Kitsch: Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen [Reprint 2010 ed.] 9783110924480, 9783484321120

Modern aesthetics is the product of a process of segregation. Works of art are something necessarily distinct from that

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Kitsch: Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen [Reprint 2010 ed.]
 9783110924480, 9783484321120

Table of contents :
Vorwort
Kitsch Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen Einige verstreute Anmerkungen zur Einführung
Kitsch - Signatur der Moderne?
Hausgreuel - Massenschund - radikal Böses Die Karriere des Kitschbegriffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Kitsch ist schlecht. Aber was heißt das? Wertungstheoretische Überlegungen zum Kitschbegriff
Klatsch als Literatur, Literatur als Klatsch
Die Versuchung des Kitschs Zur religiösen Dimension in der Kitschdiskussion
Kitsch in der christlichen Theologie
Kitsch und Erbauung
›Baldur‹ und andere. Oder: »Krieger im Heere des Lichts« Bildwelten des sakralen Nationalismus
›Die Melodie ein Kitsch, die Dichtung dazu höchst lächerlich‹
Es gehen zu Herzen die Terzen Faszination des Trivialen in der Musik
›Tristesse Royale‹. Sinnsuche als Kitsch
Elektronischer Kitsch? Über Triviales und Kitschiges im Fernsehen
Trash Couture Die Faszination des Trivialen als Modetrend
Über die Unzeitgemäßheit des Begriffs ›Kitsch‹ Strategien der Popularisierung in der zeitgenössischen Kunst
KITSCH-ART, ein Phänomen der Postmoderne
Beiträger

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 112

Kitsch Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen

Herausgegeben von Wolfgang Braungart

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Bielefeld

Die Wiedergabe der folgenden Abbildungen erfolgt mit freundlicher Genehmigung der VG Bild-Kunst (© VG Bild-Kunst, Bonn 2002): Abb. 2, S. 158 (Fidus, Lichtgebet, 1913) Abb. 5, S. 161 (Fidus, Warnender Michel, 1915) Abb. 6, S. 162 (Fidus, Hohe Wacht, 1913) Abb. 11, S. 167 (A. Paul Weber, Der junge Deutsche, 1919) Abb. 2, S. 268 (Milan Kunc, Tirol, 1990) Die Wiedergabe der Abb. 3, S. 159 (William Blake, Tanz des Albion, 1813) erfolgt mit freundlicher Genehmigung des British Museum, London (© Copyright The British Museum) Wir haben uns bemüht, für alle Abbildungen die Abdruckgenehmigung einzuholen, und bitten, wo uns das nicht gelungen ist, um Verständnis.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kitsch : Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen / hrsg. von Wolfgang Braungart. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 112) ISBN 3-484-32112-1

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Nadele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhalt

Vorwort Wolfgang Braungart Kitsch Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen Einige verstreute Anmerkungen zur Einfuhrung

VII

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Claus-Artur Scheier Kitsch - Signatur der Moderne?

25

Hans-Edwin Friedrich Hausgreuel - Massenschund - radikal Böses Die Karriere des Kitschbegriffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

35

Jürgen Stenzel Kitsch ist schlecht. Aber was heißt das? Wertungstheoretische Überlegungen zum Kitschbegriff

59

Gerhard Kurz Klatsch als Literatur, Literatur als Klatsch

71

Joachim Jacob Die Versuchung des Kitschs Zur religiösen Dimension in der Kitschdiskussion

83

Hermann Braun Kitsch in der christlichen Theologie

101

Rainer Lächele Kitsch und Erbauung

117

Marina Schuster, Justus H. Ulbricht >Baldur< und andere. Oder: »Krieger im Heere des Lichts« Bildwelten des sakralen Nationalismus

137

VI

Inhalt

Jürgen Ollesch >Die Melodie ein Kitsch, die Dichtung dazu höchst lächerlich
Tristesse RoyaleKitsch< Strategien der Popularisierung in der zeitgenössischen Kunst

239

Peter Sommer KITSCH-ART, ein Phänomen der Postmoderne

259

Beiträger

273

Vorwort

Dieser Band dokumentiert die Beiträge zu einem interdisziplinären Kolloqium über Faszination und Herausforderung des Kitsches, das im Dezember 1999 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld stattgefunden hat. Allen Diskussionsteilnehmern danke ich für anregende, lebendige und heiter-ernste Debatten. Dem Zentrum für interdisziplinäre Forschung sei herzlich für die Förderung und Ausrichtung der Tagung wie auch für einen Druckkostenzuschuß gedankt. Ebenso danke ich Ellen Beyn, die wiederum mit großem Geschick und gestalterischer Kompetenz die langwierige und mühevolle Aufgabe übernommen hat, die Druckvorlage herzustellen; ich danke Heike Pfaff, Jan Andres, Christian Oestersandfort und besonders Katja Maisch für ihre engagierte Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge, Silke Jakobs und Dr. Lothar van Laak für kritische Lektüre. Es ist eine Freude, mit dieser Gruppe zusammenzuarbeiten.

Bielefeld, im Dezember 2001

Wolfgang Braungart

Wolfgang Braungart

Kitsch

Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen Einige verstreute Anmerkungen zur Einführung1

I. Jeder weiß, was Kitsch ist, und keiner kann es sagen.2 Kitsch ist nicht klar abgrenzbar vom Banalen und Trivialen. Kitsch ist ein Kampfbegriff in den ästhetischen Debatten, ein Begriff starker Distanzierung und >grober Unterschiede^3 Dabei ist das ästhetische Phänomen Kitsch bis heute vor allem ein Problem und eine Herausforderung für die Gebildeten unter seinen Verächtern, nicht für jene, die >Kitsch-Menschen< (H. Broch), die den Kitsch für sich in Anspruch nehmen, und nicht für die überhaupt, die >kitschig< lesen, sehen, hören wollen.

Im folgenden führe ich Überlegungen aus meiner >Kleinen Apologie des Kitsches< fort, die 1997 in >Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 28,1997, H. l, S. 3-17, erschienen ist. In meine Anmerkungen gehen auch viele Anregungen aus der Tagung selbst, meiner Mitarbeiter und Manfred Kochs ein; dafür sei herzlich gedankt. Vorab einige wichtige neuere Überblicke über die Kitschdebatte: Hans-Edwin Friedrich: Artikel >KitschKitschKitsch und Klischees Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 28, 1997, H.l, bes. Julia Kraus: Der >Kitsch< im System der bürgerlichen Ordnung, S. 18-39; Bettina Bannasch: Unsägliches oder Unsagbares? Zur Rede über Kitsch und Kunst, S. 40- 53; Gerhard Kurz: Zu einer Theorie des literarischen Klischees, S. 108-116; noch immer sehr lesenswert: Ludwig Giesz: Phänomenologie des Kitsches, Heidelberg 1960; Abraham A. Moles: Psychologie des Kitsches, München 1972. Mit Bezug auf Bourdieu und die Systemtheorie: Ludgera Vogt: Kunst oder Kitsch: ein »feiner Unterschied«? Soziologische Aspekte ästhetischer Wertung. In: Soziale Welt 45,1994, S. 363-384.

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Wolfgang Braungart

Wer >Kitsch< sagt, versucht, durch Benennen etwas zu bannen, was womöglich - auch in theoretischer Hinsicht - herausfordernder und faszinierender, ja verlockender ist, als man zugeben möchte. Wenn man aber so genau nicht sagen kann, was Kitsch sein soll, so kann man vielleicht sagen, was er nicht ist oder nicht sein soll: Kitsch ist nicht Kunst, Kitsch ist geradezu der Gegenbegriff zu Kunst.4 So will es der Diskurs über Kunst und Kitsch. Aber nicht eines der ästhetischen Mittel und Verfahren, die gemeinhin dem Kitsch zugesprochen werden, das nicht auch von großen Kunstwerken genutzt würde (schematisch und formelhaft, konsolatorisch, illusionierend, Realität ersetzend, synästhetisch, repetitiv, klar strukturiert, semantisch überdeterminiert usw.).5 Semiotisch ist der Kitsch nicht zu bestimmen, nur hermeneutisch. Je schärfer der Kitsch abgewertet wird (»das Böse im Wertsystem der Kunst«- so Hermann Broch) und damit das, was als Nicht-Kunst, gar Un-Kunst gelten soll, desto glänzender steht der eigentliche Gewinner da: die wahre Kunst. Das macht leicht blind dafür, daß das von der Ästhetik der Moderne favorisierte Erhabene durchaus zum Kitsch für die kulturelle Elite werden kann: in der Faszination, die von Gewalt und Zerstörung ausgehen kann, theoretisch womöglich noch legitimiert etwa durch eine Ästhetik des Häßlichen, des Ekels, des Verfalls. Ernst Jünger, >In Stahlgewitterm: Wir fanden bei der freundlichen Bevölkerung gute Unterkunft, und schon am ersten Abend drang aus vielen Häusern der fröhliche Lärm kameradschaftlicher Wiedersehensfeiern. Dieses Trankopfer nach glücklich bestandener Schlacht zählt zu den schönsten Erinnerungen alter Krieger. Und wenn zehn vom Dutzend gefallen waren, die letzten zwei trafen sich mit Sicherheit am ersten Ruheabend beim Becher, brachten den toten Kameraden ein stilles Glas und besprachen scherzend die gemeinsamen Erlebnisse. In diesen Männern war ein Element lebendig, das die Wüstheit des Krieges unterstrich und doch vergeistigte, die sachliche Freude an der Gefahr, der ritterliche Drang zum Bestehen eines Kampfes. Im Laufe von vier Jahren schmolz das Feuer ein immer reineres, ein immer kühneres Kriegertum heraus.6

Kitsch ist das schlechte Gewissen der Kunst; Kitsch und Kunst sind ein Begriffspaar, das voneinander nicht loskommt. Wir neigen überhaupt dazu,

So, nachdrücklich, Ruth Klüger: Von hoher und niedriger Literatur, Göttingen M 996. Die Kriterien nach Otto F. Best: Der weinende Leser. Kitsch als Tröstung, Droge und teuflische Verführung, Frankfurt a. M. 1985, S. 186. Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Stuttgart 1994, S. 145 (Auswahl aus dem Werk in 5 Bänden, Bd. 1).

Kitsch - Anmerkungen zur Einführung

3

die Vielfalt kultureller Phänomene in handlichen Dichotomien darzustellen und so den Überblick in unserer Lebenswelt und unserer Kultur zu behalten. Auch wenn die Theorie literarischer Wertung und die Trivialliteraturforschung versucht haben, die Dichotomic von Kunst und Kitsch aufzulösen, so besteht der dichotomische Blick doch noch immer fort.7 Die einfache Entgegensetzung von Kitsch und Kunst stellt einerseits im Hinblick auf Pragmatik und Performativität des Ästhetischen eine Verkürzung dar, weil sich ihr die ganz verschiedenen Interessen, Qualitäten und Grade ästhetischer Gestaltung und Inanspruchnahmen nicht fügen wollen. Andererseits ist sie doch aufschlußreich, weil sie zeigt, daß das, was als Kitsch und als Kunst gelten soll, tatsächlich ein Effekt fortwährender Kommunikation über Kunst und Nicht-Kunst ist, und weil man an dieser Dichotomic manches über die elementaren anthropologischen Bedeutungen des Ästhetischen überhaupt erfahren kann, die sich in der Moderne auf eine spezifische Weise ausprägen. So soll die Dichotomic auch hier als Heuristik dienen, obwohl ich es grundsätzlich für sinnvoller halte, einfach nach >mehr oder wenigen (ästhetisch komplex, differenziert, banal, trivial usw.) zu unterscheiden.8 Der Kitsch gibt >phänomenologische Winke< zu Eigenart und Bedeutung des Ästhetischen. Von Kitsch zu sprechen, scheint also erst dann sinnvoll, wenn man auch von Kunst sprechen kann, und zwar in dem Sinne, daß ein kulturelles Segment, wenn man so will in der systemtheoretischen Terminologie: ein kulturelles Teilsystem >KunstKitsch< ist nicht nur eine Frage des ästhetischen Gegenstandes, sondern ebenso seiner Rezeption. >Kitschig< wird auch große Kunst aufgenommen. Dagegen ist kein Kunstwerk gefeit, weil es immer ein Interesse gibt, dem Ästhetischen - ob Kitsch, ob Kunst - einen >Sitz im Leben< zu verschaffen. Es gibt keine Argumente, der Kunst diesen Sitz im Leben zu verweigern, außer dogmatischen. Auch die Kunst ist keine Immaculata; auch die Kunst wird auf vielfältige Weise in Anspruch genommen. Auch große Kunst ist >GebrauchskunstKultur der ElitenDer Gang aufs Land. An LandauerDer AdlerNathan< ist, nach der zur Komödie neigenden Tragödie (>Miss Sara Sampsom) und nach der zur Tragödie neigenden Komödie (>Minna von BarnhelmFriedensfeier< (1801/02) bittet Hölderlin seine Leser, das Gedicht »nur gutmütig zu lesen«. Insofern das symbolische Kunstverständnis darauf besteht, daß sich nicht auf den abschließenden Begriff bringen lasse, was das Kunstwerk bedeute, läßt es sich aber auch verstehen als Einsicht in die eigentümliche Struktur ästhetischer Erfahrung, zu der das 18. Jahrhundert kommt. Was schön ist, gefällt nicht nur ohne Begriff (Kant).64 Das ästhetische Urteil verlangt beim Rezipienten auch die Fähigkeit und Bereitschaft zu ästhetischem Gemeinsinn und zu ästhetischer Evidenz, die als ästhetische begrifflich nie ganz eingeholt, allenfalls, in Grenzen, plausibilisiert werden kann. Insofern stellt das ästhetische Urteil in der Tat immer ein >AnsinnenBeim jungen Wein< (1. Fassung):

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Die Bedeutung der Kontemplation in der ästhetischen Erfahrung betont zu Recht Martin Seel, Ästhetik und Aisthetik (Anm. 21).

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Wolfgang Braungart Sonne purpurn untergeht, Schwalbe ist schon ferngezogen. Unter abendlichen Bogen Junger Wein die Runde geht; Kind dein wildes Lachen. Schmerz, darin die Welt vergeht. Bleib der Augenblick gewogen, Da im Abend hölzner Bogen Junger Wein die Runde geht; Kind dein wildes Lachen. Flackerstern ans Fenster weht, Kommt die schwarze Nacht gezogen, Wenn im Schatten dunkler Bogen Junger Wein die Runde geht; Kind dein wildes Lachen.66

Ein faszinierendes Gedicht, meine ich. Aber auch ein provozierendes? In den historisch-hermeneutischen Disziplinen dominiert bis heute - und gewiß nicht zu Unrecht - das Modell des Streites, des Kampfes, der Auseinandersetzung, der Macht und Gewalt, der Durchsetzung von Interessen. Nach diesem Modell werden geschichtliche Prozesse konzeptualisiert und die Position einzelner kultureller Äußerungen und Handlungen in ihnen bestimmt. Aber es gibt eben auch die andere Seite, und sie ist nicht von vornherein Ausdruck eines falschen Bewußtseins und eines falschen Zugangs zur Kunst, zur Geschichte, zum eigenen Leben. Sich dem Kunstwerk hinzugeben, ihm sich anzuvertrauen, sich in seine symbolische Bedeutungsordnung zu integrieren, sich auf die Erfahrung unmittelbarer Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit zu verlassen, nicht nur auf die Widersprüche fixiert zu sein: all dies ist eben auch eine grundlegende Dimension ästhetischer Erfahrung und >ästhetischer Sinnbildung< 67 - charakteristisch z. B. für Rilke, wenn er die Gültigkeit ästhetischer Erfahrung gerade angesichts des Unbehaustseins in der Welt betont68 - und gehört doch zu den literaturgeschicht66

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Georg Trakl: Werke - Entwürfe - Briefe. Hg. von Hans-Georg Kemper u. Frank Rainer Max, Stuttgart 1987 (ÜB 8251), S. 162. Ich variiere damit die Formel der »historischen Sinnbildung« aus einem von Jörn Rüsen geleiteten Forschungsprojekt. Vgl. Klaus E. Müller / Jörn Rüsen (Hg.): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahmehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei Hamburg 1997. - Historische Sinnbildung ist aber immer auch ästhetische Sinnbildung. Ein berühmtes Beispiel aus der Lyrik Rilkes - der >Archai'sche Torso Apollos< wird im Beitrag Jürgen Stenzels zu diesem Band angesprochen.

Kitsch - Anmerkungen zur Einführung

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liehen und literaturtheoretischen Tabus69 der auf ästhetische Opposition und Subversion, auf Reflexivität und Selbstreferentialität verpflichteten Moderne.70 Rilkes elegisches Widmungsgedicht >An Hölderlim beginnt mit folgenden Versen, die auf >Hyperions Schicksalslied< antworten: Verweilung, auch im Vertrautesten nicht, ist uns gegeben; aus den erfüllten Bildern stürzt der Geist zu plötzlich zu füllenden; Seeen [!] sind erst im Ewigen. Hier ist Fallen das Tüchtigste [...]."

Die suggestive Kraft der Verse liegt in der Sehnsucht, die aus ihnen spricht: Sie so deutlich zu äußern, hat Rilke eine Randposition in der ästhetischen Moderne eingebracht. Religion und Kunst - auch darin sind sie also Konkurrenten - haben schon immer gewußt, daß es nicht nur ein Bedürfnis des Menschen nach Bewegung, nach Angeregt-Sein, nach dem fortwährenden Spiel des Geistes gibt, sondern auch nach dem »See«, nach dem Zur-RuheKommen, nach Stille und Einklang. Der Kitsch arbeitet ganz ungeniert mit diesem Bedürfnis, das die andere Seite einer Moderne ist, die, beginnend mit der >Querelle des Anciens et des Modernes< und programmatisch entfaltet in der Genie-Ästhetik, fortwährende Steigerung, Überbietung, Überschreitung zu ihrem immanenten Prinzip gemacht hat. »Was willst du 69

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Für eine in diese Richtung gehende Skizze zu einer möglichen literaturgeschichtlichen und -theoretischen Verwendung der kultur- und religionswissenschaftlichen Kategorie des Tabus vgl. Verf.: Artikel >Tabuheidnischen Schule< machte, die den jungen Baudelaire fasziniert hatte. Wie der Plan Houssayes war ursprünglich auch seiner, Bertrands literarischen Kalkül zu reproduzieren, die Anwendung hingegen kraft einer neuen Inspiration zu transformieren: statt des alten das moderne Leben zu schildern. Aber der Abschied von der Poetik des >Gaspard< konnte nur ein vollständiger sein, weil er zugleich ein Abschied von der Reproduktion (imitation, pastiche) überhaupt zu sein hatte. Das Thema ändern, aber das Verfahren festhalten wollen, sah Baudelaire, hieße die Inspiration ersticken, denn diese hat nicht thematisch-semantische, sondern sprachlich-syntaktische Gestalt. Baudelaires Einsicht lehrt, daß Sentimentalität5 a la Houssaye und ihr ästhetisches Sediment, der Kitsch, entstehen, wenn die existentielle Bedeutung die ästhetische Form überwuchert: »Oh! Glaser!« Unmittelbar ist Kitsch ein Zuviel an Semantik, genau jenes Quantum, das von der Syntax nicht mehr gedeckt wird, der fiktive Referent, der das, was ist, das Signifikat, verleugnet und dadurch den Signifikanten trivialisiert, d, h. reproduziert. Als Baudelaire dessen inne wurde - es war die Geburtsstunde seines immer noch nicht genug gewürdigten Spätwerks -, setzte er darum gegen die Bertrandsche, und erst recht gegen die Houssayesche Schilderung (peinture) entschlossen auf die Beschreibung (description), eine reine poetische Phänomenologie.6 Unstreitig greift das Kriterium, Kitsch sei das Zuviel an Semantik an demjenigen Produkt, das den sozialen Status eines Kunstwerks beansprucht, zu kurz, denn Kunst, die den Möglichkeiten des metier nachhängt, war stets das jeweils zu Erwartende, und Adornos Bedenken bleibt zu beherzigen, Kitsch sei nicht bloßes Abfallprodukt der Kunst, entstanden durch treulose Akkommodation, sondern lauert in ihr auf die stets wiederkehrenden Gelegenheiten, aus der Kunst hervorzuspringen. Während Kitsch koboldhaft jeder Definition, auch dergeschicht-

Baudelaire, Petits Poemes en prose (Anm. 1), S. 5. Sie ist die triviale Gestalt des Selbstmitleids, das Nietzsche als das Innerste des Mitleids entdeckte, wie es seit Schopenhauer Fundament der nicht länger metaphysisch legitimierbaren Moral und zugleich Motiv des Ressentiments ist. Ausführlich hierzu das Kapitel >...ein modernes und abstrakteres Leben< in: ClausArtur Scheier: Ästhetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert, Hamburg 2000.

Kitsch - Signatur der Moderne?

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liehen, entschlüpft, ist eines seiner hartnäckigen Charakteristika die Fiktion und damit Neutralisierung nicht vorhandener Gefühle. Kitsch parodiert die Katharsis.7

Solche Erfahrungen sind in ihrer Offenheit zugleich Aufgaben für das Nachdenken. Der Kitsch entschlüpfe »koboldhaft« jeder Definition - als der Hausgeist derjenigen Kunst, der Adorno kraft einer der klassischen Moderne abgelesenen Kategorialität nachdenkt, der Kunst der (industriellen) Moderne überhaupt. War der Kitsch schon der Hausgeist der älteren? Für das 18. Jahrhundert möchte ein rasches Nein zögern, aber noch dies wäre ein Hinweis darauf, daß er ein entschieden modernes Phänomen ist, offensichtlich ein, und keineswegs ein akzidentelles, Produkt der Industrialisierung.8 Deren erste markante Daten sind Watts Patentierung seiner zweiten, sog. doppelt wirkenden Dampfmaschine 1784, des ersten Motors im heutigen Sinn, und das Erscheinen von Lavoisiers >Traite Elementaire de Chimie< 1789: In den achtziger Jahren macht die entwickelte neuzeitliche Manufaktur den noch unscheinbaren Übergang zur großen Industrie; und es ist kaum überflüssig, darauf hinzuweisen, daß die idealistischen Ästhetiken ebenso wie das hyperbolische Produktivitätsdenken der Frühromantiker dies Geschehen reflektieren,9 nämlich den - zu ihrer Zeit nicht nur legitimen, sondern denkgeschichtlich notwendigen - Versuch machen, die hiermit sich abzeichnende geschichtliche Grenze noch einmal aus der natürlichen Vernunft, d. h. die Grenzüberschreitung traditionell als ein Tun des Grundes noch nicht als ein Geschick oder Ereignis des Abgrunds - zu denken. Daß sich mit diesem Übergang aber nicht nur die Bedingungen der menschlichen Existenz - unmittelbar der europäisch-amerikanischen, mittel-

Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 355. Derlei Fiktion und Neutralisierung ereignen sich allerdings auf dem Boden eines vorhandenen Gefühls, des Selbstmitleids. Die Befreiung von ihm wäre die apostrophierte Katharsis, die Adorno bezeichnenderweise nur als »einverstanden mit Unterdrückung« denken kann (ebd., S. 354). Wolfgang Braungart, dem ich an dieser Stelle für die Anregung danken möchte, über Kitsch nachzudenken, schreibt in seiner >Kleinen Apologie des Kitsches< (Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 79, 1997, S. 3-17, hier S. 14): »Kitsch ist ein Phänomen der Industrialisierungsepoche, der immer rascheren gesellschaftlichen Modernisierung, der immer stärkeren Beschleunigung der Zeit. Das prädestiniert für neue Übergangsriten. Man verwendet den Kitsch-Begriff kaum für ästhetische Objekte vor etwa 1750-1800, also vor dem Beginn der ästhetischen Moderne in der Frühromantik.« Nicht als >äußere Reflexion< oder gar Reaktion im Sinn des Marxschen Verhältnisses von Überbau und Basis, sondern als die innere Konsequenz der Selbstentfaltung der neuzeitlichen methodischen Reflexion.

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Claus-Artur Scheier

bar, und spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch unübersehbar der mondialen -, sondern die menschliche Existenz selbst sich in ihrem primordialen Gefuge verwandelt, ist dort zu lernen, wo dies Gefüge sich für sich in vollkommener Abstraktion darstellt, in der Logik. Denn die europäische Logik war, seit mit Heraklit der in die Welt kam, der Gedanke des Produktionsverhältnisses als solchem. Aber die ältere Logik war mit der handwerklichen Produktion eingelassen in die Natur und deren produktiven Grund, Gott, während die industrielle Logik mit der maschinellen Produktion die Natur nicht länger als ihren Ort, sondern als ihr Material bestimmt - sie ist wesentlich eine Logik der Ortlosigkeit, der ubiquitären Produktivität. Die ältere (spekulative) Logik schloß das produktive, sich äußernde, sich >objektivierende< Subjekt mit dem Prädikat als seinem Produkt zusammen durch die Mitte der Copula, des >Seins< als der reinen Tätigkeit, so daß Subjekt und Prädikat sich durch diese gegenwärtige Mitte ineinander reflektierten, >spiegeltensättigenden< Arguments bedarf. Waren also in der klassischen Logik Produkt und Produktion so wohl unterschieden wie Prädikat und Copula, sind sie in der modernen Logik untrennbar geworden: die Funktion.10 Für Marx stellt sich die ökonomisch reale Funktion in der Mitte des 19. Jahrhunderts dar in doppelter Gestalt. Zum einen ist sie Maschine, ein Produkt, das selber produziert, zum ändern Ware, ein Produkt, das selber nicht mehr produziert, aber die geleistete Arbeit, die Produktion, speichert. Indem diese akkumulierte Produktivität die durch die Maschine enteignete menschliche Arbeitskraft, Lebenszeit, an sich also verdinglichte menschliche Existenz ist, erhält die Ware jetzt- und jetzt erst unter den Bedingungen der industriellen Produktion-den > Fetischcharakter^ dessen Un-Wesen Marx wissenschaftlich-trocken, Baudelaire mit den, namentlich bei Poe studierten, Verfahrensweisen einer rückhaltlos modernen Dichtung vorstellig machen wird. Rimbauds Maxime »II faut etre absolument moderne« gilt zuerst von ihm. Denn zuerst von ihm wird der nunmehr geschichtlich fällige 10

Hierzu näher Claus-Artur Scheier: Die Sprache spricht. Heideggers Tautologien. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 47,1993, 60-74. Ders.: Maximins Lichtung. Philosophische Bemerkungen zu Georges Gott. In: George-Jahrbuch l, Tübingen 1996/97, 80-106. Ders.: Die Grenze der Metaphysik und die Herkunft des gegenwärtigen Denkens. In: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft XLVI, 1995,189-196.

Kitsch - Signatur der Moderne?

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radikale Unterschied von Ware und Kunstwerk in Poesie wie Poetik hervorgedacht, und es zeigt sich: Das moderne Kunstwerk ist die Ware, aber die Ware in eben der Dimension, die sie als solche verhehlt und, will sie Ware bleiben, auch verhehlen muß, die Ware in der Dimension des Schmerzes. Als Wesen der modernen Produktion erweist sich, insofern sie Entsubstantialisierung der Natur überhaupt ist, die Enteignung des produktiven Menschenwesens, und diese Entsubstantialisierung und Enteignung wird unter den Bedingungen der frühen Industrialisierung notwendig als Schmerz erfahren. Das Kunstwerk bringt daher die Wahrheit der modernen Existenz zum Vorschein, die von der Ware verhehlt wird. Logisch heißt dies, daß der leere Ort der alten Copula, die Differenz zwischen Funktion und Argument, von der Ware immer mit dem Schleier der Identität verhüllt wird, indem ihr Fetischcharakter eben darin besteht, >gesättigt< zu scheinen - als das Produkt nämlich, das dem Menschen Produktivität nicht ent-eignet, sondern zueignet (ein Schein, der bis heute der Motor der Werbung ist). Das Kunstwerk der Moderne zerreißt diesen Schleier und enthüllt den Riß zwischen Funktion und Argument, jene »leere Stelle« (Frege), die das 19. Jahrhundert existentiell, das 20. mit Heidegger ontologisch als den Ab-Grund zu denken gelernt hat. Das moderne Kunstwerk schärft den Schmerz ein, den die Ware entschärft, die den existenzial-logischen Riß verdeckt, an den das Kunstwerk immer neu erinnert, in einer Er-Innerung, die anders als die metaphysische nicht die Welt ins Subjekt, sondern dieses in die Welt, nämlich in den mit der industriellen Revolution aufgegangenen Abgrund versenkt. Solche Ware und solches Kunstwerk - das sind die Extreme, um die es dem ästhetischen Denken der Moderne im epochalen Unterschied zu aller älteren Ästhetik zu tun ist, die von Anfang an nicht eine Ästhetik des Scheins, sondern der Erscheinung, nicht des Abgrunds, sondern des Grundes war, wohlgemerkt denn wer weiß, ob der Gedanke des Grundes ein für allemal abgedankt hat - des natürlichen Grundes. Zwischen diesen Extremen nun, die kein Außerhalb zu dulden scheinen, siedelt der Kitsch, in merklicher Nähe zu traditionellem Kunsthandwerk und innovativem Design. Deren Nähe - und Übergänge sind allenthalben, kaum ein modernes Kunstwerk, das nicht die Male solcher Nachbarschaft trüge macht eine weitere Unterscheidung nötig, nämlich die von >authentisch< und >trivialgothic noveh, die unverwandt-verwandt gen Himmel schauenden Greuze-Mädchen oder die neckischen Porzellanpastoralen aus Meißen zwar den kommenden Kitsch anzuzeigen vermögen, selber aber noch nicht Kitsch sind. Noch sind derlei Produkte des Jahrhunderts der Manufaktur zurückgebunden an das natürliche Bewußtsein ihrer Zeit und deren - um einen repräsentativen Namen als Etikett zu brauchen - Rousseausche Sittlichkeit. Diderots Vorliebe für Greuze ist nicht auf Kitsch avant la lettre hereingefallen, aber die Distanz ist so klein geworden wie die von der Post-Chaise zur ersten Eisenbahn. Mithin ist der Kitsch eine Signatur der industriellen Moderne, dieposteriora oder, unverhüllter, nates ihrer authentischen Kunstwerke. Als regressive Moderne macht er immer dort Natur glauben, wo Technik ist, aber die seit dem Stadium der >Postmoderne< die industrielle ablösende mediale Moderne ist auf dem Weg, Technik und Natur ununterscheidbar zu machen. Verhält es sich so, dann hat im Übergang zum 21. Jahrhundert der Kitsch nicht minder sein epochales Ende gefunden wie das authentisches Kunstwerk.13 Der geschichtliche >turn of the screw< hätte uns wieder in die Nachbarschaft des Hegeischen Gedankens gebracht, der fälschlich als der vom >Ende der Kunst< kolportiert wird. Seine Hörer notierten aber nur: »Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu

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' Zwar begegnen allenthalben und häufiger als die kitschigen die trivialen Kunstwerke, aber anders als der Trivialroman sind sie nicht zur Ehre eines eignen Titels gelangt. Das mag daran liegen, daß die Sprache, dies schlechthin inkommensurable, darum zugleich das trivialste aller Medien, die Trivialität schlechthin ist, wie der Gegenstand des Triviums eben die Sprache war. Übrigens war der Dreiweg der Hekate geweiht, vgl. Vergil: Aeneis 4.609, in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß: »Hecate du, der heulen die Stadt' auf nächtlichem Drei weg«. 12 Nächstverwandt dem Trivialen ist das Banale (zu gr. , dünn, schlaff, lose), das Langweilig-Triviale. 13 Der Mann der Stunde ist Jeff Koons, der seiner Kundschaft keinen Kitsch verkauft, sondern Kitsch, der sich als Kitsch verkauft. Das label ist: cool; herzerwärmend dagegen der bunte Barfußprediger Hundertwasser.

Kitsch - Signatur der Moderne?

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sein. [...] es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.«14 Von der heraufziehenden industriellen Moderne war diese Irreverenz vorläufig ins Unrecht gesetzt worden, kraft einer Kunst und Kunst-Religion allerdings, von der Hegel noch nichts ahnte. Sein Schüler Feuerbach hatte sie dann vorausgesagt: »Das entschiedene, zu Fleisch und Blut gewordene Bewußtsein, daß das Menschliche das Göttliche, das Endliche das Unendliche, ist die Quelle einer neuen Poesie und Kunst, die an Energie, Tiefe und Feuer alle bisherige übertreffen wird«,15 und Adorno noch hat das Knie, als letzter wohl, gebeugt, was nicht nur seine >Philosophie der neuen Musik< (1949) beredt macht. Sei, hatte Hegel überdies bemerkt, »der vollkommene Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten, so wendet sich der weiterblickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres zurück«,16 und in unserm zeitgenössischen Innern geistert der ent-objektivierte Kitsch noch als das Pathos der Betroffenheit. Es ist seinerseits Surrogat der Religion. Denn ist Religion das ursprüngliche Verhältnis des Menschen zur Zeit, dann ist die industrielle Moderne zwar keine theologische, sogar eine radikal anti-theologische, wohl aber paradoxerweise-eine, auch im äußersten Abstand zu Kierkegaard, religiöse Epoche, unablässig, wie Jakob, mit dem Engel der Zeit ringend im Verlangen nach dessen ursprünglichem Namen. Indem das moderne Denken sogleich mit Schopenhauer hinter den metaphysischen Grund zurückdrängt in den Ursprung- »Die Vorstellung, unabhängig vom Satze vom Grunde«17 -, da findet es die Zeit selbst - was sonst? -, und alle Strukturverhältnisse werden ihm zuletzt zu Zeitverhältnissen wie noch in Derridas >differance Vierung< und >Geviert< als aus der unvordenklichen >Enteignis< ursprünglich gebende und ursprünglich gegebene Zeit, die WeltZeit und die Zeit-Welt. Dies Verhältnis ist als das von Schrift- und Sprachcharakter in das von Adorno gedachte Kunstwerk eingewandert und konstelliert dessen Zeitkern.18 Aus ihm wiederum entfaltet sich die Span14

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Hg. von Friedrich Bassenge, Frankfurt a. M., 2. Auflage, o. J., Bd. l, S. 110 (I. Einleitung 2.a: Die Stellung der Kunst im Verhältnis zur Religion und Philosophie). Ludwig Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie. In: Gesammelte Werke. Hg. von Werner Schuffenhauer, Bd. 9, Berlin 1982, S. 248 (Hervorhebungen von mir). Hegel, Vorlesungen (Anm. 14). Vgl. den Titel des dritten Buchs von Schopenhauers >Welt als Wille und VorstellungCuriosites esthetiques< hat Baudelaire von ihnen, neben denen authentischer Kunstwerke im Sinn Adornos wie den Werken von Delacroix, immer wieder exemplarische Beschreibungen vorgelegt, erinnert sei an sein Lob von Constantin Guys in >Le peintre de la vie modernem Nächst dem Preis unterscheidet diese Möglichkeit der Verwechslung (namentlich in der Literatur) das Kunsthandwerk vom naiv-trivialen Kunstgewerbe. »evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des Ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande«, schrieb Adolf Loos in seinem Essay >Ornament und

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rakter- daß ein Rennwagen schöner sei als die Nike von Samothrake, hatte Marinetti 1909 verkündet - ist das Design die Verdinglichung des Trivialen, die sich mit der Trivialisierung der klassischen Moderne vornehmlich im Schein der Funktionalität darstellt. Der Kitsch endlich simuliert die Erinnerung des authentischen Kunstwerks sozusagen als die umweglose Ersatzbefriedigung des undisziplinierten metaphysischen Bedürfnisses. Im Unterschied zum Design setzt er nicht auf die Funktionalität in der Verdinglichung, im Unterschied zum Kunsthandwerk greift er über das Material und so, wie das authentische Kunstwerk, über die ursprünglich gegebene Zeit aus auf die ursprüngliche gebende Zeit - also unmittelbar auf Existenz - und ist damit die industriell produzierte oder aeternitas simulala. Tempi passati. Mit der Epoche der industriellen Moderne scheint die Zeit des Kitsches abgelaufen. Längst schon haftet am berüchtigten röhrenden Hirsch nicht mehr die gemütliche Erinnerung an die entzogene Natur, sondern die belustigt-verniedlichende an eine versunkene Lebensform.23 Sie allerdings war von der Ideologizität der von Horkheimer und Adorno sezierten >Kulturindustriedes ornaments aus dem gebrauchsgegenstand< geschrieben. Hierzu einschlägig der Artikel >Hirsch, röhrend< in: Franziska Roller: Abba, Barbie, Cordsamthosen. Ein Wegweiser zum prima Geschmack, Leipzig 1997, S. 84. Die Nationalsozialisten waren dieses Unterschieds inne geworden: »Gegen die Herstellung von mationalem Kitsch< wendet sich im Deutschen Reich das Gesetz zum Schutz der nationalen Symbole v. 19. Mai 1933 mit dem Verbot, die Symbole der deutschen Geschichte, des deutschen Staates und der nationalen Erhebung öffentlich in einer Weise zu verwenden, die geeignet ist, das Empfinden von der Würde dieser Symbole zu verletzen.« Artikel >Kitsch< in: Der Neue Brockhaus. Allbuch in vier Bänden mit einem Atlas, Leipzig 1938. Und kollateral dazu das Erhabene (le sublime), das Lyotard noch einmal retten wollte. Jacques Derrida schreibt in >Donner le temps, l. La fausse monnaie< (Paris

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wo nicht ästhetisch, so doch politisch ungestraft vormals ideologische Bauformen zitieren; das bezeugte nurmehr das Verschwinden der industriellen Differenz in die mediale Indifferenz. In der medialen Moderne ist nämlich jeder Ort indefinit medialisiert. Der jüngst vergangene Kitsch enthüllt sich vor dieser Vermittlung als der Schein des Unmittelbaren, die ästhetische Simulation des natürlichen Orts. Im Kern zeigt dies bereits Houssayes >GlaserTeufelsgeiger< - wird überblendet mit dem >gekitschten< metaphysischen Grund, Jesus Christus: Der Glaser ist der Gott-Mensch. Die vormalige Gottesgabe, das Manna, wäre jetzt die erkenntliche menschliche >Stimme von oben< als die Stimme des >AnderenKitsch< war um die Jahrhundertwende nur ein Schlagwort der Malerboheme. Um 1930 hatte sich dieses Wort als unangefochtener Oppositionsbegriff zu Kunst etabliert. Wie kam es zu dieser erstaunlichen Entwicklung? Zu den Unwägbarkeiten der Begriffsgeschichte gehört, daß schon die erste einschlägige Monographie mit dem Eingeständnis eines Definitionsproblems einsetzt: »Jedermann weiß, was Kitsch ist, und niemand kann eine präzise Deutung darüber geben,«1 Fritz Karpfens Diktum zieht sich als roter Faden durch die Geschichte der Kitschdiskussion.2 Was für die lange angestrebte >Wesenserhellung< des Kitsches eine Kalamität war, die die Diskussion schließlich um 1980 kollabieren ließ,3 war funktional und strategisch gesehen für die Durchschlagskraft des Begriffs eine Voraussetzung. Gerade die Selbstverständlichkeit seines Gebrauchs, die auf einen festen Bedeutungskern zurückgeht, seine terminologische Unfixierbarkeit, die aus der zunehmenden Erweiterung der Semantik resultierte, schließlich die Eignung als Schlagwort ließ >Kitsch< in der ästhetischen Diskussion avancieren. Dank dieser Eigenschaften konnten heterogene, aber strukturell homologe Phänomene begrifflich gebündelt Fritz Karpfen: Der Kitsch. Eine Studie über die Entartung der Kunst, Hamburg 1925,8.7. Solche terminologische Schwierigkeiten gehören zu den Grundproblemen der Trivialliteraturforschung. Vgl. Hans Friedrich Foltin: Die minderwertige Prosaliteratur. Einteilungen und Bezeichnungen. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 39, 1965, S. 288-323. Skeptisch schon: Helmut Kreuzer: Trivialliteratur als Forschungsproblem. Zur Kritik des deutschen Trivialromans seit der Aufklärung. In: Ders.: Veränderungen des Literaturbegriffs. Fünf Beiträge zu aktuellen Problemen der Literaturwissenschaft, Göttingen 1975, S. 7-28, 101-105; hier S. 16. Vgl. das Plädoyer für eine Verabschiedung von >Kitsch< aus der wissenschaftlichen Diskussion von Günter Fetzer: Wertungsprobleme in der Trivialliteraturforschung, München 1980,S.25ff. Folgerichtig kommt >Kitsch< in der Diskussion um die Wertung von Literatur nicht mehr vor. Vgl. Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik - Geschichte - Legitimation, Paderborn u. a. 1994.

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werden. Was jeweils als Kitsch bezeichnet wurde, war sehr verschieden; die Palette reicht vom Bismarckbierkrug über die Romane von Hedwig CourthsMahler und dem neuen Medium Film bis zum allgemeinen Lebensgefühl. Der Begriff ermöglichte, diese Phänomene zu einem Problemfeld zusammenzufassen und systematisch zu bearbeiten. Die Begriffsdynamik führte jedoch zu einer Überdehnung, so daß der Verlust an Explikationskraft mit Versuchen der terminologischen Bestimmung kompensiert wurde. Aus historischem Abstand zeigt sich, daß in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts die wesentlichen Bestandteile der akademischen Kitschdiskussion der sechziger und siebziger Jahre bereits ausgebildet waren. Die Geschwindigkeit, mit der sich >Kitsch< durchsetzte, indiziert, daß endlich der passende Begriff für ein neues Phänomen, »ein neues deutsches Wort für einen neuen Begriffsinhalt«,4 gefunden war. Im folgenden soll es um eine Rekonstruktion der Diskussion über Kitsch in der ersten Jahrhunderthälfte gehen.

Chronologie >Kitsch< ist um die Jahrhundertwende geläufig. Eingehende lexikographische Untersuchungen dazu fehlen, so daß wir auf Einzelbelege der Lexika und Hinweise der Zeitgenossen angewiesen sind. Es ist ein Ausdruck aus der Subkultur der Boheme, der vor allem von bildenden Künstlern verwendet wird. Im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts wird >Kitsch< vereinzelt in die öffentliche Diskussion eingeführt. Präzise bezeichnet Gustav E. Pazaurek in seiner Monographie >Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe< (1912) einen deutlich abgezirkelten Bereich geschmackloser Massenferti-

Karpfen, Kitsch (Anm. 1), S. 7. Vgl. dagegen Jochen Schulte-Sasse: Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Aufklärung. Studien zur Geschichte des modernen Kitschbegriffs, München 1971: Der Begriffsinhalt sei vor der lautlichen Prägung bereits in der Klassik um 1800 ausgeformt gewesen. In der Frage der historischen Genese des Problems ist ihm die Forschung hier zu Recht gefolgt. Vgl. Otto F. Best: Das verbotene Glück. Kitsch und Freiheit in der deutschen Literatur, München - Zürich 1978. - Allerdings ist die Schwäche dieser These die Prämisse, daß ein Phänomen auf den passenden Begriff über hundert Jahre wartet. Innerhalb dieser Entwicklungslinie markiert Kitsch jedoch mindestens ein Novum, die Komponente der industriellen Massenfertigung. Vgl. grundlegend Claus-Artur Scheier: Kitsch - Signatur der Moderne? S. 25-34 in diesem Band.

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gung als Kitsch.5 Gustav Sack hingegen verwendet in seiner Prosaskizze >Kitsch< (1913) das Wort als Ausdruck fur ein bestimmtes Lebensgefühl, das den Erzähler während eines Spaziergangs durch die weihnachtlich verschneite Stadt befällt. Man hat mir die Worte Schnee und Einsamkeit zu oft in den Mund genommen und in einer verlogenen Gemachtheit die anscheinend unerschöpfliche Fülle von Poesie und Wahrheit, die in ihnen lag, zerstört - und nicht nur diese Worte! Ich kann kein Wort mehr sprechen und keinem Gefühle mehr mich hingeben, das ihr nicht zu einer Lüge verhunzt und zum Kitsch gemacht habt.6

Das Wort steht bei Sack in engem Zusammenhang mit Sprachskepsis und artikuliert das unbestimmte Gefühl einer allgemeinen Kulturkrise.7 Bereits um 1920 werden Begriffsklärungen notwendig. Ferdinand Avenarius bekundet, das Wort werde »jetzt mit Vorliebe benutzt, um in der gerade herrschenden Richtung diejenigen als minderwertige Nichtskönner hinzustellen, die man ablöst.«8 Daß er sich genötigt sieht, an die Etymologie des Wortes und seine präzise >eigentliche< Bedeutung zu erinnern, deutet auf einen Wandel im Gebrauch. Das Bewußtsein der Herkunft des Wortes aus einem subkulturellen Jargon hält sich noch bis in die späten zwanziger Jahre.9 In diesem Jahrzehnt etabliert sich >Kitsch< zunehmend und nachhaltig in der kulturkritischen Diskussion. Eine Schlüsselstellung kommt der Monographie von Fritz Karpfen zu, die die beiden getrennten Stränge in einem ersten Systematisierungsversuch verknüpft. Bei ihm wird eine Reihe von Innovationen sichtbar. Karpfen verwendet als erster Kitsch als vollwertigen Oppositionsbegriff zu Kunst, als »Form der negativen Kunst«.10 »Der Weg der Kunst führt vom Grenzenlosen ins Grenzenlose; und der Kitsch, der treueste Begleiter der

Vgl. Gustav E. Pazaurek: Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe, Stuttgart - Berlin 1912. Das einschlägige Kapitel ist faksimiliert in: Harry Pross (Hg.): Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage, München 1985, S. 174-185. Gustav Sack: Kitsch. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hg. von Paula Sack, Bd. 2, Berlin 1920, S. 280-282; Zitat S. 281. Vgl. Karl Eibl: Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, S. 14f. [Ferdinand] Afvenarius]: »Kitsch«. In: Kunstwart und Kulturwart. Monatsschau für Ausdruckskultur auf allen Lebensgebieten 33.2, 1920, S. 222. Vgl. den Hinweis bei Wilhelm Fronemann: Das Erbe Wolgasts. Ein Querschnitt durch die heutige Jugendschriftenfrage, Langensalza 1927, S. 148. Karpfen, Kitsch (Anm. 1), S. 104.

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Kunst in allen Zeitaltern, ist immer erst dann zu erkennen, wenn die Kunst durch ihn entartet ist.«" Damit ist eine Weichenstellung vollzogen. Das Gegensatzpaar von Kunst und Kitsch impliziert eine Anthropologisierung von Kitsch. Einerseits betont Karpfen das gegenwärtig Neue, Nochniedagewesene des Kitsches und identifiziert »das ganze gepriesene Rokoko« als »Muster des Kitsches«;12 andererseits aber gilt ihm Kitsch allgemein als »Lebensfaktor«.13 Auf diese Weise gerät der Begriff in eine widersprüchliche Spannung zwischen Historisierung und Überzeitlichkeit, die nicht systematisch abgestimmt wird und somit beide Alternativen für weitere Reflexionen bereithält. Karpfen gewinnt dem Kitsch kulturphilosophische Dignität ab und macht ihn damit überhaupt erst diskussionswürdig. M Das Gebiet des Kitsches ist

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Ebd., S. 59.

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Ebd., S. 20. Ebd., S. 61. Vgl. Wolfgang Braungart: Kleine Apologie des Kitsches. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 79, 1997, S. 3-17; hier S. 7. - Einige Teilnehmer an der Debatte integrieren den Kitsch in vitalistische Denkkonzepte. »Wenn die Kraft des Verfassers nicht ausreicht, das wirkliche Leben zu geben, den Rohstoff mit Blut zu füllen, dann greift er eben zum Ersatz.« (Georg Schäfer: Vom Schund, vom Kitsch und den Jugendschriften. In: Pharus. Katholische Monatsschrift für Orientierung in der gesamten Pädagogik 17.2, 1926, S. 126- 141; Zitat S. 135). Carl Christian Bry prägt das Schlagwort >Lebensverfälschung< (Carl Christian Bry: Der Kitsch. In: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst 22.2,1925, S. 399-411; Zitat S. 401). - »Das starke Bedürfnis des Lesepublikums nach Romanen, die konventionelle Gestalten und Gefühle neu kombinieren, wird verständlicher, wenn man bedenkt, daß die meisten Menschen auch im wirklichen Leben nicht die Kraft haben, Inhalte unmittelbar aus der Welt zu empfangen und selbständig zu verarbeiten. Sie besitzen eine Anzahl erstarrter Formen, in die sich alle neu herankommenden Inhalte wohl oder übel bequemen müssen. Die Dinge verlieren Farbe, Fülle und jede Besonderheit, ein Klischee tritt an die Stelle des unmittelbaren Erlebnisses, persönliche Nuancen schwinden, so geht gerade der wertvollere Teil des Erlebnisstoffes - alles, was sich zum erstenmal darbietet und die Seele ernähren und bereichern müßte - verloren. Fast alle Menschen leben in einer vereinfachenden und verarmenden Weise, und man muß zugeben, daß eine solche Schabionisierung die unvermeidliche Abwehr gegen die Überfülle der Weltinhalte bildet, denn niemand vermag alles aufzunehmen, alles zu fassen und alles zu bewerten, was ihm entgegentritt. Solche Gefühlsschablonen sind also eine Art von Schutzvorrichtung gegen das bedrohliche Chaos, gegen alles, was den Menschen von außen her überwältigen soll. Solange diese Formen lebendig, plastisch und wandlungsfähig bleiben, sind sie nützlich und notwendig, aber meistens erstarren sie früh und werden dann auf Inhalte angewendet, die nur noch

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ihm Zeichen einer allgemeinen Kulturkrise der vergangenen wilhelminischen Ära. Aus diesem penetranten Sumpfgeruch zog die Breite des Kitsches ihre Lebensfähigkeit. Sie war die Essenz von Gemeinheit und Prüderie, von Lüge und Bestialität. Der Stil der Zeit züchtete den »künstlerischen« Kitsch der bürgerlichen Stuben, die Talmi-Sittlichkeit des degenerierten Adels, den kitschigen Prunk. 15

Diese Diagnose implizierte schließlich eine ethische Abwertung des Kitsches; sie brachte einen Zusammenhang von Ethik und Ästhetik zur Geltung, die ein Kennzeichen der frühen Moderne war und in Brochs Kitschtheorie systematisiert werden sollte:16 »Der Kitsch ist nicht nur eine böse Wucherung in der Kunst, er ist vielmehr der Niederschlag des Ungeistes, der den Geist töten will.«17 Künftig galt das Diktum Carl Christian Brys, der sich kritisch, aber im Grundsatz zustimmend zu Karpfen äußerte: Wer von Kitsch sprechen will, muß von der Massenindustrie und dem Apparat unseres geistigen Lebens, muß von Kunst und Geld, von Politik, Moral und Reli-

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ganz ungefähr hineinpassen. Man versteht dann Dinge und Erlebnisse erst, wenn sie in diesen bereitliegenden Schablonen zum Bewußtsein kommen und mit bereitliegenden Worten ausgesprochen, wenn sie demnach als ein Lebendiges zerstört worden sind.« (Emil Lucka: Volkstümliche Dichtung, Unterhaltungslektüre, Kitsch. In: Deutsche Rundschau 224, 1930, S. 222-227; Zitat S. 225). - Zur Rekonstruktion des vitalistischen Denkmodells: Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerkes von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth, Stuttgart Weimar 1994, S. 5ff. Karpfen, Kitsch (Anm. 1), S. 96f. Vgl. dazu künftig grundlegend Mirjam Storim: Ästhetik im Umbruch. Zur Funktion der >Rede über Kunst< um 1900 am Beispiel der Debatte um Schmutz und Schund, Diss. München 2000. - Ich danke Mirjam Storim für eingehende Informationen zum Verhältnis von >Schmutz und Schund< und Kitsch. Karpfen, Kitsch (Anm. 1), S. 11. »Und darum wird der Kitsch erst dann von unserm Planeten verschwinden, wenn das Tempo des Lebens, die Rotationskraft der Zeit so rasend geworden ist, daß die Lauen und Schleimigen in das Nichts geschleudert werden. Erst wenn die Menschen hart, kraftvoll und bewußt ihr Leben gestalten werden, das Ziel bis zum Ende erkämpfend, dann erst wird auch der Kitsch vergehen, und aus dem Schrei der Zeit wird sich unter tausend Schmerzen die absolute Kunst gebären.« (S. 14) - An dieser Stelle findet sich in dem von mir benutzten Exemplar der Bayrischen Staatsbibliothek die handschriftliche Marginalie »Selber Kitsch!«

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Hans-Edwin Friedrich gion, von Zensur und Polizei, von den Wünschen der Menschen, ihren Träumen,

ihrer niedrigen Dummheit und ihrer Größe sprechen.18

Damit aber fiel der Bereich der kitschigen Artefakte nahezu völlig aus dem Blickwinkel heraus. Um 1930 werden Abgrenzungen notwendig.19 Da >Kitsch< zunehmend als Gegenbegriff zu >Kunst< angesehen wurde, war eine diskursive Neuordnung des Feldes der populären Kultur unumgänglich. Kitsch etablierte sich als Konkurrenz- oder als ergänzender Begriff zu Schmutz und Schund. Das erforderte eine Verwissenschaftlichung des Begriffs, die entscheidend von Bibliothekaren der Volksbüchereien vorangetrieben wurde.20 Dieser Tendenz korrespondierte ein Unbehagen an dem durch die Expansion der Begriffsintension zunehmend unbeherrschbarer werdenden Wort. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre galt >Kitsch< eben auch als Allerweltsschlagwort. »Der Begriff Kitsch ist wie aus Gummi. Er ist dehnbar und also unklar an Gestalt und Umfang. Sicher wird das Wort gerade darum mit Vorliebe gebraucht, denn jeder meint damit etwas anderes.«21 1933 ergab sich eine neue Situation. Fabrikanten entdeckten in der Machtergreifung durch die NSDAP eine Geschäftsidee und begannen unverzüglich damit, die Symbole der Bewegung zum Entsetzen der Partei zu verkitschen. Das rasch erlassene Gesetz zum Schutz der nationalen Symbole vom 19. Mai 1933 schob solchem nationalen Kitsch< einen Riegel vor.22 In 18 19 20

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Bry, Kitsch (Anm. 14), S. 399. Lucka, Dichtung (Anm. 14). In der ersten Auflage des >Reallexikons< wurde >Kitsch< zwar noch keines eigenen Artikels für würdig befunden, aber im Artikel zur >Schundliteratur< erwähnt. Das Resümee des Kampfes gegen Schmutz und Schund lautete: »So gelangte man zu einer Absonderung zunächst jener Literatur, die in Form und Stoff sich durch geschmackliche Forderungen der breiten Masse zu sehr bestimmt erweist, um den Forderungen einer nach wahrhaft künstlerischen Werten messenden Kritik zu genü. gen; zu wenig, um eine sittliche Schädigung des Lesenden voraussehen zu lassen (bloße Unterhaltungsliteratur, >KitschSchund< im engeren Sinne die mangelnde Intensität des künstlerischen Erlebnisses durch spekulative Ausbeutung der rohen Naturtriebe, namentlich des Sexuellen, zu ersetzen sucht.« (H. Beyer: Schundliteratur. In: Paul Merker / Wolfgang Stammler (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Rahmenerzählung - Zwischenakt, Berlin 1928/29, S. 201-203; Zitat S. 202). Walter Hoyer: Was schadet der Kitsch? In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 104, 1937, S. 302-303; Zitat S. 302. Im Zuge des allgemeinen Aktivismus sahen auch Kämpfer gegen Schund und Kitsch ihre Stunde gekommen. Kurd Schulz berichtet von einer von ihm initiierten Polizeiaktion gegen kommerzielle Leihbibliotheken in Gera. Vgl. Kurd Schulz:

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der Kitschdiskussion spielte immer auch die Warnung vor moralischer Gefährdung eine große Rolle, und so wurde auch hier die womöglich drohende Vergiftung des Volkskörpers durch Kitsch diskutiert. Welches Potential hier schlummerte, zeigt eine Stellungnahme aus katholischem Milieu: »Der Kitsch ist eine unter ändern Blüten unserer besondern Kultursituation. Ihn bekämpfen, ohne diese selbst ernstlich ändern zu wollen, heißt eine Krankheit an den Symptomen kurieren.«23 Wenn Kitsch kein anthropologisches Phänomen, sondern ein Krisensymptom darstellte, dann hätte es ihn im neuen Deutschland nicht mehr geben dürfen. Angesichts der Allgegenwart des Kitsches und des offiziösen Interesses für den Film konnte sich diese Position zwar artikulieren, aber nicht durchsetzen. Das zeigte sich in einer 1936/37 geführten Kitschdebatte in der NSDAP, die erst vor dem Hintergrund der Ressortpolykratie des Regimes völlig verständlich wird.24 Die schärfste Attacke kam aus dem Amt Rosenberg, einer eher ohnmächtigen Parteistelle. So lange wir nicht aufhören, von einer Volkskultur zu sprechen, solange wir an sie glauben, werden wir gegen den literarischen Kitsch kämpfen müssen ebenso wie gegen andere Schädlinge im Volk. Das heißt: immer! Wir stehen vor einer Kardinalfrage unseres Schrifttums von ausgezeichneter politischer Bedeutung.25

Kitsch sei eine defätistische »Ausdrucksform eines unwahren Daseins, in dem alle ursprünglichen Maßstäbe verrückt sind. Menschen, die mit diesem geistigen Gift infiziert sind, können daher im Volksganzen kein wirklich gesundes Glied mehr darstellen.«26 Dieser Übereifer ging zu weit. Abgesehen davon, daß strittig war, was als Kitsch zu gelten hatte,27 gedachte man

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Schundkomplex und Leihbibliotheken. In: Bücherei und Bildungspflege 13,1933, S. 297-305. Es scheint sich dabei allerdings um Einzelfälle zu handeln. Alfred Kühn: Der Kitsch. In: Stimmen der Zeit. Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart 128, 1934/35, S. 106-111; Zitat S. 106. - Der katholische Kitschdiskurs wird nach 1945 fortgesetzt von Richard Egenter: Kitsch und Christenleben, Ettal 21958; ders.: Kunst und Kitsch in der Literatur, München [1958]. Vgl. grundlegend: Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe, München 1995. Werner Bökenkamp: Über die literarische Halbwelt. In: Bücherkunde. Amtliches Organ der Dienststelle für Schrifttumspflege bei dem Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP und der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums 5, 1937, S. 387-392; Zitat S. 389. Ebd., S. 391 f. »Es wäre, selbst wenn der Kitschhauswart wüßte, was in jedem einzelnen Fall die variable Größe Kitsch ist, ein hoffnungsloses und vergebliches Beginnen, da Kitsch

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ihn sich durchaus in Maßen zunutze zu machen. Von Seiten des Propagandaministeriums empfahl man, mit dem Kitschvorwurf zurückhaltend zu verfahren, weil es sich um einen jüdischen Kampfbegriff handele. Deutlich wies Reichsminister Dr. Goebbels daraufhin, als er hervorhob, daß nicht alles Primitive als Kitsch anzusprechen sei, oder als er in anderem Zusammenhang betonte, daß ein gewisser Teil von dem, was unter der Marke >Kitsch< laufe, als geistige Nahrung nicht zu entbehren sei.28

Auch der Gauleiter Frauenfeld wollte aus Gewinnsucht entstandenen Kitsch »[sofortiger Notschlachtung« zuführen, aber »Pseudokitsch«, der aus »Freudigkeit zur Kunst, aus echter, selbstloser Liebe zu ihr [entsteht], die aber nicht die richtige vollendete Form zu finden vermag,« gelten lassen.29 Die Debatte war damit vorerst zu Ende. In den vierziger Jahren setzte sich der Trend zur Verwissenschaftlichung der Diskussion endgültig durch. Drei dominante Aspekte zeigen sich: Kitsch wird als Ideologie interpretiert, er wird historisch rekonstruiert und stilanalytisch erfaßt. Die ideologiekritische Beurteilung des Kitsches führte Jörg Lampe in Will Vespers >Literatur< ein. Kitsch sei Resultat von Verdinglichung und folge aus der »Ideologie eines Kunstprinzips, wonach die Kunst [...] für alle da und brauchbar sein soll.« Er sei die Form der Sentimentalität, jener »Wucherung des [...] seiner schöpferischen Gestaltverwirklichung entfremdeten Gemüts. [...] Wie die Sentimentalität als ideologisches Gefühl, so hat der Kitsch als realisierte Ideologie, als Gegenstand gewordene Illusion zu gelten.«30 Heinz Hörn plädierte für eine »historisch-genetische

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gleichsam ein seelischer Defekt und daher nur durch seelische Entrümpelung zu beseitigen ist.« (Sigmund Graff: Von Kunst und Kitsch. In: Die Bühne. Zeitschrift für die Gestaltung des deutschen Theaters mit den amtlichen Mitteilungen der Reichstheaterkammer 2,1936, S. 526-528; Zitat S. 527.) Erich Dürr: Was ist Kitsch? In: Unser Wille und Weg. Monatsblätter der Reichspropagandaleitung der NSDAP (Ausgabe B) 7, 1937, S. 51-54; Zitat S. 52. Aflfred] Efduard] Frauenfeld: Kitsch und Kunst. In: Die Bühne. Zeitschrift für die Gestaltung des deutschen Theaters mit den amtlichen Mitteilungen der Reichstheaterkammer, 1937, S. 137-139; Zitate S. 137. »Kitsch als gewollte Kunst, sozusagen steckengeblieben in einem Frühzustand der Entwicklung, geleitet uns in die Vorhöfe des Allerheiligsten, in denen die Werke der Begnadeten stehen.« (S. 138) Jörg Lampe: Kitsch, Kunst und Volk. In: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde 42, 1939/40, S. 7-10; Zitate S. 8. Diesen Aspekt greift auch Heinz Hörn auf: Zur Kulturpsychologie des Kitsches. In: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt 9.6, 1942, S. 1-3: »Kulturpsychologisch gesehen, ist daher Kitsch die Erscheinungsform eines uneinheitlichen, substanzlosen, differen-

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Untersuchung« und identifizierte die Romantik als Ursprungsepoche des Kitsches.31 Schließlich legte Erich Thier die Ergebnisse einer Stilanalyse des Romans >Die Testamentsklausel< von Hedwig Courths-Mahler vor. Er entdeckte eine »leere Konventionalität der Sprachgebärden«, »Simplizität der Typenbildung«, Süßlichkeit, Sentimentalität, Verlogenheit der Stimmungen, Neigung zu Idyllischem und Niedlichem und anderes mehr.32 Damit war der Rahmen abgesteckt, in dem sich die wissenschaftliche Kitschdiskussion der sechziger und siebziger Jahre bewegen sollte. Eine Sonderstellung nahmen die in Deutschland nicht mehr rezipierten Konzeptionen von Hermann Broch und Clement Greenberg ein. Sie sind die unmittelbaren Anknüpfungspunkte für die Nachkriegsdiskussion.33 Kitsch gehörte zum Wertungsinventar der frühen literaturkritischen Schriften Brochs, ohne daß ein systematisches Konzept erkennbar wäre.34 Erst in den Essays >Das Weltbild des Romans< (1933) und >Das Böse im Wertsystem der Kunst< (1933) präsentierte er den Kitsch als theoretisch fundierten Begriff seiner in eine fragmentarisch gebliebene Wertphilosophie integrier-

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zierten Menschentums, dessen Denken utilitaristisch und merkantilistisch eingestellt ist« (S. 1). Schuld am Aufkommen des Kitsches sei das »Wachsen und Überhandnehmen des Kapitalismus« (S. 2). Der kitschige Schlager sei das >»Volkslied des kapitalistischen ZeitaltersKitsch< im System der bürgerlichen Ordnung. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 28.1, 1997, S. 1839. Beispiele finden sich in >Zolas Vorurteil· (KSA 9/1, 35), >Morgenstern< (KSA 9/1, 44, 45f), >Felix Dörmann: Der platonische Wüstling< (KSA 9/1, 349f.). - Brochs Werke werden mit der Sigle >KSA< zitiert nach: Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler. 17 in 13 Bänden, Frankfurt a. M. 1969-1981.

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ten Ästhetik.35 Brochs Kitschbegriff, der reich an Prämissen und Implikationen ist,36 war der theoretisch anspruchsvollste Beitrag zur Diskussion. Broch verknüpft Ethik und Ästhetik als Bestandteile derselben Handlung. Die Entstehung von Teilsystemen ist Resultat eines Zerfallsprozesses des ganzheitlichen christlichen Weltbildes des Mittelalters. Die je ausdifferenzierten autonomen Teilsysteme folgen einem ethischen Imperativ, der nicht auf das Telos des Systems ausgerichtet ist. Da dieses nämlich auf Totalität zielt, führt der entsprechende Imperativ zur Partikularisierung und Verendlichung. Der Imperativ des Systems Kunst lautet gerade nicht »Arbeite schön!«, sondern »Arbeite gut!«:37 »Ethischer Akt und ästhetisches Resultat!« (KSA 9/2, 90) Die Autonomie der Systeme ist von zwei verschiedenen Seiten her gefährdet. Den Imperativ anderer Systeme begreift Broch als heteronomen dogmatischen Einbruch (Tendenz in der Kunst). Gefährlicher ist das systeminterne Imitativsystem, das das Systemtelos zum Imperativ macht. Im Falle der Kunst ist dieses Imitativsystem der Kitsch. »Das Wesen des Kitsches ist die Verwechslung der ethischen mit der ästhetischen Kategorie, er will nicht >gutschön< arbeiten, es kommt ihm auf den schönen Effekt an.« (KSA 9/2, 150) Damit ist Kitsch als Systemzusammenhang autonom und präzise definiert. Kitsch ist keine Frage des Artefaktes mehr, sondern eine der ethischen Haltung des Künstlers. Das Problem der Gegenstandsbestimmung von 35

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Vgl. zu Brochs Werttheorie Ernestine Schlant: Die Philosophie Hermann Brochs, Bern - München 1971, S. 18ff.; Erich Kahler: Werttheorie und Erkenntnistheorie bei Hermann Broch. In: Manfred Durzak (Hg.): Hermann Broch. Perspektiven der Forschung, München 1972, S. 353-370; Otto Peter Obermeier: Das Konstruktionsprinzip in der Wertphilosophie. In: Paul Michael Lützeler / Michael Kessler (Hg.): Brochs theoretisches Werk, Frankfurt a. M. 1988, S. 98-108; Monika Ritzer: Hermann Broch und die Kulturkrise des frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, S. 69ff.; Anja Grabowsky-Hotamanidis: Zur Bedeutung mystischer Denkstrukturen im Werk von Hermann Broch, Tübingen 1995, S. 152ff. Das kann hier nur skizziert werden. In der Broch-Forschung wird der Kitschbegriff im Regelfall wenig problematisiert und keine Anknüpfung an die zeitgenössische Kitschdiskussion gesucht. Umgekehrt werden in die Kitschforschung Brochs Beiträge ohne Rekurs auf deren theoretische Verankerung einbezogen. - Neuerdings ein Hinweis darauf bei: Paul Michael Lützeler: Hermann Broch: zur Kultur der Moderne. In: Ärpäd Bernäth / Michael Kessler / Endre Kiss (Hg.): Hermann Broch. Perspektiven interdisziplinärer Forschung, Tübingen 1988, S. 31-45; hier S. 40. Vgl. Carl Barks: »Ich würde gerne als Mensch in Erinnerung bleiben, der gute Arbeit gemacht hat...«. Zitiert nach dem Paratext zu Barks Library Bd. 48, Stuttgart 2000.

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Kitsch ist damit entschärft, das des Übergangs zwischen Kitsch und Kunst gelöst. Andererseits ist die sowohl ethische wie ästhetische Abwertung in den Begriff integriert. »Denn der Kitsch ist das Böse an sich innerhalb der Kunst.« (KSA 9/2, 95) Eine Brücke zwischen >süßem< und >saurem< Kitsch war geschlagen.38 Broch kommt um 1950 im Rahmen des fragmentarischen Großessays >Hofmannsthal und seine Zeit< (1947/48) und des Vertrags >Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches< (1950) erneut auf das Thema zurück. Hier ergeben sich zwei charakteristische Veränderungen. Zum einen vollzieht Broch den in seinem Begriff implizierten Schritt zur anthropologischen Fundierung mittels des Konstrukts des Kitsch-Menschen (vgl. KSA 9/2, 158), das dann in der späteren philosophischen Analyse von Ludwig Giesz aufgegriffen wird.39 Zum anderen, und daraufhat Friedrich Vollhardt aufmerksam gemacht,40 akzentuiert Broch im Hofmannsthal-Essay die politischen Implikationen. In Analogie zu Karpfens Wilhelminismus-Diagnose bestimmt Broch den Kitsch als Symptom des Fin de siecle und das kakanische Wien als »Metropole des Kitsches« (KSA 9/2, 175).41 Schon 38

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»Man meint gewöhnlich, sein Charakteristikum sei das Süßliche und Sentimentale, das Weglassen der peinlichen und widerwärtigen Seiten der Realität, aber damit ist der Begriff noch keineswegs erschöpft, denn neben dem rosafarbenen Kitsch gibt es auch einen brutalen, mit einem Parfüm von Blutgeruch, einen wilden Originalitätskitsch und einen Edelkitsch, der allen hohen Ansprüchen zu genügen scheint.« (Hanns Sachs: Kitsch. In: Psychoanalytische Bewegung 4,1932, S. 455-461; Zitat S. 456.) - Vgl. Hans Egon Holthusen: Über den sauren Kitsch. In: Neue Schweizer Rundschau N. F. 18, 1950/51, S. 145-151. Vgl. Ludwig Giesz: Phänomenologie des Kitsches, Heidelberg 1960. Zur Kritik an diesem Ansatz vgl. Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage, Frankfurt a. M. 1973, S. 14ff. Vgl. grundlegend Friedrich Vollhardt: Hermann Brochs Literaturtheorie. In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Hermann Broch, Frankfurt a. M. 1986, S. 272-288; hier S. 279f. »[GJerade dieses dem Kitsch ergebene Krämervolk [...] war in dem behaglichen Unbehagen seines Daseins erlösungslüstern und voll heroisierender Vorstellungen, und über seiner unentwegten Tüchtigkeit wie über seinem hehren Kaufmannsgeist (wohlunterschieden von der schwarzelbischen Raffsucht der übrigen Nationen), schwebte der Heiligkeitskitsch, in dessen Namen die wilhelminische Nation stets aufbruchsbereit war, sei es zu nibelungenhafter Welteroberung, sei es zu nibelungenhafter Selbstverbrennung in Lohes heiliger Flamme.« (KSA 9/1,264) - Vgl. die späteren Ausführungen zu Karl Kraus (KSA 9/1, 270ff.). - Vgl. Ingeborg Hoesterey: Brochs Theorie der Künste und die dialogische Dimension des Exils. Zu Hofmannsthal und seine Zeit (1947/48). In: Alexander Stephan (Hg.): Exil. Literatur und die Künste nach 1933, Bonn 1990, S. 60-70.

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1933 war »Nero zum Feuerwerk der brennenden Christenleiber die Laute schlagend« (KSA 9/2, 95) eine Ikone des Kitsches. Nunmehr begriff Broch seine Zeit als die von Regierungen mit »Kitsch-Vorliebe« (KSA 9/1, 238). »Es ist kein Zufall, daß Hitler (gleich seinem Vorgänger Wilhelm II.) ein unbedingter Kitsch-Anhänger war, er lebte den blutigen und liebte den Sacharin-Kitsch.« (KSA 9/2, 171) - Ethischer Akt und ästhetisches Resultat! Brochs politologisch geschärfter Kitsch-Begriff ist durch Gillo Dorfles in die Diskussion der siebziger Jahre eingeführt und für die Analysen von Saul Friedländer und anderen vorbildlich geworden.42 Dieser kulturphilosophische Diskussionsstrang hat sich weitgehend unabhängig von der späteren literaturwissenschaftlichen Befassung mit Kitsch entwickelt und diese auch überdauert. Der erste Beleg für eine analytische Beschäftigung mit Kitsch außerhalb des deutschen Sprachraums in dieser Traditionslinie war Clement Greenbergs >Avant-Garde and Kitschfolk culture< den Garaus gemacht.43 »Kitsch pretends to demand nothing of its customers except their money - not even their time«.44 Als parasitäres Imitationssystem ist er der eigentliche Gegenpol der Avantgarde: »the alternative to Picasso is not Michelangelo, but Kitsch«:45 42

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Vgl. Gillo Dorfles: Der Kitsch, Tübingen 1969. - Dorfles hat seiner Darstellung Auszüge aus Brochs und Greenbergs Texten beigegeben. - Vgl. Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, München - Wien 1984; Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München - Wien 1991. - Die politische Zuspitzung ist auch schon greifbar bei Clement Greenberg: »When today a political regime establishes an official cultural policy, it is for the sake of demagogy. If kitsch is the official tendency of culture in Germany, Italy and Russia, it is not because kitsch is the culture of the masses in these countries, as it is everywhere else. The encouragement of kitsch is merely another of the inexpensive ways in which totalitarian regimes seek to ingratiate themselves with their subjects. [...] Kitsch keeps a dictator in closer contact with the >soul< of the people.« (Clement Greenberg: Avant-Garde and Kitsch. In: The Partisan Review 6.5, 1938/39, S. 34-49; Zitat S. 46f.) Ähnliche Probleme hatten einzelne deutsche Diskutanten beschäftigt. Die Frage nach dem Ort »volkstümliche[r] Kunst« stellte etwa Emil Lucka (Lucka, Dichtung [Anm. 14], S. 224). Greenberg, Avant-Garde (Anm. 42), S. 46. Ebd., S. 42. - »The pre-condition for Kitsch, a condition without which Kitsch would be impossible, is the availability close at hand of a fully matured cultural

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Where there is an avant-garde, generally we also find a rearguard. True enough simultaneously with the entrance of the avant-garde, a second new cultural phenomenon appeared in the industrial west: that thing to which the Germans give the wonderful name of Kitsch: popular, commercial art and literature with their chromeotypes, magazine covers, illustrations, ads, slick and pulp fiction, comics, Tin Pan Alley music, tap dancing, Hollywood movies, etc., etc.4*

Der scharfe Kitschgegner Greenberg, später der einflußreichste Kurator in den USA, bildet ex negative eine Schnittstelle zur Entwicklung der Kunst der sechziger Jahre. Sein Kitschkatalog ist ein vollständiges Inventar des Materials der späteren Pop-Art.47

Semantik Die historische Entwicklung läßt erkennen, daß die Semantik von >Kitsch< durch die akzelerierende Expansion der Begriffsintension gekennzeichnet ist. Es ist also zu rekonstruieren, was Kitsch denn nun eigentlich sein sollte, m. a. W. welchen Regeln die Verwendung des Wortes folgte. Die entscheidenden Komponenten waren von Anfang an im Begriff angelegt. Allerdings wurden die jeweiligen Implikationen sukzessive aktualisiert. Ferdinand Avenarius prangerte 1908 die Tendenz zur »Beseelung des Heims« durch eine spezifische Sorte von industriell gefertigten Massenartikeln an:48

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tradition, whose discoveries, acquisitions and perfected self-consciousness kitsch can take advantage of for its own ends. It borrows from its devices, tricks, strategeems, rules of thumb, themes, converts them into a system and discards the rest. It draws its life blood, so to speak, from this reservoir of accumulated experience.« (S. 40) Ebd., S. 39. Vgl. Abraham A. Moles: Psychologie des Kitsches, München 1972, S. 22ff.; Roland Simon-Schäfer: Kitsch und Kunst. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5.2, 1980, S. 37-52; Gregory Fuller: Kitsch-Art. Wie Kitsch zur Kunst wird, Köln 1992. Ferdinand Avenarius: Hausgreuel, München 1908 [Dürer-Bund, 44. Flugschrift zur ästhetischen Kultur], S. 4. - Vgl. Gerhard Kratzsch: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969 (zur Frage der »Hausgreuel« S. 21 Off.); Rüdiger vom Bruch: Kunstwart und Dürerbund. In: Diethard Kerbs / Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998, S. 429-438.

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Hans-Edwin Friedrich [D]ie Aschenbecher mit Max und Moritz, die Zigarrenabschneider in Form von Dackeln, die Bierkrüge in Form von Mönchen, denen beim Deckelöffnen der Bauch auseinandergeht, die Tintenfässer mit Pferdeköpfen, die Taster, bei denen man wem auf die Nase drückt, die Zigarrenspitzen, die wie Damenbeine aussehen, die Tischlampen-Glühbirnen, die ein Elefant im Rüssel hat.49

Diese >Hausgreuel< entsprechen dem, was Gustav Pazaurek etwa gleichzeitig >Kitsch< nennt. Der Direktor des Königlichen Landes-Gewerbemuseums zu Stuttgart hatte eine neue Abteilung einrichten lassen, die Geschmacksverirrungen im KunstgewerbeKitschmuseum< zur Besucherattraktion wurde. Kitsch war dort eine subordinierte Kategorie der Konstruktionsfehler, die terminologisch präzise den unkünstlerischen Massenschund klassifizierte.50 Schon im ersten Auftreten von Begriff und Sache lassen sich konstant bleibende Bestandteile greifen: die Zuordnung des Kitsches als Kommerzialisierungsphänomen zur Industrialisierung, seine Bestimmung als Gegenpol der Kunst und die ethisch-moralische Abwertung. Pazaurek sieht in der »Überproduktion von Kitsch eine beklagenswerte Nebenerscheinung, eine traurige Schattenseite des gewaltigen industriellen

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Avenarius, Hausgreuel (Anm. 48), S. 3. Vgl. Gustav E. Pazaurek: Geschmacksverirrungen im Kunstgewerbe. Führer für die neue Abteilung im Königl. Landes-Gewerbemuseum Stuttgart, Stuttgart 21909. Pazaurek unterscheidet sechs Arten von Konstruktionsfehlern: schlechte, verfehlte Konstruktion; schlechte Proportionen; Sinnwidrigkeiten; Konstruktions-Pimpeleien und -Attrappen; Technik-Surrogate; und »Kitsch. Unkünstlerischer Massenschund, namentlich in den verbreitetsten Unterabteilungen: Hurra-Kitsch, DevotionalienKitsch (Spekulation auf die patriotischen oder religiösen Gefühle), Fremdenandenken-Kitsch, Geschenk-Kitsch (bes. Hochzeitsgeschenke), Vereinskitsch (z. B. rückständige Studenten->KunstKampf um Kitsch. 3 Akte Schule< von Robert Adolf Stemmle (Berlin 1931).

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Aufschwungs im 19. Jahrhundert«.51 Avenarius begreift die Hausgreuel als Modeerzeugnisse, die ausschließlich dem Absatzbedürfnis des Handels entspringen. Die Nutzlosigkeit des Kitsches steht in Analogie zur Abweisung heteronomer Nutzenszumutungen in der Autonomieästhetik. Karpfen begründet entsprechend seine Auffassung vom Rokoko als Heimstatt des Kitsches: Man habe damals »Sessel, auf denen man nicht sitzen, Betten, in denen man nicht schlafen, Sofas, auf denen man nicht liegen kann«,52 produziert. Kitsch liegt vor, wenn Funktionsgegenstände dysfunktional gestaltet, Nutzgegenstände nutzlos sind. Die Ausweitung des Kitsches zum Antipoden der Kunst war zwar bei Pazaurek schon angelegt,53 aber noch ohne den Allgemeinheitsgrad, der in Gustav Sacks Sprachgebrauch erkennbar ist. Karpfen, der »mit Wort und Schrift der Kunst dienen [...] und den Kitsch als Antichrist dieser Religion verdammen«54 wollte, verband beide Aspekte. Die ethisch-moralische Abwertung wird grundsätzlich nicht auf den einzelnen Gegenstand bezogen, sondern zunächst seinen Erzeugern, später zunehmend auch seinen Konsumenten zugeschrieben. Schon Avenarius klagte: »für diesen in jedem Sinne wertlosen Tand wird Hunderttausenden gerade solches Geld aus der Tasche gelockt, das sie nicht unmittelbar zur Lebensnotdurft brauchen, das sie also zur Veredelung ihres Daseins anwenden können.«55 Pazaurek wollte Kitsch nach »dem Grade der Schäbigkeit«56 klassifizieren. Auf Reklamen für Hundekuchen oder für eine Teemarke statieren zwar ganz beziehungslos, aber lockend Frauen, die sich ausziehen. [...] Bezeichnend für

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Pazaurek, Geschmack (Anm. 5), S. 349. Den Aspekt der Kommerzialisierung betont Avenarius: »Kitschig ist dem Künstler ein Bild, das dem breiten Publikumsgeschmack entspricht und gleichzeitig leichte Verkaufsware ist.« (Avenarius, Kitsch [Anm. 8], S. 222.) - Pointiert bei: Moles, Psychologie (Anm. 47), S. 19ff. Karpfen, Kitsch (Anm. 1), S. 20. »Der äusserste Gegenpol der künstlerisch durchgeistigten Qualitätsarbeit ist geschmackloser Massenschund oder Kitsch, der sich um irgendwelche ethischen, logischen oder ästhetischen Forderungen nicht kümmert, dem alle Verbrechen und Vergehen gegen das Material, gegen die Technik, gegen die Zweck- wie Kunstform vollständig gleichgültig sind« (Pazaurek, Geschmack [Anm. 5], S. 349). - Zur Trias von Ethik, Logik und Ästhetik im zeitgenössischen Diskurs vgl. Storim, Ästhetik (Anm. 16), S. 21 ff. Karpfen, Kitsch (Anm. 1), S. 64. Avenarius, Hausgreuel (Anm. 48), S. 3. Pazaurek, Geschmack (Anm. 5), S. 350.

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Hans-Edwin Friedrich diesen spekulativen Kitsch [...] ist sein böses Gewissen. Er unterschiebt der offenen und schamlosen Spekulation edle Motive."

Zu diesen drei Grundbestandteilen treten im Verlauf der Diskussion weitere, die sich allerdings aus jenen ableiten lassen. Schon bei Gustav Sack hatte Kitsch allgemein das Nichtauthentische bezeichnet. Die kulturphilosophische Reflexion machte diese Komponente zu einer Dominanten. Karpfen betonte, »gefälscht ist das Empfinden, der Lebensausdruck, das Dasein der Epoche durch den Kitsch«.58 Kitsch sei »unwahrhaftige Gestaltung«.59 Die zunehmende Lösung der Bindung des Begriffs an konkrete Artefakte ist eine Folge der semantischen Ausweitung und der ethischen Abwertung. Das »Wesen des Kitsches in voller Tiefe« - so Carl Christian Bry - bestehe in einem Versprechen: »[E]s muß gesagt werden, daß zwischen dem Verhalten des Kitschkonsumenten und dem des Menschen, welchem Kunst ein Lebensantrieb ist, kein Abgrund liegt. Beide - wünschen. Beide möchten ihr Ideal, ihren Lebenstraum wiederfinden.«60 Kitsch wird in die Psyche des Kitschliebhabers verlagert. Er »ist meist nicht die Sache selbst, sondern etwas was ihr anhaftet. Kitsch ist keine Form, sondern ein Stimmungsfaktor.«61 Dann aber kann er nicht mehr ohne weiteres identifiziert werden: Was beim Bismarckbierkrug evident schien, entzieht sich zunehmend unmittelbarer Beobachtung. Ein echtes Novum war das Aufkommen der ideologiekritischen Denkfigur bei Eugen Sulz. Es wird wohl keinen Widerspruch erfahren, wenn ich als kitschig diejenige Literatur bezeichne, die den Leser in seinen konventionellen Voraussetzungen im Denken und Fühlen und in seinen Vorurteilen bestärkt und damit seine Selbstkritik einschläfert, also seiner Bequemlichkeit, seiner Herzens- und Geistesträgheit Rechnung trägt; die alle Dinge und Einrichtungen, die ihm gewohnt sind, stillschweigend oder betont als gut und richtig anerkennt oder aber bestimmte gewohnte

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Bry, Kitsch (Anm. 14), S. 405. Karpfen, Kitsch (Anm. 1), S. 10. Hoyer, Kitsch (Anm. 21), S. 302. »Dann tritt an die Stelle der Erschütterung die Sentimentalität, an die Stelle der Lebenswahrheit [...] die unechte Gestaltung und Verfälschung.« (Schäfer, Schund [Anm. 14], S. 135.) Bry, Kitsch (Anm. 14), S. 407, S. 405. Graff, Kunst (Anm. 27), S. 526. - Hier setzt die Forschungsrichtung an, die von Bollnow ausgeht. Vgl. Otto Erich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 1941 (S. 29f., 151).

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Formen der Moral- und Gesellschaftskritik, mögen sie noch so radikal sein, wiederholt (revolutionärer Kitsch).62

Kitschgenuß mußte folgerichtig als Eskapismus gedeutet werden. »Es kann uns aber nicht gleichgültig sein, ob ein Teil unseres Volkes sich in eine Scheinwelt verkriecht.«63 Die ideologiekritische Ablehnung von Kitsch ist keine linke Denkfigur, sondern eine Abgrenzungsfigur der Gebildeten unabhängig von ihrer politischen Provenienz.64 Offen blieb, ob Kitsch ein historisches Phänomen oder eine anthropologische Universalie sei. Die meisten Autoren sahen ihn als historische Erscheinung an. Josef Hofmiller etwa führte aus: »Heute fühlen sich viele Leser über Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten hoch erhaben und nennen sie Kitsch.«65 Hanns Sachs wollte Kitsch nicht als Gegenstand der Psychoanalyse akzeptieren, weil er »dem Mangel an Eigenart der ästhetischen Kultur unserer Zeit«66 entstamme. Als moderne Domäne des Kitsches galt der Film. »Während die Öldruckbilder über dem Sofa, die Totenkopfbierseidel, die Nur-ein-Viertelstündchen-Schlummerrollen im Aussterben begriffen sind, erfaßt der Film immer weitere Kreise.«67

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Eugen Sulz: Literarische Kunst und ihre Wirkung. Eine dynamische Kunsttheorie. In: Bücherei und Bildungspflege 12, 1932, S. 96-102; Zitat S. 101. Hoyer, Kitsch (Anm. 21), S. 303. Damit hing die Charakterisierung als kulturpolitisches Schlagwort zusammen: »Die jüdische >Kulturpolitik< der Systemzeit hatte sich des Schlagworts >Kitsch< bemächtigt, um alle künstlerischen Äußerungen verdächtigen zu können, die gesundem deutschem Naturempfinden entsprechen. Nur noch das Gekünstelte, das intellektualistisch Erklügelte war thohe Künste, alles Naturnahe, Schlichte und Volkstümliche, zumal alles bewußt deutsch Empfundene war >Kitscht. Diese jüdische Verdrehung der Begriffe hätte wohl kaum so tief in unser Kulturleben eindringen können, wenn ihr nicht der im 19. Jahrhundert offensichtlich gewordene Zwiespalt zwischen Gebildetenkultur und Volkskultur zustatten gekommen wäre. [...] Das bequeme Wort hatte es nun in sich. Es wurde zum Schlachtruf der modischen Kunstrichtungen untereinander. Was >die Andern< malten, das war Kitsch, also vor allem das Gestrige, das Dagewesene, das Unselbständige, das Bürgerliche, das Harmlos-Idyllische, zuletzt, mit dem Einsetzen der Gegenströmungen gegen den Naturalismus dann die brave Nachahmung der Natur. >Natur ist immer Kitsch.< In diesem Satz überschlug sich der Sinn dieses Kennworts. Man sprach von >kitschigen Sonnenuntergängem usw.« (Dürr, Kitsch [Anm. 28], S. 52f.) Josef Hofmiller: Schund und Kitsch. In: Münchner Neueste Nachrichten Nr. 165 vom 10. Juni 1932. Sachs, Kitsch (Anm. 38), S. 456. Kühn, Kitsch (Anm. 23), S. 107. »Statt Oeldrucke von 1870 das Kino von 1927. [Absatz] Ich kenne kaum Ausnahmen. Selbst eine Gestalt wie die der Kriemhild im

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Zwar wurde grundsätzlich nicht in Frage gestellt, daß Kitsch eine Folgeerscheinung der Industrialisierung war, aber die interne Logik des kulturphilosophischen Ansatzes zielte wie schon bei Karpfen auf eine anthropologische Verankerung, die Kitsch in die Nähe des Manierismus rückte. Das hellenische Zeitalter wurde besudelt von den gräßlichen Dingen, die in Massen entstanden; die Renaissance wurde erdrückt von geschäftigen Werkern; die Gotik erstarb an der Lächerlichkeit des Kitsches, der sie überwucherte und über das Barock hinweg im Rokoko seine eigentliche Domäne erbaute.68

Das war eine logische Folge daraus, daß als Kitsch nicht mehr der Nippes, sondern das Verhältnis des Besitzers zum Nippes galt. Er konnte dann nicht mehr nur historisch bleiben. »Jeder Mensch ist irgendwo und irgendwie >kitschigRomanperlen< und der Courths-Mahler beginnt, und, je nach Verständnis und Geschmack, bis Ludwig Ganghofer und Rudolf Herzog hinaufreicht.«72 Diesem Feld fehlte aber genau besehen eine eigene Bezeichnung. Es hieß denn auch Ende der zwanziger Jahre nicht mehr »sentimentaler Liebesroman« oder »Backfischbuch«, sondern Kitschliteratur.73 1930 hatte sich durchgesetzt, Hedwig Courths-Mahler als »berühmteste[...] deutsche[...] Kitsch fabrikantin«74 zu schmähen. »Kitsch ist weibisch und schwächlich«,75 deswegen dekretierte Hofmiller: »der Schund für Damen heißt Kitsch«.76

Funktionen Es liegt auf der Hand, daß der Begriff dankbar aufgenommen wurde, um das neue Phänomen massenhafter industriell gefertigter Alltagsgegenstände begrifflich zu fassen. Die künstlerische Produktion habe »durch die neuen technischen Hilfsmittel einen vorher ungeahnten Umfang und Charakter

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nichts zum Kitsch sagt, heißt: Neuer Schund und Kitsch. In: Jugendschriften-Warte 27,1920,8.7-8. Fronemann, Erbe (Anm. 9), S. 148. Sentimentaler Liebesroman< ist eine Bezeichnung von Charlotte Bühler: Die Motivgruppen im Massenroman. In: Hochwacht 8,1919, S. 173-184. Bertha Potthast beschreibt eine Reihe stilistischer Momente, die später als Kitsch identifiziert werden. »Dieser übertriebenen Vorliebe für Schmuck und Zierat, für Bilder und Vergleiche aber entspringen auch die großen Nachtheile und Schwächen der Marlittschen Sprache: Ueberladenheit, Schwulst und Phrasenhaft!gkeit, die zuweilen so stark hervortreten, daß es bis zu der blumenreichen Sprache und den Stilblüten zahlreicher beliebter und berühmter Leihbibliotheksromane nur noch ein ganz kleiner Schritt ist« (S. 126 ). - Marlitts Sprache gleicht einem prächtigen bunten Gewände, überladen mit den kunstvollsten Stickereien, mit Schmuck und Zierat oder auch einem der zahlreichen prächtigen Schlößchen des Barock mit ihren Erkern, Türmchen und Zinnen und all den Verschnörkelungen und Verzierungen. [...] Aber auf die Dauer wirkt diese Häufung von schmückenden Beiwörtern, von Gleichnissen, Bildern und allen möglichen auf Wirkung berechneten Kunstmitteln aufdringlich, macht die Sprache häufig schwulstig und überladen, unnatürlich und unwahr.« (Bertha Potthast: Eugenie Marlitt. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Frauenromans, Diss. Köln 1926, S. 127.) Lucka, Dichtung (Anm. 14), S. 227. Schäfer, Schund (Anm. 14), S. 135. Hofmiller, Schund (Anm. 65).

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angenommen«,77 stellte Hanns Sachs fest. Kaum eine Stellungnahme ohne die Klage: »Kitsch ist allgegenwärtig.«78 Es scheint, daß der Kitsch in unserer Zeit nicht auszurotten ist. Schlägt man ihn hier tot, sofort erscheint er in neuer Gestalt an anderer Stelle. Eine traurige Feststellung, wenn man sich des Kampfes erinnert, den Lichtwark in Hamburg, Wiehert und Hartlaub in Mannheim, Osthaus in Hagen, Pazaurek in Stuttgart, Storck in Karlsruhe, um nur diese zu nennen, dann endlich der Werkbund im Laufe von rund fünfundzwanzig Jahren gegen den Kitsch geführt haben.79

>Kitsch< ermöglichte die Kodierung eines allgemeinen, eher undeutlich gefühlten als explizit benennbaren Unbehagens. Es ging eben nicht nur um mißgestaltete Artefakte, sondern um deren Signalwert für eine umfassende Kulturkrise. Im Kitsch gewann die Falschheit, Unwahrhaftigkeit, Phrasenhaftigkeit der Zeit eine identifizierbare Form. Das verlieh dem Begriff Durchschlagskraft. Ihm kam darüber hinaus die Funktion zu, den Konsens über große Kunst zu fixieren und die Gruppe der Gebildeten als Kunstkenner und Kitschhasser zu stabilisieren und abzugrenzen. Sigmund Graff etwa behauptete, zur Identifizierung von Kitsch müsse man eine »Antenne« haben.80 >Kitsch< erlaubte die Festlegung, was Kulturgut war und was nicht. Vollends in Fragen der Glaubenslieder ist es sehr schwer, einem Gläubigen klar zu machen, daß ein tiefempfundenes und in der Form glattes Gedicht Kitsch sein kann; denn er ist [...] durchaus auf das eingestellt, was uns als weniger wichtig erscheint; den Inhalt des Liedes. Und wir Sachkundigen haben uns daran gewöhnt, ihn als Unkünstler, als Geschmacklosen, als >Kitschie< zu verachten[.]"'

Die Rede vom Kitsch kommt in einer Zeit auf, da die Grenzen der Kunst durch die Avantgarden ausgeweitet werden.82 Da man Kunst nicht der Beliebigkeit überlassen wollte, konnte der Kitschbegriff den Kunstbegriff stabilisieren, sobald er nicht mehr Artefakte, sondern Haltungen bezeich-

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Sachs, Kitsch (Anm. 38), S. 456. Bry, Kitsch (Anm. 14), S. 399. Kühn, Kitsch (Anm. 23), S. 107. Graff, Kunst (Anm. 27), S. 527. Münchhausen, Recht (Anm. 67). Vgl. zum theoretischen Kontext Georg Jäger: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese. In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 221-244, bes. S. 233ff.

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nete.83 Ein >ready made< konnte Kunst sein, weil die Haltung des Künstlers dies verbürgte. »Wenn sich ein besserer Künstler um des Erwerbes willen zum Kitsch hergibt, so merkt man meistens schnell, daß er etwas versucht, was ihm nicht angemessen ist.«84 In diese Richtung verweist die ebenso auffällige wie häufige Polarität von Kitsch und Avantgarde. Kitsch »hat zu allen Zeiten eine ebenso wirksame Rolle gespielt wie die absolute Kunst.«85 >Kitsch< kann aber auch das Problem formulieren, daß große Künstler auch immer mal wieder Mißlungenes schaffen. »[MJanchmal, wenn dieser Künstler ganz von seiner Kraft verlassen ist [...]; dann geschieht es, daß dieser große Meister - Kitsch gestaltet.«86 Der Topos, daß zum großen Kunstwerk ein Tropfen Kitsch gehöre, wird mit Vorliebe auf die Oper Richard Wagners angewandt. Mit negativen Untertönen als Demokratisierungsphänomen interpretiert87 bietet >Kitsch< die Möglichkeit, den für die Autonomieästhetik problematischen Bezug zum Massenpublikum zu fassen. Kunst und Kitsch sind darin verwandt, daß sie ungescheut nicht irgend welche persönlichen Sonderfälle, sondern die größten und allgemeinsten Stoffe wählen: Gefühle, Triebe, Bedürfnisse und Sehnsucht aller Menschen. Wegen dieser umfassenden Menschlichkeit wird gerade der größte Künstler immer den Mut haben, sich auch der Gefahr des Kitsches [...] ungescheut auszusetzen."

Im Kitschbegriff konnte die angestrebte Verknüpfung von Ethik und Ästhetik gewährleistet werden. Autonome Kunst war so auf komplexe Weise wieder an Moral angeschlossen. Der Kern des Begriffs ist sohin nicht ein ästhetischer, sondern ein ethischer. Die Harmonie von Schaffendem und Genießendem, die das Ziel der Kunst ist, wird nicht dadurch erreicht, daß jener diesen emporhebt, sondern daß er zu ihm herabsteigt. Die Wirkung auf Menschen sich sichern, indem man ihnen entgegenkommt, ist auf allen Gebieten sittlich bedenklich - es gibt kitschige Wissenschaft,

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Vgl. Braungart, Apologie (Anm. 14), S. 6. Lucka, Dichtung (Anm. 14), S. 226. - Das wird aber auch schon früh kritisch gesehen. Im Begriff Kitsch sei »mörderische Tücke« eingeschlossen, denn er »tötet das gegenwärtige Werk und vergiftet auch das vergangene. Das Gefallen an einer Leistung erstirbt plötzlich, wenn das Urteil zischt, sie sei Kitsch.« (Hans Tietze: Der Kitsch. In: Zeitwende 5.2, 1929, S. 218-228; Zitat S. 218.) Karpfen, Kitsch (Anm. l), S. 61. - Hervorhebung vom Verf. Ebd., S. 82f. »Auch dem exklusiv Künstlerischen ist der Hang zum allgemein Menschlichen zu tief eingesenkt, als daß er zu jeder Stunde gegen die Versuchung des Kitsches gefeit ist« (Tietze, Kitsch [Anm. 84], S. 222). Vgl. Tietze, Kitsch (Anm. 84), S. 219. Bry, Kitsch (Anm. 14), S. 409.

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Hans-Edwin Friedrich kitschige Moral, kitschige Politik - in der Kunst ist der Kitsch am empörendsten, weil er dem eigentlichen Wesen der Kunst ins Gesicht schlägt.89

Der Gegensatz zwischen >gut< und >schön< arbeiten war keine Erfindung Hermann Brochs. Bry führte etwa zu Karl May aus: Erst wo die natürliche Fabelei durch eine Schundphilosophie abgelöst wird, beginnt bei May der wirkliche Kitsch; und es ist eines der kleineren Paradoxa des Gebietes, daß seine Empfehlung gerade auf Grund der Tatsache erfolgt, daß er ja »ethisch« und »religiös«, also ein Fälscher seines natürlichen und unschuldigen Fabuliertriebes gewesen sei.90

Ein letztes Moment, das später an Bedeutung gewinnt, ist, daß >Kitsch< ein Modell für eine Wirkungstheorie abgeben kann: Zunächst lag ein Problem vor. Während sich die Gegner von Schmutz und Schund seit der Jahrhundertwende über die Gefahren einig waren,91 entzog sich Kitschliteratur weitgehend dieser Kritik. Kitsch sei »infolge seiner geschickten Drapierung nicht immer auf den ersten Blick zu durchschauen«.92 Immerhin konnte ja Hedwig Courths-Mahler immer auf die Moralität ihrer Bücher pochen.93 Der Kitschbegriff vermochte die Gefahren, die man hier vermutete, sichtbar zu machen. »In seiner Tiefenwirkung ist die Gefahr noch größer als beim Schund beim Kitsch. Während ein fein empfindender, moralisch noch nicht verkommener Mensch sich leicht von sittlichen Ausschweifungen abgestoßen fühlt, ist beim Kitsch von diesen handgreiflichen Unsauberkeiten nichts zu spüren.«94 Kitsch galt als Methode der Entproblematisierung,95 der Erziehung zu »geistige[r] Anspruchslosigkeit« und Entfremdung vom Le-

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Tietze, Kitsch (Anm. 84), S. 221. Bry, Kitsch (Anm. 14), S. 401 f. - »[E]in Vaterlandslied wird der Sozialdemokrat ablehnen, der Nationalgesinnte schön finden - beide sind Kitsch-Liebhaber, denn offenbar gilt beiden der politische Gesinnungswert eines Gedichtes als das Ausschlaggebende.« (Münchhausen, Recht [Anm. 67].) Vgl. die Zusammenfassung bei Georg Jäger: Der Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die Unterhaltungsindustrie. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 31, 1988, S. 163-191, hier S. 173ff. Schäfer, Schund (Anm. 14), S. 135. Vgl. dazu Andreas Graf: Hedwig Courths-Mahler, München 2000, S. 118f. Schäfer, Schund (Anm. 14), S. 134. »Es gibt auch nicht wirklichen Kampf und inneren Zwiespalt, nur noch Umwege und schelmische Verzögerungen bis zum Heiratsantrag, der alle Problematik aus der Welt schafft. Ist es nicht merkwürdig, daß mit so völliger Entleerung der Welt von ihrer Wirklichkeit, mit ihrer Reduktion auf ein paar triviale Gefühlshülsen die Herzen gewonnen werden können?« (Lucka, Dichtung [Anm. 14], S. 227.)

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ben.96 Mit dem ganzen Snobismus des Schloßherrn von Windischleuba konzedierte Bornes von Münchhausen: »Das Volk hat ein Recht auf Kitsch, so wie der wirtschaftlich Schwache eine Art >Recht< auf Diebstahl, der Schwache überhaupt ein Recht auf Lüge hat.«97 In der Schlußphase mehren sich die Momente, die auf einen Kollaps des Kitschbegriffs deuten. Pazaureks Stuttgarter Nachfolger Hermann Gretsch trieb den Begriff ironisch auf die Spitze. Auch bei den Reiseandenken scheinen mir ab und zu solche Gesichtspunkte eine Rolle zu spielen. Wieviel wurde über dieses Gebiet schon geschrieben und, Hand aufs Herz, wie oft kommt man in Ferienlaune selbst in Versuchung, sich irgend einen Scherz zu kaufen? Zum Kitsch werden solche Sachen erst, wenn Tante Klara sie auf ihrer Kommode aufstellt, damit Onkel Oskar und die lieben Freundinnen Stielaugen bekommen, weil Tante Klara eine sovielgereiste Dame ist. Mir scheint, viele Reiseandenken sind erst dann Kitsch, wenn sie ernst genommen werden, oder wenn sie von vornherein für die Kommode gedacht sind.98

Die Ausweitung des Kitschbegriffs vom Artefakt zur Bezeichnung einer Haltung spitzte Gretsch zu der Pointe zu, daß Gegenstände, die eigentlich eindeutig Kitsch sind, dies aus einer reflektierten Haltung betrachtet nicht mehr sind. Das entspricht der Haltung des Camp." Der Beethovenkopfauf dem Klavier wird nicht mehr mitleidig belächelt, er ist »vielmehr eher legendär geworden«.100

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Schäfer, Schund (Anm. 14), S. 136: »Liebes-Romane [...] modeln den Menschen um und machen ihn zur Puppe. Sein Vorstellungskreis wird mit Bildern erfüllt, die der Wirklichkeit kaum entsprechen. Leicht wird er unzufrieden mit dem Leben, das so ganz anders ist als es seine Bücher ihm vorgaukeln. Ich erlebte es selbst, daß eine Ehe daran zerbrach, daß die Frau, die eine Vielleserin war, sich >unverstanden< glaubte.« Münchhausen, Recht (Anm. 67). [Hermann] Gretsch: Kitsch. In: Deutsche Handelswarte. Beiträge zur deutschen Wirtschaftspolitik 23, 1935, S. 531-536; Zitat S. 533. Vgl. Franziska Roller: Trash Couture. Überlegungen zum guten schlechten Geschmack. In: Dies.: Abba, Barbie, Cordsamthosen. Ein Wegweiser zum prima Geschmack, Leipzig 1997, S. 195-222. - In diesen Kontext gehören dann die Kitschsammlungen, die teils von Kitschapologeten kompiliert werden. Vgl. Hans Reimann: Das Buch vom Kitsch, München 1936; Juscha Zöller: Ich liebe den Kitsch. Gedanken über das verzierte Dasein, München 1969; Gert Richter: Erbauliches, belehrendes, wie auch vergnügliches Kitsch-Lexikon von A bis Z, Gütersloh 1972. - Als Kunstwerk: Jeff Koons: Banality. In: Angelika Muthesius (Hg.): Jeff Koons, Köln 1992, S. 98-123. Kühn, Kitsch (Anm. 23), S. 106.

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Hans-Edwin Friedrich Dieselbe Nippessache verkitscht oder entkitscht sich je nach dem, ob sie auf der Kommode eines Backfisch-Schlafzimmers, auf dem Klavier einer Deutsch-Lehrerin oder auf dem Schreibtisch eines Staatsmannes steht. Sie kann in allen Fällen kitschig, in allen auch nicht kitschig sein. Sie kann sogar rührend, ja ergreifend sein. Entscheidend dafür ist der Grad von Wahrhaftigkeit bzw. Verlogenheit, der zwischen dem betreffenden Gegenstand und seinem Besitzer bzw. seiner Umgebung besteht.101

Oder: Im übrigen scheint mir, daß heute schon das Wort Kitsch verkitscht ist.102

101 102

Graff, Kunst (Anm. 27), S. 527. Gretsch, Kitsch (Anm. 98), S. 534.

Jürgen Stenzel

Kitsch ist schlecht. Aber was heißt das? Wertungstheoretische Überlegungen zum Kitschbegriff

Ach, die Kitsch-Diskussion; lang, lang ist's her. Etwas verkniffen und apologetisch war sie, hatte fast etwas Neurotisches. Diese Angst um die höhere Kultur, vor dem Massenfraß. Und als man die Massen lieben wollte, da sollten sie doch wenigstens das richtige Bewußtsein haben. Dann ging die Kitschforschung unmerklich ein, wurde einfach vergessen - und was passierte? Nichts. Jedenfalls nichts, wofür die Diskussion um Kitsch und Trivialkunst verantwortlich gemacht werden könnte. Der postmoderne Kunstbetrieb seinerseits konnte für die Existenz von Kitsch nur dankbar sein - auf den Knien. Kulturpessimismus? - Daß wir nicht lachen! Für die Wertungstheorie ist >Kitsch< ein ziemlich hoffnungsloser Fall: Das Wort läßt sich nicht zum Begriff domestizieren, der Sprachgebrauch würde sich einfach nicht darum scheren. Das liegt unter anderem an der klatschenden, feuchten, klebrigen Lautsymbolik des Wortes. Diese lautsymbolische Kraft setzt alle Semantik in Bewegung um, in die vernichtende Geste. Definitorische Dekrete wirken da nur hilflos. Deshalb ist mein Vortrag eigentlich ein Unding (was vordem übrigens ein Wort für >Chaos< war). Ich habe das Wort >Kitsch< bei wertungstheoretischen Überlegungen früher - als unerziehbar - immer vor die Tür gestellt. Nun klopft der Bengel aus Anlaß dieser Tagung wieder an und verlangt einen erneuten Versuch. Das Wort ist ja nun einmal da, und es ist zweifellos ein Wertwort, d. h. wir benutzen es, um gewisse kunst-artige oder kunstähnliche Phänomene damit zu verurteilen. Also sollte jemand, der sich mit Wertungstheorie befaßt, sich ihm auch stellen. Man kann das heute gewiß entspannter tun, als in den letzten Phasen der Kitsch-Diskussion, sicher mehr sine ira et studio als in den 60er und 70er Jahren; und dieser Umstand wird uns selber noch zum Thema werden. Zunächst sind einige begriffliche Voraussetzungen vorzustellen:1 Literarische Werturteile (als die wichtigsten wertenden Äußerungen) behaupten, bestimmte literarische Gegenstände erfüllten vermöge tauglicher Merkmale Vgl. Jürgen Stenzel: Das erste Knopfloch. Vom Wert literarischer Werturteile. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1991, S. 238-261.

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wünschenswerte oder doch wenigstens legitime Funktionen (das sind Wirkungen, also Veränderungen der Leute). Im negativen Falle tun die Gegenstände das nicht oder erfüllen abzulehnende Funktionen. Man kann also hauptsächlich über drei Dinge streiten: (1.) über das tatsächliche Vorhandensein bestimmter Gegenstandsmerkmale; die stellen wir interpretierend fest; (2.) über die positive oder negative Wirksamkeit oder die Unwirksamkeit solcher Merkmale; darüber belehrt uns unsere kulturell geprägte Erfahrung; (3.) über die Wünschbarkeit von Funktionen; die gründen wir auf Überzeugungen, über die wir anthropologisch und zeitdiagnostisch diskutieren müssen. Angewandt auf einen Kitschroman hieße das z. B., 1. festzustellen, inwiefern er, sagen wir: in seiner Handlung simple Wunscherfüllungsphantasien enthält (die Intrigen der schmallippigen Oberschwester fliegen auf, hübsche Krankenschwester heiratet Chefarzt); 2. zu beobachten, ob der Leser oder die Leserin (oder wir selbst) uns durch eine solche Handlung in ein wohliges Einverständnis mit dem Schicksal setzen lassen; und 3. ggf. zu diskutieren, ob eine solche Stimmung uns untüchtig für das Leben macht, das doch von uns Realitätssinn und Widerspruchsgeist etc. verlangt, besonders im Zeitalter der Globalisierung. Wertwörter (abgekürzt für Ausdrücke, die wir bei der Bewertung verwenden)2 können sich dementsprechend auf drei Felder beziehen: 1. auf Merkmale, 2. auf Funktionen und 3. zusammenfassend auf beide zugleich. Sie unterscheiden sich voneinander durch die Explizitheit, mit der sie von Merkmalen und Funktionen sprechen. Ein Merkmalswort spricht vom Komischen, schweigt aber von den Funktionen (Subjektveränderungen), die das Merkmal erzeugt; ein Funktions-wort spricht von Unterhaltung (etwas unterhält jemanden), schweigt aber von den Merkmalen, die eben diese Wirkung erzeugen. Dabei kann die >StreubreiteFeststellungen^ >Erfahrungen< und >Überzeugungem sich wechselseitig beeinflussen. Wenn wir beispielsweise überzeugt sind, nur ein sich anstrengender Mensch sei der wahre Mensch und Oblomow sei ein Tier, dann wächst unsere Disposition zu entsprechenden ästhetischen Erfahrungen, die wir durch Gebrauch entsprechender Merkmalskombinationen ja denn auch kultivieren. Und wir prämieren dann auch solche Merkmale (wie Komplexität oder Widerständigkeit) durch unsere feststellende Aufmerksamkeit. Und unser böser Bube? Was ist >Kitsch< für ein Wertwort? Zweifellos ein ausschließlich negatives zunächst. Aber wenn wir dann weiter zusehen, scheinen die Grenzen doch stärker zu verschwimmen als bei anderen Wertwörtern. Für ein lediglich zusammenfassendes Wertwort scheint >Kitsch< denn doch von zu speziellem Bedeutungsgehalt zu sein; denn es sagt Genaueres aus, als nur dies, daß der Urteilsgegenstand mit Hilfe bestimmter Merkmale unerwünschte Funktionen zeitige oder daß es ihm aufgrund bestimmter Merkmale nicht gelinge, erwünschte Funktionen zu erfüllen. Als reines Funktionswort kommt das Wort >Kitsch< insofern nicht in Betracht, als es sich nicht in eine grammatisch und semantisch zweiwertige Konstruktion übersetzen läßt (das ist die Regel bei Funktionswörtern): Es ist nämlich unpraktisch und sprachwidrig zu sagen, ein kitschiger Roman >kitsche< oder >verkitsche< den Leser. Ich sage >insofemKitsch< eine geringe >Streubreitesentimentale und wirklichkeitsfremde Wunschvorstellungen bedienender literarischer Gegenstand^ dann ist dieser äquivalente Ausdruck als Funktionswort zu klassifizieren (wobei denn die Merkmale, die für die Wirkung verantwortlich sind, als bekannt vorausgesetzt werden). Legt also der Kontext einer Diskussion eine solche Bedeutung nahe, dann funktioniert der Ausdruck >Kitsch< praktisch als Funktionswort.

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Strenggenommen jedoch kann das Wort >Kitsch< nach der eben beobachteten Regel der >Zweiwertigkeit< nur als Merkmalswort gelten, das also eine Gruppe von Merkmalen bezeichnet. Aber auch dann hat es üblicherweise eine geringe >StreubreiteStreubreite< rücken mithin die >Merkmalswörter< und die >Funktionswörter< besonders eng zusammen. Das bedeutet freilich nicht, das Wort >Kitsch< sei deshalb schon besonders bedeutungsscharf. Dann wäre es leichter definierbar, als es zu unserem Leidwesen ja tatsächlich ist. Wie immer man nun diese Spezialfrage entscheiden will, wichtig ist vor allem der Bereich, auf den das Wort zielt. Es geht nämlich um die ästhetische Erfahrung, daß bestimmte Merkmale gewisse unerwünschte und nicht zu billigende Wirkungen hervorbringen - eine Erfahrung, von der ich vorhin gesagt habe, sie sei kulturell geprägt. Eine Kultur (als unterscheidbar von anderen Kulturen) wollen wir auffassen als eine Gesamtheit von Präferenzen. Kultur ist mithin eine Gesamtheit von Wertungen. Solche Präferenzen unterliegen nicht nur dem historischen Wandel, sie hängen bekanntlich auch von regionalen, sozialen, Altersund Geschlechtsunterschieden ab. Unter den kulturell geprägten Erfahrungen (die hauptsächlich durch Introspektion beobachtet werden müssen, auch wenn man sich intersubjektiv über sie verständigen kann) gibt es offensichtlich sehr langlebige, für die ein Jahrhundert wie ein Tag ist; aber auch mehr oder weniger kurzfristig wandelbare. Dasselbe gilt für die ästhetischen Erfahrungen. In unserem Falle handeln wir ja gerade einmal gut zwei Jahrhunderte ab, denn das historische Quellgebiet des Kitsches ist die Epoche der Empfindsamkeit (worüber später noch einige Bemerkungen zu machen sind). Ästhetische Erfahrung, die Erfahrung also, daß die reine Wahrnehmung bestimmter Merkmalskombinationen bestimmte Wirkungen, mithin Subjektveränderungen erzeugt, ist verhältnismäßig leicht formbar. Es sei nur daran erinnert, wie schnell etwa Modefarben und -formen in manchen Bevölkerungsteilen zum je eigenen Geschmack internalisiert werden. Eigentlich muß man sich über solche Plastizität weniger wundern, als umgekehrt darüber,

Deutscher Kitsch, Göttingen "1978 (1962).

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daß viele Erfahrungsmodi anscheinend über Jahrhunderte stabil bleiben (und man müßte sich weiter fragen, woran das wohl liegt). >Kitsch< gehört nun in eben diese so leicht formbare Sphäre - und das ist der erste der von mir benannten Gründe, warum (wie über alle ästhetische Erfahrung) so schwer darüber zu sprechen ist. Insbesondere löst Kitsch (bei bestimmten Leuten nota bene) eine besondere Art von Peinlichkeitsgefühlen aus. Was wir als peinlich empfinden, wofür wir uns schämen, das ist nun aber auf ebenso vielerlei Weise kulturell modulierbar, wie etwa die Anlässe des Lachens. Kitsch erzeugt Gefühle, die bestimmte Leute nicht zulassen möchten. Mit der sprachlichen Geste >Kitsch< bannen sie (nämlich wir) diese Gefühle. Man soll derartige Gefühle (ich will sie einmal >die ganz einfachen Gefühle< nennen) nicht fühlen. Es gehört sich nicht. Fühlt man sie dennoch, so hat man das zu verbergen und sich zu schämen. Wir verhalten uns, wie jemand bei einem Begleiter, der sich danebenbenimmt: wir tun so, als gehörten wir nicht zu ihm. Ich sage >bestimmte Leute< - und da sind wir bei der entscheidenden Crux einer Hermeneutik des Kitsches (und dem zweiten der Gründe, warum über Kitsch so schwer etwas Vernünftiges zu sagen ist). Denn hier herrscht eine nahezu unüberwindliche Asymmetrie: Wer den Kitsch genießt, spricht nicht darüber, ja er hat nicht einmal ein Konzept davon. Wer dagegen über ihn spricht, genießt ihn allenfalls selten und sieht ihn nur von außen. Das gilt selbst für die industriellen Produzenten von Kitsch. Die echten Benutzer von Kitsch und Trivialliteratur befinden sich in einem geschlossenen Kreis, den man allenfalls ethnologisch erforschen müßte. Tatsächlich war es in gewisser Hinsicht ein großes Mißverständnis, als man die Rede über Trivialliteratur und Kitsch als Problem der literarischen Wertung behandelte.4 Ein Scheinproblem insofern, als man hier zwei Mannschaften, die in völlig verschiedenen Ligen spielten, in ein einziges Kontinuum zwängte. Als ginge von der Trivialliteratur eine Bedrohung für die Literatur aus. Die inständige Diskussion darüber, warum der >Zauberberg< Thomas Manns besser sei als ein x-beliebiger Heftroman, war allenfalls von theoretischem Interesse (und dabei irreführend), aber ohne jeden praktischen Lebensbezug. Denn eine solche Wahl stellt sich im Leben konkret gar nicht. Hat denn jemals die konkrete Gefahr bestanden, daß die Gebildeten in Scharen der heimischen Bibliothek den Rücken kehren und zum Kiosk laufen? Der Einwand, daß zwischen dem Fernsehen und der Literatur eine Jochen Schulte-Sasse (Hg.): Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Aufklärung. Studien zur Geschichte des modernen Kitschbegriffs, München 1971; ders.: Literarische Wertung, Stuttgart 1971; ders. (Hg.): Literarischer Kitsch, Tübingen 1979.

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solche Konkurrenz doch sehr wohl bestünde, ist nur teilweise stichhaltig: Ich muß aus eigener Erfahrung leider bestätigen, daß ich des öfteren sehr wohl Krimis sehe, statt ein gutes Buch in die Hand zu nehmen, also Triviales konsumiere; andererseits: Verfilmungen von Rosamunde-Pilcher-Romanen oder Volksmusikabende, also Kitsch, meide ich denn doch wie die Pest. Gleichwohl nahm man jedenfalls einen Zusammenhang an, und der bestand entweder in der Annahme einer Bedrohung (Trivialliteratur zerstört die Literatur) oder in Paternalismus (die Kitschgenießer werden in Unmündigkeit gehalten, man muß sie daraus befreien, damit sie emanzipiert werden können). Was diese Diskussion um die literarische Wertung faktisch vollzog, war zuerst die apologetische Selbstartikulation und Verteidigung der Hochkultur (Kitsch das absolut Böse in der Kultur),5 später dann (Untertitel: Trivialliteraturforschung) deren Unterminierung durch ideologiekritischen Relativismus (Stichwort: Erweiterung des Literaturbegriffs)6 bzw. die Ausarbeitung einer Utopie emanzipierter Bürger (man solle die >Literatur der Arbeitswelt< und die >Bottroper Protokolle< lesen). Das Verstehen von Kitsch leide an einer unüberwindlichen Asymmetrie, habe ich behauptet. Das ist fast noch zu wenig gesagt. Das katholische Mütterchen von Allotting mit seinem Andachtsbild weiß nichts von Kunst oder Kitsch; es findet das Bildchen schön und ist tief ergriffen und hängt daran. Versteht ein Braunschweiger Germanist jemals, wie dem Mütterchen zumute ist? Der wahre Kitsch ist uns ebenso verschlossen wie das Paradies der daraus vertriebenen Menschheit, die Kindheit dem Erwachsenen, der Mythos dem Aufgeklärten, die Indianerkultur dem Feldforscher - um nur einige Beispiele zu nennen. Gegenüber den wahren Kitschgenießern, den naiven, erfüllt jedes Reden von Kitsch von vornherein den Tatbestand von Arroganz und Diffamierung. So ist die Peinlichkeit gewisser Gefühle denn auch nur eine stellvertretende. Denn denen, die da kulturell unter uns vegetieren, sind sie ja gar nicht peinlich. Sollten sie aber? Ja, dann müßten sie ihre Sozialisation noch einmal von vorne anfangen, wie Homunkulus in >Faust II< 7 - nämlich die unsrige.

Hermann Brach: Das Böse im Wertsystem der Kunst. In: Ders.: Essays, Bd. 1: Dichten und Erkennen, Zürich 1955, S. 311-350. Helmut Kreuzer: Trivialliteratur als Forschungsproblem. Zur Kritik des deutschen Trivialromans seit der Aufklärung. In: Veränderungen des Literaturbegriffs. Fünf Beiträge zu aktuellen Problemen der Literaturwissenschaft, Göttingen 1975 [der Aufsatz Kreuzers zuerst 1967]. Ende des 2. Aktes.

Kitsch ist schlecht. Aber was heißt das?

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Gewiß, es geschieht, daß man sich unter seinem Niveau amüsiert, und so kann man auch unter seinem Niveau gerührt sein (jeder, heißt es, hat so seine Kitsch-Ecke). Oder man könnte allenfalls, falls man dürfte. Welches Verbot ist da in Kraft? Das ist die Frage, und zwar die Frage nicht an den originären Kitschgenießer, der uns darüber ja keine Auskunft geben kann, weil er in diesen Dingen sprachlos ist, sondern an uns selber, die wir das Wort >Kitsch< als bannende Geste verwenden, die die >ganz einfachem Gefühle auf Distanz hält. Vielleicht ist die Forderung nach Distanz gegenüber den >ganz einfachen Gefühlem das Ergebnis eines Zivilisationsprozesses. Vielleicht dürfen aber solche Gefühle bei uns hier oben auch nur deshalb nicht sein, weil sie da unten eben sind oder zu sein scheinen. Es ginge dann also bloß um soziale Distinktion. Spätestens seit dem Neostoizismus des ausgehenden 16. Jahrhunderts ist ja Contenance, Beherrschung der Gefühle ein Ausweis der (männlich vorgestellten) Oberschichten. Weshalb denn eine Gesellschaft der Urschrei-Therapie den Kitsch eigentlich wieder in die Arme schließen müßte und es in vielfältiger Weise ja auch überall tut. Wenn ich vermute, die Ablehnung von Kitsch durch die zu solcher Ablehnung Befähigten könnte sich historisch einer Bewirtschaftung des Gefühlshaushalts im Sinne sozialer Distinktion verdanken, so bedeutet solche, wenn man so will, ideologiekritische Einsicht durchaus nicht, daß beispielsweise ich nun anfinge, Kitsch zu genießen oder Trivialliteratur zu lesen. »Der Aberglaub', in dem wir aufgewachsen, / Verliert, auch wenn wir ihn erkennen, darum / Doch seine Macht nicht über uns. - Es sind / Nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.« Das stimmt, auch wenn Saladin auf diese Worte des Tempelherrn spöttisch repliziert: »Sehr reif bemerkt!«8 Und weiter sei am Rande notiert, daß natürlich Kitsch, der gesammelt, süffisant genossen, ironisch zitiert wird, einer, mit dem man spielt, kurz: daß erkannter Kitsch etwas ganz anderes ist als der naiv genossene. Und das gilt auch im Hinblick auf einen großen Teil der Produzenten, die Kitsch entweder zynisch oder einfach gewinnbringend industriell herstellen. Die Angst um die bürgerliche Hochkultur ist jedenfalls geschwunden, wahrscheinlich zusammen mit dieser selbst als bestimmender Größe. So hat die vertikale Perspektive, das soziale Distinktionsbedürfnis, an Interesse verloren - ebenso auch der linke Paternalismus, der die Massen vor der eigenen Indolenz schützen wollte. So scheint denn wirklich nur noch übrig zu sein, Kitsch und Trivialliteratur der ethnologischen Forschung, der

Lessings >Nathan der Weise< IV, 4.

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Volkskunde zu überlassen. Freilich: Die Benimm-dich-Kurse für Manager (wie öffnet man eine Auster und zerlegt einen Hummer?) deuten eine Kehrtwende an, die Distinktion von unten und oben wird wieder wichtig. Deshalb wird das Thema >Kitsch< möglicherweise wiederkehren, wenn vielleicht auch nicht von hier und heute aus. Der dritte Grund, den ich heute für die Schwierigkeiten mit einem werttheoretisch reflektierten Kitschbegriff beibringen möchte, liegt in folgendem: Mir fällt kein anderes Wertwort ein, dessen Anwendbarkeit so offensichtlich historisch begrenzt ist. Es dürfte Konsens sein, daß man jenseits einer bestimmten historischen Schwelle (über deren genaue Lage vielleicht die Meinungen auseinander gehen) mit dem Kitschbegriff ins Leere stößt. Erst diesseits dieser Schwelle gibt es die Bedingungen, die eine Anwendung des Ausdrucks >Kitsch< sinnvoll erscheinen lassen. Deshalb müssen alle Versuche scheitern, die ahistorisch einfach bestimmte Merkmale namhaft machen. Sogleich wird der Ruferschallen: Gibt es dasselbe nicht im 17. oder 18. Jahrhundert? Und ist das vielleicht Kitsch? Ich habe vorhin schon einmal die Empfindsamkeit als das Quellgebiet bezeichnet, aus dem die Erfahrungsmuster für Trivialkultur und Kitsch abgeleitet werden. Die Empfindsamkeit hat etwa Anfang des 19. Jahrhunderts ausgespielt und wird nach unten abgedrängt (durch Klassik, Romantik und Junges Deutschland v. a.). Gleichzeitig entsteht der Massenbedarf zusammen mit den medialen Möglichkeiten zu seiner Befriedigung; also das literatursoziologische Feld, auf dem Kitsch gedeihen kann. Als Symptom dafür erscheint mir, daß eine der vermutlich frühesten Darstellungen eines kitschig empfindenden (sentimentalen) Menschen sich in Büchners >Woyzeck< (um 1835) findet, die Figur des Hauptmanns nämlich mit einer seiner fixen Ideen: »(Gerührt.) Woyzeck, Er ist ein guter Mensch, ein guter Mensch.«9 (Möglicherweise findet sich Entsprechendes auch schon früher, etwa in Zusammenhängen der Empfindsamkeitskritik.) Freilich wird diese historische Begrenztheit nur dem zum Fallstrick, der seine Wertmaßstäbe unbedingt durch Universalien begründen zu müssen glaubt. Werturteile ergehen aber - man kann es nicht oft genug sagen - immer hie et nunc; sie sind immer aktuell - weil sie nämlich Eignungsbehauptungen sind, und Eignung prognostiziert man für die nächste und fernere Zukunft. Im Verlaufe einer mit dem späten 18. Jahrhundert einsetzenden Entwicklung entsteht ein wahrscheinlich bis zum heutigen Tage bestehendes mentalitätsgeschichtliches und literatursoziologisches Kontinuum, in dem der Begriff >Kitsch
Asymmetrie< und >Historische Begrenztheit keine Rolle spielen? Gibt es nicht auch Kitsch in unserem eigenen Revier? Auf gleicher Augenhöhe sozusagen? Und bei Texten, die noch im aktuellen Gebrauch sind, dem geltenden Kanon noch angehören? Wie steht es damit, um Roß und Reiter zu nennen, etwa bei Wolf Biermanns Sentimentalitäten, wie in der Serbien-Mystik Peter Handkes, wie in manchen Gedichten Rilkes (vom Kitsch des >Cornet< ganz zu schweigen)? Früher wäre es sicher einer Blasphemie gleichgekommen, eines der berühmtesten Gedichte der deutschen Literatur unter Kitsch-Verdacht zu stellen (wenigstens in Teilen und also ganz). Aber hören Sie doch noch einmal Rilkes Sonett von 1908 in der Beleuchtung des Kitsch-Verdachts: ARCHAISCHER TORSO APOLLOS Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

10

Vgl. Jürgen Stenzel: Literaturgeschichte als Wertungsgeschichte. In: GermanischRomanische Monatsschrift, Neue Folge 37, Heft 4, 1987, S. 361-375.

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Jürgen Stenzel und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern."

Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt; und ich will nicht gerne unfair sein. Deshalb verschanze ich mich zunächst hinter Gottfried Benn, der am 24. Aug. 1941 an Oelze von der >großen Blüte< schreibt, die Rilke immer noch erlebe, »eigentlich doch gegen die Zeit u. ihre Forderungen«. Sie sei wohl nur so zu erklären, dass alles Ideenhafte bei ihm im Grunde sehr durchschnittlich ist, d. h. weitgehend nacherlebnisfähig u. allen zugänglich. Man empfindet ihn vielleicht als übertrieben und krankhaft verfeinert, aber was verfeinert und krankhaft ist, das ist immer noch einfühlbar für jeden Durchschnittsproblematiker und »menschlich« (d. h.: familiär) verständlich. Es liegen gar keine gefährlichen Absichten bei ihm vor. Daher die grosse Duldung heute ihm gegenüber. Genial ist nur ein Vers bei ihm: der Schlussvers von »Archaischer Torso Apollos« - »Du musst Dein Leben ändern«. Darüber bei anderer Gelegenheit mehr!12

Die Gelegenheit findet sich am 13. September: Ich fand den Vers erstaunlich, weil er plötzlich eine tatsächliche anthropologische Erkenntnis enthüllte. Erst drechselt R. 13 Reihen lang sein zähes, mühsäliges Reimplastilin um diesen Torso herum, verkautschukt den Marmor lyrisch, nimmt ihm Knochen u. Umriss, verdreht ihm die Augäpfel, befasst ihm neidisch die potenten Geschlechtsteile, aber plötzlich, völlig unmotiviert bricht aus diesem entmannten Gestammel die Donnergestalt einer wahren Daseinszusammenfassung hervor: entweder ist die Kunst lebenverändernd, d. h. lebenzerstörend oder sie ist ein Dreck (Plastilin). Dieses Männchen: in zarten, kränklichen, kindischen, unverschämten und gleichzeitig raffinierten und ewig schielenden und hilfesuchenden Ausflüchten seine entartete Existenz verbergend, wird selber von diesem Torso so betroffen und verändert, dass er erkennen muss und endlich einmal ein echtes Etwas / aussprechen muss: die Gewalt der Kunst, ihr Ens realissimum, ihre mutative Ananke. Dies erschien mir interessant, so dachte ich mir diesen Vers zurück. 13

Wenn es so wäre! Aber doch vielleicht ein Wunschdenken Benns. Geht es da wirklich um die lebenszerstörende Kraft der Kunst, oder haben die Bildungsbürger recht, die den Vers als säkularisierten Ruf zur Buße, zur metanoia, zur fundamentalen Sinnesumkehr auffassen? Und wenn es so wäre 11

12

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Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hg. von Ernst Zinn, Frankfurt a. M. 1975, Bd. 2, S. 557. Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze. 1932-1945. Hg. von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder, Bd. l, Wiesbaden - München 1979, S. 283f. Ebd., S. 285f.

Kitsch ist schlecht. Aber was heißt das?

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darf sich dieser Bußruf auf die vorangehenden Verse berufen, beglaubigen sie ihn? Das denn doch wohl trotz oder vielmehr wegen aller sichtbaren Anstrengung nicht. Ich übergehe die Reihe der störenden Einzelheiten, die dem Ganzen den Charakter einer unerlösten poetischen Bastelübung verleihen; zugegeben: auf sehr hohem Niveau. Und dann ist der Schluß doch einfach Anmaßung, ein steiler, allzu zitierfähiger Unfug, dazu angetan, eine Kunstreligion zu suggerieren, die vielleicht noch gewollt werden, aber im Ernste nicht mehr geglaubt werden kann. Wertung ist immer aktuell, hie et nunc. Als Behauptung über den Wert eines Gedichts schlösse ein negatives Urteil, das Verdikt des Kitsches, gleichwohl die Folgerung ein, sein Autor und alle Bewunderer dieses Gedichtes seien in einem Irrtum befangen gewesen. Das ist die Anmaßung des >Sprachspiels Werturteile Sie verbannt das Gedicht in die bloße Geschichte, tauglich nur noch als Symptom vergangener Illusionen. >Kitsch< aber nicht in den uns verschlossenen Gefilden der kleinen Leute zu entdecken, sondern in unserer eigenen, der von uns ernstgenommenen Kultur- da könnte die vernichtende lautsymbolische Geste wieder aggressive Frische und kritische Kraft bekommen und die Auseinandersetzung über solche Behauptungen etwas dazu beitragen, daß wir uns darüber verständigen, wer wir sein sollen und wozu Literatur gut ist.

Gerhard Kurz

Klatsch als Literatur, Literatur als Klatsch I. Meine Überlegungen gehen von der Annahme oder Überzeugung aus, daß die, an sich ja nicht selbstverständliche, Lebenskraft und Lebensdauer der Literatur u. a. darauf beruht, daß sie auf eine kunstvolle, genauer: kunstvollere Weise sprachliche Formen des Alltags aufnimmt und weiterfuhrt. Mit ihren spezifischen Formen bildet die Literatur keine den Formen des Alltags entrückte Welt. Sie baut vielmehr auf den kommunikativen Formen des Alltags auf. Die kleine oder große Erzählung kann mit elementaren alltäglichen Erzählformen verglichen werden, mit dem Witz, der anekdotischen, der sagenhaften oder schwankhaften Erzählung,1 umfangreichen Erlebniserzählungen, z. B. aus der Familiengeschichte, der Schule, dem Krieg;2 das Drama läßt sich beziehen auf Alltagskonflikte, die einen tragischen oder komischen Verlauf nehmen können; die lyrische Artikulation auf den begeisterten Ausruf, die besinnliche Reflexion, die Anrede, die spontane Lust am Witz und am Rhythmus, an der Musikalität des Sprechens. »Die Maus ist aus!« rief fröhlich die Verkäuferin in einem Computer-Laden. Häufig benutzen wir in Alltagsgesprächen auch fiktionalisierende Sätze, wie »Stelle Dir vor, ich hätte ihn nicht angerufen...«.3 Solche Formen könnte man alspro/oliterarische oder semiliterarische Formen bezeichnen. Sie sind nicht als Literatur intendiert, enthalten jedoch Eigenschaften, die auch für die literarischen Formen konstitutiv sind. Diese Überlegungen und Fragen verdanken natürlich viel den Fragestellungen von Andre Jolles' >Einfache Formern,4 Hermann Bausingers >For-

Vgl. z. B. Rolf Wilhelm Brednich: Sagenhafte Geschichten von heute, München 1994. Vgl. Hermann Bausinger: Alltägliches Erzählen. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. l, S. 323-330; Konrad Ehlich (Hg.): Erzählen im Alltag, Frankfurt a. M. 1980. Vgl. Wolf-Dieter Stempel: Alltagsfiktion. In: Konrad Ehlich (Anm. 2), S. 385403; Jörg R. Bergmann: Authentification et fictionalisation dans les conversations quotidiennes. In: Alain Trognon u. a. (Hg.): La construction interactive du quotidien, Nancy 1994, S. 179-201. Andre Jolles: Einfache Formen, Darmstadt 21958.

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Gerhard Kurz

men der VolkspoesieVon Mund zu Ohr< 6 und, jüngst, Wolfgang Braungarts >Ritual und Literatur^7 Sie sind, um literaturgeschichtlich weiter zurückzugehen, einer Position wie der Achim von Arnims nahe, der im Disput mit Jacob Grimm über das Verhältnis von Natur- und Kunstpoesie darauf bestand, daß es zwischen beiden zwar Unterschiede, aber keine Gegensätze gebe.8 Im >Journal meiner Reise im Jahr 1769< erwägt Herder am Beispiel der fabulösen Geschichten der Seeleute, wie eine »genetische Erklärung«9 des Dichtungsvermögens und der Dichtung aussehen könnte. Methodisch vergleichbar verfuhren Schiller und Schlegel: In den Briefen >Über die ästhetische Erziehung des Menschern (26. Brief) werden im Schmuck und in der Mode, in der »Neigung zum Putz und zum Spiele« ästhetische Vorformen der Kunst gesehen. Einen von Herder eingeführten Begriff verwendend, entwickelt Schlegel die eigentliche Kunst< aus den >Elementen< der gesellschaftlichen »Naturpoesie«, wie z. B. dem Puppenspiel.10 Schließlich verdanken sich diese Überlegungen ethnographischen und linguistischen Studien, wie z. B. Deborah Tannens >Talking VoicesNeuigkeitNeuigkeit aus der ZeitungUnterhaltungen deutscher Ausgewandertem handeln von dem, wovon der Klatsch meistens handelt: »Sie behandeln [...] gewöhnlich die Empfindungen, wodurch Männer und Frauen verbunden oder entzweiet, glücklich oder unglücklich gemacht, öfter aber verwirrt als aufgeklärt werden.«28 Ein Blick in eine beliebige Bahnhofsbuchhandlung mag die Gültigkeit der These von der Klatschfunktion von Literatur belegen. Neben Sachbüchern nehmen Krimis, Liebesromane und Biographien den größten Platz ein. Was uns an Biographien, Liebesromanen und auch an Krimis fasziniert, sind doch auch die unerhörten, sensationellen Begebenheiten, die Möglichkeit des voyeuristischen Blicks in das >Privatleben< der Figuren. In der Vorrede zu seinen Übersetzungen der Lukianischen >Göttergespräche< schreibt Wieland: Es war ein ebenso glücklicher als neuer und kühner Gedanke, die Götter, sozusagen in ihrem Hauswesen und im Negligee, in Augenblicken von Schwäche, Verlegenheit und Zusammenstoß ihrer einander so oft entgegenstehenden Forderungen und Leidenschaften, kurz, in solchen Lagen und Gemütsstellungen miteinander reden zu lassen, wo sie (unwissend, daß sie Menschen zu heimlichen Zuhörern hätten) sich selbst gleichsam entgöttern und ihren betörten Anbetern in ihrer ganzen Blöße darstellen mußten.29

Der Reiz solcher Literatur dürfte auch im sublimierten Genuß von Klatschmustern liegen: in der Enthüllung und Vorführung des Intimen, der »Schwäche« und »Blöße«, in der Sublimation einer Lust am Verletzen und Bestätigen moralischer Regeln, im Gefühl der Macht, vor der es keine Geheim-

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Das Ganze und das Teil. Zur Bedeutung der Geselligkeit in der ästhetischen Diskussion um 1800. In: Christoph Jamme (Hg.): Kunst und Geschichte im Zeitalter Hegels, Hamburg 1996, S. 106ff. Vgl. Markus Pausen Klatschrelationen im 17. Jahrhundert. In: Helwig SchmidtGlintzer (Hg.): Fördern und Bewahren, Wiesbaden 1996, S. 262; Reinhart Meyer: Novelle und Journal, Stuttgart 1987; Jens Ahlbrecht: Eine Poetik der Novelle, Marburg 1999, S. 49ff. Goethe, Werke (Anm. 25), S. 143. Lucians von Samosata: Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von Christoph Martin Wieland, Teil 2, Leipzig 1788,8.3.

Klatsch als Literatur, Literatur als Klatsch

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nisse gibt. Schlüsselromane wie z. B. Simone de Beauvoirs >Les Mandarins< oder Kurt Mautz' >Der Urfreund< arbeiten mit dem Enthüllungsmuster des Klatsches. Man weiß, daß Fontanes >L'Adultera< und >Effi Briest< auch als Schlüsselromane gelesen werden können und gelesen wurden. Die Dreiecksgeschichten beider Romane sind geradezu ein klassisches Klatschthema. Aufschlußreich für den Verlauf eines Klatschgesprächs und für das ästhetische Potential des Klatsches ist Fontanes Brief an Friedrich Spielhagen vom 2 I.Februar 1896: Instetten ist ein Oberst Baron v. A. [...] Effi ist ein Fräulein [...] aus der Gegend von Paretz, nicht aus der Mark [...] Soviel ich weiß, lebt die Dame noch, sogar ganz in der Nähe von Berlin. Mir wurde die Geschichte vor etwa 7 Jahren durch meine Freundin und Gönnerin Lessing (Vossische Zeitung) bei Tisch erzählt: »Wo ist denn jetzt Baron A.?« fragte ich ganz von ungefähr. »Wissen Sie nicht?« Und nun hörte ich, was ich in meinem Roman erzähle. Übrigens, glaube ich, wußte Frau Lessing, den Namen der Dame nicht genau [...] Übrigens sagte mir Geh. Rat Adler [...] »Gott, das ist ja die Geschichte von dem A.« Er hatte es doch rausgewittert [...] Die ganze Geschichte ist eine Ehebruchsgeschichte wie hundert andere mehr und hätte, als mir Frau L. davon erzählte, weiter keinen Eindruck auf mich gemacht, wenn nicht die Szene bzw. die Worte »Effi komm« darin vorgekommen wären. Das Auftauchen der Mädchen an den mit Wein überwachsenen Fenstern, die Rotköpfe, der Zuruf und dann das Niederducken und Verschwinden machten solchen Eindruck auf mich, daß aus dieser Szene die ganze lange Geschichte entstanden ist. An dieser einen Szene können auch Baron A. und die Dame erkennen, daß ihre Geschichte den Stoff gab.30

Mit welchen anderen, ästhetischen, historischen, psychologischen und kritischen Einstellungen auch immer dieser Roman gelesen werden soll, er behält eine strukturelle Affinität zur diskreten Indiskretion des Klatsches. Der Erzähler erzählt unerhörte Begebenheiten aus dem Privatleben anderer.

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Fontanes Briefe in zwei Bänden. Ausgew. und erl. von Gotthard Erler, Berlin Weimar 1968, Bd. 2, S. 394f. - Aufschlußreich für Fontanes Produktionswelt der >PrivatgeschichtenDer Stechlinberedtintuitiver Oppositionsbegriff< verwendet,1 steht er für den Versuch, innerhalb des Ästhetischen eine Grenze zu ziehen und wahre Kunst von falscher Kunst, echte von scheinbarer oder gute von schlechter zu unterscheiden. Der Sache nach ist das Phänomen des Kitschs an eine Reihe von sozialhistorischen und ästhetikgeschichtlichen Bedingungen gebunden, die in der einschlägigen Forschungsliteratur herausgearbeitet und mit unterschiedlicher Gewichtung zur Erklärung seiner Entstehung, Verbreitung und Anziehungskraft verwendet worden sind. Dazu gehört beispielsweise die Entfaltung eines autonomen Kunstbegriffs, die Differenzierung zwischen Kunstwerk und Handwerk, die Praxis einer affektorientierten Kunstrezeption, ein wie auch immer motiviertes Interesse an ästhetisch-normativer Wertung und schließlich die massenhafte technische Reproduzierbarkeit und Verbreitung von Literatur und Kunstgegenständen, die breite gesellschaftliche Schichten erreichen. Genuin Religiöses kommt in dieser Konstellation nicht vor - einmal abgesehen von der historischen Funktion, die gelegentlich pauschal dem deutschen Pietismus für die Durchsetzung einer gefühlsbetonten, schließlich kitschigen Rezeptionshaltung zugewiesen wurde.2 Und auch die Versuche, bei der Beschreibung des Kitschs selbst im »Augiasstall der Vieldeutigkeit«3 aufzuräumen und denselben auf ein einfaches Strukturprinzip zurückzuführen - sei es das der Reproduktion,4 der Wiederholbarkeit5 oder die ausVgl. Hans-Edwin Friedrich: Art. >KitschGenüßlichkeit< 6 -, lassen den Kitsch gerade als ein in besonderer Weise weltimmanentes, an Transzendenz und Transzendierung überhaupt uninteressiertes Phänomen erscheinen. Gleichwohl eignet den Debatten um den Kitsch eine latente, manchmal explizierte, religiöse Dimension, die im folgenden Gegenstand einiger Überlegungen sein soll.7 Denn nicht nur gehört der religiöse Kitsch zu den bevorzugten Demonstrationsobjekten des Kitschs in Theorie und Praxis, darf neben Gartenzwergen der Hinweis auf Gipsmadonnen, Engeldarstellungen und Leonardo da Vincis >Abendmahl< für das heimische Schlafzimmer nicht fehlen. Sondern über die Belegfunktion hinaus, die religiöse Gegenstände in der Kitschdiskussion einnehmen, greifen die Theorien über den Kitsch selbst mit auffallender Intensität auf religiöse Vorstellungen und Argumentationsmuster zurück. Dem entspricht auf kirchlich-theologischer Seite eine erhebliche Aufmerksamkeit für das Kitschproblem. Dies belegt nicht nur beispielhaft die eingehende und differenzierte, wenn auch in einem heute manchen befremdenden Vokabular vorgetragene Analyse, die der katholische Theologe Richard Egenter unter dem Titel >Kitsch und Christenlebem (1950) zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt der Kitschdiskussion vorgelegt hat, sondern schon die durchgängige Präsenz des Stichworts in den maßgeblichen theologischen Lexika und Enzyklopädien. Kann es sich etwa die seit 1977 erscheinende, umfassend angelegte >Theologische Realenzyklopädie< offensichtlich erlauben, zwischen >Gefangenenfürsorge< und >Gehorsam< auf einen Eintrag zum >Gefühl< zu verzichten, so findet sich dagegen der >Kitsch< ausführlich und höchst aufschlußreich behandelt. Die Gründe für die sich hier andeutende komplexe Überschneidung von ästhetischer und religiöser Sphäre im Kitsch sind vielfältig. So dienen Kitsch wie Religion der Bewältigung von >»Grenzsituationen< der menschlichen Existenz«, wie Ludwig Giesz es im Hinblick auf den Kitsch ausgeführt hat, der »Entdämonisierung des Lebens [...], und zwar ausgerechnet Ludwig Giesz: Phänomenologie des Kitsches, München21960, bes. S. 33ff. So vor allem auch bei Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. »1995(1941), S. 150. Sie beziehen sich - entsprechend des deutschen kulturellen Kontextes der Kitschdiskussion - ausschließlich auf die christliche Religion. Ob das Problem des Kitschs tatsächlich »global, westliche Religionen übergreifend, auch für östliche Religionskulturen« verallgemeinerbar ist, wie Bernd Lutz: Art. >KitschKitsch und Tod< hat Saul Friedländer in seinem bedenkenswerten Essay über die ästhetischen Inszenierungen des Nationalsozialismus analysiert, deren besonderer Erfolg, so Friedländer, gerade aus der Aktivierung der religiösen »tieferen Schichten der Glaubensbereitschaft« zu erklären sei.9 Ästhetisch artikuliert sich die Nähe von Kitsch und Religion in der Form des Erhabenen. Als >hoher< und erhebender Stil der Darstellung von >»Grenzsituationen< der menschlichen Existenz« den niederen Regionen des Kitschs eigentlich entgegengesetzt, bilden sich in der Auseinandersetzung mit dem Erhabenen seit dem 18. Jahrhundert ästhetische Rezeptionsmuster des >angenehmen Schauers< aus, die bis in die ästhetische Moderne hinein, und vielleicht vor allem dort, wie Wolfgang Braungart nahegelegt hat, als >»Kitsch< für die intellektuelle und künstlerische Elite« gelten können.10 Eben die im Umkreis des ästhetisch Erhabenen verhandelten Probleme, die Darstellung dessen, was zu groß für die Anschauung ist, der Genuß an der scheinbaren Überwältigung, die extreme Rührung des Gefühls, kehren in der modernen, ästhetisch wie theologisch motivierten Reflexion des Kitschs wieder.

Symbol In theologischer Hinsicht berührt das Problem des Kitschs das Problem religiöser Kunst überhaupt. Es ist darum auch nicht auf eine bestimmte Zeit oder auf einen bestimmten sozialhistorischen Kontext festzulegen. Ist nämlich als >Kitsch< zunächst mit Theodor W. Adorno sehr allgemein ein prekäres »Mißverhältnis zwischen Substanz und Präsentation«zu bezeichnen,'' so steht tendenziell alle künstlerische Darstellung christlich-religiöser Inhalte

Giesz, Phänomenologie des Kitsches (Anm. 6), S. 39. Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M. 1999 (orig. Reflets du nazisme, Paris 1982), S. 17. 10 Wolfgang Braungart: Kleine Apologie des Kitsches. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 28,1997, S. 3-17, hier S. 10. Zur Frühgeschichte des Zusammenspiels von Erhabenem und Trivialem vgl. Hans v. Trotha: Angenehme Empfindungen. Medien einer populären Wirkungsästhetik im 18. Jahrhundert vom Landschaftsgarten bis zum Schauerroman, Würzburg 1999. 1 ' Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1973, S. 465.

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in der Gefahr, ihren per se unermeßlichen Gegenstand - die unendliche Liebe und die allmächtige Größe Gottes, das Mysterium der Auferstehung, der unvordenkliche Schrecken des Gerichts und die Herrlichkeit der Erlösung - zu >verkitschenDer Messias< (1748-1771) poetisch empfindsam darzustellen, scharf dagegen wendet, derart »das allertheuerste Geheimniß der durch den Sohn Gottes gestifteten Erlösung mit einer poetischen Tünche zu überziehen, und sie zu einem geringschätzigen Spiel der ausschweifenden Phantasey zu machen« und fromme Empfindungen zu einem »blos im Körper erregtefn] Zufall« herunterzustimmen,12 fallen nicht zufällig schon die Stichworte der späteren Kitschdiskussion: das Unechte, das Übermaß subjektiver Empfindungen und die täuschende Prätention des höheren Anscheins. In diesem Sinne lassen sich umgekehrt das allerdings nicht einsinnig zu verstehende alttestamentliche Bilderverbot oder die Askese der reformierten Bilderstürmer als Versuche deuten, der Kitschgefahr zu entgehen und der Versuchung zu widerstehen, ein falsches, unwahres Bild des Wahren zu geben.13 Die Kriterien der massenhaften, technisch-industriellen Produktion oder der akzeptierten Dichotomic von hoher und niederer Kunst sind in theologischer Hinsicht für den Kitsch untergeordnet; sie verschärfen das Problem vielleicht, aber sie konstituieren es nicht. Ließe sich aus dieser Disposition eine besonders kritische Einstellung zum Kitsch, vielleicht ein permanenter kirchlicher >Kitschverdacht< folgern, so ist jedoch eher das Gegenteil der Fall. Denn die Vorstellung des Numinosen ist andererseits auf seine sinnlich-bildhafte Darstellung angewiesen. Die religiöse Erfahrung verlangt notwendig nach einem Symbol, nach sinnfälligen stellvertretenden Zeichen, an denen sich der Glaube erbauen kann. Und hier scheint zumindest aus theologischer Sicht durchaus der Zweck die Mittel heiligen zu können - auch wenn genau darin Ludwig Giesz zufolge die »fundamentale Unwahrhaftigkeit« des Kitschs begründet liegt.14 Denn auch ein als Kitsch qualifizierter Gegenstand kann zum Symbol wahrer, 12

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Ludwig Friedrich Hudemann: Gedanken über den Messias in Absicht auf die Religion, Rostock - Wismar 1754, S. 5 und S. 9. Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema sei hier nur hingewiesen auf Albrecht Grözinger: Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1987, S. 89ff. Vgl. auch: Die Macht der Bilder, Jahrbuch für Biblische Theologie 13, 1998. Giesz, Phänomenologie des Kitsches (Anm. 6), S. 65.

Die Versuchung des Kitschs

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existentieller Glaubenserfahrungen werden. »Was aus kunstästhetischer Perspektive wertlos ist«, so resümiert Ottmar Fuchs diesen Gedanken, »kann also eine beachtliche theologische Dignität besitzen.«15 Die gewissermaßen systematische Nähe der religiösen Kunst zum Kitsch führt darum in theologischer Perspektive zu einer auffallenden Zurückhaltung gegenüber einer umstandslosen Verdammung des Kitschs. Viel eher finden sich Anhaltspunkte für seine Apologie. Die Abwertung des >Kitschsvernichtend< der Kitsch auftritt bzw. produziert wird, so unübersehbar, unabwehrbar und unerläßlich ist er im Bereich der mitmenschlichen Darstellung religiöser Gefühle: der nicht zu unterschätzenden Liebe zur Andacht, dem Blick empor zum Schönen an sich, dem Anblick dessen, was als >Heiliges< empfunden werden mag.«16 Umfassend ist das Problem des Kitschs Gegenstand der Betrachtung über >Kitsch und Christenlebem, die Richard Egenter für den kirchlichen Gebrauch verfaßt hat. Hier erscheint der Kitsch tatsächlich als Versucher, als ein satanisches Mittel, mit dem der »>Vater der Lüge< [...] die Massen dem Heil zu entfremden« trachtet.17 Doch hinter dieser drastischen und gern als Beispiel für kirchliche Unduldsamkeit zitierten18 Gebärde verbirgt sich eine sehr genaue Analyse der religiösen Problematik des Kitschs. Zentral ist für Egenter am Phänomen des Kitschs der Distanzverlust, ein Motiv, das schon Walter Benjamin hervorgehoben hatte: »Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei Meter vom Körper entfernt«.19 Doch nicht auf die zusetzende Aufdringlichkeit des >klebrigen< Kitschs, mit der die Freiheit des ästhetischen Geschmacksurteils dem ungehemmten sentimentalischen Selbstgenuß geopfert wird, zielt Egenter, sondern auf die Distanz zwischen Gott und Mensch, die der Kitsch einhole, indem er die allein symbolisch mögliche Repräsentation des Göttlichen im Kunstwerk vergessen lasse. Religiöser

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Ottmar Fuchs: Die Pastorale im Kontext der religiösen Zeitzeichen. Schritte zu einer kritischen Erlebnistheorie aus theologischer Perspektive und mit praktischen Konsequenzen. In: Emotionalität erlaubt? Kitsch in der Kirche, mit Beiträgen von Ottmar Fuchs u. a., Bergisch-Gladbach 1998, S. 9-39, hier S. 21. Lutz, Art. >Kitsch< (Anm. 7), S. 186 und 187. Richard Egenter: Kitsch und Christenleben, o. O. [Würzburg] 1962 (' 1950), S. 9f. Vgl. etwa Otto F. Best: Der weinende Leser. Kitsch als Tröstung, Droge und teuflische Verführung, Frankfurt a. M. 1985, S. 23; Putz, Kitsch (Anm. 4), S. 15ff. Walter Benjamin: Traumkitsch (1926). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.2, Frankfurt a. M. 1977, S. 620-622, hier S. 622.

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Kitsch im besonderen resultiert daher, so Egenter, aus der menschlichen Unfähigkeit, die Ferne Gottes auszuhalten. Die erlöste Harmonie, die der Kitsch suggeriert, überspielt, daß der »natürlichen Existenz der Abgrund der Sünde droht«,20 und »betrügt uns im Grunde um die Botschaft der Erlösung, weil er deren Notwendigkeit vergessen läßt oder unverständlich macht.«21 Damit ist der Kitsch nicht mehr auf eine bestimmte Epoche einzugrenzen auch wenn hier exemplarisch »das Menschenbild der kulturell und religiös bereits degenerierten Bürgerlichkeit um die Jahrhundertwende« für eine Blüte des religiösen Kitschs verantwortlich gemacht wird -,22 sondern er begleitet als Gefahr, so Egenter, die gesamte christliche Kunst der Neuzeit, wo immer beispielsweise eine Darstellung der vollkommenen schönen Menschlichkeit Jesu Christi dessen göttliche Abkunft verdeckt.23 Religiöse Kunst wird demnach zum Kitsch, wo sie (erlöste) Vollkommenheit prätendiert. Mit diesem Fazit fällt jedoch die geläufige Opposition von autonomer Kunst und Kitsch in sich zusammen. Denn gerade die am Begriff des >In sich selbst vollendetem (Karl Philipp Moritz) ausgerichtete Kunstautonomie, so ist aus dem Vorhergehenden zu schließen, bewahrt nicht vor der Versuchung des Kitsches, sondern fordert sie heraus. Die »wahre Freude am künstlerischen Wert bleibt [...] nicht vor der Gefahr bewahrt, um ihrer selbst willen gesucht zu werden«, heißt es bei Egenter, und wo sie ihr >erliegtin sich selbst vollendenten< Kunstautonomie bestimmen - gerade diese wäre Kitsch -, so zeigt sich eine solche Verkehrung der ästhetischen Kategorien auch für die rezeptive Seite des Kitschs, etwa in der >Phänomenologie des Kitsches»Einsfühlungstellungnehmende Freiheit Giesz zufolge das maßgebliche Merkmal der Kitschrezeption im ästhetischen Bereich, so fehlt nun umgekehrt beim religiösen Kitsch der muminose Schauen.30 Damit beschreibt Giesz im Rückgriff auf Rudolf Otto jedoch eine Erfahrungsform, die nun gerade durch ihre >Unfreiheitsäkularen< Theorien immer wieder eine eigentümliche Sonderstellung zukommt. Solche zum >Kitsch< disponierenden Momente ließen sich in der religiösen Erfahrung in verschiedenen ihrer historischen Ausprägungen identifizieren - und zugleich, etwa unter dem Titel der >SchwärmerkritikReden über die Religiom (1799). Sie gehören zu den einschlägigen und wirkmächtigen Texten zur Bestimmung des religiösen Erfahrungsbegriffs, dessen Wesen, so Schleiermachers bekannte Formulierung, »Anschauung und Gefühl« sei.33 Die >Reden< entwerfen ein vom Problembewußtsein der Romantik geprägtes Ideal des religiösen Gefühls, das sich von der, mit Giesz zu sprechen, >Zuständlichkeit< des Kitschs zunächst kaum abheben läßt. Die gläubige Seele soll »sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen«,34 dabei »bestimmt die Stärke dieser Gefühle den Grad der Religiosität«35 und schließlich führt das religiöse Gefühl zur Weltabkehr: »die religiösen Gefühle lahmen ihrer Natur nach die Tatkraft des Menschen, und laden ihn ein zum stillen hingegebenen Genuß«.36 Demgegenüber läßt sich nun jedoch im weiteren ebenso die Absicht verfolgen, das religiöse Erfahrungsideal vor seiner - wenn es hier erlaubt ist, so zu sagen - >Verkitschung< zu bewahren. Etwa mit dem Hinweis auf die geringe Zahl Auserwählter, die in der Gegenwart zu solchen Empfindungen fähig seien,37 oder durch die kritische Abgrenzung von den >Empfindsamensymbolischenuminose< Glaubenserfahrung entzünden kann, welche die kitschige Determination der >stellungnehmenden Freiheit in der Rezeption transzendiert und in Frage stellt. Im Verhältnis von Kitsch und Religion bilden sich demnach, wie es scheint, gleichsam in Naheinstellung grundlegende Probleme des Verhältnisses von Religion und Kunst überhaupt ab. Eben hierauf ist schließlich auch die von Ludwig Giesz beobachtete, bislang »übergangene Tatsache« zurückzuführen, »daß die uralte Verdächtigung und Verketzerung der Kunst stets ausgerechnet jene Vorwürfe geltend zu machen pflegt, die heutzutage gegen den Kitsch erhoben werden«40 - und nicht auf die latente Möglichkeit, Kunstwerke auf kitschige Weise anzueignen, wie Giesz es nahelegt.

Säkularisierung Läßt sich in theologischer Perspektive die Verbindung von Kitsch, Kunst und Religion kaum auflösen, ist andererseits in der ästhetisch orientierten Kitschdiskussion eine Neigung zu verfolgen, den Kitsch als eine Ablösungsform der Religion zu verstehen. Die >Pseudotranszendenz< (Giesz) des Kitschs verwandelt demnach das überirdische Heilsversprechen der christlichen Offenbarung in die Idylle weltlichen Glücks. Religion und Kitsch sind damit in ein Verhältnis zeitlicher Abfolge gebracht - und gleichwohl, wie es der Begriff der Säkularisierung, der >VerweltlichungWeltimmanenz< des Kitschs auf, andererseits bewahrt diese Ableitung jedoch eine indirekte, unterschiedlich besetzbare Abhängigkeit zur Religion und zu religiösen Bedürfnissen, die auf den Grund des Kitschs fuhren sollen. Läßt sich diese Bewegung von der Religion zum Kitsch einerseits als Emanzipationsprozeß verstehen,41 so erscheint die konstatierte Säkularisation anderen, etwa Walter Killy, als Dekadenz. Im literarischen Kitsch hat sich, so Killy, die religiöse Dämonie des Märchens, die »noch Erinnerungen an uralte Ängste« und an »die Wirksamkeit ursprünglicher Mächte erkennen läßt, [...] verflüchtigt«. Vor allem aber ist im Kitsch an »die Stelle einer waltenden Macht, deren unerforschlicher Fügung auch die Zeit unterworfen ist, [...] der Zufall« getreten. Indem damit im Kitsch »jede übersinnliche, jede eigentlich religiöse Dimension [...] abgeschnitten« ist, ist auch die »Beziehung auf eine tiefere, wiewohl nur geahnte Wahrheit« verloren und »ersetzt durch den Versuch einer geschichtlichen Bewahrheitung.«42 Ist der Kitsch nach dieser Beschreibung eigentlich nichts anderes als der adäquate Ausdruck des geistigen Bewußtseins der Neuzeit, der Kitsch nichts anderes als ästhetische Modernität, wendet der negative Akzent, den Killy diesem Abbau >uralter Ängste< verleiht, die Kitschkritik zur Modernekritik und bringt damit genau jene Deutung der >Illegitimität< des historischen Prozesses neuzeitlicher Selbstbehauptung wie auch die Uneigentlichkeit seines Ergebnisses zur Geltung, die Hans Blumenberg kritisch dem Rückgriff auf die Kategorie der Säkularisierung unterstellt hat.43 In letzter Konsequenz wird damit jedoch nicht nur der Kitsch zum Ausdruck der Moderne, sondern die Moderne als »die vergängliche Flüchtigkeit der eigenen Gegenwart«44 selbst zum Kitsch, zum unauthentischen Restbestand einer lieferen WahrheitDie Legitimität der Neuzeit, erster und zweiter TeilKitschs< im Rahmen seiner Abhandlung >Guter und schlechter Geschmack im KunstgewerbeDer Kitsch. Eine Studie über die Entartung der Kunst< aus dem Jahre 1925 - zugleich die erste monographische Abhandlung des Problems - solche Zurückhaltung gegenüber der Deutung des Phänomens auf. Karpfen führt genau jene Form in die Kitschkritik ein, die Umberto Eco als ein Grundmuster der Kritik an der Massenkultur herausgestellt hat: die apokalyptische. So wird der Kitsch hier tatsächlich, womöglich genauer als Ecos pointierte Darstellung intendiert, als »Zeichen eines unwiderruflichen Zerfalls gelesen, angesichts dessen der >Kulturmensch< (der letzte Überlebende der zum Untergang bestimmten Vorgeschichte) ein letztes Zeugnis im Sinne der Apokalypse zu geben habe.«48 Keine »Studie«, wie der Untertitel

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Ebd., S. 26. Nach Gerhard Ringshausen: Art. >KitschGott< und >Gegengott< in einem Kampf universalen Ausmaßes. Gegenüber der »Gnade der Schönheit« und der »Heiligkeit der Kunst«, die Karpfen im Geist der Kunstreligion Friedrich Nietzsches feiert, erscheint der Kitsch in der Funktion des Kontrastmittels: »Erst beide vereint lassen uns das Göttliche erkennen. Und der Kadmon wird erst dann die Welt erlösen, wenn der Antimensch sie zerstören wird.«50 Will die Rede vom »Antimensch« das angespielte christliche Geschichtsmodell der Apokalypse gleichsam mit dem Holzhammer säkularisieren, dient dazu auch der im monistischen Trend der Zeit liegende wiederholte Hinweis auf den Zwang des >NaturgesetzesÜbermensch< der »drohenden Katastrophe« noch entrinnen zu können. 59 Was bei Eco jedoch eine ironische Anspielung auf die nietzscheanische Tradition ist, deren Pointe darin liegt, die Hoffnungsfigur des >Übermenschen< selbst als ein vom Graf von Monte Christo bis zu Superman durch und durch kitschiges Klischee zu erweisen, zeigt sich bei Karpfen in Reinkultur. Hier ist es der »Übermensch«, auf den die Vision der Überwindung des Kitschs hinausläuft, und der »wahre Künstler« ist derjenige, der ihn präfiguriert. 60 Damit wird der Trost jedoch zweischneidig, denn mit jener verhängnisvollen und gerade im zeitgenössischen Deutschland kultivierten Attitüde des heroischen Nihilismus zögert Karpfen in seinem Schlußtableau nicht, die Vision vom Über-Menschen ganz ernst zu nehmen und mit dem Untergang des Kitschs auch den eigenen Untergang zu imaginieren: »Und wie jeder Herold wird er vergessen sein, wenn der Verkündete die Straße einziehen wird. Mit ihm aber auch wir, so wie wir heute sind und leben, nach unabänderlichem Gesetz. Die Wandlung wird kommen! Die Zeichen sind da.«61

Apokalypse II Eine solch angespannte, spätexpressionistische Projektion von Endzeitphantasien auf den Kitsch scheint zu kaum mehr geeignet zu sein, als eine historische Extremform deutscher Kulturkritik vorzuführen. Doch die apokalyptisch inspirierte Deutung des Kitschs hält sich in verschiedenen Variationen und mit einigem Beharrungsvermögen in der Debatte. Zu erinnern wäre hier 57 58 59 60 6l

Offb. 3,16. Karpfen, Der Kitsch (Anm. 49), S. 14. Eco, Apokalyptiker und Integrierte (Anm. 48), S. 16f. Karpfen, Der Kitsch (Anm. 49), S. 78ff. Ebd., S. 106.

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etwa an Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Kritik der >Kulturindustrie< in der >Dialektik der Aufklärungletztes ZeugnisFröhlichen Wissenschaft verkitscht dieser Traum35 den Grundkonflikt einer emanzipatorischen Theologie zu einem Supermann-Effekt, in dem der Theologe nur noch sich selber als Heros feiert. Den freudianischen Lemuren im Pfuhl, die sich auf Herrn Lüdemann eingestellt hatten, fällt wider Erwarten Gott selber anheim. Der Gott losgewordene Theologe möchte zu Jesus in ein »normales« Verhältnis treten, wie zu anderen »maßgeblichen Menschen der Antike«, was Jaspers ihm vorformuliert hatte.36 Er schiebt aber doch - mit nicht ganz durchgehaltener Ironie - eine Rückversicherung ein: Falls Du wirklich auf den Wolken des Himmels wiederkommen solltest, freue ich mich schon jetzt, Dich endlich kennenzulernen. Und ich bin überzeugt, auch wenn ich nicht mehr zu Dir bete und nicht mehr an Dich glaube, Deine Sympathie zu besitzen und von Dir wegen meines Unglaubens nicht vernichtet zu werden, wie es nach Bibel und Bekenntnis eigentlich geschehen müßte.

Der Brief ist nicht unterzeichnet. Der Autor schleicht sich grußlos davon, mit dem Versprechen an die Leser, den eigentlichen Ursprung der abendländischen Kultur aufzuklären. Aufklärung - und nur sie, meint er, wäre dazu imstande - soll im »kommenden Jahrtausend« den Frieden zwischen den Religionen und Ideologien anbahnen.37 Die ratio triumphans ist selber zur Botschaft geworden, dem Ursprung verpflichtet und allein in der Lage, das Heil in der Zukunft zu bringen. Die Grundform des Evangeliums, das sie verwirft, bleibt im Gebrauch.

34

Ebd.

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Ob geträumt oder erfunden - kritisierbar wird der Traum durch die Publikation. Karl Jaspers: Die großen Philosophen, Erster Band, München 1959. Jaspers beschreibt darin Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus als »die vier maßgebenden Menschen« (S. 105). Lüdemann, Der große Betrug (Anm. 33), S. 17f.

36

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Rainer Lächele Kitsch und Erbauung

Einleitung Eine kurze Umschau in den einschlägigen theologischen Lexika1 ergibt, daß der Kitsch erst seit kurzer Zeit in der evangelischen Theologie ein so starkes Interesse geweckt hat, daß ihm auch eigene Artikel gewidmet werden. Kleinere Lexika vernachlässigen das Stichwort bis heute. Selbst die >Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche< von 1901 - ansonsten eine Fundgrube - bietet zwar einen Beitrag über den >Kirchgang der Wöchnerinnem, doch nichts über den Kitsch. Wie kaum anders zu erwarten, zeigen sich die katholischen Kollegen kompetent für das Thema. In der Tat ist Kitsch ein Thema für die Theologie und die Theologen. Schon ein kurzer Blick in den Band >Kitsch-ArtMade in Heavem oder >Antichrist adieu< und natürlich Bilder: Madonnen, verfremdete Heiligenbilder, Altäre, Schutzengel, Paradiesszenen, Fegefeuer. Doch wie nahem wir uns dem Phänomen Kitsch? Ausgehend von den Überlegungen Wolfgang Braungarts3 zum Thema kommen wir zu zwei Frageperspektiven. Kitsch wird charakterisiert durch Mangel an Individualität, Originalität und

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2 3

Folgende Lexika boten keinen Artikel zum Kitsch: Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 10, M 901; Calwer Kirchenlexikon, 1. Bd., 1937; Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, 21929; Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. 2, 3 1989; Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde, Bd. 2, 1993. Dagegen finden sich Artikel zum Kitsch in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, 3 1959; Theologische Realencyclopädie (TRE), Bd. XIX, 1990; Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6,21961; Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6,'1997. Folgende, wenige Titel sprechen die theologische Dimension des Kitsches an: Richard Egenter: Kitsch und Christenleben, Ettal 1950. Paul Ferdinand Portmann: Der Christ und der Kitsch, Zürich 1949 (Schriftenreihe der christlichen Kultur VIII). Gerhard Ruhbach: Zum theologischen Problem des Kitsches. In: Monatsschrift für Pastoraltheologie 53,1964, S. 457ff. Herbert Schöffler: Protestantismus und Literatur, Göttingen 1958. Gregory Fuller: Kitsch-Art. Wie Kitsch zu Kunst wird, Köln 1992. Wolfgang Braungart: Kleine Apologie des Kitsches. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 79, 1997, S. 3-17.

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Authentizität. Dabei scheint die Scheidung zwischen hoher und niederer Kunst, aber auch die Differenzierung zwischen Kunst und Handwerk im 18. Jahrhundert auf. »Erst dann, wenn das Naive professionell inszeniert, reproduziert und verwaltet wird, kann man den Vorwurf der Trivialität und des Kitsches erheben«,4 schreibt Braungart. Legt man diese Kriterien zugrunde, stellt sich die Frage, ob professionelle Inszenierung, Reproduktion und Verwaltung nicht schon 100 Jahre früher einsetzten. Zum anderen sei das Kunstwerk nicht dagegen gewappnet, als Kitsch aufgenommen zu werden, »weil es auch Bedürfnisse nach Ordnungs- und Kohärenzerfahrungen, nach Trost und Erbauung, womöglich im Mit-Leiden, befriedigen kann.«5 Damit wird deutlich, daß Kitsch in einem Zusammenhang mit der Religion steht. Diese Perspektiven möchte ich an Quellen protestantischer Provinienz überprüfen, an Quellen von sehr unterschiedlicher Art. Das Thema >Kitsch und Erbauung< ist ein Versuch, ein Lavieren auf unzugänglichem Gelände, Irrwege sind eingeplant.

l. Was ist Erbauung? Der Begriff >Erbauung< bezeichnete im Neuen Testament zunächst den Akt des Bauens selbst, der dann auf die Stärkung und Zunahme der christlichen Gemeinde hin bezogen wurde.6 Die christliche Verkündigung und das Zeugnis des Einzelnen dienen als Mittel der Erbauung. Im 16. Jahrhundert setzte eine Umdeutung des Erbauungsbegriffs im Sinne einer Individualisierung ein. Nun war mit ihm die Glaubenstärkung einzelner Christen gemeint. Der Pietismus als bedeutendste Reformbewegung im Protestantismus unterstützte diese Tendenz durch die für ihn typische Sammlung der >wahren< Christen in den Collegia pietatis. Die Verengung des Erbauungsbegriffs auf den Einzelnen hatte im 18. Jahrhundert eine Psychologisierung und Verweltlichung des Begriffs zur Folge. Am Schluß blieb von der umfassenden, gemeindebezogenen Interpretation allein die >schöngeistige Gemütserhebung< übrig.7 4

Ebd., S. 7.

5

Ebd., S. 11. Vgl. zum folgenden Art. > < in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 5, S. 147-150, sowie Albrecht Beutel: Art. >Erbauunginneren Menschern in seinem Verhältnis zu Gott bezieht, nicht also den Christen als Gemeindeglied anspricht, und die individuelle Heilsaneignung unter partieller Umgehung oder Relativierung der kirchlichen Heilsinstitutionen fördern und begleiten soll«.8 Erbauliche Ermunterungs- und Trostschriften hat das Christentum schon immer hervorgebracht. So kannte auch das Mittelalter bereits alle wichtigen Formen von Erbauungsliteratur. Zu ihnen gehören Gebete, geistliche Lieder oder Andachtstexte, aber auch Sprüche, Epigramme und Sentenzen, und schließlich die Exempelliteratur, die sich in Autobiographien und Viten niederschlägt. Im folgenden werde ich vier Texte aus der Erbauungsliteratur vom 17. bis zum 20. Jahrhundert heranziehen, um sie mit der These vom >Kitsch< zu konfrontieren.

2. Erbauungsliteratur 2.1 Kreuzschule (17. Jahrhundert) Ich beginne mit der >Schola Crucis et tessera Christi an ism i: das ist ein außführlicher, christlicher Unterricht von dem lieben Creutz [...]< des Valentin Wudrian.9 Wudrian wurde am 23. Februar 1584 in Demmin in Pommern geboren. 1611 berief man ihn zum Professor der hebräischen Sprache in Greifswald. Ein Jahr später wirkte er als Pastor und Probst in Demmin, ab 1621 dann als Pfarrer an St. Petri in Hamburg. Am 7. September 1625 starb er mit erst 41 Jahren. Zwei Jahre später erschien sein bedeutendstes Werk, die >Kreuz-SchuleVier Büchern vom Wahren ChristentumImitatio Christu und anderen zur Seite zu stellen. (Abb. 1) Zwischen 1627 und 1896 erschienen weltweit 153 Ausgaben des Buches. Wurde es zuerst im Norden des Reiches und bevorzugt in Hansestädten gelesen, verbreitete es sich allmählich auch im Süden. Im 18. Jahrhundert erschienen vier isländische Ausgaben. 1762 kam das Buch in NordUte Mennecke-Haustein: Art. >Erbauungsliteratur