einer Frau geführt, im Goethe-Institut hat es unter seiner Mitgliedschaft die erste Präsidentin gegeben – Jutta Limbach – bis zu Frau Merkel habe ich keine Beweise – ausschließen würde ich’s nicht.

Hase und Igel K.G. Saur beherrscht nicht nur Gespräche, sondern auch Plätze, an denen er selber gar nicht ist. So Sylvester 2005, Ort: Kleine Scheidegg – Eiger Nordwand. Hier wohnen nur Skiläufer, das Publikum ist international, der einzige Nicht-Skiläufer außer mir ist ein älterer, skurriler Engländer, der im Dreiteiler aus Tweed über seiner Halbbrille

Großartig, großmütig, galant, großzügig, gefährlich – K. G. Saur

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freundlich lächelnd liest. Alle Versuche, mit ihm ins Gespräch zu kommen, schlagen fehl und die Lektüre stellt sich mit Hilfe von Schielen und dem wiederholten Bestellen von alkoholischen Getränken, die man an ihm vorbei balancieren muss, als alte Märklin-Eisenbahn-Prospekte heraus. Als er mit seinem 80 kg Schrankkoffer mit dem Aufkleber „Attention-Heavy“ auszieht, ist die Frage, ob Eisenbahn oder seine Frau darin liegen. Man übergibt mir einige Faxe, der Name Klaus Saur fällt und Prof. J. Drummond Bone, der Schweigsame, nickt mir freundlich zu: „Oh, madame, we have a common friend.“

Einladungen K.G. Saur’s Einladungen sind berühmt, Sie treffen mindestens einen Büchner-, Prix Goncourt- oder Nobelpreisträger, mehrere Präsidenten und Stiftungsvorsitzende, immer auf mehrere, die zumindest so aussehen. Herbst 2004: Ein Abendessen bei Saurs zu Hause, zu Gast ein sympathischer deutscher Autor, ein Akademiepräsident, eine geehrte Alterspräsidentin des Bundestages, ein Poet, ein emeritierter Nobelpreisträger, die Saurs und ich. Kleiner Kreis, große Ehre. Nach der Vorspeise erhebt sich der Gastgeber und hält die erste Rede – eloquent, geistreich, alle Gäste klug lobend, Vorzüge und Ränge hervorhebend. Die Gäste fühlen sich wohl, geehrt, eingelullt und es gibt Präsente. Der Poet erhält den Brockhaus Gute Kche, der Präsident die Festschrift Deutsche biografische Enzyklopdie, die Alterspräsidentin Aus alten Bçrsenblttern, herausgegeben von K.G. Saur, usw. Hauptspeise, der Gastgeber erhebt sich zur zweiten Rede, beglückwünscht den Autor zur Übernahme eines Berliner Theaters, macht in 2 12 Sätzen dem Regietheater den Garaus und eine Reihe von Vorschlägen für einige Klassiker, Inszenierungen, die dringend auf die Bretter gehören. Er fordert den Präsidenten auf, die Aufnahmebedingungen für die Akademie etwa da und dorthin gehend zu ändern, eine Liste der von ihm vorgeschlagenen Mitglieder liegt bereits am Ausgang bereit. Mir überantwortet er feierlich den Münchener Verlegerkreis und am Ende den bargeldlosen Präsidenten und Dichter für die Rückfahrt. Die erfolgt schnell, denn Saurs feiern heftig, aber nie lange.

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Claudia Baumhöver

Wärme Wenn ich an K.G. Saur denke, wärmt sich etwas in mir auf, und das ist auch nicht gut wegen der allgemeinen Erderwärmung, aber wie diese nicht unter Kontrolle zu bringen. Ich gratuliere also mit diesem Herzen zu der gerade anstehenden Ehrung meinem Freund Klaus Ihre Claudia P.S.: Dieser Text wurde von Lilo Saur Korrektur gelesen, so dass die Hälfte aller Fehler, die Sie mir bei der nächsten Zugfahrt erläutern werden, nicht auf mich alleine zurückgeht.

Claudia Baumhçver

„Freiheit des Denkens, Freiheit der Rede“ Als der Verband der Verlage und Buchhandlungen in Bayern 1978 seinen 100. Geburtstag feierte, nahm man dieses Jubiläum zum Anlass über das Stiften eines Preises nachzudenken. Klaus G. Saur spielte als aktiver Ehrenamtlicher des Verbandes bei diesen Überlegungen eine zentrale Rolle. Der Verband wollte einen Preis stiften, der Zivilcourage ehrt, einen Preis, der Bücher auszeichnet, deren Autoren sich mutig zeigen. So wurde der Geschwister-Scholl-Preis aus der Taufe gehoben. Die Auszeichnung soll auf der einen Seite Schriftsteller bestärken und auf der anderen Seite die Erinnerung an Hans und Sophie Scholl wach halten. Als Protagonisten der „Weißen Rose“ bezahlten Sie ihren Widerstand gegen das nationalsozialistische Terrorregime 1943 in München mit dem Leben. Die moralische Motivation des Preises wurde in dessen Statut schriftlich verankert: „Mit dem Geschwister-Scholl-Preis wird jährlich ein Buch ausgezeichnet, das im weitesten Sinn an das Vermächtnis der Geschwister Scholl erinnert, von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.“

Klaus G. Saur ist es nicht unwesentlich zu verdanken, dass die Landeshauptstadt München sich für den Geschwister-Scholl-Preis engagiert hat und ihn gemeinsam mit dem Verband heuer schon zum 29. Mal verleiht. Zum 25jährigen Jubiläum des Geschwister-Scholl-Preises wies die Historikerin Elisabeth Bauschmid in ihrem Essay zur Geschichte des Preises darauf hin, dass die meisten ausgezeichneten Bücher noch auf dem Buchmarkt erhältlich seien. „Ein Beweis für die Hellsicht der Juroren? Oder Folge ihrer Auslese? Beides trifft zu. So ist der Geschwister-Scholl-Preis zu loben nicht nur als moralische Anstalt, als die Stimme der Erinnerung, als das böse Gewissen der Vergesslichen. Ist zu loben auch dafür, weil er Bücher heraushebt aus dem Elend der schnell vergänglichen Ware, zu der das Buch heute geworden ist.“

Der Geschwister-Scholl-Preis ist ein Literaturpreis, der schnell seine Spuren im ganzen Land und auf dem Markt hinterlassen hat. Der Preis hat vordringlich erst einmal nichts mit den Berliner Jahren von Klaus G.

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Saur zu tun. Gleichwohl blieb er ihm auf verschiedenen Wegen immer sehr verbunden. So steht Klaus G. Saur als Ansprechpartner auch heute noch gerne zur Verfügung, wenn etwa erhöhter Abstimmungsbedarf besteht. Auch während seiner Jahre in Berlin hat er den GeschwisterScholl-Preis nie aus den Augen verloren. Unaufhörlich begleitet er wohlwollend seine inhaltliche Entwicklung. Eine Jury aus Historikern, Journalisten, Autoren und Kulturwissenschaftlern entscheidet jedes Jahr zunächst über eine Shortlist und dann in einer meist lebhaften Sitzung über den Preisträger. Diese Fachjury verleiht dem Preis die Ernsthaftigkeit, die ihm und dem Thema gebührt. Gerade in den letzten Jahren ist es der Jury gelungen, dem Preis eine neue Qualität zu geben. Neben der in den früheren Jahren vorherrschenden Aufarbeitung der deutschen Geschichte und der Würdigung der Holocaust-Forschung ging es nun darum, den Preis in moderater Weise auch für andere gesellschaftliche Themen zu öffnen. Als 2005 das Buch „Die fremde Braut“ von Necla Kelek mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde, wendete man sich einer heftigen Debatte der Gegenwart zu. Die damals sehr umstrittene Autorin richtete mit ihrem Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland in ganz unverwechselbarer Art das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die Parallelgesellschaften in unserem Land. Dieses Anliegen würdigte auch die Jury in ihrer Begründung besonders stark: „Necla Kelek konfrontiert uns mit Verstößen gegen die Grundrechte von türkischen Bürgerinnen, die mitten unter uns leben und somit auch mit einer Frage, die ebenso unbequem wie unumgänglich ist: Wo verläuft in Deutschland die Grenze zwischen dem gebotenen Respekt vor kultureller Differenz und falsch verstandener Toleranz? Mit dem Einblick in die Praxis der Zwangsverheiratung und ihre Folgen gibt Necla Kelek ein alarmierendes Signal. Sie streitet für die Durchsetzung elementarer Rechte von Mädchen und Frauen, die aus der Türkei zu uns gekommen sind.“

Durch die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an Necla Kelek wurden sowohl die Autorin als auch das Thema aus dem emotionalen Klima dogmatischer Diskussionen in ein neutraleres Maß sachlicher Auseinandersetzung gehoben. Der Preis öffnete eine neue Dimension der Betrachtung des Werkes ohne ihm die Absolution zu erteilen. In die Riege der Preisträger reihte sich im letzten Jahr eine weitere mutige Frau ein. Der Geschwister-Scholl-Preis wurde 2007 posthum an die bekannte russische Journalistin Anna Politkovskaja verliehen. Wenn jemand Zivilcourage bewiesen hat, wenn jemand unbequeme Themen aufgegriffen hat, dann Anna Politkovskaja. Ihr Sohn Ilya Politkovsky

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nahm den Preis stellvertretend für seine Mutter entgegen. Die Ehrung wird in der Urkunde folgendermaßen begründet: „Anna Politkovskaja war eine unbestechliche Journalistin, deren moralische Ansprüche es ihr nicht erlaubten, sich zurückzunehmen, selbst wo sie Gefahr für ihr Leben heraufziehen sah. Es ist nicht zuviel gesagt, dass Anna Politkovskaja bereit war, für Texte wie das „Russische Tagebuch“ zu sterben. Ihren Tod hat sie in Kauf genommen, aus Solidarität mit den Menschen, für die sie schrieb, in Verteidigung des Rechtes auf freie Information und aus Hingabe an das Prinzip demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Ihr Engagement galt nicht zuletzt denen, die nach uns kommen, den Kindern und Enkeln. Ihr unbeugsamer Mut, gerade im Angesicht ihrer berechtigten Ängste in einer immer bedrohlicher werdenden Situation, gibt ein Beispiel für Zivilcourage und moralische Integrität weit über ihren Berufsstand und ihr eigenes Land hinaus.“

Der Preisträger 2008 ist David Grossman, der sich mit seinem Werk und seinem persönlichen Einsatz für eine Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern einsetzt. Auch diese Entscheidung zeigt die inhaltliche Weiterentwicklung des Preises auf, von der Aufarbeitung der deutschen Geschichte hin zu einer bewussten Wahrnehmung unserer Gegenwart: „Zudem hat Grossman, der 1954 geboren wurde, wie kein anderer seiner Generation immer wieder neu über den Zusammenhang von Literatur und Politik nachgedacht. So plädiert er in „Die Kraft zur Korrektur“ für eine Literatur, die auch unter den Bedingungen des Krieges ein Refugium der Freiheit bleiben muss, eine ideologiefreie Zone, in der (auch) die Koordinaten eines friedlichen Nebeneinander von Israelis und Palästinensern mit allen Konsequenzen gedacht und vermessen werden können.“

Ansehen und Einfluss des Geschwister-Scholl-Preises betonen auch die Stifter des Preises, Wolf Dieter Eggert, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München Christian Ude, in ihrem Grußwort zum Internetarchiv des Preises: „Die Bücher, die mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurden, setzen sich denn auch auf sehr unterschiedliche, aber immer eindrucksvolle Weise mit menschenverachtenden, antidemokratischen Taten und Denkmustern auseinander, mit historischen ebenso wie mit aktuellen. Es sind dabei nicht nur Dokumentationen des Bösen, sondern Werke, die immer wieder auch Hoffnung und Mut machen, die beweisen, dass es möglich war und ist, sich geistiger Verblendung zu entziehen und Menschlichkeit und Zivilcourage zu üben. Dass die ausgezeichneten Werke auch eine hohe literarische und wissenschaftliche Qualität aufweisen, versteht sich bei diesem angesehenen Preis ohnehin schon von

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selbst. Zu danken ist dies in besonderer Weise den zahlreichen Jury-Mitgliedern, den aktiven wie den ehemaligen, die mit ihren Vorschlägen – teilweise auch gegen kritische Einwände – zum mittlerweile internationalen Renommee des Preises beigetragen haben.“

Insgesamt sechs Preisträgern hat Klaus G. Saur als Vorsitzender des Verbandes den Geschwister-Scholl-Preis bei der feierlichen Verleihung in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München überreicht. Der Ort der Verleihung liegt nicht weit von eben dem Lichthof, in den Hans und Sophie Scholl 1943 ihr letztes Flugblatt warfen. Klaus G. Saur würdigte das literarische Engagement von Franz Fühmann, Walter Dirks, Anja Rosmus-Wenninger, Jürgen Habermas, Cordelia Edvardson und Christa Wolf. Mit einem Blick auf die Preisträger, ihre Laudatoren und Dankesreden, resümiert Elisabeth Bauschmid in ihrem Essay: „So zeigt sich die Rückschau auf einen nicht politischen, sondern der Literatur gewidmeten Preis als eine Chronik auch der Zeit. Denn natürlich nahmen die Juroren Stellung zu den laufenden Ereignissen: zum OstWest-Dialog, zu Tschernobyl, zum 11. September, zu dem unsäglichen Historikerstreit um die (geleugnete) Einzigartigkeit von Auschwitz, der merkwürdigen Auseinandersetzung über Gesinnungs- und Verantwortungsethik, zu den zahlreichen Versuchen der Geschichtsentsorgung. „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen“ – dieses Zitat aus dem vierten Flugblatt der „Weißen Rose“ ist gültig bis in die Jetztzeit.“

Dies ist es auch, das wir als Verband von Klaus G. Saur gelernt haben. Man muss die Geschichte aufnehmen, sie sich bewusst machen. Wenn man die Gegenwart vor diesem Hintergrund wach wahrnimmt, kann man die Zukunft gestalten. Klaus Beckschulte

Der Kugelblitz Er sammelt Ämter und zwar solche, die mit Arbeit und Mühen, und deshalb auch mit gelegentlichem Ärger verbunden sind, er ist omnipräsent und mit Ehrenzeichen und schmückenden Titeln seit langem überhäuft. Im Hauptberuf ist er Verleger, mit aller Leidenschaft, die diese altmodische Profession fordert, und er kennt alle wichtigen Leute der Branche Verlagswesen mit ihren sämtlichen Verzweigungen im Buchhandel, Börsenverein, Bibliothekswesen und in all ihren nachgeordneten Bereichen, worunter Universität, Akademien, Institute, Museen und alle anderen Forschungs- und Bildungseinrichtungen der Erde zu verstehen sind. Ein mächtiger Mann in der Welt der Wissenschaft also, dem es zur eitlen Selbstdarstellung aber an Zeit und zur Arroganz an Begabung mangelt. Gelegentlich wird er als agil oder quirlig, als umtriebig, als obsessiv arbeitsam bezeichnet – das sind unzulässige Diminuitive, die der Natur des schaffensfrohen Mannes nicht gerecht werden. Suchte man einen Terminus aus dem Bereich der exakten Wissenschaften zur Beschreibung des Phänomens Saur, stieße man wohl bald auf den Begriff Kugelblitz. Mit solchen Eigenschaften ausgestattet betrat Klaus Gerhard Saur die Berliner Szene. In München hatte er – lange Zeit der Öffentlichkeit verborgen – längst seine Talente entfaltet. 1966 war Klaus G. Saur als Geschäftsführer in den maroden Verlag Dokumentation eingetreten, eine Gründung seines Vaters, mit der dieser sich – einst Amtschef im Rüstungsministerium Albert Speers – in der Sparte Dienstleistungen im technischen Bereich eine Nachkriegsexistenz hatte schaffen wollen. Aus dem Bestand des sanierten Verlages Dokumentation gründete der Sohn 1978 den neuen Verlag K. G. Saur und etablierte ihn als Erste Adresse. Der Wissenschaft wurde er mit glücklichen Ideen Partner und Mäzen, ermöglichte Projekte zur Exilforschung oder zur Rekonstruktion der Akten der Parteikanzlei, die Edition der Tagebücher oder der Schriftzeugnisse Hitlers, um nur einige Beispiele zu nennen, die dem Münchner Institut für Zeitgeschichte zugute kamen. Und mit großen Nachschlagewerken sorgte Klaus Saur für schwarze Zahlen in seinem Verlag. Der virtuose Geschäftsmann erregte erstmals Aufsehen im Feuilleton, als er 1987 seinen Verlag für viel Geld an eine amerikanische

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Gruppe verkaufte, aber das Sagen als Geschäftsführer behielt. 2003 haben ihn die Amerikaner dann auszubooten versucht, in den Beirat abgeschoben, aber nicht bedacht, dass man einen Mann von solchen intellektuellen und kaufmännischen Graden nicht zur Ruhe setzen kann. Als Geschäftsführender Gesellschafter des ehrwürdigsten deutschen Wissenschaftsverlags begann Klaus G. Saur eine neue Karriere in Berlin, im folgenden Jahr 2006 war er alleiniger Geschäftsführer bei Walter de Gruyter und sorgte nicht nur in kurzer Zeit für neues Renommee des in mehr als 250 Geschäftsjahren zugleich hochnäsig und selbstzufrieden unbeweglich gewordenen Hauses. Und kaufte im August 2006 den K. G. Saur Verlag zurück, inkorporierte ihn und seine Imprints wie Max Nimeyer in Tübingen in sein neues Berliner Imperium, das damit größter geisteswissenschaftlicher Verlag auf dem europäischen Kontinent ist. Das Erfolgsgeheimnis ist einfach. Rastlosigkeit, Instinkt, Entscheidungsfreude und Arbeit en detail sind die wichtigsten Ingredienzen seines Geschäftsprinzips. K. G. Saur ist kein Manager, der sich am Schreibtisch oder im Konferenzraum oder hinter anderen Bollwerken verschanzt und mit wachsenden Bilanzsummen die Bodenhaftung verliert. Er agiert direkt, am liebsten vielleicht am Rednerpult (mit anschließender Bewirtung des Auditoriums, bei der man noch im Bann der oratorischen Leistung – spätestens – seinem Charme verfällt und alles mitmacht, was er will). Nicht weniger gern am Telephon, immer spontan, wach und unruhig, willig, neue Projekte zu erörtern, zu provozieren, zu realisieren. Das Engagement des Verlegers gilt dann den Objekten seines Verlags immer persönlich. Im Berliner Literaturhaus hat er so sachkundig wie humorvoll die gewichtige Edition zum Berliner Antisemitismusstreit aus der Taufe gehoben und bei späterer Gelegenheit das „Handbuch der völkischen Wissenschaften“ dem Publikum präsentiert – das sind nur zwei von vielen Gelegenheiten, bei denen er mit seiner ganzen Person für das in seinem Haus betreute Werk eintrat. Ein anderes sperriges Unternehmen, das Handbuch des Antisemitismus, steht, während diese Zeilen geschrieben werden, noch vor der Premiere. Aber Monate vor dem Termin kümmert sich der Verleger höchst selbst mit der notwendigen Leidenschaft um den Raum, um die richtigen Gesprächspartner, um die Finanzierung der Veranstaltung und macht klar, dass man von der Wichtigkeit und Bedeutung seines jeweiligen Tuns überzeugt sein muss, wenn es gelingen soll.

Der Kugelblitz

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Das lässt sich illustrieren an einer Episode, die an einem heißen Junispätnachmittag in Berlin spielt. Beteiligte sind –natürlich – der Verleger und eine Mitarbeiterin sowie ein Institutsleiter, aus dessen Haus der Verlag sich eines neues Projekt erhofft. Man könnte auch sagen, das Order erhielt, wieder einmal ein vernünftiges Unternehmen zu entwickeln. Der Verleger und die Lektorin sind für 18.00 Uhr angesagt. Der Professor ist mit einer – selbstverständlich äußerst wichtigen – Arbeit beschäftigt, hat sich dazu, weil viel Papier zu sichten ist, in den Seminarraum des Instituts zurückgezogen, da sein Arbeitszimmer längst unter Sedimenten von Unerledigtem versunken ist und daher nur noch Repräsentationszwecken dienlich ist. Es ist ein Nachmittag mit sommerliche Hitze, deshalb hat sich der Professor ein wenig Erleichterung verschafft und sich der Schuhe und Strümpfe entledigt, hat sich, solchermaßen erfrischt, ganz in Gelehrsamkeit versenkt und – Wissenschaft ist so – hat Zeit und Raum hinter sich gelassen und denkt nicht mehr an den anstehenden Besuch. Es klingelt. Der Professor schreckt auf, erinnert sich nicht. Der Verleger und die Lektorin stehen vor der Tür. Klaus G. Saurs Blick fällt auf die Zehen des Öffnenden. Der Blick ist nicht strafend, nur grenzenlos erstaunt. Die Frage, die jegliches Begrüßungszeremoniell wegwischt, in mildem Ton vorgebracht, lässt Missbilligung, jedenfalls das pointierte Konstatieren einer so nicht erwarteten Situation erkennen. „Aber Sie sind ja barfuß!“ Das fordert eine schnelle und souveräne Entgegnung. „Es ist auch erst 17.55 Uhr und ich erwarte Sie um 18.00 Uhr!“ Das schafft Ausgleich für den Moment. Aber mehr als ein winziger Wiedergewinn an Terrain ist es nicht, zumal die Lektorin erwartungsfroh der Dinge harrt, die sich jetzt zwischen den beiden Herren, beide im 60sten Lebensjahr stehend, entwickeln werden. Die Verlegerseite wird in die Bibliothek komplimentiert, ich entfliehe in mein Arbeitszimmer, wo Schuhe und Socken warten, versetze mich in den erwarteten einigermaßen manierlichen Zustand und schreite in die Bibliothek. Klaus Saur ist auf der Suche nach einem neuen Projekt. Er ist ein wichtiger, zuverlässiger und angenehmer Partner, und es ist kein Geringes, dass er das Zentrum für Antisemitismusforschung aufsucht, um ein Verlagsobjekt zu akquirieren. Aber welches? Um die Scharte auszuwetzen, muss geklotzt werden. Unter allen Umständen und sofort. Wir sitzen in der Bibliothek, umgeben von 25 000 Bänden Spezialliteratur. Darunter die Inkunabeln der rassistisch begründeten Ju-

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denfeindschaft des 19. Jahrhunderts, in jahrelanger Kleinarbeit von einer tüchtigen Bibliothekarin zusammengetragen und hier, nur hier, in einmaliger Vollständigkeit versammelt. Ich schlage aus der Not des Augenblicks heraus eine Edition der Quellschriften des modernen Antisemitismus vor. Das gefällt dem Verleger auf Anhieb, er will Beispiele sehen und wir verabreden die Edition der rund 550 Schriften vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts an Ort und Stelle. Keinen anderen Verleger habe ich je so spontan und zielsicher entscheiden sehen. Auch das Projekt „Die Judenfrage. Schriften zur Begründung des modernen Antisemitismus 1780 – 1918“ wurde in den Händen des Verlegers Klaus G. Saur ein Erfolg. Aber muß das noch erwähnt werden? Wolfgang Benz

Er kam, sah und siegte Klaus G. Saur und ich kennen uns über dreißig Jahre, verbunden durch vielfältige Tätigkeiten für die Sache des Buches beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels, dem Öhringer Verlegerkreis, der Stiftung Buchkunst und diverser Freundeskreise. Aber über diese Zeit werde ich nicht schreiben, sondern über die Berliner Jahre und unsere Begegnungen und Gemeinsamkeiten in der Hauptstadt. In der Bibliotheks- und Verlegerwelt kennt ein jeder Klaus G. Saur allüberall. Die Berliner Gesellschaft aber musste er sich erst erobern – mit gewohntem Erfolg, versteht sich. Professor Klaus-Dieter Lehmann, seit 1999 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, davor Generaldirektor der Deutschen Nationalbibliothek, feierte seinen 60. Geburtstag, am 28. Februar 2000, natürlich in Berlin. Und alle von Rang und Namen kamen. Laudator beim abendlichen Festessen war Klaus Saur, ein enger Freund des Jubilars. Er hielt eine seiner großartigen Alphabet-Reden, ohne jemals in ein Manuskript zu schauen. Der Präsident und seine Gäste waren begeistert. Tout Berlin war enthusiasmiert und spendete dem Redner reichen Beifall. Eine weitere Berliner Großtat war im selben Jahr die Eröffnung der K.G. Saur Bibliothek im Institut für Bibliothekswissenschaft an der Humboldt- Universität, an der Saur auch als Honorarprofessor lehrt. Ende 2003 schied er aus Altersgründen als Geschäftsführer der K.G. Saur Verlag GmbH & Co. KG aus und wurde Vorsitzender des Beirats des Unternehmens. Und zu diesem Zeitpunkt fing auch die folgenreiche Beziehung mit dem Berliner Wissenschaftsverlag Walter de Gruyter an. Der Beirat dieses renommierten und traditionsreichen Verlages unter seinem Vorsitzenden Dr. Bernd Balzereit traf die weise Entscheidung, Klaus G. Saur zum Mitglied zu ernennen bzw. ihn zu gewinnen, sich zur Verfügung zu stellen. Ein Jahr später übernahm er den Vorsitz der Geschäftsführung und wurde gleichzeitig Gesellschafter des Hauses. Von Anfang an war diese Position auf zwei Jahre befristet, die später um ein Jahr verlängert wurde. In dieser Zeit sollte ein Nachfolger gesucht, das Unternehmen gestärkt und zukunftssicher ausgebaut werden.

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Dr. h.c. mult. Prof. Senator e.h. Saur war für diese Aufgabe der ideale Mann zur rechten Zeit. Ein großer Glücksfall für den Verlag! In der kurzen Spanne gelang es ihm, das Unternehmen breiter aufzustellen und es durch den Zukauf von weiteren zum Haus passenden Verlagen und zahlreichen Zeitschriften zum größten geisteswissenschaftlichen Verlag in Kontinentaleuropa zu machen. Auch die Ertragslage konnte deutlich verbessert werden. Mit den gesammelten Erfahrungen eines langen Verlegerlebens hat Saur für de Gruyter entscheidende strategische Weichen gestellt. Er hat durch diesen Erfolg quasi sein berufliches Leben gekrönt. Nicht nur die deutschen Verleger bewundern diese Leistung! Zusätzlich ist es ihm auch noch gelungen, mit Dr. Sven Fund einen Nachfolger gefunden zu haben, der die Aufgabe nahtlos weiterführen wird und seit Mai 2008 bereits Mitglied der Geschäftsführung ist. Weitere Berliner Aktivitäten sind noch erwähnenswert. Klaus Saur wurde im April 2005 in den renommierten Berliner Buchhändler-Club, gegründet 1836, aufgenommen, wo er gleich mit seinen Vorträgen über Verlagsgeschichte Furore machte. Unvergessen der Abend im MaxLiebermann-Haus am Pariser Platz, neben dem Brandenburger Tor, wo er über „Paul Cassirer als Verleger“ sprach mit dem Ausklang im Adlon. Auch als Vorsitzender der Freunde der Berliner Staatsbibliothek, seit Januar 2007, hat er segensreich gewirkt und tut es weiter. In dieser Zeit konnte eine wunderbare Sammlung „Thomas Mann – Briefe aus den Jahren 1912 und 1940 bis 1955“ erworben werden mit Erstausgaben und anderen wertvollen Materialien. Sehr gut besucht waren und sind die von ihm geleiteten Abendgespräche in der Staatsbibliothek mit besonderen Gästen. Auch die Mitgliederzahl konnte weiter erfreulich gesteigert werden nach dem Motto „ Biete Weisheit- suche Freunde!“ Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine entsprechende Frau. Das ist auch bei Klaus Saur der Fall. Seine Gattin Lilo ist mit den Kindern der Anker der Familie. Sie hält dem Verleger den Rücken frei und hat großen Anteil am Erfolg ihres Mannes. Alte und neue Freunde in der deutschen Hauptstadt wünschen sich, dass die Berliner Jahre der Familie Saur noch nicht zu Ende sind und dass wir sie oft in unserer Stadt sehen und erleben werden. Dieter Beuermann

Kontinuität und Neuaufbau. Ostberliner Mittelalterhistoriker nach der „Wende“ Lieber Herr Saur, als Fçrderer und Honorarprofessor haben Sie in Ihren Berliner Jahren immer wieder Ihre Verbundenheit mit der Humboldt-Universitt und besonders mit deren Philosophischer Fakultt I zum Ausdruck gebracht. Dankbar erinnere ich mich an zahlreiche engagierte und inspirierende Gesprche mit Ihnen, Horst Fuhrmann und Heinrich August Winkler ber die Lage der Geschichtswissenschaften an der HU. Ich kann nicht glauben, dass Sie Berlin und unserer Universitt jetzt wirklich den Rcken kehren, und hoffe, Sie uns durch meine Zeilen nachhaltig gewogen zu stimmen. Ihr Michael Borgolte Die „Wende“ von 1989 hat in der Ostberliner Mediävistik zu einem Wechsel der Führungskräfte geführt: Die Schlüsselpositionen des Fachs wurden durch westdeutsche Wissenschaftler besetzt. So folgten auf die Lehrstuhlinhaber Eckhard Müller-Mertens (* 1923, em. 1988) und Bernhard Töpfer (* 1926, em. 1991) an der Humboldt-Universität Michael Borgolte (Freiburg, seit 1991) und Hartmut Boockmann (Göttingen, 1992 – 1995) beziehungsweise Johannes Helmrath (Köln, seit 1997).1 Auch die 1992/93 neu gegründete Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften berief westdeutsche Gelehrte des Fachs; das waren insofern wichtige Entscheidungen, als je einem Ordentlichen Mitglied der Akademie auch der Vorsitz der Mittelalterkommission und 1

Zu den Daten von Müller-Mertens, Töpfer, Borgolte und Boockmann s. Michael Borgolte, Eine Generation marxistische Mittelalterforschung in Deutschland. Erbe und Tradition aus der Sicht eines Neu-Humboldtianers, in: Ders. (Hrsg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989, München 1995, S. 3 – 26, hier S. 4 Anm. 4, S. 7 Anm. 11 und S. 12 Anm. 30. Hartmut Boockmann ging zum 1. 10. 1995 nach Göttingen zurück, Johannes Helmrath trat seine Nachfolge im April 1997 an. – Mediävist war auch der zum Wintersemester 1992/93 aus Kassel gekommene Landeshistoriker Winfried Schich, dessen Stelle mit seinem Ausscheiden 2003 nicht wiederbesetzt wurde. Funktional wurde er teilweise durch Michael Menzel (München) ersetzt, der seit 2003 eine Akademieprofessur für Mittelalterliche Geschichte und Landesgeschichte innehat.

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die Vertretung der BBAW in der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica in München übertragen wurde.2 Wie immer man über die politischen Hintergründe der Vorgänge denken mag, so waren diese Regelungen doch wohl unvermeidlich. Die „Wende“ war nämlich mit der Pensionierung der (ersten) Generation marxistischer Mediävisten überhaupt zusammengefallen, ohne dass gleichzeitig eine größere Anzahl hochqualifizierter jüngerer Mittelalterhistoriker(innen) aus der früheren DDR für den Wettbewerb um die Nachfolge bereitgestanden hätte.3 Anfang der 1990er Jahre wurde schon diskutiert, was von der ostdeutschen Mediävistik nach der Wiedervereinigung bleiben würde; heute, knapp zwei Jahrzehnte nach der Wende, sollte es möglich sein, dazu eine Zwischenbilanz zu ziehen.4 Zunächst fällt auf, dass nahezu keines der Themen, das die staatsnahe Geschichtswissenschaft der DDR aus ideologischen Gründen gepflegt hatte, weiterhin bearbeitet wurde. Lediglich die „Feudalgesellschaft“ fand noch gelegentlich, wenn auch in historiographiegeschichtlicher Absicht, Interesse.5 Stattdessen konnten gerade die profiliertesten Mediävistinnen und Mediävisten der alten Zeit ihre Spezialgebiete weiter pflegen, in wichtigen Sammelwerken und Zeitschriften dazu publizieren oder gar umfangreiche Monographien auf dem gesamtdeutschen Buchmarkt platzieren. Für ihre Fragen zur Geistes- und Reichsge2

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Ordentliche Mitglieder der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sind z. Zt. Kaspar Elm, Kurt-Victor Selge, Peter Moraw und Michael Borgolte. Als Vorsitzender der Mittelalterkommission und Mitglieder der Zentraldirektion der MGH amtiert(en) Elm, Moraw und Borgolte. Borgolte, Eine Generation marxistische Mittelalterforschung (wie Anm. 1), S. 13 f. Borgolte (Hrsg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989 (wie Anm. 1); Michael Borgolte, Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit, München 1996. – Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Leistungen der vor der „Wende“ in der DDR tätigen Mediävisten und Mediävistinnen. Sie schließen keine Darstellung und Bewertung der Arbeiten aus Westdeutschland nach Ostberlin gelangter Wissenschaftler ein. Zu den biographischen Daten und zum Werk der behandelten Historiker/innen zur Zeit der DDR vgl. die beiden vorgenannten Werke. Bernhard Töpfer, Feudalismus-Debatte, in: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 4, Hamburg 1999, S. 378 – 390; Ders., Die Herausbildung und die Entwicklungsdynamik der Feudalgesellschaft im Meinungsstreit von Historikern der DDR, in: Natalie Fryde/Pierre Monnet/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Die Gegenwart des Feudalismus, Göttingen 2002, S. 271 – 291.

Kontinuität und Neuaufbau

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schichte6, zur Stadt-, Agrar- und Alltagsgeschichte7 waren offenbar die Grundlagen so tragfähig, dass sich ihre Beiträge, Darstellungen und Abhandlungen ohne weiteres in die wissenschaftlichen Diskurse der Bundesrepublik einfügen ließen. Von den in der Ostberliner Mediävistik vormals etablierten Gelehrten ist denn auch nach der Wende nur eine Stimme verstummt.8 Die neuen Publikationsmöglichkeiten haben aber auch jene Historiker nicht ausgeschöpft, die unter dem alten Regime unter Einschränkungen gelitten hatten. Von den Arbeiten des Dozenten Dr. Frithjof Sielaff (1918 – 1996), der zu Lebzeiten nur einen Aufsatz veröffentlicht hatte, brachten seine Schüler posthum fragmentarisch gebliebene Studien zum Druck9, während der MGH-Mitarbeiter 6

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Bernhard Töpfer, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie, Stuttgart 1999; Ders., Kaiser Friedrich I. Barbarossa und der deutsche Reichsepiskopat, in: Alfred Haverkamp (Hrsg.), Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers, Sigmaringen 1992, S. 389 – 433; Eckhard Müller-Mertens, Frankenreich oder Nicht-Frankenreich? Überlegungen zum Reich der Ottonen anhand des Herrschertitels und der politischen Struktur des Reiches, in: Carlrichard Brühl/ Bernd Schneidmüller (Hrsg.), Beiträge zur mittelalterlichen Reichs- und Nationsbildung in Deutschland und Frankreich, München 1997, S. 45 – 52; Ders., Römisches Reich im Besitz der Deutschen, der König an Stelle des Augustus. Recherche zur Frage: seit wann wird das mittelalterlich-frühneuzeitliche Reich von den Zeitgenossen als römisch und deutsch begriffen?, in: Historische Zeitschrift 282, 2006, S. 1 – 58; Ders., Imperium und Regnum im Verhältnis zwischen Wormser Konkordat und Goldener Bulle. Analyse und neue Sicht im Lichte der Konstitutionen, in: Historische Zeitschrift 284, 2007, S. 561 – 595. Evamaria Engel, Die deutsche Stadt des Mittelalters, München 1993; Dies./ Frank-Dieter Jakob, Städtisches Leben im Mittelalter. Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln/Weimar/Wien 2006; Siegfried Epperlein, Waldnutzung, Waldstreitigkeiten und Waldschutz in Deutschland im hohen Mittelalter. 2. Hälfte 11. Jahrhundert bis ausgehendes 14. Jahrhundert, Stuttgart 1993; Ders., Leben am Hofe Karls des Großen, Regensburg 2000; Ders., Bäuerliches Leben im Mittelalter. Schriftquellen und Bildzeugnisse, Köln/Weimar/Wien 2003. Nämlich die der Dozentin Dr. Waltraut Bleiber, * 1926, pensioniert 1986, s. Borgolte, Eine Generation marxistische Mittelalterforschung (wie Anm. 1), S. 7 Anm. 11, und 12 Anm. 30. Vgl. wohl zuletzt Waltraut Bleiber, Ekkehard I., Markgraf von Meißen (985 – 1002), in: Eberhard Holtz/Wolfgang Huschner (Hrsg.), Deutsche Fürsten des Mittelalters. Fünfundzwanzig Lebensbilder, Leipzig 1995, S. 96 – 111. Frithjof Sielaff, Das Frühe und Hohe Mittelalter. Quellenkritische Beobachtungen. Hrsg. v. Iris Berndt/Gerd Heinrich/Peter Neumeister, Köln/Weimar/ Wien 2001. Zu Sielaff und diesem Buch s. die Besprechung von Rudolf Schieffer, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 57, 2001, S. 610; Iris Berndt/Wolfgang Wagner, Frithjof Sielaff 1918 – 1996, in: Jahr-

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Wolfgang Eggert (1938 – 2006) außer Beiträgen zur Edition kaiserlicher Konstitutionen seine Forschungen zur Quellensprache des früh- und hochmittelalterlichen Reiches wie ehedem in Zeitschriften publizierte10. Neben der Pflege überkommener Forschungsthemen stand die noch erstaunlichere Kontinuität der Institutionen in Teilbereichen. Eckhard Müller-Mertens, der seit 1966 die „Arbeitsstelle“ beziehungsweise die „Arbeitsgruppe Monumenta Germaniae Historica“ der Deutschen Akademie der Wissenschaften (seit 1972 der Akademie der Wissenschaften der DDR) in Berlin geleitet hatte, konnte diese Verantwortung seit 1993 auch in der neugegründeten Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wahrnehmen.11 Bei seinem Ausscheiden buch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 62, 1997, S. 237 – 239. Am 27. und 28. März 1988 fand an der Universität Magdeburg ein „Gedenkkolloquium für Frithjof Sielaff“ statt, das zwar seine Schülerinnen und Schüler veranstalteten, an dem sich aber auch westdeutsche Mediävisten wie Hartmut Boockmann beteiligten. 10 Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Dokumente zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Verfassung. 1331 – 1335, Teil 2, bearb. v. Wolfgang Eggert, Hannover 1997; Teil 3, bearb. v. Dems., Hannover 2003; Ders., Ostfränkisch – fränkisch – sächsisch – römisch – deutsch. Zur Benennung des rechtsrheinisch-nordalpinen Reiches bis zum Investiturstreit, in: Frühmittelalterliche Studien 26, 1992, S. 239 – 273; Ders., Das ,geminderte‘ regnum Teutonicum bei Papst Gregor VII. und Bruno von Magdeburg, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 24, 1994, S. 82 – 91; Ders., Wie „pragmatisch“ ist Brunos Buch vom Sachsenkrieg?, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 51, 1995, S. 543 – 553; Ders., „Regna, partes regni, provinciae, ducatus“. Bemerkungen zu Reichsbenennungen und -auffassungen in „deutschen“ Geschichtswerken des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 104, 1996, S. 237 – 251; Ders., Heinricus rex depositus? Über Titulierung und Beurteilung des dritten Saliers in Geschichtswerken des frühen Investiturstreits, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 108, 2000, S. 117 – 134. – Zu Wolfgang Eggert s. Rudolf Schieffer, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 63, 2007, S. II. – Aus dem Focus dieser Studie fällt Matthias Springer (* 1942) heraus, der zwar 1978 an der Humboldt-Universität promoviert worden war, seine akademische Karriere aber seit 1985 (Habilitation) in Magdeburg machte, wo er 1988/92 auch Ordentlicher Professor wurde. 11 Vgl. Olaf B. Rader, Von Rudergängern, dem Sinn der Geschichte und existentiellen Zweifeln in den Brüchen unserer Zeit, in: Ders. (Hrsg.), Turbata per aequora mundi. Dankesgabe an Eckhard Müller-Mertens, Hannover 2001, S. VVIII; Horst Fuhrmann, „Überstehn ist alles“. Ein Erinnerungsbrief an Eckhard Müller-Mertens, in: ebd., S. 3 – 12; Ders., in: Deutsches Archiv für Erfor-

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2001 ehrten ihn die MGH mit einer Festschrift als „Dankesgabe“, nachdem sie ihn schon 1994 als ordentliches (persönliches) Mitglied ihrer Zentraldirektion kooptiert hatten.12 Schon bald nach der „Wende“ hatte Müller-Mertens auch dazu beigetragen, dass die Hansische Arbeitsgemeinschaft in der DDR nach 35 Jahren aufgelöst und mit dem Hansischen Geschichtsverein wiedervereinigt wurde (1990).13 Er konnte in diesem Rahmen die traditionellen Berliner Hanseforschungen wieder verankern.14 Auch das seit 1991 reformierte „Institut für Geschichtswissenschaften“ der Humboldt-Universität hat ihm und seinem langjährigen Kollegen Töpfer den Respekt für ihre wissenschaftlichen Leistungen nicht versagt. Beiden Altordinarien wurden Festakte zu ihren Goldenen Doktorjubiläen gewidmet.15

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schung des Mittelalters 46, 1990, S. II; Ders., in: Deutsches Archiv 48, 1992, S. IV; Ders., in: Deutsches Archiv 50, 1994, S. V. – Vgl. Eckhard MüllerMertens, Grenzüberschreitende Monumenta-Arbeit im geteilten Berlin, in: Rudolf Schieffer (Hrsg.), Mittelalterliche Texte. Überlieferung – Befunde – Deutungen. Kolloquium der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica am 28./29. Juni 1996, Hannover 1996, S. 247 – 264; Ders., Konzept für künftige Bände der Constitutiones et acta publica imperatorum et regum (1357 – 1378). Erarbeitet unter besonderer Berücksichtigung einer Umfrage unter Fachkollegen, in: Deutsches Archiv 50, 1994, S. 615 – 630; Ders., Constitutiones et acta publica – Paradigmenwechsel und Geltungsfragen einer Monumenta-Reihe, in: Michael Lindner/Eckhard Müller-Mertens/Olaf B. Rader (Hrsg.) unter Mitarbeit von Mathias Lawo, Kaiser, Reich und Region. Studien und Texte aus der Arbeit an den Constitutiones des 14. Jahrhunderts und zur Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, Berlin 1997, S. 1 – 59. Rader (Hrsg.), Turbata per aequora mundi (wie Anm. 11); Horst Fuhrmann, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 50, 1994, S. IV. Eckhard Müller-Mertens, Eröffnungsrede und Schlusswort zur 35. (letzten) Jahrestagung der Hansischen Arbeitsgemeinschaft in der DDR zugleich der ersten gesamtdeutschen Historikertagung nach dem Fall von Mauer und Grenzen, in: Hansische Geschichtsblätter 110, 1992, S. V-IX; vgl. Borgolte, Sozialgeschichte des Mittelalters (wie Anm. 4), S. 25 – 27 u. ö. Eckhard Müller-Mertens/Heidelore Böcker (Hrsg.), Konzeptionelle Ansätze der Hanse-Historiographie, Trier 2003; darin: Eckhard Müller-Mertens/Heidelore Böcker, Konzeptionelle Ansätze der Hanse-Historiographie. Geleitwort zu den Hansischen Studien XIV, S. 1 – 18, und E. M.-M., Die Hanse in europäischer Sicht. Zu den konzeptionellen Neuansätzen der Nachkriegszeit und zu Rörigs Konzept, S. 19 – 43. Bernhard Töpfer, Die Wertung der weltlich-staatlichen Ordnung durch die Reformatoren des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Festvortrag anlässlich des 50. Jahrestages der Promotion zum Doktor der Philosophie. Laudatio Prof. Dr. Hans K. Schulze, Marburg. 17. Dezember 2004 (= Öf-

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Für die Zukunft wichtiger als die nachhaltige Wirkung der älteren war die Selbstbehauptung der um 1991 mittleren Generation. Diese setzte dem unerwarteten Konkurrenzdruck aus dem Westen zeitweise eine Reihe von Sammelbänden mit biographischen Skizzen über Herrscher(inne)n, Fürst(inn)en und Nonnen des Mittelalters entgegen, mit denen sie, obschon das Konzept in die Zeit vor der „Wende“ zurückging, noch bis Mitte der neunziger Jahre „unter sich“ blieb.16 Unter maßgeblicher Beteiligung von E. Müller-Mertens fanden einige Nachwuchsmediävist(inn)en eine unbefristete Stellung bei den MGH, so dass die Berliner Arbeitsstelle bis heute überwiegend von Forschern fentliche Vorlesungen der Humboldt-Universität, Heft 146), Berlin 2005. – E. Müller-Mertens wurde im Rahmen eines Kolloquiums am 19. 11. 2001 durch Dekan Prof. Dr. Wilfried Nippel die Goldene Doktorurkunde überreicht; der Festakt wurde auch durch den Förderverein des Instituts für Geschichtswissenschaften ausgerichtet, dessen Ehrenmitglied Müller-Mertens ist. Den Festvortrag hielt sein Schüler Wolfgang Huschner über „Piacenza – Como – Mainz. Die Erzkanzler für Italien in den Regierungszeiten Ottos III. und Heinrichs II. (983 – 1024)“. 16 Die Mentorschaft bei diesen Unternehmungen hatten wohl die Professorinnen Erika Uitz, geb. Engelmann (* 1931, zu dieser Borgolte, Eine Generation marxistische Mittelalterforschung, wie Anm. 1, S. 12 Anm. 31; Ders., Sozialgeschichte des Mittelalters, wie Anm. 4, bes. S. 286 – 288) und Evamaria Engel (* 1934, s. Borgolte, Eine Generation marxistische Mittelalterforschung, S. 7 Anm. 11, S. 12 Anm. 30; Ders., Sozialgeschichte des Mittelalters, bes. S. 278 ff.) inne: Evamaria Engel/Eberhard Holtz (Hrsg.), Deutsche Könige und Kaiser des Mittelalters, Köln/Wien 1989 (mit Beiträgen von Elfie-Marita Eibl, Barbara Pätzold, Gerald Beyreuther, Wolfgang Huschner, Siegfried Epperlein, Peter Neumeister, Bernhard Töpfer, Walter Zöllner, Martin Erbstößer, Evamaria Engel, Werner Mägdefrau, Konrad Fritze, Eckhard Müller-Mertens, Siegfried Hoyer, Detlef Plöse); Autorenkollektiv unter Leitung von Erika Uitz/Barbara Pätzold/Gerald Beyreuther (Hrsg.), Herrscherinnen und Nonnen. Frauengestalten von der Ottonenzeit bis zu den Staufern, Berlin 1990 (mit Beiträgen von Barbara Pätzold, Gerald Beyreuther, Stephan Wolle, Wolfgang Huschner, Ernst Werner, Wolfgang Eggert, Hans-Ulrich Wöhler, Peter Neumeister, Erika Uitz); Gerald Beyreuther/Barbara Pätzold/Erika Uitz (Hrsg.), Fürstinnen und Städterinnen. Frauen im Mittelalter, Freiburg/Basel/ Wien 1993 (mit Beiträgen u. a. von Heidelore Böcker, Sabine Tanz, Eberhard Holtz); Holtz/Huschner (Hrsg.), Deutsche Fürsten des Mittelalters (wie Anm. 8, mit Beiträgen von Eckhard Müller-Mertens, Barbara Pätzold, Olaf B. Rader, Gerald Beyreuther, Waltraut Bleiber, Eberhard Holtz, Wolfgang Huschner, Wolfgang Eggert, Peter Neumeister, Elfie-Marita Eibl, Helmut Assing, Matthias Springer, Michael Lindner, Heidelore Böcker, Evamaria Engel). – Vgl. auch: Evamaria Engel/Bernhard Töpfer (Hrsg.), Kaiser Friedrich Barbarossa. Landesausbau – Aspekte seiner Politik – Wirkung, Weimar 1994 (mit Beiträgen u. a. von Jan-Peter Stöckel, Torsten Fried und Michael Lindner).

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ostdeutscher Herkunft geprägt wird.17 Entsprechendes gilt für das Akademienvorhaben „Regesten-Edition der Urkunden und Briefe Kaiser Friedrichs III.“18 Andere fanden Zugang in die verwestlichte 17 Vgl. Horst Fuhrmann, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 46, 1990, S. I-XXI, hier S. V, wonach die „Arbeitsgruppe MGH“ unmittelbar nach der Wende fünf Mitarbeiterstellen umfasst habe; Ders., in: Deutsches Archiv 48, 1992, S. IV: Ausstattung mit vier Mitarbeiterstellen, von denen in zwei schon Dr. sc. Wolfgang Eggert und Dr. M. Lindner eingewiesen seien; für die weiteren Stellen liege „eine nicht geringe Zahl von Bewerbungen“ vor; Ders., in: Deutsches Archiv 49, 1993, S. V: Zum 1. Oktober 1992 seien durch die Einstellung von Frau U. Hohensee und Dr. O. Rader alle Personalstellen besetzt. – Nach der Pensionierung von W. Eggert wurde dessen Stelle zur Ausstattung des aus München berufenen neuen Arbeitsstellenleiters M. Menzel verwendet (oben Anm. 1). Neben Lindner, Hohensee und Rader hat seit 2006 eine vierte Mitarbeiterstelle Mathias Lawo aus Essen inne, der in Bonn promoviert worden war, vgl. R. Schieffer, in: Deutsches Archiv 62, 2006, S. III. – Aus der Produktion der Arbeitsstelle vgl. neben der Anm. 10 zit. Lit.: Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Dokumente zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Verfassung 1357 – 1378, bearb. von der Arbeitsstelle Monumenta Germaniae Historica der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Elektronische Vorabedition begründet von Eckhard Müller-Mertens, fortgeführt von Mathias Lawo. Erste Folge: Die Urkunden aus den Archiven der Länder Berlin und Brandenburg, bearb. v. Ulrike Hohensee, Berlin 2001; Zweite Folge: Urkunden aus den Archiven der Länder Mittel- und Norddeutschlands sowie Dänemarks, bearb. v. Ders./Michael Lindner/Olaf B. Rader, Berlin 2005; Lindner/Müller-Mertens/Rader (Hrsg.), Kaiser, Reich und Region (wie Anm. 11, mit Beiträgen von Eckhard Müller-Mertens, Peter Moraw, Michael Lindner, Harriet M. Harnisch, Ulrike Hohensee, Olaf B. Rader, Wolfgang Eggert, Hartmut Boockmann). 18 Die Arbeiten angeregt hatte bereits Anfang (!) 1989 Evamaria Engel, s.: BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften (vormals Preußische Akademie der Wissenschaften), Jahrbuch 1992/93, Berlin 1994, S. 249 f.; als Arbeitsstellenleiter wird schon 1994 Eberhard Holtz, als Wissenschaftliche Mitarbeiterin wird Elfie-Marita Eibl genannt (ebd.), beide Promovierte der Humboldt-Universität (vgl. zuletzt: Michael Borgolte, Mittelalter-Kommission. Bericht, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften [vormals Preußische Akademie der Wissenschaften], Jahrbuch 2006, Berlin 2007, S. 357 – 361, hier S. 357 f.). Vgl. Elfie-Marita Eibl, Klingelhöfer, Schrader und die Reichsgesetze Kaiser Friedrichs I. – Mein Einstieg in die Mediävistik, in: Rader (Hrsg.), Turbata per aequora mundi (wie Anm. 11), S. 27 – 34; Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440 – 1493). Nach Archiven und Bibliotheken geordnet hrsg. v. Heinrich Koller/Paul-Joachim Heinig(/Alois Niederstätter), Heft 11: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken des Freistaates Sachsen, bearb. v. Elfie-Marita Eibl, Wien/Weimar/Köln 1998; Heft 20: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken der Bundesländer

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Hochschule.19 An der Humboldt-Universität wurde die habilitierte Oberassistentin Heidelore Böcker (* 1943) auf eine Dauerstelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin übernommen; sie hatte sich als Vertreterin der HU an den Beratungen und Entscheidungen der Strukturund Berufungskommission beteiligt, die unter Leitung von Gerhard A. Ritter (München) in kürzester Zeit für die völlige personelle Erneuerung des Instituts für Geschichtswissenschaft sorgte.20 H. Böcker, eine Schülerin u. a. von E. Müller-Mertens, war auf die Geschichte der Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sowie des Archiwum Panstwowe w Szczecinie/Staatsarchivs Stettin für die historische Provinz Pommern, bearb. v. Ders., Wien/Weimar/Köln 2004. – Eberhard Holtz, Reichsstädte und Zentralgewalt unter König Wenzel 1376 – 1400 (Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit, Bd. 4), Warendorf 1993 (Diss. HU Berlin); Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440 – 1493). Nach Archiven und Bibliotheken geordnet hrsg. v. Heinrich Koller/Paul-Joachim Heinig(/Alois Niederstätter), Heft 10: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven des Landes Thüringen, bearb. v. Eberhard Holtz. Wien/Weimar/Köln 1996; Heft 16: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken des Bundeslandes SachsenAnhalt, bearb. v. Dems., Wien/Weimar/Köln 2002; Heft 21: Die Urkunden und Briefe aus den schlesischen Archiven und Bibliotheken der Republik Polen (mit Nachträgen zum Heft Sachsen), bearb. von Dems., Wien/Weimar/Köln 2006. – Zur 300-Jahr-Feier der Berlin-Brandenburgischen Akademie fügten (vor allem) die Mitarbeiter(inne)n (auch nichthistorischer Fächer) aus ihren Projekten Beiträge zu einem Sammelband: Eberhard Holtz/Michael Lindner/ Peter Moraw (Hrsg.), Akkulturation und Selbstbehauptung. Studien zur Entwicklungsgeschichte der Lande zwischen Elbe/Saale und Oder im späten Mittelalter, Berlin 2001 (mit Beiträgen von Peter Moraw, Michael Lindner, Monika Böning, Eva Fitz, Ulrich Hinz, Renate Johne, Martina Voigt, Eckhard Müller-Mertens, Joachim Zdrenka, Ulrike Hohensee, Eberhard Holtz, ElfieMarita Eibl, Thomas Willich, Olaf B. Rader, Johannes Helmrath). 19 Erwähnt sei hier, dass Wolfgang Eggert 1997 zum Honorarprofessor an der Universität Hamburg ernannt wurde, s. Rudolf Schieffer, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 63, 2007, S. II. – Von den 1993 noch als Nachwuchskräfte geltenden jüngeren Mediävistinnen (s. Borgolte, Eine Generation marxistische Mittelalterforschung, wie Anm. 1, S. 4 Anm. 7) ist Dr. Peter Neumeister zur Zeit Mitarbeiter der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, während andere inzwischen ihre wissenschaftliche Tätigkeit aufgegeben haben (Dr. Heike Reimann, Dr. Gerald Beyreuther und Dr. Wolfgang Kagel). 20 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Geschichtswissenschaft als Demokratietheorie. Gerhard A. Ritter zur Ehrenpromotion/Gerhard A. Ritter, Der Berliner Reichstag in der politischen Kultur der Kaiserzeit. Vorträge anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Gerhard A. Ritter. 2. Juli 1999 (= Öffentliche Vorlesungen der Humboldt-Universität, Heft 102), Berlin 1999, S. 3, S. 35.

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Hanse und des Städtewesens in Vorpommern spezialisiert21; bis zu ihrer Pensionierung im Frühjahr 2008 setzte sie die Tradition dieser Forschungen an der Universität in Berlin-Mitte fort, die weit über die DDR in die Zeit des neunzehnten Jahrhunderts zurückreicht22. Als eines von zwei ostdeutschen Mitgliedern gehört Heidelore Böcker noch heute dem zehnköpfigen Vorstand des Hansischen Geschichtsvereins an; auch das Institut für vergleichende Städtegeschichte in Münster/ Westf. hat sie in sein Kuratorium gewählt.23 Bei ihrer Berufung an die Humboldt-Universität wurde von den Professoren aus dem Westen erwartet, dass sie bei der Besetzung von Mitarbeiterstellen und bei der Förderung von Promovenden ihr besonderes Augenmerk auf junge Wissenschaftler(innen) aus der DDR legten; auf mittlere Sicht war ja wünschenswert, dass Ostdeutsche mit Westdeutschen tatsächlich um akademische Führungspositionen konkurrieren könnten.24 Tatsächlich wurden die beiden Assistenten- beziehungsweise Mitarbeiterstellen am Lehrstuhl für Mittelalterliche Ge-

21 Heidelore Böcker, Hanse und kleine Städte in Vorpommern und Rügen von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts. Voraussetzungen – Aufgaben – Bedeutung. Habil.schrift Greifswald 1989. Danach u. a.: Dies., Kleine Städte – „Plattform des regionalen Austauschs“. Vorpommern/Rügen im 15./16. Jahrhundert, in: Thomas Rudert/Hartmut Zückert (Hrsg.), Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland (16.–18. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 217 – 240. – Dies. lieferte auch diverse Beiträge zu: Werner Paravicini (Hrsg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch. 2 Teilbände, Ostfildern 2003. S. ferner die nächste Anm. 22 Müller-Mertens/Böcker (Hrsg.), Konzeptionelle Ansätze der Hanse-Historiographie (wie Anm. 14); Heidelore Böcker, Marktbindungen im „Kernraum“ der Hanse. Akzeptanz und Widerstand bei der Einordnung in ein System, in: Rader (Hrsg.), Turbata per aequora mundi (wie Anm. 11), S. 167 – 187; Dies., Die kleine Hansestadt in ihren „europäischen Dimensionen“, in: Horst Wernicke/Nils Jörn (Hrsg.), Beiträge zur hansischen Kultur-, Verfassungs- und Schiffahrtsgeschichte, Weimar 1998, S. 239 – 251; Dies., Hanse und Kleinstadt im spätmittelalterlichen Vorpommern/Rügen, in: ebd., S. 275 – 281; Dies., Bodden und Haff – Fernhandel und Seeräuberei. Vorpommern und Rügen vom 13. bis 16. Jh., in: ebd., S. 145 – 159. 23 So die Homepages beider Einrichtungen (Stand 2007 bzw. 2008). 24 Hartmut Boockmann hatte in der kurzen Zeit seines Wirkens auf dem Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte II der HU zwei junge Wissenschaftler aus Göttingen eingestellt, Winfried Schich beschäftigte hingegen die Ostberliner Peter Neumeister und Ralf Gebuhr.

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schichte I der HU 199225 und 1998/9926 mit je einem Nachwuchswissenschaftler aus der alten Bundesrepublik und der vormaligen DDR besetzt, und auch bei den Promotionen war das Verhältnis ausgeglichen.27 Je einer der jungen Doktoren aus Ost und West setzte seine wissenschaftliche Tätigkeit bis heute als Archivar, und zwar in Ostdeutschland, fort.28 Bei den Karrieren an der Universität herrscht bisher sogar ein leichtes Übergewicht bei den Nachwuchshistorikern, die in der DDR zur Schule gegangen sind und noch vor der Wende ihr 25 Nämlich mit Dr. Frank Rexroth (promoviert in Freiburg 1988) und Dr. Wolfgang Huschner. 26 Mit Dr. Ralf Lusiardi (Studium in Freiburg, Archivausbildung in BadenWürttemberg) und Wolfgang Eric Wagner. 27 Ostdeutsche: Dirk Alvermann, Königsherrschaft und Reichsintegration. Eine Untersuchung zur politischen Struktur von regna und imperium zur Zeit Kaiser Ottos II. (967) 973 – 983, Berlin 1998 (Promotion 1995); Wolfgang Eric Wagner, Universitätsstift und Kollegium in Prag, Wien und Heidelberg. Eine vergleichende Untersuchung spätmittelalterlicher Stiftungen im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft, Berlin 1999 (Promotion 1998); Kordula Wolf, Troja – Metamorphosen eines Mythos. Französische, englische und italienische Überlieferungen des 12. Jahrhunderts im Vergleich (im Druck; Promotion 2006). – Westdeutsche: Ralf Lusiardi, Stiftung und städtische Gesellschaft. Religiöse und soziale Aspekte des Stiftungsverhaltens im spätmittelalterlichen Stralsund, Berlin 2000 (Promotion 1998); Benjamin Scheller, Memoria an der Zeitenwende. Die Stiftungen Jakob Fuggers des Reichen vor und während der Reformation (ca. 1505 – 1555), Berlin 2004 (Promotion 2002); Michael Brauer, Die Entdeckung des ,Heidentums‘ in Preußen. Die Prußen in der Dynamik einer Gesellschaft in Spätmittelalter und Reformation (Promotion 2008). Nicht berücksichtigt sind hier natürlich Ausländer als Promovierte. – Bei mehr als 40 Magister-, Diplom- und Staatsarbeiten, die zwischen 1993 und heute am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte I betreut wurden, lässt sich ohne aufwendige Recherche über die Provenienz der Autor(inn)en gar nichts mehr sicher sagen – ein gutes Zeichen, dass sich (mindestens seit Mitte der 1990er Jahre) die Differenzen der beiden Gruppen verwischt haben. 28 Dr. Dirk Alvermann ist Leiter des Universitätsarchivs in Greifswald, vgl. unter dessen anderen Aufsätzen, Beiträgen und Monographien vor allem: Dirk Alvermann/Karl-Heinz Spieß (Hrsg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456 – 2006, 2 Bde., Rostock 2006. – Dr. Ralf Lusiardi ist Direktor am Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt in Magdeburg. Vgl. zuletzt: Ders., Familie und Stiftung im Mittelalter. Einige komparative Bemerkungen zum christlich-abendländischen Kulturkreis, in: Wolfgang Huschner/Frank Rexroth (Hrsg.), Gestiftete Zukunft im mittelalterlichen Europa. Festschrift für Michael Borgolte zum 60. Geburtstag, Berlin 2008, S. 353 – 373.

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Studium an der Humboldt-Universität aufgenommen hatten.29 Der 1954 geborene Wolfgang Huschner, ursprünglich ein Schüler von Müller-Mertens und bereits 1986 promoviert, wurde 2004, vier Jahre nach seiner Habilitation, auf den Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters an der Universität Leipzig berufen; seit 2007 ist er auch ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.30 Der erhebliche jüngere Wolfgang Eric Wagner (* 1966) wurde nach seiner Promotion (1998) und mehrjähriger Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität (1997 – 2001) zuerst Assistent (2001 – 2006) und dann Juniorprofessor für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Rostock ( Januar 2007).31 Zur Zeit erwartet noch ein Privatdozent ostdeutscher Herkunft 29 Zu den westdeutschen Assistenten, die inzwischen Professoren geworden sind, s. unten Anm. 33. 30 Wolfgang Huschner, Studien zur Reichsstruktur unter Konrad II. (1024 – 1039), Diss. Phil. HU Berlin 1986; vgl. Eckhard Müller-Mertens/Wolfgang Huschner, Reichsintegration im Spiegel der Herrschaftspraxis Kaiser Konrads II., Weimar 1992; Habilitationsschrift: Ders., Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle und politische Wechselwirkungen zwischen Italien und dem nordalpinen Reich (9.–11. Jahrhundert), 3 Bde., Hannover 2003. Jüngst: Ders., Die ottonische Kanzlei in neuem Licht, in: Archiv für Diplomatik 52, 2006, S. 353 – 370. – Die wissenschaftliche Vernetzung Huschners im nationalen und internationalen Rahmen können beispielsweise belegen: Ders., Königliche Herrschaftspraxis im ottonisch-frühdeutschen Reich (919 – 1056). 3 Kurseinheiten. Fernuniversität – Gesamthochschule – in Hagen. Fachbereich Erziehungs-, Sozial- und Geisteswissenschaften, [Hagen] 1993; Ders., Bischöfe und Kleriker südalpiner Provenienz in Schwaben und im nordalpinen Reich während des 11. Jahrhunderts, in: Helmut Maurer/Hansmartin Schwarzmaier/Thomas Zotz (Hrsg.), Schwaben und Italien im Hochmittelalter, Stuttgart 2001, S. 109 – 149; Ders., Artt. Giovanni XIV, Giovanni XV, Gregorio V, Giovanni XVI und Vittore II, in: Enciclopedia dei Papi, Vol. 2. o. O. 2000, S. 100 – 115, S. 162 – 166. 31 Zur Diss. s. Anm. 27. – Zur Juniorprofessur: Wolfgang Eric Wagner, uxorati – conjugati – bigami. Die Verheirateten an der spätmittelalterlichen Universität, in: Antrittsvorlesungen der Philosophischen Fakultät 2007 (= Rostocker Universitätsreden. Neue Folge, Heft 16), Rostock 2007, S. 15 – 40. Vgl. ferner u. a.: Ders., Wolfgang Eric Wagner, Das Gebetsgedenken der Liudolfinger im Spiegel der Königs- und Kaiserurkunden von Heinrich I. bis zu Otto III., in: Archiv für Diplomatik 40, 1994, S. 1 – 78 (Diplomarbeit HU Berlin 1993); Ders., Zum Abtswahlprivileg König Pippins für das Kloster Prüm von 762, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 57, 2001, S. 149 – 156; Ders., Stiftungen des Mittelalters in sozialgeschichtlicher Perspektive. Über neuere deutsche Forschungen, in: Annali dell’Istituto storico italo-germnico in Trento

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den Ruf auf eine Professur: Olaf B. Rader, der als Mitarbeiter der Arbeitsstelle MGH allerdings nicht als Mittelalterhistoriker, sondern als Kulturwissenschaftler habilitiert worden ist.32 Obschon sich erst wenige Laufbahnen nach der Wende auswerten lassen, steht doch bereits fest, dass Ostdeutsche in der gesamtdeutschen Mittelalterhistorie durchaus Chancen auf Professuren hatten und diese auch wahrnahmen. Allerdings sind Berliner Mediävisten dieser Provenienz bisher nur an ostdeutsche Universitäten berufen worden, während westdeutsche Habilitierte der Humboldt-Unversität Professuren in Westdeutschland erhielten.33 Erst wenn diese zirkulären Sonderungen 27, 2001, S. 639 – 655; Ders., Princeps litteratus aut illitteratus? Sprachfertigkeiten regierender Fürsten um 1400 zwischen realen Anforderungssituationen und pädagogischem Humanismus, in: Fritz Peter Knapp/Jürgen Miethke/Manuela Niesner (Hrsg.), Schrifttum im Umkreis europäischer Universitäten um 1400. Lateinische und volkssprachliche Texte aus Prag, Wien und Heidelberg. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Wechselbeziehungen, Leiden/Boston 2004, S. 141 – 177; Ders., Art. Universitäten, in: Matthias Meinhardt/Andreas Ranft/ Stephan Selzer (Hrsg.), Mittelalter, München 2007, S. 239 – 244; Ders., Walahfrid Strabo und der Chronograph von 354, oder: Wie Karl der Kahle darauf kam, Anniversarien für seinen Geburtstag zu stiften, in: Huschner/Rexroth (Hrsg.), Gestiftete Zukunft im mittelalterlichen Europa (wie Anm. 28), S. 193 – 213; Ders. (Hrsg.), Die Bibliothek der Historischen Gesellschaft von Johann Gustav Droysen 1860 – 1884. Eine Büchersammlung in der Zweigbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2008. 32 Olaf B. Rader, Pro remedio animae nostrae. Das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Magdeburg bis zum Tode Wichmanns von Seeburg 1192, Diss. phil. HU Berlin 1991 (Masch.); Ders., Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin, München 2003 (Habil.schrift Philosophische Fakultät III der HU Berlin); Ders., Kleine Geschichte Dresdens, München 2005. Vgl. auch Ders. (Hrsg.), Turbata per aequora mundi. – Soeben wurde bekannt, dass Rader auf der Berufungsliste der Universität Magdeburg für die Professur für Geschichte des Mittelalters an Platz 1 gesetzt wurde; vgl. oben Anm. 10. 33 Frank Rexroth (wie Anm. 25) hat sich 1997 an der HU Berlin habilitiert (Ders., Das Milieu der Nacht. Obrigkeit und Randgruppen im spätmittelalterlichen London, Göttingen 1999; engl.: Cambridge 2007), war 1999/2000 Professor in Bielefeld und ist seit 2000 Inhaber des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte in Göttingen. Er ist Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. – Prof. Dr. Harald Müller, früher Assistent am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte II der Humboldt-Universität (Prof. Dr. Johannes Helmrath), promovierte 1996 in Aachen und habilitierte sich 2005 an der HU (Harald Müller, Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, Tübingen 2006); er vertritt seit 2007 die Professur für Mittlere und Neuere Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte an der Universität Mainz.

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durchbrochen sind, wird man von einer geglückten Integration der west- und ostdeutschen Mittelalterforschung sprechen können. Michael Borgolte

Ein spezieller Bücherwurm Klaus G. Saur und ich sind etwa gleichzeitig in die Mitgliederversammlung des Goethe-Instituts aufgenommen worden. Jedenfalls bin ich ihm dort zum ersten Mal begegnet. Die Kulturpolitik des GoetheInstituts, die ich von vielen Stationen in Europa und Übersee kannte, aus dieser ganz anderen Warte – sagen wir: eines Aufsichtsrats – kennen zu lernen, war für mich eine neue Erfahrung. Für Klaus Saur sicherlich nicht. Wie ich bei einer Reihe von Gesprächen am Rande der Versammlungen feststellen konnte, bewegte er sich schon lange mit der größten Selbstverständlichkeit auf dem offiziellen Parkett der internationalen Kulturpolitik. Und auch der einfache Linoleumboden inoffizieller Einrichtungen war ihm vertraut. Er half Bibliotheken in Russland, in Osteuropa, in Asien und in Deutschland. Wo es Bücher gab oder Bücher fehlten – da war Klaus Saur zu Hause. Meiner alma mater, der Humboldt-Universität hat er eine ganze Bibliothek gestiftet. Daneben schuf er Preise, er trug durch Spendenaktionen dazu bei, dass große Sammlungen gekauft oder restauriert werden konnten. Dieser Mann liest mit beneidenswerter Geschwindigkeit, er kennt die Qualität der Buchdrucker in Ungarn, des Papiers in Prag. Er weiß, mit wem er sprechen muss, wenn in den Bibliotheken des Goethe-Instituts Bücher fehlen. Und er hat ein phänomenales Gedächtnis, wie mir viele der Anekdoten zeigen, die er immer auf Lager hat. Alles was er ist oder tut, hat mit Büchern zu tun. Das Buch, das Gedruckte, die Schrift: Das ist unübersehbar die Leidenschaft von Klaus Saur. Nun kennt man das natürlich auch von anderen Leuten. Viele haben in Büchern und Schriften ihr Elixier gefunden – nur zahlten sie für diese Leidenschaft oft mit einem Verzicht aufs gute Leben, auf die Sinnlichkeit. Haben Sie schon mal gesehen, wie ein echter Philologe geht? Wie ein Mensch, der sein Leben der Theologie – oder dem Altertum, der Kunstgeschichte, der Musik – verschrieben hat, seinen Körper bewegt? Gaaaanz vorsichtig: Als handle es sich um ein feines Stück chinesisches Porzellan, das bei der ersten Erschütterung zerbrechen könnte. Das ist ganz verständlich: Je gelehrter ein Körper wird, desto mehr muss er auf sich Acht geben, bildet der Körper doch das Gefäß, in dem das ganze Wissen aufbewahrt wird. (Natürlich gibt es auch ein paar Theologen und Philologen, die joggen oder unter die

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Höhensonne gehen – aber auch das beweist nur ihre Sorge um das wertvolle Körpergefäß). Sie werden mir antworten: Das stimmt nicht, der Wissenschaftler kann doch sein Wissen in Büchern speichern; er sei dafür nicht auf den Körper angewiesen. Der Einwand ist leider falsch. Jedes Buch enthält nur einen Bruchteil des Wissens, das sich in diesem wissenschaftlichen Körper angesammelt hat. (Darunter leidet ja jeder Wissenschaftler, wenn er seine Erkenntnisse der Welt mitzuteilen versucht und die Leserschaft ihm eine begrenzte Seitenzahl bewilligt!). Also gilt es, den wissenschaftlichen Körper, der einen solchen Mehrwert an Wissen angesammelt hat, mit Samthandschuhen anzufassen, ihn wie ein rohes Ei zu behandeln. Bewegt sich ein wissenschaftlicher Körper ohne solche Vorsichtsmaßnahmen, können Sie getrost davon ausgehen, dass er nicht mehr Wissen akkumuliert hat als sich schon in seinen Büchern oder denen der anderen befindet. Er kann deshalb leichtfertiger mit seinem Wissensgefäß umgehen. Übrigens lässt sich das Alter einer Wissenschaft ganz gut am Körper ihrer Wissenschaftler ablesen. Neuere Wissenschaften – zum Beispiel die Soziologie – haben noch nicht soviel Wissen angesammelt. Deshalb dürfen sich deren Körper schneller durch die Stadt bewegen, unvorsichtiger sein, auch mal bei Rot über die Ampel gehen. Undenkbar für den Körper eines Theologen! Für den des Philosophen kaum zu empfehlen! Und dann erst die Bibliothekare! Klaus Saur scheint die Ausnahme zu dieser Regel zu sein. Er hat ein ungeheures Wissen in seinem Körpergefäß akkumuliert, kennt jede Zahl, jedes Datum, jeden Namen – und dennoch reist er durch die Welt, genießt das Leben in vollen Zügen, weiß gute Speisen, gute Weine zu schätzen und – dank seiner Großzügigkeit – diese auch mit anderen zu teilen. Vor allem aber: er ist mit einer richtigen Frau verheiratet. Lilo Saur ist wohl der deutlichste Beleg dafür, dass Klaus Saur eine Ausnahme zum Gesetz des wissenschaftlichen Körpers ist. Sie fragen mich, was das bedeuten soll: Er sei mit einer richtigen Frau verheiratet? Ich will versuchen, das zu erklären. Immanuel Kant zum Beispiel. (Lieber Klaus Saur, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber das Beispiel ist sehr geeignet, um zu zeigen, was es heißt, mit einer ,echten Frau‘ verheiratet zu sein.) Kants Zeitgenosse und Biograph Reinhold Bernhard Jachmann sagte, dass es wohl nie einen Menschen gegeben habe, der seinem Körper und allem, was diesen angeht, eine genauere Aufmerksamkeit geschenkt habe als Kant. Insofern haben wir hier den klassischen Wissenschaftler, der es versteht, ganz vorsichtig mit seinem wertvollen Gefäß umzugehen. Aber man muss auch die Art

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betrachten, wie sich der große Philosoph um seinen Körper kümmerte. Auf eine kurze Formel gebracht, lässt sie sich als Verwandlung des eigenen Körpers in ein gefügiges Weib beschreiben. Eben deshalb gab es in seinem Haus kein Frauenzimmer. Der Kopf des Wissenschaftlers ging die ideale Ehe mit seinem Leib ein – so wie es schon Paulus gefordert hatte: „So sollen auch die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst.“(Eph. 5,28) Kant drehte diese paulinische Forderung einfach um, ganz im Sinne der Aufklärung: Der Wissenschaftler soll seinen Leib lieben wie seine eigene Frau. Wer seinen Leib liebt, liebt sich selbst. Kants Körper, der sein ganzes akkumuliertes Wissen in sich trug, wurde gehütet wie die Schönste des Harems. Diese Schöne musste vor dem Kontakt mit der Außenwelt und deren Anfechtungen bewahrt werden. Kants Vertrauter und Berater der letzten Lebensjahre, der Diakon Ehregott Andreas Christian Wasianski, hat Aufzeichnungen über Kant gemacht, die deutlich zeigen, dass Kant die Regeln der Hygiene und des Schutzes vor dem Unrat der Welt, die Regeln der Berechenbarkeit und des fürsorglichen Umgangs mit dem eigenen Körper entdeckt hatte – schon lange, bevor die Naturwissenschaften mit ihrem sterilen Labor daherkamen. Die Fensterläden blieben Tag und Nacht dicht verschlossen, um die Wanzen davon abzuhalten, sich zu vermehren. Auch der Frühling – diese Jahreszeit, die bei anderen unberechenbare Regungen weckt – wurde ausgeschlossen. „Schon früher machte der Frühling auf ihn keinen sonderlichen Eindruck, er sehnte sich nicht wie ein anderer am Ende des Winters nach dem baldigen Eintritt dieser erheiternden Jahreszeit. Wenn die Sonne höher stieg und wärmer schien, wenn die Bäume ausschlugen und blühten und ich ihn dann darauf aufmerksam machte; so sagte er kalt und gleichgültig: „Das ist ja alle Jahre so, und gerade ebenso.“ Umso kuscheliger wurde es im Haus und in dieser Ehe, die Kant und sein Körper eingingen. Klaus Saur hinter verschlossenen Fensterläden? Unter Umgehung von Frühling und Sonnenschein? Undenkbar! Und dennoch haben Kant und Saur eines gemeinsam: die Liebe zum Buch. Wenn Kant ins Bett ging, fand eine symbiotische Vermählung dieses Paares statt, wie sie kein kirchliches Gebot besser hätte ersinnen können. „Durch vieljährige Gewohnheit hatte er eine besondere Fertigkeit erlangt, sich in die Decken einzuhüllen. Beim Schlafengehen setzte er sich erst ins Bett, schwang sich mit Leichtigkeit hinein, zog den einen Zipfel der Decke über die eine Schulter unter dem Rücken durch bis zur andern und durch eine besondere Geschicklichkeit auch den andern

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unter sich, und dann weiter bis auf den Leib. So einballiert und gleichsam wie ein Kokon eingesponnen, erwartete er den Schlaf.“ An solchen Beschreibungen ist deutlich zu erkennen, was die Ehe von Klaus und Lilo Saur von der Ehe Kants mit seinem Körper unterscheidet. Und dennoch lieben sie beide das Buch! Kant modellierte sich in jeder Hinsicht sein rechtschaffenes Weib. Vor allem verbot er dem Körper die Leidenschaft – „Keine Leidenschaft machte ihn munter, kein Kummer hielt seinen Schlaf auf, kein Schmerz weckte ihn,“ schreibt Wasianski – und er brachte es sogar fertig, dem Körper das Schwitzen abzugewöhnen. „Weder in der Nacht, noch bei Tage transpirierte Kant. Vielleicht hatte seine Natur, mehr durch ängstliche, als sorgfältige Vermeidung alles dessen, was Schweiß erregen konnte, sich schon dazu gewöhnt.“ Wenn er mal aus Versehen in die Sommerhitze geriet, „so hatte er auch dagegen ein Vorbeugungsmittel in Bereitschaft. Er blieb in irgendeinem Schatten und in der Stellung, als wenn er jemanden erwartete, so lange still stehen, bis die Anwandlung zur Transpiration vorüber war.“ Vergleichen Sie dieses Verhalten mal mit unserem Freund Klaus Saur: Still stehen bleiben? Im Schatten warten? Undenkbar! Er geht in die Sonne, er flitzt durch die Welt. Und dennoch verbindet Kant und Saur das eine: die Liebe zum Buch. Wie bei allen langjährigen Paaren waren Kant und seiner Ehefrau Ordnung, Regelmäßigkeit und die Zweisamkeit höchstes Gebot. „Er war an den kleinsten Umstand durch seine ordentliche und gleichförmige Lebensart eine lange Reihe von Jahren hindurch so gewöhnt, dass eine Schere, ein Federmesser, die nicht bloß zwei Zoll von ihrer Stätte, sondern nur in ihrer gewöhnlichen Richtung verschoben waren, ihn schon beunruhigten, die Versetzung größerer Gegenstände in seinem Zimmer; als eines Stuhles, oder gar die Vermehrung oder die Verminderung der Anzahl derselben in seiner Wohnstube, ihn aber gänzlich störte, und sein Auge so lange an die Stelle hinzog, bis die alte Ordnung der Dinge wieder völlig hergestellt war.“ Pünktlich um fünf Uhr früh stand der Diener Lampe mit dem Morgentee auf der Schwelle des Zimmers. Kant erwartete ihn schon vor der Tür, die Uhr in der Hand. Das metrische Werkzeug, das die Zeit in feste, das ganze Jahr über gleichbleibende Einheiten unterteilte, wurde zum Maßstab seines ganzen Lebens – und dies so sehr, dass die Königsberger ihre Uhren nach dem täglichen Erscheinen des Philosophen während seines ,Umlaufs‘ stellen konnten. Hat schon mal jemand versucht, seine Uhr nach dem Erscheinen von Klaus Saur zu stellen? Der arme Mensch müsste ständig

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von einer Zeitzone in die andere wechseln. Und dennoch verbindet beide das eine: die Liebe zum Buch. Klaus Saur liebt Bücher. Anders als beim Königsberger geht das jedoch mit einer Liebe zum Leben einher. Deshalb gibt es in seinem Haus ein Frauenzimmer und deshalb erträgt er eine echte Frau an seiner Seite. Es stimmt, dass alles, was Klaus Saur ist, mit Büchern zu tun hat. Aber es stimmt auch, dass alles, was dieser Bücherwurm isst, auch mit Genussfähigkeit zu tun hat. Christina von Braun

Der uneitelste Mensch der Welt Zum ersten gemeinsamen Mittagessen kam es in Berlin. Wir hatten uns zuvor in seinem Verlagsbüro an der Genthiner Straße für ein Interview getroffen. Es war ein recht interessantes Interview geworden, einmal abgesehen von dem für das Genre untypischen Detail, dass ich keine Frage hatte zu stellen brauchen. Hier und da im Strom des Anekdotischen, der Apercus und der buchhandelshistorischen Reminiszenzen hatte Klaus Gerhard Saur es sich nicht nehmen lassen, meine Kenntnis von Namen allerbedeutendster Verleger, leider auch des ein oder anderen unsterblichen Bibliothekars früherer Zeiten zu überprüfen: Sie wissen, wer Professor Köttelwesch war? Die Rolle Heinz Köhlers in der ISBN-Frage ist Ihnen geläufig? Darf ich annehmen, dass Ihnen der Name Georg Kurt Schauer etwas sagt? – Mehrmals hatte ich also die Gelegenheit, selbst etwas zu äußern. Ich sagte jeweils „nein“. Der Lebendigkeit des Gesprächs tat das keinen Abbruch. Aber zurück zum Mittagstisch. Saur, auch darin ganz der Wissenschaft verschrieben, schlug vor, ins Café Einstein zu gehen. Ins Echte selbstverständlich, in das an der Kurfürstenstraße, nicht in die aufgeregte Promi-Bude Unter den Linden, wo einem ständig das politische Tagesschaupersonal durchs Bild läuft. Der Vorteil des Stammhauses ist auch, dass man es von de Gruyter in wenigen Minuten fußläufig erreicht. Im Einstein gab’s kein langes Speisekartenlesen: Saur empfahl Tafelspitz. Das traditionelle Gericht wurde mit Bratkartoffeln, einer Schnittlauchsauce und feinem Apfelkren serviert. Wunderbar. Ob und, wenn ja, wie gut Herr Saur kochen kann, weiß ich nicht. Aber ich stelle mir vor, dass er, wenn er kochte, gerade solche Sachen auf den Tisch brächte: Speisen, die es schon sehr lange gibt, die man klassisch nennen könnte, aber immer mit Raffinesse und einer persönlichen, zeitgemäßen Note zubereitet. Wer sich anno 2008 in Kooperation mit der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz anschickt, die Jahrgänge 1918 bis 1934 der wichtigen Vossischen Zeitung zu digitalisieren, empfiehlt jedenfalls auch Tafelspitz mit Apfelkren. Saur war an dem Tag im Herbst 2007 ziemlich krank: eine Grippe im Anmarsch, Schnupfen, Kopfschmerzen. Mir sagte er das erst, als wir uns im Café Einstein verabschiedeten und er den Weg nicht zurück in seinen Verlag, sondern zur Apotheke nahm; er müsse nun wohl doch

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die Termine für den Rest des Tages absagen und sich ein wenig hinlegen. Leicht war ihm die Entscheidung vermutlich nicht gefallen. Zuvor hatte es nicht das geringste Anzeichen des Schwächelns gegeben, stattdessen ein Branchenfaktenfeuerwerk nebst Namensparade – und eine Executive Summary seiner wenigen Berliner Jahre als wissenschaftlicher Jungverleger in Diensten eines alten Hauses. Soll eine Grippe bloß nicht glauben, sie verdiene an sich schon Aufmerksamkeit! Zu seiner nach Köpfen bedeutendsten Kundengruppe bei de Gruyter, den zigtausend Hypochondern, die sich privat den Pschyrembel kaufen, um ihn in Situationen bedrohlichen Unwohlseins, also beinahe täglich, zu konsultieren, gehört der Verleger selbst offenbar nicht. Nach einem längeren Treffen mit Klaus G. Saur folgt meist zeitnah ein Brief: „Schön, dass Sie kommen konnten.“ Und dann das Entscheidende: „Wir müssen unser Gespräch recht bald fortsetzen. Ich muss Ihnen noch unendlich viele Einzelheiten erzählen…“ Über einem der zahlreichen Ruhestandsartikel unlängst aus Anlass von Saurs Abschied von der Genthiner Straße stand sehr glaubwürdig das Zitat „Notieren Sie schon mal die nächsten Termine“. Klaus G. Saur ist ein Bühnenmensch. Auf dem Theater wäre ihm – mit aller Herzlichkeit, die man hineinlegen kann in den Begriff – der Ehrentitel einer Rampensau gewiss. (Randnotiz für den akademischen Belobigungsbetrieb: Das wäre immerhin ein Ehrentitel, den ihm unter den Magnifizenzen, Exzellenzen und sonstigen Amtskettenträgern dieser Welt noch keiner angehängt hat.) Der vorliegende Text soll die Tatsache, dass zu Saurs Alleinstellungsmerkmalen auch sein enormer Verbrauch an öffentlicher Aufmerksamkeit gerechnet werden muss, nicht unterschlagen. Allerdings lohnt wiederum genaueres Hinschauen, man erkennt dann selbst in seiner Hingabe an Mikrofone, Kameras und Auditorien aller Art eine gewisse heitere Entspanntheit. Wenn er vors Publikum tritt, kann dieser Verleger dafür andere Gründe als bloß sich selbst vorbringen. Das kann, leider, nicht jeder, der im Licht steht, und deshalb folgen hier einige wenige Anmerkungen zu einem feinen, zu oft verkannten Unterschied. Sie sind ja im kollektiven Branchenbewusstsein eine feste Größe, also darf man auch in Festschriften behaupten, dass es sie gibt: die seltenen buchhändlerischen und paar mehr verlegerischen Persönlichkeiten, die bei der Besichtigung ihrer selbst schwer beeindruckt innehalten und den Blick kaum von sich wenden können. Wir haben es bei denen mit einer gut abgestimmten Mischung aus Daseinsfreude und Eitelkeit zu tun, der offenbar entscheidenden Quelle für lebenslange

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Schaffenskraft. Solche Persönlichkeiten – wie gesagt, ihre Zahl ist äußerst gering – lassen sich komfortabel handhaben, solange man ihnen die Zumutung erspart, dass sie von sich aus über ihre Hochbegabung zu reden gezwungen sind, weil es sonst gerade niemand tut. Zum Ritual der gerne beiläufig zu erbringenden, aber Hauptsache ständigen Lobpreisung gehört es nun einmal, dass man als Stegreif-Laudator proaktiv tätig wird, von sich aus, rechtzeitig, umfassend. Und immer wieder. KGS hat mit derlei Umständlichkeiten nichts am Hut. Er pflegt mit seinem eigenen Sonderformat seit vielen Jahren kommoden Umgang. Er ruft einen an, druckst nicht lange herum, sondern sagt den Satz „Lieber Herr Chefredakteur, ich habe eine glänzende Idee“. Man kann sich bei ihm wie bei keinem sonst darauf verlassen, dass das stimmt. Man fühlt sich entlastet von der bisweilen anstrengenden Aufgabe, das Glänzende selbst zu be- und vor allem anzumerken. Man nimmt also Haltung an und den Notizblock zur Hand und beginnt mit der Arbeit an der nächsten lohnenden Geschichte. Manchmal ruft er einen auch an und sagt „Lieber Herr Verlagsleiter“. So wie er „Verlagsleiter“ zu sagen imstande ist, klingt die Sache schon heikler. Dieses seltsam monumentale Anredegebilde hat ein schlechtes Feng Shui; man möchte spontan seitwärts entkommen, um dem ironischen Spiel mit annotierter Wichtigkeit aus dem Weg zu gehen. Natürlich ist Entkommen unmöglich. Sogleich wird im Gedächtnis eine ältere Geschichte wieder vorstellig, die Saur bei anderer Gelegenheit erzählt hatte: von einem „Herrn Verlagsleiter“, der für seinen Verleger gerade mal die Post aufmachen durfte – an den besseren Tagen. Mir will im Augenblick der Name des Unglücklichen nicht wieder einfallen. Dem Vernehmen nach gibt es Leute, die KGS für eitel halten. Sie alle hantieren mit einem falschen Begriff von Eitelkeit. Hier kommt der richtige: Eitelkeit ist die Sucht nach dem dargebrachten Hymnus. Eitelkeit ist die ins Öffentliche gekehrte Grundfrage des Mannes: Wie war ich, Schatz? (Ein weibliches Äquivalent dieser rituellen Erkundigung lässt noch auf sich warten, aber wahrscheinlich nicht mehr lange…) Wer dies einmal begriffen hat, begreift auch das: KGS ist der uneitelste Mensch der Welt. Denn die genannte Grundfrage stellt sich ihm gar nicht. Sie wäre bloß eine entbehrliche Koketterie, weil doch die Antwort ohnehin alle Welt kennt. Torsten Casimir

Dem Verleger Klaus G. Saur mitgegeben Seit es den herstellenden Buchhandel, freie Autoren und ein Lesepublikum gibt, also seit etwa 200 Jahren, wird der literarische Markt mitgeprägt von Verlegerpersönlichkeiten wie Cotta, Göschen und Nicolai. Ein bedeutender Vertreter des deutschen Verlagswesens, Paul Cassirer (*1871 Görlitz – † 1926 Berlin), hat aus München kommend in Berlin als Verleger mit der PAN-Presse und der Publikation der Werke von Heinrich Mann und vieler wichtiger Künstler deutsche Verlagsgeschichte geschrieben. Etwa 100 Jahre nach der Übersiedlung von Cassirer von München nach Berlin folgte ihm Klaus G. Saur auf diesem Wege, um in Berlin ein solides Haus mit unerwartet frischen Wind zu durchlüften – dieser Eindruck prägte sich mir als einem dem täglichen Verlagsgeschäft ferner stehenden Autor und Editor bald ein. Mit Freude und Überraschung habe ich 2005 den neuen Geschäftsführenden Gesellschafter des Wissenschaftsverlages de Gruyter erlebt. Ich bin dem de Gruyter-Verlag in Berlin schon seit Jahrzehnten verbunden als Editor-in-Chief des Journal of Perinatal Medicine, als Mitarbeiter von Willibald Pschyrembel am ,Klinischen Wörterbuch‘ seit Anfang der 60er Jahre, als Autor der von Willibald Pschyrembel gegründeten ,Praktischen Geburtshilfe‘ sowie vom ,Grundriß der Perinatalmedizin‘ (1972) und der CD-ROM ,Geburtshilfe digital‘ (2000). Ein Verleger ist Unternehmer, aber dem Autor ist ein Verleger mehr. Der Autor möchte eine charismatische Persönlichkeit sehen, der in den Vordergrund die Vermittlung von Wissen in anspruchvollstem Stil, technisch perfekt, breit streut, natürlich zu günstigen Preisen. Von dem schleswigschen Buchhändler des 18. Jahrhunderts Joachim Friedrich Hansen wird die Einstellung berichtet, daß ihn die Hoffnung auf mühelosen Verdienst ohne eigene Initiative getrieben habe; die Jahrhunderte haben ein anderes Bild des Verlegers aus Sicht des freien Autors entstehen lassen. Aus Sicht des Autors – auch der eines wissenschaftlichen Buches, einer wissenschaftlichen Zeitschrift, auch eines Lehrbuches – sollte der Verleger die Entwicklung des Buchmarktes, des Medienmarktes im Auge haben, er muss das verlegerische Selbstverständnis und das Selbstverständnis des Autors in Einklang bringen. Ein Verleger soll vielschichtig und breit wirken, er muss anregen, Ideen aufgreifen, er muss ein Vermittler sein zwischen Autor und Öffent-

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lichkeit. Und ein Verleger sollte dem Autor das Gefühl eines Partners geben. In mir hat Klaus G. Saur dieses Gefühl sehr eindrücklich hervorgerufen. Darüber hinaus hat er durch seine Vielseitigkeit, seine Offenheit, seine Beredsamkeit den fast vergangenen Typus des gebildeten und diskussionsfähigen bürgerlichen Unternehmers – der einst Berlins Kultur- und Wissenschaftslandschaft prägte – wieder aufleben lassen. Die Essen in der Bibliothek des Verlagshauses in der Genthiner Strasse, die gesellschaftlichen Rahmen zu den Abendgesprächen in der Staatsbibliothek zu Berlin und vielfältige Gespräche graben sich in das Gedächtnis als wertvoll ein. Sie lassen jede Gelegenheit des Zusammenkommens mit diesem Freund der Wein- und Esskultur und des geselligen inhaltsreichen Gespräches mit Spannung erwarten. Ein Mann mit einem großen Freundeskreis, ein Netzwerker, ein Unterhalter und Kommunikator wurde in Berlin aufgenommen und integriert. Meine Erfahrungen als junger wissenschaftlicher Autor wurden von Willibald Pschyrembel geprägt, der zu jener Zeit einer der wichtigsten Autoren des Walter de Gruyter-Verlages war. Er strebte das partnerschaftliche Verhältnis mit dem Verleger an, war aber andererseits immer auf der Hut und gab mir als Parole mit: „Verleger saugen aus den Gehirnen der Autoren“. Seit Klaus G. Saur Geschäftsführender Gesellschafter und Vorsitzender des Walter de Gruyter-Verlages ist, habe ich diese Parole abgelegt. Ein partnerschaftliches Verhältnis verbindet uns. Möglicherweise ist der von ihm initiierte und inspirierte, außerordentlich gelungene Umbau des Verlagshauses Genthiner Strasse, der Licht und Transparenz in das ehrwürdige Haus gebracht hat, ein Symbol für den dortigen Wandel des Verleger-Autoren-Verhältnisses. Die Berliner Jahre von Klaus G. Saur sind ein Glücksfall für Berlin, für das Berliner Verlagswesen, für den Walter de Gruyter-Verlag, und sie sind für mich ein Vergnügen und ein Gewinn. Joachim W. Dudenhausen

Der Sinn ist nicht verloren Eine Notiz zur Theodizee nach Auschwitz 1. Verlust der Selbstverstndlichkeit. Für das Geschehen, das sich mit dem Namen Auschwitz verbindet, findet sich kein Begriff, der angemessenen genannt werden könnte. Das Ausmaß des Verbrechens übersteigt jede Vorstellungskraft. Der Plan zum mehrfachen Genozid, der Bau der Lager, die Erfindung und Einrichtung der Vernichtungsmaschinerie, der viehische Transport der Opfer, ihre Misshandlung, Beraubung und Schändung, der fabrikmäßig organisierte Mord und schließlich die Beseitigung der Toten, als seien sie Müll, können zwar beschrieben und mit Worten benannt, aber nicht begriffen werden. Begreifen ist Verstehen im Zusammenhang einer Welt, die uns die Vernunft nur in Verbindung mit einem Begriff unserer selbst erschließt. In Auschwitz aber hat die Vernunft nicht nur in der historischen Praxis versagt; sie reicht auch in der Theorie nicht aus, um ihr Versagen verständlich zu machen. Was immer sie uns vermittelt, will nicht zum Selbstbegriff eines Wesens passen, das sich selbst immer noch „vernünftig“ nennt.1 Alles in Auschwitz Geschehene ist menschlichen Einschätzungen, Absichten und Absprachen entsprungen. Es fand mitten in Europa statt, das nicht nur für sich selbst, sondern für alle anderen Kontinente den Humanismus „erfand“, der dem Menschenrecht zugrunde liegt. Das Verbrechen wurde mit Ideen verknüpft, die keine hundert Jahre früher von spätromantischen Geistern zur Rettung der Kultur erfunden worden waren. An der Organisation der Vernichtung waren Personen beteiligt, denen in Technik, Ökonomie und Verwaltung überragende Kompetenz bescheinigt wurde. Sie versahen pünktlich ihren Dienst, taten ihre amtliche Pflicht, legten supererogatorischen Eifer an den Tag, wurden für ihre herausragenden Leistungen mit Orden ausgezeichnet und glaubten in alledem, sie erfüllten eine wohl begründete politische Mission. Zwar dürfte es unter den Beteiligten niemanden gegeben haben, dem nicht klar war, dass er Unrecht tat und Schuld auf sich lud. 1

Siehe dazu den Sammelband: Ganten/Gerhardt/Heilinger/Nida-Rümelin (Hrsg.), Was ist der Mensch? Berlin/ New York 2008.

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Allen, die darüber nicht öffentlich gesprochen haben, muss bewusst gewesen sein, dass sie ein Verbrechen begehen. Für Straftaten, die sich ohnehin nur zu oft an der Grenze des Nachvollziehbaren bewegen, haben wir Begriffe, die ihre Einordnung, Bewertung und Verurteilung erlauben. Das gilt auch für Verbrechen, die sich die Herrschenden zu Schulden kommen lassen. Die politische Geschichte erteilt uns die vermutlich noch bis in die beste Zukunft fortgeschriebene Lehre, dass die Hüter des Rechts für den Rechtsbruch besonders anfällig sind; die daraus folgenden Untaten dürften für alle Zeiten eine besondere Herausforderung für das menschliche Urteilsvermögen darstellen. Gleichwohl gibt es Kategorien und konstitutionelle Mittel, um der Perversion des Rechts entgegen zu wirken. „Auschwitz“ aber steht für die Perversion der Normalität des menschlichen Lebens überhaupt, weil in dieses Geschehen so gut wie alles einbezogen war, was im Alltag des familiären und des öffentlichen Lebens, in Technik und Verkehr, in Erziehung und Wissenschaft, in Kultur und Politik unverzichtbar ist. Und da nicht eben wenig davon auch nachher unverzichtbar geblieben ist, hätte nach der Ungeheuerlichkeit des Holocaust eigentlich gar nichts mehr so sein können, wie es früher einmal war. Alles hätte als Fortsetzung des Lebens mit teuflischen Mitteln und somit dauerhaft ins Gegenteil verkehrt erscheinen müssen. 2. Zweifel an der Zustndigkeit Gottes. Adornos Bemerkung über die Unmöglichkeit, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, ist ein preziöses Beispiel für so gut wie alles, das seine Selbstverständlichkeit hätte verlieren müssen. Wie sollte es nach 1945 möglich sein, eine Kindheit zu haben, von der man im Rückblick sagt, sie sei „glücklich“ gewesen? Wie konnte man weiterhin die Sprache sprechen, in der die Vernichtungsbefehle ausgegeben wurden? Warum verstummen wir nicht wenigstens, wenn sich Wörter wie „Gas“ oder „Kammer“, „Rampe“, „Wagon“, „Grube“ oder „Lager“ auf unseren Lippen bilden? Es ist nicht unmöglich, auf diese ausweglos erscheinenden Fragen eine Antwort zu geben. Sie lässt sich sogar kurz und bündig fassen, ist dennoch aber nicht auf wenigen Seiten zu formulieren, weil sie eine Begründung erfordert, für die ein historischer, überdies heute nicht willkommener systematischer Anlauf genommen werden muss. Auschwitz, so meinen manche Autoren, habe eine der ältesten Gewissheiten der alteuropäischen Philosophie außer Kraft gesetzt. Das Vertrauen in die Güte eines allmächtigen Gottes sei definitiv zerstört.

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Deshalb sei nicht nur über die Rolle des Bösen, sondern auch über die Stellung Gottes neu nachzudenken. Natürlich ist das eine Aufgabe, der sich jede Generation zu stellen hat. Doch dass der Holocaust auch eine besondere theologische Herausforderung darstellt, ist so wenig zu leugnen, wie das Geschehen selbst. Dabei hat man sich der denkbar extremen Konsequenz zu stellen, die Hans Jonas vor etwas mehr als zwanzig Jahren gezogen hat: Die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens zwinge, so Jonas, von der Zuständigkeit Gottes für den Weltlauf abzulassen. Wenn Gott tatsächlich die Macht gehabt hätte, dem Geschehen Einhalt zu gebieten, hätte er es getan. Da er aber alles ebenso hat geschehen lassen, wie es geschehen ist, müsse die Konsequenz gezogen werden, dass er die Macht zum Eingriff gar nicht habe.2 Damit stellt Hans Jonas die Allmacht Gottes in Frage. Er bestreitet nicht nur das Beweisziel der erstmals im Buch Hiob entwickelten, von vielen großen Denkern unterstellten und von Leibniz in eine schlüssige Form gebrachten Theodizee; er verwirft überdies die den theologischen Systemen zugrunde liegende Annahme, dass Gott als der Ursprung, Urheber und Urgrund der Welt auch für deren Ablauf zuständig sei. Jonas hält zwar daran fest, in Gott den Schöpfer namhaft zu machen, unterstellt ihm dann jedoch die Entscheidung, die Welt ihrem eigenen Lauf überlassen zu haben. In ihm könne Gott an der Welt nur Anteil nehmen, so dass er sich erst in der von ihm nicht gelenkten Entfaltung der Welt zu seiner vollen Bedeutung entwickle. Gott, so Jonas, sei ein „werdender Gott“, der sich erst mit der geschichtlichen Evolution der Welt vollenden könne. Auf diese Weise fällt dem Menschen die ganze Verantwortung nicht nur für die Geschichte, sondern auch für das Gelingen der Schöpfung und für die Reifung Gottes zu. So befremdlich dieser nach Auschwitz entworfene Mythos ist: Offenkundig ist, dass Hans Jonas der christlichen Botschaft ein Stück entgegenkommt. Während das Neue Testament davon kündet, dass Gott seinen Sohn den Mächten der Welt überlässt, um die Menschheit zu erlösen, hat der „werdende Gott“ auf seine Allmacht überhaupt verzichtet, um der Menschheit die Möglichkeit zu geben, sich wahrhaft in ihr zu bewähren. Gott teilt das Schicksal der Welt und ist ihr in Erfolg und Niederlage unterworfen. Ob er in dieser Abhängigkeit noch unserer Vorstellung von Gott entspricht, mag offen bleiben. Unter dem 2

Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt 1987.

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Eindruck des Schreckens der Vernichtungslager steht für Jonas die Entlastung Gottes im Vordergrund. Diesem Interesse entspricht, dass dem aller Entwicklung nachwachsenden Gott keine Verantwortung für den Holocaust aufgebürdet werden kann. Sie kommt allein dem Menschen zu, und dies so, dass ihm jede Chance genommen ist, seine Schuld auf die göttliche Übermacht abzuwälzen. Gleichwohl hat er sich vor Gott, der in allem anwesend ist, zu rechtfertigen, denn er geht mit einer Schöpfung um, deren göttlicher Ursprung alle Voraussetzungen enthält, die Welt in ihrem Werden selbst göttlich werden zu lassen. So wird der Mensch zum Treuhänder Gottes. In seiner ihm in der Geschichte zugewachsenen Rolle hat er so zu handeln, als läge das Geschick der Welt allein in seiner Hand. 3. Das Problem der Theodizee. Dass dem Menschen die moralische Verantwortung für alles zukommt, was er in der Welt tut, steht außer Zweifel. Ihm aber auch das Gelingen der Schöpfung zuzurechnen und ihn für die Welt als Ganze zuständig zu machen, kommt einer Überschätzung seiner Kräfte gleich. Wer sie in vollem Umfang ernst nähme, könnte nur scheitern. Das wiederum dürfte für die faktische Kraft moralischen Handelns ruinöse Folgen haben. Wer daher die Zerrüttung der ethischen Zurechenbarkeit des Menschen vermeiden möchte, sollte die Grenzen der menschlichen Macht bedenken und die ethische Haftung auf sie beschränken. Und wer vermeiden will, dass alles, was darüber hinausgeht, dem Zufall anheim gestellt wird, ist alsbald doch wieder bei der Frage der Theodizee angelangt. Nun ist es kein Geheimnis, dass die Theodizee in den Jahrzehnten vor Auschwitz nur noch wenige Anhänger gefunden hat. Wer für sie argumentierte, setzte sich dem Argwohn aus, eine Perspektive zu annektieren, die er selber gar nicht einnehmen kann. Da die Theodizee streng genommen, wie im Buch Hiob, nur von Gott selbst vorgetragen werden kann, erscheint ihre Ausarbeitung durch die Philosophen wie ein illegitimer Akt, in dem der Mensch die ihm gezogenen Grenzen überschreitet. Zwar lässt sich zeigen, das Leibniz an keiner Stelle aus dem Gesichtspunkt Gottes, sondern immer nur vom Standpunkt des Menschen aus zu sprechen sucht. Man kann auch dartun, dass seine ingeniöse Demonstration ganz und gar der Sinnfrage des modernen Menschen verpflichtet ist, und dass alles, was Leibniz über Gott zu sagen versucht, nur eine Reflexion über das Defizit der Welt darstellt. Gleichwohl lehrt uns die geschichtliche Wirkung der ingeniösen Versuchsanordnung der Theodizee, dass sie mehr Missverständnisse

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hervorruft, als sie zu beseitigen vermag. Der Titel suggeriert eine Beschreibung der Welt von Gottes Standpunkt aus. Deshalb empfiehlt es sich, vom Titel abzulassen und sich auf die Sache der Rechtfertigung des Gegebenen zu beschränken. In der Konsequenz geht es dabei um den Sinn menschlichen Handelns, das in einer Welt, die an sich sinnlos wäre, selbst sinnlos werden würde. Die Theodizee genannte Bemühung versucht deutlich zu machen, dass es in der Welt des Menschen Zwecke gibt, für die es sich zu leben lohnt. Es geht um den Nachweis, dass die Vernunft ein Organ des Menschen ist, dessen Leistungen etwas Reales entspricht. Wenn die Vernunft etwas als Ziel oder Wert eines Handelns begreift, dann muss das objektive Bedeutung haben können. Wenn sie nach kritischer Prüfung eines Handlungszwecks zu der Überzeugung gelangt, dass die Freiheit unaufgebbar und die Würde der Person unantastbar ist, dann lässt sich dieses Ergebnis nicht als Illusion abtun, die unter anderen Bedingungen auch anders hätte ausfallen können. Wenn die Kunst als ein Selbstzweck menschlicher Kultur gefördert wird, dann kann dies nicht nach einem Nutzenkalkül gegen andere Leistung abgewogen werden. Ähnliches gilt für den Wert von Erkenntnis und Liebe oder für den Selbstzweck der menschlichen Person. 4. Der Sinn des Bçsen. Die Konditionen des Sinns offen zu legen, zu begründen und gegen Einwände zu verteidigen, ist das eigentliche Beweisziel einer Theodizee. Es kommt nie zu einem Ende, weil jede Zeit jeder Generation neue Bedenken gegen die Vortrefflichkeit der Welt hinterlässt. Das Ausmaß der Übel, die Vielfalt der Leiden, die Unerschöpflichkeit der Bosheit und die beständig drohende Not machen es allemal schwer, bei guten Vorsätzen zu bleiben. Es ist nicht allein der Umgang der Menschen miteinander, auch ihr Verhältnis zu Pflanze und Tier, das Ineinander von Leben und Tod, die Paarung von Lust und Grausamkeit oder die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit für eine Sache die Achtlosigkeit gegenüber vielen anderen einschließt. Alles dies kann den Wohlgesinnten schwächen und den Gutwilligen mutlos machen. Damit die erlebten und erlittenen Widersprüche in der Welt den guten Willen nicht zum Versiegen bringen, sind die Argumente der Theodizee genannten Theorie von Bedeutung. Sie werden aber zu leicht genommen, wenn alles, was den guten Absichten entgegensteht, schlechthin als „böse“ bezeichnet wird. Zwar steht der Dualismus der Wertung im Ausgangspunkt ihrer Frage; gäbe es die Erfahrung des

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Bösen nicht, könnte auch kein Bedürfnis nach dem Guten entstehen. Aber sobald die Theodizee zu ihrer Antwort gelangt, hat sie den schlichten Gegensatz überwunden. Wenn das Böse als eine Bedingung des Guten verstanden werden und die bestehende Welt tatsächlich als die beste aller möglichen Welten gelten können soll, hat das Böse eine unverzichtbare Aufgabe im Ganzen der Realität und kann folglich so abgrundtief böse nicht sein. Schöpfungstheoretisch hat das Böse die kardinale Systemstelle der Konkurrenz, ohne die es im Widerstreit der Kräfte gar nicht zum Guten käme. Die von der Theodizee betriebene Vereinnahmung des Bösen durch das Gute hat von Anfang an für Spott gesorgt. Sie stellt in der Tat eine Zumutung für jeden dar, der dem Guten als solchem zum Durchbruch verhelfen möchte. Diesen Wunsch kann man zwar als naiv beiseite schieben, um im Gegenzug den Realismus der Theodizee zu loben, die das Böse erst gar nicht zu leugnen sucht. Aber die Rechfertigung des Bösen als eines integralen Bestandteils einer im Ganzen vortrefflichen Welt muss selbst wie eine zynische Ungeheuerlichkeit erscheinen – oder als abgrundtiefe Dummheit. Warum sollten sich das Gute und das Böse harmonisch ergänzen? Warum sollte man gut sein wollen, wenn die bösen Taten nicht nur im Einzelnen, sondern auch im Ganzen der Welt so erfolgreich sind? Erwägungen wie diese werden durch die Erinnerung an Auschwitz schon im Ansatz erstickt. Jedes unentschiedene Sowohl-als-auch in der Abwägung der Motive und Effekte menschlichen Handelns arbeitet der Tolerierung des Bösen vor. Wollte man angesichts des Holocaust auf die Rechtfertigung objektiver Zwecke der Vernunft verzichten, käme dies einer nachträglichen Verharmlosung des Verbrechens gleich. Wir würden gleichsam vorab mit einer Welt einverstanden sein, in der eine Wiederholung der Todesfabrikation gerechtfertigt werden könnte. 5. Die Rettung des Sinns in der Logodizee. Das Theodizee genannte Vorhaben sucht dem Menschen eine Aufgabe zuzuweisen, die ihm selbst und der Welt gleichermaßen angemessen ist. Sie muss so beschaffen sein, dass der Mensch seinen Platz in der Welt selbstbestimmt erfüllen kann. Die Aufgabe muss, trotz aller Risiken und ungeachtet vielfachen Scheiterns, erfüllbar sein und sie muss die Chance zur Entfaltung seiner Möglichkeiten bieten. Beim Menschen geht es um eine freiwillige Integration in eine werdende Welt, in der selbstbewusste Individuen sich nur dann mit ihren Aufgaben einverstanden erklären, wenn sie ihrerseits als eigenständige Wesen anerkannt sind. Sie schätzen

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es durchaus, ein im gesellschaftlichen Ganzen anerkanntes Mittel zu sein, wollen aber zugleich als Zweck an sich selbst geachtet werden. Das ist der Punkt, den Leibniz mit der Rechtfertigung der Freiheit aufnimmt und der im Alten Testament durch Gottes Appell an die Einsicht Hiobs berücksichtigt ist. Es ist die Exposition des individuellen Daseins, die dem Ansatz der Theodizee zu widersprechen scheint. Zwar hat Leibniz durch die Monadologie vorgebeugt und jedes Element der Welt zu einem in sich geschlossenen, sich selbst genügenden, unvergänglichen und unverzichtbaren Moment des Ganzen erklärt. Dennoch hat sich nach Kant und Nietzsche der Akzent verschoben: Das sich selbst bestimmende Individuum möchte nicht nur seinen Zugang zum Ganzen privilegieren, es legt auch Wert auf seine fortgesetzte Mitwirkung. Im Bewusstsein seiner Freiheit und seiner Mündigkeit sieht es sich als tätigen Teil der Realität. Wenn das auch in der Methode der metaphysischen Beschreibung des Ganzen zum Ausdruck kommen soll, hat die Bewusstseinsleistung des Individuums eine tragende Rolle zu spielen. Damit ist man erneut auf den Sinn als das Medium der Erschließung des Ganzen verwiesen. Das sich selbst bestimmende, mündige Subjekt zieht es vor, den Zusammenhang von Selbst und Welt auf sein ihm selbst gegenwärtiges Selbstverständnis zu gründen. Also rückt es die Welt, die es sich verständlich zu machen sucht, in die Dimension seines eigenen Sinns. Sinn ist das Medium, in dem jeder alles versteht, was immer ihm als Empfindung, Gefühl, Wahrnehmung oder Begriff verständlich ist. Dabei ist gegen das vorherrschende Verständnis idealistischer Konzeptionen zu betonen, dass der Sinn des Menschen ihn nicht auf seine Binnenwelt, nicht auf seine so genannte Subjektivität reduziert. Der Sinn eröffnet Räume gemeinsamen Erlebens. In und durch ihn wird die Welt zu einer öffentlichen Sphäre, in der man über größere physische Distanzen hinweg Informationen aufnehmen, Signale geben und Konsens erzielen kann. Im und über den Sinn geht der Mensch verstehend über sich hinaus und kann mit seinesgleichen einig sein, auch wenn niemand gegenwärtig ist. Wenn es gelänge, die mit dem Sinn ermöglichte Verständigung in und über die Welt aus ihren Elementen nachzuerzählen, wäre schon der wesentliche Teil dessen geleistet, was man sich unter stärkeren theologischen Prämissen von der Theodizee verspricht. Denn in der Sinnanalyse müsste sich zeigen, wie sehr der Mensch als verständiges

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Wesen in den Merk- und Wirkzusammenhang seines Daseins eingelassen ist. Dieser Sinn ist systematisch zu ermitteln, wenn der Mensch sich seiner Stellung in der Welt versichern will und damit die Voraussetzung für ein begründetes Handeln schaffen möchte. Die Theodizee hat dies mit Bezug auf einen dem Sinnverstehen zugänglichen Weltgrund zu leisten versucht. Wer glaubt, auf diesem Wege positive Aussagen über Gott machen zu können, dem steht der von Leibniz philosophisch eröffnete Weg noch heute offen. Wer aber Gott von der Hypothek der ihm zugewiesenen menschlichen Argumente freihalten möchte, der sollte sich auf die Metaphysik als einer internen Sinnanalyse des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses beschränken. Damit würde die Theodizee in eine Theorie des Sinns überführt, in dem der Mensch die Welt und sich selbst versteht. Da diese Theorie des menschlichen Sinns auch den Grund einer rationalen Rede von Gott frei zu legen hat, empfiehlt es sich, schon in der Bezeichnung des Vorhaben die Erinnerung an die große Leistung der Theodizee bewahren. Deshalb spreche ich von Logodizee. 6. Der ttige Sinn. In der Logodizee hat die Vernunft sich selber auszuweisen. Die Vernunft, also das integrale Organ für den menschlichen Sinn, hat in stringenter Folge zu erzählen, wie sie sich selbst versteht. Logodizee ist die Rede von der Herkunft, Stellung und Leistung der menschlichen Vernunft in ihrem geschichtlichen Kontext. Um Vernunft geht es schon deshalb, weil sie das Organ für das Sinnverstehen ist. Nur die Vernunft kann uns Begriffe wie Sinn, Zweck oder Ordnung, wie Dasein, Leben oder Welt geben und erschließen. Nur sie kann den Zweifel am Gehalt der Begriffe begründen, und nur an ihr liegt es, wenn wir die Zweifel mit Gründen überwinden. Deshalb geht es wesentlich um sie, wenn wir uns fragen, was wir in einer Welt zu suchen haben, in der Auschwitz wirklich war und jederzeit wieder möglich ist. Dabei ist die Frage nicht allein auf die Theorie der Vernunft, auf ihren möglichen Ursprung, ihre Verfahren und ihre die Sinnlichkeit sachlich und sozial ergänzende Leistung gerichtet. Es geht in der Logodizee immer auch um den Gebrauch der Vernunft im endlichen Lebenszusammenhang des Menschen. Zur Logodizee nach Auschwitz gehört der Versuch, trotz allem zu verstehen, wie das Verbrechen möglich war. Das ist eine Aufgabe historischer Erklärung, psychologischen Nachvollzugs, politischer Deutung und kultureller Analyse. Man muss dem Verfall des Rechtsbe-

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wusstseins nachgehen, der seinen Ursprung in der romantischen Abwehr der Aufklärung hat. Dort liegen auch die Wurzeln der Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, die zur Geringschätzung der Repräsentation und zur Verachtung des Parlamentarismus führten. Hinter beiden Entwicklungen steht die irreführende Alternative zwischen Gefühl und Vernunft, die eine Auszeichnung des reinen Willens mit sich brachte und somit den Glauben an den Führer begünstigte. Das können nur Beispiele für ideengeschichtliche Analysen sein, die uns das Versagen der Politik und ihr Abgleiten ins totale Verbrechen erklären. Andere Beispiele finden sich in der Geringschätzung der Individualität, in der Verachtung der Religion oder in einem kurzschlüssigen Verständnis von Natur, Leben und Evolution, das auf der einen Seite zu pauschalen Identifikationen, auf der anderen Seite zu prinzipiellen Oppositionen führte. Beides ist falsch. Schließlich ist da die für das Selbstverständnis des Menschen so entscheidende Beziehung zur eigenen Zeit, also zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Bis heute ist es üblich, die Vergangenheit in Erwartung einer Zukunft zu deuten, die selbst nur als verbesserte Vergangenheit begriffen wird. Die Gegenwart, der Ort, in dem jeder mit seinen Erinnerungen und seinen Hoffnungen lebt, wird übersprungen. In ihr aber ist der Sinn lebendig. In ihr wird er dringend benötigt. Leben und Handeln erfolgen nur unter Konditionen der erfahrenen Präsenz, die ihrerseits an die Gegenwart erlebter Kräfte und damit zugleich an die Wirksamkeit der Anderen gebunden ist. Dieses letzte und gewiss auch schwierigste Beispiel für eine Sinnanalyse im Rahmen einer Logodizee kann bewusst machen, dass die Zeit die Dimension ist, in der sich der Sinn entfaltet. So wie der Sinn räumlich getrennte Individuen zu koordinierten Akten im Medium der Gleichzeitigkeit verbindet, so kann er auch über große zeitliche Distanzen hinweg Einheiten schaffen, ohne die weder Gefühle, noch Begriffe, noch gemeinsame Handlungen möglich sind. Der Bezug zur Gegenwart hat auch deshalb im Vordergrund der Analyse zu stehen, weil im jeweils gegenwärtigen Augenblick nicht nur das Verstehen stattzufinden hat, sondern auch der tätige Umgang mit dem, was dem Menschen etwas bedeutet. Hier zeigt sich, womit einer klar kommt und womit nicht. Hier entscheidet sich, was er tut und was er lässt. Tatsächlich gibt es nichts, das als Ereignis, Geschehen oder Handlung wahrgenommen werden kann, wenn es nicht mit einem Sinn verbunden ist. Der Sinn ist daher die einzige uns selbst einsichtige

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Generalbedingung des Geschehens. Sie wirkt aber nur, sofern sie jetzt gegeben ist. Und da der Sinn für das, was wir jetzt empfinden, fühlen, wahrnehmen, erkennen und verstehen, faktisch gegeben ist, gibt es eine begründete Aussicht, uns mit dem verbunden zu wissen, was wir als vergangen in Erinnerung halten und wohl oder übel als Vorgeschichte unserer Gegenwart anerkennen müssen. Hier wirkt eine Kontinuität des Sinns, aus der nichts ausgeschlossen werden kann, an das wir uns erinnern. Wollen wir uns Rechenschaft darüber geben, was es uns bedeutet, ist die genaue Kenntnis der Ereignisse die wichtigste Voraussetzung. Die Logodizee hat im Horizont einer Gegenwart, die ihre Zukunft (und nicht die der Vergangenheit) zu entwerfen sucht, zu berichten, zu deuten und zu werten. Die hier nur in einigen Aufgaben skizzierte Logodizee hängt also wesentlich von der Erinnerungsarbeit ab. Es sind die Archivare und Dokumentare, die Autoren und ihre Verleger, die sie ermöglichen. Dass sie in so umfänglicher und unermüdlicher Weise tätig sind, ist für sich schon ein Beweis dafür, dass es einen Sinn gibt, der uns mit Auschwitz verbindet. Auf ihn sind wir angewiesen, wenn wir hoffen, etwas dafür tun zu können, dass sich Auschwitz nicht wiederholt. Volker Gerhardt

Ein Fest der Künste. Der Kunsthändler Paul Cassirer als Verleger Klaus G. Saur ist einer der glänzenden Köpfe der Hauptstadt, ein Kulturmensch, der wie kaum ein anderer Wissenschaft und Bücherkunst zusammen denkt und verkörpert. Naturgemäß mußten sich also seine Wege mit denen der Stiftung „Brandenburger Tor“ kreuzen – und dies zum großen gegenseitigen Vergnügen.

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Wir danken Professor Saur für seine luziden Beiträge, mit denen er in seiner unverwechselbaren Rhetorik die Veranstaltungen der Stiftung „Brandenburger Tor“ immer wieder bereichert.“ Monika Grtters Fotografien: Elke A. Jung-Wolff

Hommage für einen unermüdlichen Kultur-Pendler zwischen Berlin und München Seitdem Klaus Saur seinen Arbeitsmittelpunkt von München nach Berlin verlegt hat, rätseln seine Münchner Freunde wie er das eigentlich schafft, seinen Verlag in Berlin ,full time‘ mit neuen Impulsen zu inspirieren und zugleich auch weiterhin an Münchens kulturellen Brennpunkten, zuverlässig mit Rat, wenn nötig auch mit Tat, zur Stelle zu sein. Unermüdlich pendelt er zwischen beiden ,Tatorten‘ und wirkt – stets zuversichtlich lächelnd und immer gut informiert – an wichtigen Entscheidungen von ortsansässigen Vorständen und Gremien mit, in denen er nach wie vor Sitz und Stimme hat. Bei der Ausübung seiner jeweiligen Funktionen benötigt er nach wie vor weder Büchsenspanner, noch Sprechzettel oder publizistische Indiskretionen, womit er meist mehr bewirkt als so manche Amtsperson vor – oder so mancher (Partei)-Lobbyist hinter den Kulissen. – Zwar wissen seine Freunde nicht immer genau, welche Projekte er gerade mit Geschick und Inbrunst lanciert, wo und wen er gerade aus einer Klemme hilft, welchen Streit er schlichtet oder glättet, oder wen er in welche wichtige Position vermittelt; immer aber wissen sie, dass Klaus Saur zuverlässig u n d diskret handelt und dass es ihm nicht um seine Person geht, sondern um die Sache, das heisst: um ein, für ihn essentielles kulturelles Anliegen. Für all diese Fähigkeiten wird er von etablierten Kulturträgern oft gefürchtet, immer aber für sein Engagement respektiert So ist Klaus Saur, ob in München oder in Berlin, im Laufe der Jahre zu einem unentbehrlichen Wanderarbeiter im Weinberg unserer pflegebedürftigen Kulturscene geworden und zu einem ,Unikat‘, dass weder in eine Schublade passt und noch in eine vorgefertigte Schablone. – Zu einem Unikat, wie es in unserer, auch in kulturellen Gefilden gestylten Konsumgesellschaft nur ganz wenige gibt, die erfrischend und belebend wirken und deshalb notwendig sind. Deshalb mein Doppel-Wunsch: Erstens: Möge Klaus Saur seine unkonventionelle Kultur-Diplomatie noch möglichst lange ambulant ausüben und möge er sich zweitens die dafür erforderliche geistige und körperliche Mobilität er-

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halten, indem er beginnt, mit seinen physischen Kräften hauszuhalten. Auf dass er auch weiterhin für das kulturelle Wohl unseres Landes und Europas kreativ zu wirken vermag. Hildegard Hamm-Brcher

Über Klaus G. Saur und andere Gottesgaben Dieser Mann ist ein Ereignis. Er ist ein leidenschaftlicher Verleger, ein begnadeter Rhetoriker, ein begabter Geschäftsmann, ein besessener Büchermensch, ein unermüdlicher Arbeiter in und an der Bibliothek des menschlichens Wissens, ein begeisteter Leser, ein zum Lesen anstiftender Verführer und ein wundervoller, verlässlicher Freund. Er liebt den Erfolg, und es scheint, als liebe der Erfolg ihn. Und er spricht gern über seine geradezu wundersamen Leistungen. Es ist ein Vergnügen, ihm zuzuhören, wenn er voll Temperament von seinen Plänen und der gelungenen Ausführung spricht. Da ihm daran lag, seine Bücher weltweit zu verkaufen, machte er sich auf den Weg – und es gelang ihm. Sein Verlag wurde das führende Haus. Und als der Verleger sah, dass alles gut war, da verkaufte der Kaufmann seinen Verlag, um ihn wenige Jahre später rückzukaufen, wobei jede Transaktion ein glanzvolles Geschäft für ihn war. Für einen Ruhestand zu ruhelos übernahm er schließlich einen großen internationalen Verlag, um diesen in kürzester Zeit in eine neue Ära zu führen. Überraschende Geschäftsideen zu entwickeln und sie durchzusetzen, macht er mit dem Enthusiasmus eines Liebhabers. Für das Klingeln der Kasse hat er das gute Gehör eines Verlegers. Und er ist so erfolgreich, dass sie klingelt und klingelt und klingelt. Die Mediziner nennen das den Tinnitus prosperus. Er ist generös. Wenn er bemerkt, dass eine Universität oder eine Bibliothek das Geld nicht hat, um sich seine Bücher zu kaufen, so verschenkt er sie. Einige Häuser, zumal in Osteuropa, dürfen sich rühmen, eine Saur-Bibliothek zu besitzen, die so prächtig ist wie sie kostenfrei war. Man weiß, wer er ist, und er weiß es ebenfalls. Er kennt seine Leistungen und seinen Wert, und er schätzt es daher durchaus, geehrt zu werden. Falsche Bescheidenheit ist ihm fremd, und ich denke, er verachtet sie. Aber er kennt auch die Leistungen der Anderen, die Arbeit der Freunde, der Kollegen, der Mitstreiter, der Partner, und er weiß sie zu würdigen. Die Festreden und Ansprachen von Klaus G. Saur sind stets voller Esprit, ein Feuerwerk der Rhetorik, der Bildung, auch der Ge-

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lehrsamkeit. Und stets ein Ausweis seiner Begabung für Freundschaft. Mühelos scheinen ihm die Reden zu gelingen, die Einfälle purzeln ihm scheinbar aus den Ärmeln. Sein phänomenales Gedächtnis wird ihm dabei hilfreich sein, und er braucht es, denn er kennt wohl einen jeden, der in unserer Welt der Kultur und des Geistes, der Wissenschaft und der Bücher etwas geleistet hat. Er hat mit ihnen gesprochen, etwas mit ihnen verabredet (ein Buchprojekt vielleicht oder, ganz selbstlos, ein großzügiges Hilfsprojekt). Und auch nach Jahren und Jahrzehnten kann er es in allen Einzelheiten erinnern. Dass er den Namen von Frauen und Männern, mit denen er je gesprochen, vergessen oder auch nur für einen Augenblick nicht zur Verfügung hat, ist mir schlichtweg nicht vorstellbar. Und bei all diesen weltweiten Erfolgen scheint er sich zu langweilen, anders ist es kaum zu erklären, dass er derart viele ehrenamtliche Tätigkeiten auf sich nimmt. Wenn er über diese Tagungen und Sitzungen, über die Kämpfe und Auseinandersetzungen begeistert und vergnügt erzählt, ahnt man, dass er auch in den Ehrenämtern nicht schweigend in der dritten Reihe sitzt. Er ist ein wunderbarer Unterhalter und jedes Gespräch mit ihm ist ein Erlebnis, wert aufgezeichnet zu werden. Doch er kann auch zuhören, eine Gabe, die nicht jedem großen Meister der Rhetorik in die Wiege gelegt wurde. In seinen öffentlichen Gesprächen mit dem ihm wichtigen Personen der Zeitgeschichte ist er ein einfühlsamer, geradezu zärtlicher Gesprächspartner, der sich völlig zurückzunehmen weiß. Er ist unglaublich belesen, und er liest die Bücher äußerst genau und erstaunlich schnell. Ich bin inzwischen zu der Ansicht gekommen, dass er jedes, aber auch jedes in diesem Land erschienene Buch der Literatur, der Kunst und Kultur, der Wissenschaft und Geistesgeschichte kennt, dass er alle Erinnerungen, Biografien und Geschichtswerke gelesen hat. Und falls es ein Buch zur Verlagsgeschichte ist, der deutschen, der europäischen, der Weltverlage, so hat er dieses nicht nur gelesen, sondern vollständig im Kopf gespeichert. Aber, und auch in einer Festschrift sollte es nicht verschwiegen werden, sogar dieser große Mann hat seine Achillesferse. Alles, was er schafft, gelingt ihm durch Verstand und Kraft, Witz und Weitblick. Die Hilfe und der Rückhalt, die ihm seine Frau und seine Familie geben, sind unerlässliche Voraussetzungen, die Leistungen seiner Mitarbeiter und Mitstreiter sind nie ausreichend genug zu würdigen. Und doch ist auch er verwundbar, so verwundbar, dass die ihm lebenslange treue Fortune dann verlassen würde. Denn er, der so viele und so vieles

Über Klaus G. Saur und andere Gottesgaben

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bewegte, verzweifelt, sobald ihm eine winzige Gottesgabe nicht oder nur unzureichend gewährt wird: ohne einen ordentlichen Espresso – und nur er selbst weiß, wie er zu schmecken hat – droht Klaus G. Saur glücklos zu scheitern. Christoph Hein

Ankunft in Berlin Auch noch nachdem er mich hinten beim Wagenstandsanzeiger entdeckt hatte, wanderten Saurs Augen nervös in alle Richtungen, er blickte mal in die Ecken, nach links, nach rechts, unvermittelt warf er einen nervösen Blick über die Schulter, dann plötzlich riss er den Kopf hoch, wie um den Himmel nach Gefahren abzusuchen. „Gut, dass du da bist“, sagte er ohne mich anzusehen und drückte mir voller Selbstverständlichkeit seinen Koffer in die Hand. „Wir müssen weg von hier.“ „Was, um Himmels Willen, hast du in diesem Koffer?“ Mir war es vollkommen unverständlich, wie dieser Mann, der offensichtlich etwas älter als dreißig war, dieses Aggregat auch nur anheben könnte, geschweige denn, wie er es ohne erkennbare Mühe von der Zugtür bis zu mir befördert hatte. „Bücher! Bücher, was denkst du denn?“ Er sagte es, als wäre es die dümmste Frage, die er überhaupt jemals gehört hatte. „Wir müssen hier weg!“ Verzweifelt sah ich mich nach einer Transporthilfe um. Diesen Koffer würde ich nicht bis zum Auto tragen können, ohne mir irgendetwas Chirurgisches zuzuziehen. Zu meinem Glück standen am hinteren Ausgang Gepäckwagen. Wir gingen zum Auto. Obwohl Saur den Weg nicht kannte, lief er doch, die ganze Zeit nervös um sich schauend, mit schnellen Schritten voraus. Ich rannte mit dem sperrigen Gepäckwagen hinter ihm her und sagte, wo er abbiegen musste. Die Szene erinnerte mich an das grüne Rennauto mit der Funksteuerung, mit dem ich als Kind so gern gespielt hatte. „Willst du mir jetzt endlich sagen, was passiert ist?“, fragte ich Saur, als wir endlich im Auto saßen, den Bahnhof verlassen hatten und mit gleichmäßigem Tempo die Allee entlang fuhren. Doch Saur hörte mir gar nicht zu. Immer wieder sah er nach hinten „Was ist mit dem roten Kombi da?“ „Hör zu: Ich bin mir sicher, dass uns niemand folgt. Nur ein grüner Passat war vom Bahnhof aus in die gleiche Richtung gefahren und der ist vor zwei Minuten auf Nimmerwiedersehen nach rechts abgebogen. Und überhaupt: Warum sollte uns jemand folgen?“

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Er schien wenigstens den ernsthaften Versuch zu unternehmen, sich wieder zu fassen. „Ich kann nie wieder zurück nach München“, platzte er schließlich heraus. „Was?“ Vor Schreck hätte ich beinahe das Lenkrad verrissen. „Nie wieder!“, sagte er nachdrücklich. „Aber du wohnst in München“, sagte ich. „Nicht mehr“, widersprach er. „Ich schätze mal, dass ich ab jetzt in Berlin wohne.“ „Und warum“, wollte ich wissen. Er dachte nach, holte Luft, schien es sich dann anders zu überlegen und ließ die Luft in einem großen Seufzer heraus. „Es ist zu kompliziert, du würdest es doch nie begreifen.“ „Was soll denn das heißen?“ war ich verärgert. „Du könntest es ja wenigstens probieren.“ „Es hat mit Büchern zu tun. Alles mit Büchern. Verstehst du?“ „Ich glaube, soweit kann ich dir folgen. Immer hat alles bei dir mit Büchern zu tun.“ „Ja, aber diesmal ist es komplizierter. Es gibt Bücher wie zum Beispiel Robinson Crusoe und Bücher über Bücher wie die Bibliografische Sammlung und dann noch Bücher über Bücher über Bücher, etwas mit dem so genannte Buchhalter zu tun haben. Aber wenn Bücher über Bücher über Bücher über Bücher erscheinen, dann wird es gefährlich. Lexika, Buchhaltungsbücher, Romane, Remittenten, weißt du was ich meine?“ „Nicht wirklich.“ „Ich habe dir gesagt, es ist zu kompliziert für dich“, schlussfolgerte er zufrieden. „Hast du Ärger mit der Polizei?“ „Ach, die Polizei interessiert mich überhaupt nicht. Sagen wir es so: Verlage werden verkauft, Verlage werden gekauft. Menschen sind glücklich, können auch unglücklich werden.“ „Du klingst wie ein Orakel“, sagte ich ratlos. „Sehr gut.“ Er verschränkte erfreut die Arme, als hätten wir die Angelegenheit damit geklärt. „Und wo fahren wir jetzt hin?“ „In dein Hotel“, sagte ich, „wenn du mir verrätst, wo das ist.“ „Was für ein Hotel?“ Saur war erstaunt. „Ich habe kein Hotel. Ich habe die Koffer und das, was ich am Leib trage.“ „Und wo willst du jetzt hin?“ „Keine Ahnung. Du bist doch der Berliner von und beiden.“

Ankunft in Berlin

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„Zu mir kannst du nicht. Mein Vater erlaubt nicht, dass ich Übernachtungsgäste mitbringe. Hast du keine anderen Bekannten in der Stadt?“ „Wen denn?“ Er riss die Hände nach oben. „Ich kenne absolut niemanden in dieser Stadt. Ich bin das erste Mal hier.“ „Mir fällt was ein.“ Bei der nächsten Gelegenheit wendete ich und ließ das Auto die Nacht jetzt ostwärts zerschneiden. „Ein Freund von einem Freund schuldet mir noch einen Gefallen.“ Dass Saur nicht sehr zufrieden mit seiner neuen Wohnung war, brauchte er nicht extra zu sagen, das erkannte man auch so. Aber ich war mindestens genauso sauer, denn schließlich besorgte ich ihm in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eine Wohnung in einer ihm fremden Stadt und hätte mir für diese Tat doch ein Mindestmaß an Dankbarkeit erhofft. Statt dessen ging Saur mit leicht angeekeltem Blick durch die Wohnung, hob hier ein Platzdeckchen mit spitzen Fingern auf, um es gleich darauf zu Boden fallen zu lassen, öffnete da den Spiegelschrank, betrachtete den Multifunktionstisch und die Schrankwand mit offensichtlichem Grausen. Schließlich stellte er sich vor einem Fenster auf und blickte stumm heraus. Es war das erste Mal seit dem Bahnhof, dass seine Augen still standen. „Na schön“, sagte ich, „Spindlersfeld ist vielleicht nicht unbedingt die schönste Ecke von Marzahn. Aber Platz hast du hier, es ist nicht kalt und niemand wird dich hier finden.“ „Nein“, bestätigte Saur. „Niemand wird mich hier jemals finden. Ich fürchte nur, dass ich mich hier selbst nicht wiederfinden werde.“ „Jetzt bleib aber mal auf dem Teppich!“, sagte ich nachdrücklich, wobei mein Blick unwillkürlich auf den abwischbaren Fußbodenbelag fiel, mit dem die ganze Wohnung ausgelegt war. „Du kommst hier völlig abgebrannt mit irgendwelchen Koffern aus München angestürzt und bist dann nicht zufrieden mit der Wohnung, die ich dir innerhalb von einer Stunde zur Verfügung stelle. Ich würde schätzen, du wirst dich etwas umstellen müssen. Willkommen in Berlin! Wie sagt unser Bürgermeister? Arm aber sexy.“ „Arm aber sexy“, wiederholte er, gedankenleer weiter aus dem Fenster starrend. „Soll ich uns was zu essen besorgen?“, fragte ich. „Bei Ingrid’s Sptimbis’s gibt’s bestimmt noch eine Currywurst für uns zwei Hübsche.“ „Nein lass nur“, murmelte Saur.

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„Gut, brauchst du sonst noch was?“ „Nein.“ „Gut, dann würde ich mich verabschieden.“ „Jaja.“ Ich wandte mich zum Gehen um. Abrupt drehte sich Saur um, hielt mich am Arm fest und sah mir in die Augen. „Lass die Hände von Büchern, Junge. Hörst du? Lass die Hände davon.“ Vorsichtig versuchte ich, meinen Arm seinem festen Griff zu entziehen. „Mach dir keine Sorgen um mich. Pass du lieber auf dich auf.“ „Bücher!“, murmelte er noch einmal mit schreckengeweiteten Augen. Er ließ meinen Arm los, drehte sich um und schaute wieder in die Marzahner Nacht. Vorsichtig zog ich die Tür hinter mir zu. Ob er es wirklich schaffen würde, nie wieder rückfällig zu werden? Mit einem unguten Gefühl im Magen ließ ich Saur zurück. Jakob Hein

Der große Wissenschaftsverleger Klaus G. Saur, der große Wissenschaftsverleger, der entscheidende Ideengeber, der unabhängige Geist und rastlose Gestalter verabschiedet sich aus dem Verlagswesen. Er kann auf fünfzig Jahre verlegerische Tätigkeit zurückblicken, zunächst im väterlichen Verlag Dokumentation, dann als Eigentümer des K.G.Saur-Verlags mit seiner unvergleichlichen Entwicklung, insbesondere im Bereich der großen Referenzwerke zum Wissen der Welt, dann als geschäftsführender Verlagsleiter bei Reed-Elsevier und schließlich bei Walter de Gruyter in Berlin. Immer war er seiner Zeit voraus, immer war er risikobereit, immer war er perspektivenreich und umsetzungsstark. Während seiner vier Berliner Jahre bei Walter de Gruyter hat er seine schon immer beeindruckende Dynamik noch einmal gesteigert. Der Verlag Walter de Gruyter, der aufgrund seiner Geschichte und wissenschaftlichen Tradition zu den großen Universalverlagen gehört, mit wohl den meisten lieferbaren Titeln im Vergleich zu anderen Verlagen, der aber auch in die Jahre gekommen war und eine neue Jugendlichkeit brauchte, um zukunftsfähig zu bleiben, hatte mit Klaus G. Saur den richtigen Mann an der Spitze: kühler Rechner und leidenschaftlicher Verleger, Traditionalist und Modernist, Anwalt für eine kooperative Wissensgesellschaft. Er hat den Verlag in diesen vier Jahren stärker geprägt als es in den Dekaden davor der Fall gewesen ist. Sein Wille zur Erneuerung war stark genug, um alte Zöpfe abzuschneiden, neue Zugänge zum Wissen zu schaffen und die Rationalisierungsreserven auszuschöpfen. Hier kamen ihm seine langjährigen Erfahrungen in der Führung und Gestaltung von Verlagen zugute, die nicht nur durch die deutschen Verhältnisse sondern durch die internationale Sicht geprägt waren. Aber als Meister in Fragen von Kostensenkung, Rabatt- und Preiserhöhungsstrategien, Organisationsoptimierung zeigte sich nur eine professionelle Eigenschaft. Mindestens so wichtig war sein hoher Grad an informiert Sein, sein persönlicher Zugang zu den Entscheidern in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft und seine zutiefst verwurzelte Auffassung von einer geistigen Gemeinschaft, die sich über und durch das Buch bildet. Das machte seine Glaubwürdigkeit in besonderem Maß aus.

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Klaus G. Saur hat diese Eigenschaften nicht wie einen Wertekanon vor sich hergetragen. Dafür ist er viel zu sehr Pragmatiker, Genussmensch und Menschenfreund. Er hat ihn nach außen auf angenehmste Weise gelebt und vermittelt. Das Verlagshaus in der Genthiner Straße wurde in den zurückliegenden vier Jahren so etwas wie ein „Berliner Salon“ in der Tradition des 19. Jahrhunderts. Kluge Köpfe, unbequeme Frager, engagierte Diskutanten trafen sich in wechselnder Zusammensetzung um den runden Tisch im dunkel getäfelten Raum bei wunderbar arrangierter Gastlichkeit in wechselnder Zusammensetzung. Das waren nicht nur Verbindungen für den Tag. Es waren häufig Anfänge für bleibende Verbindungen. Man hatte sich etwas zu sagen. Daraus entstanden aber auch handfeste Beziehungen für den Verlag: neue Wissenschaftsautoren wurden gewonnen, Bereitschaft neue Projekte zu fördern und finanziell zu unterstützen wurden geweckt, Kenntnis neuer Entwicklungen und neuer Chancen wurden gewonnen. Gerade weil diese Treffen nicht Ziel orientiert waren sondern ihren Charme aus der „geplanten“ Zufälligkeit der jeweiligen Runden entfalteten, konnten sie eben auch ungemein kreativ sein. Auch wenn das Ergebnis nur eine persönliche Sympathie ohne geschäftlichen Hintergrund war, entsprach das der Erwartung. So hat Berlin einen neuen Fokus einer geistigen Gemeinschaft mit großem Gewinn zu verbuchen. Alles was Klaus G. Saur ist, hat mit Büchern zu tun – auch wenn es dafür inzwischen die verschiedensten Erscheinungsformen gibt –, alles was er will, hat mit Büchern zu tun, alle Menschen, die er kennt, haben mit Büchern zu tun. Neben dem spielerischen Einsatz und der aufmerksamen Gastfreundschaft ist Klaus G. Saur natürlich auch der beinharte und geschickte Verhandler. Ohne diese Fähigkeit könnte er nicht der erfolgreiche Verleger sein. So hat er durch strategisch kluge Zukäufe, stringente Spezialisierung und innovative Entwicklungen den Verlag Walter de Gruyter zum größten geisteswissenschaftlichen Verlag auf dem Kontinent gemacht. Das ist in einer Zeit der Stagnation und der sinkenden Verkaufszahlen eine beeindruckende Entwicklung gewesen. Hier steht Klaus G. Saur in der guten Tradition eines Verlages, der nächstes Jahr sein 260jähriges Bestehen feiern wird. Es ist auch sein Verdienst, dass de Gruyter es in einer so guten Verfassung feiern kann. Die Verlagsgeschichte belegt mit vielen Beispielen die wichtige Funktion des Verlages für das moderne Wissenschaftsbild, wobei damit auch der Aufstieg Berlins als hochrangiger Kultur- und Wissenschaftsstandort verbunden war. Diese Position Berlins ist nicht wieder erreicht worden,

Der große Wissenschaftsverleger

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obwohl mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und den drei Universitäten, der Akademie, dem Wissenschaftskolleg und anderen Einrichtungen ein beeindruckendes Potential vorhanden ist, das verlegerisch hoch interessant ist und von Klaus G. Saur auch teilweise schon aktiviert wurde. Hier lohnt es sich, weiter zu investieren. Manchmal fühlt man sich bei den Aktivitäten von Klaus G. Saur an eine Verlegerpersönlichkeit wie Georg Andreas Reimer erinnert, einer der Gründerväter, der aus dem 1749 gegründeten Schulbuchverlag ab 1800 in atemberaubenden Tempo das führende deutsche Verlagshaus machte. Es war zweifellos der Verlag der deutschen Romantik, obwohl mengenmäßig die Belletristik am Gesamtprogramm nur einen geringen Anteil hatte, dagegen die wissenschaftlichen Disziplinen der Zeit breit vertreten waren. Reimer war risikobereit und innovativ. Mit sicherem Gespür für Qualität nahm er die kommenden Autoren frühzeitig unter Vertrag. Natürlich steht er mir deshalb auch nahe, weil er durch die ausgezeichnete Berliner Museumstradition in Forschung und Ausstellungsbetrieb viele Autoren gewinnen konnte, die den Ruhm besonders der archäologischen Forschung weltweit vermehrten. Der zweite große Verlagsstrang war Göschen, angesiedelt zwischen Weimarer Klassik und anspruchsvollem Sachbuch. Schiller und Goethe prägten den Klassikerverlag, aber auch zunehmend wissenschaftliche Literatur erweiterte das Programm. Der Veit-Verlag operierte als Fachverlag bevorzugt auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und der Medizin. Der vierte Verleger im Bunde, Guttentag, richtete den Verlag stärker auf juristische Literatur aus. Schließlich ist noch Trübner zu nennen, der stärker die Literaturwissenschaften betreute. De Gruyter formte aus dieser Vielfalt von Verlagen und Programmen einen universalen Wissenschaftsverlag, der eine bedeutende internationale Größe darstellt. Er hat ein ungewöhnlich breites Programm. Charakteristisch ist ein hoher Anteil von Longsellern, an wirklichen Jahrhundertwerken. So hat z. B. das klinische Wörterbuch „Der Psychrembel“ schon mehr als 250 Auflagen erlebt. Aber an dieser Publikation zeigt sich auch, wie konsequent der Verlag de Gruyter die Programmstruktur in die neue digitale Welt überführt. Mit Klaus G. Saur wurde die gesamte Information auch digital angeboten, was im Hinblick auf die komplizierte Lizenzvergabe bei Konsortien – gerade bei Werken wie dem Psychrembel – äußerst hohes Verhandlungsgeschick erforderte. Aber es gelang. Derzeit wird ein weiteres Standardwerk herausgebracht: das legendäre Literaturlexikon

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von Killy. Die letzte Ausgabe liegt zwanzig Jahre zurück. Die umfassende Überarbeitung wird insgesamt 13 Bände umfassen, drei sind bereits erschienen. 2012 wird der letzte Band erscheinen. Auch hier gibt es eine große Innovation. Zeitgleich mit der gedruckten Ausgabe erscheint das Killy-Literaturlexikon als E-Book, ohne Zweifel eine neue Weichenstellung. Klaus G. Saur hat aufgrund seiner fundierten Einschätzung der Informations- und Wissensentwicklung erkannt, dass es nicht erstrebenswert ist, die Buchkultur über Bord zu werfen, um sich allein der technischen Entwicklung in die Arme zu werfen. Man muss die spezifischen Stärken des Buches pflegen und die spezifischen Möglichkeiten der digitalen Publikationen nutzen. Er hat einmal gesagt:“ Die Aufgabe eines Verlegers ist nicht, mit Papier zu handeln, sondern seine Aufgabe ist es, geistige Werte zu entdecken, zu vermitteln und in optimaler Form zu verbreiten.“ Letztlich ist die Leserentscheidung maßgebend. Sie soll bestimmen, was an Technik zur Anwendung kommt. Während die Wurzeln des gedruckten Buches tief in die Vergangenheit reichen, sind dem Verlag digitale Flügel gewachsen. Beide Eigenschaften sind notwendig, um in einer Zeit der Gleichzeitigkeit, der Flüchtigkeit und der ständigen Beschleunigung Fixpunkte zu haben und Bewegung zu erkennen. Entscheidend wird es sein, ob es gelingt, die Vorzüge des digitalen Mediums mit den Standards zu verbinden, durch die uns die bisherigen materiellen Speicher am kulturellen Gedächtnis haben teilhaben lassen. Mit der Dauerhaftigkeit, der Öffentlichkeit und der Auswahl unter dem Vielen tun sie sich schwer. Der Philosoph Henri Bergson hat einmal angemerkt, dass man Zeit nur dann empfindet, wenn sie vor dem Hintergrund dessen vergeht, was bestehen bleibt. Der Verlag sichert mit all seiner in die Zukunft gewandten Entwicklung auch einen solchen Hintergrund. Der ist auch für unsere moderne Wissenschaft unverzichtbar. Es sind nicht nur die Informationen über neue Fakten, die den Wissensstand ausmachen, sondern auch – und vielleicht so gar noch häufiger – neue Sichten auf schon bekannte Fakten. Der Verlag Walter de Gruyter bietet mit seinem Programm nicht nur interdisziplinäre Querverbindungen der Fächer sondern auch eine große zeitliche Kontinuität. Das fördert neue Sichten. Hier liegt auch eine große Verantwortung der Verlage, eine gemeinsame Verbindlichkeit zu schaffen und damit Identität und kulturelle Gemeinsamkeit zu prägen. Auch hierzu ein prägnantes Zitat von Klaus G. Saur:“ Verlage sind immer noch die, die für die Geschichte des

Der große Wissenschaftsverleger

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Wissens, für Kontinuität und Ernsthaftigkeit der Vermittlung stehen. Sie haben die Expertise auszuwählen, das Relevante zu erkennen, und sie sind Garanten für Qualität.“ Klaus G. Saur hat sein verlegerisches Engagement nie als technokratisches Engagement verstanden. Für ihn war es immer verbunden mit persönlicher Leidenschaft, mit Respekt vor der Bedeutung des Autors und vor dem Schutz des geistigen Eigentums, mit der Berücksichtigung der Lesererwartung und mit der ganzen Aufmerksamkeit gegenüber denjenigen, die das Buch vermitteln, Buchhändler und Bibliothekare. Er schätzt den Umgang mit Menschen, er ist in den Beziehungen offen, beständig und verlässlich. Wenn es ein Geheimnis für seinen Erfolg gibt, dann liegt es in seiner Fähigkeit, Menschen zusammen zu bringen, Wertschätzung für die professionelle Leistung zu zeigen, Freundschaften zu pflegen und neugierig und aufgeschlossen zu bleiben. Klaus-Dieter Lehmann

Klaus G. Saurs ansteckende Leidenschaft für die Verlagsgeschichte Am Morgen des 21. Dezember 2001 klingte bei uns im Verlag kurz nach 8.00 Uhr das Telefon. In Berlin vernahm ich am anderen Ende einen aufgeregten Klaus G. Saur aus München. Er stand auf dem Flughafen und war in seiner dynamischen Aktivität gerade herb gebremst worden. Über Nacht hatte es enorm geschneit und der Winter wollte auch an diesem Tag noch einmal zeigen, dass mit ihm durchaus zu rechnen sei. Alle Inlandflüge waren gestrichen worden. „Lieber Herr Links, Sie müssen mir helfen! Um 10.00 Uhr habe ich bei den Bibliothekswissenschaftlern der Humboldt-Universität eine Vorlesung zu halten. Sie wissen doch, ich bin da Honorarprofessor. Das ist für Sie ja quasi um die Ecken. Seien Sie doch bitte so gut und gehen Sie dort vorbei und halten Sie meine Vorlesung, ich komme hier einfach nicht weg.“ Ich wehrte vorsichtig ab: „Wie denken Sie sich das? Mein Tag ist voller Termine und zu welchem Thema – um alles in der Welt – soll da gesprochen werden?“ „Ach, das ist doch völlig egal. Erzählen Sie etwas aus Ihrer Verlagsgeschichte oder den Veränderungen in Ostdeutschland seit der Wende oder sprechen Sie einfach über die aktuellen Probleme in unserer Branche. Die Studenten sind dankbar für alles Praxisbezogene, nur langweilig darf es nicht sein.“ Konnte ich einen ehrwürdigen, im Schnee gestrandeten Professor, dazu eine hochgeschätzten Kollegen, in einer solchen Notsituation im Stich lassen? Ich sagte zu, griff mir unsere im Jahr zuvor erschienene Ausgabe zu „10 Jahre Ch. Links Verlag“ und machte mich wenig später auf den Weg zur U-Bahn, die in Berlin völlig störungsfrei fuhr. Pünktlich stand ich in der „Klaus G. Saur Bibliothek“ des Instituts für Bibliotheks- und Informationswissenschaft vor einer Gruppe von etwa 25 Studenten, die sich etwas über das veränderte Aussehen des Referenten wunderten, aber zu meiner freudigen Überraschung auch dem Ersatzmann zuhörten und gar nicht wieder aufhörten, Fragen zu stellen. Der Umbruch der ostdeutschen Verlagsszene, das Verschwinden vieler altehrwürdiger Editionshäuser und das Entstehen unabhängiger Neu-

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Christoph Links

gründungen sowie die Veränderungen in der Buchhandels- und Bibliothekslandschaft waren für viele Beteiligte offenbar neu. Ich kehrte mittags an meinen Arbeitsplatz mit dem Gefühl zurück, vor Weihnachten noch eine gute Tat vollbracht zu haben. Das sollte sich als ein Vorgang mit Folgen erweisen. Im Jahr darauf klingelte bereits Mitte Dezember das Telefon: „Lieber Herr Links, Sie haben das doch letztes Jahr so wunderbar gemacht, wie mir berichtet wurde, da muss ich doch eigentlich so kurz vor Weihnachten nicht extra nach Berlin geflogen kommen. Machen Sie mir und den Studenten bitte die Freude und sprechen Sie wieder zu irgendwelchen jüngeren Entwicklungen in unserer Zunft. Sie sind da in der konkreten Themenwahl völlig frei, und wo das Ganze stattfindet, wissen Sie inzwischen ja auch.“ Ich konnte mir ein kopfschüttelndes Schmunzeln nicht verkneifen, sagte aber zu. Die Neugier der Studenten hatte sich mir eingeprägt. Über die Jahre ist daraus nun eine Tradition geworden. Selbst als Klaus G. Saur wieder in Berlin beruflich fest verankert war, trat ich am letzten Vorlesungstag im Dezember in der Dorotheenstraße an, bald mit zwei schweren Taschen beladen. Wer bis kurz vor Weihnachten aushält, soll auch ein kleines Geschenk mit auf die Heimreise bekommen – und an Büchern mangelt es einem Verleger ja meist nicht. In der Zwischenzeit hatte ich auch Gelegenheit, Klaus G. Saur bei seinen vielen Vorträgen zur Verlagsgeschichte zu erleben, sei es in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels oder einfach als Homme de lettres und Gastreferent in den großen Berliner Bibliotheken. Dabei blieb mir nichts anders übrig, als ihn das ein oder andere Mal ob seines enormen und zumeist frei vorgetragenen Wissens aus ehrlichem Herzen zu loben. Abermals sollte dies Folgen haben. Behutsam aber sehr bestimmt förderte er nun mein Interesse an der Verlagsgeschichte und versuchte es sogleich in praktische Formen zu kanalisieren, denn seine Historische Kommission litt – wie zu erfahren war – unter akuten Nachwuchsmangel. Doch dem Ansinnen neuer Gremienarbeit vermochte ich zu widerstehen – und dafür gab es gute Gründe. Prof. Robert Funk von den Berliner Bibliothekswissenschaftlern hatte mich nämlich im Anschluss an eine „Weihnachtsvorlesung“ und im Schulterschluss mit dem Leipziger Buchwissenschaftler Prof. Siegfried Lokatis dazu überredet, neben meinem täglichen Verlegergeschäft noch eine größere wissenschaftliche Arbeit anzugehen, um herauszufinden, was aus den ehemaligen 78 Verlagen der DDR

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geworden ist, wo ihre Rechte und Archive abgeblieben sind. Es begann eine spannende, langwierige Suche und zum Abschluss der Arbeit platzte dann noch die Insolvenz des Aufbau-Verlages herein, so dass die Verteidigung zu einer öffentlichen Großveranstaltung wurde, bei der Prof. Saur abermals durch sachkundige Einwürfe hervortrat. Um vor Drucklegung mögliche Detailfehler auszuschließen – Saurs Rezensionen von verlagsgeschichtlicher Fachliteratur sind bekanntlich gefürchtet –, lag mir daran, dass er die Arbeit noch einmal in Ruhe durchsieht, schließlich war er ja am eigentlichen Verfahren nicht beteiligt. Tatsächlich bot er sich auch an, das Werk in seinem verdienten Sommerurlaub 2008 in Portugal zu lesen – was gibt es schließlich schöneres am Strand als eine dicke Promotionsschrift. Doch welcher Schock! Kaum war die Hälfte des Werkes mit wegweisenden Anmerkungen versehen, brachen Diebe das Auto auf und entwendeten genau jene Aktentasche, in der das Opus magnum lag. Alles umsonst? Keineswegs. Saur orderte ein Zweitexemplar und begann von vorn. Was einmal zugesagt ist, wird auch gehalten. Für diese Tätigkeit gäbe es auch weltweit keinen Ersatzmann. Niemand verfügt momentan über ein vergleichbares enzyklopädisches Wissen zur deutschen Verlagsgeschichte wie Klaus G. Saur. Dieser Mann ist eine Ausnahmeerscheinung, mit der man – durch welche Schicksalsschläge auch immer – gern verbunden sein mag. Christoph Links

Klaus G. Saur kauft K. G. Saur Nicht immer ist der gerade Weg der beste. Sprichwçrtlich

Unter den vielen erfolgreichen Aktivitäten von Klaus G. Saur in diesen Berliner Jahren ist m. E. die beeindruckendste der Erwerb seines alten Verlags für den Verlag Walter de Gruyter. Dieser Zuerwerb passt bestens in das Konzept des Gründers, denn Walter de Gruyter baute ja im ersten Viertel des 20.Jahrhunderts seinen Verlag durch den Erwerb einer Vielzahl traditions- und substanzreicher Verlage (wie etwa Reimer, Göschen, Trübner u. a.). Klaus G. Saur handelte also ganz im Sinne dieser Gründeridee und ebenso unter den aktuellen Notwendigkeiten der wissenschaftlichen Verlage generell, die Wachstum praktisch nur noch durch Zuerwerbe erreichen. Saur gelang es – nicht allein, aber doch wesentlich hierdurch bewirkt –, den Umsatz des Walter de Gruyter Verlags in den vier Jahren seiner Berliner Tätigkeit (was für eine kurze Zeitspanne für so viel Bewegung und Effekte!) um 66 % zu steigern – wirklich ein Kunststück. Betrachten wir die Sache nun ein wenig spielerisch, was gut zu Klaus G. Saur passt. Schwierige Sprünge im Eiskunstlauf heißen z. B. Doppel-Axel, Doppel-Salchow u. ä. Eine besonders schwierige Übung im Verlagsbereich ist der von Klaus G. Saur erfundene Doppel-Klaus: K. G. Saur als Person, gehüllt in den kleidsamen Mantel des geschäftsführenden Gesellschafters des de Gruyter Verlags, kauft K. G. Saur, den Verlag, den er in gut einem Vierteljahrhundert groß gemacht und zu internationaler Bedeutung geführt und im Jahr 1987 an Butterworths verkauft hatte, um ihn danach weitere 17 Jahre unter wechselnden Konzernverhältnissen der neuen Eigentümer (bis hin zum Thomson Konzern ab 2000) mit dem Stil und nach außen hin auch unveränderten Kompetenzen eines Eigentümers als Verleger weiterzuführen: Allein das ist eine ganz singuläre Leistung. Der schließliche Abschied 2003 war keineswegs gewollt oder erwünscht; der Triumph des schließlichen Rückerwerbs seines Verlages – der wirklich in allem sein Werk geblieben war – umso befriedigender. Solche deals zu entwerfen, anzuspinnen, geduldig zu einem vorteilhaften Ende durchzuverhandeln, verlangt viel Phantasie, Gestal-

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tungswillen und Durchhaltekraft – Eigenschaften, über die K. G. Saur überreichlich verfügt. Wenn man ganz genau hinschaut, handelt es sich sogar eher um einen dreifachen Klaus, denn was er 2006 günstig wiedererwarb, war um einige gehaltvolle Rechte gewichtiger, als was er zu einem höheren Preis einstens verkauft hatte. Als ähnlich genialer Jongleur fällt mir eigentlich sonst nur noch Paul Hamlyn und die Octopous Gruppe ein. Allerdings: Springprozessionen komplizierter Natur und Firmenwechsel vielfältigster Art gab es schon in der „guten alten Zeit“ in Leipzig. Das ist ein interessanter Aspekt der Buchhandelsgeschichte, dessen systematische wissenschaftliche Aufarbeitung noch ansteht. Das Ergebnis würde den umfassenden Kenner der Buchhandelsgeschichte und langjährigen Vorsitzenden der Historischen Kommission, Klaus G. Saur, sicher sehr interessieren und wäre vielleicht ein Thema für die nächste ihm gewidmete Festschrift. Der eingangs eher locker skizzierte Ablauf ließe sich natürlich auch schön sperrig in einem unübersichtlichen Diagramm darstellen, wie es Wirtschaftswissenschaftler lieben – sicher gäbe es noch einige hübsche Komplikationen, die aber nur der Empfänger dieser Festschrift hinzugeben könnte. Lassen wir es beim Spielerischen – das komplexe Diagramm als Würfelspiel. Dieses versteht sich als äußerstes Komprimat eines bewundernswerten Lebenslaufes als Verleger in wechselnden Konstellationen mit dem lieto fine, das zu jeder barocken Oper gehört „wieder vereint!“. Wie langweilig ist demgegenüber das Leben eines Unternehmers, der immer am gleichen Ort in der gleichen Firma das Gleiche tat. Der kurvenreiche Weg ist zu Ende geschritten, die emotionalen Auf- und Abschwünge, die damit verbunden waren, nur zu ahnen. Unser lieto fine vereint nicht die Liebenden, sondern einen Liebenden mit seinem eigenen Geschöpf, das nun Bestandteil des größten geisteswissenschaftlichen Verlages in Kontinentaleuropa ist, der zudem über einige recht hübsche cash cows in den Bereichen Jura, Medizin und Mathematik verfügt. Klaus G. Saur tritt am Ende der Berliner Jahre im Vollgefühl des Erreichten zurück. Einen solchen Lebensweg, solche Entwicklungen, Veräußerungen, Rückerwerbe etc. von langer Hand zu planen, wäre ganz unmöglich. Es bedarf intuitiver Sicherheit, im richtigen Moment zuzupacken, Geduld zu haben und stets eingebunden zu sein in vielfältige Netzwerke. Das ist im Fall Klaus G. Saur in besonderem Maße der Fall, er weiß sie zu etablieren, mit Nahrung (= Information) zu füttern und mit seinem

Klaus G. Saur kauft K. G. Saur

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Enthusiasmus zu beleben. Anders hätte das bewundernswerte Werk nie entstehen können. Der große Ertrag der kurzen Berliner Jahre ist also nicht allein diesen zuzurechnen, sondern die summa und zugleich das opus summum eines Verlegers, der sich während seiner gesamten Laufbahn niemals irgendwo oder auf irgend etwas ausruhte, sondern unermüdlich, ja rastlos nach neuen Ufern Ausschau hielt. Wulf D. von Lucius

Die Jacobs Universität Bremen – und ihre Mäzene Seit mehr als dreißig Jahren wird über die Universitäten und über die für sie notwendigen Reformen in Deutschland diskutiert. Aber erst zu Beginn des neuen Jahrhunderts sind durch den Beginn des BolognaProzesses der EU und der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern wirklich Bewegungen in die deutsche Hochschullandschaft gekommen. Aber schon ohne diese Anstöße plante man ausgerechnet in Bremen ein waghalsiges Experiment zur Gründung einer privaten Universität. Mitte 1968 wurde ich von dem damaligen Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen gebeten, bei der Planung einer privaten Universität in Bremen, die auf einem ehemaligen Kasernengelände in BremenNord entstehen sollte, zu helfen. Für diese Universität sollten die amerikanischen Universitäten das Vorbild sein, mit einem Präsidenten an der Spitze, der von einem Board ernannt wurde. Studiengebühren sollten erhoben werden und die Studenten eine Aufnahmeprüfung ablegen. Schon im Februar 1999 konnte die Universität offiziell gegründet werden, nachdem Fritz Schaumann, ehemals Staatssekretär im Bundesministerium für Forschung und Bildung, als Präsident gewonnen werden konnte. 2001 wurde sie feierlich mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt als Festredner eröffnet. Er hatte Ende der dreißiger Jahre in dieser Kaserne gedient, in der die Studenten jetzt nicht nur studieren sondern sie wohnen auch in Colleges, die aus den Gebäuden der Kaserne entstanden waren. Die Universität gliedert sich in die School of Engineering and Science und die School of Humanities and Social Sciences und in das Jacobs Center of Lifelong Learning and Institutional Development. Die Medizin- und die Rechtswissenschaften wurden ausgespart. Die erste aus finanziellen Gründen und die zweite, weil in Hamburg die Bucerius Law-School der ZEIT-Stiftung gerade entstanden war. Zurzeit studieren an der Jacobs University Bremen 1200 Studenten aus 93 Ländern. Fünf Studentenjahrgänge haben ihr Studium schon erfolgreich abgeschlossen, davon 825 mit dem Bachelor-Examen, 237 mit dem Master-Examen und 145 mit dem PhD. Die Erfolgsquote liegt bei über 90 %. Betreut werden die Studenten von 113 Professoren und insgesamt von 164 wissenschaftlichen Mitarbeitern.

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Ohne Mäzene wäre eine private Universität nicht lebensfähig. Die von den Studenten zu zahlenden Studiengebühren reichen nicht für die laufenden Kosten. Denn nur etwa 50 % der Studenten zahlen die vollen Gebühren. Die Aufnahmeprüfung erfolgt blind, d. h. ohne Kenntnis, ob der Student die Gebühren aufbringen kann. Erst nach bestandener Prüfung wird offen gelegt und entschieden, was der Student zahlen kann, ob ihm ein Kredit vermittelt wird, oder ob er sogar ein Stipendium bekommt. Der erste Mäzen war in gewisser Weise die Stadt Bremen, die ein Startkapital von EUR 110 Millionen zur Verfügung stellte. Dadurch konnte als erstes das Kasernengelände für die Privatuniversität erworben werden. Der Bremer Unternehmer Conrad Naber stellte vorab die notwendigen Räume zur Unterbringung der Planungsgruppe zu Verfügung und später engagierte er sich noch viel mehr. Die Krupp-Stiftung und die Mercator-Stiftung haben die ersten beiden Colleges finanziert. Ein viertes College wird zurzeit mit Hilfe des Arbeitgeberverbandes Metall-Nord gebaut. An der Spitze der Mäzene der neu gegründeten Universität steht jedoch Klaus Jacobs. Mit der durch ihn ins Leben gerufenen Jacobs Foundation fördert er die Universität so entscheidend, dass sie jetzt den Namen Jacobs University Bremen trägt. Ein Kreis von freigiebigen Gönnern stehen der JUB seit Anfang an bei. Sie spenden Stipendien für die Studenten oder helfen wo Not am Mann ist. Dazu gehört auch Klaus. G. Saur. Im zentralen Gebäude der ehemaligen Kaserne hat die Universitätsbibliothek ihren Platz gefunden. Hier halfen der Rat und die Hilfe des Mäzen Klaus G. Saur. Schon bevor die ersten Studenten kamen, im Jahre 2000, sagte er der International University Bremen eine großzügige Spende zu, um die Bibliothek mit den notwendigen Büchern auszustatten. Ihn zeichnet aus, dass er sich für Menschen interessiert und dass er die Gabe hat, auf sie zuzugehen. Er sucht das Gespräch und kann eine Sache auf den Punkt bringen. Ihm fällt das ganze Alphabet ein, um einen Menschen in verschiedene Facetten zu charakterisieren. Das habe ich persönlich erfahren können. So danke ich ihm, dem Mäzen, für seine Verbundenheit. Reimar Lst

Hase & Igel Am 23. März 2004 fühlte ich mich wie der Hase aus Grimms Märchen. Mein „Igel“ hieß Klaus Gerhard Saur. Für mich war es der erste Tag als Geschäftsführer der Leipziger Messe. Auftakttermin: Die Leipziger Buchmesse. Doch Klaus Gerhard Saur war schon lange vor mir da gewesen – eigentlich seit 1958 und allgegenwärtig. Auf dieser Buchmesse, für mich Neuland, kannte er jeden. Denn seit Jahrzehnten ist Klaus Gerhard Saur der „Igel“ der Buchbranche. Er war immer schon da, wenn manch anderer erst noch die Startblöcke heranschleppte. Doch einen „Doppeligel“, der das Rennen nur vortäuscht, hat Saur nicht nötig: Er allein denkt, handelt und bewegt sich schnell genug, um zögerliche Hasen hinter sich zu lassen. Ich hatte und habe das große Glück, ihn in voller Aktion zu erleben und konnte mir den einen oder anderen Kniff abschauen. Kaum ist er da, ist Klaus Gerhard Saur auch schon wieder zu neuen Zielen unterwegs. Sein Standardspruch am Telefon: „Ich muss gleich weg.“ Trotzdem nimmt er sich Zeit zuzuhören. Denn zu ihm kommen die Leute mit ihren großen, manchmal wahnwitzigen Ideen – wie zu einem Buddha des Verlagswesens, denn er versteht sein Geschäft wie kaum ein Zweiter. Wer ihn überzeugt, dem öffnet er in der weltweiten Branche der Bücher und des Wissens jede Tür. Und auch er selbst ist getrieben von Visionen, immer auf der Durchreise zum nächsten Projekt, zur nächsten Preisverleihung, zum nächsten Ehrendoktorhut. Die Zeit dazwischen füllt er mit Literatur. Er ist ein Sammler der Geschichte und scheint eine Datenbank mit Zahlen und Fakten aus Jahrhunderten im Kopf zu tragen. Sein Wissen, seine Überzeugungskraft, seine Ausstrahlung hatten mich schon bei unserer allerersten Begegnung beeindruckt. Das war noch lange vor meiner Leipziger Zeit, im Haus meiner Eltern in München. Da stand ein Mann, dessen Eloquenz den Raum einnahm, der, wenn er das Wort ergriff, auf allen Sachgebieten beschlagen war. Seine Konversation ist nie langweilig, ist trocken und dennoch pointiert. Ein paar Jahre später war Klaus Gerhard Saur mein Pate. Er führte mich in den Rotary Club in München ein. Charmant, aber nicht ohne Ironie, stellte er mich als den „hervorragendsten Messechef der Welt“

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vor. Damals leitete ich die Tochtergesellschaft der Messe Düsseldorf in Chicago. Was Saur und auch ich zu dieser Zeit noch nicht wissen konnten: Unsere häufigen Gespräche über das Messegeschäft im Buchwesen, die Bedeutung der Buch-Messestädte und ihre Ausrichtung waren ideale Vorbereitung für meinen heutigen Job. Jede Stunde mit Saur war und ist Quality Time. Er ist nicht der Mann für Sonntagsreden und Ehrenbuffets. Er lebt die alte Weisheit: „Willst Du gelten, mach Dich selten.“ Nie bleibt er lange – gerade angekommen, ist er schon wieder weg. Ausnahme: Die Leipziger Buchmesse und vor allem der Eröffnungsabend. Ich weiß, darauf will er nicht verzichten. Jedes Jahr freut er sich auf „dieses grandiose Ereignis“ – wie er die Feier im Leipziger Gewandhaus selbst einmal nannte – mit „herrlicher Musik“ und „besten Reden von großen Autoren“. Wenn ihn Kunst und Kultur ergreifen, inhaliert er förmlich jedes Wort, saugt jeden Ton auf. Für unsere Leipziger Lesemesse mit ihrem intellektuellen, künstlerischen und kreativen Literaturmarathon kann es keinen besseren Lobbyisten geben. Er findet Worte, die treffend sind und mich stolz machen: „eine Bücherschau, eine Veranstaltung, die dem literarischen Leben im großen Maße dient“, sieht er in Leipzig. Und dazu hat er selbst wesentlich beigetragen. Bereits zu Beginn der 1990er-Jahre begleitete er die konzeptionelle Neuentwicklung der Leipziger Buchmesse und half, sie zu etablieren – als Aussteller und Beiratsmitglied. Durch seine Hilfe kann sich das Leipziger Lesefest mit dem Deutschen Bibliothekskongress schmücken. Ohne ihn und seine hervorragenden Kontakte zum deutschen und internationalen Bibliothekswesen wäre der Kongress nicht 1993 zum ersten Mal nach Leipzig gezogen. Er hat uns ein Netz ausgelegt, an dem wir weiterknüpfen konnten. Seit 2000 ist der Kongress regelmäßiger Gast in Leipzig. Und weil Klaus Gerhard Saur historische Druckwerke liebt und sammelt, liegt nichts näher, als dass er auch bei unserer Antiquariatsmesse Finger und Ideen im Spiel hatte. Als ich am 23. März 2004 gemeinsam mit Klaus Gerhard Saur die Eröffnung der Buchmesse im Gewandhaus genoss, war mir klar: Mit solchen Fürsprechern kann der Leipziger Buchmesse nichts Böses passieren. Und es war auch der Abend, an dem mir Klaus Gerhard Saur – mehr als 10 Jahre nach unserer ersten Begegnung – das „Du“ anbot. Ich weiß heute noch genau, an welcher Säule im Foyer wir standen. Was mich damals wie heute beeindruckt, Klaus Gerhard Saur ist ein Mensch, der keine Barrieren zwischen den Generationen kennt. Nicht das Alter

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zählt, sondern Interesse, Ideen und Hingabe für die Sache. Er scheut sich nicht, die Leistung der Jüngeren anzuerkennen. In seiner eigenen Jugend liegt sicherlich der Grund, warum er sich so für Buchmessen – die „Familientreffen“ der Branche – begeistert. Für seine erste Leipziger Buchmesse 1958 fehlte er „mit fadenscheinigem Grund“ gar in der Schule – denn hier, so wusste er, würde er mehr lernen als in einer Woche Klassenraum. Er erlebte, was bereits Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1800 an Friedrich Schiller schrieb: „So eine Messe ist wirklich die Welt in einer Nuß…“. Bereits ein Jahr, bevor Klaus Gerhard Saur das erste Mal die Frankfurter Buchmesse besuchte, tauchte er in Leipzig in die faszinierende Welt der Verleger, Bibliothekare und Autoren ein. Auch die Diktatur des Arbeiter- und Bauernstaats sowie der Kalte Krieg konnten seine Ambitionen für die Leipziger Buchmesse nicht aufhalten. Allein bis 1989 nahm er etwa 42 Mal daran teil. Die speziellen Befindlichkeiten im deutsch-deutschen Buch- und Verlagsgeschäft waren ihm deshalb sehr vertraut. In Vorstandsfunktionen im Börsenverein (West) führte er etliche Verhandlungen mit dem Börsenverein (Ost) – und es ist immer ein Genuss, seinen Anekdoten aus diesen Zeiten des Eisernen Vorhangs zu lauschen. Klaus Gerhard Saurs Herz schlug jedoch nicht für die Leipziger Buchmesse allein, sondern für ganz Leipzig als traditionelle Bücherstadt, für die Deutsche Bücherei und die ehrwürdige Alma mater Lipsiensis. Inzwischen ist er Ehrensenator der Universität Leipzig und hat ihr unter anderem die kunstgeschichtliche Thieme-Becker-Bibliothek mit 60.000 Bänden geschenkt. Und auch in seiner Profession als Verleger hat er sich in Leipzig engagiert. Das „Bin schon da“ aus der Hase-und-Igel-Geschichte hat für mich nunmehr einen ganz anderen Klang: Einen positiven, visionären. Denn wo Klaus Gerhard Saur ist, werden Weichen für die Buchbranche gestellt. Da beginnt die Zukunft. Digitalisierung, Internet, neue Märkte und Ideen. Ich persönlich hoffe, dass Klaus Gerhard Saur noch viele Jahre ein treuer und inspirierender Partner der Leipziger Buchmesse sein wird. Wolfgang Marzin

Klaus G. Saur und die Altertumswissenschaften: Etappen einer Annäherung Es ist gewiss nichts Neues, wenn ich mit der Feststellung beginne, dass Klaus G. Saur zu den bedeutendsten deutschen Verlegern der Nachkriegszeit gehört. Als ihm 1998 der Helmut-Sontag-Preis verliehen wurde, hieß es in der Begründung unter anderem: „Die Verdienste des Preistrgers um das deutsche und internationale Bibliothekswesen sind einzigartig. Auf die in seinem Verlag erschienenen Informationsmittel kann keine grçßere Bibliothek auf der Welt verzichten“. Insbesondere die Geisteswissenschaften verdanken Klaus G. Saur unendlich viel. Dies schließt die Altertumswissenschaften durchaus mit ein, auch wenn sie zu Beginn von Saurs beruflichem Weg zunächst noch nicht in seinem Fokus standen, soweit es jedenfalls die Faktenlage für den Verfasser dieser bescheidenen Zeilen nachvollziehbar macht. In Saurs verlegerischer Tätigkeit nahm die Bedeutung der Altertumswissenschaften erst im Laufe der Jahre zu und gewann dabei beträchtlich an Gewicht, weshalb es lohnend erscheinen mag, diese Etappen einer Annäherung einmal etwas genauer zu betrachten. Der nach dem Jubilar benannte K. G. Saur Verlag geht auf eine Gründung durch den Vater in der unmittelbaren Nachkriegszeit zurück, und war von Anfang an eher technisch ausgerichtet, wie die ab 1954 geführte Bezeichnung „Dokumentation der Technik“ deutlich zum Ausdruck brachte. 1963 trat Klaus G. Saur in den Verlag ein und führte ihn nach dem Tode des Vaters zunächst gemeinsam mit dem Bruder weiter, ehe daraus 1978 schließlich der K. G. Saur Verlag wurde. 1987 verkaufte Saur den Verlag, blieb aber bis 2003 dessen Geschäftsführer. Sein vordringliches Ziel war es dabei stets, Produkte für den Bibliotheksmarkt und den akademischen Markt gleichermaßen zu entwickeln, die genau auf die Ansprüche der verschiedenen Zielgruppen vom Studierenden bis zum Wissenschaftler zugeschnitten waren; dies war seit jeher die Strategie Saurs und zweifellos auch das Geheimnis seines Erfolges. Nach der anfänglichen und auf den Vater zurückgehenden Ausrichtung auf den Technikbereich wandte sich der Verlag unter Klaus G. Saur immer stärker den Geisteswissenschaften zu, und wer heute auf den Gebieten Kunst, Musik, Literatur, Geschichte, Politik und Sozialwis-

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senschaften tätig ist, kommt nicht an den Produkten dieses Verlages vorbei. Zu den herausragenden Titeln gehört u. a. das World Biographical Information System, das Angaben zu über 5 Millionen Menschen vom 4. Jahrtausend v. Chr. bis heute liefert und damit bereits weit bis in das Altertum ausgreift. Dennoch lag das historische Schwergewicht des Verlages zunächst auf der Zeitgeschichte. Dies änderte sich erst zum 50jährigen Verlagsjubiläum 1999, als Klaus G. Saur mit einem Schlag zu einem der bedeutendsten altertumswissenschaftlichen Verleger aufstieg, indem er – in kluger Voraussicht – das altertumswissenschaftliche Programm von B. G. Teubner Leipzig erwarb. Benedictus Gotthelf Teubner hatte seinen Verlag bereits 1811 in Leipzig gegründet und das zunächst eher philologisch ausgerichtete Programm Mitte des 19. Jahrhunderts um technische und mathematisch-naturwissenschaftliche Publikationen erweitert. Auf den Gebieten der Mathematik sowie später auch der Altertumswissenschaften errang dieses Leipziger Verlagshaus jedoch schon bald Weltgeltung. Die Firma B. G. Teubner hatte in den 1950er Jahren ihren Sitz von Leipzig nach Stuttgart verlegt und dort höchst erfolgreich weitergearbeitet, wobei insbesondere der altertumswissenschaftliche Bereich weiter an Profil gewann. Zu den weltweit bedeutendsten Produkten zählten dabei die „Bibliotheca Teubneriana“, der seit 1849 wichtigsten Sammlung kritischer griechischer und lateinischer Textausgaben, und der „Thesaurus linguae Latinae“, das seit 1900 erscheinende größte lateinische Wörterbuch. Im 180. Jahr des Bestehens von B. G. Teubner, nach fast 40jähriger Trennung, wurden das Leipziger und das Stuttgarter Haus 1991 durch Kauf wieder unter einem Dach vereint, und zwar mit allen Verlegerrechten und der gesamten geistigen und wirtschaftlichen Substanz. B. G. Teubner blieb seinem Ruf als einer der führenden deutschsprachigen Wissenschaftsverlage treu und baute seine Hauptarbeitsgebiete Ingenieurwissenschaften, Mathematik, Informatik, Chemie und Physik erfolgreich aus. Gerade für die Altertumswissenschaften galt B. G. Teubner auch im Ausland, insbesondere in den USA, in Großbritannien und Italien, als einer der wichtigsten Verlage. Die renommierten und traditionsreichen Reihenwerke von B. G. Teubner entwickelten sich nach der Vereinigung in beeindruckender Weise weiter. Die „Bibliotheca Teubneriana“ umfasste 1999 mehr als 480 selbständige kritische Textausgaben griechischer und lateinischer Schriftsteller, die CD-ROM „Bibliotheca Teubneriana Latina“ bot über 500 lateinische Autoren und 1000 Werke aus acht Jahrhunderten. Zu den Standard-

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werken zählten ferner die 1892 gegründete „Byzantinische Zeitschrift“ und das seit 1901 erscheinende „Archiv fr Papyrusforschung“. Führende Gelehrte des In- und Auslandes, die als Autoren wie als Herausgeber gewonnen werden konnten, stärkten das Ansehen des Verlages. Doch diese Erfolgsgeschichte in den ersten Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung konnte nicht verhindern, dass die B. G. Teubner GmbH 1999 an die Bertelsmann AG verkauft wurde, die jedoch in erster Linie an den mathematisch-technisch-naturwissenschaftlichen Bereichen des Verlags interessiert war und sich von dem altertumswissenschaftlichen Programm trennen wollte. Dies war die Stunde von Klaus G. Saur, der als erfahrener Verleger die Bedeutung dieses Teubner-Zweiges erkannte und ihn als Geschäftsführer noch 1999 für den Verlag K. G. Saur erwarb, der dadurch gleichsam über Nacht zu einem gewichtigen Akteur auch auf dem internationalen altertumswissenschaftlichen Markt wurde, was er bis dahin nicht war. Auch wenn der altertumswissenschaftliche Zweig von B. G. Teubner, der im 19. Jahrhundert ganz wesentlich zum Weltruhm dieses Hauses beigetragen hatte, seinen traditionellen Namen nicht mehr weiterführen durfte, kam Klaus G. Saurs Eingreifen doch einer Rettung dieses wichtigen Teubner-Zweiges gleich. Als Saur im Jahre 2001 die Würde eines Ehrensenators der Universität Leipzig verliehen wurde, hob der Laudator in seiner Begründung nicht nur Saurs beispielloses Engagement bei der Förderung der Geisteswissenschaften an der Universität Leipzig durch großzügige Bücherspenden u. v. m. hervor, sondern er sprach auch von der Rettung des Zweiges Altertumswissenschaften des alten Leipziger Verlags B. G. Teubner. Für Leipzig war B. G. Teubner eben mehr als nur eine Firma. Doch schon wenige Jahre nach diesem Coup, im Jahre 2003, gab Saur die Geschäftsführung des K. G. Saur Verlages ab. Aber es dauerte keine zwei Jahre, bis Saur erneut deutsche Verlagsgeschichte schrieb, als er 2005 Geschäftsführender Gesellschafter und Vorsitzender der Geschäftsführung des Verlages Walter de Gruyter wurde. Die zahlreichen Aktivitäten des Verlages zur Erweiterung seiner Wachstumsperspektiven zielten dabei auf den beschleunigten Ausbau des internationalen Geschäfts, und hier schien Saur als der rechte Mann zur rechten Stunde. Doch damit nicht genug: Als de Gruyter-Verleger konnte er etwas mehr als zwei Jahre, nachdem man sich bei K. G. Saur von ihm getrennt hatte, diesen Verlag mit seinem gesamten Programm für Walter de Gruyter erwerben, also gewissermaßen wieder zurückkaufen. Damit entstand der größte geisteswissenschaftliche Verlag Kontinentaleuropas.

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Und Saur selbst sah diese Wendung durchaus mit einer gewissen Euphorie, war es doch nicht nur ein persönlicher Triumph, sondern auch die Realisierung einer großartigen verlegerischen Vision. Er selbst schrieb dazu: „Diese Fusion ist ein Glanzpunkt verlegerischer Ttigkeit. Die Verlagsprogramme ergnzen sich ideal. Durch die hohen Synergieeffekte im Lektorats- sowie im gesamten Vertriebsbereich weltweit, sehen wir ein ungewçhnlich großes Zukunftspotential“. Saur sollte Recht behalten. Das Besondere an dieser Entwicklung war überdies die Tatsache, dass Saur damit den Teubner-Altertumsbereich sozusagen zweimal erwarb, einmal 1999 für den K. G. Saur Verlag und dann zum zweiten Mal 2006 für de Gruyter; vergleichbare Vorgänge dürfte es in der deutschen Verlagsgeschichte nicht oft gegeben haben. Die Ironie des Schicksals: Für den K. G. Saur Verlag erhielt Saur 1999 den Zuschlag für das altertumswissenschaftliche Programm von B. G. Teubner nur aufgrund seines besonderen Einsatzes, denn Walter de Gruyter war seinerzeit härtester Konkurrent um Teubner. Im Nachhinein könnte man augenzwinkernd hinzufügen: Hätte Saur gewusst, dass er später einmal Geschäftsführer bei de Gruyter werden sollte, hätte er den Kauf damals vielleicht auch de Gruyter überlassen können. K. G. Saur und die Altertumswissenschaften, das ist jedenfalls ein spätes Glück, das sich 1999 mit dem Erwerb von Teubner anbahnte und mit der Entwicklung bei de Gruyter ab 2006 beträchtlich an Dynamik gewann. Die Übernahme des K. G. Saur-Verlages machte de Gruyter jedenfalls zum unangefochtenen Marktführer im Bereich Altertumswissenschaften. Mit dem Deutschen Archäologischen Institut (DAI), weltweit einer der größten Herausgeber archäologischer Fachliteratur, war de Gruyter schon seit vielen Jahrzehnten verbunden. Berücksichtigt man, dass der frühere Verlag Georg Reimer 1919 in de Gruyter aufging, dann reicht diese Verbindung sogar bis tief ins 19. Jahrhundert zurück. Daraus hätte mehr werden können, doch de Gruyter ging einen anderen Weg. Dies änderte sich erst wieder mit K. G. Saur. Unter seiner Leitung wurde de Gruyters zu einem modernen Verlagsunternehmen ausgebaut, das die Zeichen der Zeit erkannte und bei der Zusammenarbeit mit herausgeberisch tätigen Forschungsinstituten stets deren Bedürfnisse und Anforderungen im Blick hatte und im Einvernehmen mit diesen zukunftsweisende Strategien zu entwickeln in der Lage war. Es war die Zeit, die letztlich auch den Verfasser dieser Zeilen – damals noch als Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts – in engeren persönlichen Kontakt mit dem Jubilar brachte. Für bedeutende Zeit-

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schriften und Reihenwerke des DAI erhielt in jenen Jahren Walter de Gruyter den Zuschlag. Dazu gehören die „Mitteilungen“ und die „Sonderschriften des Deutschen Archologischen Instituts, Abteilung Kairo“. Beide gehören zu den international renommiertesten Zeitschriften bzw. Reihenwerken auf dem Gebiet der Archäologie und Kunstgeschichte Altägyptens mit einem breiten Spektrum von Grabungsberichten prädynastischer bis islamischer Zeit sowie Beiträgen zu kultur- und kunstgeschichtlichen Fragestellungen. Mit dem „Chiron“, herausgegeben von der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik des Deutschen Archäologischen Instituts in München, gelang es de Gruyter, im Jahre 2006 eine der international verbreitesten althistorischen Zeitschriften in sein Verlagsprogramm aufzunehmen. Und selbst auf dem Gebiet der Vorderasiatischen Archäologie konnte Klaus G. Saur einen weiteren großen Erfolg für seinen Verlag erzielen, als er die „Zeitschrift fr Orient-Archologie“ in sein Haus holte. Nicht zuletzt auf mein Drängen hin entschloss sich die Orient-Abteilung des DAI in Berlin, die bis dahin von ihr herausgegebenen drei Zeitschriften ab 2006 zu einer einzigen zusammenzufassen, um diese dann im Vergleich mit den großen und international renommierten Zeitschriften auf dem Gebiet der altorientalischen Archäologie konkurrenzfähig zu machen. Doch es waren nicht nur die internen Umstrukturierungen innerhalb des Publikationsprogramms des DAI, die Klaus G. Saur und den de GruyterVerlag zu einem immer engeren Partner des Deutschen Archäologischen Instituts werden ließen. Eine entscheidende Rolle spielte auch die hohe Fachkompetenz und die offene Haltung von de Gruyter bei der Behandlung von Zukunftsfragen, die sich für das DAI wie für viele andere international agierende Wissenschaftseinrichtungen unweigerlich stellten, z. B. bei der Verknüpfung von Print- und Online-Ausgaben u. v. m. Doch es sind nicht nur wichtige Reihen des DAI, die das altertumskundliche Programm von de Gruyter prägen. Zu nennen sind ferner etwa die „Prhistorische Zeitschrift“, das „Reallexikon der Assyriologie und der Vorderasiatischen Archologie“ oder das „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“, die alle zwar bereits lange vor K. G. Saur schon bei de Gruyter angesiedelt waren, von ihm aber erfolgreich weitergeführt wurden. Gerade das Großunternehmen „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ konnte jüngst abgeschlossen werden, ein Meilenstein in der vor- und frühgeschichtlichen Forschung Mittel- und Nordeuropas. Daneben traten immer wieder neue Reihen hinzu, jüngst etwa das von einem internationalen Herausgebergremium betreute

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Hermann Parzinger

Werk „Image & Context“, das sich mit dem Funktionieren von Bildern in der Antike befasst. „Griechische Dramen“, eine weitere neue Reihe, erschließt die großen Tragödien aus dem klassischen Athen in neuen Übersetzungen und Kommentierungen. Viele weitere Beispiele für das vom Jubilar dynamisch entwickelte altertumswissenschaftliche Programm bei de Gruyter ließen sich noch hinzufügen, sie alle sind im jüngsten Gesamtverzeichnis Altertumswissenschaften und Geschichte 2007/2008 einzusehen, das ein beeindruckendes Spektrum aufzeigt. Im Vorwort dazu heißt es nicht ohne Grund: „…ist es uns eine besondere Freude, allen an den Altertumswissenschaften interessierten Kunden unseres Hauses den ersten Fachkatalog vorlegen zu kçnnen, in dem nun die Programme von Walter de Gruyter und ehemals B. G. Teubner vereinigt sind. Dadurch ergibt sich eine geistige Substanz, die sowohl fr das Fachgebiet selbst als auch fr Wissenschaftler, Bibliotheken und Buchhndler von großem Nutzen sein wird“. Blicken wir auf diese wenigen hier aufgezeigten Stationen im ereignisreichen beruflichen Leben von Klaus G. Saur zurück, so offenbart sich eine erstaunliche Wandlung vom technischen zum geistes- bzw. altertumswissenschaftlichen Verleger, wobei die entscheidenden Wegmarken 1999 mit dem Ankauf von B. G. Teubner und 2005 mit der Übernahme der Leitung bei de Gruyter benannt sind. Es waren Saurs untrügliches Gespür, seine große Erfahrung, sein taktisches und strategisches Geschick sowie seine hohe fachliche Kompetenz, die seine Zeit bei Walter de Gruyter nicht nur zu einer Erfolgsgeschichte für diesen Verlag werden ließen, es war auch eine Erfolgsgeschichte jener Wissenschaften, für deren Belange sich Klaus G. Saur – bei allen legitimen betriebswirtschaftlichen Interessen – stets vorbehaltlos eingesetzt hat. Er war einfach immer mehr als nur ein hervorragender Verleger, und das macht Klaus G. Saur zu etwas Besonderem. Hermann Parzinger

Der Nachbar Wenn man das Gebäude der Österreichischen Botschaft Berlin verlässt, die Stauffenbergstraße hinunter geht, vorbei an der Gedenkstätte des Deutschen Widerstandes, über den Landwehrkanal hinüber, noch einmal rechts und einmal links und ein bisschen gerade aus, steht man nach 10 Minuten Fußweg vor dem traditionsreichen Verlagshaus Walter de Gruyter. Auch wenn diese geographische Nähe während der vergangenen drei Jahre nicht zwangsläufig signifikant in der Anzahl unserer Zusammenkünfte messbar gewesen wäre, das Bild einer – wenn auch nur vorüber gehenden – Nachbarschaft zwischen Ihrer Wirkungsstätte und der meinigen gefällt mir außerordentlich gut. Dafür gibt es vielerlei Gründe. So viel vorweg: Ich bin schon vielen Menschen begegnet, die begeisterungsfähig und voll von guten Ideen waren, aber mitunter blieben sie die konsequente Umsetzung schuldig. Von Professor Saur kann man das wohl schwerlich behaupten. Seine spontane Vorgehensweise wie zum beispielsweise im Fall des Marburger Index ist legendär. In Bezug auf Österreich hat sich sein Gespür für Nischen und Lücken im Bereich biographischer bzw. bibliographischer Nachschlagewerke für Bibliotheken und die Wissenschaft jedoch nicht minder nachhaltig unter Beweis gestellt. So lagern in der größten österreichischen Bibliothek, der Österreichischen Nationalbibliothek, noch nicht aufgearbeiteten Bestände einer weltweit einzigartigen Papyrus-Sammlung, die inzwischen in der UNESCO-Liste „Memory of the World“ als Weltdokumentenerbe aufgenommen wurde. Der erste Band dieser Corpus Papyrorum Raineri erschien 1895. Bis 2002 war man bis Band XXIV gekommen, dann nahm sich der K.G. Saur-Verlag der Reihe an, in der Folge der Verlag Walter de Gruyter und seither konnten 2006 und 2007 in vier weiteren Bänden ausgewählte Briefe und Dokumente mit Kommentaren versehen, an die Öffentlichkeit gebracht werden. Ein weiterer Band für 2009 ist erfreulicherweise in Planung. Mir persönlich hat in den vergangenen drei Jahren die Publikation des „Variantenwörterbuchs des Deutschen: Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol“ eine besondere Freude gemacht. Es ist ein schönes Beispiel dafür, wie ein Verlag mit Umsicht und Auf-

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merksamkeit zu einem Pionier des Wissens werden kann. Dieses Werk über die verschiedenen Varietäten des Standarddeutschen, schließt – wie die Autoren in der Einleitung anmerken -, nicht nur für Sprachwissenschaftler oder Dolmetscher des Deutschen eine Lücke. Mit diesem Buch stehen die allgemein gebräuchlichen Ausdrücke aus Österreich, Deutschland, der Schweiz, Südtirol, Liechtenstein, Luxemburg und Ostbelgien gleichberechtigt nebeneinander. Es sorgt für eine Aufwertung aller Varianten, für stärkeres sprachliches Selbstbewusstsein und birgt damit auch eine politische Dimension. Auch wenn es die internationalen Forschungszentren in Österreich, der Schweiz und Deutschland waren, die in ihrer Ausarbeitung der These der deutschen Sprache als plurizentrisches Phänomen sui generis das inhaltliche Wissen bereitgestellt haben, so wäre diese Mühe wohl völlig unbemerkt, und das Wissen damit folgenlos geblieben, wenn kein Verleger den Nutzen eines solchen Werkes erkannt hätte… Die aktuelle Neuauflage des „Killy Literaturlexikons. Werke und Autoren des deutschsprachigen Kulturraumes“ verspricht schon im Titel eine ähnliche Sorgfalt. Ein Lexikon dieses Umfangs ist zudem ein bewundernswert mutiges Projekt! Fast reflexartig werden in solchen Fällen Stimmen laut, dass Nachschlagewerke, deren Veröffentlichung sich über Jahre erstreckt, mit unserer heutigen Lebensrealität nicht mehr Schritt halten könnten. Im Fall des neuen „Killy Literaturlexikons“ möchte ich dagegen setzen, dass es für mehrere Generationen die lebendige Auseinandersetzung mit den ständig neu zu interpretierenden kulturellen Wurzeln mitgestalten wird, und zwar nicht nur durch seine Fakten, sondern vor allem durch die ihm zugrunde liegende wissenschaftliche Zielsetzung, die der Vereinfachung widersteht, dass deutsche und deutschsprachige Literatur nicht unterschieden werden müssten. Blickt man ein wenig weiter zurück, wird erkennbar, wie vielfältig das Spektrum der Österreich-Publikationen unter der Ägide Professor Saurs bereits vor seiner Berliner Zeit gewesen ist. Im Rahmen seiner Verlagsarbeit entstand etwa die Dokumentation „Widerstand und Verfolgung in Österreich 1938 bis 1945“ (2004), die als ein Meilenstein auf dem Gebiet der Erforschung der politischen NS-Strafjustiz in Österreich gilt; oder 2002 das „Handbuch österreichischer Autoren und Autorinnen jüdischer Herkunft“ – ein gutes Beispiel dafür, dass auch ein Nachschlagewerk Geschichte erlebbar machen kann. In einer Rezension hieß es: „Es sind versunkene Welten, die hier beim Durchblättern auferstehen, Welten von Baroninnen, Hofräten mit literarischen Ambitionen, Dichterinnen, Kaffeehausliteraten und politisch aktiven

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Journalistinnen. Nur ein paar Zeilen können jedem Leben gewidmet sein, und doch erfährt man jedes Mal ein Schicksal in berührender Plastizität.“ (Verena Mayer, Berliner Zeitung, 2003). Im Bereich der Kunst- und Musikgeschichte könnte man zu dieser subjektiven Auswahl an Austriaca-Titeln noch die „Österreichischen Exlibris-Bibliographie 1881 – 2003“ hinzufügen, oder die „Personalbibliographien österreichischer Musikerinnen und Musiker“ (2005). Es sind natürlich die AutorInnen und ForscherInnen, die man primär als die Schöpfer dieser Werke identifiziert, doch nur die Leistung eines Verlages, gibt jenen die Möglichkeit, ihr Werk zu entwickeln, ideell und wirtschaftlich! Um ein klareres Bild davon zu bekommen, worin die ursprüngliche Funktion eines Verlegers bestand, hatte ich mich früher schon einmal auf die Suche nach den Wurzeln des Worte „verlegen“ gemacht und war in einem Mittelhochdeutschen Wörterbuch unter anderem auf folgende Erklärung gestoßen: „die Kosten bestreiten“, „dafür aufkommen“. Diese Übersetzung kommt mir jetzt sehr gelegen! Lassen Sie mich also konstatieren: Prof. Saur hat schon einiges an österreichischer Geschichte sprichwörtlich auf seine Rechnung gesetzt und ist folglich für gegenwärtige und zukünftige Identitätsentwürfe, sowie für die kulturelle und geistesgeschichtliche Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung Österreichs aufgekommen. In seinen eigenen Worten klingt die Definition der Tätigkeit eines Verlegers so: „(…) dass es seine primäre Funktion ist, Information und Wissen, geistige Werte und Texte vom Urheber an den Endverbraucher zu transportieren (…)“. Und weiter: „Solange dem Verlag die Aufgabe bleibt, das Material qualitativ zu selektieren und die Entscheidung darüber zu fällen, welche Texte es wert sind, publiziert und verbreitet zu werden, bleibt die Aufgabe des Verlegers uneingeschränkt gültig (…)“. Diese Beschreibung, die Prof. Saur anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Philipps-Universität Marburg formulierte, möchte ich gerne nutzen, um mein Lob auf die Verdienste um seine Österreichpublikationen mit einem Anliegen zu verknüpfen, das im Zusammenhang mit der Essenz seiner Berufsauffassung steht. Lassen Sie mich die eingangs erwähnten vielerlei Grnde, die mir die geographische Nähe zwischen meiner Wirkungsstätte und der Professor Saurs in den vergangenen Jahren im übertragenen Sinn so sympathisch gemacht hat, nun mit drei persönlichen Beobachtungen unterlegen, zu denen nach meiner Ansicht das Engagement Prof. Saurs einen verlässlichen Gegenentwurf darstellt:

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1. In der westliche Zivilisation scheint im mancherlei Hinsicht fast alles ausreichend vorhanden zu sein, wenn nicht sogar in einem zu hohen Maße. Unser demokratischer Kulturbegriff beruht auf Meinungsvielfalt und freiem Bildungszugang -, und schließt folglich die Vervielfachung von Dingen, die sonst nur einem eingeschränkten Personenkreis zugänglich wären, mit ein. Doch nicht nur von den Verfechtern eines elitären Kunstanspruches wird manchmal beklagt, dass in der Kunst, Literatur, Musik, den Medien oder in der Forschung mitunter das zu beobachten sei, was man im negativen Sinn als „Überproduktion“ bezeichnen könnte. Es ist sicher nicht von der Hand zu weisen, dass den genannten Bereichen, denen Qualitäten wie Transzendenz, erhöhte Wahrnehmung und Kritikfähigkeit als inhärent zugeschrieben werden, an den eigenen Aktivitäten zu ersticken drohen, wenn sie sich von der Außenwelt abkoppeln und in einem künstlich abgeschlossenen System um ihrer (ästhetischen) Theorien willen produzieren. Unter diesen Bedingungen riskiert das Ideal der Vielfalt, und damit auch der Freiheit, beliebig zu werden. 2. Universitäre Einrichtungen, Medien, sogar Botschaften, Moderatoren, Schriftsteller, Verleger und andere Berufsfelder oder Institutionen, die der Öffentlichkeit zuzurechnen sind, werden heutzutage gerne als Multiplikatoren bezeichnet. Man könnte sagen, es ist nur ein Wort, das gerade en vogue ist, und das nur besagt, dass es in unserer aktuellen Wissensgesellschaft um mehr geht als um die Addition von Wissenssplittern, die abrufbar sein müssen. Doch sind die als Maxime formulierten Formen lebendigen Wissens, wie Erfahrungswissen, Selbstorganisation oder Urteilsvermögen, tatsächlich mit der Rechnungsformel „x mal y“ beschreibbar? Ist Bildung nur das Multiplizieren von Vorhandenem ins Unendliche, nur das Anhäufen durch Wiederholung, sodass wie im „Stille-Post“-Spiel am Ende der Bezugspunkt verschwommen und das Resultat deshalb vielleicht unterhaltsam aber eigentlich unsinnig und zwecklos ist? 3. In unserer Alltagswelt schwirren in schneller Abfolge Bilder und Meinungen über die Bildschirme. Empathie und ein daraus eventuell anschließendes Abwägen von Urteilen haben im Fluss der Bilder kaum eine wirkliche Chance. Moderatoren, Schauspieler, Stars und Sternchen versuchen sich als Wissenschaftler oder Literaten auszugeben. Sie müssen nicht allzu viel wissen, aber möchten sich partout zu allen Phänomenen der Gegenwart äußern. Das Einzige, was ihnen Angst macht, ist ein geringes Aufmerksamkeitspotential, eine niedrige Quote zu haben. Es scheint so, dass nur der gehört und gesehen

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wird, der auffällt, egal womit. Als ob Meinungsfreiheit in einen Zwang, ständig zu reden oder schreiben zu müssen, übergehen würde. Mir graut vor dem Wettlauf der Halbsätze, die lediglich in den Kategorien Häufigkeit und Lautstärke konkurrieren. Betrachtet man nun die Verlagsarbeit von Prof. Saur, sieht man, dass der Wunsch nach Vielfalt, der mit Vervielfachung von Information einhergeht, und der Ruf nach Formen lebendigen Wissens keinen Widerspruch darstellen müssen. Die Qualität der hinzugekommenen Daten, die sich in den umfangreichen Enzyklopädien und Verzeichnissen verbergen, sprechen eine andere Sprache als die der Anhäufung zusammenhangloser Schlagworte um ihrer selbst willen, auch wenn es oft ausgerechnet die Fülle an Informationen ist, die im Zusammenhang mit den umfangreichen Bibliographien und Verzeichnissen gerne zuerst genannt werden. Da ist dann die Rede von tausenden Einträgen da oder Millionen von Einträgen dort. Aber sie sind nur das Ergebnis einer vorangegangenen Entscheidung für Inhalte, die in Hinblick auf ihre Relevanz für den Endverbraucher ausgewählt wurden: sei es für Studierende, die aus den Hochschulverzeichnissen des de Gruyter Verlages einen Nutzen ziehen können, sei es für Laien auf dem Gebiet der Geistes- und Kulturgeschichte, die an Überlegungen interessiert sind statt an Meinungen, oder sei es für wissenschaftlich arbeitende Zielgruppen. Es sind diese Entscheidungen für Inhalte und die ihnen zugrunde liegende Sensibilität für Fach- oder Sachgebiete, die in der Folge zu einer Zusammenarbeit führten, wie etwa im Fall der Papyrussammlung mit der Österreichischen Nationalbibliothek. Lieber Herr Professor, ich danke Ihnen, dass Sie sich als Kulturvermittler verstehen und dieser Aufgabe immer treu geblieben sind. Ich bewundere, wie Sie Risikobereitschaft stets mit persönlicher Verantwortung zu vereinbaren versuchen. Sie haben reichlich viel für die österreichische Kultur- und Geistesgeschichte getan. Welche Ihrer Funktionen in den nächsten Jahren auch im Mittelpunkt Ihrer Tätigkeiten stehen mögen, in welchen Ländern oder Städten Sie sich zu diesem Zweck auch aufhalten werden, ich hoffe, dass Ihr verlegerisches Interesse an Österreich noch lange bestehen wird und wünsche Ihnen persönlich sowie für Ihre zukünftigen Projekte alles Gute. Christian Prosl

Der Gastgeber Manchmal schließen sich die Kreise. Und dafür ist Berlin ein guter Ort. Hier kann man neu anfangen, sich zurück besinnen, vor etwas davonlaufen, sich einholen lassen – ein Ort des Wiedersehens in jeder Hinsicht. Manchmal ist das auch ein Glücksfall. So, wie es mir gegangen ist. Aber wie gesagt, der Ort muss stimmen. Ein solcher, einer der ganz wenigen in Berlin, wo man noch für einen Abend die hauptstädtische Provinzialität vergessen kann, ist die American Academy, Insel der gestrandeten Neugierigen. Auf einmal stehe ich neben Klaus Saur, der lebhaft hierhin und dorthin englisch und deutsch parlierend, der nun auch mich – im wahrsten Sinne – in ein Gespräch verwickelt. Und schon sind die Fäden gesponnen. „Wo haben sie denn studiert? In München. Und bei wem? Unter anderem bei Ihnen, Herr Saur.“ Der Studiengang Buchwissenschaft war damals neu eingeführt an der Ludwig Maximilians Universität, natürlich mitbegründet von Klaus Saur, und so verfolgten wir zukünftigen „Buchwissenschaftler“, wie der bekannte Verleger uns auf unsere schöne Zukunft als Lektoren, Vertriebsleiter oder Bibliothekare einschwören wollte. Aber das Beste kam erst noch. Der überraschten Gruppe sprach er spontan eine Einladung in seinen Verlag aus. Was uns hier erwartete war aber nicht ein staubtrockenes Seminar, sondern ein unerwartetes köstliches Buffet zwischen meterhohen Bücherwänden. Ach, wenn ich doch Verleger werden könnte…. Daraus ist leider nichts geworden und so ist es doch wunderbar, dass ich heute gelegentlich am runden Tisch, eingeschüchtert von Erstausgaben Kleists, Schillers und Schleiermachers sitzen und den Geschichten von Menschen und Büchern zuhören darf. Es knirscht und knackt im alten Holz, sobald der Einladende die Zukunft des E-Books sich und den Anwesenden plausibel macht, auf faszinierende Weise den Geist der „Aufklärung“ aufleben lässt. Ein Geheimnis des Büchermachens gibt es bei Klaus Saur nicht. Hier muss man keine Klischees bemühen, außer das der Leidenschaft vielleicht, hier gilt vor allem Zähigkeit, wirtschaftlicher Weitblick und ein wohlüberlegter Plan. Und die Idylle von damals erhält schärfere Konturen.

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Victoria Scheibler

Man freut sich auf die Begegnungen mit dem fulminanten Handlungreisenden, der mit viel Selbstironie sein Ziel vor Augen hat. So bietet der Weinkenner Saur nicht nur kulinarische Genüsse auf seinen eigenen Einladungen im ehrwürdigen de Gruyterschen Verlagshaus und gibt Empfehlungen zum besten Espresso der Stadt , am liebsten aber stiftet er an – zu Kontakten, Verbindungen, gemeinsamen Projekten. Wo kann man unbekannte Briefe Thomas Manns in die Hand nehmen und Zeitzeugen begegnen, die man sich immer kennenzulernen gewünscht hatte! Immer will Klaus Saur aufmerksam machen, überzeugen, neugierig- und wißbegierig den Dingen auf den Grund gehen, ein Fels in der Brandung der Unverbindlichkeiten. Klaus Saur ist und bleibt hartnäckig und das ist bewundernswert. Ruhe- aber nie sprachlos gibt er dem Gast, was ihm gebührt – und das hoffentlich noch viele, viele Male! Victoria Scheibler

„Unendlich viele Verdienste“ – Klaus G. Saur und die Staatsbibliothek zu Berlin Eigentlich und irgendwie war er immer schon da, so daß sich mit den Jahren ein geradezu symbiotisches Verhältnis zwischen Klaus G. Saur und der Staatsbibliothek zu Berlin entwickelt hatte. Die Handschriftenabteilung unseres Hauses verwahrte ohnehin bereits seit Jahren als Depositum das wertvolle Archiv des traditionsreichen und seit jeher renommierten Verlags de Gruyter; im Mai 2003 wurde ihm der MaxHerrmann-Preis des Freundes- und Fördervereins verliehen; wenige Wochen später begrüßte er in der Staatsbibliothek anläßlich des IFLAKongresses Tausende Bibliothekare aus aller Welt. Im Januar 2005 wurde im Lessing-Saal der 85. Geburtstag von Dr. Kurt-Georg Cram, dem ehemaligen Geschäftsführenden Gesellschafter des Hauses de Gruyter, gefeiert – als Klaus G. Saur in diesen Wochen München verließ, mochte man ahnen, daß es Wochen nur dauern würde, bis aus KGS ein Neu-Berliner mit exzellentem Hauptstadtnetzwerk geworden war.

Die Festschrift für Klaus-Dieter Lehmann Denn schon im Frühjahr 2004 stellte Klaus G. Saur fest: ein kapitaler Geburtstag nahte. Ein 65. Geburtstag, der eine Festschrift unabdingbar machte, ein Geburtstag, dessen Regie nur Klaus G. Saur höchstselbst übernehmen durfte: Klaus-Dieter Lehmann, der vielleicht einzige Titan, den der Titan Saur neben sich nicht nur duldet, sondern genießt, war zu würdigen. In Windeseile wurden die Aufgaben verteilt, so flink, daß zum Luftholen oder gar zum Widerspruch keine Gelegenheit mehr war: die Staatsbibliothek übernimmt die Redaktion und die Druckvorstufe (das machen Verleger gerne, die arbeitsaufwendigen Dinge an die Öffentliche Hand outzusourcen), dafür verlegt er das fertige Buch. Gesagt, getan. Immer neue Beiträger ließen sich von Klaus G. Saur in das prominent besetzte Boot holen: 62 Autoren, 574 Seiten, 128 Euro Verkaufspreis – ein Buch, wie man es früher in München produziert hätte und wie es heute dem neuen Berlin ziemt: schwelgerisch und selbstbewusst, bisweilen auch ernst, dabei zuversichtlich und großbür-

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gerlich, programmatisch und repräsentativ. Klaus G. Saur weiß nun mal, wie man Bücher macht. „Wissenschaft und Kultur in Bibliotheken, Museen und Archiven“, herausgegeben von Barbara Schneider-Kempf, Klaus G. Saur und Peter-Klaus Schuster und von Martin Hollender mit einer 474 Positionen umfassenden Bibliographie der Publikationen Klaus-Dieter Lehmanns versehen, wurde selbstredend in der Staatsbibliothek präsentiert. Kaum ein Beiträger fehlte am 2. März 2005, als Klaus G. Saur – unnachahmlich – die Zahl der anwesenden Präsidenten, Generaldirektoren, Minister und Würdenträger jeder Art deklamierte. Mit Berlin, so mag er wohl festgestellt haben, kann man warmwerden, nicht von jetzt auf gleich, aber peu à peu.

Ein Abend für… Gerne wollten wir beim Akklimatisieren ein wenig behilflich sein. Irgendwann, 2005, machte eine Bibliothekarin auf Paul Raabe, den laut FAZ „nach Lessing bekanntesten deutschen Bibliothekar“, aufmerksam. Ein autobiographisches Buch nach dem anderen erscheine von Raabe, ob man den denn nicht mal zu einer Lesung nach Berlin einladen könne? Ein aparter Gedanke, doch wer Klaus G. Saur ante portas hat, strebt nach höheren Sphären. Augenblicklich war die Idee eines eigenen „Formats“ für Klaus G. Saur geboren: „Ein Abend für…“ als lockere Veranstaltungsfolge in den Räumen der Staatsbibliothek, in deren Rahmen sich der beste Talkmaster Festlandeuropas mehrmals jährlich mit namhaften Zeitgenossen aus dem Buch- und Bibliothekswesen, aus Politik und Kultur zu einem öffentlichen Zwiegespräch zusammenfinden sollte. Natürlich sagte Klaus G. Saur sofort begeistert ja – sicherlich nicht zuletzt, weil er geahnt haben wird: „Ein Abend für…“ ist immer zugleich auch „Ein Abend für Klaus G. Saur“. Daß einer dasitzt und den anderen interviewt, das ist nun freilich ein alter Hut, so etwas erleben wir im Fernsehen tagtäglich. Interessanter wird die Sache, wenn auf gleicher Augenhöhe diskutiert wird, wenn das übliche Frage-Antwort-Spiel zu einem Gespräch über alles und jedes ausufert, wenn man jenseits aller Strukturen und Regularien vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Denn Klaus G. Saur kennt die Skurrilitäten einer Biographie, die amüsanten Glanzlichter einer beeindruckenden Karriere – und kitzelte aus Paul Raabe, aus dem Leipziger Verleger Elmar Faber, aus dem Germanisten und Wissenschaftsmanager Wolfgang Frühwald, dem Historiker Arnulf Baring, dem Pä-

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dagogen Hartmut von Hentig und dem Astrophysiker Reimar Lüst die Hintergründe eben jener Besonderheiten ebenso amüsant wie charmant heraus. Doch spät wird es nie: Nach allerspätestens eineinviertel Stunden zieht Klaus G. Saur, wie stets zeitbewußt, die Reißleine, um zu verhindern, dass sich der Abend womöglich bis zur Mitternacht ausgedehnt hätte. Schade mitunter, denn seine Gäste waren manchmal gerade erst so richtig ,warmgelaufen‘. Das Ambiente der Abende mit seinen 120 bis 200 Zuhörern könnte besser nicht sein: der Ausstellungsraum der Staatsbibliothek wird zu einem Studio ummöbliert, in dem man sich beinahe so ,dabei‘ fühlt wie bei Dietmar Schönherrs „Je später der Abend“, der Urmutter aller deutschen Talkshows. Deckenspots und Günter Ssymanks ringsum künstlerisch gestaltete transparente und diffuse Glaswände schaffen eine ganz eigen- und einzigartige Gesprächsatmosphäre. In der Auswahl der Gäste geht Klaus G. Saur freilich autokratisch vor: er bestimmt, niemand sonst. Denn die Chemie muß ja stimmen! Einmal schlugen wir ihm Alice Schwarzer vor, sehr amused war er nicht: offenbar stimmte die Chemie nicht. Wir haben den Namen nie mehr erwähnt, warum auch – wen Klaus G. Saur seit nunmehr drei Jahren in die Staatsbibliothek holt, ist über jede mäkelnde Kritik ohnehin erhaben. Er hat noch zahlreiche Exzellenzen der deutschen Zeitgeschichte in petto – und wir harren freudig der Gäste, die er in die Staatsbibliothek einladen wird.

Die „sogenannte Deutsche Nationalbibliothek“ In jenen Monaten der Wende von 2005 auf 2006 erwog die Politik, Die Deutsche Bibliothek in Deutsche Nationalbibliothek umzubenennen, ein Vorhaben, das in den Staatsbibliotheken in München und Berlin, dezent formuliert, auf wenig Gegenliebe stieß. Denn eine Nationalbibliothek sammelt und besitzt das gesamte Schriftgut der Nation – von den frühesten Anfängen bis in die Jetztzeit. Die Deutsche Bibliothek aber besaß eine vollständige Sammlung allein der deutschen und deutschsprachigen Druckschriften seit 1913 und kaum ein Buch aus den Jahren seit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, seit ca. 1450 also. Fast fünf Jahrhunderte also deutscher Kulturgeschichte, deren Zeugnisse in München und Berlin in Breite und Tiefe vorhanden sind, nicht aber in Der Deutschen Bibliothek – und dennoch die mancherorts als Anmaßung empfundene Umbenennung in Deutsche Natio-

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nalbibliothek? – Wer stand uns bei? Natürlich Klaus G. Saur, obwohl oder weil er doch ein ganzes Jahrzehnt lang Vorsitzender des Beirats Der Deutschen Bibliothek war. Im Börsenblatt, nirgends sind die Leser, geht es um Bücher und Bibliotheken, zahlreicher, bezog Klaus G. Saur, der Bundesbuchminister, am 23. Februar 2006 unmissverständlich Stellung. Es sei falsch, „jetzt eine Umbenennung vorzunehmen, die den Eindruck erwecken würde, der schlicht nicht zutrifft. Und es würde eine Degradierung der übrigen Bibliotheken bedeuten.“ ( Ja!). Der Bundesrat, so Saur, habe, wiewohl nur mit beratender Stimme, das Ansinnen abgelehnt, nun sei der Bundestag am Zuge: „Ich kann nur hoffen, dass auch dieser ablehnt.“ Er hat, wie wir wissen, nicht abgelehnt. Am 29. Juni 2006 trat das „Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek“ in Kraft – und die Bibliothekswelt hat sich zähneknirschend gefügt. Nur ein Verleger leistet noch immer subversiven Widerstand. Denn wo immer sich eine Gelegenheit findet, in kleinen Runden und großen Reden, spricht Klaus G. Saur seither gerne süffisant von der „sogenannten Deutschen Nationalbibliothek“, was vor dem Hintergrund der „sogenannten DDR“ eine ordentliche Pikanterie und Schlitzohrigkeit darstellt.

Der 65. Geburtstag: im Brunnenhof Derlei Treue mußte honoriert werden, mit dem Schönsten, was die Staatsbibliothek zu bieten hat. Kaiserwetter war in Berlin am Abend des 27. Juli 2006, Klaus G. Saur wurde 65 und durfte feiern auf dem Boulevard der Nation, im efeuberankten, springbrunnenkühlen Innenhof der Staatsbibliothek Unter den Linden. Alle waren da, und bis in die Dunkelheit erklang der Jazz. Für Klaus G. Saur und seine hochansehnliche Entourage schlossen wir die Bibliothek bereits um 18 Uhr – und wäre jemand gekommen und hätte sich beschwert, daß ihm wegen einer Geburtstagsfeier der Zugang zu seinen wissenschaftlichen Forschungsressourcen verwehrt worden sei, so hätten wir ihm geantwortet, daß sich der Gefeierte über Jahrzehnte hinweg in ganz besonderer Weise um die Wissenschaft und um die Veröffentlichung wissenschaftlicher Fakten und Analysen verdient gemacht habe, daß so der suchende und recherchierende Beginn mancher Forschungsvorhaben zunächst seinen Grundlagenwerken zu verdanken sei, um anschließend, als ausgereifte Studie, wiederum von ihm verlegt zu werden; und all dies rechtfertige doch wohl „Einen Abend im Brunnenhof für Klaus G. Saur“.

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Selten war eine Festrede erquicklicher zu halten. Klaus G. Saur, so durfte man vernehmen, sei ein Musterbeispiel für die guten Verleger, die sich mit Standardwerken und Longsellern die sperrigen und hochspeziellen Titel finanzieren ließen, damit auch die abseitigsten und schwerverkäuflichsten wissenschaftlichen Untersuchungen eine Chance besäßen, in gedruckter Form ihre jeweilige scientific community zu erreichen. Solche Quersubventionierung mache die Kasse vielleicht nicht allzu laut klingeln, aber die Würdigungen, die er als Honorarprofessor und Ehrendoktor, Ehrenbürger und Ehrensenator von fast monatlich neuen Staaten und Hochschulen empfange, hätten ihre Ursache nicht zuletzt in dem sehr umfassenden und verantwortungsvollen Verständnis vom Beruf des Verlegers, wie er ihn seit jeher pflege. Bücher wollen verkauft sein, so unterstrich es die Laudatio, Verleger wollen (und sollen) gut leben – diese simplen Weisheiten seien ihm seit langem bekannt – und dennoch war für ihn die Marktchance eines Buches nie das alleinige Kriterium. Klaus G. Saur ist nicht nur Wissenschaftsverleger, sondern mehr noch: er ist ein Helfer der Wissenschaft. Seine Verlagsprojekte waren immer originell und ein wenig abseits des Konventionellen. Er hat Trends aufgegriffen, Schwankendes übernommen und zu neuem Leben erweckt, er hatte stets einen ausreichend langen Atem auch für Vorhaben, deren Ende selbst nach ihrer Halbzeit noch nicht absehbar war. Und das Resultat all dessen? Geistesund sozialwissenschaftliche, juristische, buchkundliche, historische und theologische und nicht zuletzt medizinische und naturwissenschaftliche Forschung ist ohne Bücher aus den Häusern Saur und de Gruyter quasi unmöglich geworden. Ohne seine Produkte wären die Regale unserer Lesesäle, wo traditionell die wichtigsten Referenzwerke und die Standardwerke aller Disziplinen aufgestellt werden, in zumindest manchen Bereichen zur Hälfte geleert – und die Wissenschaft stünde mit ziemlich leeren Händen da. Er hat uns also alle in der Hand – die Wissenschaftler und die Bibliothekare gleichermaßen. Doch in seine verläßlichen Hände aber begeben wir uns gerne, denn Klaus G. Saur macht uns Bibliothekare zwar arm, aber auch reich: jedes neue Saur-Buch, egal ob es ein Münchner Saur-Buch oder ein Berliner de Gruyter-Buch ist, erhöht den Wert einer Bibliothek. Doch noch immer nicht genug der weihevollen Gaben zum 65. Geburtstag: Die Staatsbibliothek gratulierte mit einer von Martin Hollender erstellten, 254 Positionen umfassenden Personalbibliographie, die – systematisch sortiert – sämtliche zwischen 1963 und 2006 erschienenen Publikationen von und über Klaus G. Saur verzeichnet.

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Wer in dieser Bibliographie blättert, macht immer wieder überraschende Entdeckungen. So zählt zu Klaus G. Saurs frühesten Veröffentlichungen ein Aufsatz, erschienen im Oktober 1965 in der Fachzeitschrift „Der Jungbuchhändler“. Und worüber schreibt er da? Er gibt den jungen Söhnen der kleinen Sortiments- und Verlagsbuchhändler nützliche Tips, wie man den Status der Unabkömmlichkeit erreicht, um vom Grundwehrdienst befreit zu werden… Ausgestattet mit einem hochlöblichen Geleitwort von Klaus-Dieter Lehmann, weiland Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, erschien die Broschüre – natürlich – in Berlin bei de Gruyter. E n d l i c h , endlich war er jetzt also 65 – und man durfte sich zumindest wünschen, er möge fortan auch ein wenig ruhiger werden. Wer von ihm in diesen Monaten umgeben war, dem war so quirlig zumute, als ob „Klaus“ und „G.“ und „Saur“ gleich drei Personen seien und nicht bloß eine einzige. Und da er nun ja auch physisch präsent war, auf der Genthiner Straße in Tiergarten ansässig, fußläufig zur Staatsbibliothek gelegen, lag angesichts dieser Nachbarschaft nichts näher, als die alte Romanze endlich in trockene Tücher zu wickeln und die Liebesheirat bekanntzugeben: am 2. November 2006 heirateten Klaus G. Saur und die Staatsbibliothek zu Berlin – vornehmer formuliert: Klaus G. Saur wurde zum Vorsitzenden des Freundes- und Fördervereins „Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin e.V.“ gewählt. Von nun an ging’s bergauf. Unter, mit und neben Klaus G. Saur stieg die Sichtbarkeit der Bibliothek in der Berliner Kulturlandschaft enorm. Er eröffnete die Moritz-Steinschneider-Konferenz und die Heinz-Friedrich-Ausstellung, überreichte Max-Herrmann-Preise an Bernhard Fabian und Karin von Welck und antichambrierte so bravourös zum Besten der Bibliothek, so daß als Redner auf den zunehmend illustren Neujahrsempfängen der Bibliothek Manfred Osten und der Berliner Kulturstaatssekretär André Schmitz auftraten. Und gerne arrangierte Klaus G. Saur auch ganze Arrangements um ihn herum: Als die Stiftung Brandenburger Tor eine vielbeachtete Ausstellung über den Verleger Paul Cassirer zeigte, hielt Klaus G. Saur am Abend des 25. April 2006 im Lessing-Saal des Hauses Unter den Linden einen Vortrag mit dem Titel „Kokoschka, Beckmann, Corinth, Liebermann, Slevogt – ein Fest der Künste“. Im Anschluss bestand Gelegenheit, die gleichnamige Ausstellung im Max-Liebermann-Haus am Brandenburger Tor zu besichtigen; der Verlag de Gruyter lud dort zu einem kleinen Empfang.

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Die Briefe Thomas Manns Seinen (bislang? bislang!) größten Coup landete Klaus G. Saur dann 2007. Clara Waldrich, Prokuristin beim K. G. Saur-Verlag, trachtete danach, sich von ihrer bedeutenden Thomas-Mann-Sammlung zu trennen. Bei der Hochfinanz und bei Fürstenhäusern und nicht zuletzt auch bei den sogenannten Kleinspendern klingelte Klaus G. Saur und flötete in Tönen höchster Entzückung von einer „wunderbaren“ Sammlung, die „unbedingt“ für Berlin gerettet werden müsse – kurzum: die Balzrufe waren erfolgreich. Über Geld reden wir nicht gern, soviel sei nur preisgegeben: 183 Briefe von Thomas Mann und Mitgliedern der Familie aus den Jahren 1912 bis 1955 kosteten eine ganz erhebliche Stange Geld; und dem Großwesir Saur ist es gelungen, bei 35 Stiftungen und Privatpersonen nicht weniger als 50 Prozent der Kaufsumme einzuwerben. Neue Sitten kehrten ein unter der Ägide Saurs: ein Benefizdinner war für die Staatsbibliothek ein Novum. Dergleichen mochte in München ja vielleicht üblich sein, im eher puritanischen Berlin bedurfte es nicht mehr und nicht weniger als der Vermittlung durch den Alt-Münchner Klaus G. Saur, damit der Französische Botschafter in Deutschland, S.E. Claude Martin, in seiner Eigenschaft als Mitglied des Kuratoriums des Freundes- und Fördervereins ein Galadiner zur Sponsorengewinnung ausrichtete. Den zahlreichen geladenen Gästen wurden am Abend des 26. April 2007 in der Residenz des Botschafters am Pariser Platz einige Briefe Thomas Manns präsentiert – im Original sowie rezitiert durch den Schauspieler Hanns Zischler. Ein großer Abend, große Briefe Thomas Manns, ein großer Gewinn für die Bibliothek, ein großer Erfolg Klaus G. Saurs. Selbst Klaus G. Saur kennt noch immer nicht Gott, wohl aber die halbe Welt, zumindest die Welt der Buchkultur; mehr noch: die Welt des Buches ebenso wie die der Kultur. Und jene Hälfte aller Buchmenschen lädt Klaus G. Saur zu den Abendveranstaltungen der Bibliothek. Und die so Eingeladenen erscheinen oft und gerne, obwohl sie nachweislich auf so ziemlich jedem Verteiler stehen, den es in Berlin gibt und somit Abend für Abend ein gutes Dutzend konkurrierender Möglichkeiten zu prodesse und delectare besäßen. Ein wenig neidisch schielten wir stets hinüber nach München, denn München leuchtet. Klaus G. Saur polierte den ein wenig ermatteten Glanz unserer Gästeliste auf und verhalf den inhaltlich ambitionierten, aber ein wenig strahlkraftarmen Events der Staatsbibliothek zu ungekannter Resonanz

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Barbara Schneider-Kempf und Martin Hollender

in den gernzitierten Kreisen der buchaffinen Meinungsmultiplikatoren aus Wirtschaft, Kultur, Politik und Verwaltung.

Volltextdatenbanken und Altbestandsdigitalisierung: die Arbeitsbeziehungen Keine Feir ohne Saur? Wer bis hierhin las, mag den Eindruck haben, als habe sich das Verhältnis zwischen KGS und SBB ausschließlich in einem fröhlichen Dreieck zwischen Laudationes, Diskussionen und Weißwein bewegt. Weit gefehlt, ein Verleger heißt ja Verleger, weil er etwas vorlegt und vorstreckt, Kosten nämlich, und die Kosten wollen zuvorderst erwirtschaftet sein. An der Staatsbibliothek zu Berlin mit ihrem relativ auskömmlich bemessenen Etat für wissenschaftliche Bücher und Zeitschriften ließ sich jeher gut verdienen – so auch durch Klaus G. Saur, weshalb die Mühen der Ebenen von den ganz nüchternen Arbeitsbeziehungen mit ihren Vertragsverhandlungen beherrscht wurden. Ob Saur oder de Gruyter: um Datenbanken und elektronische Volltexte machte man hier wie dort lange Zeit einen etwas naserümpfenden Bogen und setzte lieber weiterhin auf Mikrofiches und Papier. Als die Zeichen der Zeit dann erkannt waren, herrschte ein kapitaler Nachholbedarf: die theologischen Zeitschriften etwa des Hauses de Gruyter, teilweise zurückreichend bis ins Jahr 1886, sollten digitalisiert, volltexterfaßt und den Bibliotheken neuerlich zur kostenpflichtigen Nutzung angeboten werden. Grundlage jedes Scans sind die papiernen Originale; und um die makellosen Exemplare aus dem Verlagsarchiv zu schonen, bat Klaus G. Saur, auf die ohnehin nicht mehr ganz jungfräulichen Bibliotheksexemplare der SBB-PK zurückgreifen zu dürfen, selbstredend gegen Sonderkonditionen. Gesagt, getan: insgesamt 864 Jahrgänge etwa der „Byzantinischen Zeitschrift“ oder der „Zeitschrift für Assyriologie und vorderasiatische Archäologie“ wurden dem Haus de Gruyter im Herbst 2008 zur Verfügung gestellt. Für eine Public Private Partnership mit Klaus G. Saur war die Staatsbibliothek ohnehin immer zugänglich. 2005 machte die finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft die bundesweite Erwerbung mehrerer bedeutender geisteswissenschaftlicher Datenbanken möglich. Im Rahmen des Systems der überregionalen Literaturversorgung bzw. des Sondersammelgebietsplans der DFG gestatten diese elektronischen Ressourcen einen Datenbankenzugriff unabhängig von

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der Zugehörigkeit zu etwa einem Hochschulcampus. Die Verlage K.G. Saur und Thomson Gale stellten diese sogenannten ,Nationallizenzen‘ am 28. April im Simn Bolvar-Saal der SBB-PK der Fachöffentlichkeit vor; die knapp 100 Teilnehmer wurden zu Beginn der Präsentation durch Generaldirektorin Barbara Schneider-Kempf begrüßt. Zwei Jahre später, am Abend des 25. April 2007, luden der juristische Fachverlag de Gruyter Rechtswissenschaften Verlags GmbH und die Staatsbibliothek zu Berlin zu einer Präsentation der Datenbanken Entscheidungssammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (RGZ) bzw. Strafsachen (RGSt) in den Simn-Bolvar-Saal. Als Inhaberin des Sondersammelgebiets Recht verhandelte die SBB-PK den Status dieser Datenbanken als Nationallizenz, was den deutschlandweiten Datenzugriff für wissenschaftliche Zwecke ermöglicht. Nach einer Begrüßung durch den Ständigen Vertreter der Generaldirektorin der SBB-PK, Dr. Karl Werner Finger, folgte der Gastvortrag von Herrn Prof. Dr. Werner Schubert, Christian-Albrechts-Universitt Kiel: Die Entscheidungssammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (RGZ) und ihre Bedeutung fr das Zivilrecht im 20. und 21. Jahrhundert. Es schlossen sich an ein Grußwort Klaus G. Saurs und eine Datenbankvorführung durch Herrn Dr. Michael Schremmer, Geschäftsführer der de Gruyter Rechtswissenschaften Verlags GmbH.

Der Weg in die Unendlichkeit… Irgendwann in seinem Neu-Berliner Leben zog das schöne Wort „unendlich“ als Lieblingsterminus in den Saur’schen Wortschatz ein. Alles war plötzlich, in Laudationes und Nachrufen, in Vorträgen und Telefonaten: „unendlich“. Der X hatte unendlich viel publiziert, der Y sich unendlich viele Verdienste erworben und der Z unendlich viele hohe Auszeichnungen empfangen. Wir wissen es: Mit der Unendlichkeit der anderen war stets latent auch die eigene Unendlichkeit mitgemeint. Zurecht! Mit Klaus G. Saur haben wir noch unendlich viele Pläne, so wie auch er sich hoffentlich mit unendlich vielen Vorhaben weiterhin für die Staatsbibliothek verwenden wird…. – genug! Heute sei gegrüßt und gedankt und das Beste gewünscht, unendlich viele Male. Barbara Schneider-Kempf und Martin Hollender

Lob des Verlegers Klaus G. Saur An Buch-Verlegern hat es im guten alten West-Berlin quantitativ nie gemangelt, an großen Verlegern schon eher. Daran änderte sich im „neuen“, wieder vereinten Berlin nichts Wesentliches – schon gar nicht im Hinblick auf merkantil wirklich erfolgreiche Verleger in großen Verlagen. Das hat Gründe, die historisch mit dem Aderlass nach 1945 und der zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Verlagsstandorts zusammenhängen. Das hat aber auch mit dem Verlust an „echten“ Verlegerpersönlichkeiten in unserer Gegenwart zu tun. Da unterscheidet sich Berlin kaum von anderen Verlagszentren. Die Meßlatte für den erfolgreichen Verleger hat vor 210 Jahren kein geringerer als Immanuel Kant in seinem „Zweiten Brief“ an „Herrn Friedrich Nicolai“ sehr hoch gelegt: „Ein erfahrner Kenner der Buchmacherei wird als Verleger nicht erst darauf warten, dass ihm von schreibseligen, allerzeit fertigen Schriftstellern ihre eigene Ware zum Verkauf angeboten wird; er sinnt sich als Direktor einer Fabrik die Materie sowohl als die Facon aus, welche mutmaßlich […] die größte Nachfrage oder allenfalls auch nur die schnellste Abnahme haben wird […].“

Genau genommen hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Hauptstadt nur ein Mann dieses strenge Anforderungsprofil erfüllt – und der musste ausgerechnet in seinen reifen Jahren aus München nach Berlin kommen. Klaus G. Saur, der Altmeister aus der rar gewordenen Spezies der klassischen Buchverleger, hat es in „Parvenuepolis“ Berlin allen gezeigt: mit Geschick, List und unerschütterlicher Beharrlichkeit, mit rhetorischer Urgewalt, nie versiegender Überredungskraft, als begnadeter Menschenfänger und -vernetzer, als charmanter Gastgeber im Schleiermachschen Verständnis des „geselligen Betragens“. Klaus G. Saur hat Berlin erobert wie einst Käsebier den Kurfürstendamm. Er hat alle gewichtigen (Wissenschaftler-) Autoren, Freunde, Prominente, die er haben wollte, bekommen, ja erlegt und an sich gebunden und ganz nebenbei einen der traditionsreichsten Wissenschaftsverlage Europas saniert und gewinnbringend erweitert. Klaus G. Saur ist Unternehmer im Sombartschen Sinne: ein Conquistador, Kommunikator, Händler, ein Lebens- und Menschenkundiger. Nach solchen Pionieren hat Berlin immer gedürstet, von solchen Protagonisten kann auch die Metropole

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des 21. Jahrhunderts nicht genug bekommen. Bildung, Kultur und Geschäftssinn waren stets die verlegerischen Kardinalstugenden. Klaus G. Saur lebt es vor – mit allen höheren Weihen des großen Immanuel Kant versehen: „Der, welcher in Fabrikationen und Handel ein mit der Freiheit des Volkes vereinbares öffentliches Gewerbe treibt, ist allemal ein guter Bürger; es mag verdrießen, wen es wolle.“

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Entrepreneur und Enzyklopädist Klaus Gerhard Saur ist zunächst ein Phänomen: Sein kulturelles Wissen ist enzyklopädisch und ebenso unübertroffen wie seine detaillierte Kenntnis des Buchhandels. Mehr noch: Saur ist so etwas wie das Gedächtnis der Branche. Kein Wunder bei einem Menschen, der bereits mit 17 Jahren ins Verlagsgeschäft einstieg und sich systematisch ins Büchermachen und -verkaufen einarbeitete und nach und nach die Sprossen der Karriereleiter erklomm, die ihn bis an die Spitze von Walter de Gruyter führte. Wer mit Klaus G. Saur spricht, mit ihm telefoniert, wird nicht ohne eine neue Anekdote, ohne ein Privatissimum in Buchhandelsgeschichte, ohne eine Ferndiagnose der oder jener Branchenpersönlichkeit, die gerade für eine Führungsaufgabe im Gespräch ist, in den Alltag entlassen. So erfährt man etwa – wenn man bei der Frage, wer denn der erste Verleger gewesen sei, passen muss –, dass Cicero wohl der erste war, der seine Schriften verlegen ließ – von seinem Freund Pomponius Atticus, der die Schriften des Rhetors von einer vielköpfigen Sklaventruppe kopieren ließ und anschließend verbreitete. Nicht minder beeindruckend sind die Redner-Auftritte, mit denen Saur selbst brilliert: Wer etwa in Leipzig seine frei gehaltene Laudatio auf die 21. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie mitverfolgen durfte, war fasziniert von der Eleganz und Präzision der Darstellung. Doch in Saur nur den Enzyklopädisten der Branche zu sehen, greift zu kurz. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn in Berlin zeigte sich der gebildete Verleger vor allem als Kaufmann und Diplomat. Nach dem Verkauf des von ihm 1966 übernommenen väterlichen Verlags (Verlag Dokumentation; 1978 in K. G. Saur Verlag umbenannt) im Jahre 1987 an den Konzern Reed Elsevier, der K. G. Saur dann an die Thomson Corporation weiterveräußerte, hatte Klaus G. Saur genügend Kapital zur Verfügung, um in einem anderen Haus mit Rang und Namen einsteigen zu können. Die Gelegenheit kam, als er 2003 von seinem Geschäftsführerposten bei K. G. Saur, den er über den Verkauf hinaus innegehabt hatte, zurücktrat. Als profundem Kenner der Verlagsgeschichte war Saur natürlich bewusst, dass es in Deutschland nur ein Haus mit geisteswissenschaftlichem Schwerpunkt gibt, das wegen seiner Größe und seines Profils im weltweiten Konzert der Wissenschaftsverlage eine überragende Rolle

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spielen könnte: Walter de Gruyter in Berlin. Ob es allein Instinkt war, oder auch Kalkül – es dauerte jedenfalls nicht lange, bis Saur die Geschicke des Berliner Traditionshauses in die Hand nehmen konnte. Nachdem es längere Zeit in der Unternehmensführung gegärt hatte, und Mitgesellschafter Hans-Robert Cram aus der Geschäftsführung ausgeschieden war, wurde Klaus G. Saur im August 2004 in den Beirat von de Gruyter berufen. Schon drei Monate später stand fest, dass er zum 1. Januar 2005 als geschäftsführender Gesellschafter und Vorsitzender in die Geschäftsführung von Walter de Gruyter eintreten würde. Damals bekannte er, dass ihn „de Gruyter als einer der traditionsreichsten, unabhängigen deutschen Wissenschaftsverlage immer fasziniert“ habe. Auf Grund seines ungewöhnlich breiten Rechtefundus und seiner international anerkannten Reputation habe der Verlag eine hervorragende Chance für die Zukunft. Blickt man auf die Zeit zurück, die Klaus G. Saur in der Geschäftsführung des Verlags nutzen konnte, so sind nicht einmal vier Jahre vergangen, in denen Saur diese Chance realisiert hat. Zwei entscheidende Dinge waren es, mit denen der Verleger die Zukunft des Verlagshauses an der Genthiner Straße maßgeblich beeinflusst hat: der (Rück-)Kauf der Verlage K. G. Saur und (in dessen Schlepptau) Max Niemeyer im Sommer 2006 von der Thomson Corporation, die sich aus dem verlegerischen Geschäft in Deutschland zurückgezogen hatte, und die konsequente Digitalisierung der Substanzen des Verlags. Der Anteil der elektronischen Publikationen am Verlagsprogramm ist enorm gestiegen, und es erscheint kein Buch oder Nachschlagewerk von Bedeutung, das nicht zugleich als E-Book angeboten wird. Jüngstes Beispiel ist das vollkommen neu bearbeitete Killy Literaturlexikon, das zugleich als elektronisches Buch herauskommt. Mit dem Kauf des K. G. Saur landete Klaus Gerhard Saur aus verlegerischer Sicht einen Coup, kaufte er doch den Verlag, der ihm einst selbst gehörte und dessen Innenleben er aus fast vier Jahrzehnten eigener Anschauung kannte – die beste Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration. „Es war gewissermaßen die perfekte Maulwurftechnik, weil ich alles von der ,Gegenseite‘ wusste“, hat Saur stolz und leicht verschmitzt in einem Interview bekannt. Mit der Übernahme holte er sich zugleich das elektronische Know-how ins Haus, das man bei de Gruyter für die weitere Digitalisierung benötigte. Durch den Zukauf, der auch den Max Niemeyer Verlag – und damit den einzigen nennenswerten Konkurrenten vor allem auf dem Gebiet der Germa-

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nistik – mit einbrachte, hat Saur zudem einen geisteswissenschaftlichen Verlag geschaffen, der im weltweiten Geschäft mitspielen kann. Kein anderes deutsches Verlagshaus mit einer vergleichbaren Ausrichtung kommt auf einen ähnlich hohen Umsatz oder wäre ähnlich international vernetzt. Die Übernahme der beiden Verlage von Thomson (der Kaufpreis lag weit unter der einstmaligen Verkaufssumme) bedeutete zugleich, dass Walter de Gruyter zum größten geisteswissenschaftlichen Verlag in Kontinentaleuropa avancierte – mit einem Umsatz, der 2007 die 40-Millionenmarke überschritt. Zum Vergleich: 2006, vor der Übernahme von K. G. Saur, waren es nur 21 Millionen. Nur die Oxford University Press ist dank ihrer Verbreitung in den Commonwealth-Staaten erheblich größer. Doch Berlin bescherte Saur nicht nur den Glanzpunkt seiner verlegerischen Laufbahn, sondern brachte ihn auch dem politischen Leben – dem Zentrum der Macht – näher. Der Verleger pflegt nicht nur Kontakt zu Kollegen, sondern auch zu kulturellen Institutionen, zu Wissenschaftsorganisationen und zu Parlamentariern und Personen des öffentlichen Lebens wie dem Altbundespräsidenten Richard v. Weizsäcker, der auch unter den Gästen Klaus G. Saurs war und seine Arbeit entsprechend gewürdigt hat. Saur verstand es (und versteht es), für das Verlegerische öffentliche Aufmerksamkeit herzustellen. Jede einigermaßen bedeutende Buchpremiere hat Saur während seiner Berliner Zeit in ein Event verwandelt, an der die Medien und manchmal auch politische Prominenz nicht vorbeikamen – ob es sich um den bereits erwähnten Killy handelt oder die ersten drei Bände der „Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten (EGW)“, die in der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften präsentiert wurden. Die Außenwirkung solcher Ereignisse ist nicht zu unterschätzen: Sie steigert nicht nur die Reputation des Verlags, sondern ruft der Öffentlichkeit ins Bewusstsein, wie wichtig die verlegerische Arbeit für die Wissenschaft und damit für die gesamte Gesellschaft ist. Sie macht zugleich bewusst, dass überzogene populistische Forderungen nach Open Access der Wissensvermittlung irgendwann den Boden entziehen – denn wer, wenn nicht Verlage wie Walter de Gruyter, sollen die kritische Prüfung von Inhalten leisten und für deren Qualität einstehen? Als Lobbyist und Diplomat hat Klaus G. Saur also immer wieder für die Buchbranche geworben, die zunehmend zwischen die Mühlsteine verschiedener Interessen zu geraten droht: beim Urheberrecht wie bei der Preisbindung, die Wettbewerbshütern etwa in der Schweiz ein Dorn im Auge ist. Gleichzeitig stellt sich Saur – hier durchaus visionär –

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den Herausforderungen des Internet-Zeitalters, die manche Revision verlegerischer Grundpositionen notwendig macht, gerade bei elektronischen Publikationen, die international vertrieben werden und nicht mehr allein nationalstaatlichen Prinzipien gehorchen. Saur sieht die „Digitalisierung und ,Onlinisierung‘ aller Zeitschriften und Bücher als die größte Aufgabe“, die de Gruyter zu bewältigen hat. Um hier im weltweiten Wettbewerb um (Bibliotheks)-Kunden mithalten zu können, hat der Verlag noch unter seiner Ägide eine Plattform eingerichtet, auf der alle digitalen Produkte von de Gruyter angeboten werden: „Reference global“ (www.reference-global.com). Wie kaum ein zweiter Verleger repräsentiert Klaus G. Saur die beiden Seiten des Verlagsgeschäfts: unternehmerisch tätig zu sein und gleichzeitig den kulturellen Beitrag des Büchermachers zu leisten. Nach seinem Ausstieg aus der Geschäftsführung kann sich Klaus Gerhard Saur fortan seinen zahlreichen Ehrenämtern und Mandaten in Aufsichtsräten (wie dem des Bibliographischen Instituts & F. A. Brockhaus) und Kommissionen (unter anderem als Vorsitzender der Historischen Kommission des Börsenvereins seit 1996) widmen. Und so wird man dem Netzwerker und unermüdlichen Anreger immer wieder in der Branche begegnen. Saurs Rat wird gefragt sein. Auch beim verlegerischen Nachwuchs: Demnächst wird Saur, der als Honorarprofessor an der Humboldt-Universität Berlin lehrt, zum ersten Mal Doktorvater. Alexander Skipis

Qui Vive Man sollte schon sehr auf dem Qui Vive sein, wenn man sich mit Klaus G. Saur verabredet. Man hat die passende Formulierung der Antwort seiner ersten Fragen noch nicht fertig, da kommt schon die nächste Feststellung, die es zu entkräften oder zu bestätigen gilt – besser Letzteres. Sieht man sich die Liste seiner selbst übernommenen Aufgaben, die er mit Bravour – vor allem in den Verlagen – nach genau durchdachtem Plan mit hoher Geschwindigkeit erfolgreich durchführt – wobei er von seiner Umgebung ein ähnliches Tempo erwartet – und die Vielzahl, der ihm angetragenen Ehrenämter, die von ihm gewissenhaft und streitbar wahrgenommen werden, dann versteht man gut, dass für Überflüssiges kaum Zeit besteht und die bewusste Eile der Selbsterhaltung und der Sache dient. Zu Klaus G. Saur passt, dass er zwei Wohnsitze hat – München und Berlin. Diese beiden sich immer wieder, einmal weniger einmal mehr ernsthaft, als Gegensätze empfindenden Zentren vereinigt Herr Saur in sich in vollkommener Weise, wobei die Mehrzahl seiner Eigenschaften wohl besser zur Hauptstadt passen, insbesondere seine Schlagfertigkeit und seine Redegabe. Von dem französischen Schauspieler Talma erzählt man, er sei in der Lage gewesen, lediglich mit dem Vortragen des ABC sein Publikum zum Lachen oder Weinen zu bringen. Ähnlich in den Bann ziehen kann Klaus G. Saur seine Zuhörer, wenn er Lobes- oder Dankesreden auf seine Freunde, wenn er zu Sachthemen frei vorträgt oder gar auch nur bedeutende Männer und Frauen aus Politik, Wirtschaft, Kunst willkommen heißt. Da wird nicht belehrt und bekehrt, da werden viel mehr die Zuhörer auf elegante und unterhaltsame Weise informiert. Es entsteht, was so selten ist, schnell eine Einheit zwischen ihm, dem engagierten Redner, und dem aufmerksam lauschenden Publikum. Nicht zu lang und nicht zu kurz, der brillante Vortrag zeigt die Durchdringung des Gesagten. Man folgt gespannt und wird nicht enttäuscht, es sei denn, die Rede fällt kürzer aus als vermutet. Personen und Sachverhalte werden direkt angesprochen und mit einer guten Mischung aus Analyse und Charme – mitunter auch mit Ironie – dem Publikum nahe gebracht. Zu Hilfe für den rhetorischen Erfolg kommt

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Herrn Saur wohl seine Unlust, laut vorzulesen, ein glücklicher Umstand. Die vielen Auszeichnungen, sozusagen „mult.“ in jeder Hinsicht, bestätigen ihm die Anerkennung derer, für die er sich mit oder ohne Lohn engagiert – immer ein Mann des gesprochenen und gedruckten Wortes, fast immer seinem Gegenüber mindestens einen Gedanken voraus, ihn oder sie – und letztere mit noch größerem Charme – völlig für sich einnehmend. Friedrich-Leopold Freiherr von Stechow

Elite-Universitäten – wieder entdeckt und missverstanden 1. Neun deutsche Universitäten können sich mit dem Etikett „Eliteuniversitt“ schmücken. Schon seit 2006 waren es die beiden Mnchener und die Universität Karlsruhe; im Herbst 2007 sind dazugekommen Aachen, Heidelberg, Freiburg, Konstanz, Gçttingen und die Freie Universitt Berlin. Sie mussten je ein Exzellenzcluster, das ist ein Forschungsverbund größeren Stils, und im Rahmen der Doktorandenförderung eine Graduiertenschule aufweisen, um dann mit einem guten Zukunftskonzept andere auszustechen. Zweifellos hat der Wettbewerb zu großen Anstrengungen in den Universitäten geführt und viele Kräfte mobilisiert. Der Erfolg war abhängig von der Qualität von Antrgen, nicht von bereits erbrachter wissenschaftlicher Leistung. So hat denn der frühere Präsident der DFG und MPG, Hubert Markl, das Verfahren gegeißelt, indem er davon gesprochen hat, dass die „zeitgeistschlüpfigsten Anträge“ honoriert worden sind. Die Folgen sind gravierend. Die einen werden hochgejubelt, die andern gehören zum „Rest“. Dabei ist der Begriff „Eliteuniversität“ von den die Entscheidung tragenden Institutionen, Deutsche Forschungsgemeinschaft und Wissenschaftsrat, nie offiziell verwendet worden. Er wurde Anfang 2004 von der damaligen Bundesministerin Bulmahn im Zusammenhang mit der Absicht ins Spiel gebracht, eine sog. Elite- oder Spitzenuniversität neu zu gründen. Dieser unrealistische Vorschlag hatte sich schnell erledigt, nicht aber der Begriff. Bund und Länder einigten sich schließlich, „bis zu zehn“ Universitäten besonders zu fördern. Es ist müßig, u. a. die Presse dafür verantwortlich zu machen, dass der Begriff „Eliteuniversität“ jetzt landesweit gebraucht wird. Einen ernsthaften Versuch, das praktizierte Förderverfahren mit einem eigenen, treffenden Terminus zu belegen, hat es seitens der Entscheidungsgremien nicht gegeben. Die Benennung von neun Universitäten, die in allen drei Förderstufen erfolgreich sind, hat nicht nur unmittelbare finanzielle Folgen, indem jede fünf Jahre lang jeweils rund 21 Millionen Euro erwarten darf, sondern wirkt sich auch im Hinblick darauf aus, dass Drittmittelgeber ihre Unterstützung an den Elitestatus knüpfen. Die çffentliche Wahrnehmung konzentriert sich ganz wesentlich auf die Ausgewählten. Von

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den Endrundenteilnehmern beider Jahre waren nicht erfolgreich die Humboldt-Universitt zu Berlin, Bochum, Bremen, Wrzburg, und Tbingen. Diese fünf haben offenbar lediglich nicht so überzeugende Zukunftskonzepte vorgelegt. Ansonsten lagen sie mit den Gewinnern gleichauf. Universitäten, die nicht die Endrunde erreicht haben oder gar nicht in dieser dritten Förderlinie angetreten sind, können ebenfalls bewilligte Cluster und Schulen vorweisen. Im Wissenschaftsbetrieb ist es gang und gäbe, dass Hochschulen mit Anträgen scheitern und andere Erfolg haben. Daran knüpfen sich regelmäßig aber nicht solche Effekte wie bei der Entscheidung über die Zukunftskonzepte. Es wirkt schon wie ein Fallbeil, wenn konkurrierende Einrichtungen entweder in den erlauchten Kreis gelangen und ihnen in der Öffentlichkeit das Etikett Elite angeheftet wird und andere insoweit leer ausgehen. Immerhin haben elf weitere Universitäten sowohl ein Forschungscluster als auch eine Graduiertenschule bewilligt bekommen: Kiel, TU Berlin, Med. Hochschule Hannover, Bielefeld, Bonn, Giessen, Dresden, Darmstadt, Saarbrcken, Erlangen und Stuttgart. Weitere 12 waren wenigstens in einer der Förderlinien erfolgreich: Lbeck, Hamburg, Hannover, Mnster, Kçln, Leipzig, Jena, Frankfurt/Main, Mainz, Bayreuth, Mannheim, Ulm. Manche Fächer segeln bei den Siegern im Windschatten mit. So z. B. bei der Universität Karlsruhe die dort vertretene Betriebswirtschaftslehre. Ohne den Vertretern dieses Faches zu nahe treten zu wollen: es besteht wohl kein Zweifel, dass die Nachbar-Universität Mannheim die bekanntere, nach allgemeiner Einschätzung auch leistungsfähigere Fakultät hat. Mannheim aber hatte wegen der nicht gegebenen Größe überhaupt keine Chance, in den Kandidatenkreis zu gelangen. Beim Ranking von Universitäten, also dem Versuch, die Leistung zu messen, sind sich alle ernst zu nehmenden Experten einig, dass ein Urteil über ganze Universitäten nicht abgegeben werden kann, weil sie zu heterogen sind, was Größe, Fächervielfalt und Rahmenbedingungen angeht. Deshalb sind seriöse Aussagen nur möglich, indem Fächer verglichen werden. Beim Exzellenzwettbewerb allerdings entsteht der Eindruck, man könne Universitäten als Ganze vergleichen und beurteilen. Die Folge ist, dass Fcher, die nur eine mittlere Qualitt aufweisen, u. U. als Trittbrettfahrer einer sog. Elite-Universitt mitreisen. Andererseits verlieren besonders gut vertretene Fcher an Universitten, die nicht jenes Etikett tragen, an Bedeutung, selbst wenn sie in der Konkurrenz um Cluster und Schulen erfolgreich waren. Aber selbst Universitäten, die in den Listen mit Forschungsclustern und Graduiertenschulen nicht erscheinen, zeichnen

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sie sich durch Schwerpunkte und zum Teil hervorragende Disziplinen aus. Auch auf die Attraktivitt deutscher Universitäten im Ausland hat die Entscheidung Einfluss. Wenn man schon nach Deutschland geht, soll es eine der Elite-Universitäten sein. So berichten jedenfalls Experten, die mit der Bewerbung besonders befähigter ausländischer Studierender befasst sind. Nicht das Fach, die Institution macht insoweit die Attraktivität aus. Das mag in anderen Ländern ähnlich sein, also z. B. bei den Spitzenuniversitäten in den USA. Nur gibt es einen gravierenden Unterschied. Kein Gremium hat Harvard oder Berkeley zur Eliteuniversität ernannt; sie sind es dank der an ihnen vertretenen Fächer in einem über Jahrhunderte dauernden Prozess geworden. Bei uns wird ernsthaft erwogen, nach dem Muster der Bundesliga, Abstieg und Aufstieg zu regeln. Die Universität Freiburg könnte es dem dort ansässigen Fußballklub nachmachen und immer mal wieder ab- und aufsteigen; Hamburg könnte dem HSV nacheifern, und Verfolger der Münchner Universitäten werden wollen. Bei einem „Abstieg“ würde die entsprechende Einrichtung dann das Gütesiegel verlieren. Dass Fachbereiche wegen der wechselnden Qualitt ihres Personals Schwankungen in der Bewertung unterliegen, ist natürlich. Aber es sind Vertreter von Fachdisziplinen, die Ansehen und Qualität ausmachen. Deshalb ist es falsch, bei der Bewertung nicht dort anzusetzen, sondern zu glauben, man könne ganze Institutionen benoten. Im Grunde ist das Verfahren, das in Deutschland zur Identifizierung von Spitzenuniversitäten gewählt worden ist, ein Beispiel von Planwirtschaft: es wird eine bestimmte Zahl (bis zu zehn) vorgegeben und dann in einem problematischen Verfahren festgelegt, welche Einrichtungen das sind. Dabei wird vieles, was an nicht berücksichtigten Universitäten mit hoher Qualität aufgebaut worden ist, übersehen. Solche Nebenwirkungen richten auf jeden Fall Schäden an. Zu befürchten ist folgende Entwicklung: für fünf Jahre ist die Förderung von neun Universitäten festgeschrieben. In der Zeit wird eine Verfestigung des Eindrucks entstehen, dass es sich hier um besonders unterstützungswürdige und qualitativ herausragende Institutionen handelt. Dafür werden sie auch selbst durch entsprechende Werbung ihren Beitrag leisten. Unabhängig davon, ob die finanzielle Sonderstellung aufrecht erhalten bleibt, wird jedenfalls eine Kluft zu den anderen, dem überwiegenden Teil der Universitäten entstehen. Das entspricht auch durchaus manchen bildungspolitischen Vorstellungen, die nur nicht öffentlich geäußert werden: Es genüge doch, wenn Deutschland eine

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kleinere Zahl von Hochschulen habe, die weltweit vor allem in der Forschung als erstklassig anerkannt wären; daneben könne die große Zahl in erster Linie Lehraufgaben wahrnehmen, nicht zuletzt, um die anstehenden geburtenstarken Jahrgänge zu bedienen. (Man rechnet mit einem Anstieg der Zahl der Studierenden von derzeitig rund 2 Millionen auf 2,5 bis 2,7.) Dabei würden die Unterschiede zwischen den so „abgewerteten“ Universitäten und den Fachhochschulen weiter eingeebnet. 2. Der Begriff Elite wird im Übrigen in einem sehr eingeschrnkten Sinn gebraucht. An einer Institution, die eine solche Bezeichnung verdient, sollten nur die besten ihres Fachs versammelt sein. Ob unter solchen Aspekten an den Universitäten, die das Rennen gemacht haben, in der Vergangenheit stets berufen worden ist, mag man bestenfalls unterstellen. Auf jeden Fall befinden sich dort nicht nur die leistungsstärksten Studierenden. Solange die Fakultäten nicht sämtliche Bewerber nach von ihnen gesetzten Maßstäben auswählen und eine Zulassung notfalls per Gericht erstritten werden kann, wird die Studierfähigkeit unterschiedlich sein. Daneben gibt es weitere Elemente, die insbesondere beim Vergleich mit den Spitzeneinrichtungen in den USA auffallen. Das ist der Gesamteindruck was Ordnung und Sauberkeit angeht. Wenn Schmierereien und Müll als tolerierbare Zeichen von Subkultur verstanden werden, fehlt wohl doch ein Grundverständnis. Solche Nachwehen eines Geistes, der den sog. 68er zugeschrieben wird, sind an manchen Orten immer noch zu besichtigen. Gewiss kann man der Haltung etwas abgewinnen, dass bestimmte „alte Zçpfe“ abgeschnitten werden mussten. Darunter versteht man Äußerlichkeiten wie Kleidung, Umgangsformen usw. Soweit verstaubte Regeln einer gewissen Lässigkeit Platz gemacht haben, mag man das begrüßen; zu oft aber begegnet man statt Lässigkeit purer Nachlssigkeit. Das tritt in Erscheinung im Außerachtlassen zivilisierter Umgangs- und Verhaltensweisen, nicht selten Folge mangelnder Erziehung. Es muss in der Universität nicht so zugehen wie auf dem Kasernenhof, aber es kann auch nicht so sein, dass jeder macht, was er will. Von manchen Mitgliedern der Universitäten ist auch nicht erkannt, dass eine corporate identity und das Bekenntnis der Mitglieder zu „ihrer“ Universität zu dem gehört, was eine Eliteeinrichtung ausmacht. Elite fordert mehr als Forschungscluster und Graduierten-Schulen.

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3. Nicht zuletzt, weil die kleinen Hochschulen bei dem Exzellenzwettbewerb in Vergessenheit zu geraten drohten, hat der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft zusammen mit der Heinz-Nixdorf-Stiftung den Preis „Profil und Kooperation“ ausgelobt.. Der Wettbewerb, eine Art Exzellenzinitiative fr die Kleinen, soll ihnen dabei helfen, Gebrauch von ihren Stärken zu machen, damit sie in der härter werdenden Konkurrenz um Studenten und Forschungsgelder bestehen können. Allerdings wird nicht Exzellenz in der Forschung prämiert, sondern es sollen exzellente Strategien zum berleben unterstützt werden. 64 Teilnehmer, darunter viele Fachhochschulen, haben ihre Zukunftskonzepte beim Stifterverband eingereicht, elf von ihnen kamen in die Endrunde. Die fünf Sieger erhielten jeweils 400 000 Euro, verteilt auf zwei Jahre. Die Initiative des Stifterverbandes belegt das Unbehagen über die Exzellenzinitiative, die vor allem große Forschungsverbünde (Cluster) und die Natur- und Ingenieurwissenschaften bevorzugt. Die Geisteswissenschaften, vor allem die sog. kleinen Fcher, auch Orchideenfächer genannt, bleiben weitgehend auf der Strecke. Sie sind zum Teil auch gar nicht „clusterfähig“. Oft ist es ein einzelner Wissenschaftler, der Weltruhm genießt und die Reputation des Faches bestimmt. In solchen Fällen erweist sich die Exzellenzinitiative als Dampfwalze. 4. Die neun mit dem Gütesiegel versehenen Universitäten liegen in fnf Bundesländern: Bayern (2), Baden-Württemberg (4), NordrheinWestfalen (1), Niedersachsen (1) und Berlin (1). Elf Länder sind leer ausgegangen. Da verwundert es, dass kein Protest von den Ministerprsidenten ausgegangen ist, in deren Länder keine Universität den begehrten Status erlangen konnte. In der ersten Runde hat es durchaus Proteste gegen das Verfahren gegeben, die aber zu keiner Änderung des Ergebnisses geführt haben. Nun könnte man meinen, dass dann wohl die Einsicht überwogen habe, die Entscheidungen seinen richtig. Das aber trifft nicht zu. „Unter der Decke“ rumort es gewaltig. Offen aber mag sich keiner äußern, einmal weil es als gegen Qualität gerichtet verstanden werden könnte, wenn man die Honorierung von Exzellenz kritisiert, zum anderen aber auch, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, man sei ein schlechter Verlierer. Beispiele, wie man sich aus der Affäre zieht, sind die Überlegung in Hessen, der Universität Frankfurt einen Sonderstatus zu geben und sie damit aus der Konkurrenz zu nehmen, und in Berlin (wegen des schlechten Abschneidens der Humboldt-Universität), wenn schon keine sog. Super-Universitt durch Zusammenführung besonders leistungsfähiger Bereiche aus den vor-

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handenen zu gründen, so doch wenigstens eine Stiftung mit ähnlicher Zielsetzung zu errichten. Alles Zeichen der Unzufriedenheit und der begründeten Kritik an einem problematischen Verfahren. 5. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Wissenschaftsrat haben sich im Juli 2008 dahin geäußert, dass die Exzellenzinitiative über 2011 fortgefhrt werden soll, und zwar mit der Struktur der drei Säulen Graduiertenschulen, Forschungscluster und Zukunftskonzepte. In den ersten beiden Förderstufen sind insgesamt 39 Graduiertenschulen und 37 Forschungscluster bewilligt worden. Während man gegen die Fortsetzung der Förderung der ersten beiden Vorhaben keine prinzipiellen Bedenken haben muss, begegnet die Fortführung der dritten Förderstufe nicht nur Zweifeln. Sie ist kontraproduktiv und damit falsch. Niemand wird ernsthaft behaupten, dass eine der bisher ausgezeichneten Universitäten in allen vertreten Disziplinen erstklassig ist und dass nicht anderenorts bestimmte Fächer besser aufgestellt sind. Niemand kann ernsthaft versuchen, ganze Universitäten miteinander zu vergleichen; dazu sind sie in Größe, Fächerstruktur und Ausrichtung zu unterschiedlich. Und schließlich: niemand sollte ernsthaft davon ausgehen können, dass die neun mit der Marke der Exzellenz dekorierten sich bis 2011 so weit von den anderen rund 85 Universitäten abgesetzt haben, dass die Kluft unberbrckbar sein wird. Wie also soll es weiter gehen? Eine Möglichkeit ist, dass man sich darauf einigt, eine feste Zahl („bis zu zehn“ lautete die Einigung von Bund und Ländern) zu fixieren. Dann müssten, damit die Zukunftskonzepte andere Universitäten honoriert werden können, einige von den neun „absteigen“ oder „down gegradet“ werden, wie gelegentlich von ansonsten sich bei Sinnen befindlichen Mitmenschen verlautet. Eine solche Methode aber würde genau das konterkarieren, was man erreichen möchte, nämlich mittelfristig eine Positionierung einiger Universitäten unter den in der Welt führenden Einrichtungen. Damit verträgt sich nicht das Prinzip der Fußball-Bundesliga mit Auf- und Abstieg. Sollen denn womöglich die neun Sieger oder eine kleinere Anzahl besonders gepäppelt werden, um jenes Ziel erreichen? Will man die Fixierung verstetigen? Das wäre angesichts des problematischen Verfahrens und der daran auch von politischer Seite geübten Kritik im Grunde unvertretbar. Es dürfte wohl auch kaum durchsetzbar sein, fühlen sich doch die Universitäten im Norden und in den neuen Lndern unter Wert

Elite-Universitäten – wieder entdeckt und missverstanden

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geschlagen. Und schließlich wachen dort Ministerpräsidenten darüber, dass ihren Schutzbefohlenen kein Leid geschieht. Wird es also zu einer Erweiterung des Kreises der sog. Eliteuniversitäten kommen? Das muss nicht so weit gehen, dass jedes Land mindestens eine mit diesem Etikett hat. Aber auch eine nur moderate Ausweitung auf vielleicht insgesamt 12 bis 15 zeigt die Absurdität des Verfahrens und einer solchen denkbaren Entscheidung auf. Gemessen an dem, was vor allem in der anglo-amerikanischen Welt als Elite angesehen und bezeichnet wird, könnten hierzulande wohl drei bis fnf Einrichtungen mithalten, allerdings nicht beim status quo. Dann bedürfte es einer Konzentration der besten Fachvertreter an nur wenigen Plätzen. Selbst wenn einige der neun mit dem Gütesiegel versehenen Hohen Schulen versuchen wollten, ihre vielleicht etwas schwächeren Disziplinen durch Abwerbungen von anderen Orten aufzumotzen, der Erfolg wird nicht im Handumdrehen eintreten. Eine solche Entwicklung würde auch zu deutlich das sein, was sonst vehement abgelehnt wird, nämlich eine verkappte Form der Planwirtschaft: da werden einige Institutionen ausgewählt, mit finanziellen Mitteln bevorzugt und so in die Lage versetzt, einen natürlichen Wettbewerb außer Kraft zu setzen. Das deutsche Universitätssystem hat seinen weltweit guten Ruf dadurch erworben, dass an verschiedenen Orten Exzellentes geleistet wurde. Diese Leuchttürme an unterschiedlichen Orten halten Zentralisten für ein Ergebnis von Kleinstaaterei, Befürworter für die segensreiche Konsequenz des Fçderalismus. Dass es dennoch dazu kommt, dass sich an einigen Plätzen mehr hervorragende Wissenschaftler ansammeln als an anderen ist kein Widerspruch. Aber dies sollte sich entwickeln, nicht durch eine Entscheidung über Zukunftskonzepte geschehen, die nichts anderes als noch nicht durchgeführte Vorhaben sind. In einem Prozess wird sich auch herausstellen, zu welchen Ergebnissen die beiden ersten Förderstufen führen. Werden die Graduiertenschulen und die Forschungsverbünde einen Zuwachs an Qualität mit sich bringen? Dort, wo u. a. das geschieht, wird sich auch die Reputation einstellen, wird der Anschluss an die international führenden Universitäten gelingen. Allerdings nicht durch formale Entscheidungen auf nationaler Ebene, wer „Spitze“ sein soll, sondern durch informelle Anerkennung der scientific community. George Turner

Reden und Handeln Gerne bekunde ich Klaus G. Saur anlässlich seines Ausscheidens aus der Geschäftsführung des de Gruyter Verlages einmal mehr meinen Respekt. Was er in den Jahren, in denen er an der Spitze dieses Verlages stand, geleistet hat, werden andere mit größerer Sachkunde würdigen, als sie mir zur Verfügung steht. Ich kann mich da nur anschließen und ergänzend bemerken, wie hilfreich und nützlich die von ihm in früherer Zeit in seinem eigenen Hause verlegten biographischen Handbücher auch heute noch sind. Das sage ich als einer, der jedenfalls von den Bundestagsabgeordneten, die er in zwei Bänden zusammengefasst hat, sehr viele persönlich kennt oder gekannt hat und deswegen die Präzision und Vollständigkeit der jeweiligen Angaben durchaus zu beurteilen vermag. Meine Kontakte zu Klaus G. Saur und meine Kooperation mit ihm beziehen sich auf ein anderes Feld – nämlich auf das der Erinnerungsarbeit. Beide wollen wir mithelfen, die Verbrechen des NS-Gewaltregimes, die Täter, die Opfer und diejenigen, die Widerstand leisteten, aber vor allem auch die Ursachen, die dorthin geführt haben, vor dem Vergessen zu bewahren. Und ebenso unterstützen wir auch die Bemühungen, die Erinnerung an die zweite Diktatur auf deutschem Boden wach zu halten. Nicht um Schuldkomplexe zu konservieren oder gelegentlich Betroffenheitsrituale zu zelebrieren. Sondern um den nachwachsenden Generationen vor Augen zu führen, wo es endet, wenn die Menschenwürde mit Füßen getreten, Grundprinzipien mitmenschlichen Zusammenlebens missachtet und einem bejubelten Führer in gotteslästerlicher Weise Allmacht und Allwissenheit zugebilligt wird. All das soll nicht noch einmal geschehen. Und darum wollen wir möglichst viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger dafür gewinnen, sich für die Wertordnung unseres Grundgesetzes zu engagieren und dem Wiederaufleben extremistischer Ideologien und Aktivitäten entgegen zu treten. Klaus G. Saur tut das, indem er entsprechende Initiativen in vielfältiger Weise unterstützt und sich gerade auch mit mir häufig darüber austauscht, was konkret geschehen kann und muss. Er gehört unter anderem schon lange dem Beirat der Stiftung „Weiße Rose“ an. Auch hilft er – um ein weiteres Beispiel zu nennen – der Vereinigung „Gegen

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Vergessen – Für Demokratie“, die von mir vor 15 Jahren zusammen mit anderen gegründet wurde und der er bereits vor langem als Mitglied beigetreten ist. Da ist mir immer wieder deutlich geworden: Er gehört zu denen, die aus der jüngeren Geschichte gelernt haben und bei dem Reden und Handeln übereinstimmen. Zu denen, die nicht wegsehen und weghören und die nicht warten, bis andere zu ihnen kommen und sie zur Mitwirkung einladen, sondern die selber aktiv werden. Dabei bringt er all sein Wissen, seine Erfahrungen und seine Fähigkeiten ein. Seine Eloquenz und seine Entscheidungsfreudigkeit zumal. Dafür bin ich ihm dankbar. Denn er ermutigt mich und andere immer aufs neue. Ich bin sicher, das wird auch in Zukunft zu bleiben. Hans-Jochen Vogel

Bibliothek soll Spaß machen! Bundespräsident Horst Köhler hat sich anlässlich der Wiedereröffnung der Anna-Amalia-Bibliothek im Oktober 2007 deutlich für ein gut funktionierendes Bibliothekswesen ausgesprochen: „…Bibliotheken … sind ein unverzichtbares Fundament in unserer Wissens- und Informationsgesellschaft. ….(Sie) sind weder ein Luxus, auf den wir verzichten könnten, noch eine Last, die wir aus der Vergangenheit mitschleppen: sie sind ein Pfund, mit dem wir wuchern müssen…“ Dieses ist in Zeiten knapper öffentlicher Mittel keine Selbstverständlichkeit. Denn das Öffentliche Bibliothekswesen ist leider auch sehr kostspielig, Möglichkeiten der Entlastung der Öffentlichen Hand durch Eigeneinnahmen und Einwerbung von Spenden sind vergleichsweise gering. Gerade für kleinere Kommunen stellt dieses eine erhebliche Belastung dar. In Deutschland gibt es ca. 11.500 Bibliotheken mit einem Bestand von insgesamt 345 Mio. Medien. Sie werden jährlich von mehr als 200 Millionen Lesern besucht, die 432 Mio. Medien ausleihen. Damit sind Bibliotheken die am stärksten genutzten Kultur- und Bildungseinrichtungen in Deutschland. Dieses ist kein Wunder, denn moderne Bibliotheken bieten eine Fülle an Anregungen, sich mit Informationen zu beschäftigen und Wissen anzueignen, das in unserer Gesellschaft unverzichtbar sind. Zu den Aufgaben des Öffentlichen Bibliothekswesens zählt die Ermöglichung des leichten Zugangs zu Informationen aller Art für jedermann, die Förderung von Informations- und Medienkompetenz und die Unterstützung des individuellen Lernens. Dabei spielt das Buch noch immer eine entscheidende Rolle, andere Medien sind daneben getreten und bilden eine sinnvolle Ergänzung. Bei der Erfüllung ihres Auftrags sind Bibliotheken ständig gefordert, auf gesellschaftliche Veränderungen und technische Entwicklungen zu reagieren. Dieser Auftrag endet jedoch schon lange nicht mehr bei qualifizierter Beratung und der Präsentation eines attraktiven Medienbestandes. Nein, die Bibliotheken müssen auch Sorge dafür tragen, dass es auch in Zukunft Menschen gibt, die ihren Wissensdurst stillen wollen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Zum einen müssen wir dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche schon möglichst früh und mit

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Lust mit Büchern in Kontakt kommen. Zum anderen müssen wir uns mit dem so genannten „Leseknick“ auseinandersetzen, einem Phänomen, das die Tatsache beschreibt, dass Jugendliche mit Beginn der Pubertät immer seltener zum Buch greifen. Lesen wird von den Jugendlichen weniger als attraktive Freizeitbeschäftigung geschätzt sondern eher mit Schule und damit häufig mit Zwang und Lustlosigkeit in Verbindung gebracht. Die gesellschaftliche Relevanz dieses „Leseknicks“ offenbart sich nicht erst in Verbindung mit den Ergebnissen der letzten PISA-Studie, die den Gymnasiasten in Deutschland erhebliche Defizite bei der Lesekompetenz attestierte. Besonders besorgniserregend war dieses Ergebnis durch die festgestellte enge Abhängigkeit von sozialer Herkunft und Bildungschancen, die sich auch bei der Lesekompetenz bestätigte. Dabei ist die Lesekompetenz doch eine zentrale Schlüsselkompetenz für Lernen, Wissensaneignung und Teilhabe am kulturellen Leben. Hier gegenzusteuern ist eine gesellschaftliche Aufgabe, bei der Elternhäuser, Kitas, Schule und alle weiteren Akteure vom frühen Kindesalter an gezielt zusammenarbeiten müssen. Die öffentlichen Bibliotheken haben dies vielerorts erkannt und hier einen Schwerpunkt ihrer Arbeit gesetzt. So gibt es z. B. in Hamburg seit Februar 2007 das Projekt „Buchstart“, das durch das englische Bookstart-Programm inspiriert wurde und ähnlich funktioniert wie die von der Stiftung Lesen durchgeführte Lesestart-Initiative. Mit Hilfe der Kinderärzte werden an alle Hamburger Kinder bei der U6 (der Regeluntersuchung für einjährige Kinder) Taschen mit zwei Bilderbüchern, Informationen zum Thema Lesen mit Kindern und Gutscheinen für die öffentlichen Bücherhallen verteilt. In Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf wurden zudem „Gedichte für Wichte“-Gruppen eingerichtet, in denen Eltern mit ihren Kindern Schüttelreime, Gedichte und Lieder kennenlernen und darüber hinaus Kontakte zu Nachbarn und Gleichgesinnten knüpfen können. Die Nachfrage nach diesen Gruppen übertrifft alle Erwartungen und ermutigt, über den Ausbau des Programms nachzudenken. Für ältere Kinder und Jugendliche gibt es neben dem dichten Netz von Stadtteilbibliotheken ein umfangreiches Kooperationsprogramm mit den Schulen, das inzwischen um Medienboxen für Kitas erweitert wurde. Außerdem wurde 2004 mit der Kibi eine zentrale Bibliothek nur für Kinder eingerichtet, in der die Bibliothekarinnen mit großem Erfolg neue pädagogische Ansätze entwickelten und testen, bevor sie von den Stadtteilbibliotheken übernommen werden.

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Ein zentrales Ziel ist es, auch die Jugendlichen als Leser zu halten und damit die Vorraussetzung für lebenslanges Lesen zu schaffen. Dies ist nicht einfach, denn mit dem erwähnten Leseknick geht auch ein „Bibliotheksknick“ einher. Für Hamburg bedeutet dieses, dass die Bücherhallen Hamburg bei den Kindern im Alter zwischen 5 und 13 Jahren noch gut ein Drittel zu ihren Nutzern zählen können, bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen hingegen nur noch 14 Prozent mit ihren Angeboten erreichen. Um hier gegenzusteuern, wurde im Dezember 2004 eine eigenständige Jugendbibliothek HOEB4U eröffnet. Das Konzept setzt bewusst bei den Freizeitinteressen von Jugendlichen an und bietet ihnen ein breites multimediales Angebot, das sie als Zielgruppe ernst nimmt und das vermittelt: Bibliothek macht Spaß! Hierfür steht in den sogenannten Zeisehallen, einer denkmalgeschützten ehemaligen Kulturfabrik, ein Experimentierfeld zur Verfügung, um Programme zu entwickeln, die Jugendliche besonders ansprechen. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass in der Bibliothek Räume mit besonderer Aufenthaltsqualität speziell für Jugendliche geschaffen werden und dass das (hochmotivierte) Personal sich in Weiterbildungsmaßnahmen und Workshops immer wieder neu mit den Ansprüchen und Erwartungen seiner Zielgruppe auseinandersetzt. Ein weiterer wichtiger Schritt, insbesondere im Zusammenhang mit der Veränderung von Schule hin zur Ganztagsschule, ist die Reform der Schulbibliotheken, also von Institutionen, die – nicht nur in Hamburg – in Deutschland bisher wenig entwickelt sind. Hierzu wird in Hamburg zur Zeit an einem Konzept gearbeitet. Ziel ist es, attraktive Schulbibliotheken zu schaffen, zu denen im Idealfall nicht nur die Schüler der jeweiligen Schule, sondern alle Kinder und Jugendliche aus dem jeweiligen Stadtteil Zugang haben. Die Einsicht ist vorhanden: Wir brauchen ein funktionierendes, attraktives Bibliothekswesen, das in der Lage ist, auf die Bedürfnisse gerade auch der Kinder und Jugendlichen zu reagieren. Dieses kann aber nur gelingen, wenn wir den Mut haben, bestehende Strukturen zu überdenken, übrigens auch in Fragen der Finanzierung. In Hamburg wurde das öffentliche Bibliothekswesen, traditionell getragen von der selbständigen Stiftung Hamburger Öffentliche Bücherhallen, gerade umfassend reformiert. Unter Einbeziehung der Prüfergebnisse des Rechnungshofes und den Empfehlungen einer externen Expertenkommission ist es der Bibliothekenleitung mit Hilfe aller Mitarbeiter gelungen, die Weichen für die Zukunftsfähigkeit der Bibliothek zu stellen.

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Dabei zeigte sich sehr deutlich, dass moderne Bibliotheksarbeit nicht allein an Kennzahlen wie Medienbestand, Öffnungsstunden oder der Anzahl der Bibliotheksstandorte gemessen werden kann und darf. Neben die klassische Bibliotheksarbeit sind zunehmend neue Angebotsformen wie Internet, E-Medien, Kooperationen mit Schulen, Kitas, Stadtteilkulturzentren und ehrenamtlichen Medienbringdiensten getreten. Bei all’ dem brauchen wir aber auch ein verändertes Bewusstsein bei Politikern und Bürgern, denn Bibliotheken sind nicht nur eine für viele selbstverständliche Infrastruktureinrichtung, sondern ein Schatz, den wir bewahren und stetig weiterentwickeln müssen. Dieses kann nur gelingen, wenn wir die Bibliotheken als lebendiges System verstehen, das mit dem gesellschaftlichen und technischen Wandel Schritt halten muß. Unter dieser Voraussetzung machen Bibliotheken sowohl den Nutzern, aber auch den Betreibern und den politisch Verantwortlichen Spaß. Karin von Welck