Kirche und Volk [Reprint 2019 ed.]
 9783111411361, 9783111047669

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Was ist Kirche
Was ist Volk
Wie können sich Kirche und Volk zueinander verhalten?
Wie sollen sich Kirche und Volk ineinander verhalten?

Citation preview

Der weg der Kirche. Die vorliegende mit einer Abhandlung von £. Sellin be­ ginnende Schriftenreihe verdankt ihre Entstehung der Erkennt­ nis, daß heute weiteste kreise — und nicht nur solche, die innerhalb der evangelischen Kirche stehen — eine klare, ein­ deutige Antwort auf die Fragen, die die Gegenwart bewegen, ersehnen. In einer Zeit, in der die Stützen unseres dusteren Daseins vielfach erschüttert oder doch wenigstens aufs schlimmste gefährdet find, tut es mehr denn je not, daß berufene Kräfte Richtlinien ?ur Führung eines von wahrhaft christlichem Geiste bestimmten Lebens geben. )n diesem Sinne wollen auch die folgenden Hefte, die in zwangloser Reihe erscheinen werden, wirken. In ihnen werden hervorragende Vertreter der Kirche zu brennenden Problemen der Gegenwart Stellung nehmen.

Die nächsten Hefte werden sich vorausstchtlich mit folgenden Themen besassen: Kirche Kirche Kirche Kirche

und und und und

vesttz, Schule, Ehe, bezw. Familie, Gemeinschaft.

Bei Linzelbezug des festes beträgt der Preis NM. 0.95; bei Bezug von 10, pro Exemplar NM. 0.85; bei Bezug von 50 und mehr, pro Exemplar NM. 0.75.

Der weg der Kirche herausgegeben von

D. Georg Burgbart

und

D. Dr. Ernst Sellin ord. Professor an der Untoersltdt Berlin Geheimer konsistorialrat

Geistl. Vizepräsident des eo. Gberkirchenrats in Berlin. Gberdomprediger

----------------------------------- best 3------------------------------------

Kirche und Volk von

D. Johannes Eger Generalsuperintendent, Magdeburg

Verlag Walter de Gruyter L C o. vormals S. 1. Göschen'sche verlagshandlung - J. (ßuttentag, Verlags­ buchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veli L Comp.

Berlin

1933

seipiig

Die f)efte der Sammlung erscheinen in zwangloser Folge, verantwortlich für ihren Inhalt sind allein ihre Verfasser.

Zur den Druck abgeschlossen am 10. Januar 1933.

klrchiv-nr. 32 (H 33 Druck von Walter de Gruyter L Co., Berlin w 10

Inhaltsverzeichnis. Einleitung............................................................................................. Was ist Kirche?..................................................................................... Was ist Volk?....................................................................................... Wie können sich Kirche und Volk zueinander verhalten? ........................ Wie sollen sich Kirche und Volk ineinander verhalten?............................

Sette 5 6 io 16 22

Kirche und Volk. Man kann über das Verhältnis zwischen Kirche und Volk nicht reden, ohne vorher zu sagen, was man unter „Kirche" bzw. unter „Volk" versteht. Beide Begriffe sind nicht nur in der öffentlichen Meinung, sondern auch innerhalb des theologischen und des politischen Gesprächs, das zur Zeit sonderlich lebhaft im Gange ist, mit viel Unklarheiten und Mißverständnissen belastet. In dem Nachfolgenden geht es nun zwar nicht um eine historische oder systematische Untersuchung dieser beiden Begriffe an und für sich selbst, sondern um die Beziehung, die zwischen den beiden mit jenen Worten bezeichneten Wirklichkeiten besteht. Aber eben jene beiden Wirk­ lichkeiten müssen zunächst irgendwie begriffen und verstanden sein, ehe es möglich ist, ihr beiderseitiges Verhältnis zueinander zu untersuchen und zu durchdenken. Ihr Verhältnis zueinander muß ja falsch gesehen werden, wenn man zwar ein Verständnis für das „Volk", aber kein Ver­ ständnis für die „Kirche" hat, oder umgekehrt. Jedenfalls muß der, der über das Verhältnis beider zueinander redet, denen, zu denen er redet, zuvor sagen, was er unter „Kirche" bzw. unter „Volk" versteht. Denn es ist bei der allgemeinen Sprach- und Begriffsverwirrung nicht von vornherein anzunehmen, daß bei dem andern sich ohne weiteres die gleichen Vorstellungen zu jenen Worten auslösen, die bei ihm selbst vorhanden sind. Ob dann der andere den dargelegten Vorstellungen zustimmt, ja ob diese Vorstellungen richtig, d. h. hinreichend klar und umfassend genug sind, das ist eine andere Frage, die der Kritik offen­ steht. Aber nur auf diese Weise ist es möglich, mit dem Hörer oder Leser in ein wirklich aussichtsreiches, d. h. gegenseitiges Verständnis an­ bahnendes Gespräch zu kommen. Das kann und soll aber einzig und allein der Zweck dieser Abhandlung sein, daß sie zur Klärung bestehender Unklarheiten beiträgt. Aus solchen Erwägungen heraus ergibt sich die Notwendigkeit, zunächst der Beantwortung der beiden Fragen näherzutreten: Was ist „Kirche"? Was ist „Volk"?, um dann erst das Verhältnis zwischen Kirche und Volk näher zu untersuchen. Eine völlig voraussetzungslose Behandlung dieser Fragen ist natür­ lich ebensowenig möglich wie bei anderen Fragen, die sich auf Erscheinungen dieses Lebens, sonderlich des geschichtlichen Lebens beziehen, zumal wenn diese sich noch im Fluß befinden, und zwar nicht bloß im Fluß der Diskusflo», sondern im Fluß des Werdens und Geschehens. Jeder Mensch hat seinen bestimmten Standort in diesem Werden und Geschehen, von dem aus er die Dinge sieht und auch allein zu sehen vermag. So auch der Verfasser dieser Abhandlung. Schier zum Überfluß soll daher noch von vornherein bemerkt sein, daß der Standort, von dem aus die beiden

6 Erscheinungen des Lebens „Kirche" und „Volk" hier betrachtet werden, der Standort eines evangelischen Deutschen oder eines deutschen Evan­ gelischen ist.

Was ist Kirche? Die Wirklichkeit gilt es zu begreifen, die sich hinter dem Wort „Kirche" verbirgt. Eine etymologische (sprachgeschichtliche) Untersuchung des Wortes, so interessant ste auch sein mag, bringt uns diesem Ziele nicht näher. Ob wir das Wort „Kirche" aus dem Griechischen oder aus dem Alt-Germanischen oder sonstwo Herletten, der Wirklichkeit, um die es sich dabei handelt, werden wir dadurch eher ferner als näher gerückt. Es kann «ns auch nicht viel helfen, wenn wir den Kirchenbegriff früherer Jahrhunderte von dem Neuen Testament an über Augustin bis zu Luther und Calvin hin in seiner Entwicklung, in allen seinen Ab­ wandlungen und Verzweigungen verfolgen. Nicht von irgendeiner Idee der Kirche, mag sie auch »och so richtig gedacht sein, wollen wir uns leiten lassen, sondern von dem, was wirklich ist. Gewiß wird auch um die Idee der Kirche in unserer Zeit heiß ge­ kämpft. Gewiß steht auch diese Idee und stehen die verschiedenen Ge­ danken, die man sich über die Kirche macht, in mehr oder weniger naher Beziehung zu der kirchlichen Wirklichkeit, in der man lebt. Diese Bezie­ hungen sind dann je nachdem positiver, kritischer oder auch negativer Art. Aber nicht diese Ideen oder auch Ideologien, die sonderlich in internen Kreisen manchmal auch von recht Unsachverständigen hin und her er­ örtert werden, sind mit dem Leben des Volkes verwachsen. Das, womit sich das Volk, die breite Öffentlichkeit sowohl wie der einzelne, der den Gottesdienst besucht oder seine Kirchensteuern zahlt, auseinandersetzt, worüber er sich ärgert oder worüber er sich freut, wo­ von er in Anspruch genommen wird oder was er selbst in Anspruch nimmt, das ist die Wirklichkeit der Kirche. Diese steht als eine Tatsache, als ein Gegebenes, als eine Erscheinung des Lebens mitten drin in dieser unserer Gegenwart. Diese Tatsache wird zwar verschieden gewertet; aber nicht bloß als ein Überrest aus der Vergangenheit, als eine noch nicht völlig abgetragene Ruine, sondern als ein lebendiges, wirksam lebendiges Stück Gegenwart ist sie da. Andernfalls würde man sich nicht so über sie aufregen. Sie würde nicht so stark im Mittelpunkt der Diskussion sowohl bet den Staats- und Kulturpolitikern als auch bei den Stammtisch­ politikern stehen, wenn ste eben nicht zum mindesten empfunden würde als eine Realität, mit der man rechnen muß, sei es, daß man sie als König oder als Bauer auf dem Schachbrett des Lebens verwendet, sei es, daß man sie in seinen Dienst stellt oder stellen möchte, sei es, daß man sich in ihren Dienst und Bannkreis wissentlich und willentlich begibt. Diese Kirche gilt es zunächst einmal zu begreifen, natürlich nicht in ihren Einzelerscheinungen und in ihren Einzelwirkungen, sondern in ihrer Gesamtheit als organisches Ganze, soweit es überhaupt mög­ lich ist. Lebendiges, sonderlich ein in der Gegenwart Lebendiges, d.h. ein immerdar werdendes und wachsendes, vielgestaltiges Gebilde auf einen Begriff zu bringen.

7 Die Vorstellung, die sich da, wo das Wort „Kirche" fällt, zuerst einstellt, ist die eines Gebäudes, das zu gottesdienstlichen Zwecken be­ stimmt und benutzt wird. Solch ein Gebäude kennt schließlich jedes Kind. Aber daß damit nicht alles, daß damit sogar etwas verhältnismäßig Unwesentliches von der „Kirche" ausgesagt wird, deutet sich schon an in der volkstümlichen Redewendung: „Ich gehe in die Kirche." Wenn solches gesagt wird, ist doch noch an etwas anderes, und zwar an ein Wichtigeres und Wesentlicheres gedacht als an das Be­ treten eines bestimmten Gebäudes. Dieses Gebäude ist eben nur der sichtbare Repräsentant einer unsichtbaren Wirklichkeit. Dieses Gebäude ist eben nur der Ort und Raum, in dem ein höheres, ein geistig-seelisches Etwas sein Wesen treibt und sonderlich wirksam wird. Nur weil jene Gebäude für die „Kirche" da sind, um der „Kirche" willen und durch die „Kirche" da sind, deswegen werden sie mit einem gewissen Recht schlecht­ weg als Kirche bezeichnet. Es ist dies genau so wie mit der Schule, die doch auch etwas ganz anderes ist als das Haus, das man so nennt. Das Wort „Kirche" ist hintergründig, d. h. es deutet einen Hinter­ grund an, der nicht so ohne weiteres klar und deutlich zutage tritt. Wenn t. B. davon die Rede ist, daß jemand aus der Kirche ausgetreten »st, so ist damit auch nur gesagt, daß er ein für ihn bestehendes Rechts­ und Pachtverhältnis gelöst und ein äußeres Band zerschnitten hat. über sein inneres Verhältnis ist damit aber höchstens etwas angedeutet, jedoch noch längst nichts unzweideutig ausgesagt. Denn ganz abgesehen davon, daß der Betreffende in eine andere christliche Kirche eintreten kann, damit, daß er z. B. aus einer Landeskirche — und nur aus einer solchen Körperschaft öffentlichen Rechtes kann er austreten — austritt, entflieht er noch längst nicht der Wirklichkeit, die durch das Dasein solcher Landeskirchen zwar angedeutet, aber nicht begründet wird. Vielleicht wird sein schon längst bestehendes persönliches Verhältnis zu jener geistig­ seelischen Welt, von der die verfaßten Kirchen leben und in der sie auch mehr oder weniger leben, als ein ablehnendes durch den Austritt äußer­ lich dokumentiert. Vielleicht, und das scheint sogar die Regel in unserer Zeit zu sein, bezieht sich die Ablehnung weniger auf das Hintergründige der Kirche, mit der er bricht, als vielmehr auf das, was im Vordergrund steht, auf die Kirchensteuer, auf persönliche Erfahrungen oder auf irgend­ welches Verhalten dieser Kirche und ihrer Vertreter. Es leben gar viele Menschen im Gegensatz, mindestens in sehr starker Kritik zu den ver­ faßten Kirchen, deren Organen und Maßnahmen, und kommen doch nicht los und wollen auch gar nicht los von der geistigen Größe, die hinter diesen Kirchen lebendig ist und in ihnen, wenn auch bisweilen in recht schwacher oder gar verkehrter, menschlich-allzumenschltcher Weise, in die Erscheinung tritt. Aber, ob sie davon los wollen oder nicht, ob sie aus der „Kirche" austreten oder nicht, es bleibt immer noch eine Realität da, der sie sich nicht zu entziehen vermögen, mit der sie sich irgendwie immer wieder neu auseinandersetzen müssen. Mit dieser Realität haben wir es zu tun. Sie ist da inmitten unseres Gegenwartslebeus. Sie wirkt sich keineswegs bloß aus in dem, was wir gewöhnlich „Kirche" nennen. Sie stellt sich keineswegs bloß dar in Gottes­ diensten und Liebestätigkeit, in Verwaltungen und Veranstaltungen, in

8 Ämtern nnd Symbolen, furtum in dem verhältnismäßig eng umgrenzte« Bereich des sogenannten kirchlichen Lebens. Sie wirkt so oder so, auf­ haltend oder fördernd hinein in unser gesamtes Volksleben und macht sich geltend, den Menschen teils bewußt, teils unbewußt, hier als etwas, woran wir uns reiben, dort als etwas, woran wir uns anlehnen, bis hinein in Gemüt und Gewissen, in Denken, Fühlen und Wollen. Das öffentliche Leben ist davon ebensowenig unberührt wie das private Leben. „Kirche" ist eben etwas ganz anderes als eine bloße Organisation, „Kirche" ist ein lebendiger Organismus. „Evangelische Kirche" ist -er lebendige Organismus, der durch das Evangelium sein Wesen hat in dieser Welt und Zett, in den einzelnen Menschen so gut wie in einem ganzen Volke. Ebensowenig wie diese Kirche eine bloße Organisation ist, ebensowenig ist sie eine bloße Idee. Sie ist vielmehr als ein realer Faktor unter uns da, wirksam da, und würde auch dann noch unter uns, an uns, in uns und auch durch uns ihr Wesen haben und treiben, wenn es z. B. keine Synoden und Konsistorien geben würde und die Ver­ fassung der evangelischen Christenheit in deutschen Landen eine ganz andere wäre, als sie tatsächlich ist. Und wenn die kirchlichen Gebäude dem Erboden gleich gemacht oder in Kinos und Volkshäuser verwandelt würden, so würde die Kirche als Gemeinschaft am Evangelium dennoch da sein und da bleiben. Organisationen kann man verbieten, kann man verhindern, die Kirche lebt aber von diesen Organisationen ebensowenig wie der Mensch von seinen Kleidern. Gewiß sind die Kleider bzw. die Organisationen nicht so ganz und gar bedeutungslos. Das Leben bedarf der es schützenden Hüllen. Wir leben nun einmal nicht in einer rein geistigen Welt, in einem Reich bloßer Seelen. Der Äon, dem unser Dasein angehört, und zwar auch unser geistiges und seelisches Sein angehört, hat die sonderbare Eigenart, daß er uns zur Bekleidung zwingt. Mag es auch einmal eine Zeitlang ohne sie gehen, so gefährdet sich doch unser Leben selbst, wenn wir nackend herumlaufen, wenn wir die Arbeit versäumen, um uns aus den Stoffen, die diese unsere Welt darbietet, Hüllen zu machen, die uns schützen gegen allerhand Widerwärtigkeiten. Gleich den Häusern, die wir uns bauen und pfleglich behandeln, sind auch die Kirchen, die wir baue» oder die wir organisieren, kein bloßer Luxus, sondern Notwendigkeiten dieses unseres Lebens. Darum wird es auch, solange es eine Christenheit gibt, immer wieder zu Kirchenbauten kommen, auch wenn sie sich zeitweise mit Privathäusern oder Katakombe« behelfen kann; und es wird auch immer wieder zu Kirchengründungen kommen, auch wenn es vielleicht vorübergehend und zeitweilig ohne solche Organisationen geht. Es wird aber auch in der Christenheit nie­ mals ganz die Überzeugung schwinden, daß das Eigentliche und Wesent­ liche mit dieser Arbeit nicht getan ist, daß sie mit dem allen sozusagen nur einen Vorhof um das Heiligtum herumlegt, daß aber eben ohne diesen Borhof das Heiligtum nie lange in dieser Welt und Zeit ein Heilig­ tum bleiben kann und wird. Solches ergibt sich aus dem, daß die Christen­ heit in dieser und in keiner anderen Welt lebt. Die Kirche, um die es geht und von der wir hier reden, das ist die Christenheit. Dem Christenvolk, der Christenschar geht es nicht anders

9

wie einem Volk. So wie ein Volk einer staatlichen Organisation bedarf, so bedarf anch die Christenheit einer kirchlichen Organisation. So wie ein Volk mit seinem Staat oder gar mit einer bestimmten Staatsform nicht steht und fällt, so hängt anch die Existenz der Christenheit, das heißt des Kreises derer, die in Christo 3esn find, nicht ab von dem, was man in der Regel Kirche nennt. Aber ebenso wie ein staatenloses Volk in seiner Existenz schwer gefährdet ist, so anch eine kirchenlose Christenheit. Staatsangehörigkeit ist etwas anderes als Volkszugehörigkeit. Die Grenzen des Deutschen Reiches find auf der einen Seite viel zu klein und zu eng für das deutsche Volk, insofern als viele zum deutschen Volk gehören, die die dentsche Staatsangehörigkeit nicht haben. Auf der andern Seite find freilich auch die Grenzen des Deutschen Reiches für das deutsche Volk viel zu groß und weit, insofern als nicht jeder, der die deutsche Staatsangehörigkeit befltzt, auch Glied des deutschen Volkes ist. Darum ist aber das deutsche Volk doch da und kein bloßer Begriff. Denn es gilt nicht der Grundsatz, daß das, was nicht in den Akte» ist, auch nicht im Leben ist. So verhält es flch auch mit der christlichen Kirche im allgemeinen und mit der evangelischen Kirche im besondere«, von der hier die Rede ist und sein soll. Wenn das Verhältnis zwischen Kirche und Volk untersucht werden soll, dann kann das nur geschehen, wenn es sich dabei um zwei irgend­ wie gleichgeartete Größen handelt, wen» es sich um zwei Lebenserschei­ nungen handelt, die in einer gewisse» Parallele zueinander stehen. Es ist eben etwas anderes, ob man redet von dem Verhältnis zwischen Kirche und Staat, oder ob man redet von dem Verhältnis zwischen Kirche und Volk. Bei dem ersteren Verhältnis mag man in erster Linie denken an Verfassungen und Behörden, an Gesetze und Rechtsbefugnisse. Aber bei dem letzteren Verhältnis geht es um Erscheinungen des geschichtlichen Lebens, die sich noch viel schwerer voneinander abgrenzen lassen. Eine Trennung, eine wirkliche Trennung und nicht bloß eine solche, die nur auf dem Papier steht und mehr Postulat als Wirklichkeit ist, eine Trennung von Kirche und Staat ist schon schwer durchführbar. Aber ein Trennung von Kirche und Volk ist überhaupt unmöglich. Denn Christentum und Volkstum sind für uns, die wir eine über tausendjährige gemeinsame Geschichte von Christentum und Volkstum hinter uns haben, zwar keines­ wegs ein und dasselbe, aber eben durch das gemeinsame Werden und Wachsen so miteinander verwoben und verwachsen, daß sich unser Volks­ tum ohne das Christentum und unser Christentum ohne dieses unser Volkstum gar nicht denken läßt. Was der Gott unserer Geschichte zusammengefügt hat, das kann der Mensch nicht voneinander scheiden. In der Theorie mag er es vielleicht noch fertig bringen. Aber schon in dem Augenblick, in dem er das Eine gegen das Andere ausspielt, verläßt er den Boden der Wirklichkeit und konstruiert etwas in die Wolken hinein, was nicht auf Erden ist. Er operiert mit Ideen und nicht mit Realitäten. Jedenfalls würde unser Christentum ohne unser Volkstum ebensogut wie unser Volkstum ohne unser Christentum ein wesentlich anderes Geficht haben und etwas wesentlich anderes sein, als was es tatsächlich ist. Und ob dieses ohne jenes und jenes ohne dieses idealer wäre, das bliebe eine Frage, die von dem einen so, von dem andern so beantwortet werden

10 wird, je nachdem sie nämlich ein ideales Christentum vergleichen mit einem minderwertigen Volkstum oder ein ideales Volkstum vergleichen mit einem minderwertigen Christentum. Auf solche Willkürlichkeiten, bei denen dadurch, daß mit zweierlei Maß gemessen wird, Ungerechtigkeiten die zwangsläufige Folge sind, können und wollen wir uns nicht einlassen. Wir gehen vielmehr von der Tatsache aus, daß wir zweierlei Lebenskreisen angehören, die, mögen sie noch so verschiedener Herkunft sein, unser Leben, unser Denken, Fühlen und Wollen bestimmen: Kirche und Volk. Und wir denken bei dem Wort „Kirche" nicht so sehr an die evangelische Kirche altpreußischer Union oder an irgendeine Landeskirche oder Freikirche, sondern an jenen lebendigen Organismus (Leib), der, durch Christus und sein Evangelium mehr oder weniger stark bestimmt, unter uns, das ist im deutschen Volke, sein wirkliches und wirksames Dasein hat.

was ist Volk? Auch das Wort „Volk" ist zunächst nur ein Zeichen dafür, daß etwas da ist; eine Andeutung, ein Hinweis auf eine Wirklichkeit, die es erst einmal zu begreifen gilt. Denn auch bei dem Wort „Volk" können sich allerhand Vorstellungen auslösen, die abwegig sind und eine Ver­ ständigung zwischen dem, der dieses Wort gebraucht, und denen, vor denen dieses Wort gebraucht wird, erschweren, wenn nicht ganz und gar unmöglich machen. Ebensowenig wie das Wort „Kirche" ein­ deutig ist, ebensowenig ist das Wort „Volk" eindeutig. Je häufiger diese Worte in den verschiedensten Beziehungen und Verbindungen gebraucht werden, je lebhafter und leidenschaftlicher die Diskussion über „Kirche und Volk" geführt wird, um so notwendiger ist es, bevor man in diese Diskussion eintritt, möglichst unzweideutig herauszustellen, was man unter „Kirche" bzw. „Volk" versieht. Man sollte heutzutage das Wort „Kirche" niemals gebrauchen, ohne zuvor zu sagen, in welchem Sinne man es gebraucht. Man sollte aber auch das Wort „Volk" heut­ zutage niemals gebrauchen, ohne zuvor zu sagen, in welchem Sinne man es gebraucht. Denn leider ist eben die Situation so, daß wir in einer Zeit der Sprachverwirrung leben, in der nicht damit gerechnet werden kann, daß bei ein und demselben Wort sich ohne weiteres auch nur zwei Menschen ein und dasselbe denken. Die vielen Mißverständnisse, die die öffentliche Aussprache über das gleiche Thema so unfruchtbar machen oder wohl gar vergiften, haben keineswegs lediglich ihren Grund darin, daß wir uns untereinander nicht verstehen wollen — natürlich kommt auch das vor —, sondern mindestens auch darin, daß wir uns gegen­ seitig tatsächlich nicht verstehen. Eben das aber muß nach Möglichkeit vermieden werden. Ob dann das vorauszusetzende Verständnis des Wortes richtig ist, oder ob es auch nur die Zustimmung auf der andern Seite, d. h. auf der Seite des Hörers oder Lesers findet, das ist eine zweite Frage, deren Beantwortung in dem zu führenden Gespräch von unter­ geordneter Bedeutung ist. Es kann aber nur auf diese Weise erreicht werden, daß der Gesprächspartner weiß, woran er ist, und nicht auf Rätsel­ raten und Vermutungen angewiesen ist. Denn die Sprache ist doch dazu

11 da, daß wir uns nicht bloß in Andeutungen, etwa gar, wie jetzt vielfach üblich, in mehr verhüllenden als enthüllenden Andeutungen bewegen, sondern möglichst deutlich aussprechen, was wir denken. Mit dem Wort „Volk" verbindet stch zunächst die Vorstellung der Masse, die Vorstellung einer Anhäufung von Menschen in einem be­ stimmten Raum, wobei gar nicht bloß an einen Saal oder eine Festwiese gedacht ju werden braucht, sondern auch ein geographischer oder geschicht­ licher Raum gemeint sein kann. Aber die Summierung von lauter einzelnen Menschen, die Addierung von Individuen oder auch von Familien, Ständen, Berufen, Landschaften usw. ergibt keineswegs ein Volk in dem Sinne, in dem das Wort hier gebraucht werden soll. Die bloße Zahl ist nicht irgendwie konstitutiv für den Begriff des Volkes. Noch weiter ab von der Wirklichkeit, an die wir denken, wenn wir vom „Volk" reden, geraten wir, wenn stch dabei ausschließlich oder auch nur wesentlich dies Wort verbindet mit der Vorstellung vom Plebs oder Pöbel. Leider hat stch ja in dieser Hinsicht eine Sprachverschiebung voll­ zogen, die wie ein Spaltpilz wirkt und das, was wir unter „Volk" ver­ stehen, nicht zusammenfaßt, sondern aufspaltet. Nur durch diese Sprach­ verschiebung konnte es zu dem verhängnisvollen Mißverständnis kommen, dem der Ausspruch „dem Volke muß die Religion erhalten bleiben" unter­ worfen wurde. Redewendungen wie „Regierung und Volk", wie „Volks­ tümlichkeit" im Sinne der Popularität, wie „Volksschulen" im Gegen­ satz zu höheren Schulen, oder auch wie „Volkshäuser" als Versammlungs­ stätten für bestimmte parteipolitische Gruppen, wie „Volksküchen" im Unterschied von „Mittelstandsküchen" und was dgl. mehr ist, solche all­ gemeingebräuchliche Redewendungen haben den Begriff des Volkes ganz und gar verschoben und reden teils bewußt und gewollt, teils unbewußt und ungewollt an der Wirklichkeit, die wir unter „Volf" zu verstehen und zu begreifen haben, vorbei. Diese Redewendungen erschweren uns gerade­ zu, das zu sehen, das in eins zu sehen, worauf das Wort „Volk" einzig und allein Hinweisen sollte. Ein solch einseitiger Sprachgebrauch wirkt stch heute unter uns ebenso verheerend aus wie der unter uns bedauerlicher­ weise aufgekommene Gebrauch des Wortes „Arbeiter", der auch nur eine be­ stimmte Kategorie von Arbeitern im Auge hat. Ebenso wie es zu dem Arbeiter nur den einen Gegensatz gibt: Faulpelz, so gibt es zu dem Volk nur einen Gegensatz: Fremdling. Dafür hatten die Alten ein viel besseres Verständnis als wir. Ihr Sprachgebrauch ist darum auch eindeutiger als der moderne. Es ist wirklich ein Verdienst der völkischen Bewegung, daß sie uns in dieser Beziehung wieder hellhörig und hellstchtig macht. Die Er­ kenntnis bricht daher neu unter uns auf, daß Volkszugehörigkeit etwas anderes ist als Staatsangehörigkeit, daß der Fremdling nicht bloß außer unsern Toren, sondern auch in unsern Toren wohne« kann, daß staats­ bürgerliches Denken und staatsbürgerliche Erziehung etwas anderes ist als völkisches Denken und völkische Erziehung. Die Bedeutung des Staatslebens für das Volksleben soll damit gewiß nicht in Abrede gestellt sein. Auf das, was der Staat für das Volk bedeutet, habe ich schon oben kurz hingewiesen. Die kaiserlich-königlich, österreichisch-ungarische Monarchie war ein Staat, der kein Volk darstellte. Und das polnische Volk war ein Volk auch in der Zeit, in der es keinen polnischen Staat gab.

12 Mit dem Wort „53olt" berühren wir ebenso wie mit dem Wort „Kirche" eine Wirklichkeit, die nicht auf der Oberfläche liegt, sondern in hintergründige Tiefen hinabreicht. Mit dem Wort „Volk" deutet sich uns eine geschichtliche Erscheinung an, d. h. ein Lebendiges, das immerdar im Wechsel und im Werben ist, das wohl seine Ausdrucksformen, seine Sitten und Gebräuche, seine Sprache, Gesetze und Einrichtungen hat, diesen gegenüber aber doch immer noch etwas Anderes, etwas Jenseitiges bedeutet. Es lebt jwar in dem allen, aber es lebt nur zu einem Teil davon. Dieses alles kommt zwar irgendwie von dem Volke her, aus dem Volke heraus, aber das Volk selbst kommt nicht davon her, ebenso wie der Baum nicht von den Ästen, Zweigen und Blättern herkommt, sondern sein verborgenes Wurzelleben hat, aus dem heraus jenes sich immer wieder erneuert und ohne das jenes andere, was sichtbar ist und jedermann in die Augen fällt, gar nicht sein und bleiben kann. Mit Recht wird neuerdings „Volk" und „Nation" voneinander unterschieden. Was mit dieser Unterscheidung gemeint ist, ist dem Nicht­ eingeweihten nicht ohne weiteres klar, ja es kann mit Recht bezweifelt werden, ob es richtig ist, unter Nation etwas anderes zu verstehen als unter Volk. Immerhin ist es wichtig und trägt zur Klärung des Be­ griffes Volk wesentlich bei, wenn man mit der Tatsache, daß es ein Volk gibt, noch nicht die Tatsache als gegeben ansieht, daß dieses Volk seiner selbst sich bewußt ist und eben auch ein Volk sein will. Die Formulierungen „Volk will Nation werden" oder „Volk soll Nation werden" setzen das Bestehen des Volkes voraus. Das Entstehen eines nationalen Bewußt­ seins und das Erwachen eines nationalen Willens ist mit dem Dasein eines Volkes nicht von vornherein gegeben. So wichtig jenes beides auch für die Geschichte eines Volkes ist, und so wenig auch ohne National­ bewußtsein und nationalen Willen sich ein Volk auf die Dauer in der Geschichte wird behaupten können, die Wirklichkeit eines Volkes, seine Existenz mitten unter anderen Völkern ist weder ein Bewußtseinsvorgang noch auch eine Aktion des Willens. So wie der einzelne Mensch schon lebt und sich dann erst seines Lebens bewußt wird, so wie sein Leben die Voraussetzung dafür ist, daß der Lebenswille in ihm erwacht, so geht auch das Leben eines Volkes dem Volksbewußtsein und dem völkischen Willen voraus. Ähnlich verhält es sich bei der Familie. Wir leben ja schließlich nicht, weil wir leben wollen, sondern wir wollen leben, weil wir leben. Also sind wir auch nicht Deutsche, weil wir Deutsche sein wollen, sondern wir wollen Deutsche sein, weil wir Deutsche sind. Das Werden eines Volkes vollzieht sich nicht in des Bewußtseins Oberfläche und liegt nicht auf des Willens flacher Hand, sondern quillt hervor aus geheimnis­ vollen Tiefen und hat seine Wurzeln in einem Transzendenten, in dem, was für uns ein Jenseits ist und bleibt, so tief wir auch die Sonde unseres Verstandes hineinsenken und so viel wir davon auch mit unserem Willen ergreifen. Die Frage nach dem Staat ist eine Rechtsfrage. Die Frage nach der Nation ist eine politische Frage. Die Frage nach dem Volk ist eine Lebensfrage. Es bleibt nunmehr übrig, darauf einzugeheu, in welches Gebiet des Lebens das Volk gehört, in das Gebiet der Natur oder in das Gebiet

- 13 -

der Geschichte. Natürlich lassen beide Gebiete sich nicht so reinlich von­ einander scheiden, wie man wohl gern möchte. Denn wenn man unter Natur auch im allgemeinen das Geschehen versieht, was sich ohne mit­ wirkende Beteiligung des Menschen vollzieht, und bei der Geschichte an den Teil des Geschehens denkt, an dem der Mensch nicht bloß leidend, sondern auch handelnd mit beteiligt ist, so gibt es eben doch innerhalb der Menschheitsgeschichte nichts, was nicht auch naturhaft mitbestimmt ist. Und der Akt der Fortpflanzung, der für das Entstehen und Bestehen eines Volkes, ja weit darüber hinaus auch für seine innere Struktur, für seinen Charakter, für sein Wesen und seine Art von ungeheurer Be­ deutung ist, ist eben doch auch kein rein naturhafter Vorgang, sondern hängt zum mindesten mit menschlichen Sympathien eng zusammen. So glatt auseinanderretßen lassen sich daher die beiden Lebenserscheinungen nicht, die man mit Rasse und Volk bezeichnet. Trotzdem muß es als begriffsverwtrrend angesehen werden, wenn heutzutage diese beiden Begriffe vielfach in eins gesetzt und so nach Be­ lieben miteinander vertauscht werden. Es gibt ein deutsches Volk, aber es gibt keine deutsche Rasse. Keins der großen Völker der Gegenwart hat einen einheitliche« Stammbaum. Was wir sehen und kennen, ist der Baum. Aber der Baum nimmt seinen Anfang nicht im Stamm, sondern wächst hervor aus einem unsichtbaren, weitverzweigten und viel­ gestaltigen Wurzelgeflecht. So wächst auch ein Volk aus einer ganzen Reihe mannigfacher Stammwurzeln heraus in das Helle, klare Licht der Geschichte und vereinigt zuletzt in sich das verschiedenartigste Blut. Sonder­ lich in einem Gebiete wie Mitteleuropa, das infolge seiner eigentümlichen Lage, soweit unsere Geschichtskenntnis im Unterschiede von bloßen geschicht­ lichen Vermutungen zurückreicht, immer ein Treffpunkt und Sammel­ becken von Menschen und Menschengruppen verschiedenen Blutes gewesen ist, kann von einer einheitlichen Rasse, d. h. von einer gemeinsamen Blut­ bestimmtheit der Menschen, die in diesem Raume wohnen, nicht mehr die Rede sein. Die Blutmischung, die natürlich quantitativ und qualitativ hier anders ist als dort, bezieht sich auch nicht bloß auf die Landschaften, sondern geht selbst durch die einzelnen Familien und durch die einzelnen Menschen mitten hindurch. Man mag dies bedauern, aber der Wunsch, daß die Geschichte und das Werden des deutschen Volkes anders verlaufen sein möchte, wird an dieser Tatsache selbst nichts ändern. Es gehört dies eben auch zu dem Schicksal, das wir, d. h. das gegenwärtige Geschlecht, uns nicht selbst geschaffen haben, sondern das uns auferlegt ist. Und es ist noch sehr die Frage, ob dieses Schicksal nur ein uns belastendes und nicht vielleicht doch auch ein uns belebendes Schicksal ist. Jedenfalls ist die Eigenart des deutschen Volkes dadurch wesentlich mitbestimmt, daß keine Rassen­ einheit, sondern eine Rassenmischung sein Los ist. Wenn es also auch gar nicht bestritten werden kann, daß die Zusammensetzung des Blutes für die Eigentümlichkeit eines Volkes von großer Bedeutung ist, wenn es weiterhin dankbar begrüßt werden muß, daß neuerdings auf diese Tatsache so energisch hingewtesen wird, so muß doch zugegeben werden, daß eine sogenannte Blutdiagnose, eine Raffen- und Abstammungsuntersuchung nicht den Schleier zu lüften vermag, der das Geheimnis „Volk" umgibt.

14 „Rasse" und „Volk" sind keineswegs miteinander zu identifizieren. Die Frage nach der Rasse ist eine wesentlich biologische Frage. Die Frage nach dem Volk ist eine wesentlich ge­ schichtliche Frage. Das Werden eines Volkes ist nicht lediglich bedingt durch rein naturhaft gegebene Faktoren, wobei außer an das Blut auch noch an das Klima, an die Lage und Art des Landes und manches andere zu denken wäre. Das Werden eines Volkes ist ausschlaggebend bedingt durch seine Geschichte, d. h. durch das, was es erlebt und erfahren hat, was es getan und was es erlitten hat. Eben durch seine Geschichte, durch das, was von ihm, in ihm und an ihm geschieht, befindet es sich dauernd im Wandel und Werden. Darin hat es sein eigentliches Leben. Deutsch sein heißt mehr als von deutschen Eltern in deutschen Landen geboren sein und in deutschen Landen leben. Deutsch sein heißt ein Kind und Erbe dessen sein, was die Väter erlebt, erlitten und erkämpft haben. Deutsch sein heißt wurzeln und seine Heimat haben in einem großen geschichtlichen Zusammenhang, in einem Erlebniskomplex, der inmitten der ganzen Welt- und Menschheitsgeschichte nur an diesem einen Punkte vorhanden ist und auch nur an diesem einen Punkte möglich war. Solche Teilhaberschaft, wurzelechte Teilhaberschaft, solcher innere, geistig-seelische Anschluß an ein geschichtlich gegebenes Lebensgebiet braucht zunächst gar nicht bewußt und gewollt vollzogen zu werden. Er kann auch ohnedem vorhanden sein. Ja Wille und Bewußtsein können sich dagegen auflehnen und aufbegehren als gegen ein Schicksal, gegen eine Gegebenheit und Gebundenheit, von der sie doch nicht oder doch nur sehr schwer, nicht ohne Kämpfe, bei denen vielleicht mehr verloren geht als gewonnen wird, sich zu lösen vermögen. Des Menschen Haß gegen sein eigenes Volkstum mag gar oft nur irregehende oder enttäuschte Liebe sein. Nicht bloß das Volkstum selbst steigt empor aus dem, was jenseits vom Wissen und Wollen der Menschen, gerade auch der daran beteiligten Menschen liegt. Auch die Zugehörigkeit des einzelnen zu seinem Volks­ tum ist nicht eine Bestimmung, die er trifft, sondern eine Bestimmtheit, die ihn trifft. Hier gilt mutatis mutandis durchaus das, was Luther im 3. Artikel von der Kirche, von der Glaubensgemeinschaft sagt, in der der Mensch zu bewußtem und gewolltem Glaubensleben erwacht: Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen usw. Eine, wenn schon nicht unpersönliche, so doch überpersönliche Macht, ein dem menschlichen Willen übergeordneter, höherer Lebenswille, eine göttliche Weisheit, Vorsehung und Führung hat hier Bindungen und Verbindungen ge­ schaffen, in denen der Mensch sich vorfindet, und zwar also vorfindet, daß sie ihn in Anspruch nehmen, bevor er sie in Anspruch nimmt, daß fie ihn begreifen, umgarnen und umspannen, ehe er sie begreift und irgendwie versteht und erfaßt. Das ist es, was das Volk und unser Verhältnis zu unserm Volk in eine religiöse Sphäre rückt und also Volk und Kirche, wenn ich mich so ausdrücken darf, in einen gewissen Konkurrenzkampf bringt. Denn eben auch im Volk wie in der Kirche haben wir es mit Gott, mit dem mit uns handelnden Gott der Geschichte zu tun. Erst wer das versteht, vermag die ganze Schwierigkeit des Problems,

15 mit dem Thema „Kirche und Volk" angedeutet ist, zu empfinden. Weil aber in der Gegenwart unter uns das Volk wieder religiös ver­ landen wird, weil der Hintergrund, aus dem heraus Volk und Volkstum n die Erscheinung treten, nicht als ein willkürlicher, sondern als ein gött­ licher, das Leben der Menschen schöpferisch bestimmender und gestaltender geahnt und geschaut wird, deswegen ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kirche und Volk so akut geworden. Denn beide Lebenskreise erheben den Anspruch, nicht aus dem Willen der Menschen hervorgegangen zu sein, sondern aus dem Willen Gottes, und zwar aus dem Willen des in der Geschichte sich offenbarenden und die Geschichte trotz allem Mensch­ lichen und Allzumenschlichen, das sich in ihr breit macht, führenden und regierenden Gottes. Beide Lebenskreise erheben nicht einen bedingten, sondern einen bedingenden, ja einen unbedingten Anspruch. Diese Analogie der beiden vorhandenen Lebevskreise, die mit Kirche und Volk bezeichnet find, bringt sie beide erst recht in eine lebendige, hinund herschwingende Spannung zueinander und macht eine Aus-einanderSetzung ungeheuer schwierig. Das aber nur um so mehr, als beide Lebenskreise auf dem Boden der deutschen Geschichte sich zwar nicht decken, aber fich doch so stark berühren und vielfach derart in und mit und durch­ einander gewachsen und verwachsen find, daß man oft nicht sagen kann, wo das Volkstum aushört und das Christentum anfängt und umgekehrt. Es geht doch nicht an, daß wir Deutschtum mit Germanentum gleichsetzen. Denn ganz abgesehen von der schon erwähnten Rassen­ mischung, auf Grund deren die Deutschen kein reingermanisches Volk find, ist doch nun einmal das Christentum in unsere Geschichte eingetreten und hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß ein deutsches Volk wurde. Jenes große Gemeingut, von dem wir Deutsche alle mehr oder weniger zehren und das uns, ganz abgesehen von der subjektiven, indivi­ duellen Verarbeitung, die es in der Brust und in dem Kopfe von Millionen erfahren hat und erfährt; jenes gemeinsame Etwas, dadurch wir uns untereinander verbunden und von andern unterschieden wissen, ja unter­ einander verbunden und von andern unterschieden find, oft mehr, als wir uns selbst eingestehen; der Grund und Boden, in dem wir wurzeln, ist durchsetzt von christlichen Gedanken, christlichen Empfindungen, christ­ lichen Idealen, christlichen Motiven und Quietiven, christlichen Kräften und Hemmungen. Unser Volkstum, soweit wir es nicht verstehen als etwas, was vielleicht einmal war, oder als etwas, von dem wir vielleicht möchten, daß es so wäre, unser Volkstum, soweit wir es als Wirklichkeit nehmen, ist ohne den christlichen Einfluß, den es erfahren hat, und zwar eben durch die Kirche erfahren hat, gar nicht zu denken. Ebenso ist aber auch die Kirche, unsere Kirche als der von Jesus Christus und seinem Evangelium beeindruckte und geprägte Lebens­ kreis, wiederum ganz abgesehen von der subjektiven, individuellen Ver­ arbeitung, die dieses Evangelium in der Brust und in dem Kopfe von Millionen unter uns erfahren hat und erfährt, nicht unbeeinflußt geblieben von dem Volkstum. So wie das Persönliche dem Glauben seine persön­ liche Note gibt, so gibt ihm das Volkstum seine Volkstümlichkeit. Es gibt schon so etwas wie ein deutsches Christentum und eine deutsche Kirche. Das Christentum unter den Deutschen, so stark es immer fich durch das

16 Neue Testament und durch Jesus Christus selbst beeinflussen läßt und beeinflussen lassen will, trägt nun einmal ein anderes Gesicht als das Christentum unter den Romanen und Angelsachsen, unter den Juden und Japanern. Denn ein Deutscher kann Gott und sein Wort, Christus und sein Evangelium nur hören mit deutschen Ohren und mit einem deutschen Herjen und davon auch nicht anders reden denn deutsch. Unser Christentum, soweit wir es nicht verstehen als etwas, was vielleicht irgendwo und irgendwann einmal war, oder als etwas, von dem wir vielleicht möchten, daß es so wäre; unser Christentum, an das wir doch gerade denken, wenn wir von Kirche reden, ist ohne seine Volkstümlichkeit, die es von andern Christentümern, die es in der Welt gab oder gibt, unterscheidet, gar nicht zu denken. Dieses Jneinanderliegen der beiden Lebenskreise „Kirche und Volk" müssen wir im Auge behalten, wenn wir nunmehr diese beiden Lebens­ kreise in das richtige Verhältnis zueinander setzen wollen. Das ist die Frage, um die es geht, wie sich diese beiden Lebenskreise zueinander ver­ halten können und sollen.

tvie können sich Kirche und Volk zueinander verhalten? Um Mißverständnisse nach Möglichkeit zu vermeiden, sei noch einmal betont, daß wir, wenn wir das Wort „Kirche" gebrauchen, nicht an ein abstraktes Christentum, sondern an ein konkretes Christentum denken, und daß wir nicht an eine ideale, auf Grund des Neuen Testamentes irgendwie gedachte christliche Gemeinde denke», sondern an den realen, wirklich vorhandenen Lebenskreis, der die Menschen umfaßt und zusammen­ hält, die gewiß in, dem Grade und der Art nach, recht verschiedener Weise in dem Banne Jesu Christi und seines Evangeliums stehen. Eben diese Menschen stehen nun aber zugleich in dem Bannkreis ihres Volkes und ihres Volkstums. Hier wie dort, in dem einen Bannkreis wie in dem andern wird nun weiter von diesen Menschen, d. h. in unserm Falle von den Christen, die Deutsche sind, und von den Deutschen, die Christen sind, eine doppelte Gottbezogenheit empfunden und erlebt, die einander zwar nicht gleiche«, aber doch sehr viel Ähnlichkeit miteinander haben und darum miteinander um die Vorherrschaft streiten. Es ist im wesent­ lichen der Kreis, den Luther in seiner Erklärung des i. Artikels im 2. Hauptstück umreißt, und der Kreis, den er in seiner Erklärung des 2. Artikels desselben tzauptstückes beschreibt. Der zweite setzt den ersten zwar voraus, spielt aber doch schon im ersten mehr indirekt als direkt eine nicht unbedeutende Rolle. In dem einen Kreis handelt es sich um die in der Schöpfung und durch die Schöpfung gegebene Gebundenheit des Menschen an Gott. In dem andern Kreis handelt es sich um die durch Jesus Christus gegebene Ge­ bundenheit des Menschen an Gott. Diese Doppelgebundenheit in Kirche und Volk wird nun heute stärker empfunden als sonst. Ja die der Kirche und dem Volk, dem Volk und der Kirche angehörigen Menschen leiden unter dieser Doppelgebundenheit als unter einem Zwiespalt. Wir stehen zur Zeit nicht bloß in einer Aus­ einandersetzung über Kirche und Volk, über Christentum und Volkstum,

17 sondern wir stehen in einer Auseinandersetzung zwischen den in der Kirche bzw. dem Christentum und den im Volke bzw. dem Volkstum vorhandenen, wirksam vorhandenen Kräften. In diesem Kampf überpersönlicher Mächte und Kräfte stehen wir so mitten drin, daß es wohl kaum einen deutschen Christen und kaum eine» christlichen Deutschen gibt, in dem dieser Kampf sich nicht selbst zutrüge nach dem Motto: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen." Es sind zwei Lebenswillen, die an uns Herumreißen, die uns auseinanderzureißen drohen, und die doch beide mehr oder weniger stark als von Gott kommend empfunden werden. In dieser Not, in dieser tiefe» Not, die zu all den andern Nöten der Gegenwart über uns gekommen ist, suchen wir nach Einheit, verlangen wir wenigstens nach einem Ausgleich, der uns aus den angeschlagenen Disharmonien herausführt zu einer einigermaßen erträglichen Harmonie zwischen Kirche und Volk. Wir erleben schier noch einmal das, was unsere Vorfahren erlebten, als die Offenbarung Gottes in Jesu Christo sie traf, sie innerlich in Auf­ ruhr brachte, wovon das Leben des Mönches Gottschalk und der Heliand uns noch heute Zeugnis geben. Die äußeren Kämpfe, die sich dabei ab­ spielten und die, wie alles äußere Geschehen, uns viel besser überliefert und darum auch allgemein bekannter sind, gleichen nur dem Spiegelbild jener schweren inneren Erschütterungen, seelischen Leiden und geistigen Kämpfe, die sich damals in deutschen Landen in Herzen und Häusern zutrugen. Es ist nur heute fast umgekehrt als damals. Damals war das Christentum das Neue und das Volkstum das Alte. Heute ist das Volkstum das Neue und das Christentum das Alte. Damals war es der Gott in Christus, dessen Stimme gehört wurde. Heute ist es mehr der Gott im Volke, dessen Stimme laut und vernehmlich gehört wird. Damals war es das Wort Gottes, das in Christus und seinem Evangelium übermächtigt hereinbrach in eine durch Natur und die bisherige Geschichte bestimmte Wirklichkeit. Heute ist es die Stimme des Blutes und das Wort, das Gott in unserer Geschichte, d. h. in der Vergangenheit, die er uns schenkte, in der Gegenwart, die er uns bereitet, und in der Zukunft, die er will und uns verheißt, zu uns redet, wodurch wir aufgerüttelt werden. Die Wirklichkeit des Volkes, die Gotteswirklichkeit, die uns in unserm Volk und Volkstum gegeben ist, ist uns bewußt geworden, be­ drängt unsere Seele, bestürmt uns und ergreift uns mit übermächtiger Gewalt. Das ist die Situation, in der wir leben. Das ist die Spannung, der wir anheimgefallen sind. Diese Spannung irgendwie zu lösen, gehört zu den Gegenwartsaufgaben, zu deren Erfüllung vielleicht mehr die jüngere als die ältere Generation unter uns berufen und befähigt ist. Kirche und Volk sind in einen gewissen Gegensatz zuein­ ander getreten. Dieser Gegensatz droht weithin zu einem ansschließenden Gegensatz zu werden und ist es bereits für viele unter uns geworden, und zwar sowohl in dem Sinne, daß man um des Volkes und des Volks­ tums willen die Kirche, die christliche Kirche und das Christentum preis­ gibt, — das wäre etwa der Tannenbergbund — als auch in dem Sinne,

18 daß man um der Kirche, um der una sancta ecdesia, d. h. der Christenheit und des Christentums willen das Volk und das Volkstum preisgibt, — das wäre etwa das christliche Weltbürgertum. Spannungen, die mit dem Leben gegeben sind, Spannungen, die in Natur und Geschichte begründet sind, werden aber nicht dadurch gelöst, daß man den einen Pol zu gunsten des andern Pols einfach beiseite schiebt, ignoriert und vollends negiert. Es gehört zur Ordnung dieses unseres Lebens, daß Spannungen vorhanden sind. Unser Leben ist in mehr als einer Hinsicht bipolar und wird in seiner Gesamtheit niemals durch die Form des Kreises, sondern durch die Form der Elipse umschrieben. Die Elipse hat zwei Brennpunkte, um deren jeden als um ein besonderes Zentrum ein Kreis geschlagen werden kann. In der gegenseitigen Bezogenheit des einen Brennpunktes auf den andern geht unser Leben einher. In der dadurch gegebenen Spannung, die sich bald anziehend, bald ab­ stoßend geltend macht, hat unser natürliches und erst recht unser geschicht­ liches Leben seine ihm eigentümliche Bewegtheit und Lebendigkeit. Diese Spannungen können latent vorhanden sein und ohne Beteiligung unseres Bewußtseins und unseres Willens sich auswirken. Sobald sie aber aus ihrer Verborgenheit heraustreten, sobald sie uns bewußt werden und unsern Willen in Anspruch nehmen, treten diese Spannungen in ein akutes Stadium und bringen die Menschen in Not und Leidenschaft. In solches akute Stadium sind die Beziehungen zwischen Kirche und Volk gegenwärtig getreten. Sie werden gewiß nicht immer in diesem Stadium bleiben, wie sie auch nicht immer in diesem Stadium gewesen sind. Aber in der besonderen geschichtlichen Lage, in die wir uns versetzt sehen, liegt auch eine besondere geschichtliche Aufgabe, nämlich das Verhältnis von Kirche und Volk neu zu verstehen und neu zu gestalten. Dieser Aufgabe entziehen wir uns jedoch, wenn wir das Eine oder das Andere oder gar beides einfach aus unserm Leben streichen und so tun, als wäre es gar nicht da. Sowohl der Tannenbergbund als auch das christliche Welt­ bürgertum bedeuten nichts anderes als eine Flucht aus der Geschichte, aus dem Geschehen der Gegenwart in ein Wölkenkuckucksheim, das es vielleicht niemals gegeben hat und niemals geben wird, das es aber jedenfalls jetzt nicht gibt. Nicht um einen romantischen Vergangenheits­ traum und nicht um einen eschatologischen Zukunftstraum geht es «ns bei der Beantwortung der Frage nach Kirche und Volk. Diese Frage ist für uns ganz und gar eine Gegenwartsfrage, und sie kann nur von denen in ihrer vollen Schwere und schärfsten Schärfe empfunden werden, die weder von dem einen noch von dem andern lassen können, nicht deswegen, weil sie weder von dem einen noch von dem andern lassen wollen, sondern weil sie von dem einen wie von dem andern, von der Kirche und vom Volk, von dem Christentum und dem Volkstum sich stark in Anspruch genommen wissen. Nur die, die, wie man neuerdings sagt, existentiell denken, d. h. nicht über das Leben reflektieren, sondern denkend leben und lebend denken; nur die, die mit ihrem Denken der Wirklichkeit ihres Lebens verhaftet find und deren Lebenswirklichkeit sich vor ihrem Denken zu rechtfertigen bemüht; nur die Menschen, die das Band der Elipse um sich geschlossen sehen und daher an zwei Kreisen denkend und lebend, lebend und denkend Anteil haben, können überhaupt den ganzen

19 Ernst des Problems „Kirche und Volk' verstehen und begreifen, daß es sich hierbei um etwas handelt, was nicht aufgelöst, sondern erfüllt zu werden begehrt. Nicht wir stellen uns diese Aufgabe. Die Aufgabe ist uns gestellt. Wir machen uns nicht ein Problem zurecht, das gar nicht existiert, sondern wir sehen uns in unserer gegewärtigen Existenz vor das Problem „Kirche und Volk" gestellt. Wenn aber die einseitige Ablehnung des einen Geschichtskomplexes zugunsten des andern gedanklich zwar möglich ist, aber eben doch nur als eine Flucht aus der Wirklichkeit, als eine Verkennung, ja als eine Verleugnung der geschichtlichen Tatsachen angesehen werden muß, so bleiben nur noch zwei Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen Kirche und Volk übrig. Die eine Möglichkeit besteht darin, daß Kirche und Volk zwei einander koordinierte Größen sind. Die andere Möglichkeit be­ steht darin, daß Kirche und Volk zwei einander subordinierte Größen sind. In dem ersteren Falle bestehen Kirche und Volk nebeneinander, gleichgeordnet und gleichwertig. Nur ein „Sowohl-als-auch" kann sie miteinander verbinden. In dem zweiten Falle ist eine Größe der andern untergeordnet, und dann gibt es nur ein „Entweder-Oder". Entweder ist das Volk der Kirche oder die Kirche ist dem Volk untergeordnet. Wir kommen aus einer Periode der Geschichte heraus, die in dem „Sowohl-als-auch" lebte und dachte. Es ist dies die Periode des Liberalismus, die mit dem Grundsatz anhob: „Leben und leben lassen" und sich von dem Grundsatz leiten und beherrschen ließ: Sowohl leben als auch leben lassen. In solch einer Periode liebt man keine Bekenntnisse und keine Entscheidungen. Man geht ihnen aus dem Wege. Man sucht sie zu vermeiden. Man vermittelt und ver­ handelt. Kapitalismus und Sozialismus gehen miteinander Hand in Hand. Man kann national und international sein, ohne sich der darin liegenden Problematik überhaupt recht bewußt zu werden. Konstitutionelle Monarchie ist die bezeichnende Staatsform für eine solche „Sowohl-alsauch"-Periode der Geschichte. Das Alte wird behauptet und doch dem Neuen Rechnung getragen. Aller Radikalismus erscheint vom Übel, der Synkretismus ist Trumpf. Nicht die Rechte und nicht die Linke, sonder» die Mitte hat die Führung auf allen Gebieten des Lebens. Man hat natürlich Verständnis für das Extreme, aber man lehnt es ab. Es wird als interessant, aber als störend empfunden. Letzte Entscheidungen werden hinausgeschoben. Der Relativismus hat überall die Oberhand in diesem, wie man heute sagt, bürgerlichen, spießbürgerlichen Liberalis­ mus. Das Absolute, das Unbedingte, das entscheidend Bedingende steht nicht hoch im Kurs. Aus solcher Mentalität heraus ergibt sich denn auch die spezielle Einstellung: Sowohl dem Staate geben, was des Staates ist, als auch Gott geben, was Gottes ist; sowohl beten als auch arbeiten; sowohl den Nächsten lieben als auch Gott lieben. Es darf aber weder das eine noch das andere übertrieben werden; und wenn man beides nicht neben­ einander zu vereinigen vermag, wenn zwei Lebenspole nicht in eins gesetzt werden können, dann verteilt man sich eben, dann wendet man sich bald mehr dem einen, bald mehr dem andern zu und dient in der Woche dem Mammon und am Sonntag Gott und seinen Idealen.

20 In solcher Zeit sah man natürlich auch das Verhältnis zwischen Kirche und Volk in dem Verhältnis des „Sowohl-als-auch". über dem Volk und dem Volkstum darf die Kirche und das Christentum nicht vergessen werden, und über der Kirche und dem Christentum darf das Volk und das Volkstum nicht vergessen werden. Das Resultat war das sogenannte Bindestrich-Christentum, gegen das jetzt bezeichnender­ weise lebhaft protestiert wird. Die in dem Verhältnis zwischen Kirche und Volk beschlossene Spannung konnte jedoch gar nicht recht empfunden werden, weil man weder das eine noch das andere ganz ernst nahm. Die Zeit des Liberalismus war weiter auch eine Zeit des Indi­ vidualismus, gewiß nicht zufällig. Liberalismus und Individualismus stehen miteinander in einem organischen Zusammenhang, der hier nicht näher untersucht zu werden braucht. Kirche und Volk werden aber im Individualismus mehr vereinsmäßig, d. h. als vom Ich her, durch den mehr oder weniger freiwilligen Zusammenschluß von Einzelindividuen entstehende und bestehende Gebilde verstanden, denen fich der einzelne nach seiner Willkür auch zu entziehe» vermag. Das Schicksalhafte dieser beiden Lebensgrößen, das an und für sich, ganz abgesehen von der persön­ lichen Zustimmung der einzelnen, bestehende Verhältnis zwischen Kirche und Volk kann daher in einer individualistischen Periode der Geschichte nicht recht erkannt werden. Vom individualistischen Denken werden beide Größen immer erst durch das Individuum in Beziehung zuein­ ander gesetzt. Diese einzelnen sind es dann, die je nach ihren Interessen, oder wie man dafür gern sagt, je nach ihrer Veranlagung sich verteilen und je nachdem bald für das Eine und bald für das Andere, hier für das Eine, dort für das Andere einprozentig bis neunundneunzigprozentig da sind, in Wirklichkeit aber hundertprozentig ihrem Geschmack, ihre» Neigungen, ihren Gewohnheiten und Traditionen, kurz hundertprozentig sich selbst leben. Diese Periode der Geschichte geht zu Ende. Das Zeitalter des Li­ beralismus und Individualismus ist zunächst wenigstens einmal vorüber. Gewiß ist das Liberalistische und Individualistische nicht ganz und gar verschwunden. Es wird auch niemals für längere Zeit ganz und gar verschwinden, aber es hat, zumal bei der jüngeren Generation, zurzeit seine Kraft verloren. Nach der Periode des „Sowohl-als-auch" kündet sich eine Periode des „Entweder-oder" unter uns an. Damit gewinnt das Problem „Kirche und Volk" eine besondere Schärfe. Mit dem friedlichschiedlichen Nebeneinander beider Lebensgrößen ist es vorbei. Wir emp­ finden uns nicht mehr als solche, die zwischen beiden zu wählen oder sich nach Belieben zu verteilen haben, sonder» als solche, die von ihnen gefordert werden. Wir sehen uns infolgedessen in die Entscheidung hinein­ gedrängt. Wir sehen uns vor das „Entweder-oder" gestellt, gewiß nicht immer und überall in der gleichen Schärfe. Aber Kirche und Volk treten doch in einen gewissen Gegensatz zueinander, und wenn es sich dabei auch vielfach nicht um einen ausschließende» Gegensatz handelt, so handelt es sich doch um einen Wertunterschied, dadurch das Eine über das Andere gestellt und mithin das Eine gegen das Andere ausgespielt wird. In solcher Situation formuliert sich daher die Frage nach dem Verhältnis

21 von Kirche und Volk für uns also: Entweder ist die Kirche um des Volkes willen da, oder das Volk ist um der Kirche willen da; entweder hat die Kirche dem Volk zu dienen, oder das Volk hat der Kirche zu dienen. Diese letztere Auffassung, -aß das Volk der Kirche zu dienen hat, kann man als die mittelalterliche bezeichnen. Symbolisch überragen ja noch heute die, alten Dome jener Zeit alles andere und beherrschen das Städtebild. Bei dem Einbruch des Christentums in den Raum, in dem sich die deutsche Geschichte abspielt, hat die Kirche nach langen, schweren inneren und äußeren Kämpfen das Volk übermocht. Jene Zeiten waren eben auch Entscheidungszeiten, die nicht im „Sowohlals-auch", sonder» im „Entweder-oder" verliefen. Je mehr die Kirche erfüllt war von dem Bewußtsein civitas dei, Reich Gottes, zu sein, um so mehr mußte sie auftreten mit dem Anspruch, die allen andern Lebens­ größen und Lebensmächten übergeordnete Macht und Größe zu sein. Dieser Anspruch wird heute noch, wenigstens grundsätzlich, von der römischen Kirche festgehalten und vertreten. Dementsprechend hat die Kirche das Volksleben zu beherrschen oder doch zu durchdringen in Staat und Politik, in Kunst und Wissenschaft, im Rechtswesen, in der Schule und was es auch immer sei. Wie gesagt, es handelt sich dabei mehr um ein Prinzip, um einen Anspruch als um eine wirklich durchgeführte oder auch nur im modernen Leben durchführbare Ordnung des Verhältnisses zwischen Kirche und Volk. Die Kirche ist aber dann eben doch das Maß aller Dinge und hat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, überall hineinzuregieren oder sich doch überall hineinzumischen, und zwar keines­ wegs nur in das Privatleben der einzelnen oder gar nur in deren inneres Leben, sondern auch in das öffentliche Leben, in die Gestaltung und Führung des Volkslebens und in die Beziehungen der einzelnen Völker zueinander. Denn das Oberhaupt dieser Kirche ist prinzipiell der Statt­ halter Christi auf Erden und als solcher verantwortlich und berufen für alles und für jeden. Und diese Kirche selbst lebt von dem Anspruch, eine Weltkirche und keine Volksktrche zu sein, eine Weltkirche, der alle Völker gehören und der jegliches Volkstum sich unterzuordnen hat. Der mittel­ alterliche Anspruch des Papstes gegenüber dem Kaiser, die Idee eines heiligen römischen Reiches, nun etwa nicht bloß deutscher Nation, sondern eben aller Nationen ist auch heute noch mutatis mutandis lebendig. Es soll auch gar nicht behauptet werden, daß diese Idee nur oder überall in der römischen Kirche und Christenheit lebendig ist. Auch in nicht-römischen Kreisen, sonderlich da, wo eschatologische Stimmungen zum Durchbruch gelangen, in sektiererischen Bewegungen und da, wo die Christen sich als die Subjekte gegenüber der massa perditionis, gegenüber dem Missionsobjekt der „Welt" empfinden, geistert in unsern Tagen wieder etwas herum von der mittelalterlichen Idee, als wäre die Kirche, als wären die Gläubigen und Bekehrten dazu berufen, die Welt in Ordnung zu bringen und zu halten, als wolle und müsse die Kirche irgendwie Führerin, Herrin der Völker sein oder werden. Ma» traut der Kirche, auch der evangelischen Kirche heutzutage jedenfalls so etwas wieder zu, vielleicht in dunkler Erinnerung an Calvin und Genf, vielleicht in unzureichender Kenntnis angelsächsischer Verhältnisse. „Das

22 Jahrhundert der Kirche" hätte sonst ein dahingehendes Mißverständnis unter uns nicht erfahren können. Es soll und kann weiterhin nicht bestritten werden, daß bei einer übergeordneten Stellung der Kirche gegenüber dem Volk das Volks­ leben und das Volkstum mancherlei Gewinn haben kann. Seine Ent­ faltung braucht deswegen noch lange nicht unterdrückt oder auch unter­ bunden ju werden. Des zum Zeugnis haben wir in der Vergangenheit die mittelalterliche Geschichte unserer deutschen Kultur, die sich bei der Vorherrschaft der Kirche und unter der Bevormundung der Kirche in vieler Hinsicht recht stark und auch recht erfreulich entwickelt hat. Theo­ retisch wäre es also durchaus möglich, daß bei einer solchen mittelalter­ lichen Ordnung des Verhältnisses zwischen Kirche und Volk beide Teile keineswegs schlecht fahren würden. Romantische Träume werden gewiß nach dieser Richtung hin auch gegenwärtig geträumt. Aber einmal wieder­ holt sich die Geschichte nicht, und die Zukunft wird, so ähnlich auch die zu lösende Aufgabe sein mag, nie zur Kopie der Vergangenheit. Zum andern ist die deutsche Reformation dazwischen gekommen. Das deutsche Volk auch in seinem katholischen Teil hat Luther erlebt. Darum können wir das Verhältnis zwischen Kirche und Volk niemals auch nur annähernd so verstehen, als hätte das Volk in irgendeinem Sinne der Kirche zu dienen. Wir können das nicht, nicht etwa deswegen, weil unser völkisches Empfinden dagegen aufbegehrt, sondern deswegen, weil wir eben von Luther Herkommen. Dieser Mann hat uns neben vielem andern tief ins Herz hineingegraben den Satz: Für meine Deutschen bin ich ge­ boren, meinen Deutschen will ich dienen. Darum kann eine Kirche, die durch die Reformation Luthers geworden ist und das ihr durch diese Reformation Geschenkte nicht verlieren oder verleugnen will, bei mancher Sympathie für das deutsch-christliche Mittelalter, gar nicht anders, als sich bekennen zu dem Satz: „Die Kirche ist um des Volkes willen da, die Kirche hat dem Volke zu dienen."

Wie sollen sich Kirche und Volk zueinander verhalten? Daß dieser Grundsatz „Die Kirche hat dem Volke zu dienen" nicht bloß ein lutherischer, sondern eben ein evangelischer Grundsatz ist; daß dieser Grundsatz durchaus begründet ist in dem, der nicht gekommen ist, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene, und der diesen seinen Dienst zuerst und zunächst an seinen Nächsten, d. h. in seinem Volke und an seinem Volke vollendet hat, braucht hier nicht näher nachgewiesen zu werden. Das liegt für jeden, der Jesus und die Evangelien kennt, auf der Hand. Wir können auch an den Apostel Paulus, an den Heiden­ apostel denken, der ein Jude war, an sein innerliches Ringen und Werben um die Seele seines eigenen Volkes, das ihn in all seiner Weltmissions­ arbeit nie verlassen und das er gerade vor den Römern am allerwenigsten verleugnet hat, um zu verstehen, wie tief die Verpflichtung und Ver­ antwortung gegenüber dem eigenen Volk der ersten Christenheit, wenigstens ihren Führern, in Fleisch und Blut, in Herz und Sinn eingeprägt war. Daß aber dieser Grundsatz im Leben und Wirken der evangelischen

23 Kirche, in der Wirklichkeit unserer Kirche, immer und überall in den vier Jahrhunderten nach der Reformation jur Geltung gekommen wäre, läßt sich nun freilich leider auch nicht behaupten. Man kann bezüglich dieses Grundsatzes nicht sagen: „So ist es", sondern muß sagen: „So sollte es sein". Ob es auch immer nur so gewollt worden ist, mag dahin­ gestellt bleiben. Immerhin bricht sich gegenwärtig das Verständnis für eine Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Volk in dem Sinne, daß die Kirche dem Volke zu dienen hat, sowohl in der Kirche wie im Volke eine neue Bahn. Daß kirchlicherseits das Wort „Volkskirche" mehr in den Vorder­ grund tritt; daß die evanglische Kirche altpreußischer Union Wert legt auf die bleibende Verbundenheit mit den in den abgetretenen Gebieten verbliebenen Gliedern der ehemaligen Landeskirche; daß der GustavAdolf-Verein stärker noch als früher dem evangelischen Deutschtum in der Diaspora, d. h. in der Zerstreutheit unter Andersgläubige und erst recht auch unter anderes Volkstum, seine finanzielle wie moralische Unter­ stützung angedeihen läßt, das mag zunächst mehr äußerlich angesehen werden, ist aber doch schon symptomatisch. Bemerkenswerter ist -er Umstand, daß die evangelische Kirche in unseren Tagen viel stärker als früher sich dessen bewußt wird, daß sie für die politischen Dinge, d. h. für das öffentliche und allgemeine Leben ihres Volkes ebenso verant­ wortlich ist wie für das mit Christo in Gott verborgene Leben der Seelen. Pietismus und Rationalismus, Liberalismus und Individualismus hatten die Kirche ihr Hauptaugenmerk richten lassen auf das innere, auf das persönliche Leben. Es war der Gedanke der Eigengesetzlichkeit der einzelnen Lebensgebiete, der freilich auch nicht ganz so verkehrt ist, wie man heutzutage ihn bereits wieder hinzustellen vielfach beliebt, mächtig geworden. Die Religion, das Religiöse war zu einer besonderen Provinz im Gemüte geworden, dem kleinen Veilchen gleich, das im Verborgenen blüht. Sehr im Unterschied vom Mittelalter, wo die Religion alles durch­ drang und die Kirche sich um alles kümmerte, waren Kirche und Religion zu etwas Besonderem geworden, zu einer Angelegenheit, an der der große, breite Strom des Lebens mehr oder weniger teilnahmlos, be­ ziehungslos vorüberflutete. Ganz wohl hat sich die Kirche nicht gefühlt in diesem Abgedrängtsein von dem, was mit ttoXitiköc bezeichnet wird, in dieser teils freiwilligen, teils unfreiwilligen Beschränkung auf ein verhältnismäßig eng begrenztes Teilgebiet des allgemeinen Lebens, das auch die Innere Mission der evangelischen Kirche nicht wesentlich zu erweitern vermochte. Die Erinnerung an Luther, der sich um Kaiser und Reich, um Fürsten und Stände, um Bürger und Bauern, um Zins und Wucher, um seines Volkes Sitten und Unsitten gekümmert hat, im eigentlichsten Sinne des Wortes gekümmert hat, ist der Kirche auch in jenen Zeiten ihrer Geschichte nie ganz verlorengegangen. Aber es war eben doch mehr eine theoretische Erkenntnis als ein das Handeln der Kirche bewegender und bestimmender Gedanke, daß Leib und Seele, Äußeres und Inneres, Soziologisches und Persönliches, Wirtschaft, Staat, Volk und Kirche viel zn eng zusammenhängen, als daß man das Eine vernachlässigen könnte, ohne zugleich das Andere zu vernach­ lässigen, als daß man das Eine pflegen könnte, ohne nicht zugleich auch

24

das Andere pflegen zu müssen. Der moderne Volkstumsgebanke stellt die Kirche vor die Aufgabe, nicht bloß die einzelne» Seelen, sondern auch das Volk ernst, ganz ernst zu nehmen, und nicht bloß für die Gemeinde des Herrn im Volke, sondern für das gesamte Volk, in das diese Gemeinde des Herrn hineingestellt ist, sich verantwortlich zu wissen. Für diese alte Aufgabe hat auch die Kirche unserer Tage ein neues Ver­ ständnis gewonnen, und ste ist gewillt, daraus die praktischen Konse­ quenzen zu ziehen. Auf der andern Seite, auf der Seite des Volkes, das weithin die Kirche als eine quantite nSgiigabie anzusehen sich gewöhnt hatte und sich ihrer nur noch gelegentlich aus besonderen Anlässen je nach Bedürfnis bediente, im übrigen aber der sogenannten Neutralität der Kirche sich freute und keineswegs eine ernstliche Einmischung in seine eigenen An­ gelegenheiten begehrte, bringt man jetzt der Kirche wieder ei» neues Interesse entgegen. Mehr noch, auch da, ja gerade da, wo man sie leiden­ schaftlich bekämpft, fängt man an, sie wieder ernst zu nehmen. Die Kirche ist wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Dis­ kussion getreten und Gegenstand sonderlich auch des po­ litischen Gesprächs geworden. Die schärfste Kritik an ihr ist für sie immer noch günstiger als dies, daß man sie totschweigt. Denn hinter der Kritik verbirgt sich immer eine Erwartung. Was aber von der Kirche erwartet wird, das bezieht sich nun keineswegs bloß auf das Leben der Einzelnen, sondern gerade auf das Leben des Volkes, ja sogar auf die Beziehung der Völker untereinander. Es ist irgendwie eine Entscheidung, ein entscheidendes Wort, das von der Kirche erwartet wird in der Ver­ wirrung der Verhältnisse, in den Unklarheiten, dem Für- und Widerund Durcheinander der ethischen, weltanschaulichen, sozialen, wirtschaft­ lichen, kulturellen und politischen Gedanken, die sich untereinander an­ klagen und entschuldigen. So kommen sich Kirche und Volk in dem Interesse, das sie gegen­ seitig aneinander nehmen, einander entgegen. Das ist die Situation, in der ein klärendes Wort darüber gesagt werden soll und muß, wie Kirche und Volk sich zueinander verhalten sollen. Nichts ist gefährlicher in solcher geschichtlichen Stunde, als wenn die beiderseitigen Erwartungen aneinander vorbeigehen. Denn das führt zu den Enttäuschungen, die den Keim der gegenseitigen Verbitterung und Entfremdung in sich tragen. Nicht ein Sich-finden, sonder» das Aus-einander-leben ist die zwangsläufige Folge.

Es war ein Unglück für unsere Kirche und für unser Volk, daß bei dem Aufbruch des sozialen Gedankens die Kirche ihrerseits wesentlich nur das Sozialistische, ja das Materialistische in diesem Gedanken sah und sich infolgedessen vorwiegend kritisch und negativ gegenüber dem sozialen Gedanken einstellte, statt den Schrei der Sehnsucht nach Ge­ rechtigkeit und Liebe, der im sozialen Gedanken, wenn auch unklar und verworren, zum Ausdruck kam, zu erfüllen mit dem Geist des Evange­ liums, das doch zum mindesten auch ein Evangelium der Armen, und

25 zwar nicht bloß der geistlich Armen, sondern auch der im Irdischen und im Zeitlichen Armen und Elenden in dieser Welt ist. Innerhalb der evangelischen Kirche hat die Innere Misflon ernstlich an solcher Erfüllung gearbeitet. Erreicht hat sie diese Erfüllung aber nicht, vor allem wegen der sich schon bei Wichern findenden unglücklichen Unterscheidung zwischen den Subjekten und Objekten kirchlichen Handelns, zwischen dem heils­ erfüllten und dem heillosen Teile des Volkes. Es war weiterhin ein Unglück für unsere Kirche und für unser Volk, daß bei dem Aufbruch des sozialen Gedankens auf der andern Seite von der Kirche erwartet wurde ein Gesellschafts-- und Wirtschaftsprogramm, die Verurteilung des bestehenden Systems und die Sanktionierung eines neuen, und das im Namen Gottes kraft der Religion des Evan­ geliums. Innerhalb der sozialistischen Bewegung hat es nicht an ernsten Versuchen gefehlt, diesem Ansinnen zu entsprechen. Das konnte aber immer nur geschehen auf Kosten des Evangeliums und vermochte daher beide Teile niemals zu befriedigen. Bei dem gegenwärtigen Aufbruch des völkischen Gedankens be­ finden wir uns in einer ähnlichen Lage. In der Kirche besteht ohne Zweifel die Gefahr, daß sie in dem durchaus berechtigten Bewußtsein, daß es sich für sie um etwas anderes, und zwar um mehr handelt als um die Pflege des Volkstums und die Propagierung vaterländischer Ideen, in dem auflebenden völkischen Bewußtsein, seinen Kräften und Idealen nur das Unterwertige sieht und sich also dieser Bewegung gegenüber bei aller Sympathie mehr oder weniger distanziert, statt die in ihr nach Wirklichkeit und Wahrheit ringende Sehnsucht zu bejahen. Denn ein solches Bejahen des innersten Kerns erweckt leicht den Anschein, als ob damit auch die Schale und alles, was dabei unverdaulich ist, mit be­ jaht wird. In dem seiner selbst bewußten Volke besteht aber naturgemäß die Gefahr, daß es die Kirche nach seinen Maßstäben beurteilt und nur das in ihr gelten lassen kann und will, was ihm selbst entspricht, um alles abzulehnen und zu verwerfen, was ihm widerspricht. Und das wird um so mehr und um so entschiedener der Fall sein gegenüber einer Kirche, die Volkskirche sein will und sich zu dem Grundsatz bekennt: Die Kirche hat dem Volke zu dienen. An die römisch-katholische Kirche werden daher vom Volkstum her ganz andere oder gar keine besonderen An­ sprüche gestellt. Es ist bei einer Weltkirche, die mit dem einzelnen Volks­ lum nicht so verbunden ist wie die Kirche der Reformation in Deutsch­ land, von vornherein klar, daß über ein gewisses Wohlwollen, einen dementsprechenden Schutz und Segen hinaus nicht viel mehr erwartet werden kann und dars. Der Anspruch der evangelischen Kirche, Volks­ kirche zu sein, reizt bas Volk naturgemäß, Einfluß zu gewinnen, nicht bloß auf die äußeren Verhältnisse dieser Kirche, sondern auch auf die inneren Angelegenheiten, d. h. aus ihr Wesen, auf ihre Substanz. Demgegenüber ist es notwendig, mit aller Deutlichkeit zu betonen, daß das Volk von der evangelischen Kirche nichts anderes erwarten kann und darf als das Evangelium, bas heißt kurz: die Verkündigung des Gottes, der die Sünde haßt und den Sünder liebt, oder anders ausgedrückt: die Verkündigung der Gnade Gottes in Jesu Christo. Dieses Evangelium hat die Kirche nicht bloß

26 zu verwalten, sondern eben zu verkündigen und also immer wieder neu und lebendig hineinzustellen durch Wort und Werk und alles Wesen in das Leben unseres Volkes. In dem Evangelium liegt die Gabe, die Gott der Kirche anvertraut hat, und in dieser Gabe liegt wiederum ihre Aufgabe, ihre eigentümliche Aufgabe. Alles andere ist für die Kirche peripherisch, gewiß mehr oder weniger peripherisch. Dies ist zentral. Alles andere kann schließlich auch von anderen Organisationen und Organismen, Verbänden, Bünden und Lebenskretsen irgendwie ge­ leistet werden. Die Verkündigung des Evangeliums jedoch, und ich betone noch einmal, daß es fich dabei keineswegs um eine bloße Wort­ verkündigung handelt, kann einzig und allein von dem Kreis derer aus­ gehen, die in Christo Jesu find. Geht fie von diesem Kreis nicht aus, wird fie nicht von ihm ausgestrahlt, dann geschieht fie überhaupt nicht, dann ist fie einfach nicht da. Wird diese Verkündigung von allen mög­ lichen anderen Auswirkungen kirchlichen Lebens überstrahlt oder über­ schattet, dann kommt das, worum es in der Kirche geht und worum bei der Kirche fich alles dreht, dem Volke nicht zum Bewußtsein. Es kommt dem Volke nicht oder nur sehr mangelhaft zum Gehör und zum Geficht. Das Evangelium ist dann, obwohl es da ist, so gut wie nicht da. In dem Maße, als das Volk etwas anderes denn das Evangelium von der Kirche erwartet, in dem Maße muß entweder eine Enttäuschung bei dem Volke eintreten, wenn nämlich die Kirche bet der Verkündigung des Evangeliums bleibt und also den Erwartungen des Volkes nicht entspricht, oder aber die Kirche entspricht den Erwartungen des Volkes und verleugnet, verschleiert, verwässert ihr eigentliches Amt und ihren, ich sage nicht ausschließlichen, aber doch ihren vornehmsten Beruf. In beiden Fällen stören die falschen und verkehrten Erwartungen das Ver­ hältnis zwischen Kirche und Volk, und in beiden Fällen erleiden Kirche und Volk schweren Schaden. In dem ersteren Falle dadurch, daß die Kirche die lebendige Beziehung zum Volksleben verliert; in dem zweiten Falle dadurch, daß das Volk den Dienst einbüßt, den nur die Kirche ihm leisten kann. Die Kirche ist kein politischer Faktor und hat nicht die Aufgabe, politische, sei es innenpolitische, sei es außenpolitische Probleme zu lösen. Die Kirche ist kein wirtschaftlicher Faktor und hat nicht die Auf­ gabe, die Probleme des wirtschaftlichen Lebens zu entwirren und, sei es für den Kapitalismus, sei es für den Sozialismus, die beide obendrein immer mehr einen phrasenhaften Schlagwortcharakter erhalten haben, Partei zu ergreifen. Die Kirche ist kein gesellschaftlicher Faktor und hat nicht die Aufgabe, sich mit der bestehenden Gesellschaftsordnung auf Gedeih und Verderb zu verbinden oder eine neue Ordnung als die eigent­ lich gottgewollte Ordnung der menschlichen Gesellschaft zu proklamieren. Die Kirche, auch als Dolkskirche, ist nicht einmal ein nationaler Faktor und hat darum auch nicht die Aufgabe, in dem Nationalen auf- und unterzugehen, wie fie freilich auch nicht.die Aufgabe hat, das Internationale gegen das Rationale als das Übergeordnete auszuspielen. Die Kirche lebt vielmehr selbst in allen diesen Problemen und den daraus sich ergebenden Spannungen. Sie sieht nicht außerhalb dieser Welt, sondern, wiewohl sie nicht von dieser Welt ist, ist sie doch in dieser

27 Well. Sie ist in diese Welt gesandt, nicht um dieser Welt zu entfliehen und sich auf eine Insel der Seligen zu retten, sondern um in dieser Welt zu wirken gemäß ihrer himmlischen Berufung in Christo Jesu. Die Kirche so gut wie der einzelne Christ hat ihren Ort und Stand nicht in einem Jenseits von Not und Tod, von Sünde und Schuld, sondern in dem allen darin, mitleidend und mittragend, auf daß ste sich laut 2. Cor. 6,4 ff. beweise als die Dienerin Gottes in allen Dingen. Es ist daher nicht so sehr ihre Aufgabe, Not und Tod, Sünde und Schuld in dieser Welt zu beseitigen und des Lebens Rätsel sowie des Schicksals Knäuel zu entwirren, wiewohl sie auch in dieser Hinsicht getreu dem Vorbild und Urbild ihres Herrn und Meisters helfend und heilend, also nicht bloß passiv, sondern auch aktiv sich zu betätigen hat. Aber ihre eigentliche und wesentliche Aufgabe ist das nicht. Ihre eigentliche und wesentliche Aufgabe ist nicht die Schaffung eines Glückseligkeitszustandes, die Herbeiführung des möglichst großen Glückes möglichst vieler Menschen. Der Bau des Reiches Gottes ist nicht Sache der Kirche, sondern Sache Gottes. Bei diesem Bau ist die Kirche im günstigsten Falle Handlanger und Werkzeug, niemals aber Werkmeister oder gar Bauherr. Denn die Kirche weiß, daß alles, was Menschen denken, tun und treiben, dem Gerichte Gottes unterworfen ist, daß nicht nur sie selbst, sondern auch das Volk, in dem ste arbeitet und für das sie da ist, der Rechtfertigung durch Gott bedarf. Sie ist daher allen Schwarmgeistereien, den religiösen sowie den nationalen abhold. Denn sie weiß, daß die Befreiung aus diesen oder jenen Verhältnissen, so wichtig eine solche auch für den Einzelnen und für ein ganzes Volk bisweilen sein mag, doch immer wieder in diese oder jene Verhältnisse hineinführt. Dieses Wissen kann und darf sie nicht verschweigen, auch nicht aus menschlicher Rücksichtnahme. Sie muß es verkünden, so schwer es ihr selbst bisweilen werden mag, und so gewiß sie sich dadurch mancherlei Mißverständnissen aussetzt, selbst ihrem Volk und Volkstum gegenüber. Ihre eigentliche und wesentliche Aufgabe ist daher nicht, die nationale oder wirtschaftliche oder soziale Befreiung oder irgendeine andere innerweltliche Befreiung zu betreiben oder sich, wenn sie von anderer Seite betrieben wird, mit ihr bei aller Sympathie zu identifizieren. Ihre eigentliche und wesentliche Aufgabe ist vielmehr, in die Not- und Schuld- und Schicksalsgemeinschaft, und das ist eben die Volksgemeinschaft, in die sie hineingesiellt ist, hineinzutragen durch Wort und Werk und alles Wesen das Evangelium und damit: Frieden in den Streit, Freude in die Trübsal, Seligkeit in das Leid, Reichtum in die Armut, Kraft in die Schwachheit, Segen in den Fluch, Erlösung in die Sünde, Vergebung in die Schuld. Durch die Gnade des Herrn Jesu Christi die Liebe Gottes in der Gemeinschaft des heiligen Geistes zu verkündigen, wirksam zu verkündigen, sowohl in der Form der Aktion wie in der Form der Passion, das ist die Aufgabe der Kirche des Evangeliums. Diese Aufgabe verstehen heißt die Kirche verstehen, und solches Ver­ ständnis muß das Volk haben oder gewinnen. Sonst wird ein Miß­ verständnis und Mißverhältnis zwischen Kirche und Volk die unabweisbare Folge sein. Die Erfüllung dieser Aufgabe hat das Volk von der Kirche zu erwarten, ja zu verlangen, nicht mehr, aber auch nicht weniger, nicht

28 weniger, aber auch nicht mehr. Dadurch, daß das Volk solches erwartet und verlangt, leistet das Volk seiner Kirche den größten Dienst, den es ihr überhaupt leisten kann. Denn nichts wirkt lähmender auf das Wirken eines Menschen, als wenn von ihm überhaupt nichts mehr erwartet wird. In diesem Zustand befindet fich das Verhältnis des Volkes jur Kirche, Gott sei Dank, weithin nicht mehr. Aber nichts wirkt störender, irreführender, verderblicher, als wenn von einem Menschen oder von einem Kreis von Menschen etwas Verkehrtes und diesem Unmögliches oder auch nur etwas Uneigentliches und Unwesentliches erwartet wird. Und in diesem Zustand befindet sich weithin das Verhältnis des seiner selbst bewußt gewordenen Volkes in seiner Kirche. Dom Standpunkt des Volkes aus gesehen, wird von der Kirche ein Zuviel erwartet. Sie wird überfordert. Vom Standpunkt der Kirche aus gesehen, wird ein Zuwenig erwartet. Sie wird unterfordert. Erst wenn die Erwartungen des Volkes dem Vermögen, den Gaben und dem Beruf der Kirche ent­ sprechen, erst dann steht zu hoffen, daß Kirche und Volk in ein normales Verhältnis zueinander kommen. Damit solches geschieht, muß nun noch ein Anderes klar und deutlich ausgesprochen werden. Wir bekennen uns restlos und uneingeschränkt ju dem Grundsatz: Die Kirche hat dem Volke zu dienen. Sn diesem Grund­ satz liegt aber der Keim zu einem Mißverständnis, dem von vornherein begegnet werden muß. Es besteht nämlich immer die Gefahr, daß der Mensch bzw. die Menschen, denen man dient, zum Herrn des Dienstes werden. Diese Gefahr ist um so größer, je ernster der Dienst genommen wird, je mehr der Dienst Dienst und keine verschleierte Herrschaft ist und sei« will. Sie ist daher für die evangelische Kirche sonderlich groß und naheliegend. Diese Gefahr nämlich, daß der Dienst an den andern schließlich darin sich vollzieht und darin aufgeht, daß der eine Teil dem andern zu Dienst und Willen steht, diese Gefahr wird in hervorragendem Maße akut in Zeiten der Humanität und tzumanitätsduselei, in den Zeiten, in denen in den Beziehungen der Menschen untereinander die Bezogenheit auf Gott und die Gebundenheit an Gottes Willen außer acht gelassen wird, oder auch nur als etwas Nebensächliches, als etwas Peripherisches, als eine Privatsache angesehen wird. Da, wo nicht egoistische, sondern altruistische Motive das Verhalten der Menschen zueinander beherrschen, also im Bereich der Nächstenliebe, bricht die Gefahr auf, daß der Mensch sich von dem andern in seinem Tun und Lassen wesentlich beeinflussen und bestimmen läßt. Zur Sllusiratio« dieser Gefahr sei kurz hingewiesen auf das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern, wie es innerhalb einer „säkularisierten" Erziehung sich schier von selbst ergibt und ergeben hat. Eltern, die ihre Kinder nicht beherrschen, nicht vergewaltigen, sondern ihnen dienen, wirklich dienen wollen, laufen immer Gefahr, diesen Dienst praktisch also durchzuführen, daß sie den Kinder«, wie man zu sagen pflegt, allen Willen tun und, da sie es ablehnen, von sich aus ihr Ver­ hältnis zu den Kindern zu gestalten, es eben „vom Kinde aus" gestalten. Ein Drittes fehlt da, wo Gott fehlt. So kann und darf der Dienst der Kirche am Volke nicht verstanden und nicht ausgeführt werden, und zwar gerade um des Volkes willen. Das Volk ist nicht der Herr der Kirche.

29 Die Kirche kommt nicht vom Volke her und geht ;um Volke hin. Die Kirche ist nicht ein Organ des Volkes, das das Volk aus sich heraussetzt, um innerhalb des Volkes eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, etwa die Pflege des religiös-sittlichen Lebens. Das Volk ist nicht Auftrag­ geber der Kirche. Nicht vom Volke her, auch nicht vom Volkstum aus bestimmt sich Gabe und Aufgabe des kirchlichen Dienstes. Die im Volke oder auch im Volkstum schlummernden religiös-sittlichen Kräfte sind nicht das, wovon die Kirche lebt. Die Kirche kommt noch in einem andern Sinne als das Volk von Gott her und geht tunt Volke hin. Die Kirche entstammt nicht dem Lebenskreis des i. Artikels im 2. Hauptstück. Sie entstammt dem 2. Artikel. Die christliche Kirche kommt von Christus her und geht zum Volke hin. Die evangelische Kirche kommt vom Evangelium her und geht in das Volk hinein als die die­ nende Magd. Aber wiewohl sie eine dienende Magd ist und nichts anderes sein will und sein darf als eine dienende Magd mit allen Zeichen der Niedrigkeit, hat sie darum doch etwas dem Volke gegenüber Souveränes. Luther war, nicht trotzdem er seinen lieben Deutschen dienen wollte, sondern weil er ihnen dienen wollte, weit davon entfernt, ihnen zu Gefallen zu sein. Er hat wohl den Leuten auf das Maul gesehen, aber nicht nach dem Maule geredet. Seine Liebe zu seinem Volke betätigte sich nicht darin, daß er seinem Volke wiedergab, was ihm Gott durch sein Volk und sein Volkstum gegeben hatte. Seine Liebe zu seinem Volke bestand vielmehr darin, daß er ihm gab, was Gott ihm durch Christus und sein Evangelium gegeben hatte. Er betätigte seine Liebe zu seinem Volke dadurch, daß er diesem seinem Volke das Wort Gottes verkündigte, man kann auch sagen das Wort Gottes verdeutschte. Dieses Verhältnis Luthers zu seinem Volke hat sein Urbild und Vorbild in dem, der sein Herr und Meister war. Jesu Liebe zu seinem Volke war nichts anderes, denn sei« Gehorsam gegen Gott und sein Wort. Es kann daher gar keinem Zweifel unterliegen, daß eine Kirche, eine christliche Kirche, eine evangelisch-lutherische Kirche ihren Dienst an ihrem Volke nur so zu ver­ stehen und auszuführen hat, daß der Grundsatz alles gemeinschaftlichen Lebens der Menschen untereinander, also auch des Volkslebens, an dem die Kirche äußerlich und innerlich beteiligt ist und für das sie da ist, dabei zur Geltung kommt: Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. „Über alle Dinge", das heißt eben auch über das hinaus, was uns sonst groß, hoch, ja heilig dasteht in dieser Welt: unser Volk und unser Volkstum. Wenn von „Volkskirche" die Rede ist, dann ist damit nicht gemeint, -aß das Volk der die Kirche bestimmende Faktor ist. Es ist vielmehr dies damit gemeint, daß das Volk das Arbeitsfeld und Arbeitsgebiet ist, auf dem der Dienst der Kirche zuerst und zunächst sich zu vollziehen hat. Ebenso wie es im Sinne Jesu keine rechte Nächstenliebe gibt, die nicht auch zugleich Gottesliebe ist, so gibt es für die Kirche, die sich durch ihn leiten läßt, keine Vaterlandsliebe ohne Gottesliebe, ohne daß die Gottesliebe die Vater­ landsliebe beseelt und sich nicht bloß als Vaterlandsliebe, sondern in der Vaterlandsliebe betätigt. In der Volkskirche handelt es sich um Gottes­ dienst am Volke. Der Satz„Die Kirche hat dem Volke zu dienen"

30 ist daher dahin zu verstehen, daß die Kirche Gott in und am Volke zu dienen hat. Das nähere Objekt des Dienstes ist mit dem entfernteren nicht zu verwechseln. Volk kann wohl ohne Kirche sein, aber Kirche kann nicht ohne Volk sein. Ohne den i. Artikel unseres Glaubensbekenntnisses hängt der 2. in der Luft. Die Erlösung setzt die Schöpfung voraus. Insofern ist allerdings das Volk nicht das Zweite und die Kirche das Erste, sondern das Volk ist das Erste und die Kirche das Zweite. Ebenso wie die Einzelpersönlichkeiten, die Familien, die Stände auch ohne Kirche, ohne Christus und sein Evangelium ihr Dasein und ihr Recht haben, also auch das Volk und das Volkstum. Die Menschen selbst so gut wie die Beziehungen der Menschen untereinander braucht die Kirche nicht erst zu schaffen. Sie sind geschaffen. Sie sind einfach da. Sie sind gegeben. Die Kirche aner­ kennt sie als auf dem Wege der Schöpfung durch Natur und Geschichte Gewordenes, ja dauernd Werdendes. Für die Kirche handelt es sich nicht um die Geburt alles dessen, sondern um die Wiedergeburt. Die Wieder­ geburt setzt die Geburt voraus. Weder verleugnet noch negiert die Kirche die schöpfungsmäßige Tat­ sache des Volkes. Sie bekennt sich zum Volke als zu einer besonderen Individuation des schöpferischen Reichtums, ebenso wie sie die verschie­ denen, durch den Werdegang der Natur und Geschichte geformten Charak­ tere, Temperamente und Individualitäten der Einzelpersönlichkeiten nicht verneint, sondern bejaht. Die christliche Kirche kann am allerwenigsten in dem Geschichtliche» lediglich eine Störung, Trübung, Verzerrung, einen Abfall und Verderb des ursprünglichen, natürlichen und darum idealen Tatbestandes erblicken. Denn die Geschichte, verstanden im Unterschied von den Naturvorgängen als ein Geschehen, das nicht bloß an den Menschen, sondern auch durch die Menschen sich vollzieht, erscheint gerade ihr keineswegs als ein von Gott ganz und gar verlassener Vorgang oder auch nur als eine Fehlentwicklung, die der Korrektur bedarf, durch die alles auf den Naturzustand, jedenfalls auf einen vorgeschichtlichen oder ungeschichtlichen Zustand zurückgeführt werden muß. Die Kirche kennt auch eine Offenbarung Gottes in der Geschichte, die ihr daher in keinem Falle als ein bloßes Machwerk der Menschen erscheint. Wenn schon in dieser Geschichte nicht alles nach dem Willen Gottes geschehen ist und geschieht, so weiß sie doch, daß in ihr nichts, also auch das Sein und Werden des Volkes, geschehen ist und geschieht ohne den Willen des Vaters im Himmel. Ein einschneidender Unterschied zwischen Natur und Geschichte liegt hier nicht vor. Sind doch auch die rein natürlichen Vorgänge, die des Menschen und der Familien und der Völker Werden und Wachsen begründen, durch eigener und anderer Menschen guten und bösen Willen und ihr dementsprechendes Tun oder Lassen beeinflußt. Wenn Luther sagt: „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat," so meint er doch zum mindesten in dem „dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter" eine Bestimmt­ heit des Menschen durch Menschen, hinter der letztlich doch nichts anderes steht als der gute und gnädige Wille des allmächtigen Gottes. So allein kann daher auch die Kirche das Schicksal „Volk" verstehen und ihre eigene Schicksalsgemeinschaft mit ihrem Volk begreifen. Sie steht vor der Tat-

31 fache des Volkes als einer ihr von Gott bereiteten Tatsache. Anch die gefallene Schöpfung ist und bleibt Schöpfung. Die Kirche, die die Gnade Gottes in Jesu Christo zu verkündigen hat, hat es nicht bloß mit der Sünde zu tun, sondern auch mit dem Sünder, das heißt mit dem Menschen, dem von Gott geschaffenen Menschen und also auch mit dem Volk, mit dem ihr von Gott verordneten Volke, so wie es ist. Gewiß ist Mensch, Volk, Menschheit, ja die ganze Welt durch die Sünde getrübt, verfälscht und ganz und gar verdorben. Es bleibe dahingestellt, ob in der Natur die Harmonie der Sphären vorhanden ist, die durch kein ängstliches Harren, Seufzen und Sehnen der Kreatur gestört wird, und ob wir nicht also auch schon von hier aus allen Anlaß haben, eines neuen Himmels und einer neuen Erde zu warten. In der Geschichte jedenfalls, in dem Geschehen, das durch der Menschen Tun und Lassen beeinflußt ist, ist die Sünde dazwischen gekommen. Und sie hat keines­ wegs bloß die einzelnen Menschen, sondern auch die Beziehungen der Menschen untereinander vergiftet. Kein Gut dieser Erde, und wäre es noch so groß in unseren Herzen angeschrieben, weder Vater noch Mutter, weder Familie noch Volk sind frei von Schuld und Fehle. Nicht bloß unsere Stellung zu unserem Volke wird durch fleischliche Liebe und fleisch­ lichen Haß entstellt, auch das Volk selbst, der gesamte Lebenskreis, der dadurch umschrieben ist, ist verfälscht und verdorben, schon bevor wir zu ihm in Beziehung treten und mit in diesen Lebenskreis eingeschloffen werden. Daß das natürlich auch von der Kirche gilt, ist selbstverständlich. Es sei nur ausdrücklich betont, damit nicht die Meinung aufkommt, als stünde Kirche dem Volke wie ein reines Subjekt einem unreinen Objekt gegenüber. Nein, Kirche und Volk befinden sich hier in der gleichen Ver­ dammnis. Sie bedürfen beide der Rechtfertigung, Erlösung und Heili­ gung. Wenn mithin das Volk dem Gericht der Kirche auch nicht untersteht, so weiß doch die Kirche davon, daß das Volk ebenso wie alles andere, was zu dieser Welt gehört, ebenso wie auch die Kirche selbst, dem Gerichte Gottes unterworfen ist. Und mit diesem Wissen hat die Kirche dem Volke zu dienen. Sie hat dieses Wissen im Volke wach zu erhalten bzw. immer neu zu erwecken. Mit der Verkündigung des Gerichtes Gottes bewegt sich die Kirche des Evangeliums allerdings nur im Vorhof ihres eigentlichen Handelns. Ihre vornehmste Aufgabe ist nicht die Verkündigung des Gerichtes, sondern der Gnade. Darauf recht nachdrüMch hinzuweisen, scheint angesichts der Zeitlage, und zwar nicht bloß der theologischen, sondern der allgemeinen Zeitlage mit ihrer bolschewistischen Neigung, alles, was da ist, zu ver­ dammen und sich lediglich einzustellen auf das: Die Welt vergehet mit ihrer Lust, besonders wichtig. Die in Christo Jesu offenbare Gnade Gottes, von der die Kirche herkommt, um die sie weiß und die zu ver­ kündigen sie da ist, hat ihre Eigentümlichkeit darin, daß sie die Sünde haßt und den Sünder liebt, und zwar gerade in dem liebt, daß sie die Sünde haßt und weder aus diesem Haß noch aus dieser Liebe irgendein Hehl macht. Weiterhin hat die Liebe, die sich in Jesu offenbart, ihre Eigentümlichkeit darin, daß sie zwar Gott über alle Dinge liebt und ihre Liebe zur Welt nichts anderes ist denn Gehorsam gegen Gott, daß sie aber eben diese Liebe und eben diesen Gehorsam an dem Nächsten übt.

32 das heißt nicht in einer beliebigen selbstgewählten Beziehung der Menschen untereinander, sondern in der durch den Schöpfer-Gott, also durch Natur und Geschichte gegebenen Beiiehung. Ob nun die Kirche von der Gnade Gottes in Christo oder, etwas allgemeiner gefaßt, von der Liebe, die sich in Jesu offenbart, ausgeht, — und wovon anders kommt denn der Kreis derer, die in Christo Jesu sind, her? — immer sieht sie sich zuerst und zunächst angewiesen auf das eigene Volk und sozusagen hineingetrieben und hineingestoßen in das eigene Volk. Und zwar in dem Sinne, daß ihre Arbeit nicht bloß ge­ schehen darf, sondern geschehen muß in Liebe zum eigenen Volke. Eine Kirche, die ihrem Volke ihr Herz versagt, versagt sich Gott und verleugnet ihren Herrn und Meister. Die Kirche hat dem Volke zu dienen nicht als sein Untergebener aber auch nicht als sein Herr, sondern als sein Bruder und sein Nächster dadurch, daß sie sich beweist als ein Diener Gottes in mancherlei Nöten, auch in der tiefen, tiefen Gegenwartsnot unseres Volkes, die, wie alle Nöte, eine äußere und eine innere Not zugleich ist. Die Kirche trägt die letzte und höchste Verantwortung für ihr Volk. Aber sie ist, wenn schon für das Volk verantwortlich, so doch nicht vor dem Volke, sondern vor Gott. In jedem Volke wie in jedem Menschen liegt eine Sehnsucht, das zu werden, was es noch nicht ist. Gott sei Dank, daß in unserem deutschen Volke aus der Not seiner babylonischen Gefangenschaft heraus, an der es sich schuldhaft beteiligt weiß, diese Sehnsucht auflebt. Die Kirche wird dieser Sehnsucht nur dann zu ihrer Erfüllung verhelfen können, wenn sie diese Sehnsucht teilt, voll und ganz teilt und wie einst Christus selbst seinem Volke gegenüber so ihrem Volke gegenüber sich nicht pharisäisch überhebt, sondern in Gehorsam gegen Gott ihres Volkes Not teilt und ihres Volkes Sünde als eigene Sünde trägt, um inmitten dieser Notund Schuld- und Schicksalsgemeinschaft recht laut und deutlich hinein­ zutragen die Kunde von der Barmherzigkeit Gottes, der den glimmenden Docht nicht auslöscht und das zerstoßene Rohr nicht zerbricht, der den Tod des Sünders nicht will, sondern will, daß er sich bekehre und lebe. Es hat wohl selten eine Zeit in der Geschichte unseres Volkes gegeben, in der das Volk seine Kirche so nötig hat als jetzt, damit dem Volke zu Gehör und Gesicht kommt der Wille zum Leben, der nicht von unten, sondern von oben stammt, das heißt nicht von Menschen, sondern von Gott. Und es hat wohl wenig Zeiten in der Geschichte unserer Kirche gegeben, in der das Wort der Vergebung, das der Kirche anvertraut ist, unserem Volke so lebensnotwendig gewesen wäre wie gerade jetzt. Damit unser Volk seine Kirche und unsere Kirche sein Volk verstehe, besser verstehen lerne als bisher, dazu sind diese Zeilen geschrieben. Denn sie sind nun einmal beide aufeinander angewiesen, füreinander von Gott berufen: Kirche und Volk.

Ser weg Üee Kirche herausgegeben von D. Georg Vurghart, Geist!. Vizepräsident des evangel. Öberkirchenrats in Berlin und D. Dr. Ernst Sellin, ord. Professor an der Universität Berlin, Geh. Aonsistorialrat.