Lehrer und Lehramt der Kirche [Reprint 2021 ed.] 9783112420362

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Lehrer und Lehramt der Kirche [Reprint 2021 ed.]
 9783112420362

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Willem A. Visser 't Hooft

Lehrer und Lehramt der Kirche

Evangelisches Verlagswerk Verlag Josef Knecht Frankfurt am Main

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Visser 't Hooft, Willem A.: Lehrer und Lehramt der Kirche / Willem A. Visser 't Hooft. Frankfurt am Main: Evangelisches Verlagswerk; Frankfurt am Main: Knecht, 1986. ISBN 3-7715-0217-9 (Evang. Verlagswerk) ISBN 3-7820-0532-5 (Knecht)

Teile dieses Bandes erscheinen in englischer Sprache in der Zeitschrift "The Ecumenical Review", 2/1986, Genf.

ISBN 3-7715-0217-9 (Evang. Verlagswerk) ISBN 3-7820-0532-5 (Knecht) Übersetzung aus dem Englischen von Helga Voigt © 1986 by Evangelisches Verlagswerk GmbH, Frankfurt am Main Printed in the Federal Republic of Germany Gesamtherstellung Dohany Druck, Groß-Umstadt

Inhalt Vorwort

5

1. Einleitung: magistri und magisterium

11

2. Lehrer im Neuen Testament

13

3. Lehrer nehmen ab - Bischöfe nehmen zu

..18

4. Lehrer in Karthago und Alexandria

22

5. Bischöfliche Lehrer

26

6. Ein magisterium der magistri?

31

7. Magistri als Reformatoren

40

8. Das magisterium im Kontext der päpstlichen Unfehlbarkeit 51 9. Die drohende Spaltung zwischen magistri und magisterium

60

10. Theologen entdecken die Kirche neu

70

11. Die magistri beteiligen sich am magisterium

80

12. Trennen sich die Wege erneut?

86

13. Autorität und Freiheit in den orthodoxen Kirchen

102

14. Magistri und magisterium im ökumenischen Dialog

109

15. Magistri - das vierte Amt?

125

16. Schlußfolgerungen

133

Anmerkungen

154

Vorwort Es war eine der großen Gnadengaben von Dr. Willem A. Visser 't Hooft, in einer jeweils neuen Situation die brennenden Fragen zu erkennen und zur Diskussion zu stellen. Dabei lag ihm besonders am Herzen, daß das Gespräch nicht geschichtslos verlief. Er hat deshalb immer wieder versucht, die aktuellen Themen in den geschichtlichen Zusammenhang zu stellen, um sowohl aus der biblischen Botschaft als auch aus der Erfahrung der weltweiten Kirche aller Zeiten zu lernen. In seiner letzten, hier nun posthum veröffentlichten Studie über „Lehrer und Lehramt der Kirche" hilft uns W.A. Visser 't Hooft, eine heute äußerst brennende Frage aufzunehmen und in ihrem geschichtlichen Zusammenhang zur Diskussion zu stellen. Trotz Krankheit und zunehmender Schwäche hat er mit dieser Frage gerungen. Während seines letzten Lebensjahres - er starb 1985 - kam er in Gesprächen mit Freunden immer wieder leidenschaftlich auf die Problematik des Verhältnisses zwischen dem Dienst theologischer Arbeit und dem Dienst kirchlicher Leitung zurück. Vor allem neuere Entwicklungen in der römisch-katholischen Kirche zeigten ihm die Dringlichkeit dieser Frage. Er war jedoch auch davon überzeugt, daß die gegenwärtige Spannung zwischen den magistri und dem magisterium nicht nur Ausdruck einer zeitbedingten und vorübergehenden Krise ist, sondern eine (bis jetzt viel zu wenig untersuchte) Grundfrage des Kirche-Seins überhaupt. So wird diese letzte Schrift W.A. Visser 't Hoofts zu 5

einem Vermächtnis. In großen Linien wird die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Theologen und Kirchenleitung beschrieben. Es gehört zum Charakter einer programmatischen Schrift, daß sie stellenweise vereinfacht oder daß sie einseitig ist. Ich frage mich zum Beispiel - und habe dies noch mit dem Verfasser besprochen - ob mit der Gegenüberstellung von Paulus und Petrus nicht ein späteres historisches Problem in das Neue Testament zurückprojiziert wurde. Ohne Zweifel war Paulus ein großer Theologe, als er aber an die Gemeinden im römischen Reich schrieb, tat er dies nicht nur mit der Autorität eines Theologen, sondern aufgrund seiner apostolischen Berufung, als Missionsstratege und kirchlicher Leiter. So mögen andere Details in seiner historischen Analyse in Frage gestellt oder anders gesehen werden; die ökumenische Herausforderung dieser Schrift von W.A. Visser 't Hooft bleibt jedoch bestehen. Mir erscheinen vor allem drei Fragenkreise wichtig: W.A. Visser 't Hooft hat erneut ganz realistisch festgestellt, daß für die Zukunft der ökumenischen Bewegung die Diskussion über die Unfehlbarkeit des Papstes nicht ausgeklammert werden darf. Er schreibt dazu: „Das eigentliche Problem ist nicht, ob ein pastorales Amt petrinischen Charakters wünschenswert oder notwendig ist. Das wirkliche Problem ist das Papsttum in seiner heutigen Gestalt... Wohl hat das Zweite Vatikanische Konzil auch die Kollegialität des Papstes mit den Bischöfen unterstrichen, doch der Papst wurde immer noch als der eine und alleinige Schiedsrichter betrachtet." Es ist natürlich nicht möglich, hinter die 1870 gefasste Entscheidung des 6

Ersten Vatikanischen Konzils zurückzugehen. Wohl aber muß zusammen mit verschiedenen römisch-katholischen Theologen gefragt werden, ob diese Entscheidung nicht „re-rezipiert" oder „re-interpretiert" werden kann. Mit dem gegenwärtigen, in historischer Perspektive gesehen relativ neuen Dogma des päpstlichen Lehramtes kann es nicht zur Einheit der Christen kommen, und W.A. Visser 't Hooft muß deshalb ganz nüchtern konstatieren: „Meines Erachtens kann keine andere Kirche dieses Verständnis des magisteriums akzeptieren; denn das hieße, ein wesentliches Element der Lehre der Kirche aufgeben, die sie ihren Gliedern durch ihre ganze Geschichte hindurch verkündigt hat." Allerdings geht es hier nicht um eine Frage, die nur an die römisch-katholische Kirche zu stellen ist. W.A. Visser 't Hooft weiß um „dieTatsache, daß das Fehlen oder die unzulängliche Ausübung des magisteriums ebenso ein ernsthaftes Hindernis auf dem Wege zur Einheit der Kirche ist" wie das gegenwärtige Dogma vom päpstlichen Lehramt. In seinen „Schlußfolgerungen" macht er einige Vorschläge, wie in der Zusammenarbeit kirchlicher Leiter und Theologen das magisterium auszuüben wäre. Der zweite Fragenkreis betrifft die Aufgabe und Autorität der Theologen. Das 15. Kapital des Büchleins wird bewußt herausfordernd formuliert: „Magistri das vierte Amt?" Nach der Überzeugung des Verfassers hat es nicht nur zur Anfangszeit der Kirche, sondern während der ganzen Kirchengeschichte und in den verschiedenen Konfessionen neben Bischöfen, Presbytern und Diakonen die magistri gegeben. Dazu werden interessante Beispiele zitiert. Dieses 7

vierte Amt der magistri wurde jedoch nur selten anerkannt. W.A. Visser 't Hooft schreibt deshalb: „Die dieser Schrift zugrundeliegende Überzeugung ist die, daß die Theologen eine eigene spezifische Aufgabe zu erfüllen haben." Es genügt nicht, „ihre Berufung mit dem Begriff der Beauftragung zu beschreiben, so als wären sie bloß Hilfskräfte der Hierarchie". Der Verfasser ist in diesem Zusammenhang nicht auf die gegenwärtig viel diskutierte ökumenische Konvergenzerklärung über „Taufe, Eucharistie und Amt" der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen eingegangen. Im Abschnitt über das Amt wird dort ja das dreifache Amt von Bischöfen, Presbytern und Diakonen als geschichtlich gewachsen vorausgesetzt. Die Frage nach einem vierten Amt wird nicht gestellt. Die Bedeutung der theologischen Arbeit wird zwar in der Konvergenzerklärung öfter betont, aber die Sorge um die Einheit der Lehre und die Funktion des Lehrens wird dort wesentlich als eine Aufgabe der Bischöfe und Presbyter gesehen. Auch an diese ökumenische Konvergenzerklärung muß die Frage gestellt werden: „Magistri - ein viertes Amt?" Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Lehrern und Lehramt führt hin zu der nur angedeuteten Frage nach der Rolle, die dem Gottesvolk als ganzem in Sachen Theologie und Kirchenleitung zukommt. W.A. Visser 't Hooft verweist darauf, daß sich die Lehrer und Prediger der Reformation nicht als Herren, sondern als Diener des Wortes Gottes verstanden. Sie waren bereit zu „akzeptleren, daß die Kirche unter der Leitung des Heiligen Geistes dar8

über entscheiden kann, ob ihre Lehre in Einklang mit dem Glauben steht". Der Verfasser weist auch darauf hin, daß während des Zweiten Vatikanischen Konzils über den sensus fidelium gesprochen wurde, und er widmet ein kurzes Kapitel der „Autorität und Freiheit in den orthodoxen Kirchen" des Ostens. Darin kommt er auf den Begriff Sobornost in der russischen Theologie zu sprechen, und er zitiert die Antwort der orthodoxen Patriarchen auf eine Enzyklika Pius IX., wo festgestellt wird: „Bei uns können Neuheiten nicht durch Patriarchen oder Konzilien eingeführt werden; denn Hüter der Religion ist der ganze Leib der Kirche, d.h. die Menschen, die ihren Glauben unverändert bewahren wollen." Leider bleibt innerhalb der hauptsächlich protestantisch/römischkatholischen Auseinandersetzung in der vorliegenden Studie das Kapitel über die Orthodoxie etwas isoliert. An der von W.A. Visser 't Hooft gestellten Frage müssen die orthodoxen Theologen beteiligt werden. Dann muß jedoch das Thema weiter gefasst werden, nicht nur magister und magisterium, sondern „Volk Gottes, Lehrer und Lehramt". Sowohl in der römisch-katholischen Kirche als auch im weiteren ökumenischen Gespräch scheint gegenseitige Herausforderung und gegenseitige Korrektur noch viel zu wenig stattgefunden zu haben: nämlich zwischen denjenigen, die viel über den Dienst/das Amt des ganzen Gottesvolkes, über das Laienapostolat, nachgedacht haben und denjenigen, die sich hauptsächlich mit dem Dienst/dem Amt der Theologen und der Kirchenleitung befassen. Die Untersuchungen des in dieser Studie oft zitierten Yves Congar können 9

uns zum Thema „Volk Gottes, Lehrer und Lehramt" weiterhelfen. Vieles kann dazu auch von der Erfahrung der Basis-Gemeinden und der „Jungen Kirchen" gelernt werden. Diese letzte Veröffentlichung von W.A. Visser 't Hooft zeigt, daß der große ökumenische Pionier trotz vieler Enttäuschungen immer wieder das Dennoch des Glaubens betont. Auch in ihr weist er uns hin auf die große Verheißung der gegenwärtigen biblischen Erneuerung und der trotz aller Schwierigkeiten weiter um sich greifenden ökumenischen Bewegung.

Genf, im Februar 1986

10

Hans-Ruedi Weber

1. Einleitung: magistri und magisterium Von den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt an und durch die ganze Geschichte der christlichen Kirche hindurch hat sich immer wieder eine grundlegende Frage gestellt: Welches ist die angemessene Beziehung zwischen den magistri, den theologischen Lehrern, und dem magisterium, der Autorität, die darüber entscheidet, was die wahre Lehre der Kirche ist. Mit anderen Worten: Sind die magistri einfach Sprachrohr des magisteriums und vollständig seiner Kontrolle unterworfen, oder sind sie Bestandteil des magisteriums und haben Anteil an seiner Verantwortung für die Festsetzung der wahren Lehre? Oder aber gibt es noch eine mögliche dritte Position dazwischen? Trotz der Bedeutung, die diese Frage in der Geschichte der Kirche gehabt hat, hat sie nie eine Antwort gefunden, die von allen Betroffenen als zutreffend und endgültig betrachtet worden wäre. Immer wieder sind Spannungs- und Konfliktsituationen entstanden, in denen sich magistri und magisterium im Gegensatz zueinander befanden. Das Problem ist besonders in unserer Zeit akut geworden. Es gibt meines Wissens heute keine Kirche, in der es sich nicht in irgendeiner Form gestellt hat. Ich glaube, es ist nicht übertrieben zu sagen, daß die Spannung zwischen Theologen und kirchlicher Autorität, seien es Papsttum, Bischöfe oder Synoden, heute größer ist als je zuvor. Diese Frage ist natürlich von entscheidender Bedeutung für die ökumenische Bewegung und ist ei11

nes der schwierigsten Themen auf ihrer Tagesordnung. Es kommt nicht selten vor, daß Kirchen, die einen ähnlichen Begriff vom christlichen Glauben haben, durch ihr Verständnis vom Wesen und von der Rolle des magisteriums getrennt sind. Diese Frage verursacht praktische Schwierigkeiten im Leben der Kirchen, wenn entschieden werden soll, welchen Platz Im ökumenischen Gespräch man denjenigen Theologen einräumen sollte, die in ihrer Suche nach einer Lösung des Problems der Einheit der Kirche weiter gehen als die Autoritäten ihrer eigenen Kirchen oder die diesen Autoritäten gegenüber eine kritische Haltung einnehmen. Vielleicht sollte man die Frage in einen größeren Zusammenhang stellen. In der kirchlichen Geschichte unserer Zeit haben die Kirchen aufgehört, monolithisch zu sein. Wenn Pater Yves Congar sagt, daß die römisch-katholische Kirche „keine monolithische Einheit mehr darstellt"1, dann trifft das auf alle Kirchen zu. In einem gewissen Sinne sind sie alle pluralistisch geworden, und man muß sich fragen, wie das rechte Gleichgewicht zwischen dem offiziellen Dialog der Kirchen und dem inoffiziellen Dialog zwischen theologischen Gruppen und einzelnen Theologen gewährleistet werden kann.

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2. Lehrer im Neuen Testament Das Problem der Beziehung zwischen Theologen und kirchlicher Autorität stellte sich zum erstenmal anläßlich der beiden Besuche des Paulus bei den Gemeindevorstehern in Jerusalem, wie es in den ersten Kapiteln des Galaterbriefes beschrieben wird. Paulus war ein voll ausgebildeter Theologe, dessen große Gabe oder Charisma seine Fähigkeit war, zu predigen und den Kontext des neuen Glaubens auf einem hohen intellektuellen Niveau und aus tiefer Einsicht heraus darzulegen. In Jerusalem sah er sich galiläischen Fischern gegenüber, die wenig gebildet waren, die aber die geistliche Autorität von Menschen besaßen, die in tagtäglichem Kontakt mit dem Herrn Jesus Christus gestanden hatten. Wie schwierig und heikel die Situation war, geht aus der von ihm geäußerten Befürchtung hervor, daß er womöglich „vergeblich liefe", das heißt, daß er ein Außenseiter bliebe, statt ein vollwertiges Glied der Familie Gottes zu werden. Paulus war sich der Bedeutung der Gemeindevorsteher in Jerusalem voll bewußt, und er wünschte aufrichtig, volle Gemeinschaft mit ihnen zu haben. Doch zugleich gab er ihnen mit aller Deutlichkeit zu verstehen, daß er nicht bereit sei, sie als diejenigen zu betrachten, die letztlich über die Botschaft und die Sendung der Kirche urteilen und entscheiden. Sie wurden „als Säulen" (Gal 2,9) angesehen, und Paulus leugnete das nicht. Aber er sagte auch: Sie hatten „das Ansehen - was sie früher gewesen sind, daran liegt mir nichts" (Gal 2,6), d.h. sie waren nicht bestimmter Positionen oder Titel wegen bedeu13

tend, sondern sie waren bedeutend, weil sie wahre Zeugen des Herrn waren. Paulus kam in der Überzeugung nach Jerusalem, daß der Gläubige, weil er durch den Glauben gerechtfertigt ist, vom Gesetz befreit sei. Als Theologe hatte er die Konsequenzen der Freiheit durch das Evangelium wohl durchdacht. Die Gemeindevorsteher in Jerusalem hatten wahrscheinlich keine so weitreichenden Schlußfolgerungen gezogen, um ihre ohnehin schwierigen Beziehungen zu den jüdischen Autoritäten nicht zu gefährden. Trotzdem baten sie Paulus nicht, sein Vorgehen zu ändern, sondern forderten ihn nur auf, sich an der Kollekte für die Armen in Jerusalem zu beteiligen. Paulus tat dies gern, und alle Beteiligten bekräftigten ihre Gemeinschaft untereinander. Das so erreichte Einverständnis wurde nicht dadurch entwertet, daß Petrus später dieses Übereinkommen durch sein „inkonsequentes" oder „unaufrichtiges" Verhalten in Antiochien brach. Paulus maß weiterhin der Kollekte für Jerusalem große Bedeutung zu als Zeichen dafür, daß er seinen Auftrag als Teil des umfassenden Auftrags der Kirche verstand, die in Jerusalem ihren Ursprung hatte. Somit bewiesen Theologen und Autoritäten der Kirche, daß ihre Beziehungen zueinander darin bestehen konnten, die spezifische Berufung des anderen anzuerkennen, und daß sie nicht durch einen Konflikt um Vorrang und Macht gefährdet zu werden brauchten. Wir müssen nun den Platz der Lehrer in der jungen Kirche betrachten. Sie traten schon in einem sehr frühen Stadium auf. In Antiochia, das sich zum fruchtbarsten Zentrum missionarischer Tätigkeit entwik14

kelte, wurde die Gemeinde von Propheten und Lehrern geleitet.2 Diese Lehrer bildeten mit den Aposteln zusammen das Rückgrat des Gemeindelebens und der Gemeindeordnung zurZeit des Paulus. Sie waren „Charismatiker", d.h. sie waren keine gewählten Amtsträger, sondern Männer, die eine besondere Gnadengabe empfangen hatten, die von der christlichen Gemeinde anerkannt wurde. Sie wurden von der Gemeinde unterhalten, gemäß dem Grundsatz: „Wer aber unterrichtet wird im Wort, der gebe dem, der ihn unterrichtet, Anteil an allem Guten."3 Lehrer zu sein war also eine hauptamtliche Berufung. Im ersten Korintherbrief zählt Paulus verschiedene charismatische Berufungen auf: „Gott hat in der Gemeinde eingesetzt erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer" (1 Kor 12,28). Im Römerbrief stehen die Gaben der prophetischen Rede, des Dienens und des Lehrens an der Spitze der Liste.4 Im Epheserbrief ist die Reihenfolge: Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer.5 Die Lehrer waren hoch angesehen, denn sie hatten Teil an der Vollmacht des ursprünglichen Lehrers, des Rabbi und didaskalos, „denn er lehrte mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten" (Mt 7,29). Darum konnte niemand Lehrer werden, es sei denn daß Gott ihn zu dieser Aufgabe berufen hatte. Im Jakobusbrief wird die Warnung ausgesprochen: „Nicht jeder von euch soll ein Lehrer werden; und wißt, daß wir ein desto strengeres Urteil empfangen werden" (Jak 3,1). Was die Funktion des Lehrers betrifft, so finden wir im Neuen Testament keine ausdrückliche Definition dieser Aufgabe, doch wir haben genügend Beispiele, die Licht 15

auf diese Frage werfen. Das Matthäusevangelium, das sich vorrangig mit der Lehraufgabe der Kirche befaßt, bietet ein ausgezeichnetes Beispiel für das Lehren, das sich an eine große Zuhörerschaft richtet. Die drei Hauptbereiche des Lehrens werden so beschrieben: erstens, die Schrift so auszulegen, daß das Kommen Jesu als ihre Erfüllung verstanden wird; zweitens, den Glauben systematisch zu entfalten; und drittens, diesen Glauben auf die Probleme des täglichen Lebens anzuwenden. Paulus selbst war der erste Lehrer6, und andere Lehrer versuchten, seinem Beispiel zu folgen. Später waren es nur noch wenige, wie zum Beispiel der Verfasser des Hebräerbriefes nach Luther könnte es der gebildete Alexandrier Apollos gewesen sein - , die in der Lage waren, ihren Hörern eine so tiefe und ursprüngliche Einsicht in die Bedeutung des Glaubens zu vermitteln, wie es Paulus vermocht hatte. Viele boten nur „Milch" statt „fester Speise" (1 Kor 3,2). In den Jahren der Missionstätigkeit des Paulus hielt man die Lehrer verantwortlich für die Weitergabe der „didache", d.h. den Inhalt und die Bedeutung des Glaubens. Was wir über andere Gemeindevorsteher der damaligen Zeit erfahren, wie Diakone, Älteste und Aufseher (episkopoi), scheint darauf hinzudeuten, daß sie andere Aufgaben zu erfüllen hatten. Darum ist es erstaunlich, daß es in den Pastoralbriefen, die von den meisten Neutestamentlern als Schriften der Schüler des Paulus angesehen werden, heißt, daß das Lehren die Verantwortung der Aufseher und Ältesten sei. Der Aufseher oder episkopos, der zur Zeit des Paulus eine administrative Funktion 16

gehabt zu haben scheint, wird dort als ein Mann beschrieben, der geschickt sein muß im Lehren7 oder als jemand, der fähig ist, in der rechten Lehre zu unterweisen (didaskalia).8 Damit wird die Bedeutung des hauptamtlichen Lehrers eindeutig verringert, weil er nicht mehr der alleinige mit dem Amt des Lehrens beauftragte Gemeindevorsteher ist.

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3. Lehrer nehmen ab - Bischöfe nehmen zu Die Bedeutung des hauptamtlichen Lehrers nahm in dem darauffolgenden Zeitabschnitt, etwa von den letzten zehn Jahren des ersten Jahrhunderts bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts, weiter ab. Der erste Brief des Clemens von Rom an die Christen in Korinth befaßt sich mit den Beziehungen zwischen Gemeindevorstehern und anderen Gliedern der Gemeinde. Obwohl Paulus den Korinthern gegenüber die Rolle der Lehrer nachdrücklich betont hatte, spricht Clemens nur von Ältesten und Aufsehern, „episkopoi", die tatsächlich Bischöfe waren, wenn auch noch keine monarchischen Bischöfe. Eine Teilerklärung dafür findet sich in der „Didache", der Apostellehre, eine christliche Kirchenordnung, die vom Ende des ersten oder Anfang des zweiten Jahrhunderts stammt. In den Ortskirchen, für die diese Kirchenordnung geschrieben war, spielten die Lehrer immer noch eine große Rolle, sie scheinen in ihrem Amt von einer Gemeinde zur anderen gewandert zu sein. Die Gemeinden wurden dringend ermahnt, den Lehrer, der zu ihnen kommt und „Gerechtigkeit und Erkenntnis des Herrn mehrt", aufzunehmen „wie den Herrn". 9 Sie wurden jedoch ebenso ermahnt, Bischöfe und Diakone zu wählen, weil sie „ebenfalls den Dienst von Propheten und Lehrern" leisten und „ehrenvoll Ausgezeichnete unter euch samt den Propheten und Lehrern" sind.10 Hier wird ausdrücklich erklärt, daß die Aufgabe, die bislang die Lehrer erfüllt hatten, auch Inhabern anderer Ämter übertragen 18

werden sollte. Ein wichtiger Grund für diese Entwicklung mag auch die Tatsache gewesen sein, daß das Abendmahl zu dieser Zeit jeden Sonntag gefeiert wurde und nicht allein von Lehrern vorbereitet und ausgeteilt werden konnte, sondern die Ernennung eines Amtsträgers am Ort nötig machte. Schlllebeeckx bemerkt zu dieser Frage folgendes: „Die Episkopen und ihre Helfer stehen hier also im Dienst der Propheten (und Lehrer), welche dieser Liturgie (weiterhin) vorstehen; diese Neulinge nehmen teil an der liturgischen Leitung oder am Dienst dieser Propheten und Lehrer".11 Aus anderen Schriften des zweiten Jahrhunderts geht hervor, daß der Lehrer als Amtsträger praktisch verschwunden und der Bischof (zunächst mehrere Bischöfe an jedem Ort, dann ein Ortsbischof) an seine Stelle getreten war. In einem Brief über das Martyrium Polykarps, des Bischofs von Smyrna, wird dieser „ein apostolischer und prophetischer Lehrer und Bischof"12 und später „ein vortrefflicher Lehrer"13 genannt. Die theologische Grundlage für diese Konzentration auf das Amt des Bischofs gibt Ignatius von Antiochien. Er schreibt, daß die Gläubigen den Bischof als den Herrn selbst ansehen sollten14, und fährt fort: „wobei der Bischof an Gottes Stelle... den Vorsitz" führt.15 Er ermahnt die Smyrner, nichts ohne die Billigung des Bischofs zu tun16, und die Phlladelphier, Spaltung und schlimme Lehren (kakodidaskalla) zu meiden, indem sie dem Bischof gehorsam bleiben und Ihrem Hirten wie Schafe folgen.17 Später, Im zweiten Jahrhundert, entwickelte Irenäus folgenden Begriff von der Kirche: „Die Bischöfe, 19

die ecclesia docens, sind ausdrücklich Wächter über die christliche Lehre".18 Nach Irenaus übergaben die Apostel ihren Nachfolgern, d.h. den Bischöfen, „ihren Lehrstuhl"19, womit sie den Bischöfen die Vollmacht zu lehren übertrugen. Wenn auch der Begriff nicht gebraucht wurde, so sollten sie doch die Inhaber des magisteriums sein. Zwischen Paulus und den Gemeindevorstehern des zweiten Jahrhunderts liegt ein weiter Weg. Anfangs waren die Lehrer als Gemeindevorsteher betrachtet worden. In der neuen Situation wurden die Gemeindevorsteher als die Hauptlehrer angesehen. Der episkopos, der in der frühen Zeit nur eine geringe Rolle spielte, nahm dann den zentralen Platz auf der Bühne ein, und der Lehrer, der anfangs einer der charismatischen Gemeindevorsteher war, wurde nicht mehr unter denen erwähnt, die Verantwortung für das geistliche Wohl der Kirche tragen. Wir haben nicht genug Unterlagen, um hinreichend erklären zu können, warum es zu dieser tiefgreifenden Veränderung gekommen war, doch wir können die naheliegenden Gründe dafür angeben. Ein Grund war offensichtlich der, daß die Ortsgemeinde einen Leiter brauchte, der regelmäßig ihren Gottesdiensten, vor allem der Feier des heiligen Abendmahls vorstehen konnte. Die charismatischen Lehrer waren zumeist Wanderprediger und konnten darum diese besondere Funktion nicht ausüben, wenn auch in manchen Fällen der Lehrer sich am Orte niederließ und zu einem episkopos wurde. 20 Zweitens brauchte die Kirche, wie Lietzmann in seiner „Geschichte der alten Kirche" anmerkt, eine starke vereinte Leitung in 20

ihrem Kampf gegen Gnosis und Heidentum.21 Ein dritter Grund war die zunehmende Institutionalisierung der Kirche. Die ursprüngliche Kirchenordnung, die auf einer Symphonie unterschiedlicher charismatischer Gaben begründet war, war durch eine zentralisierte und rationelle Organisationsform ersetzt worden, die von den Bischöfen beherrscht wurde. Nach Harnack war dies der entscheidende Faktor beim Niedergang des Lehramtes. Die Bischöfe konnten keine Form des Amtes dulden, die nicht dem Bischofsamt untergeordnet war.22

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4. Lehrer in Karthago und Alexandria Im dritten Jahrhundert setzte sich die Entwicklung in gleichem Sinne fort: Die alte Kirchenordnung, die auf einer Vielfalt von geistlichen Gaben begründet war, wurde durch eine einheitlichere Ordnung ersetzt, deren Grundlage das Bischofsamt war. Von der Rolle der Lehrer war kaum mehr die Rede. Doch es gibt einige bemerkenswerte Ausnahmen von dieser Regel. Es scheint, daß gerade als die Ära der weitgehend unabhängigen Lehrer zu Ende ging, der entscheidende Beitrag, den diese Lehrer zum Leben der Kirche leisten konnten, noch einmal deutlich wurde. Ein Lehrer, der seiner besonderen Berufung folgte, obwohl Ihn dies In Konflikt mit der offiziellen Leitung der Kirche brachte, war Tertullian, ein Rechtsanwalt in Karthago, der Presbyter wurde und viele Bücher schrieb. Sein großes Anliegen war die Reinheit der Kirche; darum fühlte er sich von der montanistischen Sekte mit ihrer strengen moralischen Disziplin angezogen. Aufgrund seiner außergewöhnlichen intellektuellen und geistlichen Gaben übt er bis heute erheblichen Einfluß auf die Kirche aus und wird weithin als einer Ihrer größten Lehrer anerkannt. Hieronymus berichtet, daß Cyprian jeden Tag einen Abschnitt aus Tertullians Schriften las und wenn der Augenblick dafür gekommen war, zu seinem Diener sagte: „Da magistrum" - Bring mir meinen Meister. Die bekanntesten Beispiele von Männern in dieser Zeit, deren Leben ganz dem Lehren gewidmet war, waren Clemens von Alexandria und Origenes von der 22

„Katechetenschule" in Alexandria. Es Ist nicht leicht, das Wesen dieser Schule genau zu beschreiben. Sie scheint eine erfolgreiche Mischung dessen gewesen zu sein, was wir heute Konfirmandenunterricht, Bibelschule, Sonntagsschule für alle Altersstufen, theologische Hochschule und Zentrum für Apologetik nennen würden - alles zusammengehalten durch den Genius von Clemens und Origenes. Wie Harnack immer wieder im Zusammenhang mit Origenes betont, war dies die Zeit, in der die Theologie zur Wissenschaft wurde. Das ganze intellektuelle Erbe Griechenlands wurde zur Klärung des christlichen Glaubens herangezogen. Die Grundlage jedoch war die Bibel, so daß die biblische Exegese der Mittelpunkt des Bildungsprozesses war. Das Christentum wurde nicht mehr als der Feind der Philosophie dargestellt, wie es bei Tertullian der Fall war. Es wurde als die wahre Gnosis anerkannt, In der die Bestrebungen der griechischen Kultur ihre Erfüllung fanden. Die christliche Lehre war nicht nur „frohe Botschaft" für einfache Menschen, sondern auch für Denker. Es Ist nicht erstaunlich, daß diese kühne, von einem hochbegabten jungen Mann vorgebrachte Lehre die Intelligenzija von Alexandria faszinierte. Es war jedoch gerade dieser Erfolg, der zu Schwierigkeiten führte. Der Bischof von Alexandria verurteilte Origenes mit der Begründung, daß er gegen die Regeln der Kirche verstoßen habe. Es gibt auch einige Beweise dafür, daß es in bestimmten theologischen Punkten Meinungsverschiedenhelten zwischen Origenes und dem Bischof gegeben hat. Doch sowohl Hieronymus als auch Eusebius glaubten, daß der Bischof „die Groß23

artigkeit der Redegewandtheit und des Wissens (von Orígenes) nicht habe ertragen können."23 Die Geschichte des Orígenes wirft ein bezeichnendes Licht auf die Ambivalenz der Stellung der Lehrer. Hier war einer der größten Theologen aller Zeiten, der von vielen Bischöfen bei theologischen Auseinandersetzungen in ihren Diözesen um Rat gefragt wurde. Wie er sich dieser schwierigen Aufgabe entledigte, ist ersichtlich aus dem Bericht seines „Dialogs mit Heraklides", einem Bischof, dessen Rechtgläubigkeit in Frage gestellt worden war. Henry Chadwick bemerkt dazu: „Die Bischöfe trauten vielleicht ihrer eigenen Macht nicht zu, mit solchen fortschrittlichen theologischen Fragen fertig zu werden."24 Orígenes mußte darauf bedacht sein, nicht wieder in Konflikt mit der Hierarchie zu geraten. Darum schrieb er: „Mit der Erlaubnis Gottes, zweitens der Bischöfe und drittens der Ältesten und auch des Volkes will ich noch einmal sagen, was ich über diese Sache denke."25 Die Schlüsselworte in dieser Erklärung sind die über die Erlaubnis der Bischöfe. Man erwartete von Orígenes, daß er dankbar dafür sei, auf einer Versammlung sprechen zu dürfen, auf der Bischöfe anwesend waren. Bei früherer Gelegenheit hatte Bischof Demetrius ausdrücklich betont, daß Lehrer in Anwesenheit von Bischöfen nicht das Wort zu ergreifen hätten.26 Die Bischöfe von Jerusalem und Cäsarea hatten ihm aber nicht zugestimmt und eine Reihe von Fällen angeführt, in denen Lehrer gesprochen hatten, wenn Bischöfe anwesend waren. Sie vertraten jedoch die Vergangenheit, während der streng hierarchische Standpunkt zur allgemeinen Regel wurde.27 Darum 24

war Origenes der letzte unter den unabhängigen Lehrern und zugleich der Begründer der Theologie als Wissenschaft.

25

5. Bischöfliche Lehrer Lietzmann sagt, die Ostkirche habe Origenes zwei Jahrhunderte lang leidenschaftlich geliebt und verehrt, um ihn dann im nächsten Jahrhundert zu verketzern.28 Die Männer, die Origenes folgten, waren jedoch keine unabhängigen Lehrer oder Schulgelehrte; und damit beginnt ein langer Zeitabschnitt in der Kirchengeschichte, in dem die Theologie in den Händen der Bischöfe lag. Nach Congar waren etwa vom ersten Jahrhundert an die Theologen in der Regel Bischöfe, und prominente Bischöfe waren Theologen. Die drei großen Theologen, die als die „ökumenischen Lehrer" bekannt sind, Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa und Basilius der Große, waren alle Bischöfe, auch Johannes Chrysostomus und Athanasius. Es ist eine interessante und eindrückliche Feststellung, daß mehrere dieser Hierarchen ganz klar zu verstehen gaben, daß sie Origenes viel schuldeten, obwohl er „nur" ein Lehrer gewesen war und darüber hinaus einige seiner theologischen Meinungen heftig kritisiert worden waren. Basilius der Große und Gregor von Nazianz stellten eine Anthologie der Schriften des Origenes zusammen, und Johannes Chrysostomus wurde von einem örtlichen Konzil verurteilt, weil er die Rechtgläubigkeit des Origenes verteidigt hatte. Spätestens bis 543, als Origenes schließlich zum Ketzer erklärt wurde, hatten seine Gedanken auf vielen Kanälen Eingang in das Leben der Kirche gefunden. 26

Zu dieser Zeit war die Lehrautorität im strengsten Sinne des Wortes bischöflich geworden. Die großen ökumenischen Konzile waren Bischofssynoden, und es ist nicht die Rede davon, daß Theologen, die nicht zur Hierarchie gehörten, voll und ganz an diesen Beratungen teilgenommen hätten, wie später beim Konzil von Konstanz. Es gibt auch keinen Beweis dafür, daß „periti" oder Theologen als Experten die Dekrete, die erlassen wurden, verfaßt hätten, wie es später auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil der Fall war. Andererseits war der Theologe, den man den letzten der Kirchenväter genannt hat, Johannes von Damaskus, kein Bischof, sondern ein Mönch. Nach der Zeit Tertullians verband die herausragenden Lehrer im Westen - Cyprian, Ambrosius und Augustin - mit Orígenes die starke Bindung an die Bibel, das Bemühen um die richtige Auslegung des christlichen Glaubens für die kulturelle Umwelt und schließlich das Verständnis der Theologie als einer schöpferischen Wissenschaft. Augustin jedoch folgte sehr viel mehr als Orígenes dem Vorbild des Paulus, und die Qualität ebenso wie die Quantität seiner Schriften sind dazu angetan, die Kirchen des Westens noch lange zum Nachdenken anzuregen. Die Zeit der großen bischöflichen Lehrer hielt jedoch nicht an. Nach der Periode der Kirchenväter, die man als „fette Jahre" für die Theologie bezeichnen kann, folgten die „mageren Jahre", die bis zum zwölften Jahrhundert dauerten. In dem Maße, in dem die Kirche mächtiger wurde, waren die Bischöfe mehr auf die Verwaltung, das kanonische Recht und ihren Einfluß in der Gesellschaft bedacht als auf das 27

Lehren der Theologie. Karl der Große versuchte, hinsichtlich des Lehrens Druck auf sie auszuüben, indem er sie daran erinnerte, daß sie es übernommen hatten, an geeigneten Orten Schulen für die Erziehung der Kinder und die Ausbildung der Priester der Kirche zu gründen - eine Aufgabe, die nicht vernachlässigt werden dürfe. Dieser kaiserliche Rat stieß nur auf geringe Reaktion seitens der Bischöfe; doch glücklicherweise zeigten sich die Mönchsorden bereit, diesem großen Bedürfnis nachzukommen. Und in der Tat waren bis zur Gründung der Universitäten die meisten der prominenten theologischen Lehrer im frühen Mittelalter monastischer Herkunft: Lehrer wie Johannes Scotus Erigena in Malmesbury, Hrabanus Maurus in Fulda und Anselm in Bec. So besaß die Kirche lange Zeit keinen Stand von Männern, die ausdrücklich für das hauptamtliche Studium und Lehren der Theologie ausgesondert waren, Männer, die die Freiheit hatten, dies zu tun, ohne deshalb andere Verantwortungen vernachlässigen zu müssen. Damit stellt sich die Frage, ob die Kirche wirklich einen solchen Stamm von magistri braucht. Wenn sie so lange ohne sie überlebt hatte, dann muß man sich fragen, ob sie überhaupt für das Wohl der Kirche nötig waren. Meines Erachtens gibt die Kirchengeschichte eine Antwort darauf. Die Kirche überlebte diesen Zeitabschnitt ohne Lehrer, erfüllte aber in dieser Periode, ihre spezifisch theologischen Aufgaben weithin nicht oder nur unangemessen. Yves Congar schrieb: „Wenn Theologen gebraucht werden, so nicht, um die Existenz der Kirche sicherzustellen, sondern um 28

die rechte Erfüllung ihrer Sendung zu gewährleisten."29 Lange Zeit machte die Kirche keine Fortschritte im Studium der Heiligen Schrift und half ihren Gliedern nicht, sie besser zu verstehen. Darüber hinaus half sie dem ganzen Volke Gottes nicht, Ungläubigen gegenüber klar Rechenschaft über ihren Glauben abzulegen. Auch machte die Kirche sich keine Gedanken darüber, wie dieser Glaube Menschen, die nicht römisch-griechischer Kultur waren, nahegebracht werden konnte. Und sie dachte nicht hinreichend über die ständige Notwendigkeit einer Reform oder Erneuerung der Kirche im Blick auf ihren Ursprung nach. Es ist offensichtlich, daß diese Aufgaben nur erfüllt werden konnten, wenn sich ihnen Männer von hohem geistigen Rang besonders zuwandten. In den meisten Fällen waren die Bischöfe aufgrund ihrer anderen Aufgaben überhaupt nicht in der Lage, dies zu tun. Einige wenige, ganz außergewöhnliche Männer, wie Augustin mit seiner unerschöpflichen geistlichen und intellektuellen Kraft, konnten Bischof, theologische Lehrer und Schriftsteller zugleich sein. Die meisten Bischöfe jedoch waren dazu nicht in der Lage. Das ist keine Kritik an den Bischöfen im allgemeinen. Wohl wurden viele von ihnen weltlich und waren in keinem Sinne Lehrer ihrer Herde, doch viele andere verdienen Dank dafür, daß sie versucht haben, das Unmögliche zu tun. Man muß sich fragen, ob es nötig war, den Bischöfen eine so ausschließliche Verantwortung für die Weitergabe und Auslegung des Glaubens zu geben, daß die Lehrer zweitrangig wurden. Es wäre vielleicht 29

besser gewesen, wenn sich die Kirche an den paulinischen Grundsatz gehalten hätte, daß die Leitung der Kirche gemeinsam von Bischöfen und Lehrern verantwortet wird und sie in gemeinsamer Aufgabe miteinander verbindet. Es gibt jedoch eine ernste Kritik an der Hierarchie, die wir nicht übergehen dürfen, nämlich die Tatsache, daß die Hierarchie nicht genügend Glauben an die Kraft der Botschaft besaß, die sie zu vermitteln hatte, um dem Grundsatz treu zu bleiben, daß niemand zum Glauben gezwungen werden solle. Als im fünfzehnten Jahrhundert in Südfrankreich häretische Bewegungen aufkamen, übte das Papsttum Druck auf die weltlichen Autoritäten aus, damit sie Gewalt anwandten, um diese Bewegungen zu unterdrücken. Bald darauf wurde die Inquisition eingerichtet; nach den Worten der „Erklärung über die Religionsfreiheit" des Zweiten Vatikanischen Konzils hat sie zu „einer Weise des Handelns geführt, die dem Geist des Evangeliums wenig entsprechend, ja sogar entgegengesetzt war" (Nr. 12). Unglücklicherweise beruhte diese „Weise des Handelns" auf der offiziellen Lehre der kirchlichen Autoritäten dieser Zeit. Der Kirchenhistoriker Karl von Hase äußert sich dazu ganz unumwunden: „Die berechtigte Macht der Kirche, ihr Hirtenamt, wurde zum bösartigen Despotismus, zum Mord im Namen Christi."30 Indem es die Lehre formulierte und vertrat, daß es die Pflicht der Kirche sei, Häretiker zum Tode zu verurteilen, wurde das magisterium selbst häretisch.

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6. Ein magisterium der magistri? 1956 warnte Pius XII, die Theologen davor, sich irrtümlich als „magistri magisterii", d.h. als Meister der Lehrautorität zu verstehen.31 Es gab jedoch viele Theologen im Spätmittelalter, die ihm nicht zugestimmt hätten. Congar beschreibt diese Periode als „den Anfang dessen, was man ein magisterium der Lehrer der Kirche nennen könnte."32 Die magistri wurden mit derZeit zu einer Autorität und beanspruchten als ihre besondere Aufgabe, über den wahren Glauben zu entscheiden. Das war auf ein starkes Anwachsen der Nachfrage nach höherer Bildung zurückzuführen, das die Domschulen nicht mehr befriedigen konnten. Darum wurden von etwa 1200 an Universitäten gegründet. Paris wurde zum berühmtesten theologischen Zentrum und verdankte seinen Ruf als „zweite Hauptstadt der Christenheit" der Arbeit seiner theologischen Fakultät. Die Universitätstheologen entwickelten ein starkes berufliches Selbstbewußtsein. Da sie die gleiche Sprache und Methode sowie die gleichen maßgeblichen Texte benutzten, bildeten sie eine starke internationale Bruderschaft, die sich zutiefst ihres Status als Deuterin der „Königin der Wissenschaften" bewußt war. Die offizielle Theorie der damaligen Zeit besagte, daß die theologischen Lehrer ihre Vollmacht zum Lehren vom Papst erhielten. Der Kanzler der Universität gewährte die „licentia legendi, regendi, disputandi, docendi in sacra theologiae facúltate" mit einer Formel, die mit den Worten begann: „Auctoritate apostólica", d.h. daß die Vollmacht zum Lehren vom Papst 31

abgeleitet war. Die Stellung der Theologen im Leben der mittelalterlichen Gesellschaft wurde jedoch so bedeutend, daß sie oft so redeten und handelten, als verträten sie eine unabhängige Quelle der Autorität. Papst Bonifatius VIII. mußte ihnen ins Gedächtnis rufen: „Aber uns ist die Welt anvertraut worden, nicht euch."33 Thomas von Aquin gab eine vorsichtige Antwort auf diese Frage. Er unterschied zwischen zwei Arten von magisterium: dem magisterium cathedrae pastoralis und dem magisterium cathedrae magistralis. Das erste war das magisterium der Hierarchie, die die Jurisdiktion innehatte, und das zweite das magisterium der Theologen, die scientia oder Wissen besaßen. Die Tatsache, daß sowohl der erste als auch der zweite dieser Begriffe als magisterium beschrieben werden kann und daß beide durch das Wort cathedra, d.h. „Sitz der Autorität", gekennzeichnet werden, zeigt, welche hohe Bedeutung Thomas von Aquin der Aufgabe der Theologen beimaß. Es könnte sein, daß seine Weigerung, den Ruf als Erzbischof anzunehmen, in diesem Lichte zu sehen ist. Er scheint seinen Dienst an der Kirche als Theologe für dringlicher gehalten zu haben als den Dienst, den er als ein Mitglied der Hierarchie hätte leisten können. Als er heilig gesprochen und zum „doctor angelicus" der Kirche wurde, malte man ihn von einer hohen „cathedra" predigend, mit dem Papst und dem Kaiser als aufmerksamen Zuhörern. Der Maler glaubte offensichtlich, daß das Lehren die wichtigste Funktion des Thomas von Aquin war. 32

Als die Stellung der Universitäten sich festigte und vor allem während der langen Zeit, in der das Papsttum durch das „babylonische Exil" und das Schisma erheblich geschwächt war, wurden die theologischen Fakultäten zunehmend zu Zentren der Autorität. Sie bildeten die neue Generation von führenden Kirchenmännern heran und dienten nicht nur der Hierarchie, sondern auch den Regierungen als Ratgeber. In den äußerst schwierigen Bemühungen, einen Ausweg aus der chaotischen Situation des Papsttums zu finden, spielten die Universitäten eine führende Rolle. Es war unvermeidlich, daß dies zu Spannungen zwischen den theologischen Fakultäten und dem Papsttum führte, manchmal in der Gestalt von zwei Päpsten. M.D. Chenu hat die Stellung der magistri in der damaligen Zeit mit folgenden Worten beschrieben: „Sie sind offiziell berechtigt, von Glauben und Lehre zu sprechen; sie .entscheiden', nachdem sie das Problem diskutiert haben, und ihre Lösung wird autorisiert. Sie sind keine Autorität im ausschlaggebenden Sinne des kirchlichen magisteriums; denn das entspricht weder ihrer historischen Situation noch dem Wesen ihrer Arbeit; sie haben jedoch theologischen Rang (Neu). Die theologische Schule (scola) existiert innerhalb der Kirche unter dem Vater im Glauben."34 Diese Unterscheidungen sind so subtil, daß man scholastischer Theologe sein muß, um sie voll und ganz zu verstehen. Darum ist es nicht erstaunlich, daß es eine endlose Auseinandersetzung darüber gab, wie weit die Theologen gehen dürften. Es gab 33

einige recht radikale Standpunkte. Godefroi de Fontanes zum Beispiel vertrat die Ansicht, daß die magistri das Recht hätten, die Entscheidungen der Bischöfe nicht zu akzeptieren und eine maßgebliche Meinung in Angelegenheiten zu äußern, die in die Kompetenz des Papstes fielen. Wilhelm von Occam, der beträchtlichen, anhaltenden internationalen Einfluß hatte, meinte, daß die Päpste seiner Zeit, da sie „nur" Kanonisten seien, die Theologie nicht verstünden und daß es in Fragen des Glaubens besser sei, den Theologen zu folgen, die wirkliche „scientia" besäßen.35 Jean Gerson, der berühmte französische Theologe und Mystiker, glaubte fest an die Hierarchie als gottgegebene Struktur der Kirche; doch als Kanzler der Universität von Paris war er ein prominenter Wortführer der magistri und versuchte, die Loyalität gegenüber der hierarchischen Tradition mit der theologischen Freiheit zu verbinden. Das ist aus der prophetischen Predigt zu ersehen, die er 1404 vor Papst Benedikt XIII. inTarascon hielt. Er erinnerte den Papst an den Konflikt zwischen Petrus und Paulus im 2. Kapitel des Galaterbriefes; er wies darauf hin, daß Paulus Petrus aufforderte, Rechenschaft über sein Verhalten abzulegen, weil dieser in einer Glaubensfrage geirrt hatte. Gerson äußerte darüber hinaus die Vermutung, daß Paulus im Falle einer Weigerung des Petrus das Recht gehabt hätte, an ein allgemeines Konzil der Kirche zu appellieren, das Vollmacht über Petrus gehabt hätte.36 Auf diese Weise versuchte Gerson, Benedikt zum Rücktritt zu zwingen und den Weg für ein Konzil freizugeben, um die Einheit wiederherzu34

stellen und die Kirche „in caplte et membris" zu reformieren. Es verdient besondere Beachtung, daß Gerson seine Deutung der Beziehung zwischen Petrus und Paulus weiterführte, indem er erklärte, daß es sowohl eine paulinlsche als auch eine petrinische Sukzession gäbe. Auf der Basis des zweiten Kapitels des Galaterbriefes vertrat er die Auffasssung, daß „der höchste Pontifex", der Petrus im Apostelamt nachgefolgt war, getadelt werden könne, „selbst wenn der Pontifex nicht häretisch geworden wäre und nicht im Glauben geirrt hätte".37 Die Kurzformel für diese beiden Formen der Sukzession lautet: „Petrus praeest principatu, Paulus pollet magistratu totius Ecclesiae." Gerson wollte nicht das offizielle hierarchische System angreifen und sah offensichtlich nicht, daß der Gedanke einer paulinischen Sukzession parallel zur petrinischen dazu benutzt werden könnte, dieses System zu untergraben. Er hat nicht vorausgesehen, daß im darauffolgenden Jahrhundert Theologen auf den Plan treten würden, die im Namen des Paulus radikale Fragen im Blick auf die Struktur der Kirche stellen. Als schließlich die Konzilien zusammentraten, spielten natürlich die magistri eine entscheidende Rolle bei den Beratungen. In Konstanz 1414 waren dreihundert Lehrer anwesend. Es ist bemerkenswert, daß ein prominentes Mitglied der Hierarchie, Kardinal d'Ailli, es war, der vorschlug, den Lehrern der Theologie Stimmrecht zu erteilen. D'Ailli war ebenso wie Gerson ehemaliger Kanzler der Universität von Paris, und diese Universität hatte beschlossen, das Recht 35

zur Teilnahme an den Abstimmungen zu fordern. Seine Argumente müssen die Bischöfe erheblich beunruhigt haben. Er sagte: „Die Lehrer wurden von den Aposteln mit Bischöfen und Presbytern auf gleiche Ebene gestellt. Da ein unwissender Bischof oder Herrscher nur ein Esel mit Mitra oder Krone ist, müssen die Lehrer bei ihnen sitzen, um ihre Unwissenheit auszugleichen."38 Dieser Vorschlag wurde in veränderter Form angenommen. Die Abstimmung erfolgte nach Nationen, und die magistri konnten in ihrer nationalen Delegation mit abstimmen. Offensichtlich spielten die Theologen eine besonders wichtige Rolle dadurch, daß sie die Teilnehmer dazu zu bewegen suchten, eindringlich den Grundsatz zu vertreten, daß der Papst einem Konzil der ganzen Kirche untergeordnet sei. Auf dem nächsten Konzil, das 1431 in Basel stattfand, waren die Lehrer der Theologie erneut stark vertreten. Das Konzil bildete vier „Deputationen" oder Sektionen, um die verschiedenen Themen der Tagesordnung zu behandeln, und in jeder dieser Sektionen spielten Theologen eine herausragende Rolle. In der Anfangsphase des Konzils wurden gute Fortschritte erzielt, doch das Papsttum war wieder hinreichend erstarkt, um denen widerstehen zu können, die für eine konziliare Verfahrensweise eintraten. Im Jahre 1439 kamen zu einer Sitzung 300 theologische Lehrer mit dreizehn Priestern und sieben Bischöfen zusammen. Die großen Tage des Konziliarismus waren vorüber, doch die Lehrer der Theologie hatten ihren Einfluß noch nicht verloren. Es ist eine erstaunliche Feststellung, daß im 16. und 17. Jahrhun36

dert die Universitäten immer noch als Zentren der Autorität in Grundsatzfragen um Rat ersucht wurden. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Beratung der Universitäten über die Ehescheidung Heinrichs VIII. Als es dem König nicht gelungen war, seine Ehe mit Katharina von Aragonien vom Papst ungültig erklären zu lassen, schlug Dr. Thomas Cranmer, ein Theologe aus Cambridge, vor, die Universitäten zu befragen, da so die Frage am schnellsten entschieden werden könne. Er sagte: „Es gibt darin nur eine Wahrheit, die kein anderer untersuchen sollte oder besser untersuchen könnte als die Theologen."39 Die Mehrheit der Universitäten entschied zu Heinrichs Gunsten. Ein Echo dieser internationalen Debatte ist in Shakespeares Heinrich VIII. zu finden, wo es von der Meinung Cranmers heißt: „Und die, samt allen Fakultäten fast der Christenheit, rechtfertigt den Monarchen hinsichtlich seiner Scheidung."40 Ein weiteres Beispiel für den Einfluß der Universitäten ist ihre Beratung über die Auseinandersetzung zwischen Martin Luther und Johann Eck. 1519, während des Streitgespräches zwischen den beiden Professoren, einigte man sich darauf, daß die Universitäten von Paris und Erfurt gebeten werden sollten, Schiedsrichter in dem Streit zu sein und den Sieger zu bestimmen. Luther, der von den Schriften von d'Ailli und Gerson sehr beeindruckt war, hatte gehofft, daß sein Standpunkt in Paris verstanden und gebilligt werden würde. Die Universität von Erfurt jedoch war nicht bereit, sich festzulegen; und die theo37

logischen Lehrer in Paris verurteilten die Position Luthers, nachdem sie die Angelegenheit eine geraume Zeit überdacht hatten, und zwar aufgrund seiner Schrift „De captivitate Babylonica". Die theologischen Fakultäten von Löwen und Köln verurteilten ebenfalls einige der Thesen Luthers. Es ist wichtig, sich die Frage zu stellen, ob die akademischen magistri, die drei Jahrhunderte lang einen wesentlichen Platz in der Kirche eingenommen hatten, nachhaltig positiv zu ihrem Leben beigetragen haben. Waren es wirklich „cathedra et thronu fidei", wie Gerson die Universität von Paris genannt hatte? Nach Ansicht der prominentesten Vertreter des 16. Jahrhunderts scheinen sie mehr Schaden als Gutes angerichtet zu haben. Erasmus und Luther waren in vielem unterschiedlicher Meinung, aber in diesem Punkt stimmten sie überein. In dem Kapitel über die Theologen in seiner Schrift „Lob der Torheit" scheint Erasmus in seinem Sarkasmus eher Unmut als Belustigung zu äußern: „Schließlich fühlen sie sich beinahe den Göttern gleich, wenn sie in fast religiöser Verehrung .Unser Herr' (Magister noster) gegrüßt werden, weil sie glauben, daß in diesem Namen noch etwas von dem enthalten ist, was für den Juden die vier Buchstaben der Anrede seines Gottes bedeuten." 41 Luther sagte: „Die schändliche Hoffart und Ehrgeizigkeit in der Theologie ist ein Zunder alles Übels und ein fressend Feuer, die Alles verzehret und wegnimmt." 42 Beide verurteilten die Haarspalterei der scholastischen Lehrer. „Daher kommt es, daß ich sie hasse, die kühnen Meinungen der Thomisten und Scotisten und der anderen hochbe38

rühmten Professoren", sagte Luther.43 Die magistri hatten erstaunlich wenig Sinn für das richtige Verhältnis gezeigt, denn sie widmeten viel Zeit und Energie der Erörterung von Problemen, die unwichtig oder sogar künstlich waren. Sie hatten ihre Aufgabe vernachlässigt, die Kirche zu ihrer ursprünglichen Quelle, der Heiligen Schrift, zurückzurufen, die in jedem Zeitalter neu gedeutet werden muß und in deren Licht die Kirche ihr eigenes Leben kritisch überprüfen muß, damit es geläutert und erneuert wird. In zweifacher Hinsicht jedoch hatten sie einen wichtigen und sehr notwendigen Dienst geleistet. Sie hatten sich in ihren Versuchen, das Schisma zu überwinden, für die Einheit der Kirche eingesetzt und den Grundsatz vertreten, daß die Kirche nicht ein Ort des Monologs, sondern des Dialogs sei. Das eigentliche Problem zur Zeit der beiden Konzilien im 15. Jahrhundert war nicht die Frage nach der besten Struktur der Kirche, wie die meisten Kanonisten glaubten, sondern die viel tiefer gehende Frage, ob die Macht in der Kirche eine verantwortliche Macht sei, das heißt, eine Macht, die ihre Entscheidung im Lichte der dem ganzen Volke Gottes geschenkten Offenbarung rechtfertigen könne. Diese lebenswichtige Frage wurde nicht gelöst und sollte die Kirche noch für lange Zeit beschäftigen. Ebensowenig wurde im Blick auf die Frage nach dem Platz der magistri im Leben der Kirche eine klare Entscheidung getroffen.

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7. Magistri als Reformatoren Als Wladimir Solowjew seine Vision von der Wiedervereinigung der drei Hauptzweige der Christenheit als dem eschatologischen Abschluß der Weltgeschichte entwickelte, hatte er ein Treffen von drei Männern in Jerusalem im Auge: ein Papst namens Petrus, ein „staretz" oder frommer Mönch namens Johannes und ein gewisser Professor Pauli. Die Wahl der ersten beiden Personen als Vertreter des römischen Katholizismus und der Orthodoxie war einleuchtend; doch man könnte sich fragen, ob es richtig war, die protestantischen Kirchen als Kirchen zu charakterisieren, die von akademischen Lehrern in der Tradition des Paulus beherrscht waren. Es ist zutreffend, daß fast alle führenden Männer der Bewegungen, die der Reformation den Weg bahnten, und der Reformation selbst Theologen mit Universitätsbildung und viele von ihnen Professoren der Theologie waren. Wyclif war „Master" des Balliol College, Oxford, und besaß den akademischen Grad eines „Doctor in Divinity". Einige Jahre lang gestattete ihm die Universität, seine radikalen Gedanken zu lehren, die das ganze hierarchische System in Frage stellten. Schließlich jedoch mußten ihn die Universitätsbehörden unter dem starken Druck des Papsttums und des Erzbischofs von Canterbury verurteilten; die Universität wurde unter strenge kirchliche Kontrolle gestellt. Andererseits wurde Wyclif unter den Lollarden, die begierig seine Übersetzung der Bibel lasen, immer noch als der „doctor evangelicus" verehrt. Johann Hus, der zeitweilig Rektor der Univer40

sität von Prag war, war als Magister Hus bekannt. Als das Konzil von Konstanz ihn zum Tode verurteilt hatte, unterzeichnete er einen seiner letzten Briefe mit den Worten: „Magister Johann Hus, in Ketten und im Kerker, schon am Ufer des jenseitigen Lebens stehend."44 Es muß ein schwerer Schock für ihn gewesen sein, als er erfuhr, daß zu den aggressivsten Wortführern der Partei, die seine Verurteilung forderte, auch einige seiner Kollegen gehörten, magistri und führende Leuchten der Sorbonne wie Pierre d'Ailli und Jean Gerson, von denen er zweifellos Verständnis und Sympathie erwartet hatte. Das Leben Luthers spielte sich von 1501, als er Student an der Universität Erfurt wurde, bis 1517, als er seine 95 Thesen veröffentlichte, in einem rein akademischen Rahmen ab. Er erwarb akademische Grade an der juristischen und theologischen Fakultät, begann 1509 zu lehren und erhielt 1512 den Grad eines Magister der Theologie. Zu dem Zeitpunkt war er auch schon Doktor der Heiligen Schrift und fing an, exegetische Vorlesungen über die Psalmen, den Römerbrief und den Galaterbrief zu halten. 1517, als er sich genötigt fühlte, gegen das Obel des Ablaßhandels zu protestieren, schlug er seine Thesen in Lateinisch an die Tür der Schloßkirche in Wittenberg mit der Absicht, dadurch eine akademische Debatte auszulösen. Darum nannte er sich selbst „ehrwürdiger Vater Dr. Martin Luther, der freien Künste und der Heiligen Schrift Magister, auch deren ordentlicher Lehrer" (Einleitung zu den 95 Thesen). Es erfolgte keine unmittelbare Reaktion seitens der Universitäten, 41

doch die Thesen wurden übersetzt und in weiten, auch nicht akademischen, Kreisen bekannt. Trotzdem war das Streitgespräch zwischen Luther und Johann Eck 1519 in Leipzig wiederum eine rein akademische Angelegenheit und von all den komplizierten Zeremonien der akademischen Tradition begleitet. Luther blieb trotz seiner vielen Verpflichtungen sein ganzes Leben hindurch Universitätslehrer. Luthers enger Mitarbeiter und Freund Philipp Melanchton war ein Gelehrter von außergewöhnlichem Scharfsinn. Mit zwölf Jahren Magister, wurde er 1518 mit 21 Jahren Professor in Wittenberg. Aufgrund seiner Kenntnisse in Hebräisch, Griechisch, Latein, Philosophie und Theologie wurde er „praeceptor Germaniae" genannt. Calvin verbrachte seine Studienjahre an drei Fakultäten. Er studierte zunächst Rechtswissenschaften und wechselte dann zur geisteswissenschaftlichen Fakultät. Als er seinen Kommentar zu Seneca veröffentlichte, war sicher, daß es sein Ziel war, Lehrer an dieser Fakultät zu werden. Dann kam er zu der Überzeugung, es sei Gottes Wille, daß er „in eine andere Richtung" ginge, und er begann, Theologie zu studieren. Er schrieb für den Rektor der Universität von Paris eine Predigt zu Allerheiligen, die so eindeutig evangelisch war, daß er Frankreich verlassen mußte. Es gab keine Universität in Genf, als Calvin dort eintraf; so erhielt er den Titel „lecteur de l'Evangile". Sein Wunsch, daß Genf eine eigene Akademie bekäme, wurde 1559 erfüllt. Der erste Rektor war Théodore de Bèze oder Beza, der Griechischprofessor in Lau42

sänne gewesen war und Calvins Nachfolger in der Kirche von Genf wurde. Martin Bucer, der Straßburger Reformator, war Professor in Cambridge; Oecolampadius, der Baseler Reformator, lehrte in dieser Stadt an der theologischen Fakultät, während Thomas Cranmer Mitglied des Jesus College in Cambridge war. All dies scheint darauf hinzuweisen, daß die Reformation im wesentlichen eine akademische Angelegenheit war, eine Art Verschwörung von Berufstheologen, so daß es berechtigt ist, die reformatorischen Kirchen als Kirchen zu betrachten, die von Professoren gegründet und beherrscht sind. Ich gebe zu, daß dies der erste Eindruck ist, den man gewinnt; doch bei genauerer Betrachtung stellt man fest, daß er irreführend ist. Diese Professoren führten kein akademisches Leben, und ihre ursprüngliche Ambition, zwischen Studium und Hörsaal zu leben und ihre Energie ganz auf Schreiben und Lehren zu verwenden, erfüllte sich nicht. Ihre Karrieren wurden auf andere Gleise gelenkt, sobald sie Verantwortung für das Handeln in Kirche und Gesellschaft übernahmen. Die magistri betrachteten diese Männer als einen Schandfleck ihres Berufs, sei es nur darum, daß magistri, die etwas von sich hielten, alle ihre Werke lateinisch und nicht französisch, deutsch oder englisch schrieben. Nicht ohne Widerstreben verließen die Reformatoren ihre Studierstuben. Luther beteuerte immer wieder, daß er sich lieber ruhig verhalten hätte, daß er aber ständig mitten in die Unruhe hineingetrieben 43

worden sei. Er sagte: „Gott führt mich nicht, er reißt und jagt mich. Ich bin meiner selbst nicht mächtig." Als seine ersten Schriften in Deutsch begeisterte Aufnahme fanden, sagte er: „Was ich getan habe und tue, das geschieht gezwungen, immer bin ich bereit zu schweigen, wenn sie nur das Evangelium nicht schweigen heißen."45 Calvin sprach eine ähnliche Sprache im Vorwort zu seinem Psalmenkommentar, eine der sehr wenigen von ihm überlieferten autobiographischen Äußerungen. Calvin schrieb: „Wenn es auch immer meine Absicht war, zurückgezogen und unbekannt zu leben, so hat Gott mich doch so geführt und mich durch verschiedene Richtungsänderungen so herumgeschwenkt, daß er es mir nie gestattet hat, an irgendeinem Ort zu bleiben, bis er mich entgegen meinen natürlichen Neigungen in das Rampenlicht (des öffentlichen Lebens) stellte und - wie die Redensart heißt - mich zwang, ins Spiel zu kommen (venir en jeu)."46 Calvin bezog sich hier vor allem auf die schwere Entscheidung, die er getroffen hatte, nämlich den Traum eines ruhigen Gelehrtenlebens aufzugeben. Er sagte über sein Zusammentreffen mit Wilhelm Farel, der bei der Reformation der Genfer Kirche seine Hilfe suchte: „Nachdem er von meinen besonderen Studienprojekten gehört hatte, für die ich mir meine Freiheit bewahren wollte, und erkannt hatte, daß er mit seinen Bitten nichts erreichte, ging er so weit, die Verwünschung auszusprechen, daß es Gott gefallen möge, mein geruhsames Leben und die Ruhe zum Studium, die ich mir wünschte, zu verfluchen, wenn ich mich in einer Situation solch großer 44

Not abwenden und meine Hilfe und Unterstützung verweigern sollte."47 Die Reformatoren und die Professoren, die den neuen humanistischen Geist vertraten, hatten den gemeinsamen Wunsch, zu den Quellen zurückzukehren. Erasmus und Melanchthon setzten sich beide energisch für das Studium der griechischen und hebräischen Sprache ein, damit die Quelle des Glaubens wieder neu entdeckt werden könne. Melanchthon sagte, Luthers Lebenswerk habe darin bestanden, die Menschen zu den Quellen zu führen; und Calvin erklärte Sadolet gegenüber, daß er das Christentum zu seiner ursprünglichen Reinheit zurückbringen wolle. Es bestand jedoch ein grundlegender Unterschied zwischen ihnen. Für die Gelehrten war die Quelle, in diesem Falle die Bibel, vornehmlich eine Quelle des Wissens, während sie für die Reformatoren eine Quelle verwandelnder Kraft war. Luther sagte: „Sermo enim Dei venit mutaturus et innovaturus mundum, quoties venit" („Wann immer das Wort Gottes kommt, kommt es, um die Welt zu verwandeln und zu erneuern"). Das Wort Gottes ist die eine und alleinige Autorität. Alles Lehren und Predigen in der Kirche muß an diesem Kriterium gemessen werden. Kein Lehrer, kein Bischof, kein Papst, niemand kann behaupten, ihm aufgrund seiner Position nicht unterworfen zu sein. Es kann keine Ausnahme geben. Aus diesem Grund war Luther der Auffassung, daß von den im kanonischen Recht enthaltenen Grundsätzen vor allem der folgende unannehmbar sei: „Den Papst mag niemand urteilen auf Erden."48 45

Doch das magisterium ist das Recht und die Pflicht der ganzen Kirche. Wer hat denn die Vollmacht zu lehren? 1523 gab Luther einer seiner Schriften den Titel: „Daß eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen usw." Wenn eine christliche Kirche eine Kirche ist, in der das Wort Gottes rein gepredigt wird, dann scheint das doch zu bedeuten, daß die Prediger und noch genauer die Lehrer der Prediger zum wahren magisterium werden. Lehrer und Prediger sind jedoch nicht die Herren des Wortes Gottes, sondern seine Diener; ihre Worte müssen nicht nur die Offenbarung der Heiligen Schrift getreu widerspiegeln, sondern sie müssen auch akzeptieren, daß die Kirche unter der Leitung des Heiligen Geistes darüber entscheiden kann, ob ihre Lehre in Einklang mit dem Glauben steht. In diesem Zusammenhang haben Luther und andere Reformatoren oft das zehnte Kapital des Johannesevangeliums zitiert: „Die Schafe folgen ihm (dem Hirten) nach; denn sie kennen seine Stimme" (Joh 10,4). Aus diesem Text hat Luther den Schluß gezogen: „Die Schafe sollten darüber urteilen, ob sie (die Lehrer) mit der Stimme Christi oder mit der Stimme eines Fremdlings lehren." Das gleiche Kriterium legte er an die ökumenischen Konzilien an; er glaubte, daß die frühen Konzilien in der Tat den biblischen Glauben verteidigt hätten. Er erklärt darüber hinaus, daß er bereit sei, an einem Konzil teilzunehmen, das die Kirche läutern würde, vorausgesetzt es sei eine Versammlung von „Männern, die solide Lehrmeister der Heiligen Schrift 46

sind".49 Doch er hatte wenig Hoffnung, daß ein solches Konzil noch zu seinen Lebzeiten zusammentreten würde. So versteht Luther das magisterium im Prinzip als einen Dialog zwischen den Lehrern und den Gliedern der Kirche. Zu einem solchen Dialog kann es jedoch nur kommen, wenn jeder der beiden Gesprächspartner am anderen die gegenseitige Zurechtweisung üben kann, die für die christliche Gemeinschaft kennzeichnend ist. Angesichts der schwierigen Umstände, in denen Luther sich befand, war er nicht in der Lage, eine Kirchenordnung zu entwerfen, in der eindeutig festgelegt war, wie die Glieder der Kirche vertreten sein sollten. Da nicht festgelegt war, welche Funktion der eine Gesprächspartner, nämlich die Glieder der Kirche, hatte, wurde der andere, d.h. die Lehrer, zum beherrschenden Faktor in dieser Situation. Somit wurde die lutherische Kirche trotz der ursprünglichen Intention ihrer Begründer eine Kirche, in der die Theologen de facto ein magisterium ausübten. Wie die lutherischen Vertreter in der Gemeinsamen römisch-katholischen/evangelisch-lutherischen Kommission in ihrem Bericht 1981 erklärten, war die Erarbeitung der Lehre im Luthertum vornehmlich zur Aufgabe der theologischen Fakultäten geworden.50 In den reformierten Kirchen wird der gleiche Nachdruck auf die Autorität der Schrift gelegt, doch in einer entscheidenden Hinsicht ging Calvin weiter als Luther. Er war davon überzeugt, daß die Heilige Schrift eindeutige Weisungen für die Aufstellung einer richtigen Kirchenordnung enthielte. So 47

heißt es in den „Ordonnances ecclésiastiques de Geneve" von 1561, daß sie das geistliche Regiment darlegen, „so wie unser Herr es vorgelebt und durch sein Wort eingesetzt hat" (le gouvernement spirituel tel que nostre Seigneur l'a démonstré et institué par sa parole).51 Calvins „Institutio" und die verschiedenen Bekenntnisse der reformierten Kirchen lehren, daß die „politia" oder das Kirchenregiment auf der Basis des Wortes Gottes mehrere Ämter umfassen muß: Diener am Worte Gottes (manchmal unterteilt in Hirten und Lehrer), Presbyter oder Älteste und Diakone. Im Prinzip standen sie auf gleicher Ebene, und es gab keine Hierarchie. Es war ihre Pflicht, ständig die gegenseitige Zurechtweisung zu üben, die gewährleistet, daß keiner versucht, den Platz des einen wahren Hauptes der Kirche einzunehmen, und daß alle ihre Funktion als Glieder des einen Leibes ausüben. Der magister wird jedoch in verschiedenen Bekenntnisschriften erwähnt. Im Zweiten Helvetischen Bekenntnis von 1566 heißt es einfach: „Die Lehrer unterrichten und lehren den wahren Glauben und die rechte Frömmigkeit."52 In der Kirchenordnung, die 1619 von der Dordrechter Synode angenommen wurde, heißt es: „Das Amt der Lehrer und Professoren der Theologie ist es, die Heilige Schrift auszulegen und die reine Lehre gegen Häresie und Irrtum zu bewahren" (weitere Beispiele s.u. Kapitel 15). Diese neue Einordnung der magistri weckte Hoffnungen, denn sie hätte zu einem fruchtbaren Dialog zwischen Theologen und leitenden Kirchenmännern, darunter auch Älteste, die die Laien vertreten, führen können. Leider trat gerade in dem Augenblick, in 48

dem eine solche Beziehung echter Konziliarität genauer bestimmt wurde, ein Ereignis ein, das die Theologie in den Augen vieler in und außerhalb der reformierten Kirchen für lange Zeit diskreditierte. Anlaß war die Dordrechter Synode 1618/19. Die Synode war einberufen worden, um sich mit Angelegenheiten der Niederländisch-reformierten Kirche zu befassen. Es nahmen jedoch auch zahlreiche Theologen und andere Kirchenführer aus dem Ausland daran teil, die von Regierungen entsandt worden waren; aus Großbritannien kam ein Vertreter von König Jakob I. Diese Besucher waren nicht nur als Beobachter auf der Synode anwesend, sondern spielten auch eine wichtige Rolle bei den Diskussionen. Im Mittelpunkt stand die Frage nach der richtigen Interpretation der Prädestinationslehre. An der Universität von Leiden lehrten damals, in ihren Anfängen, zwei Professoren, Arminius und Gomarus, die unterschiedliche Auffassungen von dieser Lehre hatten und diese auch in ihren Vorlesungen vertraten. Jede der beiden Positionen hatte ihre Schwäche und ihre Stärke. Arminius neigte zum Pelagianismus, während sein Gegner über den Willen Gottes spekulierte, so als ob man irgend etwas darüber wissen könnte, abgesehen von der Offenbarung in Christus. Beide Professoren fanden Anhänger, die ihre leidenschaftlichen Verteidiger wurden; und die Kontroverse entwickelte sich zu einem größeren politischen Problem. Das war ein Augenblick, in dem die Kirche ein wahrhaft christliches magisterium hätte üben können, wenn sie die Parteien in ökumenischem Rahmen zu einem echt brüderlichen Gespräch zusammengeführt hätte. Bedauerlicher49

weise wurde diese Gelegenheit verpaßt; und schlimmer noch, statt zum Dialog zu ermutigen, handelte die Synode von Anfang an als ein Tribunal und behandelte die Arminianer oder Remonstranten, wie sie auch genannt wurden, als Angeklagte. Diese erhielten nicht hinreichend Gelegenheit, sich zu verteidigen, und so kam es schließlich zu ihrer Exkommunikation. Der schottische Theologe, Dr. Balcanqual, ein überzeugter Calvinist, berichtete in einem Brief an den Botschafter seines Landes in Den Haag: „Keine alte Kirche und keine reformierte Kirche hat je so viele Glaubensartikel aufgestellt, die eingehalten werden müssen, wenn man eine Exkommunikation vermeiden will."53 Diese Katastrophe scheint mir drei Gründe zu haben. Erstens: Zu dieser Zeit bedienten sich die Theologen der „disputatio", d.h. Stil und Technik eines Debattierklubs wurden für theologische Diskussionen angewandt. Man verstand nicht, daß die „koinonia" von der das Neue Testament spricht, den Dialog für die gegenseitige Auferbauung braucht. Zweitens: Die Theologen hatten sich noch nicht von den Spekulationen der Scholastiker befreit, die alle Geheimnisse zu erklären versuchten. Drittens: Die Synode war stark von Politikern beeinflußt, die nach Uniformität des Glaubens strebten und darum keine echte Religionsfreiheit zuließen.

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8. Das magisterium im Kontext der päpstlichen Unfehlbarkeit Das Tridentinum (1545-1563) beantwortete viele der Fragen, die die Reformatoren aufgeworfen hatten, brachte jedoch keine genaue Definition des magisteriums. Die alte Frage, ob die höchste Autorität bei den Ökumenischen Konzilien lag oder bei den dogmatischen Entscheidungen des Papstes, blieb umstritten. 1682 trat in Paris ein Nationalkonzil von acht Erzbischöfen, sechsundzwanzig Bischöfen und achtunddreißig anderen Geistlichen zusammen und nahm die sogenannte „Déclaration du Clergé de France" an. Darin hieß es, daß die auf dem Konzil von Konstanz beschlossene Autorität der Konzilien nicht in Frage gestellt werden könne und daß das Urteil des Papstes, wenn es nicht von der Kirche bestätigt wird, nicht unkorrigierbar sei. Der berühmte Bischof Bossuet, ein unermüdlicher Verfechter dessen, was er für die wahre alte Tradition hielt, verteidigte diese gallikanische Erklärung mit großem Nachdruck. Seine These, die sich auf die Schriften der Kirchenväter und anderer Theologen gründete, besagte, daß der Papst in seinen Entscheidungen über Glaubenslehren nicht unfehlbar sei. Ein Kirchenmann, den er zitierte, war Papst Hadrian VI., der - als er noch Professor in Löwen war - die Überzeugung geäußert hatte, daß Päpste selbst in Glaubensdingen fehlbar seien.54 Bossuet erklärte sich auch voll und ganz mit dem von Papst Pius IV. formulierten Glaubensbekenntnis einverstanden: „Ich erkenne an, daß die römische Kirche heilig, katholisch und apostolisch ist, 51

daß sie die Mutter und die Herrin aller Kirchen ist, und ich verspreche und schwöre dem Papst, Nachfolger des heiligen Petrus, Fürst der Apostel und Stellvertreter Jesu Christi, wahren Gehorsam." Zugleich vertrat Bossuet die Auffassung, daß die Kirche weiterhin der Regel des Vincentius von Lerinum folgen solle: „Wir glauben das, was überall und immer geglaubt worden ist", und nicht: „Wir glauben das, was der Papst allein entschieden hat." Es ist auffallend, daß der große Traditionalist Bossuet seine gallikanische Position durch wiederholte Berufung auf die Theologen der Universität von Paris verteidigte. Seine Argumente gründeten sich nicht auf Entscheidungen der französischen Hierarchie, sondern auf Quellen, die er so bezeichnete: „les sentiments des Docteurs de Paris", „de la Faculté de Théologie de Paris", „de l'Ecole de Paris", Ja Doctrine de l'Université" oder Ja Doctrine de la Faculté".55 Man gewinnt den Eindruck, wenn die Sorbonne gesprochen hatte, war es für Bossuet „causa finita". Der gallikanische Widerstand der französischen Kirche gegen Rom wurde gebrochen, als Ludwig XIV. einen Kompromiß mit dem Papst einging. Der offizielle gallikanische Widerstand war damit zu Ende, doch es blieb trotzdem immer noch ein Rest von Unterstützung für die gallikanische Position. Während der Herrschaft Karls X. (1824-1830) verlangte die Regierung von den Bischöfen, daß sie die „Déclaration" von 1682 unterschrieben. Die meisten von ihnen weigerten sich, doch vierzehn unter ihnen waren bereit, die Unterschrift zu leisten. 52

Das 19. Jahrhundert war eine Zeit scharfer ideologischer Polarisierung. Einerseits bestand ein starkes Verlangen nach Emanzipation im politischen und gesellschaftlichen Leben, das sich in den revolutionären Bewegungen von 1830, 1848 und 1870 niederschlug. Andererseits gab es jedoch eine starke antirevolutionäre Tendenz, die in der Heiligen Allianz, in romantischen Träumen einer Rückkehr in die Vergangenheit und in autoritärer Politik ihren Ausdruck fand. Viele antirevolutionäre Denker hielten ein streng zentralisiertes, unfehlbares Papsttum für wesentlich, um einen Verfall der Gesellschaft zu vermeiden. Der Ultramontanismus war darum zugleich eine religiöse Überzeugung und eine politische Ideologie. Das Buch von Joseph de Maistre „Du Pape" gebraucht sowohl politische als auch theologische Argumente. Später wurde Louis Veuillot, ein Laie, der den Liberalismus in allen seinen Formen angriff und ein fanatischer Anhänger der Unfehlbarkeitslehre war, zum „enfant chéri" des Papstes, wie ein Biograph Pius' IX. ihn nannte.56 Viele Theologen jedoch versuchten weiterhin, Theologie und modernes Denken miteinander zu versöhnen. 1863 berief Ignaz Döllinger, ein herausragender Professor an der Universität München, eine Konferenz von römisch-katholischen Gelehrten ein und hielt eine Eröffnungsansprache, die als „Erklärung der Rechte der Theologie" bezeichnet worden ist. Er erklärte, daß Deutschland dazu berufen sei, der Fackelträger der römisch-katholischen Theologie zu sein, und wies darauf hin, daß sie nur in einer Atmosphäre der Freiheit gedeihen könne. So wie es im Alten Testament nicht nur Priester, sondern auch Pro53

pheten gäbe, so gäbe es in der Kirche neben der hierarchischen Macht eine außerordentliche Macht, und das sei die Wissenschaft der Theologie. Die Theologie übe ihren Einfluß durch die öffentliche Meinung aus, und auf lange Sicht müßten alle, selbst die Kirchenführer, ihre Erkenntnisse akzeptieren. Die Neuscholastik sei als ein antiquiertes System unfähig, auf die Fragen zu antworten, die die moderne Welt stellt. Der Vatikan reagierte heftig auf Döllingers Äußerungen. In einem Breve an den Erzbischof von München wurde erklärt, daß es nicht geduldet werden könne, daß Theologen sich ohne Erlaubnis der Hierarchie träfen, deren Aufgabe es sei, sie zu leiten und zu beaufsichtigen. Die betroffenen Theologen hätten es versäumt, dem magisterium Ecclesiae den Gehorsam zu erweisen, den sie ihm schuldig seien. Von den Theologen erwarte man, daß sie sich nicht nur den Aussagen unterwerfen, die durch das unfehlbare Urteil der Kirche zum Glaubensdogma erklärt werden, sondern auch den Entscheidungen des magisteriums der römischen Kongregationen und der gemeinsamen Lehre der Theologen.57 1864 gab der Vatikan den „Syllabus errorum" heraus, einen Katalog von achtzig modernen Ideen, die als Irrtümer angesehen wurden. Mehrere im Syllabus enthaltene Punkte richteten die Kritik eindeutig gegen die deutschen Theologen und solche in anderen Ländern, die versucht sein sollten, ihrem Beispiel zu folgen. Der Syllabus verurteilte zum Beispiel die vom Vatikan als Irrtum erklärte Meinung, „die Methoden und Grundsätze, nach denen die scholastischen Lehrer Theologie getrieben hätten, würden den An54

forderungen dieses Zeitalters nicht mehr gerecht"58, und die Auffassung, „der römische Pontifex könne und solle sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Zivilisation aussöhnen und ihnen zustimmen."59 Konservative Kräfte in der Kirche kamen in wachsendem Maße zu der Überzeugung, daß dem Vormarsch moderner Ideen, der in ihren Augen gefährlich war, durch eine weitestmögliche Stärkung der päpstlichen Autorität begegnet werden solle. Darum wurde eine Kampagne mit dem Ziel einer feierlichen Proklamation der Unfehlbarkeit des Papstes gestartet. Zunächst hatte man gehofft, dies durch Akklamation erreichen zu können, doch das erwies sich als unmöglich, da eine beträchtliche Anzahl von Bischöfen sich dem Gedanken widersetzte. Aus diesem Grund berief Papst Pius IX. 1868 ein Ökumenisches Konzil nach Rom ein. Es wurde nicht im voraus bekanntgegeben, daß die Lehre von der Unfehlbarkeit auf der Tagesordnung stand, doch aus verschiedenen Veröffentlichungen wurde bald deutlich, daß tatsächlich - wie der Erzbischof von Paris, Msgr. Darboy, es formulierte - „die Unfehlbarkeit nicht einer der Gründe für das Konzil war, sondern der einzige Grund". Die Opposition war stärker als erwartet. Einige Bischöfe wandten sich nicht direkt gegen die Lehre, vertraten jedoch die Auffassung, daß dies nicht der Augenblick sei, sie zu verkündigen, weil dadurch nur die Entfremdung zwischen der Kirche und dem modernen Leben noch verstärkt würde. Andere meinten, daß der Glaube an die Unfehlbarkeit des 55

Papstes eine Mißdeutung der wahren Tradition der Unfehlbarkeit der Kirche sei; und darum sei es falsch, sie zu lehren. Im Lichte der Geschichte war es nicht erstaunlich, daß Paris eines der Zentren des Widerstandes gegen das neue Dogma war. Der Erzbischof von Paris erklärte, daß er entschieden gegen diesen Versuch der ultramontanistischen Partei sei, die päpstliche Macht zu verherrlichen; und der Dekan der theologischen Fakultät der Sorbonne, Henri Märet, Titularbischof von Sura, gab deutlich zu verstehen, daß die „sentiments de l'Ecole de Paris" immer noch lebendig seien. In seinem Buch „Du Concile général et de la paix religieuse", das nur wenige Wochen vor der Eröffnung des Konzils erschien, erklärte er, daß die gallikanische Ekklesiologie eine Wahrheit zum Ausdruck bringe, die von ewigem Wert sei. Was Deutschland betrifft, so veröffentlichte Döllinger ebenfalls ein Buch unter dem Titel „Der Papst und das Konzil", in dem er nachwies, daß es für das vorgeschlagene Dogma keine historische Rechtfertigung gäbe. Die Vorbereitungsarbeit für das Konzil war in den Händen einer Gruppe von Theologen, der sogenannten „Römischen Schule", die zumeist Jesuiten waren, die die Neuscholastik verteidigten. Nur sehr wenige Theologen anderer Richtungen waren aufgefordert worden, sich an diesen Vorbereitungen zu beteiligen, und diejenigen, die keine „insider" des Vatikans waren, hatten wenig Chance, einen Beitrag zu leisten. Einer von ihnen, ein gelehrter Professor, Bischof Hefele, sagte, er wisse nicht, warum er nach Rom gekommen sei. 56

Nach der Eröffnung des Konzils wurde bald deutlich, daß unter den Bischöfen eine tiefgreifende Meinungsverschiedenheit bestand. Numerisch bestand eine große Mehrheit zugunsten der päpstlichen Unfehlbarkeit, zur Minderheit gehörten aber die Bischöfe von einigen der historischen Hauptzentren des römischen Katholizismus. Der Bericht von dem ungeheuren Druck, dem letztere ausgesetzt waren, ist ein dunkles Kapitel in der Kirchengeschichte. Papst Pius IX. gebrauchte alle nur möglichen Mittel, um die widerspenstigen Bischöfe einzuschüchtern, und bewies keinerlei Respekt vor ihren Überzeugungen. Es scheint, als hätte er in der Tat Kardinal Guidi gegenüber, der die Diskrepanz zwischen dem neuen Dogma und der Tradition unterstrich, die berühmte Äußerung getan: „La tradizione sono io" („Die Tradition bin ich"). Diese Situation begünstigte offensichtlich eine positive Entscheidung für die Annahme des Dogmas. Das Ergebnis der Abstimmung über die „Constitutio" lautete: 451 Stimmen „placet" (für), 88 „non placet" (gegen) und 62 „placet juxta modum" (für, mit Änderungen). Bei der endgültigen Abstimmung gab es nur „placet" oder „non placet". Die meisten der Bischöfe jedoch, die gegen den Antrag waren, verließen Rom vor der Abstimmung, so daß das Dogma schließlich mit nur zwei Gegenstimmen angenommen wurde. Das Dogma besagt: Wenn der römische Bischof in höchster Lehrgewalt (ex cathedra) spricht, das heißt, wenn er, seines Amtes als Hirt und Lehrer aller Christen waltend, in höchster, apostolischer Amtsgewalt endgültig entscheidet, eine Lehre über Glauben oder 57

Sitten sei von der ganzen Kirche festzuhalten, so besitzt er Unfehlbarkeit. Sie beruht auf dem göttlichen Beistand, der ihm im heiligen Petrus verheißen ist und mit dem der göttliche Erlöser seine Kirche bei endgültigen Entscheidungen in Glaubens- und Sittenlehren ausgerüstet haben wollte. Diese endgültigen Entscheidungen des römischen Bischofs sind daher aus sich und nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich (ex sese, non autem ex consensu eccleslae).60 Yves Congar macht auf die beim Konzil klar festgestellte Tatsache aufmerksam, daß die Unfehlbarkeit hier als ein Attribut des Primats dargestellt wird. Bischof Gasser hatte gesagt: „Wir leiten vom Primat die oberste Lehrgewalt her". Nach Congar war dies ein Hinweis darauf, daß das Konzil zu einem Zeitpunkt stattfand, als das soziale und politische Klima ein Klima der Restauration, der Opposition gegen Befreiungsbewegungen und der größtmöglichen Stärkung der Autoriät war.61 Die Formulierung des Dogmas, die das Ergebnis einer langen, äußerst schwierigen und zeitweilig heißen Diskussion war, sollte eine schlüssige Antwort auf die Frage nach dem Wesen des magisteriums sein. Es gab jedoch einige Deutungsprobleme, die noch nicht geklärt waren. Sprach der Papst nur dann ex cathedra, wenn er feierlich ein neues Dogma verkündete, oder auch, wenn er in Gestalt einer Enzyklika endgültig zu einer Frage des Glaubens oder der Sitten Stellung nahm? War das „ex sese, non autem ex consensu ecclesiae" einfach eine Zurückweisung des gallikanischen Standpunktes, wonach der Papst nur dann unfehlbar ist, wenn 58

er gemeinsam mit einem Konzil handelt, oder aber gab es dem Papst die Freiheit, eine Lehre als Wahrheit zu verkünden, ohne die Kirche befragt zu haben? Fast alle Bischöfe, die sich auf dem Konzil gegen das Dogma gewandt hatten, unterwarfen sich nach einigem Zögern dem Papst. Eine Reihe von Theologieprofessoren weigerte sich jedoch, die Entscheidung des Konzils anzunehmen. 1871 fand in München ein Kongreß statt, der unter der Leitung von Universitätslehrern stand. Diese „Altkatholiken", wie sie später genannt wurden, erklärten, daß sie der traditionellen Lehre treu blieben, aber die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes und von seiner universalen Jurisdiktion ablehnten. Sie machten geltend, daß Laien und Geistliche ebenso wie die Theologie das Recht hätten, Zeugnis abzulegen und gehört zu werden, wenn Entscheidungen in Glaubensdingen getroffen würden. Auf einem zweiten Kongreß 1872 in Köln beschlossen die Altkatholiken, selbst einen Bischof zu wählen, und so wurde Dr. Josef Hubert Reinkens, Theologieprofessor in Breslau, von Bischof Heykamp von Deventer, einem Bischof der holländischen jansenistischen Gemeinschaft, zum Bischof geweiht. Die Altkatholiken sind nie eine große Kirche geworden, sie haben aber eine theologische Tradition von hoher Qualität bewahrt und wurden zu Pionieren in der ökumenischen Bewegung.62

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9. Die drohende Spaltung zwischen magistri und magisterium In den Jahren nach dem Ersten Vatikanischen Konzil befanden sich die römisch-katholischen Theologen in einer schwierigen Lage. Papst Pius IX. hatte ihnen gesagt, daß „ihre edelste Aufgabe darin bestünde, zu zeigen, wie die Lehre in den Quellen der Offenbarung zu finden sei, so wie sie von der Kirche festgelegt wären."63 Dies schien die ganze Theologie auf ein Niveau herunterzuschrauben, das mit dem Begriff „Denzinger-Theoiogie" bezeichnet wurde, nach dem Namen des Herausgebers der Sammlung offizieller Lehraussagen. Dies wurde zu einem Zeitpunkt gesagt, als in anderen, nicht römisch-katholischen Kirchen wertvolle theologische Arbeit geleistet wurde und die Entwicklung der Geschichtsforschung die Theologen zwang, sich zahlreichen neuen Problemen zu stellen. Um die Bedeutung der modernistischen Strömung in der Theologie zu verstehen, ist es am besten, sich dem Beginn des 20. Jahrhunderts zuzuwenden. Der Modernismus war in den protestantischen Kirchen schon im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts umstritten gewesen und hatte in einigen Fällen zu Disziplinarmaßnahmen geführt. In der anglikanischen Kirche rief John William Colenso, der Bischof von Natal, starke Proteste hervor, als er in seinem Kommentar zum Römerbrief leugnete, daß es eine ewige Strafe geben könne, und als er in weiteren Schriften die traditionelle Autorität und die Genauigkeit des Pen60

tateuch und des Buches Josua in Frage stellte. In den Vereinigten Staaten waren es Charles Briggs, zeitweilig Professor am Union Theological Seminary, und in Schottland William Robertson Smith, die durch ihre Kritik des Alten Testaments Bestürzung und Ablehnung hervorriefen. In der lutherischen Kirche kam es zu Meinungsverschiedenheiten über die Gültigkeit des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, eine Auseinandersetzung, die als „Apostolikumsstreit" bekannt geworden ist. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts jedoch wurde der Modernismus zu dem, was in der Enzyklika „Pascendi" als eine „Flutwelle" beschrieben wird, und zu einem kritischen Problem in der römisch-katholischen Kirche ebenso wie in den protestantischen Kirchen. Jedes Jahr brachte neue Herausforderungen für die traditionelle Theologie. 1900 hatten Adolf Harnacks Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums" einen Erfolg ohnegleichen; sie erreichten 70 Auflagen in Deutsch und wurden in 15 Sprachen übersetzt. In diesen Vorlesungen erklärte er, daß das Wesen des Christentums nicht die Botschaft über Christus sei, sondern Christi Botschaft an den Menschen von Gott als dem Vater und von seinem Reich. Das nächste Jahr brachte William Wredes Buch über das Messias-Geheimnis, das nachzuweisen versuchte, daß das Markusevangelium ein einseitiges Bild von Jesus zeichnet. 1902 veröffentlichte Alfred Loisy sein Buch „L'Evangile et l'Eglise", das er als eine katholische Antwort auf Harnack verstand, das aber von den römisch-katholischen Behörden als gefährlich betrachtet wurde, weil der Au61

tor die gleiche historische und kritische Methode verwandte wie Harnack. Das Jahr 1902 brachte außerdem die Einführung des Begriffes „Gattungsgeschichte" durch Hermann Gunkel, ein Begriff, der später als Formkritik bekannt wurde und sehr weltreichende Konsequenzen für die Auslegung der Bibel hatte, und schließlich den Beginn einer großen Auseinandersetzung über „Bibel und Babel", ausgelöst von denen, die in der Religion Israels einen Zweig der babylonischen Religion sahen. Zur gleichen Zeit stellte Ernst Troeltsch die Frage, ob die christliche Offenbarung absolut sei64; und William James veröffentlichte sein berühmtes Buch „Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit". 1903 wurde ein Handbuch der Religionsgeschichte veröffentlicht. Es war von C. P. Tiele begonnen und von Nathan Söderblom abgeschlossen worden und bot einen Reichtum an Informationen über die nichtchristlichen Religionen, der noch vermehrt wurde durch die Veröffentlichung von Frazers „The Golden Bough" (Der goldene Ast). Im gleichen Jahr fand die Religionsgeschichtliche Schule eine Führungsgestalt in W. Bousset, der „Das Wesen der Religion" schrieb. 1903 war auch das Jahr, in dem Loisy sein monumentales Werk über das Johannesevangelium veröffentlichte, das er eher metahistorisch als historisch interpretierte, und in dem George Tyrrell, ein jesuitischer Theologe, der aus dem Orden ausgetreten war, in England sein Buch „The Church and the Future" veröffentlichte, in dem er den autoritären Begriff des magisteriums verwarf, den der Vatikan vertrat, und sich für die geistliche Freiheit einsetzte. 62

1904 wurde in Deutschland der Verein „Freunde der christlichen Welt" gegründet. Er brachte liberale Theologen zusammen und trat für die bedingungslose Freiheit der Theologie sowie für die Freiheit der Überzeugung derer ein, die sich auf den Beruf eines Pastors oder Lehrers vorbereiteten. Im folgenden Jahr wurde der Roman „II Santo" des italienischen Autors Antonio Fogazzaro in mehreren Sprachen zum Bestseller. Der Romanheld ist ein Laie, der die Kirche von den Sünden der Unaufrichtigkeit, der Machtgier und der Weltlichkeit zu befreien sucht. Das Buch wurde prompt auf den vatikanischen Index gesetzt. 1906 veröffentlichte Albert Schweitzer sein Buch „Von Reimarus zu Wrede". Er übte darin radikale Kritik an der liberalen Interpretation Jesu, die mit der Begründung arbeite, daß das Leben und die Botschaft unseres Herrn von einer Eschatologie her bestimmt seien, die inzwischen vollkommen überholt sei. Im gleichen Jahr wurde der italienische Professor für Kirchengeschichte Ernesto Buonaiuti von seinem Lehrstuhl abgesetzt, weil er Artikel mit modernistischen Tendenzen veröffentlicht hatte. Auch der weitere Verlauf des Jahrzehnts war durch den Streit liberaler Theologen gekennzeichnet. 1907 veröffentlichte Walter Rauschenbusch „Christianity and the Social Crisis". Er wurde zu einem der einflußreichsten Interpreten der deutschen liberalen Theologie in Amerika und zu einem Pionier der „Social Gospel"-Bewegung. Dann schlug der Vatikan zurück. Im gleichen Jahr wurden in einem Dekret des Heiligen Offiziums 65 Thesen verurteilt, die man für 63

modernistisch erachtete, und etwas später wurde die lange Enzyklika „Pascendi" erlassen, die eine detaillierte Analyse des Modernismus brachte und ihn in äußerst scharfen Worten verurteilte. Im darauffolgenden Jahr 1908 wurde Alfred Loisy exkommuniziert. Auf modernistischer Seite veröffentlichte George Tyrrell „Christianity at the Crossroads", und 1910 beschloß der Vatikan, daß alle römisch-katholischen Lehrer und Priester den „anti-modernistischen" Eid schwören und erklären sollten, daß sie alles und jedes einzelne akzeptierten, was von der unfehlbaren Lehrautorität der Kirche erlassen worden sei, insbesondere solche Lehren, „die unmittelbar den Irrtümern der Gegenwart entgegen sind".65 1912 wurde eine Aufsatzsammlung unter dem Titel „Foundations" mit B. H. Streeter als Herausgeber und William Temple als einem der Mitarbeiter veröffentlicht. Darin setzte sich Streeter nachdrücklich für die Freiheit des Denkens und Lehrens ein und vertrat die Auffassung, daß die Erscheinungen Christi nach seiner Auferstehung ihrem Wesen nach Visionen gewesen seien. Ebenfalls 1912 erschien Ernst Troeltschs großes Werk „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen". Darin wurde gezeigt, daß die Entwicklung der Beziehung zwischen Kirche und Gesellschaft nur verstanden werden kann, wenn man nicht nur den Einfluß christlichen Gedankenguts auf die Gesellschaft, sondern auch den Einfluß der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf das christliche Denken untersucht. Aus diesem kurzen, unvollständigen Überblick wird deutlich, daß die Autoritäten der römisch-katho64

lischen Kirche reagieren mußten; es war allerdings eine Überreaktion. Es wurde keinerlei Versuch unternommen, das Denken der Theologen zu analysieren, die des Modernismus verdächtigt wurden. Es wurde kein Unterschied gemacht zwischen denen, die versuchten, in aller Loyalität ihren katholischen Glauben in das neue intellektuelle Denkmuster einzufügen (wie es der katholische Laie Baron Friedrich von Hügel in England versuchte, der schrieb: „ich versuche, die alte Kirche intellektuell bewohnbar zu machen, wie ich nur kann"66), und denen, die als Folge ihrer historischen Studien einfach ihren Glauben verloren. Die Enzyklika „Pascendi" von 1907 ist ein irritierendes Dokument. Es ist eindeutig in einer Art Panik entstanden. Statt seelsorgerlich zu ermahnen und zu sagen, daß der Freiheit in der Theologie Grenzen gesetzt seien, begibt es sich auf das Niveau gröbster Polemik, die dem magisterium einer großen Kirche nicht angemessen ist. Es versuchte zu beweisen, daß es eine große Verschwörung gäbe, um die römischkatholische Kirche zu unterminieren, und behauptete, daß diese Verschwörung sich auf ein theologisches System gründe, das die fundamentale Lehre des römischen Katholizismus leugne. Eine solche Verschwörung gab es natürlich nur in der Vorstellung des Heiligen Offiziums. Es gab Modernisten, aber keine formierte modernistische Bewegung. Es gab kein System, denn die Modernisten waren vornehmlich Menschen, die sich an der großen Aufgabe der historischen Erforschung der Bibel und der Kirchengeschichte beteiligen wollten, die in 65

der akademischen Welt zum Mittelpunkt des Interesses geworden war. Die Enzyklika behauptete, daß diese Männer die Kirche von innen her zu zerstören suchten, daß sie absichtlich die Geschichte verstümmelten und durch ihre Verwegenheit und Unvernunft eine Atmosphäre der Korruption erzeugten, die sich wie eine Seuche ausbreite. Ihre Irrtümer erwüchsen aus Neugier und Hochmut, und darum müßten die Bischöfe sie aus Ihren Positionen in der Kirche entfernen. Wenn man dieses Bild mit dem Eindruck vergleicht, den man aus dem Leben und Schaffen der Modernisten tatsächlich gewinnt, dann Ist es kaum zu glauben, daß es sich um die gleichen Menschen handelt. Loisy hatte auf Harnack geantwortet, weil er zeigen wollte, daß die römisch-katholische Kirche nicht einfach ein Überbleibsel der Vergangenheit sei. Fogazzaros Roman „II Santo" war so leidenschaftlich katholisch, daß drei der weiblichen Hauptfiguren zum römisch-katholischen Glauben übertreten. Baron von Hügel, ein Freund der Modernisten, war ein aufrichtiger Apologet für die römisch-katholische Kirche, und Ernesto Buonaiutu, dem ich mehrere Male begegnet bin, war kein Bilderstürmer und auch kein kirchlicher Revolutionär, sondern ein Mann der sich zu historischen Studien berufen fühlte und der eine zu große intellektuelle und moralische Redlichkeit besaß, um seine Forschungsergebnisse verleugnen zu können. Die Enzyklika hatte zur Folge, daß es der Theologie untersagt war, ihre schöpferische und kritische Funktion auszuüben. H. J. Pottmeyer hat es so formuliert: 66

„Da die Theologie dazu verurteilt war, keine Beziehung zur Wirklichkeit und zur Welt zu haben, war es unmöglich (für den Theologen), sich wirksam und als ein dynamischer Faktor an den intellektuellen Auseinandersetzungen seinerzeit zu beteiligen. Es war eine Theologie, die der Welt entfremdet war, und das trug zur Entstehung einer Ghettomentalität in der Kirche bei, die sich auch in der Theologie selbst widerspiegelte."67 In den reformatorischen Kirchen war die Situation anders, weil der Modernismus an den theologischen Fakultäten zur vorherrschenden Tendenz geworden war. Nach Ernst Troeltsch hatte das zur Folge, daß Geschichte und christliche Lehre sich zu getrennten Studienbereichen entwickelten in der Weise, daß die historischen und kritischen Studien zu einem starken Strom anwuchsen, während die dogmatischen und ethischen Studien zu einem Flüßchen zusammenschrumpften. In seinem großen Werk „Dogmengeschichte" kommt Harnack zu dem Schluß, daß die Dogmengeschichte an ihrem Ende angelangt sei, weil die dogmatischen Entwicklungen in der römisch-katholischen Kirche ihren Höhepunkt erreicht hätten und weil jede konsequente Betrachtung der Reformation Luthers zur Emanzipation der protestantischen Kirchen von autoritativen Glaubensartikeln, das heißt vom „Dogma" im traditionellen Sinne, führen würde. Damit war deutlich, daß es nach Harnacks Auffassung kein magisterium im Leben der Kirche geben könne.68 Mehr noch als Harnack wurde Ernst Troeltsch mit seinem enzyklopädischen Wissen und seinem 67

Scharfsinn zum führenden Theologen seiner Zeit. Er glaubte ebenfalls, daß die historische Betrachtungsweise der Religion, die die moderne Theologie sich zu eigen gemacht hatte, unvermeidlich zur Aufgabe des Absolutheitsanspruchs des Christentums führen würde. Er sagte, man könne von einer christlichen Gemeinschaft sprechen, die von Jesus als Prophet und Vorbild inspiriert sei, doch die Vorstellung von Jesus als Zentrum der Welt oder auch nur als Zentrum der Menschheitsgeschichte müsse aufgegeben werden. Ferner wäre es denkbar, daß das Christentum zu den Kräften gehört, die letztlich siegreich sind; das würde jedoch nicht bedeuten, daß die Kirche von Christus als dem einzigen Ort des Heils gegründet worden sei.69 Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschien die umfangreiche Enzyklopädie „Religion in Geschichte und Gegenwart", in der die theologischen Entwicklungen in den vorangegangenen Jahrzehnten mit ihren Ergebnissen zusammengefaßt sind. Der Artikel über den Begriff der Kirche stammte von Troeltsch. Da die fast rein pluralistische Art von christlicher Gemeinschaft, die er befürwortete, sich grundlegend von dem unterschied, was traditionell als „die Kirche" angesehen wurde, schlug er vor, den Begriff „Kirche" nicht mehr zu gebrauchen. Es gab natürlich zahlreiche Gruppen und Bewegungen in den reformatorischen Kirchen, die durch diese neuen Ideen zutiefst beunruhigt waren. Doch sie nahmen im allgemeinen eine defensive Haltung ein. Es war nicht mehr möglich, eine wirksame Lehrautorität aufrechtzuerhalten. Inden meisten Kirchen 68

waren die alten Glaubensbekenntnisse noch die offizielle Grundlage für Lehre und Predigt. Viele Glieder der Kirche, die einfach nicht in der Lage waren, die theologischen Debatten zu verstehen, die in den akademischen Kreisen geführt wurden, erwarteten von den leitenden Männern der Kirche, daß sie in ihrer Darstellung des Glaubens die traditionellen Maßstäbe aufrechterhielten. Das brachte die führenden Kirchenmänner in eine schwierige Lage, da es praktisch unmöglich geworden war, die alten Regeln durchzusetzen. Darum ist in dieser Zeit im römischen Katholizismus die Tendenz in Richtung auf ein magisterium festzustellen, das für die Aktivität der magistri keinen Raum ließ, während in den reformatorischen Kirchen die entgegengesetzte Tendenz bestand, nämlich in Richtung auf eine Vorherrschaft der magistri in Gestalt eines theologischen Individualismus, der keinen Raum für ein magisterium ließ, in welcher Form oder Gestalt auch immer.

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10. Theologen entdecken die Kirche neu In den Jahren unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg war nicht klar, welche Richtung die allgemeine theologische Entwicklung einschlagen würde. Unter dem Einfluß einer Welle von sozialem Idealismus und einem Glauben an den unbegrenzten Fortschritt bewegte sich die Theologie in den Vereinigten Staaten von Amerika und bis zu einem gewissen Grade auch in England auf den Liberalismus zu. In Deutschland jedoch wurde die Theologie konservativer infolge einer nostalgischen Verteidigung nationaler Traditionen in einer feindlich erscheinenden Welt. Die scharfe Konfrontation zwischen der „Social Gospel"-Theologie und der Theologie, die sich auf die zukünftige Welt konzentrierte, zu der es 1925 auf der Weltkonferenz für Praktisches Christentum kam, war nicht vornehmlich auf Unterschiede rein theologischer Art zurückzuführen, sondern vielmehr auf unterschiedliche kulturelle Erfahrungen. In den dreißiger Jahren entstand jedoch eine neue Situation. In vielen Ländern unterstrichen Theologen die dringende Notwendigkeit, die Theologie von ihrer Gefangenschaft in bestimmten kulturellen Denkformen zu befreien. Dialektische Theologen hatten schon zehn Jahre früher einen Protest gegen diese Knechtschaft in Gang gesetzt, doch in weiteren internationalen Kreisen wurde ihr Einfluß erst um 1930 spürbar, als eine Reihe von Karl Barths Büchern übersetzt wurde. Barth und seine Anhänger vertraten energisch die Grundthese einer totalen Abhängigkeit 70

der Theologie von der Offenbarung, so wie sie in der Heiligen Schrift überliefert ist, und unterstrichen die Unabhängigkeit der Theologie gegenüber den sich wandelnden kulturellen Ausdrucksformen. Es gab auch viele, die - ohne Barth in anderen Punkten zu folgen - mit ihm darin übereinstimmten, daß die Theologie wieder ihre kritische und prophetische Aufgabe im Blick auf das kulturelle Leben und das Leben der Kirche selbst übernehmen solle. Reinhold Niebuhrs Angriff auf die allzu simple Ausgangsposition der „Social Gospel"-Theologie eröffnete ein neues Kapitel in der amerikanischen Theologie. In einem Symposium mit dem aufschlußreichen Titel „The Church against the World" schrieb H. Richard Niebuhr: „Die Aufgabe der gegenwärtigen Generation scheint in der Befreiung der Kirche von ihrer Hörigkeit gegenüber einer korrupten Zivilisation zu liegen."70 Das Zeugnis russisch-orthodoxer Denker, die ins Exil getrieben worden waren, wies in die gleiche Richtung; das gilt insbesondere von Nikolai Berdjajew. Im Bereich der Bibelforschung lag der Hauptnachdruck auf der Einheit der Bibel und ihrer Einzigartigkeit. Zu dieser Zeit wurde auch die Frage nach dem Wesen der Kirche und nach ihrem Platz im Glauben zu einem wichtigen Thema der theologischen Reflexion. Neutestamentier wie Sir Edwyn Hoskyns und C.H. Dodd in England und K.L. Schmidt, Martin Dibelius und H.D. Wendland in Deutschland zeigten, daß die Kirche keine Erfindung ist, die aus der Zeit nach der Auferstehung stammt, sondern daß sie ihre Wurzeln in der Lehre Jesu hat. Arthur M. Ramsey legte in seinem Buch „The Gospel and the Catholic Church" 71

eine ausgeprägte Ekklesiologie vor, Otto Dibelius prophezeite, daß das 20. Jahrhundert „Das Jahrhundert der Kirche" sein werde. Karl Barth kritisierte Dibelius scharf, nicht weil er die Bedeutung der Kirche betonte, sondern weil er zu einer Zeit, wo sie in Wirklichkeit schwach und ihrem Auftrag nicht gehorsam war, in triumphalistischen Begriffen von ihr sprach. Barth selbst hatte anfangs in gut Kierkegaardscher Art von der Kirche als dem größten Hindernis für das Evangelium gesprochen. Er kam jedoch später zu der Überzeugung, daß die Christen Verantwortung für die Kirche übernehmen und sich solidarisch mit ihr wissen sollten. So wurde die 1927 veröffentlichte „Christliche Dogmatik" durch die „Kirchliche Dogmatik" ersetzt, deren erster Band 1932 erschien. Sehr bald danach, im Jahre 1933, kam der Augenblick, wo die Frage nach der Unabhängigkeit und Integrität der Theologie äußerst akut wurde. Das neue nationalsozialistische Regime erhob den Anspruch, daß seine Ideologie das ganze Leben des deutschen Volkes erneuern würde, und forderte, daß alle Aspekte des Lebens sich seinen Normen und Ideen anpassen sollten. Das schuf erhebliche Unsicherheit in den Kirchen. Barth gab seinen theologischen und seelsorgerlichen Rat in einem Aufruf „Theologische Existenz heute": Fahrt fort mit eurer Aufgabe, laßt euch nicht abbringen von eurem bleibenden Auftrag, das Evangelium zu verkündigen. Dieser Aufruf hatte in den Worten von Hans Asmussen „die Wirkung eines Trompetenstoßes". 1934 konnte Barth der Kirche einen noch größeren und direkteren Dienst leisten. Im Widerstand gegen die „Deutschen Christen", die 72

eine synkretistische Verschmelzung von Christentum und nationalsozialistischer Ideologie darstellten, entstand eine Bewegung bekennender Christen, die später zur Bekennenden Kirche wurde. Um ihre Position ganz deutlich zu machen, beriefen diese Christen in Barmen eine Bekenntnissynode ein. Das Dokument, das auf dieser Synode erörtert werden sollte, war von Karl Barth, Hans Asmussen und Thomas Breit erarbeitet worden, war aber weitgehend Barths Werk. Die Synode nahm die „Barmer Theologische Erklärung" an, die in den Jahren des Kirchenkampfes zur Charta der Bekennenden Kirche wurde und die auch eine weitreichende ökumenische Bedeutung gewann als ein Aufruf zum Kampf gegen alle Ideologien, die die Kirche zu korrumpieren suchten. Die weitere Bedeutung der Barmer Synode lag darin, daß viele Theologen, die Studenten gewesen waren, als die Kirche „das Aschenbrödel" der Theologie war, nun zu Vätern und führenden Männern der Bekennenden Kirche wurden. Unter den jüngeren Theologen fand sie in Dietrich Bonhoeffer einen energischen Verteidiger. Die Theologen hatten wahrlich die Kirche wiederentdeckt. Während des Kirchenkampfes in Deutschland und später in ähnlichen Situationen in den besetzten Ländern nahmen viele Theologen das Risiko auf sich, um der Kirche willen ihren Lehrstuhl zu verlieren. Eine andere Brücke zwischen Theologen und Kirche war die ökumenische Bewegung. Die Konferenzen über „Praktisches Christentum" und „Glauben und Kirchenverfassung" brachten Theologen und Kirchenführer in engeren Kontakt miteinander. Einen 73

eingehenden und systematischen Versuch, die Theologen für die Aufgabe zu mobilisieren, das Zeugnis der Kirchen deutlich zu machen, unternahm J. H. Oldham, als er die Vorbereitungsarbeiten für die Konferenz für „Praktisches Christentum" leitete, die 1937 in Oxford stattfand. Er überzeugte sie davon, daß ihre Hilfe wirklich erwünscht, ja unerläßlich sei. In einem der Vorbereitungsbände schrieb er: „Wir haben, aufs Ganze gesehen, ein Chaos verschiedener, oft sich widersprechender privater Meinungen, nicht jedoch eine anerkannte kirchliche Theologie."71 Auf der Konferenz in Oxford wurde ein kühner Versuch unternommen, im Blick auf die Probleme der Gesellschaft, des Staates und der internationalen Beziehungen zu einer solchen anerkannten Theologie zu kommen. Damit wurde zumindest der Zugang zu einem magisterium geschaffen; und viele Kirchenführer und Theologen fanden in den Oxfordberichten eine reiche Quelle der Orientierung während der Jahre des Zweiten Weltkrieges. Die Konferenz für Glauben und Kirchenverfassung 1937 in Edinburgh bot weitere Gelegenheit der Zusammenarbeit; und auf der Konferenz des Internationalen Missionsrates 1938 in Madras/Tambaram beteiligten sich Theologen aus Ost und West an einer intensiven Diskussion über Kraemers herausforderndes Buch „Die christliche Botschaft in einer nichtchristlichen Welt". Auf der Ersten Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen 1948 waren unter den vielen Beratern auch diese Theologen stark vertreten. Ein Delegierter stellte fest, daß er in Amsterdam praktisch alle Autoren der Bücher traf, die in seiner Biblio74

thek standen. Als die nächste Vollversammlung vorbereitet werden mußte, schlug Henry van Düsen vor, einen Beratungsausschuß aus den „kreativsten Denkern der Kirchen" zu bilden, um ein Dokument über das Hauptthema der Vollversammlung „Jesus Christus, die Hoffnung der Welt", zu erarbeiten; die Mehrzahl der für diesen Ausschuß ausgewählten Mitglieder waren Theologen. Ich hatte das Vorrecht, zu diesem Beratungsausschuß zu gehören, dessen Mitglieder drei Jahre lang zusammengearbeitet und dabei viele ernsthafte Krisen durchgemacht haben. Reinhold Niebuhr und Karl Barth oder Heinrich Vogel und Henry van Düsen dazu zu bringen, sich auf irgendeine Erklärung zu einigen, war nicht leicht; doch schließlich kam ein beachtliches Dokument zustande, eines der substantiellsten, das je von einer so gemischten Gruppe verabschiedet worden ist. Die Delegierten der Vollversammlung von Evanston 1954 hatten kein so intensives ökumenisches Gespräch erlebt und konnten darum das Dokument nur mit Vorbehalten annehmen; doch es hatte sich erneut gezeigt, wie Theologen, zusammen mit anderen „schöpferischen Denkern", der Kirche dienen konnten. Inzwischen machten die Theologen von Glauben und Kirchenverfassung auf ihrer Konferenz in Montreal 1963 Fortschritte bei der Klärung des Problems der Tradition und legten den Grundstein für einen Konsensus über Taufe, Eucharistie und Amt; und das war auch ihr wichtigstes Ergebnis. Während auf protestantischer Seite dieser Fortschritt erzielt wurde, befanden sich die Theologen 75

der römisch-katholischen Kirche in einer schwierigen Situation. Nach der Abspaltung der Altkatholiken verebbte die Opposition gegen das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit vollständig; und als die Lehrautorität die modernistischen Tendenzen erfolgreich unterdrückt hatte, schien den römisch-katholischen Theologen nicht viel mehr übrig zu bleiben, als die offizielle thomistische Theologie und die verschiedenen päpstlichen Enzykliken auszulegen. Nach offizieller Auffassung hatten die Theologen die Rolle, das magisterium zu unterstützen und seine Erklärungen zu rechtfertigen. In welchem Maße diese Vorstellung noch herrschte, ist aus der Tatsache ersichtlich, daß Pius XII. 1956 das bestätigte, was Pius IX. und das Vatikanische Konzil von 1870 dazu gesagt hatten.72 Eine ganz klare Formulierung des Auftrags der Theologen gab Plus XII. 1954. Er sagte: „Neben den legitimen Nachfolgern der Apostel, das heißt, dem römischen Pontifex für die allgemeine Kirche und den Bischöfen für die Gläubigen, die ihrer Obhut anvertraut sind, gibt es in der Kirche keine anderen Herren göttlichen Rechts; doch sie selbst und vor allem der oberste Herr der Kirche und Stellvertreter Christi auf Erden kann zur Ausübung der lehramtlichen Funktionen Mitarbeiter und Berater berufen und ihnen die Macht zu lehren übertragen... Diese Macht bleibt immer (dem magisterium) untergeordnet, ohne je sui juris zu werden, das heißt unabhängig von jeder Autorität."73 Bei anderer Gelegenheit sagte Pius XII., entscheidend sei nicht die „opinio theologorum", sondern der „sensus ecclesiae". Es wäre absurd, die Theologen zu „magistri magisterii" zu machen.74 Da 76

auch die Enzyklika „Humani generis" deutlich gemacht hatte, daß umstrittene Fragen, zu denen der Papst sein Urteil gesprochen hatte, nicht als Fragen betrachtet werden sollten, die für das theologische Studium oder die theologische Diskussion offenstünden, schien die Aussicht für schöpferisches theologisches Denken in der römisch-katholischen Kirche düster. Unter diesen Umständen ist es um so bemerkenswerter, daß sich in der römisch-katholischen Kirche durch eine „neue Theologie" neue Horizonte eröffneten, die keineswegs eine bloße Wiederholung der traditonellen Lehre war. Es zeigte sich wieder einmal deutlich, daß die Theologie es mit einer Wahrheit zu tun hat, die nicht unterdrückt werden kann. Was war diese „neue Theologie"? Mit diesen Worten sind unterschiedliche Dinge beschrieben worden. Manchmal war damit das Gedankengut der jesuitischen theologischen Fakultät in Lyon gemeint; manchmal bezogen sie sich auf das gesamte neue theologische Denken in Frankreich, darunter vor allem das des dominikanischen Zentrums in Le Saulchoir; manchmal wurden mit diesen Worten alle Versuche einer theologischen Erneuerung seitens der römisch-katholischen Theologen dieser Zeit beschrieben. Die raison d'être der neuen Bewegung bestand darin, die scholastische Immobilität zu überwinden und zu einer dynamischen und schöpferischen Theologie zu gelangen. Die „neue Theologie" lehrt, daß die Offenbarung nicht die Vermittlung eines Gedankensystems ist, sondern die Manifestation einer Person. Das bedeutete jedoch nicht, daß die of77

fenbarte Wahrheit nicht in Form einer Lehre zum Ausdruck gebracht werden könnte, sondern daß in der göttlichen Wahrheit immer mehr enthalten ist, als in begrifflicher Sprache ausgedrückt werden kann. Die neue Theologie ist eine Theologie des „ressourcement", d.h. der ständigen Rückkehr zur Hauptquelle, der Heiligen Schrift, und zur patristischen Überlieferung. Es ist, und das wurde am stärksten in Deutschland unterstrichen, eine kerygmatische Theologie, das heißt, eine Theologie des an den Menschen gerichteten Wortes Gottes. In dieser Sicht ist es die erste Aufgabe des Theologen, über das „ordentliche" magisterium, das die Kirche durch ihr pastorales Lehramt ausübt, und über seine Unterscheidung vom „außerordentlichen" magisterium, d.h. der Definition der Lehre, nachzudenken. Diese Theologie kann in einem tieferen Sinne als eine Wiederentdeckung der Kirche betrachtet werden. Die Schriften vieler ihrer Vertreter befassen sich mit dem Wesen der Kirche. Congars „Chrétiens désunis" erschien 1937; und darauf folgte eine große Anzahl ekklesiologischer Studien, die ihn in diesem Bereich zum Kirchenvater des 20. Jahrhunderts machten. 1938 veröffentlichte De Lubac sein Buch „Catholicisme", gefolgt von „Corpus Mysticum" und „Méditation sur l'Eglise". Hugo Rahner schrieb über „Mater Ecclesia", und Robert Grosche über die „Pilgernde Kirche". Beide versuchten, die ursprüngliche Bedeutung der Kirche, die durch Institutionalismus und juridische Begriffe verzerrt worden war, wieder aufzudecken. Sie stellten fest, daß es in der Bibel und in der Tradition Dimensionen der Kirche gibt, die wie78

der ans Licht gebracht werden müßten, und traten für die Ganzheit der Kirche als Volk Gottes gegenüber der Kirche als Hierarchie ein. Es war unvermeidlich, daß dieses neue dynamische Verständnis der Theologie beim Vatikan mit seiner statischen und scholastischen Sicht auf Mißtrauen stieß. 1946 startete ein Dominikaner, Garrigou Lagrange, einen Angriff gegen die Theologen in Lyon, denen er vorwarf, daß das, was sie lehrten, in Wirklichkeit Modernismus sei. Der Vorwurf war falsch, denn ihnen ging es nicht darum, die Kirche „intellektuell bewohnbar" zu machen, wie die Modernisten es versucht hatten, sondern die ihr innewohnende schöpferische Kraft zu entbinden. Die Enzyklika „Humani generis" von 1950 zeigte ebenfalls, wie sehr der Vatikan durch diese neue Bewegung beunruhigt war. Sie sprach von Menschen, die „neue Dinge" lieben und die leicht von der Geringschätzung der scholastischen Lehre einen Schritt weiter gehen zur Vernachlässigung, ja sogar zur Verachtung des magisteriums der Kirche. Die Rolle der Theologen sei es, so heißt es weiter, „zu zeigen, inwiefern das, was das lebendige Lehramt (magisterium) verkündet, in der Heiligen Schrift und in der göttlichen Überlieferung, sei es ausdrücklich, sei es unausgesprochen, enthalten ist". 75 In diesen Jahren wurde eine erhebliche Anzahl von Theologen ihres Postens enthoben, oder sie hatten große Schwierigkeiten mit der Annahme ihrer Schriften. Man sagt, daß Karl Rahners Werk durch die Hände von sieben Zensoren gehen mußte, bevor es veröffentlicht werden konnte.

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11. Die magistri beteiligen sich am magisterium Das Zweite Vatikanische Konzil war in mehrfacher Hinsicht von größter Bedeutung. Eine Weise, in der es gewirkt hat, ist vielleicht noch nicht hinreichend unterstrichen worden, hat jedoch einen tiefgreifenden Einfluß auf das Leben der Kirche gehabt. Es ist die Tatsache, daß es zu einem geistigen Austausch zwischen Bischöfen und Theologen kam, der in diesem Umfang und in dieser Intensität noch nicht vorgekommen war. Wir haben gesehen, daß die einzigen Theologen, die auf dem Ersten Vatikanischen Konzil eine wichtige Rolle spielten, aus der „Römischen Schule" kamen und Verfechter der Neuscholastik waren. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil war die Situation ganz anders. Im Dezember 1962 berichtete Congar von seinen Eindrücken in Rom. Er schrieb: „Man sollte sich klar machen, daß es neben den Sitzungen von Bischöfen in nationalen oder regionalen Gruppen auch ein Konzil von Theologen gibt. Über hundert, vielleicht zweihundert Theologen haben die Bischöfe begleitet, viele von ihnen Männer, die eine aktive, oft schöpferische und dynamische Rolle im Leben des weltweiten Katholizismus, vor allem in der europäischen Region, spielen." 1980 sagt er, rückblickend auf das Konzil: „Es wurde dort eine exemplarische Zusammenarbeit zwischen den Konzilsvätern und den .Experten' erzielt."76 Viele Bischöfe waren in der Tat so eifrig wie Universitätsstudenten oder Seminaristen, etwas über die 80

neueren Tendenzen in der Theologie zu lernen. Einige der Theologen erhielten mehr Anfragen, Vorlesungen zu halten, als sie befriedigen konnten. Es hatte schon etwas auf sich mit der Bemerkung eines Bischofs, der halb im Ernst sagte, er beginne sich zu fragen, wer denn das magisterium verträte. Papst Joannes XXI11. hatte ein erhebliches Risiko auf sich genommen dadurch, daß er eine Begegnung ermöglichte zwischen Bischöfen, die zum größten Teil vor der „neuen Theologie" studiert hatten, und Theologen, die man noch vor ein paar Jahren verdächtigt hatte, gefährliche Gedanken zu haben. Denn es war zweifellos nicht möglich, einen Konflikt zwischen den Verfechtern des Semper eadem und denen des Semper reformanda zu vermeiden. Es war jedoch ein Risiko, das der Papst um der Kirche willen bereit war einzugehen. Am Ende der ersten Sitzung sagte er, daß es verständliche, aber dennoch betrübliche Meinungsverschiedenheiten gegeben hätte, daß dies aber zeigte, daß die Kinder Gottes in der Kirche heilige Freiheit besäßen. Die Theologen konnten ihren vollen Beitrag leisten beim Entwurf und bei der Redaktion der Dokumente, über die dann abgestimmt wurde. So geschah es, daß in einer heiklen Situation, bei der Vorbereitung des Schemas über die Offenbarung, die Kommission, die gebildet worden war, um einen neuen Entwurf zu erarbeiten, aus sieben Bischöfen und einundzwanzig Theologen, darunter Rahner und Congar, bestand. Die Studien, die über die Erarbeitung der meisten Konzilsdokumente erschienen sind, zeigen, daß es weitgehend der Qualität der theologischen Arbeit zu 81

verdanken war, daß das Zweite Vatikanische Konzil Erklärungen und Konstitutionen hervorbrachte, die substantiell waren und der Kirche in den kommenden Jahren als Richtlinie dienen konnten. Es wäre angemessen gewesen, bei dieser Gelegenheit die Rolle der Theologen in der Kirche klarer zu definieren oder zumindest, ihnen Anerkennung für ihre unerläßliche Arbeit auszusprechen; doch das unterblieb. Wohl finden sich in der Konstitution über die göttliche Offenbarung Worte der Anerkennung für diejenigen, die Bibelwissenschaft treiben, für ihr Studium der Bibel als der Seele der Theologie und die ständige Erneuerung der Theologie durch das Wort Gottes.77 Es wurde jedoch nichts gesagt über die prophetische und kritische Rolle der Theologie im Leben der Kirche. Wenn die Lehrfunktion der Kirche erwähnt wurde, wurde betont, daß die Bischöfe „durch den Heiligen Geist, der ihnen mitgeteilt worden ist, wahre und authentische Lehrer des Glaubens, Priester und Hirten geworden" sind.78 Außerdem findet sich in der Konstitution über die göttliche Offenbarung der leicht kryptisch anmutende Satz, daß die Aufgabe, das geschriebene oder überlieferte Wort verbindlich zu erklären, nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut sei.79 War das nicht eine Warnung an die Theologen, nicht zu glauben, sie hätten Anteil am magisterium? Obwohl das Konzil viel über die Hiearchie, über Priester, religiöse Orden, Schullehrer und die Laien zu sagen hatte, werfen seine Erklärungen kein Licht auf den Platz der Theologen in der Kirche. Auch die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Bischöfen und Theologen, die das Konzil zu ei82

nem denkwürdigen Ereignis gemacht hatte, fand keinerlei Erwähnung. Die Konzentration auf das Problem der Kollegialität zwischen dem Papst und den Bischöfen mag der Grund dafür gewesen sein, daß die nicht weniger wichtige Frage der Kollegialität zwischen den magistri und den Inhabern des offiziellen magisteriums nicht offen diskutiert wurde, so daß alles, was die Theologen über ihre Beziehung zu den Bischöfen lernen konnten, dies war: daß sie der bischöflichen Autorität treu gehorsam sein sollen.80 Was das Wesen des magisteriums betrifft, so ändert das Konzil nichts an den Erklärungen von 1870. Einige Sätze aus der erläuternden Vorbemerkung zur Konstitution über die Kirche schienen gemäß päpstlicher Entscheidung dem ex sese von 1870 noch größeres Gewicht zu geben. In der Vorbemerkung heißt es, der Papst „geht nach eigenem Urteil vor" und „kann seine Vollmacht jederzeit nach Gutdünken ausüben". Andererseits heißt es in der „Konstitution über die göttliche Offenbarung": „Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm."81 Die Bedeutung dieser sehr wichtigen Aussage wird jedoch durch andere Erklärungen abgeschwächt, in denen Schrift, Überlieferung und Lehramt auf der gleichen Ebene zu stehen scheinen. Karl Barth, der die „Konstitution über die göttliche Offenbarung" wegen ihrer Konzentration auf die Bibel lobte, sah in dieser Verknüpfung von Schrift, Überlieferung und magisterium einen „Schwächeanfall" des Konzils.82 Als das Konzil vorüber war, waren die Theologen äußerst dankbar, denn von ihrem Standpunkt aus gesehen, hatten sie eine größere Ernte eingebracht, als 83

sie zu hoffen gewagt hatten. Im Blick auf Ekklesiologie, „ressourcement", Ökumenismus, Religionsfreiheit und die Aufgabe der Kirche in der Gesellschaft hatte das Konzil sich die Position zu eigen gemacht, die die „neuen" Theologen vertraten. Außerdem schien die Art und Weise, in der ihre Mitarbeit auf dem Konzil begrüßt worden war, ein Hinweis darauf zu sein, daß sie in Zukunft die Freiheit genießen würden, ihre schöpferische und kritische Aufgabe zu erfüllen. Ein scharfsinniges Buch über die neue Situation wurde 1968 von Pater Schoof, dem Assistenten von Professor Schillebeeckx, unter dem Titel „Aggiornamento" veröffentlicht. Der Untertitel lautet (und das ist auch der Titel der deutschen Übersetzung): „Der Durchbruch der neuen katholischen Theologie"; und am Schluß heißt es, daß die katholischen Theologen sich nun an den Raum gewöhnen müßten, den sie wiedergewonnen hätten. Karl Barth, ein strenger Kritiker der römisch-katholischen Kirche, war so beeindruckt von dem Konzil, daß er mit römisch-katholischen Kirchenführern und Theologen persönlich Kontakt aufnehmen wollte. Zu diesem Zweck unternahm er 1966 eine Reise und berichtete darüber in „Ad Limina Apostolorum"; er sagte, er habe eine Kirche und eine Theologie kennengelernt, die in Bewegung seien - eine langsame, aber nichtsdestoweniger reale und unumkehrbare Bewegung; das wünschte er, von seiner eigenen Konfession sagen zu können.83 Kristen Skydsgaard aus Dänemark kam zu einer ähnlichen Schlußfolgerung und sagte, daß die Lutheraner nun ihre Vorstellung von der römischkatholischen Kirche revidieren müßten: „Denn wer 84

unter uns hätte erwartet, daß diese Kirche, die für ihre Unbeweglichkeit berühmt und berüchtigt war, zu so viel Veränderung fähig wurde. Natürlich ist sie die gleiche geblieben, wie wir in Zukunft sehen werden, aber dennoch ist sie eine andere Kirche geworden. Dieses Paradox zu verstehen, heißt das Konzil zu verstehen."84

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12. Trennen sich die Wege erneut? Nach dem Konzil glaubten die meisten römischkatholischen Theologen, daß für ihren Beruf und ihre Berufung ein neuer Tag angebrochen sei. 1967 wurde ein dreibändiger Bericht über ein Symposium mit dem Titel „Die Autorität der Freiheit" veröffentlicht, in dem prominente Theologen ihre Eindrücke vom Konzil darlegten. Die allgemeine Einführung des Herausgebers Johann Christoph Hampe trägt den Titel „Libertas Christiana", und Otfried Müller erklärt in seinem Beitrag über „Katholische Theologie nach dem Konzil": „Das ist nun die neue Situation der Theologie: Dieses Konzil hat die Theologie wieder freigegeben."85 Die Theologen glaubten, daß das Konzil kein Ende, sondern ein Anfang gewesen sei, oder, wie Karl Rahner es ausgedrückt hat, der Anfang eines Anfangs. In ihren Augen waren die Dokumente des Konzils Wegweiser, die die Richtung aufzeigten, in der die Theologie voranschreiten solle. Es dauerte jedoch nicht lange, bis deutlich wurde, daß dies nicht die einzige Möglichkeit war, die Bedeutung des Konzils zu verstehen. Viele verantwortliche Kirchenführer meinten, daß die Entscheidungen des Konzils nicht als Wegweiser, sondern vielmehr als Grenzsteine zu verstehen seien. Nach ihrer Meinung hatte das Konzil so viele neue Elemente und Ideen in das Leben der Kirche eingeführt, daß man der Kirche Zeit lassen müsse, sie zu verarbeiten. Für diese Kirchenmänner bedeutete das Konzil: „So weit, doch für lange Zeit nicht weiter." Ein Jahr später schrieb Kardinal Otta86

Viani von der Glaubenskongregation an alle Bischöfe und fragte, ob zehn bestimmte, von ihm aufgeführte Häresien in ihren Diözesen propagiert würden. Im hektischen Klima des revolutionären Jahres 1968 erschien die Enzyklika „Humanae vitae"; sie offenbarte eine tiefgreifende Polarisation im Leben der Kirche. Die Unruhe war nicht so sehr durch das Thema bedingt, wenn auch der Hauptpunkt der Enzyklika, die Weigerung, künstliche Empfängnisverhütungsmittel zuzulassen, für die überwiegende Mehrheit der Katholiken ein lebenswichtiges Interesse und entscheidendes Anliegen berührte. Doch wie die Entscheidung des Vatikans auch immer ausgefallen wäre, sie hätte eine Auseinandersetzung hervorgerufen. Das erklärt jedoch noch nicht die Heftigkeit und das Ausmaß der nachfolgenden öffentlichen Reaktion. Was den größten Schock verursachte, war die Tatsache, daß die Enzyklika den Eindruck erweckte, als habe das Zweite Vatikanische Konzil im Blick auf die Ausübung des magisteriums nichts geändert. „Humanae vitae" schien alle Mängel der vorkonziliaren Zeit zu besitzen, da die vom Papst getroffene Entscheidung gewiß kein Beispiel der Kollegialität war, die das Konzil befürwortet hatte. Der Papst war nicht dem Rat der Mehrheit der beratenden Kommission gefolgt, die zur Untersuchung dieses Problems gebildet worden war; er hatte sich auch nicht hinreichend mit den Theologen beraten, von denen die meisten für eine größere Freiheit eintraten. Die Sorge, die das Konzil angesichts der Probleme von Armut und Hunger in den Ländern mit starkem Bevölkerungszu87

wachs geäußert hatte, war nicht angemessen berücksichtigt worden. Der wirkliche Grund für die mangelnde Bereitschaft des Papstes, einen liberaleren Standpunkt einzunehmen, war sein Wunsch, nicht im Widerspruch zur Position seiner Vorgänger, vor allem der von Pius XI. zu handeln; dieser hatte 1930 die Enzyklika „Casti Connubii" erlassen, die im Gegensatz zu der toleranteren Haltung stand, die die anglikanischen Bischöfe im gleichen Jahr auf der Lambethkonferenz eingenommen hatten. Das war ein Zeichen für die Fixierung auf die Vergangenheit, auf Kontinuität und Unreformierbarkeit, die Johannes XXIII. mit seinem Aufruf zu einem echten „aggiornamento" (auf den heutigen Stand bringen) zu überwinden versucht hatte. Zugleich legte die Enzyklika Nachdruck auf die Frage der Autorität; denn ihr Grundton war: „Das ist wahr, weil der Papst sagt, daß es wahr ist." Darum war es unvermeidlich, daß es zu einer weitreichenden Auseinandersetzung über ihre Bedeutung für die Fragen der Lehre kam. Die Antworten offizieller oder offiziöser Stellen auf diesbezügliche Anfragen zeigten, daß es unter ihnen keinen eindeutigen Konsensus gab. Der offizielle Kommentator Monsignore Lumbrischini erklärte auf einer Pressekonferenz im Vatikan, daß die Enzyklika ein verbindliches, aber kein unfehlbares Dokument sei; doch Kardinal Felici, der Generalsekretär des Zweiten Vatikanischen Konzils schrieb bald darauf, die Tatsache, daß die Enzyklika nicht ex cathedra verkündet worden sei, bedeute nicht, daß sie nicht unfehlbar sei; denn die Wahrheit könne gewiß sein und 88

im Gehorsam angenommen werden, wenn sie die traditionelle und kontinuierliche Lehre des magisteriums darstelle, wie es bei „Humanae vitae" der Fall sei. Auf der anderen Seite gingen einige regionale Bischofskonferenzen ein ganzes Stück Wegs in eine liberalere Richtung. Im August 1968 erklärten die belgischen Bischöfe, daß die Enzyklika nicht als unfehlbar und unwiderruflich zu betrachten sei und daß die Gläubigen nicht verpflichtet seien, sie bedingungslos und uneingeschränkt anzunehmen, wie es im Blick auf dogmatische Definitionen der Fall sei. All das hatte zur Folge, daß die ganze Frage nach dem Wesen des magisteriums und insbesondere nach der Bedeutung des Begriffs „Unfehlbarkeit" erneut akut wurde. 1970 veröffentlichte Hans Küng ein Buch unter dem Titel „Unfehlbar?". Erzeigte, daß die auf dem Ersten und Zweiten Vatikanischen Konzil zur Beschreibung der Unfehlbarkeit gebrauchte Formulierung keine klare und schlüssige Vorstellung vom magisterium vermittelt habe, und fragte, ob es nicht an der Zeit sei, sie zu revidieren. Er schlug als angemessener den Begriff der „Indefektibilität", vor, der Führung der Kirche durch den Heiligen Geist, trotz möglicher Irrtümer. Im Blick auf die Frage der Lehrautorität, die in dieser Abhandlung gestellt wird, vertritt Küng die Auffassung, die Theorie, daß die Kirchenleiter die einzige Autorität für die Lehre seien, bedeute eine Limitierung. Wenn man diese Kirchenleiter zu den alleinigen Lehrern mache, so hätte das zur Folge, daß die Bischöfe die charismata (Gnadengaben) in einer „Hierokratie" der Hirten monopolisierten, was im Widerspruch zur neutestamentlichen Botschaft 89

stünde.86 Das Recht, die christliche Botschaft verbindlich zu verkündigen und zu erklären, sei nicht einer bestimmten Gruppe „reserviert", und die Theologen seien nicht bloße Delegierte des magisteriums, sondern hätten ihre eigene besondere Berufung.87 Er bestreitet nicht, daß das magisterium eingreifen solle, wenn die Kirche durch weitverbreitete Häresie bedroht ist, glaubt jedoch, daß dies die Ausnahme und nicht die Regel sein solle.88 Küngs Buch führte zu einer Debatte, in der alte Bündnisse zerbrachen und neue gebildet wurden. Es wurde deutlich, daß er nicht ein einzelner Andersdenkender war, sondern daß andere prominente Theologen einige seiner Überzeugungen teilten. 1971 jedoch beschloß die Heilige Kongregation für die Glaubenslehre, die Hauptthesen aus Küngs Buch „Unfehlbar?" zu untersuchen. Es ist aufschlußreich, daß die erste Frage, die die Kongregation stellte, sich auf den Absatz bezog, in dem Küng erklärt, daß die verbindliche Verkündigung und Erklärung der christlichen Botschaft nicht einer bestimmten Gruppe vorbehalten sei. Es wurde dabei auf Abschnitte in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils verwiesen, in denen es heißt, daß die verbindliche Erklärung des Wortes Gottes nur dem magisterium der Kirche anvertraut sei.89 Küng nahm seine Aussage nicht zurück, und so wurde ihm 1979 seine missio canonica oder sein Recht zu lehren entzogen. Die Reaktion unter den Theologen auf dieses Eingreifen Roms war äußerst heftig. Sie hatten geglaubt, daß derartige disziplinarische Maßnahmen ohne Rücksprache mit dem betroffenen Theologen der 90

vorkonziliaren Vergangenheit angehörten, und spekulierten jetzt darüber, ob wohl dieTage Pius' XII. wiederkehren würden. Die Frage nach dem Wesen des magisteriums und der Beziehung zwischen den Bischöfen und Theologen war inzwischen in vielen Teilen der Kirche zum Gegenstand von Studien und Kontroversen geworden. In der amerikanischen Zeitschrift „Theology Today" vom Oktober 1979 schrieb der römisch-katholische Theologe Bernard J. Cooke: „Die jüngsten Auseinandersetzungen über die Autorität in der katholischen Kirche haben sich auf die Lehrautorität und (sozusagen davon abgeleitet) die Sakramentsautorität konzentriert. Die Frage, um die es dabei geht, ist der Begriff des magisteriums: ob eine bestimmte Gruppe in der Kirche, in Sonderheit der Episkopat mit dem Papsttum als Zentrum, kraft ihrer offiziellen Stellung den Anspruch auf eine solche Fülle der Lehrautorität erheben kann, daß sie über jede andere Lehrausübung in der Kirche das Urteil sprechen kann." Ende 1977 begann die bischöfliche Kommission für Lehrfragen in den Vereinigten Staaten Tagungen zu veranstalten, auf denen Bischöfe und Theologen über das magisterium berieten. In einem 1980 veröffentlichten Bericht heißt es: „Es bestand Einstimmigkeit darüber, daß die Trennung zwischen Bischöfen und Theologen für die Kirche heute ein ernsthaftes Problem darstellt".90 Das einflußreichste Vorbereitungsdokument für die Kommission stammt aus der Feder des bekannten Theologen Avery Dulles und wurde in Zusammenfassung in den Bericht übernommen. Es heißt darin: „Die allgemein als katho91

lisch betrachteten Strukturen sind verhältnismäßig neu und spiegeln somit nicht Gottes unveränderlichen Willen für seine Kirche wider." Dulles fragte, „ob wir in unserer Zeit glaubwürdig den Bischof als den .obersten' Lehrer ansehen können" und „ob man den einzelnen Theologen oder zumindest den Theologen gemeinschaftlich die wahre Lehr- und Lehramtsautorität zuerkennen könne", ein Gedanke, der seines Erachtens in der Tradition wohlbegründet sei. In nachtridentinischer Zeit waren die zahlreichen Quellen der Lehrautorität, die im Neuen Testament und in der frühen Kirchengeschichte anerkannt worden waren, auf eine, die hierarchische Quelle, beschränkt worden, die dann wiederum nach und nach auf die alleinige Stimme des Papstes reduziert wurde. Im dritten Kapitel der „Konstitution über die Kirche" des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde die neue Lehre von der Kollegialität neben die Lehre vom monarchischen Papsttum des Ersten Vatikanischen Konzils gestellt, ohne die beiden Standpunkte wahrhaft miteinander auszusöhnen. Das Zweite Vatikanische Konzil bot durch seine geschickte Wiederbelebung des patristischen Modells der Repräsentation und des Konsensus ein hilfreiches Korrektiv zum Juridizismus und Papalismus der nachtridentinischen und neuscholastischen Zeit. Es bot jedoch kein neues oder in sich geschlossenes Modell des magisteriums und überliöß somit der nachkonziliaren Kirche die Aufgabe, sein Programm zu Ende zu führen. Die Differenziertheit des Problems und der Pluralismus der Anschauungen in der römisch-katholischen Theologie wird durch die Tatsache verdeutlicht, daß 92

es noch eine weitere, von allen beschriebenen Positionen unterschiedene Auffassung gab. Sie wurde von Yves Congar vertreten, der die Frage der Ekklesiologie gründlicher untersucht hat als Irgendein anderer Zeitgenosse. Er war zwar davon überzeugt, daß die vom Ersten Vatikanischen Konzil formulierte Lehre „Gegenstand einer Re-rezeption sein müssen wird, die man ebensogut eine Re-interpretation nennen könnte"91, doch glaubte er, daß Küng und diejenigen, die seine Ideen teilten, die traditionelle Lehre, daß Bischöfe Hirten und Lehrer sind, nicht ernst genug nähmen. Nach seiner Meinung war die Verbindung dieser beiden Funktionen in Gestalt der Bischöfe ein wichtiges Merkmal der Ekklesiologie.92 Die Einsetzung einer Internationalen Theologenkommission als ein ständiges Gremium, in dem Theologen ihre Anschauungen über die Hauptprobleme des kirchlichen Lebens äußern könnten, hat offensichtlich nicht zu einem echten Dialog zwischen ihnen und den offiziellen Leitern der Kirche geführt. Congar ist der Meinung, daß die von der Kommission vorgelegten Vorschläge keinerlei Einfluß auf das Leben der Kirche gehabt hätten und daß die römischen Behörden die Kommission nur herangezogen hätten, wenn es ihre eigene Position gestärkt hätte. Darüber hinaus sei bezeichnend, daß die Bischofssynode ohne theologische Berater tage. Vor einigen Jahren hat die Heilige Kongregation für die Glaubenslehre eine Untersuchung über die theologische Lehre von Edward Schillebeeckx eingeleitet. Aus Dokumenten, die 1980 in Zusammenhang mit dieser Untersuchung veröffentlicht wurden, geht 93

deutlich hervor, daß die römischen Behörden wenig Sympathie für die neuen Wege der Theologie haben. In einem „Gespräch", das in Wirklichkeit die Form einer Prüfung annahm, redeten die Vertreter der Heiligen Kongregation und Schillebeeckx aneinander vorbei. Schillebeeckx' Bücher entstanden aus einem pastoralen und apologetischen Anliegen heraus; es ging ihm erst einmal darum zu zeigen, daß der Glaube an Christus eine reale Grundlage in der Geschichte hat und dann darum, die Geschichte von Jesus so zu erzählen, daß der moderne Mensch innerhalb und außerhalb der Kirche sie verstehen kann. Sein Examinator jedoch wollte nur traditionelle Antworten in einer traditionellen Sprache hören. Ein amerikanischer Theologe behauptete kürzlich, ein neues Phänomen in der römisch-katholischen Kirche in seinem Land entdeckt zu haben: eine „loyale Opposition". Das gleiche könnte man von vielen Ländern sagen, wo Theologen eine solche „loyale Opposition" bilden. Karl Rahner kritisierte in einem scharfen Artikel mit dem Titel „Ich protestiere"93 den damaligen Erzbischof von München, Ratzinger, weil er sich geweigert hatte, der Berufung von Professor Metz an die Universität München zuzustimmen. Er wies darauf hin, daß die Amtsträger, wohl wissend, daß sie keinen Aufstand zu fürchten hätten, nur allzuoft die Loyalität der treuen Glieder ihrer Kirche unfair ausnutzten. Die Glieder der Kirchen sollten jedoch zumindest ihre Stimmen zum Protest erheben. Auf diese und andere Weise üben Theologen in der römisch-katholischen Kirche in zunehmendem Maße 94

die kritische Funktion der Theologie aus. Gerade weil sie der großen Tradition der Kirche gegenüber loyal sein wollen, stellen sie diese Fragen und reagieren auf jeden Versuch, diese große Tradition zu verdunkeln. Auf nationaler Ebene ist man bemüht, zwischen der Hierarchie und den Theologen Brücken zu bauen. In denVereinigten Staaten trafen sich 1980 Bischöfe und Theologen zu Gesprächen, die von der Bischöflichen Kommission für Lehrfragen organisiert worden waren; sie erklärten bei dieser Gelegenheit: „Um Schwierigkeiten zu überwinden, muß Zusammenarbeit die Basis der Beziehung sein. Bischöfe und Theologen müssen sich begegnen, einander kennenlernen und Ihr gemeinsames Bemühen um die Lösung gemeinsamer Probleme zum Ausdruck bringen." Wenn der Bischofsvikar von Paris, Msgr. Pézeril, als Vertreter des Büros für Lehrfragen der französischen römisch-katholischen Kirche die theologischen Fakultäten in Frankreich besuchte, pflegte er die Theologen aufzufordern, „non pas d'exister moins mais d'exister plus et mieux" (nicht weniger, sondern mehr und besser zu existieren), und sie zu bitten, dafür Sorge zu tragen, daß die von den Theologen geübte Selbstregulierung wirksam wird.94 Schon 1968 wiesen holländische Bischöfe in ihrer Antwort auf eine Anfrage von Kardinal Ottaviani auf diesen Prozeß der Selbstkorrektur in den theologischen Studien hin. Sie sagten: „Hätte das Lehramt mehr Vertrauen in die Theologen, so würden mögliche Übertreibungen im Zuge der freien Diskussion rascher verschwinden als durch das Aufstellen ganzer 95

Listen von Irrtümern.95 Als Schillebeeckx' Rechtgläubigkeit von Rom in Frage stellt wurde, sagte Kardinal Willebrands in einer öffentlichen Erklärung, daß er von der richtigen Einstellung Schillebeeckx' zur Kirche und von seinem Glauben überzeugt sei. In dieser Zeit gab es auch in den reformatorischen Kirchen eine Trennung zwischen Theologen und Kirchenleitungen; doch sie hatte andere Merkmale. In den meisten dieser Kirchen hatte es schon seit langem eine Vielfalt von theologischen Richtungen gegeben. Jetzt wurde diese Vielfältigkeit ausgeprägter und führte zu großen Verwirrungen. Die Zeit schien vorüber zu sein, wo hervorragende Theologen wie Barth und Niebuhr durch ihren internationalen Einfluß in der Lage gewesen waren, einen zumindest teilweisen Zusammenhalt zu schaffen. John Bennett, ein ehemaliger Präsident des Union Theological Seminary in New York, sagte 1979: „Es gärt zwar hier und da, aber es mangelt an theologischer Führung mehr als zu irgendeiner anderen Zeit meines Lebens."96 Die biblische Theologie, die mit ihrer Betonung der Einheit der Bibel in vielen Kirchen vorherrschend gewesen war und das Rückgrat der ökumenischen Bewegung gebildet hatte, wurde nun kritisiert; es hieß, sie sei viel mehr eine systematische Konstruktion als eine echte Interpretation des biblischen Befundes. Das Hauptinteresse der Theologen richtete sich jetzt darauf, die Vielfalt von Theologien im Neuen Testament aufzuzeigen und dadurch die Vielfalt der Theologie in der Geschichte der Kirche zu erklären. Darüber hinaus vermehren sich heute Tag für Tag die Spezialtheologien. Sie werden mit Begriffen wie „fe96

ministisch" oder „schwarz" beschrieben; sie erklären sich für ein bestimmtes Ziel wie „Befreiung" oder „Ökologie"; oder sie haben einen besonderen regionalen kulturellen Ansatz wie z.B. die „Dritte-WeltTheologie". Es besteht kein Zweifel daran, daß alle diese Anliegen theologisch interpretiert werden und ihren angemessenen Platz im Denken der Kirche erhalten müssen. Doch erstaunlicherweise scheint niemand an einer Theologie für die Kirche selbst zu arbeiten - nicht für die Kirche als einer auf sich selbst bezogenen Institution, sondern für die Una Sancta, die allen Völkern eine große zentrale Botschaft des Evangeliums verkündet. In der Theologie der sechziger und siebziger Jahre schien die Wiederentdeckung der Bedeutung der Kirche, die die vorangehende Generation gemacht hatte, ihre Kraft verloren zu haben. Das war teilweise auf den weitverbreiteten Anti-Institutionalismus dieser Zeit zurückzuführen, für den die Kirche zum verhaßten Establishment gehörte. Auch herrschte ein gewisses Gefühl der Frustration, das daher rührte, daß es den Kirchen nicht gelungen war, in angemessener Weise den ungeheuren Herausforderungen zu begegnen, die die chaotische Welt dieser Zeit an sie stellte. Gewiß, es gab einige Zeichen der Erneuerung, aber im allgemeinen schienen die Kirchen nicht erkannt zu haben, daß eine generelle Überprüfung ihrer Beziehungen zu der Gesellschaft, in der sie lebten, erforderlich war. Es gab nicht wenige Theologen, die überzeugt waren, daß die Theologie der vorangegangenen Generation zu sehr auf die Kirche ausgerichtet gewesen 97

war, und empfahlen eine „Theologie des Apostolats", in der die Kirche einfach als ein Werkzeug der von Gott gegebenen Sendung verstanden wurde. Der holländische Theologe Johannes Hoekendijk sagte, daß die Kirche nichts für sich beanspruchen könne, nicht einmal die Ekklesiologie. Er meinte, daß es der ökumenischen Bewegung nicht so sehr um die Einheit und Gemeinschaft der Kirchen gehen solle, sondern vielmehr um das gemeinsame Zeugnis vom Reiche Gottes.97 Andere entwickelten eine Vorstellung von der Kirche als bloßes Instrument im Kontext einer „horizontalen Theologie". Man glaubte, daß die Kirche sich mit den Angelegenheiten der Welt statt mit ihren eigenen Angelegenheiten befassen solle. Was von ihr verlangt wurde, war „Weltbezogenheit" statt „Kirchenbezogenheit". Die Kirche sollte eine „Kirche für andere" sein; und sie hätte keine Bedeutung, abgesehen von ihrer Aufgabe, der Welt Gerechtigkeit und Frieden zu bringen. In dieser Situation war es nicht erstaunlich, daß die Frage nach dem Wesen des magisteriums oder der Lehrautorität der Kirche neu durchdacht werden mußte. Einerseits ist es heute deutlicher denn je zuvor, daß die Kirche die Pflicht hat, über den Glauben, der ihr Existenzgrund ist, Rechenschaft abzulegen. Die Konflikte, in denen die Kirche in totalitären Situationen gerät, und die Herausforderung durch ein aggressives Neuheidentum zwingen alle Kirchen, den Kontext ihres Zeugnisses neu zu durchdenken. Eine Kirche, die sich weigert, eine bekennende Kirche zu sein, ist nicht mehr glaubwürdig. 98

Andererseits muß man sich fragen, anhand welcher Kriterien die Treue der Kirche gegenüber ihrem Zeugnis- und Bekenntnisauftrag zu beurteilen ist. In der Vergangenheit wurde sie nach ihrer Übereinstimmung mit den überlieferten Glaubensbekenntnissen und Glaubensaussagen beurteilt; doch viele Theologen sind jetzt zu der Überzeugung gekommen, daß das unangemessen ist. Dogmatische Aussagen werden in Begriffen formuliert, die notgedrungen durch ihren geschichtlichen Kontext bedingt sind. Darum können sie nie als endgültig betrachtet werden; sie brauchen vielmehr eine ständige Reinterpretation. Außerdem erfordert die Bewahrung des Glaubens sehr viel mehr als einfach nur die Bewahrung dogmatischer Reinheit. Orthopraxie oder adäquates Handeln ist im Leben der Kirche ebenso wichtig wie Orthodoxie oder Rechtgläubigkeit. Ein Satz aus meiner Ansprache auf der Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala 1968 hat zu meinem großen Erstaunen ein starkes positives Echo gefunden: „Es muß uns klar werden, daß die Kirchenglieder, die in der Praxis ihre Verantwortung für die Bedürfnisse irgendwo in der Welt leugnen, ebenso der Häresie schuldig sind wie die, welche die eine oder andere Glaubenswahrheit verwerfen."98 Die heutige Tendenz, die Orthopraxie zum Hauptoder zum alleinigen Kriterium zu machen, kann auch zu einer Form der Häresie führen. Doch es ist ein Gewinn und kein Verlust, wenn das, was die Kirche tut und wie sie lebt, ebenso ernsthaft beurteilt wird wie das, was sie sagt. 99

Im Blick auf die Frage, in welcher Weise das magisterium ausgeübt werden sollte, besteht heutzutage eine große Unsicherheit. Viele sind der Ansicht, daß die alten Methoden der Kontrolle Überbleibsel aus dem Konstantinischen Zeitalter sind, das man besser Zeitalter des Theodosius nennen sollte; denn erst unter der Herrschaft des Kaisers Theodosius I. (379-395) wurde Häresie zu einem Verbrechen erklärt, das gesetzlich geahndet werden konnte. In unserer gegenwärtigen Situation und bei unserem gegenwärtigen Verständnis vom Wesen der Kirche muß jede Aufsicht rein pastoralen Charakter haben. Außerdem kann diese Aufsicht und Kontrolle nicht in den Händen eines bestimmten Ordnungsgremiums in der Kirche liegen, denn die Kirche als ganze ist ihrem Herrn gegenüber verantwortlich, und jedes Glied der Kirche hat das Recht, an das Urteil der ganzen Kirche zu appellieren. Dieses wichtige Recht ist insbesondere ein Recht der Theologen. Selbst wenn irrige Meinungen einen gewissen zeitweiligen Erfolg haben, so werden doch Theologen, denen man die Freiheit läßt, ihren besonderen Auftrag zu erfüllen, in der Regel Übertreibungen oder Häresien, die unter ihnen entstehen, korrigieren. Theologische „Entgleisungen", wie der Vorschlag, das Alte Testament aus der Heiligen Schrift zu entfernen, oder die „Gott-isttot"-Theologie, sind dank einer von den Theologen geübten Selbstkontrolle praktisch von der Bildfläche verschwunden, ohne daß irgendeine andere Autorität hätte eingreifen müssen. Es wird jedoch deutlich werden, daß diejenigen, die für die Leitung in den Kirchen verantwortlich sind,

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sich in einer schwierigen Situation befinden. Einerseits besteht die dringende Notwendigkeit, den Gliedern der Kirche in dieser Zeit großer religiöser Verwirrung Wegweisung zu geben; andererseits ist die Schwierigkeit, in irgendeiner umstrittenen theologischen Frage eine feste Überzeugung zu äußern, so groß, daß es manchmal unmöglich erscheint.

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13. Autorität und Freiheit in den orthodoxen Kirchen Können die orthodoxen Kirchen des Ostens einen positiven Beitrag zur Lösung des Problems der Beziehung zwischen magistri und magisterium leisten? Zu Beginn dieses Jahrhunderts hätten westliche Theologen und andere Kirchenmänner diese Frage verneint. In seinem 1900 veröffentlichten Bestseller „Das Wesen des Christentums" erklärte der berühmte Kirchenhistoriker Adolf Harnack, daß die Orthodoxie des Ostens ein Anachronismus sei. Außerdem schrieb er 1913, daß die Ostkirchen das Christentum des 3. Jahrhunderts in versteinerter Form darstellten." Dieses Urteil zeigt, daß er sehr viel über die Vergangenheit und sehr wenig über die gegenwärtigen Verhältnisse der Orthodoxie wußte. In diesen dreizehn Jahren hatte sich, vor allem in Rußland, ein großes Interesse für die Frage der Bedeutung der Orthodoxie in der Kultur entwickelt. Philosophen, Schriftsteller und Geistliche, die starke Anregungen durch die Werke von Dostojewski und Solowjew erfahren hatten, trafen sich regelmäßig, um religiöse Probleme zu diskutieren. Als die atheistische Ideologie ihren Angriff auf die Kirche begann, wurde deutlich, daß das Christentum in Rußland kein bloßes Fossil war. „Eine Kirche, die viele Tausende von Blutzeugen stellt, kann nicht so erstarrt und erstorben sein, wie man ihr nachgesagt hatte." 100 1920 unternahm der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel den beispiellosen Schritt allen anderen Kirchen 102

die Bildung eines weltweiten Kirchenbundes (Koinonia ton ekklesion) vorzuschlagen. Es gibt meines Erachtens drei Gründe dafür, daß die orthodoxen Kirchen mißverstanden worden sind. Erstens war es einfach ein Mangel an Kontakten oder zumindest an der richtigen Art von Kontakten. Bittere Erinnerungen waren noch lebendig an den Kampf, in dem die Deutschordensritter den Fürsten von Nowgorod, den Heiligen Alexander Newski, angegriffen hatten, und an den Vierten Kreuzzug, in dem lateinische Christen den Orthodoxen Konstantinopel entrissen hatten. Die Bitterkeit wurde noch verstärkt durch Proselytismuskampagnen sowohl seitens der römischen Katholiken als auch der Protestanten. Selbst die Bemühungen um eine Wiedervereinigung schienen mehr Unheil als Heil angerichtet zu haben. Das Konzil von Florenz, das im 15. Jahrhundert zu diesem Zweck einberufen worden war, löste eine starke anti-römische Reaktion im Osten aus; und eine Annäherung zwischen dem Patriarchen von Konstantinopel Cyrillus Lucaris und der evangelischen Kirche im 17. Jahrhundert stieß bei den Orthodoxen auf großes Mißtrauen. Der zweite Grund dafür, daß die Ostkirche im Westen mißverstanden worden ist, liegt darin, daß sie kaum Gelegenheit gehabt hatte, ihren wahren Geist zu offenbaren. Es gab lange Perioden in ihrer Geschichte, in denen sie von nichtchristlichen oder antichristlichen Regierungen unterdrückt wurde. Selbst als die russische Regierung christlich war, wurde die offizielle Theorie der „Symphonie" zwischen Kirche und Staat so praktiziert, daß die Regierung die 103

Hauptrolle und die Kirche nur eine untergeordnete Rolle spielte. Der berühmte Oberprokuror Pobedonoscev, der in den letzten Jahren des zaristischen Regimes praktisch ein Diktator in der Russischen Orthodoxen Kirche war, brachte dieses autoritäre System zu solcher Vollendung, daß die Kirche zu einem Hauptpfeiler der absoluten Monarchie wurde. Doch es gibt noch einen dritten Grund für dieses Mißverständnis, von dem hier die Rede ist. Es ist das Widerstreben der orthodoxen Kirche, sich selbst zu definieren. Florovsky schrieb: „Das eigentliche Wesen der Kirche kann eher geschildert und beschrieben als richtig definiert werden."101 Und Bulgakow sagte: „Kommt und seht! Man kann die Kirche nur durch Erfahrung, durch Gnade und Teilhabe an ihrem Leben kennenlernen."102 Congar ist der Meinung, daß der Genius der Orthodoxie nicht nur darin besteht, daß sie nicht die Notwendigkeit empfindet zu definieren, sondern daß sie es für notwendig hält, nicht zu definieren.103 Von orthodoxen Christen wird „Orthodoxie" vornehmlich von der Doxologie, vom wahren Gottesdienst her verstanden und nicht als ein starres System dogmatischer Formulierungen. Außerdem gibt es nur eine begrenzte Anzahl von dogmatischen Formulierungen, die endgültige Verbindlichkeit haben; weil ein Dogma nur von einem ökumenischen Konzil formuliert werden kann und dann von der ganzen Kirche anerkannt und angenommen werden muß. Seit dem 8. Jahrhundert hat aber kein solches Konzil stattgefunden. Es ist klar, daß in einem solchen Kontext die Beziehungen zwischen Theologen und Lehrautorität in der 104

Ostkirche sich notgedrungen von denen in den westlichen Kirchen unterscheiden. Der orthodoxe Theologe hat erhebliche Freiheit in seinem theologischen Denken. Evdokimoff betrachtet das Prinzip „in dubiis libertas", das ein Minimum an Dogma und keinerlei Beschränkung der theologischen Meinung beinhaltet, als die goldene Regel der Orthodoxie.104 Alle theologischen Aussagen, die nicht von der ganzen Kirche angenommen worden sind, sind Theologoumena. Androutsos bemerkt in seiner „Dogmatics of the Eastern Church"105, daß der orthodoxe Theologe eine besonders wichtige Rolle spielt. Ein römischkatholischer Theologe muß die festgelegten dogmatischen Formulierungen des Tridentinums und des Vatikanischen Konzils ebenso wie päpstliche Erklärungen berücksichtigen, während der orthodoxe Theologe die Freiheit hat, dieTheologoumena zu formulieren und zu klassifizieren. Als der Patriarch von Moskau 1935 erklärte, daß Bulgakows sophiologische Theologie mit der orthodoxen Lehre unvereinbar sei, antwortete der Theologe, daß eine solche Verurteilung nicht dem Geist der Ostkirche entspräche. Die Orthodoxie hat immer das Vorhandensein verschiedener theologischer Schulen und Meinungen akzeptiert und ist der Auffassung, daß es ohne Freiheit des theologischen Denkens innerhalb der Grenzen des Dogmas der Kirche keine lebendige Theologie geben könne.106 Doch diese „augenscheinliche Unordnung der Orthodoxie, die so weit geht, daß sie den Eindruck von Anarchie erweckt", wie Evdokimoff schreibt,107 ist keine Form des Individualismus, sondern das Gegenteil. „Die praktische Folge der ,Nebu105

losität', mit der die Tradition in der Orthodoxie beschrieben wird, ist ein tiefes Empfinden dafür, daß die gesamte Kirche - und nicht nur die „Autoritäten", welche es auch immer sein mögen, Patriarchen oder Konzilien - für die Tradition verantwortlich ist."108 Diese Überzeugung kommt in der oft zitierten Erklärung der orthodoxen Patriarchen zum Ausdruck, die auf eine Enzyklika Pius' IX. antwortet; es heißt darin: „Bei uns können Neuheiten nicht durch Patriarchen oder Konzilien eingeführt werden; denn Hüter der Religion ist der ganze Leib der Kirche, d.h. die Menschen, die ihren Glauben unverändert bewahren wollen." Diese Erklärung ist aus den folgenden Formulierungen von Johannes M. Karmiris erwachsen: „Gemeint ist das Bewußtsein des Klerus und des Laienvolkes im Ganzen, denn Geistliche und Laien, Befehlende und Gehorchende, Herren und Knechte, Männer und Frauen sind Glieder des Leibes Christi und ergeben zusammen das Pleroma, das Ganze, den Leib der Kirche, welcher in der Orthodoxie allein als unfehlbar gedacht wird."109 In der russischen Theologie ist dieses Verständnis vom Wesen der Kirche unter dem Begriff Sobornost bekannt. Am vollsten entfaltet hat diesen Gedanken der prophetische Laie A. St. Chomjakow, der darin die Lehre sah, die die Orthodoxie ganz besonders sowohl vom römischen Katholizismus als auch vom Protestantismus unterscheidet. Obwohl Chomjakows Ideen kritisiert worden sind, haben sie einen tiefgreifenden Einfluß auf die russische Theologie ausgeübt. Stefan Zankov faßt die Sobornost-Ekklesiologie mit den Worten zusammen: eine innere allumfassende Einheit, eine 106

.Symphonie' im Glauben und Leben, nach innen und nach außen, eine harmonische Vielheit in der Einheit, in welcher die Kirche weder Kirche enaomv (nach dem Verstehen eines jeden einzelnen), weder Kirche «cmi TOV eirloKonov r/Jtr'Pcü/ir/c (nach dem Verstehen des römischen Bischofs), sondern Kirche Ka&'öXov d.h. eben .katholisch': nach dem Glauben aller in ihrer Einheit ist."110 Chomjakow behauptete, daß Sobornost nur in der Orthodoxie des Ostens zu finden sei, und verurteilte den römischen Katholizismus und den Protestantismus, weil sie dieses Kirchenverständnis aufgegeben hätten. Berdjajew jedoch betrachtete trotz seiner großen Bewunderung für Chomjakow diese scharfe polemische Haltung den anderen Konfessionen gegenüber als einen schwerwiegenden Irrtum.111 Die Wahrheit, die die Sobornost-Ekklesiologie zum Ausdruck bringen will, hat in allen Kirchen Verfechter gefunden, denn es ist die Wahrheit, die in der Koinonia des Neues Testaments enthalten ist, der Gemeinschaft, in der es keine äußere oder aufgezwungene Autorität und kein Machtmonopol gibt, sondern ein ständiges Miteinanderleben, -teilen und -bezeugen, wie Paulus es in dem Bild des Leibes mit seinen verschiedenen Gliedern beschreibt. Die orthodoxen Theologen haben den anderen Kirchen einen großen Dienst dadurch erwiesen, daß sie bestritten haben, daß jede Kirche sich zwischen Autorität und Freiheit entscheiden müsse. In Berufung auf 2Kor 3,17: „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit", sagt Bulgakow, daß das Sobornost-Prinzip die Funktion eines Korrektivs habe.112 Es kann ein 107

Korrektiv sein für einen autoritären Typ von magisterium, das nur darauf bedacht ist, den institutionellen Zusammenhang zu bewahren. Es kann ebenso ein Korrektiv sein für den Egozentrismus, der in unserer Zeit die Auflösung aller Kirchen herbeizuführen droht und den man zu Recht als „Do-it-yourself"-Religion bezeichnet hat. Es besteht ein dringendes Bedürfnis nach Theologen, die ihre Aufgabe in voller Freiheit ausüben, sich aber zugleich zutiefst in der Una Sancta verwurzelt und von ihr genährt wissen.

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14. Magistri und magisterium im ökumenischen Dialog Der ökumenische Dialog hat gezeigt, daß die Probleme der Ekklesiologie die schwierigsten Probleme sind, die es auf dem Weg zur Einheit zu lösen gilt, und daß wiederum die schwierigste Frage innerhalb der Ekklesiologie die Frage nach dem Wesen des magisteriums ist sowie die Frage, w e m der Auftrag und die Vollmacht gegeben ist, das magisterium auszuüben. Papst Paul VI. hat dieses Problem 1964 in der Enzyklika „Ecclesiam suam" angesprochen. Er sagte, daß er betrübt sei bei dem Gedanken, daß er selbst, der er doch die Versöhnung der getrennten Kirchen suche, aufgrund des päpstlichen Primats als ein Hindernis für diese Versöhnung betrachtet werde. Er machte jedoch geltend, daß die katholische Kirche ohne den Papst nicht mehr sie selbst sei und daß die Einheit ohne das höchste und entscheidende pastorale Amt des Petrus in der Kirche verloren ginge. Das eigentliche Problem ist nicht, ob ein pastorales Amt petrinischen Charakters wünschenswert oder notwendig ist. Das wirkliche Problem ist das Papsttum in seiner heutigen Gestalt. Mit allem Respekt vor dem Appell des Papstes muß man doch sagen, daß die Diskussionen über die Frage des Papsttums unweigerlich kontrovers sein werden. Frantz Leenhardt nennt dies „den harten Kern des Problems der Einheit" und fügt dann ein Zitat von G. Desaifve hinzu, der es vom katholischen Standpunkt aus „das Problem Nummer 1 des Ökumenismus" nennt. 113 109

Yves Congar schrieb dazu: „Die Einheit scheint unmöglich zu sein mit einem Papsttum, so wie die Geschichte es gemacht hat."114 Die entscheidende Entwicklung in dieser Geschichte war in der Tat die dogmatische und juridische Entfaltung des päpstlichen Verständnisses vom päpstlichen Amt, das in den Augen der römisch-katholischen Kirche von bleibender Gültigkeit ist. In den Definitionen des Ersten Vatikanischen Konzils, die durch die des Zweiten Vatikanischen Konzils vervollständigt wurden, und insbesondere in der Einleitung zur Dogmatischen Konstitution über die Kirche (Lumen gentium) wird die allgemeine Jurisdiktion des Papstes und sein höchstes magisterium so beschrieben, daß der Papst seine Vollmacht jederzeit nach Gutdünken ausüben kann, „wie es von seinem Amt her gefordert wird". Wohl hat das Zweite Vatikanische Konzil auch die Kollegialität des Papstes mit den Bischöfen unterstrichen, doch der Papst wurde immer noch als der eine und alleinige Schiedsrichter betrachtet. Meines Erachtens kann keine andere Kirche dieses Verständis des magisteriums akzeptieren; denn das hieße, ein wesentliches Element der Lehre der Kirche aufgeben, die sie ihren Gliedern durch ihre ganze Geschichte hindurch verkündigt hat. Es wäre sicher möglich, ein Verständnis des Papsttums und seines Lehramtes zu entwickeln, das von vielen verschiedenen Kirchen akzeptiert werden könnte, und das ist auch auf einer Reihe von ökumenischen Konferenzen und in bilateralen Gesprächen geschehen. Die verschiedenen Vorschläge, die in dieser Richtung gemacht worden sind, haben einen Gedanken ge110

meinsam, nämlich daß die 1870 gefällte Entscheidung über die allgemeine Jurisdiktion des Papstes „re-rezipiert" oder „re-interpretiert" werden sollte, so daß sie für andere Kirchen annehmbar wird. Das würde beinhalten, daß die dogmatische Definition der allgemeinen Jurisdiktion des Papstes nicht auf die Kirchen anwendbar wäre, die sich mit der römisch-katholischen Kirche vereinigen. Es ist jedoch nicht einfach, sich vorzustellen, wie ein magisterium aussehen würde, das grundsätzlich die universale Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen, aber nicht darauf bestehen würde, daß die mit ihm vereinigten Kirchen diese Universalität anerkennen. Es gibt jedenfalls keinerlei Anzeichen dafür, daß der Vatikan bereit wäre, eine so weitreichende Revision seiner Position ins Auge zu fassen. Die „Bemerkungen" der Kongregation für die Glaubenslehre zum 1982 veröffentlichten Bericht der Internationalen Anglikanisch/ Römisch-katholischen Kommission weisen in der Tat in die entgegengesetzte Richtung. Obwohl die Kommission ein ganzes Stück Wegs auf eine Annahme des Papstprimats hin gegangen war, kam die Kongregation zu der Auffassung, daß keine wesentliche Übereinstimmung erzielt worden sei, da die Kommission die Definitionen des Ersten und Zweiten Vatikanischen Konzils nicht voll und ganz und ohne Einschränkungen angenommen hätte. Es ist darum nicht erstaunlich, daß in den Kirchen, die mit Rom im Gespräch stehen, die Frage gestellt worden ist, ob ein Dialog, in dem einer der beiden Partner vom anderen einfach die Unterwerfung unter seine Position verlangt, überhaupt einen Sinn hat. 111

Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß dieses Problem auch noch eine andere Seite hat. Das ist dieTatsache, daß das Fehlen oder die unzulängliche Ausübung des magisteriums ebenso ein ernsthaftes Hindernis auf dem Wege zur Einheit der Kirche ist. Im Zusammenhang mit den bilateralen Gesprächen zwischen der römisch-katholischen Kirche und den anderen Kirchen hat Kardinal Willebrands die Frage gestellt, ob es in den zahlreichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die keine hierarchische Struktur wie Rom haben, eine offizielle Autorität gäbe, die für den Glauben und das Leben ihrer Glieder wahrhaft verbindliche Entscheidungen treffen könne.115 Im Bericht über die Gespräche zwischen der römischkatholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund, dem sogenannten Malta-Bericht von 1971, heißt es, daß eine besondere Schwierigkeit darin gelegen habe, daß es für die Lutheraner nach den Bekenntnissen des 16. Jahrhunderts keine weiteren verbindlichen Glaubensaussagen mehr gäbe, auf die sie zurückgreifen könnten; und andere Kirchen stünden vor dem gleichen Problem. Die Konfessionellen Weltbünde oder Weltweiten kirchlichen Gemeinschaften haben nicht den erforderlichen ekklesialen Status, um mit der Vollmacht eines magisteriums sprechen zu können. Darum müssen kirchliche Gemeinschaften, die mit der römisch-katholischen Kirche oder untereinander im Gespräch stehen, sich darüber im klaren sein, wie sie eine Konzeption des magisteriums entwickeln können, die es ihnen ermöglicht, in aller Deutlichkeit auszusagen, was sie heute glauben, ohne ihren traditionellen Standpunkt von der Verant112

wortung der Gesamtkirche für den Glauben ihrer Glieder und von der Freiheit, die den Theologen zu gewähren ist, aufzugeben. Es erscheint auch wünschenswert, sogar unvermeidlich, daß die Rolle der Theologen in der Kirche, insbesondere die Frage nach ihrer Freiheit, von den Kirchen diskutiert wird. Yves Congar hat darauf hingewiesen, daß die kürzlich gegen Theologen in der römisch-katholischen Kirche ergriffenen Maßnahmen dazu beigetragen hätten, unter Protestanten die latenten Ängste und Vorbehalte hinsichtlich der Beziehungen zu Rom neu zu beleben.116 Als Hans Küng seine Lehrerlaubnis entzogen wurde, waren viele protestantische Theologen äußerst besorgt über diesen Eingriff in die theologische Freiheit und die Art und Weise, in der er vorgenommen wurde. Sie hatten recht, weil sie in zweifacher Hinsicht den Eindruck hatten, „nostra res agitur" - es geht um unsere Sache. Es betraf sie erstens, weil die von Küng behandelten und in Rom verurteilten Themen auf der ökumenischen Tagesordnung an oberster Stelle standen. Und sie waren zweitens betroffen, weil sie nicht umhin konnten, sich zu fragen, was mit ihnen geschehen würde, wenn ihre Kirche sich mit Rom vereinigen sollte, Peder Hajen ging so weit zu behaupten, daß die reformatorischen Kirchen im Lichte der Entscheidung Roms alle Träume einer möglichen Reform des Papsttums aufgeben würden, Jürgen Moltmann äußerte sich im gleichen Sinne.117 Darum ist es dringend notwendig, diese Frage in bilateralen Gesprächen gründlich zu behandeln. 113

Was bislang über die ökumenischen Aspekte unseres Problems gesagt worden ist, wirkt nicht gerade ermutigend. Es scheint nicht viel Hoffnung auf einen Durchbruch zu geben, der im Blick auf die Einheit der Kirche konkrete Ergebnisse erbringt. Glücklicherweise ist dies jedoch nicht die ganze Geschichte. Die Beziehungen zwischen Christen unterschiedlicher Konfessionen sind nicht die gleichen geblieben, sondern haben sich stärker gewandelt, als irgend jemand es zu Beginn der ökumenischen Ära hätte erwarten können. Das eindrucksvollste Beispiel für diesen weitreichenden Wandel ist die Zusammenarbeit, die sich im Bereich des Studiums und des Gebrauchs der Bibel entwickelt hat. 1925, im Jahr der ersten Weltkonferenz der Kirchen in Stockholm, schrieb der deutsche Neutestamentier Adolf Jülicher einen Artikel, in dem er den Gedanken, daß die Bibel als ein Bindeglied zwischen den Kirchen wirken könne, als eine Illusion hinstellte: „Wie kann die Bibel zum Einheitsband befähigt sein, wenn alle Christen doch gerade ihr zuliebe - freilich immer auf Grund abweichender Auslegung der Worte - glauben, einander die Christlichkeit bestreiten zu müssen?"118 Er betonte vor allem, daß ein tiefgreifender Unterschied bestünde zwischen der römisch-katholischen Einstellung zur Bibel, bei der die liturgische Verehrung der Heiligen Schrift sich mit einer strengen Kontrolle ihrer Auslegung und Verbreitung verbindet, und dem protestantischen Wunsch, die Heilige Schrift in die Hand aller Männer und Frauen zu legen, damit sie unmittelbar dem Wort Gottes begegnen können. Adolf Jülicher gab am Ende zu, daß einige christliche 114

Gruppen durch gemeinsame Bibelarbeit einander nähergebracht werden könnten, obwohl erzurZeit kein Zeichen einer solchen Entwicklung sähe. 1967 beteiligten sich zweitausend Menschen an einer Veranstaltung in der Sorbonne unter dem Vorsitz von Kardinal Martin, Metropolit Meletios und Pastor Boegner, den Oberhäuptern der römisch-katholischen, der orthodoxen und der protestantischen Kirche in Frankreich. Sie waren zusammengekommen, um die Veröffentlichung des ersten Buches der „Traduction Oecuménique de la Bible" zu feiern. Diese ökumenische Übersetzung - das Neue Testament wurde 1972 und das Alte 1975 abgeschlossen - ist in mancherlei Hinsicht einzigartig. Die Übersetzung jedes einzelnen Buches wurde von Theologen der verschiedenen Kirchen gemeinsam geleistet, und, was noch wichtiger ist, die Übersetzung ist von umfangreichen Anmerkungen begleitet, die nicht nur technischer Natur sind, sondern auch eine fundierte Exegese des Textes bringen. Nur an wenigen Stellen wird auf die unterschiedliche Auslegung bestimmter Texte durch die verschiedenen Kirchen hingewiesen. Die große Entdeckung, die gemacht wurde - so die Übersetzer im Vorwort zum Neuen Testament - ist die, daß es möglich war, eine gemeinsame Übersetzung mit technischen und exegetischen Anmerkungen vorzulegen, und zwar ohne die Spaltung und die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Konfessionen, die manche Leute vorausgesagt und viele befürchtet hatten. Was war geschehen? Eine neue Situation war entstanden durch zwei starke Strömungen im Leben der 115

Kirchen. Die erste war die Bewegung zur biblischen Erneuerung, die Suzanne de Dietrich in ihrem Buch „Die Wiederentdeckung der Bibel" beschreibt. Schon 1934 konnte ich in einem Leitartikel in „The Student World" die Beobachtung machen, daß die Bibel zu einem Ort der Begegnung für Glieder verschiedener Kirchen wurde. Die Hinwendung zur Bibel war eine starke Antriebskraft für die junge ökumenische Bewegung. In der römisch-katholischen Kirche verhielt man sich der biblischen Erneuerung gegenüber zunächst sehr zurückhaltend. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil jedoch wurde zum großen Erstaunen selbst der römisch-katholischen Bischöfe und Theologen festgestellt, daß diese Erneuerung sich in unerwartetem Maße verbreitet und vertieft hatte. So räumte das Konzil der Bibel in seinen Beratungen einen Platz ein, den sie auf dem Konzil von Trient und dem Ersten Vatikanischen Konzil nicht eingenommen hatte. 1967 sagte Karl Barth, der ein strenger Kritiker der römisch-katholischen Einstellung zur Bibel war, im Blick auf die Konstitution „Dei Verbum", daß sie ein vorwärtsblickendes Dokument sei und daß sie in ihrer Haupttendenz auf die Vorherrschaft der Heiligen Schrift, wenn auch nicht auf ihre Alleinherrschaft, ausgerichtet sei.119 Die zweite starke Strömung, die entscheidend zu dem großen Wandel beigetragen hat, war natürlich die ökumenische Bewegung selbst. Ihr Hauptziel war es nicht nur, die Kirchen angesichts der Gefahren und Möglichkeiten des neuen Zeitalters zur Zusammenarbeit zu bewegen. Ihr Hauptanliegen war es, 116

sichtbar zu machen, daß die Kirche Christi wesentlich ein einiger, vereinter Leib ist. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde deutlich, daß die römischkatholische Kirche sich entschlossen hatte, sich aktiv an der Bewegung zu beteiligen, die unter den anderen Kirchen entstanden war. Die Verbindung dieser beiden Strömungen, biblische Erneuerung und ökumenische Bewegung, mußte notgedrungen weitreichende Konsequenzen haben. Wir müssen uns in Erinnerung rufen, daß das Hauptanliegen der reformatorischen Kirchen immer darin bestanden hat, den Menschen die Bibel zu bringen und die Menschen zur Bibel zu führen, während es der römisch-katholischen Kirche immer vornehmlich darum ging, die Einheit der Kirche in Raum und Zeit zu bewahren. Wenn wir heutzutage feststellen, daß die nichtrömischen Kirchen im Bemühen um die Einheit der Kirche aktiv geworden sind und daß die römisch-katholische Kirche begonnen hat, der Heiligen Schrift in ihrer Lehre und pastoralen Arbeit einen zentralen Platz einzuräumen, müssen wir zu dem Schluß kommen, daß das Zusammenkommen, die Wechselwirkung und die gegenseitige Befruchtung dieser beiden Bewegungen der wichtigste Faktor in der Kirchengeschiche des 20. Jahrhunderts ist. Das bedeutet nicht nur, daß der Kontext des magisteriums sich verändert hat. Es bedeutet, daß die Rolle des magisteriums nicht mehr die gleiche ist. In der römisch-katholischen Kirche hat die Dynamik und Eigengesetzlichkeit der „Bewegung zur Bibel hin" zu einer Situation geführt, in der die Praxis sehr viel weiter geht als die Theorie. Schon 1967 hat Os117

car Cullmann festgestellt, daß das Zweite Vatikanische Konzil sehr viel stärker unter dem Einfluß der Bibel gestanden hat, als die offizielle römisch-katholische Position in dieser Frage vermuten ließ.120 Die Rechtsposition der römischen Kirche war immer noch, daß „die Aufgabe, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären, nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut" ist.121 Tatsache war jedoch, daß französisch sprechende Christen, denen vielleicht bald andere folgen werden, jetzt im Besitz einer Übersetzung der Heiligen Schrift waren, mit allen nötigen Anmerkungen zur Auslegung, die von Theologen verschiedener Kirchen gemeinsam erarbeitet worden war. Es stimmt, daß dem Leser an einigen Stellen alternative Versionen angeboten werden; doch eine Reihe von Texten, die früher zu Kontroversen Anlaß gegeben hatten, haben jetzt eine Interpretation erfahren, die von allen mitarbeitenden Kirchen getragen wird. Das erweckt den Eindruck, daß Christen verschiedener Konfessionen heute ein gemeinsames Verständnis der Heiligen Schrift haben. Im Vorwort zur „Traduction Oecuménique de la Bible" heißt es, daß die Verantwortung für die Übersetzung und Auslegung von denen übernommen wird, die an der Erarbeitung dieses Buches beteiligt waren. Dazu gehören mehrere Kardinäle und Bischöfe, protestantische Kirchenführer und die meisten der führenden Bibelwissenschaftler beider Konfessionen. Da keine kirchliche Autorität irgendeinen Einwand gegen die von der ökumenischen Übersetzung vorgelegte Interpretation erhoben hat, kann man sie zumindest als offi118

ziös, ja sogar als nicht weit von offiziell entfernt betrachten. Die meisten Leser, die sich dankbar dieser Ausgabe der Bibel bedienen, werden sie zweifellos als ihre Hauptlehrautorität ansehen, denn sie ist der Kanal, durch den das Wort Gottes sie anspricht. Und selbst wenn es keine endgültig irrtumsfreie Interpretation ist, so ist es doch die zuverlässigste, die sie erreicht hat. Es mag eine Schwäche sein, daß sie nicht die volle kirchliche Sanktionierung erfahren hat, doch ihre Stärke liegt darin, daß sie die Einsichten des ganzen Volkes Gottes mit sich bringt und somit aus ihr das erwächst, was man faktisch als magisterium bezeichnen könnte. Faktisch ist hier nicht als illegal zu verstehen. Es sind die Kirchen selbst, die in dieser Form für einen erheblichen Teil des magisteriums sorgen. Das gilt insbesondere für die vielen Berichte über bilaterale Gespräche zwischen der römisch-katholischen Kirche und anderen Kirchen, die die Ergebnisse der Studien und Gespräche von Theologen enthalten, die offiziell von Kirchen oder Kirchenbünden damit beauftragt worden sind. Keiner dieser Berichte ist bislang von den betroffenen Kirchen angenommen worden, doch sie haben inzwischen eine gewisse Autorität erlangt. Kardinal Willebrands ist der Auffassung, daß sie einen beträchtlichen Einfluß auf das theologische Denken und auf das Leben der Kirchen haben.122 Das gleiche kann auch von dem Studiendokument über „Gemeinsames Zeugnis" gesagt werden. Er wurde auf Ersuchen der Gemeinsamen Arbeitsgruppe der römisch-katholischen Kirche und des 119

ökumenischen Rates der Kirchen erarbeitet und unter der gemeinsamen Verantwortung des römischkatholischen Sekretariats für die Förderung der Einheit der Christen und der Kommission für Weltmission und Evangelisation des Ökumenischen Rates der Kirchen veröffentlicht. In diesem Zusammenhang ist die Rolle, die die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung gespielt hat, von großer Bedeutung. Auf ihrer Sitzung 1982 in Lima hat die Kommission ihren Bericht über „Taufe, Eucharistie und Amt" fertiggestellt. Dieser Bericht war das Ergebnis eines langen Prozesses der Diskussion unter Theologen der wichtigsten Konfessionsfamilien. Dieses Dokument liegt jetzt den Kirchen zur Stellungnahme vor; es könnte ein neues Kapitel in den ökumenischen Beziehungen eröffnen, und das verleiht ihm ein erhebliches Gewicht. Eine Initiative weniger offizieller Art, die jedoch von der zuständigen bischöflichen Autorität der römischkatholischen Kirche gebilligt worden ist, ist die gewichtige von J. Feiner und L. Vischer herausgegebene Veröffentlichung „Neues Glaubensbuch. Der gemeinsame christliche Glaube". In diesem Buch haben 35 römisch-katholische und evangelische Theologen den christlichen Glauben so interpretiert, daß deutlich wird, welches die gemeinsamen Überzeugungen sind, und zugleich in aller Ehrlichkeit die Unterschiede aufgezeigt werden. Die Theologen sind zu dem Schluß gekommen, daß „die Aussagen, die gemeinsam gemacht werden können, quantitativ und qualitativ gewichtiger sind als die unüberwundenen Gegensätze".123 120

Erwähnt werden sollten auch die Pionierarbeit der „Groupe des Dombes" in Frankreich und das Memorandum über das Amt, das von drei römisch-katholischen und drei protestantischen ökumenischen Instituten an deutschen Universitäten erarbeitet worden ist. Auch die Arbeit dieser Gruppen ist von entscheidender Bedeutung für die Suche nach Einheit. Wir wissen noch nicht, ob man diese vorausschauenden Gedanken und Aussagen als die Erstlinge dessen betrachten kann, was später vielleicht einmal ein voll anerkanntes Lehramt - ein von allen Kirchen anerkanntes magisterium sein wird. Wir hoffen zumindest, daß die Kirchenleitungen in nächster Zukunft konkrete Schritte auf dem Wege zur Einheit der Kirche unternehmen. Wenn dies nicht geschieht, dann wird die gegenwärtige Unsicherheit im Blick auf die Beziehung zwischen der rechtlichen Lehrautorität und der tatsächlichen Autorität in der Ökumene noch zunehmen, und dann besteht die Möglichkeit, daß viele ihre Loyalität gegenüber der ersten auf die zweite verlagern. In einer solchen Zeit ist die Aufgabe der Theologen ganz besonders schwierig. Sie sind aufgefordert, an der Formulierung von Berichten oder Erklärungen mitzuarbeiten, die die größtmögliche Übereinstimmung zum Ausdruck bringen, die zwischen ihrer Kirche und anderen Kirchen erreicht werden kann. Diese Aufgabe kann jedoch nur erfolgreich erfüllt werden, wenn sie nicht nur ihre eigenen überlieferten Positionen wieder vorbringen, sondern eine gemeinsame Basis suchen und eine gemeinsame Sprache finden. Yves Congar hat dazu gesagt, daß ein solcher Konsensus nicht einfach aus Wieder121

holungen der offziellen Lehraussagen der betreffenden Kirchen bestehen könne; denn wenn solche Wiederholungen sich voll und ganz deckten, dann wären die Einheit des Glaubens und die Vereinigung (der Kirchen) schon erreicht.124 Und bis es so weit ist, sind die Erklärungen von Theologen Schritte auf dem Wege zu einem vollen Konsensus, der die Erkenntnisse der verschiedenen Kirchen miteinbezieht. Die Theologen können, sie müssen sogar das Risiko auf sich nehmen, die Möglichkeit neuer Formulierungen zu erforschen, die eine Synthese der überlieferten Formulierungen sein könnten. Im Lichte dieser Gedanken kann man verstehen, warum die Heilige Kongregation für die Glaubenslehre mit ihren „Bemerkungen" zum Bericht der Internationalen Anglikanisch/ Römisch-katholischen Kommission solches Erstaunen und Erschrecken hervorgerufen hat. (s. S. 111). Die ökumenische Bewegung braucht Theologen, die sich als Radfinder bewähren. Wir dürfen nicht vergessen, daß sie nie ins Leben gerufen worden wäre, wenn nicht solche Pfadfinder auf den Plan getreten wären, um mit Mut und Phantasie neue Wege zu erforschen und gemeinsam eine ökumenische Reise anzutreten. Einige dieser Pioniere wurden zunächst als gefährlich, unorthodox und nicht ganz zuverlässig betrachtet. Jahre später waren sie die einflußreichsten Experten auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Wegbereiter sind unerläßlich, denn es kann keinen Fortschritt auf die Einheit zu geben, wenn nicht neue Wege des gemeinsamen Bekennens unseres Glaubens erforscht werden. 122

Wegbereiter müssen sich jedoch darüber im klaren sein, daß sie nicht für sich selbst, sondern für die gemeinsame Sache arbeiten. Ihr Interesse an der Technik, mit deren Hilfe man einen Lehrkonsensus erarbeitet, darf nicht so groß sein, daß sie darüber vergessen, sich zu fragen, ob ein solcher Konsens auch von den betroffenen Kirchen verstanden und aufrichtigen Herzens angenommen werden kann. Mehrere Versuche einer Kirchenunion sind fehlgeschlagen, weil die Verhandlungspartner das Problem der Spaltung wie ein Puzzle betrachteten, das durch geschickte intellektuelle Unterscheidungen und Neudefinitionen, die für die gewöhnlichen Gemeindeglieder wenig Sinn hatten, gelöst werden könne. Die Männer und Frauen in allen Kirchen, die für das ökumenische Erwachen unserer Zeit empfänglich waren, sehen in ihrer eigenen Kirche keine selbstgenügsame Gemeinschaft mehr, die mit anderen ebenfalls selbstbezogenen Kirchen in Konkurrenz stünde, so daß die Schwäche einer Kirche den anderen zum Vorteil gereicht. Im Gegenteil, wir haben begonnen, erneut von Paulus zu lernen, daß alle Teile des Leibes in geheimnisvoller Weise zusammenhängen, so daß das Leiden oder die Freude einer Kirche Rückwirkungen auf alle Kirchen haben muß. Wenn auch die Glieder der Familie einander entfremdet sind, so hat doch die Familie nicht aufgehört zu bestehen. Wenn wir heute versuchen, die Einheit der Familie wieder herzustellen, dann übernehmen wir Verantwortung füreinander. In der Botschaft der Ersten Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen heißt es, daß unsere Zertrennung uns daran gehindert hat, die 123

nötige Zurechtweisung voneinander anzunehmen, jetzt, wo wir uns wieder einander zuwenden, hat dieser Prozeß gegenseitiger Zurechtweisung erneut begonnen. Er darf nicht durch übertriebene Höflichkeit unwirksam gemacht werden, denn es geht hier nicht um Diplomatie oder Politik, sondern um wahren Glauben und wahren Gehorsam gegenüber unserem Herrn. Darum sollten Theologen die große Freiheit haben, ihre Meinung über die Lehre anderer Kirchen wie auch ihrer eigenen zu äußern. Die Theologie hat eine kritische Funktion, und man sollte keine Ressentiments hegen, wenn diese Funktion mit dem Ziele ausgeübt wird, die Kirche aufzubauen und nicht sie zu zerstören. Wenn einige Theologen glauben, daß es um der Förderung der Einheit willen ihre Pflicht sei, über das hinauszugehen, was von der offiziellen Theologie und Disziplin ihrer Kirche her erlaubt ist, dann sollten sie deshalb nicht von der ökumenischen Diskussion ausgeschlossen werden, sondern ihren Beitrag dazu leisten dürfen.

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15. Magistri - das vierte Amt? Nach dem, was wir bisher gesehen haben, scheint es berechtigt zu sein, die magistri als ein gesondertes Amt neben dem des Bischofs, Priesters und Diakons oder dem des Pastors, Ältesten und Diakons anzuerkennen. In Anbetracht der Tatsache, daß die Funktion der Lehrer so wichtig ist und daß es wünschenswert ist, ihr Verhältnis zu anderen Ämtern in der Kirche zu klären, scheint diese Frage unvermeidlich. Es ist darum erstaunlich, daß sie im Laufe der Geschichte so wenig diskutiert worden ist. Es gibt selbstverständlich einige Beispiele dafür, daß diese Frage behandelt worden ist. Origenes hat oft von Lehrern als einem gesonderten Amt gesprochen, das nicht mit dem der Bischöfe oder Priester gleichzusetzen sei. Harnack hat eine Reihe von Zitaten von Origenes gesammelt, in denen er diesen Gedanken äußert, daß Lehrer eine besondere Aufgabe hätten, die anerkannt werden müsse.125 Im Mittelalter, als die Universitäten zu Zentren der Kultur wurden und die Theologie ihr Hauptanliegen war, hatten die Theologen eine so bedeutende Stellung, daß sie anfingen, „ein autonomes magisterium in der Kirche (darzustellen), dessen Vollmacht nicht einfach eine Folge des Auftrags war, den sie von der Hierarchie empfangen hatten.126 Nach Thomas von Aquin haben die Lehrer der Theologie ein magisterium cathedrae magistralis, was vom magisterium cathedrae pastoralis der Hierarchie zu unterscheiden sei. Cathedra bedeutet Vollmacht, und der Inhalt der Vollmacht ist das „officium doctrinae". In dieser Zeit 125

hatten Theologen sogar die Befugnis, Strafen zu verhängen. „Die Universität von Paris hat zwischen 1240 und 1452 etwa 30 Urteile in Lehrfragen ausgesprochen, wobei die Strafen vom Lehrverbot bis zur Exkommunikation reichten.127 Diese außerordentliche Vollmacht der Theologen wurde noch im 16. Jahrhundert von dem berühmten Theologen Melchior Cano verteidigt, der meinte, dem Konsensus der theologischen Lehrer zu widersprechen, grenze an Häresie, und die Worte des Herrn: „Wer euch hört, der hört mich" bezögen sich ebenso auf die theologischen Lehrer wie auf die Hierarchie. Wir haben weiter oben festgestellt, daß im 17. Jahrhundert Bossuet die Sache des Gallikanismus auf die Aussagen der Lehrer der Sorbonne gründete. Bedeutet das, daß auf diese Weise eine vierte Form des Amtes zu den drei traditionellen Ämtern hinzugefügt wurde? Die Antwort ist meines Erachtens, daß es In der Praxis und tatsächlich der Fall war, aber nicht prinzipiell und rechtlich gesehen, weil die Theologen als Theologen nicht zu einem Bestandteil der Hierarchie wurden. Theoretisch empfingen sie ihre Vollmacht von den Bischöfen. Die Formel, mit der der Kanzler den Grad des Lizentiaten verlieh, begann mit den Worten: „Ego, auctoritate apostolica..."128 Somit hatte die faktische Autonomie der Theologen Im Mittelalter und die Ausübung dieser Autonomie als viertes Amt keine rechtliche Grundlage, so daß sie nicht von Bestand sein konnten, wenn die Hierarchie auf ihren Vorrechten bestand. In der Reformation gab der Straßburger Reformator Martin Bucer eine ganz spezifische Antwort auf 126

die Frage nach dem Platz der Theologen in der Kirche. In seinem Kommentar zum Römerbrief aus dem Jahre 1563 sprach er von vier „Ämtern" in der Kirche: Doktoren, Pastoren, Vorsteher und Diakone.129 Es ist so gut wie sicher, daß Bucers Auffassung die Grundlage für Calvins Theologie der Kirchenordnung wurde, denn Calvin sprach vor seinem Aufenthalt in Straßburg nicht von vier Ämtern. Doch als er 1541 nach Genf zurückkehrte und die „Ordonnances Ecclésiastiques" verfaßte, schrieb er: „Zuerst gibt es vier Ordnungen oder Ämter, die unser Herr für das Regiment Seiner Kirche eingesetzt hat, nämlich die Pastoren, dann die Doktoren, schließlich die Ältesten (auch Beauftragte genannt, die von der Obrigkeit bestimmt waren) und viertens die Diakone."130 Die Aufgabe der Doktoren, so heißt es, ist die Unterhaltung von Schulen, in denen die Heilige Schrift ausgelegt wird und in denen zukünftige Geistliche und Katecheten ausgebildet werden. In den späteren Ausgaben der „Institutio" ist von den gleichen vier Ämtern die Rede131, wenn auch an anderer Stelle nur drei Ämter erwähnt werden.132 Im Zweiten Helvetischen Bekenntnis von 1566, das das gemeinsame Bekenntnis der Schweizer Reformierten Kirchen wurde und auch von den reformierten Kirchen in Frankreich, Ungarn, Polen und Schottland133 übernommen wurde, heißt es ebenfalls, daß das Amt der Kirche Bischöfen („episkopoi"), Ältesten, Hirten und Lehrern anvertraut sei. Die 1619 in Dordrecht angenommene Kirchenordnung spricht in ihrem zweiten Artikel ebenfalls von vier Ämtern: Pastoren, Doktoren, Älteste und Diakone. Es gibt je127

doch keinen Beweis dafür, daß diese Theorie eines gesonderten Amtes von Doktoren je in praktische oder konkrete Form übertragen worden ist. Die meisten reformierten Kirchen sind dann im Laufe derzeit zu dem Gebrauch des dreifachen Amtes zurückgekehrt. Zur Zeit des Kirchenkampfes in Deutschland wurde der Gedanke des besonderen Amtes der Theologen neu bekräftigt. In den „Düsseldorfer Thesen" von 1933, die von prominenten reformierten Theologen, darunter auch Karl Barth, Wilhelm Niesei und Alfred de Quervain unterzeichnet sind, heißt es, daß das Amt der Kirche von Predigern, Lehrern, Ältesten und Diakonen ausgeübt wird. Zur Aufgabe der Lehrer gehört nach dieser Beschreibung die Unterweisung der Jugend, die Heranbildung der künftigen Pastoren und die ständige Prüfung der Einheit der Verkündigung im Lichte der Heiligen Schrift.134 Als in den Niederlanden in den dreißiger Jahren über eine Revision der Kirchenordnung diskutiert wurde, wurde ebenfalls vorgeschlagen, das Amt der Doktoren als viertes Amt anzuerkennen. Als Argument wurde angeführt, daß die Doktoren besonders dazu qualifiziert seien, die zahlreichen Fragen zu behandeln, mit denen die Kirche zu tun hätte, und daß sie darum konsultiert werden sollten, bevor die repräsentativen Synoden ihre Entscheidungen über diese Fragen fällten.135 Auf römisch-katholischer Seite wurde ein bemerkenswerter Beitrag zu dieser Diskussion von Kardinal Newman am Ende seines Lebens und nach dem Ersten Vatikanischen Konzil geleistet. Er glaubte fest an 128

den sensus fidelium „als einen bestimmenden Faktor der Treue der Kirche gegenüber der Offenbarung". Er war der Auffassung, daß die Schola theologorum innerhalb des Leibes der Gläubigen von großer Bedeutung sei; denn sie spiele „eine große Rolle, indem sie Irrtümer und zu eng interpretierte Vorschriften korrigiere, die auf dem Wege der aktiven Unfehlbarkeit (d.h. das magisterium) zu den Gläubigen gelangten." 136 Somit wies der Kardinal den Theologen eine eigene klare Rolle zu, die sich von einem besonderen Dienst oder Amt kaum unterschied. In jüngerer Zeit schrieb der Weihbischof von Paris, Msgr. Daniel Pézeril, es sei dringend notwendig, daß die Theologen sich ihrer Identität in der heutigen Kirche klarer bewußt würden. Sie seien, so sagte er, ein Stand von Mittlern (corps intermédiaire). Er schlug deutlich die Bildung eines Gremiums vor, das den Theologen einen präziseren Platz in der Kirche und ein klareres Verantwortungsgefühl geben würde, wenn er auch nicht genauer erklärte, an welche Art von Organisation er dachte. 137 Wir müssen uns erneut fragen, ob die in den offiziellen Erklärungen der römisch-katholischen Kirche gebrauchte Terminologie, in der die Bischöfe „authentische" Lehrer genannt werden 138 , wirklich eine angemessene Vorstellung vom Lehramt der Kirche vermittelt. Solche Erklärungen, in denen die Rolle der Theologen nicht erwähnt wird, erwecken oft den Eindruck, daß diese Rolle von untergeordneter Bedeutung sei. Es wird nicht hinreichend deutlich gemacht, daß ein erheblicher Unterschied zwischen der Rolle des Bischofs und der des theologischen Lehrers be129

steht und daß jeder seine eigene, besondere Verantwortung hat. Ein Theologe ist ein hauptamtlicher Lehrer, der eine gründliche Ausbildung in seinem Fach erhalten hat und der seine ganze Kraft auf das Studium und die Weitergabe seines theologischen Wissens an andere verwendet. Die Aufgaben des Bischofs sind vielfältiger. Er ist natürlich mit der Lehre der Kirche befaßt und hat viele Gelegenheiten, sie darzulegen. Lehren ist jedoch nicht die einzige Begründung seines Amtes. Ein Bischof kann ein guter Theologe sein, wenn das auch nicht Immer der Fall ist; doch so begabt er auch auf diesem Gebiet sein mag, seine anderen Feichten werden Ihn stets daran hindern, genügend Zeit für theologische Studien aufzubringen. Msgr. Pezeril hat die Bemerkung gemacht, daß es für einen Bischof äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich sei, persönlich die gesamte theologische Produktion unserer Zeit zu studieren.139 Darum ist es schwer zu verstehen, warum die lehramtliche Rolle der Bischöfe so stark betont wird, daß man den Eindruck gewinnt, Theologen seien zweitrangige Lehrer. Zwar hat das Wort „authentisch" zwei Bedeutungen. Dem Lexikon nach kann es bedeuten: „mit voller Autorität ausgestattet", und in diesem Sinne ist es offensichtlich in „Lumen gentium" in der Formulierung „mit der Autorität Christi ausgerüstete Lehrer" gebraucht. Es ist jedoch erstaunlich, daß in diesem Zusammenhang nichts über die Autorität der Theologen gesagt wird, die Ihre ganze Zelt dem Lehren widmen. Eine noch größere Schwierigkeit entsteht dadurch, daß der moderne Mensch dem Wort „authentisch" eine zweite Bedeutung beilegt, nämlich 130

- wieder nach dem Lexikon: „zuverlässig, glaubwürdig, verbürgt und echt" im Gegensatz zu „unecht oder nachgemacht". Darum sollte man bei der Unterscheidung von cathedra pastoralis und cathedra magistralis diesen Begriff überhaupt vermeiden. Die Lösung ist nicht darin zu suchen, daß man akademische Doktoren und Lehrer zu den obersten Schiedsrichtern über die Wahrheit und damit die Kirche zu einer Schule macht, in der die Professoren vorherrschen. Es sollte möglich sein, Worte zu finden, um die Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, daß Bischöfe und Theologen ihr jeweiliges eigenes Charisma, eine besondere Gnadengabe, empfangen haben und daß beide es mit dem Zeugnis der Kirche zu tun haben und einen Platz innerhalb des einen Leibes ausfüllen. Wir müssen die Stimmen hören, die sich für eine eindeutige Anerkennung des Platzes und der Rolle der Theologen in der Kirche ausgesprochen haben. In einigen Ländern sind schon Theologenverbände gegründet worden. Solche Organe sollten überall geschaffen werden, und es sollte dabei deutlich gemacht werden, daß ihr Zweck und Ziel darin besteht, Theologen dazu zu befähigen, ihre Berufung in der Kirche und gegenüber der Welt zu erfüllen. Wenn diese Verbände von den Kirchenleitungen offiziell anerkannt würden und wenn regelmäßige Kontakte zwischen gewählten Vertretern der Theologen und Vertretern der Kirchenleitung gepflegt würden, dann wäre das ein großer Schritt auf dem Weg zur Überwindung des Unbehagens und der Spannung, die in der Haltung der beiden Gruppen zueinander noch 131

allzu oft zum Ausdruck kommt. Die Kirche aber würde aus dem besonderen Amt, das den Theologen anvertraut ist, vollen Nutzen ziehen.

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16. Schlußfolgerungen Im Zusammenhang mit der Frage der Beziehung zwischen Kirchenleitung und Theologen hat der holländische Theologe Noordmans darauf hingewiesen, daß Doktoren und Lehrer immer dort auf Schwierigkeiten in der Kirche gestoßen sind, wo ihre Funktion nicht voll akzeptiert worden ist. Das mag übertrieben klingen, doch wir haben in unserem kurzen geschichtlichen Überblick gesehen, daß etwas Wahres daran ist. Der Platz der Theologen im Leben der Kirche ist nie klar definiert worden. Zeitweilig wurden sie wie Schullehrer behandelt, die keine andere Aufgabe haben, als Priester und Pastoren auf ihre Arbeit vorzubereiten. Zu anderen Zeiten erwartete man von ihnen, daß sie die schwierige Aufgabe erfüllen, den Glauben zu formulieren. Es gab Gelegenheiten, wo sie ihren Auftrag unterschätzten und schwiegen, wenn sie hätten sprechen sollen, während sie sich bei anderen Gelegenheiten so verhielten, als seien sie die einzigen bevollmächtigten Sprecher der Kirche. Im großen und ganzen hat die römisch-katholische Kirche immer die Tendenz gezeigt, die Theologen auf eine zweitrangige Rolle zu beschränken, während die reformatorischen Kirchen dazu neigten, ihnen in jeder Diskussion über Lehrfragen die Vorherrschaft zu überlassen. Doch wie wir gesehen haben, gibt es bedeutende Ausnahmen. Die dieser Schrift zugrundeliegende Überzeugung ist die, daß die Theologen eine eigene spezifische Aufgabe zu erfüllen haben. Sie haben, wie Paulus schrieb, ihr eigenes Charisma und darum ihren eigenen Auftrag. Es ge133

nügt gewiß nicht, ihre Berufung mit dem Begriff der Beauftragung zu beschreiben, so als wären sie bloß Hilfskräfte der Hierarchie. 1954 sagte Pius XII.: „Diejenigen, die berufen sind zu lehren, üben in der Kirche das Amt von Lehrmeistern aus, nicht in ihrem eigenen Namen und nicht dank ihrer wissenschaftlichen Kompetenz, sondern aufgrund des Auftrages, den sie vom legitimen magisterium empfangen haben.140 Heute wird jedoch diese Auffassung in der römischkatholischen Kirche nicht mehr allgemein akzeptiert. Joseph Hoffmann hat sie die „totale Domestizierung der Theologie" genannt; er sieht einen der Hauptgründe für die Spannungen in der Kirche in der Tatsache, daß das magisterium oder zumindest die römische Kurie einem älteren Muster folgt, während die Mehrheit der Theologen In einem Kontext denkt, in dem das Problem sich anders darstellt.141 Auch Congar glaubt, daß die Zelt gekommen sei, das Verhältnis zwischen Theologen und magisterium neu zu durchdenken und gelten zu lassen, daß die Theologen ein eigenes Charisma besitzen und eine Aufgabe zu erfüllen haben, die anerkannt werden sollte. Diese Aufgabe kann nicht bloß darin bestehen, Kommentare zu päpstlichen Lehraussagen zu schreiben. Die Arbeit der Theologen sollte nicht nur von ihrer Beziehung zum magisterium her beschrieben werden, selbst wenn das magisterium die Hüterin der Wahrheit ist. Wir dürfen nicht nur die Beziehung zwischen diesen beiden im Auge haben, sondern müssen eine dritte Größe hinzufügen, den apostolischen Glauben. Magisterium und Theologen müssen beide, jeder auf seineWeise, dem Glauben dienen.142 134

Diese Neubewertung der Aufgabe der Theologen hat begonnen, und das ist eine entscheidende Entwicklung. Sie sollte das Ende einer Epoche anzeigen, in der man von der „Königin der Wissenschaften" erwartete, daß sie Order von der Hierarchie empfängt und nur solchen Themen ihre Aufmerksamkeit widmet, die die Hierarchie bestimmt, einer Epoche darüber hinaus, in der die Theologen, selbst die vom Format eines Thomas von Aquin, nicht als eigenberechtigte Teilhaber an der Aufgabe des Lehramts betrachtet wurden. Die Theologie hat eine eigene Aufgabe. Sie darf nicht nur wiederholen und erläutern, was in der Vergangenheit formuliert worden ist, sondern sie muß auch kritisch fragen, ob Lehre und Predigt der Kirche der in der Heiligen Schrift enthaltenen Offenbarung treu sind. Sie muß das christliche Evangelium auf neue kulturelle Situationen beziehen und zeigen, daß es auf neue Herausforderungen antwortet. Wie Georg Picht sagt, verlangt unsere Zeit, daß in der Kirche die prophetische Dimension des christlichen Zeugnisses gehört werden kann.143 Kirchenleitung und Theologen müssen darum als Partner betrachtet werden, und ihre Beziehung muß auf Zusammenarbeit beruhen. Die Kirche darf nicht zur Bühne eines Monologs der Hierarchie, auch nicht der Theologen, werden. Die Kirche ist ihrem Wesen nach dialogisch. Um als ernsthafte und verantwortliche Partner in diesem Dialog wirken zu können, müssen die Theologen Freiheit haben. Doch was ist das Wesen dieser Freiheit, und wie weit sollte sie gehen? Im April 1969 135

wurde eine Erklärung über „Die Freiheit der Theologen und der Theologie" veröffentlicht. Sie war von 1350 römisch-katholischen Theologen aus 53 Ländern unterzeichnet, darunter auch dem gegenwärtigen Vorsitzenden der Heiligen Kongregation für die Glaubenslehre. Es heißt darin, daß die Freiheit als eine Frucht der befreienden Botschaft Jesu selbst verstanden wird. Die Theologen erklärten, daß sie ihre Pflicht, die Wahrheit zu suchen und zu formulieren, auszuüben wünschen, ohne durch administrative Maßnahmen und Sanktionen gehindert zu werden. Sie bestätigten die Lehrautorität des Papstes und der Bischöfe, äußerten jedoch die Auffassung, daß dieses pastorale Verkündigungsamt nicht die wissenschaftliche Aufgabe des Lehrens - die Aufgabe der Theologen - verdrängen oder behindern dürfe. Das scheint mir die richtige Basis für eine Verständigung zwischen Theologen und Kirchenleitung zu sein. Von der Kirchenleitung wird erwartet, daß sie die Tatsache gelten läßt, daß die besondere Aufgabe der Theologie nur in einer Atmosphäre der Freiheit angemessen erfüllt werden kann. Die Theologen ihrerseits müssen die Tatsache anerkennen, daß die Kirchenleitung die pastorale Verantwortung trägt für die Klarheit und Geschlossenheit des Zeugnisses der Kirche ihren Gliedern und der Welt gegenüber. Diese Verbindung von Freiheit und Verantwortung für das Leben der Kirche haben auch Theologen anderer Kirchen so verstanden. Karl Barth hatte betont, daß die Theologie eine Funktion der Kirche sei und daß sie um des besonderen Dienstes willen be136

stünde, den sie zu leisten habe, nämlich immer aufs neue die Frage zu stellen nach dem rechten Verhältnis der Verkündigung der Kirche zum Worte Gottes als deren Ursprung, Gegenstand und Inhalt. Die Theologie müsse sich jedoch der Oberlieferung bewußt sein, die hinter dem Zeugnis der Kirche heute stünde, und ihr Vertrauen entgegenbringen. Sie sollte nicht versuchen, ihre Erkenntnisse aufzudrängen, sondern sie vielmehr als Rat anbieten. Sie müsse sich jedoch weigern, sich in ihrer kritischen Funktion von irgendeiner kirchlichen Autorität oder von ängstlichen Gemeindegliedern zum Schweigen bringen zu lassen.144 Und als Hans Küng die Lehrbefugnis entzogen wurde, erklärten die Professoren der römisch-katholischen und der evangelischen theologischen Fakultät der Universität Straßburg, eine kritische Reflexion im Bereich des Glaubens sei unerläßlich; diese Reflexion müsse sich in aller Freiheit entfalten können; es gäbe keine intellektuelle Freiheit ohne Verantwortung; die Theologen müßten bereit sein, ihre Lehrmeinungen vor der ganzen Kirche zu verantworten; und es gäbe in der Kirche legitime Ordnungsinstanzen, deren Aufgabe es sei sicherzustellen, daß das Zeugnis der Kirche dem Glauben treu sei.145 Mit anderen Worten, Freiheit für die Theologen fordern bedeutet nicht, der geistlichen Anarchie Tür und Tor zu öffnen. Sie haben kein Recht auf Freiheit, wenn sie sich nicht zutiefst der schwerwiegenden Risiken ihres Tuns bewußt sind. Das Scheinwerferlicht fällt heutzutage oft auf die Kirchenleitungen, die versuchen, ihre Herrschaft über die Theologen aufrechtzu137

erhalten; aber auch die Theologen sind häufig versucht, das Monopol der geistlichen Führung an sich zu reißen. Hendrik Kraemer, der Orientalist und Missionar, war eine Laie, doch er verbrachte einen großen Teil seines Lebens unter Theologen. Er warnte eindringlich vor dieser Gefahr und sprach von einer dämonischen und tyrannischen Neigung unter den Theologen, einen Platz zu usurpieren, der nicht der ihre sei. Er unterschätzte die Theologie nicht, glaubte jedoch, sie müsse sich stets dessen bewußt bleiben, daß sie kein Selbstzweck sei und daß ihr Aufgabe darin bestünde, zu dienen und nicht zu herrschen.146 Der allgemein anerkannte Weg, theologische Anschauungen zu korrigieren, die den zentralen christlichen Aussagen widersprechen, ist der Prozeß gegenseitiger Kritik innerhalb des theologisches Berufsstandes. Wir haben gezeigt, wie gewisse abwegige Tendenzen in der Theologie der reformatorischen Kirchen in der Tat von den Theologen selbst korrigiert wurden und haben dazu das Beispiel der holländischen Bischöfe angeführt, die in ihrem Brief an Kardinal Ottaviani darauf Gewicht legten. In der römischkatholischen Literatur finden wir oft die Formel, daß die Funktion der Theologie darin bestünde, dem magisterium neue Interpretationen vorzuschlagen und dann die Billigung der Kirchenleitung abzuwarten.147 Ich glaube nicht, daß man damit der Aufgabe der Theologen voll und ganz gerecht wird. Neue theologische Ideen haben nur insoweit den Charakter von Vorschlägen, als sie nicht beanspruchen können und dürfen, das letzte Wort zu sein. Die Theologie muß 138

mehr leisten, als nur Ideen vorzuschlagen; sie muß versuchen, den Glauben zu bekennen. Die Theologen müssen in der Tat ihre Überzeugungen dem Urteil der Kirche und ihrer Leitung unterbreiten, und in diesem Sinne müssen sie auf Zustimmung warten. Doch sie haben das Recht und die Pflicht, ihre Überzeugungen zu vertreten und den Weg für ihre Annahme durch die Kirche zu ebnen, denn was der ernsthafte Theologe anbietet, ist seine Erkenntnis der offenbarten Wahrheit. Diese Wahrheit verlangt, verkündigt zu werden, und darum kann er nicht schweigen. Zweifellos taten Origenes, Thomas von Aquin, Martin Luther und Karl Barth, Karl Rahner und Edward Schillebeeckx mehr, als nur Vorschläge zu erarbeiten. Als Lehrer interpretierten sie die überlieferte didache neu im Blick auf eine besondere geschichtliche und kulturelle Situation. Sie waren Sucher, die uns bisher unerforschte Bereiche der offenbarten Wahrheit öffneten. Ihr Werk hat eine prophetische Dimension dadurch, daß sie neue Aufgaben für die Kirche aufzeigen. Ein gutes Beispiel für die schöpferische Rolle der Theologen bietet die Entwickung des Ökumenismus in der römisch-katholischen Kirche, die zeigt, daß das magisterium manchmal eine positive und manchmal eine negative Rolle spielen kann. Diese Entwicklung verlief in drei Phasen. In den zwanziger Jahren, einer Zeit zahlreicher ökumenischer Initiativen, kam es zu Gesprächen zwischen römischen Katholiken und Anglikanern in Mecheln/Malines (Belgien), und eine neue Einstellung der römischen Kirche gegenüber dem Anglikanismus und der 139

Orthodoxie zeigte sich in den Aktivitäten des Klosters von Amay. Unter den Pionieren dieser Zeit ragen Fernand Portal und Lambert Beauduin heraus. 1928 jedoch zwangen die Enzyklika „Mortalium animos" sowie verschiedene disziplinarische Maßnahmen seitens des Vatikans die führenden römisch-katholischen Ökumeniker von damals, ihre Pläne aufzugeben. Dann wurde in den dreißiger Jahren ein neuer Ansatz versucht. Paul Couturier organisierte eine Gebetswoche für die Einheit und gewann viel Unterstützung für seine Aktion durch Broschüren und Faltblätter, in denen er seine neuartigen Ideen erläuterte. Der gewichtigste Beitrag in dieser Zeit kam jedoch von Yves Congar, der mit seinem Buch „Chrétiens désunis" (Getrennte Christen) eine theologische Grundlage schaffen wollte, die es seiner Kirche erlauben würde, eine positive Haltung gegenüber der ökumenischen Bewegung einzunehmen. In Deutschland war es Robert Grosche, der in seiner Zeitschrift „Catholica" den Weg zu einem konstruktiven ökumenischen Dialog aufzeigte. Diese verschiedenen Initiativen lösten erneut negative Reaktionen bei der Hierarchie aus und brachten in einigen Fällen disziplinarische Maßnahmen seitens der höchsten kirchlichen Behörden. Dennoch nahm in der dritten Phase, in den Nachkriegsjahren, die Zahl der römisch-katholischen Theologen, die ökumenischen Fragen besondere Aufmerksamkeit zuwandten, erheblich zu. Viele von ihnen hätten gerne an der Ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam teilgenommen, doch es wurde ihnen unter140

sagt, wie übrigens auch 1954 zur Zweiten Vollversammlung. Inzwischen hatten die römisch-katholischen Ökumeniker eine internationale Organisation gegründet, die regelmäßig Konferenzen abhielt. Johannes Willebrands, später Kardinal, wurde ihr Sekretär. Nachdem die Organisation sich als nützlich erwiesen hatte, nahm Willebrands in Rom Kontakt auf mit August Bea, dem späteren Kardinal, und unterbreitete ihm die Anliegen und Hoffnungen der Ökumeniker. Diesmal war die Reaktion positiver. 1960 beschloß Papst Johannes XXIII., ein Sekretariat für die Förderung der Einheit der Christen zu errichten; der erste Präsident wurde Kardinal Bea, der zweite Kardinal Willebrands. Außerdem wurden Beobachter anderer Kirchen zum Zweiten Vatikanischen Konzil eingeladen, und es wurden Beziehungen zum Ökumenischen Rat der Kirchen aufgenommen. Am wichtigsten in dieser Entwicklung war das Dekret über den Ökumenismus, das 1964 vom Zweiten Vatikanischen Konzil angenommen wurde. Das war ein Zeichen dafür, daß die römisch-katholische Kirche bereit war, ihren Anteil an der ökumenischen Aufgabe zu übernehmen. So hatten die Theologen durch ihr hartnäckiges und geduldiges Eintreten für ihre dringende Aufgabe trotz manchen Widerstands den Weg für eine Entscheidung bereitet, und das magisterium bestätigte ihn. Was ist nun die eigentliche Aufgabe des magisteriums? Wenn wir von der Lehrautorität der Kirche oder in der Kirche heute sprechen, dann müssen wir uns dessen bewußt sein, daß unter unseren Zeitgenossen irrige Vorstellungen über Autorität herrschen. 141

Danach ist Autorität eine Sache, die der Vergangenheit angehört, und danach beweist das Reden von Autorität in der Kirche nur, daß die Kirche ein Anachronismus ist. Moderne Intellektuelle, deren Bücherregale mit Werken von Voltaire, Shelly, Kierkegaard, Tolstoi, Marx, Nietzsche und Freud gefüllt sind, sind massiv gegen die von der Kirche verkündigte Wahrheit geimpft worden. Deshalb herrscht in der heutigen Kultur ein tiefes Mißtrauen gegen jede Autorität. Die Kirche jedoch spricht im Namen des Messias, von dem zu recht gesagt wurde: „er lehrte mit Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten" (Mk 1,22), und von dem seine Jünger bezeugten, daß seine Worte Worte des ewigen Lebens seien. Wenn eine Kirche nicht in der Lage dazu oder nicht gewillt ist, mit dieser Vollmacht zu sprechen, dann ist sie zu einem Debattierklub für religiöse Fragen geworden oder einem Klub, in dem religiöse Gefühle kultiviert werden. Dann hat sie jede Verbindung mit der Kirche verloren, die zur Pfingsten in Jerusalem geboren wurde. Die Form, in der die Vollmacht des Evangeliums und seine Konsequenzen heute dargestellt werden, kann jedoch nicht die gleiche sein wie in der Vergangenheit. Die Art von Autorität, wie sie früher der König, die Eltern und vor allem die Kirche innehatten, wurde damals endgültig und unbefragt akzeptiert. Die fortschreitende Emanzipation des Individuums hat inzwischen diese Form von Autorität untergraben. Der moderne Mensch ist nicht gewillt, sich sein Recht nehmen zu lassen, kritische Fragen an jede Erklärung oder Weisung zu stellen, die im Namen der 142

Autorität erlassen wird. Wenn die Stimme der Autorität sagt oder zu sagen scheint: „Dies ist wahr, weil ich es sage", dann ist damit zu rechnen, daß die Antwort lautet: „Diese Wahrheit kann erst dann zu meiner Wahrheit werden, wenn du meinen Verstand und mein Gewissen überzeugst." Das Wort des magisteriums ist nicht das letzte Wort, aber ein Wort, das zu intensiver Diskussion führt. So ist das „Roma locuta, causa finita" ein Konzept, das der Vergangenheit angehört, und das trifft in gleicherweise auf jede Kirche zu, in der den Entscheidungen der kirchlichen Autorität in der Vergangenheit ohne Frage gehorcht wurde. In dieser Situation ist die Aufgabe des magisteriums sehr viel schwieriger geworden; denn wenn die feierlichen Erklärungen zu Fragen des Glaubens und des Lebens die Mehrheit der Glieder der Kirche nicht mehr überzeugen können, dann hat das magisterium seine eigene Autorität untergraben. Darum ist es von entscheidender Bedeutung, daß die Glieder der Kirche das Gefühl haben, daß die Leiter der Kirche für sie alle sprechen, und nicht nur für eine bestimmte Kategorie von Kirchenleuten, und daß sie im Namen und mit der ganzen Kirche sprechen, und nicht als eine lehrende Kirche (ecclesia docens), die scharf von der lernenden Kirche (ecclesia discens) getrennt ist und ihr gegenüber steht. Die Rolle, die die Leiter der Kirche spielen sollen, ist im Neuen Testament klar umrissen. In der frühesten Schrift des Neuen Testaments, im ersten Brief an die Thessalonicher, wird eindeutig auf sie Bezug genommen. Es war noch kein besonderes Amt ein143

gerichtet worden, aber es gab Männer, die hart unter den Gläubigen arbeiteten, sie leiteten und, wenn nötig, ermahnten.148 Gemeindeleiter waren nicht bloße Venwalter, sondern sie waren auch um den Glauben und das Leben der Gemeindeglieder bemüht. Sie taten dies natürlich nicht allein, denn Paulus hat mehr als einmal gesagt, daß alle Glieder der christlichen Familie einander ermahnen und zurechtweisen sollen.149 Er betont dabei, daß dieses Ermahnen oder Zurechtweisen in einem brüderlichen und nicht in einem feindlichen Geist geschehen solle. Fast alle neutestamentlichen Schreiber haben das Bild des Hirten und seiner Herde benutzt und von der liebenden Fürsorge des guten Hirten für jedes seiner Schafe gesprochen und von seiner besonderen Sorge darum, daß die Herde zusammenbleibt. Von den Leitern der Gemeinde wurde erwartet, daß sie die Gemeindeglieder zusammenhalten, die immer Gefahr liefen, sich zu zerstreuen. Sie waren verantwortlich für den Zusammenhalt und die Einheit der Gemeinde. Wir lesen von der Bedrohung durch falsche Lehren, die von außen in die Gemeinde einbrechen, aber auch von der Gefahr der Häresie in der Gemeinde selbst.150 Es wird jedoch betont, daß Leitung In der Gemeinde nicht Herrschaft bedeuten darf. Der gleiche Petrus, zu dem der Herr gesagt hatte: „Weide meine Herde", warnte die Ältesten der Gemeinde, nicht die Ihrer Obhut Anvertrauten zu tyrannisieren.151 Man kann nicht selbst beschließen, Gemeindeleiter zu werden. Leitung ist ein Charisma, eine Gabe 144

des Heiligen Geistes. Unter den Charismata, die Paulus im zwölften Kapitel des ersten Korintherbriefes aufzählt, führt er auch die gubernatio auf, die Fähigkeit eines Steuermannes.152 Die Leiter der Kirche haben die Pflicht, sie in die richtige Richtung zu steuern. Eine weitere wichtige Aufgabe dieser Leiter wird mit dem Begriff „oikonomia" bezeichnet, der leider oft so übersetzt wird, daß seine ursprüngliche Bedeutung verdunkelt wird. „Oikonomia" ist Haushalterschaft, und der „oikonomos" ist der Haushalter. In 1Kor 9,17 wird die Aufgabe des Paulus als „oikonomia", Haushalterschaft, (bei Luther „Amt", „Auftrag") beschrieben, und im Titusbrief (1,7) wird der „episcopos" oder Bischof „Haushalter Gottes" genannt. Doch er ist nicht der einzige Haushalter. Im ersten Petrusbrief werden alle Glieder der Gemeinde dringend ermahnt, sich in jeder nur möglichen Weise an der Gott-gegebenen oikonomia in ihren vielerlei Formen zu beteiligen (1 Petr 4,10). Was lernen wir nun von den Einsichten dieser neutestamentlichen Schreiber über die Beziehung, die zwischen dem magisterium und den magistri bestehen sollte? Die Antwort kann meines Erachtens in den folgenden Punkten zusammengefaßt werden: 1. Der Auftrag der Kirchenleiter beinhaltet die Pflicht, die Theologen daran zu erinnern, daß der Pluralismus in der Theologie, wenn er auch unvermeidlich und zur Zeit wünschenswert ist, doch seine Grenzen hat. Alle Theologen müssen die zentralen Glaubensüberzeugungen verkündigen, damit die Kirche in ihrem ganzen Zeugnis ihrem Ursprung treu 145

bleibt und die Welt nicht in Ungewißheit darüber gelassen wird, was die Kirche vertritt. 2. Zum Auftrag der Kirchenleiter gehört es auch, darauf zu achten, daß die Existenz verschiedener theologischer Schulen oder Tendenzen nicht zur Bildung von parteiischen Gruppen führt, die jede für sich die Kirche zu beherrschen sucht. Kirchenleiter sollten nicht versuchen, Uniformität zu erzwingen, doch sie haben das Recht und die Pflicht, die Theologen vor jeder theologischen Ausschließlichkeit zu warnen, die die Einheit der Kirche zu zerstören droht. 3. Kirchenleiter, die nun einmal am Steuer stehen, müssen den Theologen das Gefühl geben, daß es in eine bestimmte Richtung geht, indem sie ihnen immer wieder die großen Probleme bewußt machen, denen die Kirche gegenübersteht oder in Kürze gegenüberstehen wird, im Angesicht der zunehmend säkularisierten und neuheidnischen Welt mit geistlichen und sittlichen Verfallserscheinungen. 4. Es ist eine wesentliche Aufgabe der Kirchenleiter, dafür zu sorgen, daß die Glieder der Gemeinde die Gaben Gottes untereinander teilen. Sie müssen jedem Theologen helfen, seinen rechten Platz in der Kirche zu finden, so daß es weder theologische Arbeitslosigkeit gibt - wenn die Theologen nämlich keine sinnvolle Aufgabe erfüllen - noch eingefrorene theologische Kredite - wenn nämlich die Kirche keinen Gebrauch von dem geistlichen und geistigen Kapital machen kann, das ihre Erkenntnisse darstellen. Sie müssen die Theologen ermutigen, miteinander und vor allem mit den Laien in dem Bemühen zusam146

menzuarbeiten, die Botschaft der Kirche an die Welt und ihre Aufgabe in der Welt deutlich zu machen. Alle Pflichten, die ich erwähnt habe, sind pastoraler Natur und sind durch Wegweisung, Ermahnung und Ermutigung der Gemeindeglieder auszuüben. Doch hat das magisterium nicht noch eine weitere Aufgabe, die mehr juridischer Natur ist - disziplinarische Maßnahmen gegen Theologen zu ergreifen, deren Lehre der offiziellen Lehre der Kirche widerspricht? Das ist in der Tat eine Verantwortung der Kirchenleitung, doch sie ist zweitrangig und darf nicht das beherrschende Prinzip sein. Im Laufe der Geschichte ist die disziplinarische Funktion der Kirche so überzogen worden, daß das magisterium schließlich als ein Tribunal von Richtern angesehen wurde und nicht als ein brüderliches Gremium, das die Aufgabe hat, Rat zu erteilen, gemäß den Worten des Paulus, der im zweiten Brief an dieThessalonicher sagt, daß die Ungehorsamen als Brüder (in der New English Bible: "members of the familiy") behandelt werden sollen.153 Die Abschaffung der Inquisition hat leider nicht die Abschaffung ihrer Betrachtungsweise mit sich gebracht mit ihrer juridischen und mißtrauischen Haltung und ihrer Tendenz, jede neue Glaubensformulierung zu verdammen. In einer scharfsinnigen Studie hat Professor Guiseppe Alberigo gezeigt, daß der Stil, in dem das Papsttum im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt wurde, von dem Gedanken bestimmt war, daß die Zeit der Barmherzigkeit und der Sanftmut vorüber sei und daß Strenge und Verurteilung bedauerliche, aber nichtsdestoweniger zwingende Notwendigkeiten gewor147

den seien.154 1832 zitierte Papst Gregor XVI. die Frage des Paulus: „Soll ich mit dem Stock zu euch kommen oder mit Liebe und sanftmütigem Geist?" (1 Kor 4,21) Er gab klar zu erkennen, daß die Situation der Kirche es in seinen Augen erfordere, die Nachsicht aufzugeben und „den Stock" zu gebrauchen.155 In der oben erwähnten Studie führte Professor Alberigo weiter aus, daß das römisch-katholische magisterium in den darauffolgenden 130 Jahren vom Kampf gegen den Irrtum beherrscht worden sei und daß darum ein neuer Tag angebrochen sei, als Papst Johannes XXIII. unmittelbar vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil sagte: „Heute möchte die Braut Christi lieber die Arznei der Barmherzigkeit als die der Strenge anwenden." Das Zweite Vatikanische Konzil suchte dieses positive Verständnis des magisteriums zum Ausdruck zu bringen und vermied jegliche Verurteilungen. Nach dem Konzil jedoch kehrte man zu den alten Methoden der Untersuchung, der Einmischung und der Diziplinarmaßnahmen zurück. Professor Alberigo kam zu dem Schluß: „Der Katholizismus muß die dunklen Tage hinter sich lassen, in denen die Kirchenzucht durch Gerichtsverfahren und Verurteilungen aufrechterhalten wurde, die Furcht und Verhärtung hervorriefen. Das ist lebenswichtig, wenn die Kirche in der Zukunft noch eine Theologie haben will.156 Seine Worte treffen auf die anderen Kirchen ebenso zu wie auf die Kirche von Rom. Es gib natürlich extreme Situationen, in denen die Integrität der Kirche oder sogar ihre ureigenste Existenz als Zeugin des Evangeliums auf dem Spiel steht. Wenn ein solcher Status confessionis entsteht, 148

dann ist es ganz besonders wichtig, daß die Lehrautorität der Kirche so reagiert, daß sie als die Stimme der ganzen Kirche gehört wird und nicht als die einer kleinen Gruppe von Kirchenleitern, die nur für sich selbst sprechen. Darum sollten Theologen und Laien in kritischen Situationen mit den offiziellen Kirchenleitern vereint den Glauben bekennen. Im Blick auf die Lehre eines Theologen, die dem magisterium fragwürdig erscheint, schlägt Professor Leonard Swidler vor, der Heiligen Kongregation für die Glaubenslehre Empfehlungen zu unterbreiten. Wenn es für wichtig erachtet werde, sich auf das Werk eines bestimmten Theologen zu konzentrieren, dann solle die Kongregation nicht nur den betroffenen Theologen und seine eigenen Berater zu sich rufen, sondern auch eine auf weltweiter Basis ausgewählte Gruppe von den besten Theologen hinzuziehen, die sich zu der betreffenden Sache geäußert haben und die eine Vielfalt von Methoden und Betrachtungsweisen vertreten. Er weist darauf hin, daß dieses Verfahren in keiner Weise neu sei, da das Zweite Vatikanische Konzil gerade diese Methode angewandt habe.149 Dies scheint ein weiser Vorschlag zu sein, dem auch andere Kirchen folgen sollten. Wenn wir nun auf die etwas stürmische Geschichte der Beziehungen zwischen den Theologen und dem magisterium zurückblicken, dann wird deutlich, daß sie einander brauchen. Sie brauchen einander, weil sie beide Gefahr laufen, die Grenzen ihrer jeweiligen Aufgabe zu vergessen, und darum beide einen konstruktiv kritischen Partner brauchen. „Sie müssen 149

einander anregen und einander kritisch und aufmerksam auf den .sensus fidelium' - den Glauben der ganzen Kirche - hinweisen." 158 Die Theologie und das magisterium brauchen einander auch, weil nur durch ihre enge Zusammenarbeit die schwierigen Probleme für das Leben und das Zeugnis der Kirche gelöst werden können. Es waren große Augenblicke in der Geschichte der Kirche, wenn das magisterium Theologen aufforderte, ihren Beitrag zu leisten, oder wenn Theologen spontan der Kirche zu Hilfe kamen. Man kann dafür drei Beispiele anführen - drei Ereignisse von außergewöhnlicher Bedeutung für die Geschichte der Kirche im 20. Jahrhundert. Als die evangelischen Kirchen in Deutschland 1934 in der Gefahr standen, von einer Welle des Synkretismus überrollt zu werden, die eine Folge der sogenannten Bewegung „Deutsche Christen" war, ergriff eine Gruppe von Theologen, unter ihnen auch Karl Barth und Hans Asmussen, die Initiative, all diejenigen um sich zu sammeln, die die Integrität der Kirche auf der Basis der Barmer Theologischen Erklärung verteidigen wollten; daraus entstand die Bekennende Kirche. Ein anderes eindrucksvolles Beispiel ist die ausgedehnte und intensive Zusammenarbeit zwischen Kirchenleitern, Theologen und Laien, die eine der bedeutendsten Merkmale der ökumenischen Bewegung in ihrer Anfangsphase war. Der Pionier in dieser neuen Mobilisierung, Koordinierung und Verwaltung aller zur Verfügung stehenden Mittel war Josph H. Oldham. Während der Vorbereitung für die Konferenz für Praktisches Christentum 1937 in Oxford gelang es ihm, Theologen, christliche Laien aus vielen Beru-

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fen und Kirchenleiter dazu zu überreden, miteinander ins Gespräch zu kommen. Das herausragende Beispiel im Leben der römisch-katholischen Kirche war das Zweite Vatikanische Konzil. Bevor es stattfand, hatte es noch kein wirkliches Gespräch zwischen römisch-katholischen Theologen und der Leitung ihrer Kirche gegeben. Darum schien es fast ein Wunder, daß das Konzil zum Treffpunkt der magistri und des magisteriums wurde. Dank des tatsächlich vorhandenen Wunsches nach einem echten „aggiornamento" und der einfallsreichen Politik von Papst Johannes XXIII. wurden hier den Theologen erstaunliche Möglichkeiten geboten, ihre Aufgabe zu erfüllen und ihrer Berufung zu folgen. Diejenigen, die an diesen schöpferischen Entwicklungen beteiligt waren, glaubten, daß das gegenseitige Verständnis und die harmonische Zusammenarbeit, die zwischen Kirchenleitern und Theologen entstanden waren, bleibende Folgen zeitigen würden. Doch das war nicht der Fall. Nach ein paar Jahren tauchte das alte Problem der Beziehungen in neuer Form wieder auf. Das war, wie wir gesehen haben, insofern unvermeidlich, als das Problem in jeder geschichtlichen Periode eine andere Gestalt annimmt. Die wirkliche Frage lautete, ob Kirchenleiter und Theologen, ja die ganze Kirche, in der Lage waren, in jeder neuen Situation den kairos zu erkennen, eine Zeit der Krise und der neuen Möglichkeiten, die die Mobilisierung der ganzen Kirche erfordert. Nur geistig Blinde können leugnen, daß die achtziger Jahre eine Zeit akuter Krise im Leben der Kirche darstellen. Doch sie sind zugleich eine Zeit beachtlicher neuer Möglichkeiten 151

und darum eine Zeit, in der es gilt, dafür zu sorgen, daß alle geistlichen Gaben voll und ganz und „zum Nutzen aller" eingesetzt werden.159 Die erste Erwähnung von Gemeindeleitern im Neuen Testament findet sich im 5. Kapitel des ersten Briefes an die Thessalonicher. Die Gemeindeleiter wurden damals in sehr allgemeinen Begriffen beschrieben, und es wurden keine besonderen Funktionen oder Titel genannt. Doch es wurde schon großer Nachdruck auf die Dankbarkeit und die Treue gelegt, die die Christen ihnen schuldeten. Paulus schrieb: „Wir bitten euch aber, liebe Brüder, erkennt an, die an euch arbeiten und euch vorstehen in dem Herrn und euch ermahnen; habt sie um so lieber um ihres Werkes willen" (IThess 5,12-13; in der „New English Bible" ist von „leaders" und „counsellors" die Rede). Es ist bezeichnend, daß Paulus fast unmittelbar darauf schreibt: „Den Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles, und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt" (IThess 5,19-21). Dieser Abschnitt zeigt, daß nach Auffassung des Paulus die Gemeindeglieder ihren Leitern mit Achtung begegnen und ihre Ermahnungen und Warnungen ernst nehmen sollen. Zugleich sollen sie des ständigen Wirkens des Heiligen Geistes gewahr werden - die wörtliche Übersetzung von Vers 19 heißt: „Löscht den Geist nicht aus." Denn der Geist ist der Spender neuen Lebens. Wenn niemand mehr erwartet, daß der Heilige Geist handelt, und wenn niemand bereit ist, neue Inspiration von ihm zu empfangen, dann ist die Kirche von ihrem Weg abgekommen. Beide Ermahnungen des Paulus waren an 152

die Kirche als ganze gerichtet, und beide müssen von jeder neuen Generation neu gehört werden, wenn die Kirche den Auftrag erfüllen will, den sie von Gott empfangen hat.

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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Congar, Yves, Voices of Unity, S. 24. Apg 13,1. Gal 6,6; siehe auch Didache 13,2. Rom 12,6-7. Eph 4,11. Apg 13,1; 1Tim 2,7; 2 Tim 1,11. 1 Tim 3,2. Tit 1,9. Didache 11,1-2. Didache 15,1-2. Schillebeeckx, Edward, Das kirchliche Amt, Düsseldorf 1981, S. 36. Martyrium Polykarps XI,2. Martyrium Polykarps IXX,1. Ignatius an die Eph. 6,1. Ign. Magnesier 6,1. Ign. Smyrner 8,1. Ign. Philadelphier 2,1. Flesseman-van Leer, Ellen, Tradition und Scripture in the Early Church, S. 112. Irenaus, Adversus Haereses 111,1+3. Harnack, Adolf von, Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten, Leipzig 1910, S. 60-76. Lietzmann, Hans, Geschichte der alten Kirche II, Leipzig 1936, S. 48. Harnack, Adolf von, Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 1906, S. 304. Chadwick, Henry, Alexandrian Christianity, Christian Classics, S. 432. ibid, S. 432. ibid, S. 440. Neill, Stephen Ch./H.-R. Weber (Hrsg.), The Layman in Christian History, S. 42. Harnack, Adolf von, a.a.O., S. 304. Lietzmann, Hans, a.a.O., S. 305.

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29 Congar, Yves, in: Les Théologiens et l'Eglise, Les Quatre Fleuves, S. 8. 30 Hase, Karl August von, Lehrbuch der Kirchengeschichte II, S. 376. 31 zitiert in: Congar, Yves, a.a.O., S. 115. 32 Congar, Yves, Le Magistère et les Docteurs, Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques 1976, S. 104. 33 Tuchmann, Barbara, Der ferne Spiegel, DTV München 1982, S. 35. 34 Chenu, M.D., zitiert in: Meyes, Posthumus, Jean Gerson, S. 268. 35 Meyes, Posthumus, Kerkhistorische Studien, 1982, S. 525 u. 26. 36 Meyes, Posthumus, Jean Gerson, S. 95. 37 Meyes, Posthumus, a.a.O., S. 269. 38 Hase, K.A. von, a.a.O. II, 337. 39 Carter, The English Church and the Reformation, S. 45. 40 Shakespeare, William, Heinrich VIII., 3. Akt. 2. Szene. 41 Erasmus von Rotterdam, Lob der Torheit, Bremen 1966, S. 77. 42 Luther, Martin, Tischreden, Reclam, Leipzig 1878, S. 232. 43 Thiel, Rudolf, Luther I, Berlin 19362. S. 205. 44 Friedenthal, Richard, Ketzer und Rebell, München 1972, S. 288. 45 Thiel, Rudolf, a.a.O., S. 290 u. 319. 46 Calvin, Jean, Corpus Reformatiorum, Calvini Opera XXI, Braunschweig 1887, Spalte 24. 47 ibid, Spalte 26. 48 Luther, Martin, Warum des Pabst und seiner Jünger Bücher von Dr. Martin Luther verbrannt sind, WA 7, S. 167. 49 Luther, Martin, Von den consiliis und Kirchen (1539). 50 Gemeinsame römisch-katholische/evangelisch-lutherische Kommission, Das geistliche Amt in der Kirche, Frankfurt am Main/Paderborn 1982", S. 41. 51 Calvin, Jean, Ordonnances Ecclésiastiques, Calvin, J., Opera II, hrsg. v. P. Barth, D. Scheuner, München 1952, S. 328. 52 Zweites Helvetisches Bekenntnis, Paul Jacobs (Hrsg.), Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen, Neukirchen 1949, S. 27 53 Körte Historie Synode van Dordrecht 1671, S. 320.

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54 Bossuet, Jacques, Abrégé de la Défense de la Déclaration, hrsg. 1814, S. 331, 48. 55 ibid, S. 253, 401, 243, 245, 395, 88, 250, 424. 56 Hayward, F., Pie IX et son temps, S. 154. 57 Hoffmann, J., in: Les Théologiens et l'Eglise, S. 92 und Hase, Karl von, Kirchengeschichte. 58 Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion Symbolorum Definitionum et Declarationum, Freiburg 1965, § 2913. 59 ibid, § 2980. 60 Neuner-Roos, Der Glaube der Kirche, Regensburg 198311, Die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit, S. 302/3, § 454. 61 Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques 1976, S. 108. 62 Küry, Urs/Oeyen, Christian, Die Altkatholische Kirche (Kirchen der Welt III), Frankfurt am Main 19833. und: Internationale Kirchliche Zeitschrift, Bern 191 Off. 63 Pius IX., zitiert in: Les Théologiens et l'Eglise, S. 97. 64 Troeltsch, Ernst, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, GTB Nr. 138. 65 Neuner-Roos, a.a.O., S. 55, § 60. 66 Hügel, Friedrich von, Letters to a Niece, London 1958, S. 165. 67 Pottmeyer, H.J., zitiert in: Les Théologiens et l'Eglise, S. 101. 68 Harnack, Adolf von, Dogmengeschichte, 7. photomechanisch gedruckte Auflage, Genf o.J., S. 4, 6 u. 468. 69 Troeltsch, Ernst, Gesammelte Schriften II, Tübingen 1913, S. 848. 70 Niebuhr, H. Richard, in: The Church Against the World, Chicago 1935, S. 124. 71 Oldham, J.H., Die Kirche und ihr Dienst in der Welt, Berlin 1937, S. 124. 72 Congar, Yves, in: Les Théologiens et l'Eglise, S. 115. 73 ibid, S. 115. 74 ibid, S. 115. 75 Neuner-Roos, S. 309, § 461. 76 Congar, Yves, in: Les Théologiens et l'Eglise, S. 12 u. 128. 77 II. Vatikanisches Konzil: Konstitution über die göttliche Offenbarung, Nr. 23 u. 24. 78 ibid, Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe, Nr. 2. 79 ibid, Nr. 10. 80 ibid, Dekret über die Ausbildung der Priester, Nr. 4.

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ibid, Nr. 10. Barth, Karl, Ad ümina Apostolorum, S. 52 u. 29. ibid, S. 17. Skydsgaard, Kristen, Wir sind gefragt, S. 195. Otfried Müller, in: Hampe (Hrsg.) Die Autorität der Freiheit, Bd. 1, München 1967, S. 89. Küng, Hans, Unfehlbar?, Frankfurt am Main 1980, S. 188. ibid, S. 191/92. ibid, S. 195. Die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung, Nr. 10. „Origins", 7. Feb. 1980. Congar, Yves, Voices of Unity, S. 28. Congar, Yves, in: Les Théologiens et l'Eglise, S. 11. Rahner Karl, Ich protestiere, Publik Forum, 16. Nov. 1979. Congar, Yves, in: Les Théologiens et l'Eglise, S. 11. Schoof, Mark, Der Durchbruch der neuen katholischen Theologie, Freiburg 1969, S. 334. Bennett, John, Christianity and Crisis, 15. Januar 1979. Hoekendijk, J. C., Die Zukunft der Kirche und die Kirche der Zukunft, Stuttgart 1964, S. 123/24. Bericht aus Uppsala, Genf, 1968, S. 337. Harnack, Adolf von, Der Geist der morgenländischen Kirche im Unterschied von der abendländischen, in: Sitzungsberichte der Königl. Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jahrg. 1913/1. Schlink, Edmund, Der kommende Christus und die kirchlichen Traditionen, Göttingen 1961, S. 221. Florovsky, G., The Universal Church in God's Design, S. 44. Bulgakow, Sergej, L'Orthodoxie, S. 4. Congar, Yves, Diversités et Communion, S. 77. Evdokimoff, Paul, L'Orthodoxie, S. 194. zitiert in: Congar, Yves, Diversités et Communion, S. 77. Bulgakow, Sergej, Orient und Occident, März 1936, S. 12 u. 28. Evdokimoff, Paul, L'Orthodoxie, S. 41. Meyendorff, Johannes, in: St. Vladimirs Theological Quarterly, 1982/3. zitiert bei: Schlink, Edmund, Der kommende Christus und die kirchlichen Traditionen, S. 192.

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136 Alberigo, Guiseppe, in: Journal of Ecumenical Studies, Frühjahr 1982, S. 128. 137 Pézeril, Daniel, in: Les Théologiens et l'Eglise, S. 62. 138 Zweites Vatikanisches Konzil: Die dogmatische Konstitution über die Kirche, Nr. 25, Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche, Nr. 2 usw. 139 Pézeril, Daniel, in: Les Théologiens et l'Eglise, S. 60. 140 Pius XII., in: Les Théologiens et l'Eglise, S. 100. 141 Hoffmann, Joseph, in: Les Théologiens et l'Eglise, S. 101. 142 Congar, Yves, in: Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques, 1976, S. 112. 143 Picht, Georg, (Hrsg.), Theologie, was ist das? Berlin 1977, S. 404. 144 Barth, Karl, Einführung In die Evangelische Theologie, Zürich 1962, S. 49-52. 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159

Greinacher, Norbert/Haag, Herbert, Der Fall Küng, S. 302. Kraemer, Hendrik, De Kerk in Beweging, S. 117, 138, 183. Schoof, Mark, a.a.O., S. 334. 1 Thess 5,12. Kol 3,16; 1 Thess 5,14; Rom 15,14. Apg 20,28-31. 1 Petr 5,1 - 3 . 1 Kor 12,28. 2 Thess 3,15. Alberigo, Giuseppe, in: Journal of Ecumenical Studies, Frühjahr 1982. Enzyklika „Mirari Vos". Alberigo, a.a.O. Swidler, Leonard, in: Journal of Ecumenical Studies, Frühjahr 1982, S. 242. Schoonenberg, R, ebd. S. 117. 1 Kor 12,7.

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Willem A. Vlsser *t Hooft

Gottes Vaterschaft im Zeitalter der Emanzipation 206 Selten, Paperback, DM 28,Jahrhundertelang waren wir „auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft". Und heute scheinen die Strukturen der alten, von den autoritären Vätern getragenen Gesellschaft endgültig zerbrochen zu sein. Insbesondere in den westlichen Ländern. Die Botschaft der christlichen Kirche jedoch handelt von Jesus Christus, dem Sohn Gottes des Vaters. Das Zeugnis der Kirche spricht von Gottes väterlicher Liebe für alle Menschen. Aber wenn alle Väter verdächtig sind, wie sollen dann Menschen die Botschaft der Kirche hören und auf ihr Zeugnis antworten? Dieser Frage geht der Autor nach und zeigt aus seiner tiefen Kenntnis europäischen Denkens die Formen und Grenzen menschlicher Befreiung aus überkommenen Formen. Er geht von den positiven Aspekten patriarchalischer Tradition in den hierarchischen Strukturen von Kirche, Staat und Gesellschaft in der Vergangenheit aus und zeigt die Auflehnung gegen Unterdrückung auf allen Gebieten. Herrscherallüren, Herr-DienerBeziehung, kolonialer Paternalismus, Libertinismus und die theologischen Fragen nach Gottes Vater- und Mutterschaft u. a. werden in breitem geistesgeschichtlichem Kontext behandelt. Visser 't Hooft versteht Emanzipation als eine Herausforderung unserer Geschichte und sieht deren Entwicklung zutiefst im christlichen Denken begründet, wobei die „wahre Emanzipation gerade jene ist, die der verlorene Sohn gefunden hat, als er in das Haus seines Vaters zurückkehrte ein Haus, in dem wegen der Liebe, die dort wohnte, Ordnung nicht Herrschaft noch Freiheit Anarchie war."

Evangelisches Verlagswerk • Verlag Josef Knecht