Kinder - Küche - Karriere: Acht Frauen erzählen
 9783205789918, 9783205789291

Citation preview

Damit es nicht verlorengeht … 67

Begründet von Michael Mitterauer. Herausgegeben vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien

Kinder – Küche – Karriere Acht Frauen erzählen

Herausgegeben vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ Mit einem Nachwort von Jessica Richter und Brigitte Semanek

2013 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Wissenschaftliches Lektorat: Günter Müller Umschlagabbildung: © Judith Schachenhofer © 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, 1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Judith Mullan, Wien Satz: Bettina Waringer Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in Austria ISBN 978-3-205-78929-1

Inhalt

Einführung und editorische Anmerkungen . . . . . . . . .   7

Ilse Wolfbeisser „Einteilung ist alles, war meine Devise …“ . . . . . . . .  19 Erika Schleich „Gern wäre ich wieder in den Beruf zurückgekehrt …“ .  59 Traude Veran Laufbahn mit Schlaglöchern . . . . . . . . . . . . . . . .  87 Traute Molik-Riemer Der weite Weg zum Traumberuf . . . . . . . . . . . . . . 115 Ilse Viktoria Bösze „Ich schrieb und schrieb – Tausende von Seiten“ . . . . . 175 Elisabeth Krug „Ich liebte meine Schützlinge und meine Arbeit …“ . . . 201 Barbara Wass Mein Glück war, dass ich so klein war . . . . . . . . . . . 227 Margarete Weiss Blitzlichter aus meiner Arbeit mit Kindern . . . . . . . . 269 5

Die unbemerkte Vielfalt. Nachwort von Jessica Richter und Brigitte Semanek . . . . . 319 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

6

Einführung und editorische Anmerkungen Günter Müller Dieses Buch mit Lebenserzählungen von Frauen erscheint genau 30 Jahre, nachdem mit der Veröffentlichung der Kindheits- und Jugenderinnerungen Maria Gremels der Grundstein zu dieser Buchreihe gelegt wurde. Das Buch „Mit neun Jahren im Dienst. Mein Leben im Stübl und am Bauernhof, 1900–1930“ fand damals, im Frühjahr 1983, ein enormes öffentliches Echo, und mehr als das: Es fand auch zahlreiche begeisterte Leserinnen und Leser, die Maria Gremels Beispiel folgten, ein Schreibwerkzeug zur Hand nahmen und – damals noch oft handschriftlich – eigene Lebenserinnerungen zu Papier brachten: für sich selbst, für ihre Kinder und Enkelkinder oder auch auf Anregung durch den Verein Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, der zur selben Zeit damit begann, autobiographische Manuskripte an der Universität Wien zu sammeln und für Forschungs- und Bildungszwecke zu nutzen. Mittlerweile sind es rund 500 Autorinnen und Autoren, die mit einem oder mehreren Erinnerungstexten zum Entstehen der 68 Bände1 der Buchreihe beigetragen haben, und eine noch weit größere Zahl an Personen hat seither die autobiographische Sammlung an der Universität Wien mit noch unveröffentlichten lebensgeschichtlichen Manuskripten bereichert. Eine der vielen, die sich damals durch die Erzählungen Maria Gremels angesprochen fühlten, war die Salzburgerin Barbara Waß, eine Mitautorin des nun vorliegenden Bandes. 7

Sie wandte sich im Sommer 1984 unter anderem mit folgenden Worten an Michael Mitterauer, den Initiator des Lebensgeschichten-Sammelprojekts und dieser Buchreihe: „Ich hab das Buch mit großem Interesse gelesen und festgestellt, daß Frau Gremel gerade jene Dinge am Herzen lagen, die auch ich im Sinn habe. Die Menschen rundum, Brauchtum und religiö­ ses Geschehen, Wasser und Brunnen, Schule usw. Nur sind die Gegebenheiten hier im Gebirge sehr verschieden von denen in Niederösterreich. […] Umso mehr interessierten mich die Schilderungen von Frau Gremel, erst recht, da es einige Parallelen zu meinem Leben gibt. Auch ich wollte gerne Lehrerin werden, bin gern zur Schule gegangen und habe gerne gelesen. Ich habe oft den Eindruck, zwischen meiner Kindheit und heute fehle eine Generation, so sehr hat sich alles verändert. Der Übergang in die moderne Zeit kam im Gebirge viel später, dafür umso abrupter.“2 Was neben der Rasanz gesellschaftlicher Entwicklungen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts in diesen Zeilen angedeutet wird, ist eine Eigenheit lebensgeschichtlicher Erzählungen, die wohl ihren Reiz als Lesestoff ausmacht und diese Art von Texten außerdem in ganz besonderer Weise für die Verwendung in der Bildungsarbeit – sowohl mit jüngeren als auch mit älteren Menschen – prädestiniert. Persönliche Erlebnisse, Erfahrungen und Denkweisen bis dahin unbekannter Erzähler- oder Schreiber/innen sind darin vielschichtig und dennoch auf eine recht anschauliche, leicht nachvollziehbare Weise mit vertrautem Alltagswissen verknüpft. Dieses Zusammenspiel von individuellen und gesellschaftlich bedeutsamen Erinnerungen, von mehr oder weniger vertrauten und mitunter ganz fremden Blickwinkeln auf die erlebte Vergangenheit beinhaltet ein breites Lernpotenzial, und zwar in der Hinsicht, dass persönliche Erfahrungen gespiegelt, abgeglichen und auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin überprüft werden können. Die Auseinandersetzung mit fremden Lebensge8

schichten dient ein Stück weit immer auch der Orientierung und Selbstverortung in einer sich rasch verändernden Gesellschaft. Anhand eines Grundgerüsts von lebensgeschichtlichen Basiserfahrungen lassen sich die Besonderheiten in den Lebensgeschichten anderer Menschen besser verstehen und von daher auch im sozialen Alltag leichter respektieren. Sozialhistorische Rahmenbedingungen des Aufwachsens in verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, Divergenzen in den Lebensstilen zwischen Stadt und Land oder in den Erfahrungswelten von Angehörigen unterschiedlicher Generationen können durch die vergleichende Lektüre autobiographischer Texte in ihren feinen Unterschieden bewusst gemacht werden. Dies ist auch der Leitgedanke bei der Edition von Sammelbänden wie diesem, wo mehrere Erinnerungstexte – gruppiert um einen thematischen Schwerpunkt und ergänzt durch ein wissenschaftliches Resümee – dem Lesepublikum ein möglichst breit differenziertes lebensgeschichtliches Erfahrungsspektrum näherbringen sollen. Der vorliegende Band will zunächst Einblicke in die Lebensund Arbeitsrealität von Frauen – schwerpunktmäßig für die 1950er bis 1980er Jahre – bieten und nicht zuletzt durch die Schlagwortkombination im Titel zugleich ein gesellschaftliches Spannungsfeld umreißen, in dem sich zeitgenössische Diskurse um weibliche Rollenbilder und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zumeist bewegen. So wie dieses sprachliche Stereotyp der „drei Ks“, das in seiner ursprünglichen Form „Kinder-Küche-Kirche“ gern als plakative Kurzbeschreibung traditioneller weiblicher Lebenswelten bzw. eines entsprechenden Rollenverständnisses gebraucht wird, immer schon aus einer Intention der kulturellen, politischen oder ironischen Abgrenzung heraus verwendet bzw. postuliert wurde3, so ist auch die hier als Buch9

titel gewählte modernisierte Variante des „Slogans“ primär als eine Schablone zu verstehen, die erst durch die konkreten Inhalte der in diesem Band versammelten Lebenserzählungen mit Leben erfüllt bzw. „ausmodelliert“ werden soll. Das zentrale Auswahlkriterium für die hier vorgestellten lebensgeschichtlichen Erzähltexte bestand lediglich darin, dass die Schreiberinnen sowohl Erfahrungen als Hausfrau und Mutter als auch als außerhäuslich Erwerbstätige gemacht und ursprünglich (nach heutigem Verständnis) eher tradi­ tionelle Frauenberufe ergriffen haben bzw. in solche „hineingewachsen“ sind. Die acht Autorinnen, die alle im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts geboren wurden, wurden als Sekretärinnen, Kindergärtnerin, Fürsorgerin oder Schneiderin ausgebildet oder machten als Hausgehilfinnen erste Berufserfahrungen. Sie waren weiters als Erzieherin, Kindergartenhelferin, Krankenpflegerin, Tagesmutter, Fabrikarbeiterin, in der mobilen Hauskrankenpflege, in der Erwachsenenbildung, als Volksschullehrerin, Schulpsychologin, als Mannequin, Modedesignerin und Werbegrafikerin tätig und konnten außerdem noch durch so manche hier unerwähnt gebliebene Nebenbeschäftigung zum Familienunterhalt beitragen. Die Autorinnen haben zwischen einem und fünf Kinder geboren und zumindest vorübergehend ihre Erwerbstätigkeit zurückgestellt, um diese und den familiären Haushalt betreuen zu können; zwei haben es vorgezogen, nach der Geburt ihrer Kinder dauerhaft „zu Hause zu bleiben“. Vier Frauen haben sich im Lauf der Jahre von ihren Ehepartnern getrennt und waren somit zeitweise Alleinerzieherinnen. Eine weitere bemerkenswerte Gemeinsamkeit der Texte besteht darin, dass alle Autorinnen die an sie gestellten He­ rausforderungen relativ gut meistern konnten und daher weitgehend zufrieden auf den eingeschlagenen persönlichen Weg zwischen Kindern, Küche und Karriere zurückblicken. Einige der hier vorgestellten Frauen haben tatsächlich auch 10

im heutigen Wortsinn „Karriere“ gemacht, obwohl der – relativ neue – Begriff für sie selbst wie für die meisten Frauen ihrer Generation eher wie ein Fremdwort klingen mag, das sie für ihre eigene Biographie wahrscheinlich nicht vorbehaltlos in den Mund nehmen würden. Und wie im Nachwort dieses Bandes dargelegt wird, wäre es auch widersinnig, bei der Heterogenität an Beschäftigungen, die diese Frauen (und viele ihrer Zeitgenossinnen wohl auf ähnliche Weise) ausübten, von Karriere im Sinne einer geradlinig in Richtung Erfolg führenden Berufslaufbahn zu sprechen. Die Thematik dieses Bandes ist in der Buchreihe nicht neu. Wie zahlreiche Buchtitel – beispielsweise jene der schon erwähnten Barbara Waß4: „Mein Vater, Holzknecht und Bergbauer“, „Für sie gab es nur die Alm …“, Maria Schusters „Arbeit gab’s das ganze Jahr“5 oder auch Maria Gremels „Mit neun Jahren im Dienst“6 – belegen, ging es auch in den frühen, bereits vor zwanzig, dreißig Jahren entstandenen Lebensaufzeichnungen von Menschen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geboren wurden, oft um die Darstellung traditioneller Arbeitswelten – und sehr oft waren es Frauen, die auf die schwierigen Bedingungen ihrer Existenz von der Jahrhundertwende bis herauf in die 1930er oder 1940er Jahre zurückblickten. Da ein beträchtlicher Teil der österreichischen Bevölkerung in dieser Zeit noch unmittelbar von der Landwirtschaft lebte, standen allerdings oft die familienwirtschaftliche Arbeitsorganisation, die vorwiegend auf Selbstversorgung ausgerichtete Wirtschaftsweise und alte, vorindustrielle Arbeitstechniken im Mittelpunkt der Erinnerungstexte. Es wurden Geschichten erzählt, in denen Leben und Arbeiten, Familie und Beruf, Privates und Öffentliches, Alltag und Religion noch enger verquickt waren, als dies nach der politischen und wirtschaftlichen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall 11

war. Oft waren solche Rückblicke auf frühere Arbeits- und Lebensformen auch deutlich von einer Befriedigung darüber gezeichnet, dass die Erzähler/innen zumindest in späteren Lebensphasen den Druck der existenziellen Bedrohungen (durch Mangel, Krisen, Krieg usw.) und vielseitigen Abhängigkeiten überwinden und in einer Atmosphäre sozialer und materieller Sicherheit die späteren Lebensjahrzehnte genießen konnten. Im Verlauf der Wiederaufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Zahl der unselbständig Erwerbstätigen, die Beschäftigtenzahlen in der Landwirtschaft gingen zurück. Eine zunehmend marktwirtschaftlich orientierte Güterproduktion sowie die räumliche Trennung von Erwerbs- und Reproduktionssphäre zogen weitreichende Veränderungen in vielen Gesellschaftsbereichen nach sich. Nicht zuletzt nahmen, nach einem anfänglichen Rückgang der Frauenerwerbsquote in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, die außerhäusliche Erwerbstätigkeit von Frauen und damit auch deren Eingliederung ins Sozialversicherungssystem ab den 1970er Jahren kontinuierlich zu.7 Als das Schlagwort von den „drei Ks“ – Kinder, Küche, Kirche –, in den 1970er/1980er Jahren Eingang in den deutschen Sprachschatz und das Alltagsbewusstsein breiterer Bevölkerungsschichten fand8, waren seine realen gesellschaftlichen Entsprechungen längst brüchig geworden. Die in den 1950er Jahren „zurück an den Herd“ gerufenen Frauen hatten ihre gesellschaftlichen Aufgaben im Wiederaufbau weitgehend erfüllt; das Leitbild der „Nur-Hausfrau“ und Mutter war von einem regen Diskurs über die „Doppelbelastung“ von Frauen abgelöst worden. Ihre Kinder aus den geburtenstarken Jahrgängen der Nachkriegsjahrzehnte waren selbst bereits in einem Alter, um die Verbindlichkeit von elterlichen und gesellschaftlichen Vorgaben aller Art – teilweise radikal – zu hinterfragen. Traditionell weibliche Arbeiten in Haushalt 12

und Familie waren einesteils durch technische Neuerungen und erweiterte Konsummöglichkeiten erleichtert, andernteils durch die Ausweitung der öffentlichen Kinderbetreuung verlagert worden. Und die ehemals mächtige gesellschaftliche Stellung von Kirche und Religion war schon so sehr in Frage gestellt, dass das ursprüngliche dritte K zusehends gern abgewandelt und zeitgemäßere Varianten des bekannten Stabreims – wie etwa jene im Titel dieses Buches – ins Spiel gebracht wurden. Die skizzierte Ausgangslage erschien jedenfalls komplex, spannungsreich und lohnend genug, um mittels eines lebensgeschichtlichen Schreibaufrufs zu erkunden, wie Angehörige jener Generation, welche die Nachkriegsjahrzehnte als Jugendliche oder junge Erwachsene durchlebt hatten, bei ihrer Berufswahl und während ihrer Erwerbstätigkeit mit den damals bestehenden gesellschaftlichen Voraussetzungen und Handlungsspielräumen umgegangen sind. Sieben der acht hier veröffentlichten Erinnerungstexte sind aus diesem Schreibaufruf hervorgegangen, der in Kooperation zwischen der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen an der Universität Wien und dem Institut für AK- und Gewerkschaftsgeschichte an der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien im Sommer 2009 innerhalb des Autorenkreises der Dokumentationsstelle und über einige Medien der Arbeiterkammer und des Österreichischen Gewerkschaftsbundes verbreitet wurde. Unter dem Motto „Arbeit ist das halbe Leben“ wurden Menschen dazu eingeladen, ihre persönlichen Arbeitswelterinnerungen in lebensgeschichtlicher Perspektive schriftlich festzuhalten. Zwanzig der so gewonnenen Erinnerungstexte von Frauen und Männern wurden bereits im Vorjahr unter dem Titel „Arbeit ist das halbe Leben … Erzählungen vom Wandel der Arbeitswelten seit 1945“ im Band 65 dieser Buchreihe vorge13

stellt. Bei jener Edition standen Erfahrungen aus dem aktiven Erwerbsleben in unterschiedlichen Berufsfeldern im Vordergrund. Der Schreibaufruf enthielt aber auch den Appell, Arbeitszusammenhänge abseits der geregelten 40-Stunden-Woche sowie Brüche, Übergänge und Auszeiten in der persönlichen Erwerbsbiographie nicht außer Acht zu lassen. Im Besonderen wurde angeregt, persönlich erlebte Umstände und Veränderungen im Bereich der Hausarbeit und Kinderbetreuung ins Blickfeld zu nehmen und diese Tätigkeitsfelder somit eingehender auszuleuchten, als dies gemeinhin aus eigener Schreibmotivation heraus der Fall wäre. Tatsächlich befasste sich etwa ein Drittel der rund sechzig Einsendungen von Frauen vorwiegend oder ausschließlich mit Hausarbeit; die übrigen Beiträge konzentrierten sich zumeist auf unselbständige Erwerbstätigkeit in verschiedenen Metiers. Landwirtschaftliche Arbeitszusammenhänge, wie sie in früheren Bänden der Buchreihe9 schon öfter im Mittelpunkt standen, wurden aufgrund dieses Schreibaufrufs kaum thematisiert und blieben auch bei der Textauswahl für diesen Band ausgeklammert. Dokumentiert sind hier also vorzugsweise umfangreichere Erzählungen von Frauen, die aus eigener Erfahrung und über eine längere Zeitspanne hinweg über ihre Tätigkeit in verschiedenen, vorwiegend als traditionell weiblich konnotierten Berufsfeldern berichten.10 Abschließend ist noch auf eine weitere verbindende Gemeinsamkeit der Autorinnen dieses Buches hinzuweisen, nämlich auf eine ausgeprägte persönliche Neigung zum Schrei­ben – und das in zum Teil sehr unterschiedlichen Genres. Aus diesem Interesse heraus stehen die meisten von ihnen schon seit Jahren mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen an der Universität Wien in Verbindung; auch wenn erst zwei von ihnen bisher als Autorin bzw. Mitautorin von Bänden dieser Buchreihe in Erscheinung getreten sind. 14

Der hohe Stellenwert des Schreibens im Alltag dieser Frauen, ihre vielfältige und elaborierte Schreibpraxis wie auch das damit verbundene Selbstbewusstsein der Schreibenden signalisieren einen deutlichen Wandel in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der „popularen Autobiographik“ seit der Formulierung dieses Genrebegriffs Mitte der 1980er Jahre.11 Wie könnte es aber auch anders sein: Die technischen Grundlagen des Schreibens wurden in den letzten drei Jahrzehnten geradezu revolutioniert. Die Tatsache, dass erstmals in dieser Buchreihe alle Beiträge dieses Sammelbandes von den Autorinnen selbst am Computer abgefasst und in digitaler Form bereitgestellt wurden, soll hier nur als ein Indikator für diese Veränderungen angeführt werden. Inwieweit darüber hinaus Entwicklungen auf dem Gebiet der Informationsverarbeitung oder die Nutzung der neuen Medien auch schon die heutigen Praktiken des Erinnerns und Dokumentierens bzw. die konkrete Ausgestaltung von Erinnerungstexten mitbestimmen, müsste erst eingehender untersucht werden. Nicht zu übersehen sind aber auch die geänderten Bildungsvoraussetzungen: Jene „frühen“ Autorinnen, die schon ab den 1980er Jahren ihre Beiträge zum Erfolg dieser Buchreihe leisteten (wie Maria Gremel, Barbara Passrugger, Maria Horner, Maria Schuster, um nur die meistgelesenen beim Namen zu nennen), hatten sich das Schreiben – wie übrigens oft auch ihre beruflichen oder hauswirtschaftlichen Fertigkeiten – aus Mangel an leistbaren (Aus-)Bildungsmöglichkeiten mehr oder weniger autodidaktisch angeeignet bzw. oft überhaupt erst im Alter Zeit und Zugang zu diesem „Hobby“ gefunden. Im Gegensatz dazu haben die hier versammelten „jüngeren“ Autorinnen großteils – wenn auch manchmal erst auf Umwegen und mit gewissen Abstrichen von ihren Wünschen – schon eine solidere Schul- und Berufsausbildung erfahren und später größtenteils subjektiv befriedigende Tätigkeitsbereiche erlangen bzw. für sich schaffen können. 15

Neben ihren „Hauptberufen“ und in der Zeit danach haben die Autorinnen dieses Bandes überdies einen bemerkenswerten schriftlichen „Output“ hervorgebracht: In der Zusammenschau haben sie tausende Seiten mit Tagebuchund anderen lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen gefüllt, unzählige Typoskripte und Transkriptionen alter Handschriften angefertigt, rund ein Dutzend Kinderbücher, etliche autobiographische Werke sowie Gedichtbände in Mundart und Hochsprache herausgebracht. Weiters haben einzelne von ihnen wissenschaftliche Artikel publiziert, in Verlagen mitgearbeitet oder einen solchen mitbegründet, mehrere Literaturpreise und andere Formen der öffentlichen Anerkennung erhalten, einen alljährlich stattfindenden „Tagebuchtag“ initiiert, lebensgeschichtliche Gesprächsrunden geleitet und sich um vielerlei sonstige Projekte im Bereich der Bildungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen, Frauen oder alten Menschen verdient gemacht. Unter diesem Gesichtspunkt wird zwar nicht unbedingt ein „Generationsunterschied“, aber doch ein markanter Wandel sichtbar: einerseits zwischen der eben skizzierten reichen Publikationspraxis der Autorinnen dieses Bandes und beispielsweise der Haltung einer Maria Gremel, die während der Niederschrift ihrer umfangreichen Lebenserinnerungen noch felsenfest davon überzeugt war, dass „kein Fremder […] lesen [wird], was ich schreibe“12; andererseits im Hinblick auf die Partizipation wie auch auf ein offenkundig doch viel breiter gewordenes öffentliches Interesse an kulturellen Aktivitäten dieser Art, wie zum Beispiel an den vielen Formen der Auseinandersetzung mit lebensgeschichtlichen Themen, die sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet haben. Nicht zuletzt ihre zahlreichen mehr oder weniger einschlägigen „Vorarbeiten“, das reichhaltige Gemisch an Lebens-, Arbeits-, Beziehungs- und Schreiberfahrungen, aus dem die 16

Verfasserinnen der folgenden Erinnerungstexte schöpfen können, machen diese Sammeledition jedenfalls zu einem stimmigen Jubiläumsband in dieser Buchreihe – 30 Jahre oder circa eine Generationsspanne, nachdem erstmals in diesem Rahmen „Geschichte aus Lebensgeschichten“ aufbereitet und zur Lektüre angeboten wurde.

Anmerkungen  1 Zeitgleich mit dem vorliegenden Band erscheint – in vieler Hinsicht ein Pendant aus dem bäuerlichen Bereich – der Band 68: Theresia Oblasser, Eigene Wege. Eine Bergbäuerin erzählt. Wien/Köln/Weimar 2013.  2 Barbara Waß, Brief an Michael Mitterauer vom 19.7.1984, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Korrespondenz.  3 Vgl. Sylvia Paletschek, Kinder – Küche – Kirche, in: Etienne François (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, 419–433, 419 f.  4 Barbara Waß, Mein Vater, Holzknecht und Bergbauer, Wien/Köln/Graz 1985; Barbara Waß, „Für sie gab es immer nur die Alm …“ Aus dem Leben einer Sennerin, Wien/Köln/Graz 1988.  5 Maria Schuster, Arbeit gab’s das ganze Jahr … Vom Leben auf einem Lungauer Bergbauernhof, Wien/Köln/Weimar 2001.  6 Maria Gremel, Mit neun Jahren im Dienst. Mein Leben im Stübl und am Bauernhof, 1900–1930, 2. Aufl., Wien/Köln/Weimar 1991.  7 Eine differenziertere Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegsjahrzehnte bietet das Nachwort zu diesem Band von Jessica Richter und Brigitte Semanek.  8 Vgl. Paletschek, Kinder – Küche – Kirche, 427 f.  9 Vgl. neben den bereits angeführten Werken in dieser Buchreihe vor allem die Bände 5: Therese Weber (Hg.), Mägde. Lebenserinnerungen an die Dienstbotenzeit bei Bauern, 2. Aufl., 1991; 60: Rosa Scheuringer (Hg.), Bäuerinnen erzählen. Vom Leben, Arbeiten, Kinderkriegen, Älterwerden, 2007; unter den Monographien und speziell für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Bände 61: Elisabeth Amann, „Dieses bisschen Glück …“ Stationen einer rastlosen Kindheit und Jugend, 1941–1955, 2009; 63: Elisabeth Glettler, Kein siebenter Tag. Kindheit in der Einschicht, 2010. 10 Hinsichtlich der Darstellung der Lebenswelten städtischer weiblicher Dienstboten hat dieser Sammelband einen Vorläufer im Band 62: Andrea Althaus (Hg.), Mit Kochlöffel und Staubwedel. Erzählungen aus dem Dienstmädchenalltag, 2010. 11 Der Begriff populare Autobiographik umschreibt die Gesamtheit der Formen lebensgeschichtlichen Schreibens (Tagebücher, Briefe, Lebensberichte usw.) von Angehörigen sogenannter „bildungsferner“ Gesellschaftsschichten bzw.

17

von Personen, die aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Tätigkeit kein professionelles Verhältnis zum Schreiben haben. Vgl. Bernd Jürgen Warneken, Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung, Tübingen 1985. 12 Gremel, Mit neun Jahren im Dienst, 11.

18

„Einteilung ist alles, war meine Devise …“ Ilse Wolfbeisser wurde am 18. November 1929 als Ilse Kirchner in Wien geboren und wuchs als Einzelkind in bürgerlichen Verhältnissen in WienHetzendorf auf. Ihr Vater war Beamter der Creditanstalt-Bankverein, ihre Mutter Klavierlehrerin. Sie besuchte in Wien eine evangelische Volksschule und die Unterstufe einer Mädchenoberschule. Später, nachdem sie mit ihrer Mutter im Frühjahr 1945 vor der herannahenden Sowjetarmee nach Westen geflüchtet war, absolvierte sie in Feldkirch in Vorarlberg eine Handelsschule und sammelte in diesem Bundesland auch ihre ersten beruflichen Erfahrungen in einer Import-Export-Firma und als Schriftführerin im Bezirks- und Landesgericht. Eine besonders innige Beziehung verband die Autorin zeitlebens mit ihrem Vater. Dieser war 1941 aus deutschnationaler Überzeugung zur deutschen Wehrmacht eingerückt, erlangte in dieser den Rang eines Hauptmanns und kam im Sommer 1945 nach kurzer Gefangenschaft aus dem Krieg zurück. Da er Mitglied der NSDAP gewesen war, war die Wohnung der Familie vorübergehend beschlagnahmt worden und eine Rückkehr in das von den alliierten Mächten besetzte Wien vorerst nicht erstrebenswert. Ilse Wolfbeisser heiratete 1951 und zog zu ihrem Mann nach Innsbruck, der als leitender Angestellter eines Spielwarengroßhandelsunternehmens den Familienunterhalt fortan weitgehend allein bestritt. Sie widmete sich hauptsächlich den Aufgaben als Hausfrau und Mutter von zwei Töchtern und zwei Söhnen, die im folgenden Jahrzehnt geboren wurden. Allerdings sorgte sie auf unterschiedli19

che Weise, zum Beispiel durch Gelegenheitsarbeiten als Schneiderin oder durch den Verkauf von Eiern aus eigener Hühnerzucht, häufig für einen Zuverdienst. Während der Zeit in Tirol zog die Familie mehrmals um, bevor sie 1961 nach Wien zurückkehrte. 1971 trat die Autorin wieder ins aktive Erwerbsleben ein und arbeitete noch knapp zwei Jahrzehnte als Sekretärin. Nach ihrer Pensionierung im Jahr 1990 entdeckte Ilse Wolfbeisser unter anderem das Schreiben als Hobby. Einerseits erstellte sie seither eine Vielzahl von Abschriften historischer Textdokumente für Museen und Bildungseinrichtungen, andererseits hielt sie in mehreren lebensgeschichtlichen Manuskripten persönliche Erfahrungen und Erinnerungen für ihre Angehörigen und für die Textsammlung der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ fest. Der folgende Beitrag setzt sich aus zwei Erinnerungstexten zusammen, die Ilse Wolfbeisser aufgrund des Schreibaufrufs „Arbeit ist das halbe Leben“ in den Jahren 2009/10 zum einen über ihr Erwerbsleben, zum anderen über ihre Erfahrungen als Hausfrau verfasst hat. Die Generation meiner Mutter war es gewohnt, nur Hausfrau zu sein. Der Mann war der Familienerhalter, der Alleinverdiener. Dieses Denken machte sich noch in der Zeit bemerkbar, als ich daranging, mit meinem Mann einen Hausstand zu gründen. Meine Mutter war jedoch eine Ausnahme. Sie hatte schon mit 18 Jahren geheiratet – den Falschen, wie sich schon am ersten Tage herausstellte. Nach fünf Wochen warf sie das Handtuch, und nach einem langwierigen Prozess wurde sie drei Jahre später „von Tisch und Bett“ geschieden. Mein Großvater, der sich bewusst war, dass eine geschiedene Frau 1919 kaum Aussicht auf einen neuen Ehemann hatte, schickte meine Mutter, weil sie sehr gut Klavier spielen konnte, aufs Konservatorium, um sie Klavierlehrerin studieren zu lassen. Nach drei Jahren Studium und Abschlussprüfung durfte sie sich „staatlich geprüfte Klavierpädagogin“ nennen. 20

Mein Großvater war ein weiser Mann: Erst 1926 fand sie den Mann fürs Leben – und das war mein Vater. Mein Vater war bei der Creditanstalt-Bankverein und hat als Bankbeamter sehr gut verdient. Noch besser verdiente meine Mutter, weil sie sich einen großen Schülerstock aufbauen konnte. Sie konnte es sich leisten, eine Bedienerin zu beschäftigen. Soweit ich zurückdenken kann, war die „Frau Fanny“ in unserem Haushalt tätig und machte alles bis auf die Mahlzeiten, die meine Mutter selbst zubereitete. Sie war eine sehr gute Köchin, bevorzugte die Wiener und mährische Küche, weil meine Großmutter, die im gleichen Haus wohnte, aus der Gegend von Znaim gebürtig war. (Vor meiner Hochzeit habe ich sie ausgefragt und alle Rezepte und Zubereitungsarten in ein Heft geschrieben.) Gekocht wurde üppig – keine Frage, deshalb gab es früher auch so viele Mollige! Mit viel Einbrenn und Einmach und „Man nehme zehn Eier …“ usw. (Ich habe unlängst ein Kochbuch einer bereits verstorbenen Urgroßmutter transkribiert und las amüsiert die gleichen Rezepte.) Die große Wohnung in Hetzendorf, eine sogenannte „Hausherrenwohnung“, machte mit Parkettböden, Kachelöfen und zwei Fensterfronten viel Arbeit. Die Teppiche wurden auf der Klopfstange im Hof gereinigt (jeder Hof hatte eine Klopfstange) oder mit dem Staubsauger gesaugt. Das war das einzige elektrische Gerät außer dem Bügeleisen, an das ich mich erinnern kann. Wie mühsam war das Bohnern der Böden! Das Allerärgste aber waren die Waschtage – ich glaube, einmal im Monat, denn früher hat man nicht so oft die Bettund Leibwäsche gewechselt wie jetzt. Die Tischtücher, Stoffservietten, Taschentücher – alles musste gekocht werden. Der Waschtag dauerte für den Dreipersonenhaushalt einen ganzen Tag. Selten bin ich in den Keller gegangen, wo sich die Waschküche befand, um der Frau Fanny etwas zu brin21

gen. Dann fand ich sie dort – hochrot im Gesicht und an den Händen – in Schwaden von Wäschedunst mit Waschrumpel an einem Bottich stehend vor. Gewaschen wurde mit Kernseife, Soda, Bleichmittel und vielem „Rumpeln“. Auch gestärkt musste die Wäsche sein. Die Wäsche wurde im Sommer im Hof aufgehängt, im Winter auf dem Dachboden. An diesen Waschtagen hat meine Mutter besonders gut gekocht. In der Küche befand sich eine gesonderte Abwasch, wie sie damals jede Küche hatte: Aus dem unteren Teil des Küchenkastls konnte man einen Einsatz mit zwei Zinkwannen he­rausziehen. Mit Soda, Scheuersand und Drahtwascheln bekam man das Geschirr sauber. Es gab eine schöne „Speis“ (Speisekammer) an der Nordseite der Wohnung neben der Küche, die im Sommer recht kühl war und im Winter frostfrei. Trotzdem mussten die Essenszutaten jeden Tag frisch eingekauft werden. Gekochte Reste hielten sich nur im Winter. Nudeln hat meine Großmutter, einen Stock darunter, noch selbst gemacht – meine Mutter kaufte sie schon fertig. Der Fleischhauer war eine Vertrauensperson ersten Grades. In der Gasse gab es einen, zu dem ging nur meine Großmutter. Vor meiner Mutter fanden nur zwei weiter entfernte Gnade: der in der Hetzendorfer Straße oder der in der Schönbrunner Allee. Semmeln brachte uns die Hausmeisterin in der Früh und Milch die Milchfrau, die in die Wohnung meiner verstorbenen Großmutter zog. Wir hatten einen Obstgarten hinter dem Haus, meine Tante nebenan einen Schrebergarten. Damals hat man selbst eingekocht, eingeweckt, jedes Stück Obst verarbeitete man zu Marmelade, Mus, Kompott, Strudel. Auf dem Markt in Meidling wurden die fehlenden Erdbeeren erstanden. Erdäpfel und Zwiebeln wurden in größerer Menge zur Erntezeit gekauft. Im Frühjahr gab es einfach keine mehr. Und sonst gab es nur „Gemüse der Saison“. Es war ein sparsames Wirtschaften, 22

auch in der gutbürgerlichen Küche, die ohne Kuchen und Torten am Wochenende undenkbar war. Die Wohnung hatte ein schönes Badezimmer – mit einem Kohleofen, in dem das Wasser für jedes Bad erwärmt werden musste. Sonst gab es nur Kaltwasser aus den Hähnen. Meine Mutter konnte nähen, hat aber aus Zeitmangel nichts Neues angefertigt. Dass sie viel gehandarbeitet hat – hauptsächlich Stickereien –, lag im Trend der Zeit. Früher gab es viel mehr zu putzen: Lederschuhe, Vollholzmöbel. Das Silberzeug – von dem meine Mutter eine Menge hatte – putzte sie selbst. Es gab ja noch keinen Anlaufschutz. An ein Kassabuch kann ich mich erst später, in der Flüchtlingszeit, erinnern. Wenn meine Mutter eine Differenz feststellte, schrieb sie einfach „Diverses“ hinein. Das ist eigentlich nicht der Sinn und Zweck des Buchführens. Ich wuchs also wohlbehütet als Einzelkind in einer gutbürgerlichen Familie auf, wie man so sagt, war aber als Kind sehr pflegeleicht. Ich bin oft stundenlang in meinem Kinderzimmer gesessen und habe gezeichnet und gebastelt, während meine Mutter Unterrichtsstunden gab. Der Werdegang war vorgegeben, wurde aber, wie bei den meisten Menschen, durch den Krieg und seine Auswirkungen stark beeinflusst. Ich ging am Karlsplatz in Wien in die evangelische Volksschule; anschließend in die Oberschule (entspricht dem heutigen Realgymnasium) für Mädchen in die Wenzgasse im 13. Bezirk. Mit 14 Jahren war mein Berufswunsch Kunstgewerblerin, denn ich war immer die Zweitbeste in Zeichnen, weshalb meine Mutter mit mir – ich war zu der Zeit in der fünften Klasse – Anfang 1945 in die Kunstgewerbeakademie am Stubenring ging und mich anmeldete. Das Kriegsende beendete alle Zukunftspläne. Meine Mutter ist mit mir im letzten Mutter-und-Kind-Transport, der vom zerbombten Westbahnhof abging, am 31. März 1945, 23

Ostersamstag, auf einer zwölftägigen abenteuerlichen Fahrt quer durch die Noch-„Ostmark“ bis – letztendlich – Feldkirch geflüchtet. Weiter westlich ging es nicht. Und dort sollte ich sechseinhalb Jahre lang bleiben bis zu meiner Heirat im November 1951. In den ersten Monaten wurden uns in einer nagelneuen Wohnung das Schlafzimmer und die Wohnküche zugewiesen. Die anderen Räume, vor allem das Badezimmer, waren abgesperrt. Die Kriegerwitwe, der die Wohnung gehörte, konnte sie nie mit ihrem damals vermissten Mann bewohnen. Mitgebracht hatten wir je einen großen Koffer mit Sommerkleidung – meine Mutter dachte, dass dieser Zustand nur ein paar Wochen dauern werde. Mittlerweile wurden aber in unsere Wiener Wohnung Kommunisten von der Gasse eingewiesen. Das Haushalten war jetzt ein völlig anderes. In Vorarlberg war die Lebensmittelversorgung wesentlich besser als in der Großstadt Wien. Trotzdem bekam man nur, was auf den Lebensmittelkarten aufgerufen wurde, und das war zum Leben zu wenig. Mein Vater fand uns nach einigen Wochen, als er von der Besatzungsmacht als Hauptmann entlassen worden war. Er hatte einen Schatz bei sich: zwei Block gepressten Tabak zu je einem Kilogramm. Filterpapier hatte er sich irgendwie beschafft. Wir gingen jeden Tag auf den kleinen Berg oberhalb unseres Hauses, um vier „Gestopfte“ für einen Liter Milch beim Bauern einzutauschen. Auf dem Heimweg sammelten wir Bockerln (Tannenzapfen), die vom Schlag noch frisch waren und nicht so schnell verbrannten. Auf dem Schwarzmarkt kauften wir um horrendes Geld hauptsächlich Speck und Fett ein, und immer wieder ging meine Mutter hamstern, um Eier und Grundnahrungsmittel zu ergattern. „Riebel“ war damals die Hauptnahrung der Vorarlberger; das ist grober Maisgrieß, zu Polenta eingekocht und in Fett abgeröstet so wie Grießschmarren. 24

Den aßen sie zum Frühstück mit Kaffee-Ersatz, zu Mittag mit Gemüse und am Abend mit Kompott (alle hatten Gärten). Meine Mutter war froh, wenn sie auch etwas Riebel oder Erdäpfel ergatterte. Ich weigerte mich, sie zu begleiten; ich fand es so „genant“*, dass ich mich nicht überwinden konnte. Man wurde sehr erfinderisch in dieser Nachkriegszeit, wo es Stoffe erst 1947 oder gar 1948 gab. Welche Sensation in Feldkirch, als die ersten Stoffe von Ganahl oder Hämmerle zum Verkauf angeboten wurden! Damals entwickelte sich mein Schneidereitalent; mein erstes Werk war ein Mantel aus einer Wehrmachtsdecke, der mir noch zugeschnitten werden musste. Nach einem Dreivierteljahr gelang es unserer Wohnungsbesitzerin, die Wohnung aufzulösen und die Möbel zu übersiedeln, sodass man uns in das Nachbardorf in eine Zweizimmerwohnung am Rande der Stadt einwies: zwei kleine Zimmer im ersten Stock, das Plumpsklo im Stiegenhaus im Zwischenstock. Unsere Lage hatte sich weiter verschlechtert. In einem Zimmer schliefen meine Eltern, und dort stand auch das Klavier, das meine Mutter wegen ihrer Berufsausübung aus Wien frei bekommen konnte. In dem anderen Zimmer stand ein altmodischer, unbequemer Diwan, auf dem ich schlafen musste, und in der Ecke ein Sparherd – der gleiche, den wir in der Küche davor und auch in unserer Wiener Küche hatten. Dieser Typ Herd war seinerzeit die Erfindung. Er hieß in allen Sprachen so und muss daher einen Deutschen als Erfinder haben. Er war rechteckig, klein bis mittelgroß und hatte immer die gleiche Ausstattung: Auf der Vorderseite war die Heizungstüre, geeignet für Holz, Kohle oder Briketts, darunter die Aschenlade. Daneben befanden sich eine Backröhre und der obligatorische Wasserbehälter – die praktischste Seite des Herdes, denn so hatte man immer warmes Wasser zur Verfügung, das es sonst nicht gab. Die Sparherdplatte hatte zwei 25

Öffnungen, mit Ringen versehen, sodass man verschieden große Töpfe aufsetzen konnte, die direkt auf das Feuer gestellt wurden, damit keine Hitze verlorenging. Die Unterseite der Töpfe war natürlich immer verrußt. Man konnte durch die Öffnungen auch schneller Heizmaterial nachlegen. Hier wurde für drei Personen alles gekocht. Wasser mussten wir nebenan bei der Hausfrau holen – auch fürs Waschen. Welch ein Unterschied! Dieser Zustand dauerte immerhin bis 1954, als meine Eltern die Wiener Wohnung zurückerhielten. Im Sommer 1945 stellte sich unter anderem die Frage, wie es mit meiner schulischen Ausbildung weitergehen solle. In Feldkirch gab es nur die „Stella Matutina“ – ein humanistisches Gymnasium, in dem bereits ab der ersten Klasse Latein unterrichtet wurde. (In der Oberschule, die ich in Wien besucht hatte, war das erst ab der sechsten Klasse vorgesehen.) Das Realgymnasium in Bludenz lehrte ab der dritten Klasse Französisch; auch hier wäre ich niemals mitgekommen bzw. hätte die fehlende Zeit nicht aufholen können. Da erfuhren meine Eltern, dass eine zweijährige kaufmännische Wirtschaftsschule in Feldkirch aufgemacht wurde, hauptsächlich gedacht für Kriegsheimkehrer, die eine rasche Berufsausbildung benötigten, und auch für Mädchen älteren Semesters. Da fand sich alles ein: gestandene ehemaligen Soldaten, angefangen mit einem 34-Jährigen als Ältestem; die Mädchen waren meist jünger, ich jedenfalls war eine der wenigen im passenden Alter. Es war selbstverständlich, dass ich mich mit meiner bisherigen Schulbildung hier „spielte“. Als Klassenbeste schloss ich „mit sehr gutem Erfolg“ ab, aber das war keine Kunst. Ich war trotzdem voll bei der Sache, und das wurde mir von der Lehrerschaft honoriert, die ihre liebe Not mit den „alten Herren“ hatte. (Bei Betrachtung meines Zeugnisses stelle ich zu meiner Überraschung fest, dass ich in Maschineschreiben 26

die Note „Gut“ bekam. Wir hatten nicht eine einzige Stunde Unterricht, denn die französische Besatzungsmacht hatte der Schule die Maschinen weggenommen, sodass ich gezwungen war, mir Maschine schreiben auf einer Uralt-Maschine – die mir als Tochter eines ehemaligen Revisors in der CA-BV zur Verfügung gestellt wurde – und mit Hilfe eines Übungsbuches selbst beizubringen. Deshalb ersparte ich mir die oberste Tastenreihe und kann bis heute keine Zahlen blindschreiben.) Meiner Mutter gelang es, die alte Nähmaschine meiner verstorbenen Großmutter aus den Klauen des Wiener Magist­ rats freizubekommen, welcher sie bei der Wohnungsbesetzung in ein Depot verfrachtet hatte, und ich konnte nun mein angeborenes Talent beweisen, indem ich für die Kinder des Dorfgreißlers Stoffpuppen fertigte. Außerdem beklebte ich einen großen Karton und wandelte ihn in ein Puppenhaus um: mit Vorhängen, Bettwäsche und Teppichen, aus Holzabfällen aus dem Sägewerk formte ich Möbel und was ich so zusammenbrachte. Die Greißlereltern waren so entzückt, dass wir etliche Eier, Mehl, Zucker und endlich auch Butter bekamen, die ich mir als Butterbrot vergeblich zu Weihnachten gewünscht hatte. In der Schulzeit hatte ich Gelegenheit, für zwei Schulkolleginnen, Bauerntöchter, zwei schöne Dirndlkleider zu nähen, wofür sie mich ähnlich honorierten. Ich konnte mit sechzehn schon recht gut schneidern. Vorausschicken sollte ich, dass es meine Eltern als Flüchtlinge weder beruflich noch privat leicht hatten, wieder Fuß zu fassen. Mein Vater wurde nach etlichen Umwegen Oberbuchhalter in einer Maschinenfabrik in Hard, einem Ort am Bodensee bei Bregenz, zuletzt Chefbuchhalter bei Kunert, Strumpffabrik in Rankweil. Mein Berufsleben habe ich unter den denkbar schlechtesten Voraussetzungen angetreten: Meinen ersten Job als Sekretärin begann ich im Spätsommer 1947 bei einer Import27

Export-Firma, die hauptsächlich mit CARE-Paketen handelte. Meiner Generation ist es geläufig, was es mit dieser Firma CARE für eine Bewandtnis hatte, aber Jüngeren möchte ich die im November 1945 gegründete, großartige Hilfsaktion aus Amerika für die notleidende Bevölkerung (nicht nur in Österreich) kurz erläutern. Die 22 Kilogramm schweren Lebensmittelpakete enthielten 35 000 Kalorien und bestanden aus allerlei Nützlichem und Haltbarem. Nach Österreich allein gingen insgesamt eine Million Pakete! Sie kamen über die Schweiz, und es war das Geschäft! Ganz richtig, die Pakete waren so wertvoll, dass es ein „Geschäft“ war, mit dem man gut verdienen konnte. Und diese sogenannte „Firma“ war eine Scheinfirma (wie ich später erfuhr, als ich beim Landesgericht arbeitete, wo sie sich einen „Namen“ machte), auf Deutsch: Die zwei Kompagnons hatten die Pakete illegal verschoben. Das war aber nicht der springende Punkt, sondern dass die zwei Männer in dem Büro nichts zu tun hatten, was nach Arbeit aussah. Ich habe daher keine Erinnerung, was ich außer ein paar Frachtbriefen sonst noch zu schreiben hatte. Sehr bald erkannte ich, dass der eine – ein verheirateter Mann, der die meiste Zeit dort war – nur eine Kraft für seine „Bedürfnisse“ gesucht hatte. Er wurde so zudringlich, wie man es jetzt oft über „sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ hört und liest. Ich war ja völlig unbedarft mit meinen kaum 18 Jahren und war daher verunsichert. Nach kaum zwei Monaten setzte mir dieser Kerl so zu, dass ich diese ungute Stätte fluchtartig verließ und am Abend meinem Vater alles erzählte. Den packte der Zorn, und am nächsten Tag marschierte er mit mir schnurstracks in die „Firma“, las diesem Menschen die Leviten und drohte ihm mit Anzeige. Nach diesem unschönen, heftigen Auftritt nahm mich mein Vater gleich wieder mit. Ich traf beide „Herren“ später des Öfteren vor Gericht wieder, wo ich dabei behilflich war, jenen, der sich – abgesehen 28

von weiteren Veruntreuungen und Betrügereien – im Außendienst betätigt hatte, zu einigen Monaten zu verdonnern. Da stand ich nun, ein gebranntes Kind. Die Zeiten waren gut, das Land im Wiederaufbau, und Kräfte wurden gebraucht. Eine Schriftführerin am Landesgericht Feldkirch wurde gesucht – und in meiner Person gefunden. Ich dachte mir, hier könne mir bestimmt nichts passieren. Wie ich noch schildern werde, war ich zweimal mit Unterbrechung dort beschäftigt, und ich muss sagen, das war die schönste Arbeitsstätte in meinem Leben! Ich trat die Stelle als Stenotypistin am 10. November 1947 in diesem Riesengebäude an. Wir waren nur drei Mädchen unter lauter Männern, die ganz freundlich zu uns sein mussten (und waren), weil die Schreibstube überlastet war. Ich wurde im Haus aber auch ausgeliehen: Ich war im Grundbuch (dort war es fad), kam ins Bezirksgericht (schon spannender), Ehescheidungsabteilung (aufregend und hässlich; die interessantesten Fälle wurden mir zarter Jungfrau vorenthalten). Ich habe noch erlebt, dass Homosexuelle verurteilt wurden, und zwar nicht zu knapp, für heutige Verhältnisse unvorstellbar. Ich habe bei Schwurgerichtsverhandlungen in Steno mitgeschrieben und dann gleich ins Reine getippt (später hätte ich es nicht mehr lesen können). Im Landesgericht schrieb ich – in Fällen, wo es keinen Widerspruch gab – teilweise die Urteile samt Begründung selber. Ich kündigte Ende Mai 1948 (das wunderschöne Zeugnis habe ich noch), weil ich die Möglichkeit hatte, in Basel Modezeichnen zu lernen. Da nach dem Ersten Weltkrieg eine reiche Luganer Familie meine Mutter und ihren Bruder, wie damals üblich, bei sich zur Erholung aufgenommen hatte und wir dieses feudale Haus nach dem Krieg besuchten, hätten sie mir das Studium finanziert. Ich war in einem Verlag in Basel, ähnlich dem Haus Burda, als Volontärin, wo ich meist Schnittmuster für Matrizen kopierte, und wohnte in einem evangeli29

schen Damenheim – beides schrecklich langweilig. Ich erinnere mich noch, dass ich mich an der Kunstakademie für Kurse einschreiben wollte und gleich darauf am Fremdenmeldeamt keine Aufenthaltserlaubnis bekam, da ich keine „Saaltochter“ (Serviererin) war. Nur für diesen Beruf hätte ich sie bekommen. Ich war gar nicht böse – wer weiß, ob mein Talent gereicht hätte, und ich hatte solches Heimweh. Mit den Schweizern wurde ich nicht warm, und mit dem Geld kam ich auch nicht zurecht – Essen gehen und teure Genüsse, die es bei uns noch nicht gab. So kehrte ich von dem zweimonatigen Intermezzo zurück. Bei Gericht war keine Stelle vakant, weshalb ich mich, um meine Englischkenntnisse einsetzen zu können, im September 1948 entschloss, mich bei der Pfaff-Nähmaschinenvertretung, welche auch amerikanische Schusternähmaschinen im Programm hatte, als Englischkorrespondentin zu bewerben. Ich hatte mein Englisch durch die Toussaint-LangenscheidtMethode weiter vervollständigt, mittels alter Lehrhefte, sodass die Amerikaner meinen Chef fragten, ob er einen alten Professor als Übersetzer beschäftigen würde, und sehr überrascht waren zu hören, dass ich ein junges Mädchen sei. Die amerikanische Vertretung wurde aufgelassen, und ich war überflüssig. So bewarb ich mich im Juni 1949 als Sekretärin und Vorführfräulein bei der Remington-Schreibmaschinenvertretung. Mein Vater hatte seine alten Beziehungen spielen lassen und mit der Creditanstalt gegen Provision ein Geschäft für Schreibmaschinen entriert*. Als ich erfuhr, dass bereits geliefert wurde, die Firma aber keine Anstalten machte, ihm die Provision auszuzahlen, informierte ich meinen Vater darüber, was mir als Treuebruch ausgelegt und als Anlass gesehen wurde, mich zu kündigen. Schließlich stand mir mein Vater näher als die Firma. Daraufhin fuhr ich wutentbrannt im Oktober 1949 zu der Hauptvertretung in Wien, wo ich den Fall schilderte und 30

prompt als kaufmännische Angestellte genommen wurde. (Es war geplant, dass ich eine Zeit lang nach Wien gehen solle, um die Rückgabe der Wohnung zu forcieren – genützt hat es nichts.) Ein interessantes Detail: Ich wurde für drei Wochen in die Schweiz zur Einschulung auf einer Schreibmaschine geschickt, die wie in einem Buch die Zeilen links- und rechtsbündig schreiben konnte – ein mühseliges Unterfangen! Ich habe sie auch auf der Wiener Messe vorgeführt, aber nach meiner Erinnerung fand sie kein Interesse. Ich habe nicht die Absicht, ins Detail zu gehen, aber in Wien verlor ich meine Unschuld – ich muss gestehen, an einen Unpassenden. Dies ging auf Kosten meiner Arbeitsleistung, und – ich will es nicht beschönigen – mir wurde nahegelegt zu kündigen, was ich auch tat. Daraufhin bewarb ich mich beim CIA in der Porzellangasse. Ich wurde tatsächlich genommen, aber noch am Morgen vor Dienstantritt verließ ich Wien fluchtartig mit dem Zug am 23. Juni 1950. Es war eine Flucht vor dem Mann, nicht nur vor einem Haufen gutaussehender Amerikaner! Ich kehrte unglücklich und reumütig zu meinem geliebten Landesgericht zurück, wo eine Stelle frei wurde, und blieb dort bis November 1951. Ich mache es kurz: Ich hatte das Glück, im Frühjahr 1951 in Innsbruck meinen Mann kennenzulernen, und heiratete ihn nach einem aufregenden halben Jahr im Herbst desselben Jahres in Feldkirch. Wieder fuhr ich mit zwei Koffern in der Eisenbahn, diesmal ostwärts, und es begann für mich mein erster Haushalt, mein Hausfrauenleben, das zwanzig Jahre dauern sollte. Mein Mann war bei einer Versicherung Schadensliquidator, und es war für mich – und ihn – selbstverständlich, dass ich zu arbeiten aufhörte. Ich hätte mich ohne Weiteres nach Innsbruck, wo wir zuerst in Untermiete wohnten, verset31

zen lassen können, aber das war zu jener Zeit nicht in meiner Denkweise enthalten. Damals hieß noch die Devise: Der Mann ist der Familienerhalter. Es ist müßig, darüber zu orakeln, was ich gemacht hätte, wenn ich nicht Mutter geworden wäre. Ich bekam nach genau einem Jahr meinen ersten Sohn. Bis 1960 folgten in regelmäßigen Abständen zwei Töchter und noch ein Sohn, sodass sich die Frage erübrigt, weshalb ich zwanzig Jahre nur Hausfrau war. Der Start in die Ehe war denkbar bescheiden: ein Untermietzimmer mit Küchenbenützung. Weil ich sechs Jahre als Flüchtling nicht viel besser gehaust habe, kam es mir nicht so schrecklich vor. In Innsbruck herrschte absolute Wohnungsnot. Wir hatten als Erstes das eine Doppelbett hinausgeschmissen und schliefen nur in einem, damit wir mehr Platz hatten. (Was tut man nicht alles, wenn man jung und verliebt ist!) Ich war so stolz auf meine „Aussteuer“: Meine Mutter hatte bei den Klosterschwestern in Altenstadt zwei Steppdecken aus alten Tuchenten nähen lassen und dazu je dreimal Bettwäsche zum Überziehen. Mein Mann brachte einen Schreibtisch und einen schönen Radio in die Ehe mit. Das war’s! Ich hatte ihn schon in Feldkirch bekocht, wenn er mich besuchte, und ich erinnere mich, dass ich ihm untersagte, mich beim Kochen anzureden, denn ich war zu aufgeregt! Die wichtigsten Speisen konnte ich schon. Weitere eignete ich mir mittels des Kochbuches an, welches ich mit Hilfe meiner Mutter vorher angelegt hatte. Ich konnte aber keinesfalls wirtschaften, konnte nicht mit Geld umgehen. Ich erinnere mich an einen Nikoloabend, an dem ich Freunde meines Mannes bewirtete und derartig viel für die Dekoration ausgab, dass ich hint’ und vorn mit dem Haushaltsgeld nicht auskam. Die ersten zehn Tage Saus und Braus, die nächsten zehn normal und zum Ultimo hin war Schmalhans Küchenmeister! 32

Es ging nicht lange gut als Untermieter. Die Hausfrau trank, hatte Männerbekanntschaften usw. Mein Mann suchte eine neue Bleibe, die in Innsbruck noch immer nicht finanzierbar war, sondern er wurde erst fünf Kilometer vor Schwaz fündig: ein Sommerhäuschen am Waldrand, ganz idyllisch. Ich fand es damals nicht so super. Hanglage, Zimmer, Küche, Klo, aber unterkellert (was später von Nutzen war). Als sich das zweite Kind ankündigte, baute der Hausherr, ein Zahnarzt, einen kleinen Raum an. Strom und Wasser waren wohl innen, Ofenheizung, in der Küche der obligatorische Sparherd. Aber endlich allein! Das Heizmaterial haben wir zum Teil selbst organisiert: Mittels eines „Holzklaubscheines“ konnten wir „Dürrlinge“ im Wald hinter dem Haus „klauben“. (Den Holzklaubschein stellte die Gemeinde aus, welcher der Wald gehörte; damit wurde uns erlaubt, alles, was lag und dürr war, zusammenzuklauben. Wie viele „Dürrlinge“ haben wir erst „liegend“ gemacht! Seitdem sehe ich einen Wald nur mehr mit den Augen des Dürrlingsuchers an.) Das Haus stand auf einem Riesengrundstück, auf dem Gras wuchs, welches vom Bauern unterhalb zweimal im Jahr gemäht wurde. Sonst hatten wir keinen Nachbarn, weshalb ein alter Fiat angeschafft wurde, der aber in den Wintermonaten im schneereichen Tirol die Anhöhe nur bis zur Hälfte hinaufkam. Ich war von 7 bis 19 Uhr allein, zuerst mit Hund – Hunde haben mich während unseres ganzen Ehelebens und darüber hinaus begleitet –, dann mit Sohn und später noch mit Tochter, drei Jahre lang. Hier begann erst mein richtiges Hausfrauendasein – noch immer sehr bescheiden. Hier lernte ich aber alles, was zur Hausarbeit gehört, angefangen beim Backen eines Kuchens im Sparherd, ohne dass er irgendwo anbrennt. Oder Windeln in einem großen Topf auszukochen, nicht zu reden von der Leibwäsche. Die große Bettwäsche konnten wir be33

reits nach Schwaz in eine Wäscherei bringen, was damals in Mode kam. Bekleidung war kein Problem, weil ich perfekt in der Schneiderei war und für uns alles, was nur möglich war, selber nähte, und zwar auf der alten Nähmaschine meiner Großmutter. Bei der Säuglingspflege hatte ich meine eigenen Vorstellungen. Ich kaufte das Buch „Die Mutter und ihr erstes Kind“. Darin wurde mit Zitrone gesäuerte, pure (also nicht gewässerte) Milch propagiert. Die bekam mein Sohn. Ich hatte es nicht so mit den Ärzten. Ich war im dritten Monat bei einem Arzt, der die Schwangerschaft konstatierte. Dann ging ich nie wieder zu Ärzten, denn da kannte ich mich schon aus. Da ich außerhalb vom Dorf wohnte, bekam ich auch nichts von der Mutter-Kind-Beratung mit. Erst ein paar Wochen nach der Geburt erfuhr ich von einem Termin, ging mit meinem Sohn hin, und sie stellten schwere Rachitis fest. Weil ich ihn aber jeden Tag am Balkon unter den Sonnenschirm legte (und er dazu die Zitronenmilch bekam), wurde das sehr schnell in Ordnung gebracht (er wurde 1,92 Meter groß). Es wurde noch immer einfach gekocht: viele Mehlspeisen unter der Woche, natürlich ein Sonntagessen mit Kuchen. Der Haushalt war bescheiden, aber geordnet. Wir waren im Aufbau wie so viele junge Familien in den Fünfzigerjahren. Meine nächste Erwerbstätigkeit – wenn man so sagen will – fand 1954 statt, weil ich mich wegen der Kinder nicht mehr wegrühren konnte. Um mir eine Hilfe leisten zu können, entschloss ich mich, eine „Eierfabrik“ zu gründen, im Keller des Hauses und im Auslauf davor. Wir zäunten die ebenen Teile des Grundes ein und kauften zwei Sorten Hendln: Hampshire und Italiener. Die Hampshire waren groß und braun und legten die großen Eier mit brauner Schale, die Italiener zart (das sind die hübschen Hähne aus den Bilderbüchern) mit kleineren, weißen Eiern. So nach jedem Geschmack 34

Abb. 1: Ilse Wolfbeisser vor dem gemieteten Sommerhaus mit Hühnerstall in Weer, Tirol (1953)

Abb. 2: Ehemann Sepp und Sohn ­Michael (1954)

der Kundschaft. In Innsbruck gab es beim Markt ein Eierfachgeschäft. Mein Mann brachte jeden Morgen vor dem Büro das Gelegte dorthin, sie nahmen es mit Handkuss, und ich bekam einen schönen Preis. 35

Wie gesagt, sollten diese Eier eine Hilfe finanzieren, ein junges Mädchen aus Jenbach. Sie schlief im sogenannten „Jägerhäusl“ am Ende der Wiese. (Vorher konnte ich es noch an durchreisende Touristen vermieten, obwohl das Häusl winzig war, aus Massivholz gefertigt und einfachst eingerichtet – das waren noch Zeiten!) Das Mädchen war die meiste Zeit beim Bauern unterhalb des Grundes, der einen Sohn hatte. Nach einigen Monaten kamen wir eines Tages von einer Einkaufstour aus Schwaz zurück, als gerade ein furchtbares Unwetter durchzog. Mit bösen Ahnungen sausten wir zum Haus hinauf. Kein Mädchen weit und breit, und das Kückengehege mit der Heizglocke im Freien vom Hagel niedergeprackt* samt zweihundert Küken! Sie hatte einfach darauf vergessen. Das genügte uns. Das Mädchen wurde heimgeschickt, und ich stellte mich auf den Innsbrucker Markt und verkaufte meine letzten 34 Hühner, die ich anderswo nicht mehr losbrachte. Leichten Herzens, denn die Viecher waren zum Abgewöhnen – blöd, aber voller Tricks, um bei einer Lücke im Zaun durchzukommen. Und dann lauerte der „Geier“ (Bussard) schon und schleppte sie weg und rupfte sie, bis sie halb hin* waren. Dann habe ich sie unter ein Lavoir* gepackt und den Kopf abgehauen. (Das Lavoir deshalb, weil sie noch so lange zuckten, wenn sie kopflos waren.) Die Familie vergrößerte sich, neuer Wohnraum tat not – wiederum nicht in der Stadt, sondern in Rum, acht Kilometer vor Innsbruck, am Berghang der Nordkette, mitten im Ort. Ein gewaltiges Stück Fortschritt! Die Wohnung muss ich schildern: Ein Wohnzimmer, durch einen Gang mit großem Fenster, in dem man gut Kaffee trinken konnte, mit dem Schlafzimmer verbunden, eine Wohnküche, ein Kinderzimmer; im Halbstock ein Bad mit Waschküche (was weniger angenehm war, weil man ins Bad durch den kalten Gang gehen musste). 36

Am schönsten fand ich die große Terrasse, wo sich das Leben im Sommer abspielte. Im rückwärtigen Teil überdacht, sodass das Wäscheaufhängen sogar im Winter erträglich war. Wir mussten alte Möbel um ein Heidengeld ablösen – und darüber noch froh sein, denn wir hatten nicht viele. Wir kauften eine amerikanische Küche und – endlich! – einen Kühlschrank und einen Boiler. Ein Ofen, der alle Räume heizte, stand auch dort. Ich war glücklich! Ich bekam meine erste elektrische Messerschmitt-Nähmaschine, krempelte die Ärmel hoch und machte mich ans Haushalten. Das war der erste richtige Haushalt, den ich führen konnte, in etwa wie der in Wien. Das dritte Kind kam – ich konnte mir ein Au-pair-Mädchen leisten, eine liebe Studentin aus Seefeld. Sie musste nichts tun, nur da sein, wenn ich einmal wegwollte. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich nie einen Kinderwagen besaß, nur eine Tragetasche. Ich wohnte immer „schräg“; erst zuletzt in Innsbruck-Wilten hätte ein Wagen Sinn gemacht, aber da ging er mir auch nicht ab. Erst in Wien habe ich für das letzte Kleinkind ein Sportwagerl gekauft. Es gab in der Wohnung in Rum eine richtige, altmodische Waschküche, und ich weiß, wie schlimm Wäschewaschen sein kann! Die heutigen Hausfrauen haben keine Ahnung, wie so ein Waschtag kein Ende nahm. Ich habe mir bezüglich Nebenjob immer etwas einfallen lassen, so zum Beispiel, um endlich eine Wäscheschleuder zu bekommen – eine Vorgängerin der Waschmaschine, die mir die Arbeit schon sehr erleichterte. Das Geld dafür verdiente ich teilweise durch Wäschewaschen für den Greißler ein paar Häuser weiter, der fünf Kinder und die schmutzigste Wäsche hatte, die ich je erlebte. Ich musste sie zweimal waschen – mit den damaligen Waschmitteln kein Wunder. Es gab schon „Radion“; von dem Waschpulver bekam ich aber ein Hautekzem, das ich erst nach zwanzig Jahren loswurde. 37

Weiters übernahm ich vom Wirt – unserem Gegenüber – Gäste aus Köln, die er nicht mehr unterbringen konnte, und quartierte sie bei uns ein, denn es begann 1955 der Fremdenverkehr. Die paar Male konnten wir zusammenrücken, und mein Mann fuhr sie nach Italien oder sonst wohin spazieren, was auch etwas einbrachte. Die Autos wurden besser, wir wurden mobiler, und es gab bereits Firmen, die Babynahrung erzeugten, wodurch ich es leichter hatte. An die schwedischen „Mölny“-Windelhosen erinnere ich mich auch; sie waren eine große Erleichterung beim Wickeln. Geräte konnten wir uns noch nicht leisten, aber der erste Fernseher kam ins Haus! Ich schätze 1957/58. Ich erinnere mich noch an das Testbild, denn sie sendeten noch nicht rund um die Uhr, und an die Millowitsch-Bühne aus Köln, die ich liebte. Jetzt wird es Zeit, mich zu „outen“: Die perfekte Hausfrau nach allgemeiner Vorstellung war ich nie. Ich kenne nicht den Ehrgeiz, dass alles picobello sein müsse. Weihnachtsputz, Osterputz – Fremdworte. Wenn es nötig war, habe ich es gemacht. Zum Staubwischen habe ich keine Beziehung. Aber ich bin eine Wegräumwütige, ich lasse nichts liegen, es muss bei mir ordentlich aussehen. Ich gehe nicht weg, bevor das Bett nicht gemacht oder die Küche nicht aufgeräumt ist. Und ich bin sehr diszipliniert – was getan werden muss, wird getan. Ich habe nicht gerne gekocht, aber da schonte ich mich nicht. Sonst aber war mir Lebensqualität wichtiger als ein vollkommener Haushalt. Ich habe es immer geschafft – auch bei vier Kindern und später, als ich wieder berufstätig war –, mir einen gewissen Freiraum zu sichern. Es soll Frauen geben, die mit Leidenschaft putzen – mir unverständlich! Wir verbesserten uns abermals und übersiedelten 1959 in eine Villa in Innsbruck-Wilten mit Gartenbenützung, wo 38

Abb. 3: Vorführung eines selbstgeschneiderten Kleids vor dem Ehemann und Hobbyfotografen im eigenen Wohnzimmer (1956)

Abb. 4: Nähen für das dritte Baby (Herbst 1957)

39

wir den ersten Stock und den ausgebauten Dachboden bewohnten. Schlafzimmer, Wohnzimmer, ein weiteres Zimmer, Badezimmer, Klo. Im Dachgeschoß, mit einer Wendeltreppe verbunden, war die Küche, in die eine Regina-Küche – die mit den pastellfarbenen Fronten – eingebaut wurde; daneben das Kinderzimmer und eine Dachkammer mit Wasserhahn, in der ich Drähte spannte, um die Wäsche nicht in der größten Kälte im Garten aufhängen zu müssen. Das Plus war eine Constructa-Waschmaschine, ein Riesentrumm, das noch im Fußboden des Bades verankert werden musste, weil sie sonst beim Schleudern davongetanzt wäre. Das Minus war eine alte Zent­ralheizung, die vom Keller aus befeuert werden musste und regelmäßig ausging, weil der Zug so schlecht war – besonders bei Föhn, der in Innsbruck gerne wehte. Ich bin manchmal verzweifelt! Für die Ernährung brauchte ich schon eine Menge Geld: Sechs Liter Milch brachte jeden Morgen mein ältester Sohn vom Konsum gegenüber! Und am Brenner* holten wir vom Markt die Speckstreifen, um sie zu Hause zu Schmalz auszulassen. Das machten damals viele – der ganze Markt roch danach! Es lag überall Parkettboden, weshalb mein Mann eine schwedische Electrolux-Bohnerbürste anschaffte. Trotzdem hatte ich mit dieser Wohnung die meiste Arbeit, und trotzdem habe ich alles alleine gemeistert. Als mein viertes Kind geboren wurde, nahm ich eine Zugehfrau auf, die ich nach zehn Tagen wieder heimschickte, weil ich der Meinung war, dass ich das, was sie tat, selber tun könne. Kein falscher Hausfrauenehrgeiz, aber ich konnte mich sehr gut organisieren. Außerdem hatte ich sehr brave Kinder, nicht so anspruchsvolle, überreizte, wie man sie jetzt oft findet. Wir hatten sie auch von klein auf zur Selbständigkeit erzogen, daher konnten sie sich gut beschäftigen, freuten sich, wenn sie bestimmte Sendungen (wie den Kasperl) im Fernsehen sehen durften. 40

Im Sommer fuhren wir in der schönen Gegend an Badeseen. Die Familienkutsche war da bereits größer, aber eingekehrt sind wir höchst bescheiden. Es waren die schönsten Urlaube in meiner Erinnerung: zuerst mit Zelt, dann mit dem ersten Steilwandzelt, in das sechs Personen gingen, und zuletzt mit Wohnwagen. Meistens zum Gardasee oder auf dem schnellsten Weg ans Meer: Jesolo, Grado. Anders wäre Urlaub nicht finanzierbar gewesen – und mit Kindern und Hund in einem Hotel? Unmöglich! Nur einmal mieteten wir in einer Pension in Sirmione am Gardasee ein großes Zimmer, weil ich mit dem vierten Kind schwanger war. Hinter unserem Haus lag eine große Steilwiese – „FerrariGletscher“ genannt (die Brennerautobahn führt jetzt oberhalb vorbei). Auf der lernten unsere zwei ältesten Kinder Schi fahren, was sie bis in ihr Erwachsenenalter vervollkommneten. Ich hatte es im Unterschied zu meinem Mann nie mit dem Sport; meine Leidenschaft war das Schneidern, und da half mir jetzt eine supermoderne Elna-Nähmaschine, die alle Stückerln spielte. Ich erinnere mich an den Kauf eines Plattenspielers – das war die Zeit der Langspielplatten und der Singles. Auch andere elektrische Geräte hielten bestimmt Einzug in meinen Haushalt. Nur als mein Mann mit einer Küchenrührmaschine daherkam, konnte ich nichts mit ihr anfangen, und er gab sie weiter. Wie schon bei meinem dritten Kind hatte ich ein Au-pairMädchen engagiert, eine reizende Schwedin, die in Innsbruck Deutsch lernte und wiederum nur anwesend zu sein brauchte und mit den Kindern spielte. Sie blieb bis zu unserer Übersiedlung nach Wien. Ich konnte noch immer nicht mit meinem Haushaltsgeld wirtschaften, das heißt auskommen. Das blieb mir, bis ich in Pension ging. Dann wusste ich, dass einfach nichts mehr dazukommen könne, führte ein Haushaltsbuch in groben Zü41

gen, und erst seit ich Witwe bin, beherrsche ich dieses Metier total. Mein Kassabuch enthält auch die kleinsten Beträge, und am Ende des Jahres mache ich Statistik, um zu sehen, in welcher Sparte ich mehr oder weniger ausgegeben habe. Mein Vater starb 1961, und meine Mutter wollte, dass wir nach Wien übersiedeln. Die Verhältnisse gestatteten es, und wir verscherbelten unsere gut eingerichtete Wohnung in Innsbruck, wohin wir zwei Jahre zuvor übersiedelt waren, an einen Interessenten, der dringendst eine solche benötigte, und kauften dafür eine Eigentumswohnung im 13. Bezirk, Speising. Wir übersiedelten unseren Hausrat in zwei Etappen in einem Volkswagenbus. Auf der noch langen, autobahnlosen Strecke lagen die Kinder obenauf auf der Bettwäsche. Die zwei Klappbetten der ersten Stunde kamen mit der Spedition, die zwei Küchenkästen spendierte die Mutter, und wir begannen wieder bei der Stunde null. Diesmal aber in einer großen Eigentumswohnung mit Terrasse. Wir sind bei meinem fünften Haushalt angelangt: pflegeleicht. Ein 26 Quadratmeter großes Zimmer, Kinderzimmer, Küche, Esszimmer, Bad, Klo, Dachboden und Terrasse. Es war eine sogenannte Atelierwohnung, im vierten Stock gelegen, und das Haus musste deshalb keinen Lift aufweisen – was sich später als Nachteil herausstellte. In allen Räumen Kunststoffböden. Der große Teppich – im wahren Sinne des Wortes „antik“ – wurde anfangs auf der Klopfstange gereinigt. Später kaufte mein Mann einen Hoover-Klopfsauger, der die Teppiche halb auffraß, weshalb wir eine günstige Partie Filzfliesen erstanden – mit dem Erfolg, dass die ganze Wohnung taubenblau ausgelegt war. Da hatte der Staubsauger keine Chance mehr. Die Wäsche ließen wir anfangs in einem Waschsalon in Speising waschen. Eine Waschmaschine war aber wegen des 42

Abb. 5: Mit versammeltem Nachwuchs in der Wiener Wohnung (1966)

fehlenden Liftes die dringendste Anschaffung neben einem neuen Fernseher, denn der alte musste in Innsbruck bleiben. Die Einrichtung war zusammengestoppelt. Die sechsköpfige Familie kostete, weshalb ich die Gelegenheit ergriff, in der Gasse für eine entfernte Verwandte tätig zu werden, die einen Laden für Stoffrestware führte (sie kaufte zum Beispiel bei Benger Lagerüberschüsse auf). Ich hatte all die Jahre sämtliche Kleidung für mich und die Kinder genäht und wurde immer perfekter. Ich fertigte für den Verkauf Kinderkleidung in den gängigen Größen – gerade so viel, dass ich für unsere Bekleidung nur die verbilligten Stoffe erstehen musste. Damals war Selbernähen eine Selbstverständlichkeit. Außerdem machte ich Näharbeiten für ein paar Damen im Grätzel, die trotzdem nicht mehr als einen Knopf annähen konnten. Es war eine Zeit, wo man noch Bettwäsche ausgebessert hat! Fertigware war noch nicht „in“. Ich habe sogar für Kindermodengeschäfte einiges gemacht – diesbezüglich ließ ich mir immer etwas einfallen. Ich weiß – 43

es war „Pfusch“, aber um beachtliche Beträge ging es da wirklich nicht. Regelrecht angestellt war ich als Bürokraft halbtägig unweit der Wohnung in einer Sodawasserfabrik, vom Jänner bis Juli 1962. Da kamen am späten Nachmittag alle Getränkefahrer, die natürlich außer Sodawasser auch sämtliche Kracherln – Fanta, Almdudler, Sprite, Cola und selbstproduziertes Pseudo-Cola – mitführten, von den Wirtshäusern zurück, und ich musste ihren Umsatz auflisten. Bei Schönwetter wurde es ganz schön stressig und spät. Unter Zuhilfenahme der Lohnsteuerkarte (die ich aufgehoben habe) kann ich anführen, dass ich als Lohn für diesen Zeitraum brutto 7.523,03 Schilling erhielt. Als ich im Sommer merkte, dass Urlaub in den Ferien nicht in Frage kam, kündigte ich zum großen Ärger der Besitzer. Die Campingurlaube mit unseren Kindern gehören mit zum Schönsten, das ich aus dieser Zeit in Erinnerung habe. Mit Ausnahme dieses kurzen Gastspiels war ich von November 1951 bis August 1971 nur Hausfrau. In dieser Wohnung haben wir uns im Lauf der Jahre verschiedentlich geschlichtet: Zuerst lagen die Kinder im Kinderzimmer – in selbstgebauten Stockbetten, die Tochter auf einem ehemaligen Buffet meiner Mutter in Bettgröße. Später bauten wir den Dachboden aus, sodass der älteste Sohn ­darin hausen konnte. Später sein kleiner Bruder, der es dadurch nicht lernte, ordentlich zu sein (was sich erst als Erwachsener ausgebügelt hat). Auch in Wien war es wieder ein Neubeginn. Es gab bereits Supermärkte. Ich erinnere mich an den großen KonsumMarkt im 23. Bezirk; dort war es möglich, um 1000 Schilling einen gehäuften großen Einkaufswagen voll Lebensmittel für drei Wochen heimzutragen. Den ersten Supermarkt hatte ich in Innsbruck erlebt, ungefähr 1960. Völlig uninteressant. Alles, was abgepackt werden konnte – und solche Artikel gab es 44

noch herzlich wenige –, war breit gefächert ausgelegt und das Geschäft so gut wie ohne Kunden. Um zu sparen, kauften wir einen Tiefkühlschrank und am Schlachthof in St. Marx das Fleisch partienweise ein: Es wurde in zwei Kategorien angeboten: gemischt billig und gemischt teuer, Rind- und Schweinefleisch. Wenn mein Mann berufsbedingt nach Kärnten fuhr, brachte er von Friesach einen ganzen Lungenbraten um ein Spottgeld mit; das war jedes Mal ein mehrtägiges Festessen für uns. In Speising gab es einen lokalen Supermarkt, der schon lange zugesperrt hat, den „Juranek“, der in der Preisklasse vom „Hofer“ lag. In Wien ist mit uns die neue Zeit mit ihren Supermärkten, einem ständig wachsenden Warenangebot, mit den Aktionskäufen usw. eingezogen. Es war mir möglich, günstig Stoffe zu bekommen, und langsam zog die Technik in unsere Wohnung ein, zum Beispiel eine Kaffeemaschine, diverse Mixer, an eine Elna-Bügelpresse erinnere ich mich. Immer mehr Lebensmittel wurden haltbar gemacht und vorgefertigt. Wenn sie erschwinglich waren, habe ich sofort Gebrauch davon gemacht. Das hatte nichts damit zu tun, dass Weihnachtsbäckerei en masse von mir erzeugt wurde – sie fand ja genügend Abnehmer. Der Milchkonsum war noch immer hoch. Sirup wurde statt fertigen Getränken in Flaschen verwendet, Brot statt Gebäck usw. Es ist auch ein Unterschied, ob man für einen Sechspersonenhaushalt oder für zwei Leute kocht. Ich habe Jahre später immer noch zu große Mengen gekocht – aus lauter Gewohnheit. Anfangs aßen wir im großen Zimmer. Dann brachen wir die Wand von der Küche ins Esszimmer durch, sodass das Servieren schneller ging. Die Küche war winzig; vom Urlaub im Wohnwagen her war ich gewohnt, auf kleinstem Raum zu kochen. Trotzdem erstaunlich, was ich dort alles zuwege brachte! Einen Geschirrspüler hatte ich nie in der Wiener 45

Wohnung, nur kurze Zeit im Garten, ich brauchte ihn aber nicht wirklich. Ich mache mir die Technik nur zunutze, wenn ich sie für erforderlich erachte. Die Wohnung wurde mit dem Heranwachsen der Kinder zu eng, weshalb wir die Möglichkeit ergriffen, die kleine Nachbarwohnung – bestehend aus Zimmer, Küche, Bad, Klo und ebenfalls Dachboden und Terrasse – dazuzukaufen. Wir Eltern übersiedelten 1971 dorthin. Der ganze vierte Stock wurde mit einer Außentüre zum Stiegenhaus hin abgetrennt. Der Dachboden war bereits als Schlafzimmer ausgebaut, und hierher zogen wir uns am Abend zurück. Dadurch konnten die zwei Mädel das große Zimmer der anderen Wohnung beziehen. Der Großhandel, in dem mein Mann Prokurist war, wackelte 1971, weshalb ich beschloss, nach fast zwanzig Jahren wieder in das Berufsleben einzusteigen. Die Pause wäre sonst zu groß geworden. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, ich war bereits 42 Jahre alt – viel länger hätte ich mir nicht Zeit lassen dürfen, obwohl der Arbeitsmarkt noch „kerngesund“ war und ich mir aussuchen konnte, was ich mir als Einstieg zumuten könne. Ich sagte zu meinem Mann: „Wenn du gekündigt wirst, habe ich Arbeit – ansonsten bauen wir ein Sommerhaus im Garten an der Donau.“ Die Firma ging in Ausgleich, mein Mann konnte aber den Spielwarengroßhandel, der ihm oblag, in ein anderes Unternehmen retten. Das Haus wurde gebaut. Klar war für mich, dass ich nur ganztags arbeiten gehen wollte; für ein paar Stunden wollte ich die Anfahrtswege nicht in Kauf nehmen. Es musste sich lohnen, auch wegen der Pension, die sich auszahlen sollte. Ich muss gestehen, die Doppelbelastung war anstrengender als die Zeit, als die Kinder noch klein waren. Mein jüngster Sohn ist dabei etwas verwildert, das heißt, ich wusste nicht genau, wo er sich überall herumtrieb, und er war schon 46

von klein auf umtriebig – wie er mir viel später erzählte. Das wuchs sich später alles aus. Ich war schon ziemlich gehetzt und nervös in der ersten Zeit, auch weil ich beruflich noch nicht so selbstsicher war. Eine große Hilfe war mir meine jüngste Tochter – die ältere war bereits in der Lehre –, wenn sie von der Schule nach Hause kam und mich beim Kochen unterstützte. Sie kochte Erdäpfel und Nudeln vor und machte dies und das. Zum Wochenende wollte ich sie daher schonen, weshalb ich es verabsäumt habe, ihr so richtig das Kochen zu lehren. Dann schmuste sie mit dem Hund und schlief darüber ein. Mit dem Erfolg, dass der Lernerfolg zu wünschen übrig ließ. Auch der älteste Sohn war mehr bei seinem Freund, der unter uns wohnte, als bei seinen Büchern. Mein Mann und ich nahmen das nicht so tragisch. Er sagte: „Egal, wie lange du brauchst, aber die Schule machst du fertig!“ Bei wichtigen Entscheidungen ließ ich ihm immer das letzte Wort, zum Beispiel, wenn eines länger ausbleiben, mit Freund dorthin und dahin usw. wollte. Das zum Thema „Kindererziehung“. Am Ende meines Lebens kann ich nur sagen: Völlig richtig gehandelt – es ist aus allen etwas geworden (Prokurist, kaufmännische Angestellte, Bankbeamtin, Werkmeister). Mein Mann hat wohl hie und da Staub gesaugt oder Gerichte gekocht, die er besonders gut konnte, aber sonst war die Arbeit im traditionellen Sinn aufgeteilt. Andererseits habe ich nie das Auto gewaschen – das ist Männersache. (Ich habe nie Auto fahren gelernt.) Die Entlastung der Haushaltskasse machte sich durch meine Berufstätigkeit schon gewaltig bemerkbar. Das Gehalt meines Mannes wurde für Anschaffungen verwendet. Sehr viel wurde auf Kredit gekauft – krank hätten wir nicht werden dürfen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich erwähnen, dass ich außer einer Operation im Jahr 1974 nie krank war. Da waren die Kinder schon erwachsen, und ich brauchte daher auch nie 47

einen „Ersatz“. Von meinem Gehalt behielt ich mir einen gewissen Betrag zur eigenen Verfügung; der Rest war das Haushaltsgeld. Ich begann Mitte August bei einer großen amerikanischen Nähmaschinenfirma in der Buchhaltung um ein – nach heutiger Sicht – mieses Gehalt. Auf mich wartete seit Wochen ein Viertelmeter Post zur Beantwortung, meistens Briefe wie „Ich kann die Raten nicht zahlen“ oder „Warum zahle ich so viel Zinsen?“ usw. Man setzte mich vor die Schreibmaschine und ließ mich acht Tage allein. Ich schwamm, kämpfte mit der Maschine und der Materie, aber dann war der Berg weg. Das schien beeindruckt zu haben, denn ich wurde von der Rechtsabteilung angefordert, wo ich drei Buchstaben vom Alphabet bekam und selbständig mahnte, klagte und exekutierte auf Teufel komm raus – alle, die so blöd waren, eine Nähmaschine zu diesen Wucherzinsen zu kaufen. Das ganze Geschäft war aufgebläht, Keilermethoden, Umsatz um jeden Preis. Der Generaldirektor war der jüngste der Sparte, der nach amerikanischem Vorbild arbeitete: Ein Geschäft und nach mir die Sintflut. Er bezahlte dafür, als das Kartenhaus zusammenfiel: Er erschoss sich. Aber da war ich schon weg. Zu meiner Zeit gab es jede Menge Prämien für Vertreter und Verkaufspersonal. Auch Reisen, und da fuhr die ganze Firma mit, samt Putzfrauen: drei Tage Palace-Hotel in Bad Hofgastein mit Besuch des Felsenbades in Badgastein, Schiffsreise nach Pressburg usw. Beim Tanz ging ich meinen Chef – Leiter der Rechtsabteilung und ein schlauer Fuchs – um Gehaltserhöhung an. Der wand sich und sagte mir schließlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit eine zu. Als ich merkte, dass das ganze Haus mehr bekam, ärgerte mich das so, dass ich Ende Juli 1973 kündigte. Das war der Auslöser, es war aber auch wegen der „Kolleginnen“. Mit diesen Wölfinnen musste man heulen, oder man ging drauf. Ich erlebte es bei einer Neuen, die sich sperrte, wie 48

sie die behandelten. Mit mir sprachen sie die ersten acht Tage kein Wort, weil sie unter sich bleiben wollten. Bis sie merkten, dass ich ihnen nicht im Wege stand. Die Firma ist bald darauf sehr geschrumpft und übersiedelte aus dem großen Haus. Da hatte ich einen Riecher gehabt. Ich nahm nahtlos am 1.  August einen Job als Direktionssekretärin in der Österreichvertretung einer deutschen Schuhfirma an, aber dieses Monster von einem Chef hielt ich nur vier Monate lang aus. Er war Deutscher, brüllte herum, sprach von jeder Frau nur als „blöde Sau“ und „Scheißhure“. Bei diesem Ton konnte ich nicht arbeiten. Meine Kollegin, die ihn schon mehr als zehn Jahre kannte, und er meinten bei der Kündigung per 31. Oktober, er meine es nicht so, ich hätte es überhören sollen. Er hatte im Krieg den tschechischen Schuhkonzern „Bata“ kommissarisch geleitet; aus diesem Holz war er geschnitzt. Er hatte bereits einen Herzinfarkt hinter sich, nach eineinhalb Jahren war sein zweiter – sein letzter. Kein Wunder. Er wurde von dem deutschen Mutterunternehmen ganz schön unter Druck gesetzt, weil der Schuhmarkt stagnierte. Ich bekam von ihm ein wunderschönes Zeugnis diktiert. In dem Fall hatte ich auch gut getan. Und dann kam meine letzte Arbeitsstelle, an der ich 17 Jahre bis zu meiner Pensionierung im Jänner 1990 verblieb. Der Arbeitsmarkt war bereits angespannt, ich konnte es mir nicht mehr so aussuchen und musste es billiger geben. Außerdem war ich mittlerweile 44 Jahre alt – das wäre heute ein Problem. Es war ein Familienbetrieb. Da gab es das alte Ehepaar: Der Seniorchef erzeugte Lichtkuppeln und seine Frau hielt die Stellung und wollte eine Entlastung. Sie wählte mich, weil ihr die Frau mit den vier Kindern imponierte (wie meine Kollegin später erzählte). Aufgenommen wurde ich aber für den Großhandel mit Schweißelektroden. Diese vertrieb der Sohn wie auch Schmiermittel und Industrieöle. 49

Rückblickend war es eine gute Zeit – damals war ich kritischer. Als ich kam, stürzte sich der Seniorchef gleich auf mich, diktierte ellenlange Briefe, bis mir die Finger erlahmten. Am liebsten wäre ich am ersten Tag gleich wieder gegangen. Seine Frau glich aus und beschenkte uns zu Geburtstag und Weihnachten großzügig mit Schmuck und Prämien. Auch das Gehalt, das persönlich ausgezahlt wurde, wurde immer aufgerundet. Jeden Tag kredenzte sie uns ein Glas Wein – wo gibt es das schon! Als Erstes setzte ich durch, dass ich durcharbeiten durfte – von acht bis halb fünf Uhr, Freitag Frühschluss – ohne Pause. Ich hatte keine Lust, mich in die Küche mit Blick auf einen trostlosen Innenhof setzen zu müssen. Das Hauptessen zu Hause war sowieso erst am Abend. Meine jüngste Tochter arbeitete in der Küche vor. Vom Festefeiern hielt man viel. In den letzten Jahren fand die Weihnachtsfeier bei den „Spitzbuben“* im 19. Bezirk statt. Sogar Fasching mit Kostümierung wurde zelebriert. Der Kaffee wurde von der Bedienerin serviert. Eine „Perle“ – sie konnte aus drei Zutaten ein Mittagessen zaubern. Die Senioren lebten bescheiden, der Junior nicht. Der Alte hatte ein Faible für Gedichte – es wurde hin und her gedichtet bei den diversen Anlässen. Er hatte eine laute Stimme, war aber ein Gentleman der alten Schule und sonnte sich in Gesellschaft der jüngeren Bürodamen, deren es drei gab: seine Sekretärin, meine Wenigkeit und meine Kollegin, die beste der Truppe – von ihm „Susi“ genannt, was ich übernommen habe. Susi war Halbtagskraft, hauptsächlich für die Öle zuständig, und schupfte* ihre Arbeit mit links. So reserviert sie anfangs mir gegenüber war, so herzlich und kollegial wurde sie bald darauf und im Laufe der Zeit eine ganz liebe Freundin von mir bis in die heutigen Tage. Wenn sie auf Urlaub war, musste ich ihre Arbeit mit erledigen und umgekehrt auch, 50

Abb. 6: Die Belegschaft des Wiener Familienbetriebes: Seniorchef und -chefin (vorne); in der hinteren Reihe links Kollegin „Susi“, rechts Ilse Wolfbeisser (1974)

nur hatte sie dafür bloß die halbe Zeit zur Verfügung. Wir konnten wirklich über alles reden, und nie wieder, vorher oder nachher, ließ ich eine Frau so tief in mein Inneres blicken. Sie ließ mir das Verbleiben in der Firma erträglich erscheinen, wobei ich sagen muss, dass ich die Situation jetzt mit Abstand viel lockerer betrachte. Der Juniorchef war problematisch und alles, was man unter einem „richtigen“ Chef nicht versteht: sprunghaft, launisch, unausgeglichen. Er hatte natürlich mit dem Umsatz zu kämpfen (die Rechnungen wurden durch Jahre an die Bank zediert*). Wir bekamen aber immer pünktlich unser Gehalt, das war Ehrensache. Ich diente mich von Schilling 7.500,– (1974) bis Schilling 19.175,– (1990) hinauf. Die Flaute merkte ich in den ersten Jahren auch daran, dass ich nachmittags oft nichts zu tun hatte und heimlich lesen konnte, wenn ich allein war. Das war unangenehmer als später die viele Arbeit, 51

als wir die letzten zwei Jahre einen Computer bekamen, der mit Ach und Krach funktionierte. Die Einschulung dauerte eine (!) Stunde, und mir war oft zum Heulen, weil ich nur schwer damit zurechtkam. Mein Chef jedoch wollte immer mehr daraus erfahren. Der Umsatz stieg nicht, aber die Arbeit wurde immer mehr. Vielleicht war ich auch, weil ich auf die sechzig zuging, nicht mehr so belastbar. Solange das alte Ehepaar in der Firma war, spielte sich alles sehr familiär ab. Nach dem Tod des Seniorchefs wurde das Arbeitsklima härter. Auch seine Witwe machte sich rarer, weil sie nicht mehr so konnte. Aber immer noch stand „Susi“ wie ein Fels in der Brandung, und ich konnte mich bei ihr aussprechen. Freitagmittags, wenn alle Vertreter bei uns eintrudeln mussten, wurde es noch hektischer. Aber der Junior hatte auch gute Seiten: Er lud uns zusammen mit den Vertretern zu Mittag zum Wirt an der Ecke ein. Wenn ich anschließend mit meinem Mann in unseren Garten an der Donau fuhr, brauchte ich eine Weile, bis ich abschalten konnte. Die Firma ist schuld, dass ich chronische Bronchitis als Mitraucherin bekam. (Heute würde ich die Vertreter hochkant hinauswerfen, wenn sie qualmend in meinem Zimmer ihre Wünsche äußerten.) Die Geschäftsräume waren im Souterrain* und entsprechend feucht und dunkel, ohne künstliches Licht ging nichts. Der Schweißelektrodenmarkt hatte sich gewandelt. Die Firma lebte von der Reparatur. Es handelte sich nicht um einheimische Billigstäbe, sondern um sauteure Schweißelektroden aus Australien, und mit den Jahren ließen die Kunden immer weniger reparieren, weil es sich nicht mehr lohnte. Auch die Schmiermittel und Öle waren teuer – es entzieht sich meiner Kenntnis, ob sie wesentlich besser als die herkömmlichen waren. Einmal pro Woche packte ein Pensionist die Ware in Packpapier ein und brachte sie zum Versand. Sie wurde 52

mittels Werbegeschenk an den Mann – sprich Werkmeister – gebracht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man heutzutage kauft, weil man ein Gläserset oder eine Flasche Wein geschenkt bekommt. Regelmäßig kam der Werbeartikelvertreter mit seinem umfangreichen Katalog, und freitags „kauften“ die Vertreter mit einem Werbebudget ein. Die Firma übersiedelte bei meinem Weggang, der wirklich schön gefeiert wurde (ich bekam eine Südtirolreise geschenkt), in den Norden von Wien, und meine letzte Woche verbrachte ich mit dem Einpacken von Ordnern in große Kartons. Meine Freundin harrte noch eine Weile aus. Einmal habe ich das Büro noch besucht und dann nie wieder. Dieses Kapitel war für mich abgeschlossen. 1964 pachteten wir einen Grund am Neufelder See III im Burgenland. Das ist nicht der große Neufelder See, sondern ein aufgelassenes Braunkohlebergwerk, das sich mit Wasser füllte, etwas weiter südlich vor Stinkenbrunn (heute Steinbrunn). Hier stellten wir ein gebrauchtes Holzhäuschen und einen kleinen Wohnwagen auf und verbrachten einige Sommer ohne größere Kosten. Dazwischen immer die schönen Campingurlaube wie bisher. Weil wir aber schon ein kleines Motorboot hatten und auf diesem Minisee nur paddeln konnten, ließen wir dieses Domizil auf und pachteten im Sommer 1971 an der Donau vor Tulln einen Dauerpachtgrund, auf dem wir 1972 ein Badehaus aus Holz errichten ließen. Anfangs ohne Strom, der wurde erst zwei Sommer später eingeleitet. Mit Gasflaschen und Petroleumlampen und einem größeren Motorboot davor im Seitenarm hausten wir mit Begeisterung. Nach der Elektrifizierung hob sich der Standard enorm, denn jetzt hatten wir statt der Naturbrause im Garten eine eingebaute Dusche im Haus. Kochen und Kühlen war nun nicht mehr campingmäßig, sondern entsprachen einem Minihaushalt. Wasser lieferte eine Hauspumpe, jetzt nicht mehr hän53

disch zu betätigen, sondern mittels Hauswasserwerk. Aber die Senkgrube musste immer geräumt werden. Der Hausbau fiel mit meinem Wiedereintritt ins Berufsleben zusammen. Unser Lebensstandard hob sich stetig, im gleichen Ausmaße die Anschaffungen. Auf dem Grund stand ein größerer Wohnwagen für die Campingurlaube, die einige Male auch am Plattensee verbracht wurden. Wir hatten im Jahre 1984 die Möglichkeit, im Wiener Haus im zweiten Stockwerk eine dritte Eigentumswohnung zu erwerben (die schon für die Pensionszeit gedacht war), und übergaben der älteren Tochter die kleine Wohnung unter dem Dach, da sie bereits berufstätig war. Einen Teil der bereits angeschafften Möbel nahmen wir mit in die untere Wohnung. Die Kinder wurden erwachsen, gingen eigene Wege, fanden Partner – auf Zeit oder fürs Leben. Sie wurden flügge. Immer öfter waren mein Mann und ich im Garten allein. Das brachte für mich eine Arbeitserleichterung, die sich aber nicht so richtig auswirkte, weil erst jetzt meine Leidenschaft fürs Garteln ausbrach. Anzeichen gab es schon im Burgenland, wo ich Erdbeer- und Blumenbeete anlegte. An der Donau war ich nicht mehr zu halten. Ich legte eine Hecke aus Ribiseln an und stellte jahrelang Unmengen von Marmelade, Saft und zuletzt Ribiselwein her. Auch meine Himbeeren sowie Zucchini und Paradeiser konnten sich sehen lassen. Sonst hatte ich aber mehr für Blumen übrig. Solange wir gearbeitet haben, fuhren wir Freitag nach Frühschluss in den Garten und kehrten Montag früh zur Arbeit zurück. Im Sommer diente die neue Wiener Wohnung nur zum Abendessen und Schlafen. Nach meiner Pension wunderte ich mich oft, wie ich damals Arbeit, Wohnung und Garten unter einen Hut bringen konnte. Einteilung ist alles, war meine Devise, und verzetteln durfte man sich nicht. Mein letzter Haushalt kommt in Sicht: Meine Mutter starb 1985, und uns bot sich die Gelegenheit, das Nachbarhaus an 54

der Donau zu erwerben, wofür der Erlös aus ihrer Eigentumswohnung gerade reichte. Es war viel größer als unsere „Badehütte“ und tipptopp eingerichtet, sodass wir ab 1990 nur mehr dort wohnten und in der Wiener Wohnung nur alle heiligen Zeiten nächtigten. Zwei Schlafräume, ein schönes Wohnzimmer mit abgeteilter Küchenecke, Bad/WC und Veranda mit Blick auf die Donau. Nur eben alles sehr klein. Alle nur denkbaren technischen Geräte gab es – sowohl für den Haushalt (Wäschetrockner) als auch für die Gartenarbeit, denn mein Mann war ein Technikfreak. Wir bewohnten das Haus ganzjährig bis zum Tode meines Mannes im Herbst 1998. Das erste Haus übergaben wir unserer jüngeren Tochter mit Familie. Ich betreute nun zwei Gärten mit insgesamt 1200 Quadratmetern. Meine Nähleidenschaft hielt an, bis die sechs Enkelkinder größer wurden. Sie wurde abgelöst von einer neuen Leidenschaft, dem Schreiben. Ich begann, meine Erinnerungen zu schreiben, die von meinem Mann und meinem Vater, baute die Ahnenforschung aus und schrieb, was mir nur in die Finger kam. Mein Mann erwartete, dass ich gehaltvoll österreichisch koche, wobei ich immer mehr die leichte italienische Küche einbrachte, wie wir sie in Italien mit Genuss kennenlernten. Auch verachteten wir zum Essen das eine oder andere Glas Wein nicht, den wir vom Weinbauern geliefert bekamen. Die Kredite waren zurückgezahlt, mit der Pension kamen wir aus, ein paar gemeinsame Jahre waren uns gegönnt, die wir genossen. Obwohl ich in die Jahre kam, machte ich den Haushalt mit links, weil ich immer gern gearbeitet habe und kein Typ bin, der im Garten herumliegt. Danach wohnte ich dort noch einige Sommer allein, bis mir die Arbeit für die beiden Gärten altersbedingt zu viel wurde und das Haushalten ohne Auto zu problematisch. Das Gartendomizil aufzugeben fiel mir leicht, denn mein jün55

gerer Sohn hat es sehr gern übernommen (er wohnte schon etliche Sommer mit seiner Familie in einem Mobilheim auf dem Grund). Er hat zwar mein geliebtes Sommerhaus abgerissen und dafür ein Fertigteilhaus nach eigenem Geschmack aufgestellt. Dieses ist aber so schön, dass ich meine Irritation schnell vergaß. Abschließend möchte ich sagen: Mein Hausfrauenleben war so bunt gefächert, hatte so viele Höhen und Tiefen, und Vergleiche anzustellen erübrigt sich, denn die waren von „so ähnlich“ bis „krass verschieden“ – eben ein „erfülltes Leben“ im besten Sinne des Wortes. Wie ich so beobachte, konnten wir einiges an unsere Kinder weitergeben, und das erfüllt mich mit Freude. „Vorleben“ ist ein wichtiges Wort in der Erziehung, und was man nicht beherrscht, kann man immer noch lernen – wenn man den Willen dazu hat. Auch die Enkelkinder machen Freude und treten in die Fußstapfen ihrer Eltern – in der heutigen Zeit keine Selbstverständlichkeit! Resümee meines Arbeitslebens: Ich stamme noch aus einer Zeit, wo die kaufmännische Angestellte ihre Briefe auf einer elektrischen Schreibmaschine schrieb und nicht per Computerausdruck arbeitete. Auch habe ich mir sagen lassen, dass Steno in den Schulen jetzt nicht mehr gelehrt wird. Angefangen habe ich mein Berufsleben mit sechs (!) Durchschlägen bei Gericht, wobei die letzten zwei kaum mehr zu lesen waren. Man musste auf die Tastatur hämmern wie ein Pianist bei einer Liszt-Etüde. Die Kopiergeräte machten miserable Kopien, und selbstverständlich habe ich noch Briefmarken auf meine Briefe geklebt. Der Computer hat nicht nur die Bürowelt verändert. Ich erinnere mich noch an die Lochgeräte* bei der ersten Firma nach der Pause: Das Mädchen saß in einem eigenen Zimmer, durfte nicht gestört werden, und dann marschierte sie regelmäßig in eine Zentrale mit den riesigen Rechnern. Jetzt hat alles auf einem zarten Laptop Platz. 56

Abb. 7: Auch im Gartenhaus wurde geschneidert (1979)

Ich habe persönlich keinerlei Erfahrung mit Arbeitslosigkeit oder Ungleichbehandlung gemacht. Eine Operation zu Beginn meiner Tätigkeit in der letzten Firma war kein Problem und mein Verweilen bis zur Pension ebenfalls nicht. Ich habe meine Pension die ersten acht Jahre ganzjährig in unserem Sommerhaus mit meinem Mann genossen. Ich genieße sie noch immer und bin froh, zwanzig Jahre Berufstätigkeit durchgehalten zu haben. Der Computer, der mich im Arbeitsleben noch mit Schreck erfüllte, ist danach zu meinem besten Begleiter und zur Hobbyhilfe in der Pension geworden. Ehrenamtlich transkribiere ich für Museen und Privatpersonen, was mir großen Spaß macht – ich schreibe gerne!

57

„Gern wäre ich wieder in den Beruf zurückgekehrt …“ Erika Schleich wurde als Erika Assigal am 13. Juli 1932 in der Gemeinde Stattegg bei Graz geboren und wuchs mit ihren Eltern und zwei jüngeren Geschwistern in einer stadtnahen Gartenhaussiedlung auf. Ihr Vater, ein überzeugter Sozialdemokrat, war in den 1930er Jahren häufig arbeitslos und arbeitete später in einer Fabrik sowie im öffentlichen Dienst der Stadt Graz als Magazineur; die Mutter versorgte die Kinder, Haus und Garten, wobei letzterer in den Jahren vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Quelle der Nahrungsmittelversorgung darstellte. 1949 zog die Familie in eine Grazer Stadtwohnung, ohne das Gartengrundstück gänzlich aufzugeben. Erika Schleich besuchte die Volks- und Hauptschule und absolvierte ab 1946 eine Lehre als Damenkleidermacherin im Stadtzentrum. Während und nach ihrer Lehrzeit engagierte sich die Autorin in der Freien Österreichischen Jugend (FÖJ) und lernte dort ihren Mann kennen. Nach ihrer Heirat im Jahr 1954 und der Geburt ihrer ersten beiden Kinder war die Autorin noch gelegentlich in ihrem erlernten Beruf tätig. Durch einen Umzug der Familie nach Bruneck in Südtirol und eine gutbezahlte Anstellung des Ehemannes als Heizungstechniker verbesserte sich die materielle Situation der Familie, sodass Erika Schleich sich fortan ausschließlich um den Haushalt und das Wohl ihrer insgesamt fünf Kinder kümmern konnte. Im Hinblick auf deren Ausbildungsmöglichkeiten erfolgte im Jahr 1970 die Rückkehr der Familie nach Graz. Seit der Pensionierung ihres Mannes und noch mehr seit dessen Tod im Jahr 2001 widmet sich Erika Schleich verstärkt ihren 59

vielfältigen, vor allem kulturellen Hobbys wie Reisen, Musik und Schreiben. Für ihre Kinder und Enkel hatte sie zum Teil bereits in den 1970er Jahren Kindheitserinnerungen in Form von Kurzgeschichten zu Papier gebracht und später erweitert. Die Basis für den nachfolgenden Textbeitrag bildet ein lebensgeschichtliches Manuskript der Autorin über ihre Lehrzeit in den Nachkriegsjahren, das um Ausschnitte aus zwei Erinnerungstexten ergänzt wurde, die durch den Schreibaufruf „Arbeit ist das halbe Leben“ angeregt wurden. 1946, Schulende. Unsere Klassenlehrerin entließ uns ins Leben. Was ist es, das Leben? Ich wäre gern weiter in die Schule gegangen. Mein Vater aber war dafür, dass ich ein Handwerk lernte – was er als junger Mensch nicht konnte. „Handwerk hat goldenen Boden“, hatte ich ihn oft sagen gehört. Schon immer habe ich gerne genäht, erst für Puppen, später für mich selber. Was lag also näher, als das Schneiderhandwerk zu erlernen? Einen Lehrplatz zu finden war schon schwieriger. Also blieb ich vorerst zu Hause, unterstützte Mutter bei der Arbeit im Garten, der zur damaligen Zeit ein wichtiger Faktor für unsere Ernährung war. Bei pfiffigem Oktoberwind räumten wir die Bohnenstangen ab, pflückten die trockenen Schoten aus dem struppigen Laub, ernteten das Winterkraut und Wurzelgemüse wie Möhren, Sellerie und Petersilie. Auch Endiviensalat und rote Rüben gab es. Alles wurde in winterfesten Mieten eingelagert. Das Kraut verarbeiteten wir zu Sauerkraut. Die letzten Gürkchen und grünen Paradeiser wurden in Essig eingelegt. So lernte ich gleich die Vorratshaltung für den Winter. Wir hatten noch immer Lebensmittelmarken, und die kargen Rationen konnten wir mit unserem eigenen Gemüse aufbessern. Da ich auch im November noch keinen Lehrplatz hatte, half ich Vater den ganzen Winter über bei der Holzarbeit. Es 60

gab zwar Bezugsscheine für Kohlen, die zugeteilte Menge war aber viel zu klein, um über den Winter zu kommen. Mein Vater hatte sich beim Magistrat Graz beworben, nachdem er 1945 seine Arbeit in der radikal verkleinerten Fabrik verloren hatte. Als Anwärter auf eine Anstellung musste er anfangs jede Arbeit annehmen und kam vorerst in den Wirtschaftshof. Als langjähriger Sozialdemokrat und somit Unverdächtiger überstellte man ihn bald in das „Entnazifizierungsamt“. Dort wurden die ehemaligen Mitglieder der NSDAP oder anderer Organisationen und auch höhere Militärangehörige wegen ihrer Aktivitäten in der NS-Zeit überprüft. Belastete verloren ihr Amt oder bekamen Berufsverbot. Es gab noch die Kategorien Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. Mein Vater traf auf manchen Bekannten, der sich dort stellen musste. In diesem Winter übte ich mich auch im Nähen und brachte mit Mutters Hilfe manches zustande. Manchmal nähte ich ein Puppenkleid, denn meine Schwester behauptete gern, sie könne es nicht. An den Winterabenden sangen wir und spielten Zither, was ich inzwischen schon recht gut konnte. Vater hatte irgendwo eine Kinderzither für meine Schwester aufgetrieben und mühte sich um die Bespannung, denn neue Saiten konnte er nirgends bekommen. Von den alten, ausgemusterten Saiten ließen sich manche für die kleinere Zither kürzen und taten so noch eine Weile ihren Dienst. Schließlich war es so weit, dass wir zu dritt spielen konnten. Viel Vergnügen gab es nicht zur damaligen Zeit, und ich suchte es auch nicht. Das Kukuruzschälen beim nächsten Bauern war schon eine Großveranstaltung. Hausmusik mit den Nachbarn, mit Vater zu einem Vortrag in die Arbeiterkammer oder gar zu einem Zitherkonzert seines großen Vorbildes, Richard Grünwald, das waren Höhepunkte in unserem sonst einfachen Alltag. 61

Durch Zufall traf ich im Frühjahr meine ehemalige Klassenlehrerin. Wir freuten uns beide, und sogleich fragte sie mich, was ich nun mache. Ich sagte, dass ich einen Lehrplatz als Damenschneiderin wolle, aber noch keinen gefunden hätte. „Ja, Lehrplätze sind sehr gefragt, aber vielleicht kann ich dir helfen“, meinte sie. „Es ist einer der ersten Salons in der Stadt, dort kenne ich jemanden und werde anfragen. Obwohl es schade ist, dass du nicht weiter in die Schule gegangen bist.“ Sie hielt Wort, denn kurze Zeit später bekam ich Nachricht, dass ich mich im Salon „Kora“ vorstellen solle. Verschüchtert betrat ich mit meiner Mutter den Salon. Die Meisterin musterte mich, besah sich auch mein Zeugnis, ein Vorzugszeugnis. Sie fragte mich, was ich gern mache, ob ich Freude mit dem Nähen hätte, und erklärte sich schließlich bereit, mich für die Probezeit aufzunehmen. Die Arbeitszeit war von 7 bis 18 Uhr mit zwei Stunden Mittagspause. Es fuhr noch immer kein Bus zu unserer Siedlung, und so musste ich eine Stunde zu Fuß bis zur Straßenbahn gehen, also schon um 5.30 Uhr von zu Hause weg. Trotzdem war ich froh, endlich einen Lehrplatz zu haben. Vater organisierte ein Fahrrad für mich, was gar nicht einfach war. Fast jeden Abend musste er die Schläuche flicken, denn neue Bereifung gab es noch nicht. Er selbst fuhr mit Vollgummireifen. Anfangs sah ich nicht viel von der Schneiderei außer Auftrennen und Abbügeln, denn vieles wurde geändert oder aus zwei alten Sachen zu einem neuen Kleid oder Kostüm kombiniert. Natürlich musste ich aufräumen, Jausenbrote holen, was immer ein Jonglieren zwischen den vorhandenen Lebensmittelmarken und den Angeboten in den Geschäften war. Außerdem musste ich heizen, was ich nicht konnte. „Brauchst du denn zu Hause nie einheizen?“, fragte mich die Meisterin streng. „Das macht immer mein Vater“, antwortete ich ver62

ständnislos. Von da an aber hatte ich den Ehrgeiz, es zu können. Ich hackte mir dünne Späne im Keller und versuchte es wie Vater mit viel Papier und etwas Karton, und schon brannte es. Ein anhaltendes Feuer zu haben war nicht nur für die Wärme wichtig. Von den Stadtwerken wurde täglich der Strom für zwei Stunden Abb. 8: Die Autorin im ersten abgeschaltet, und so mussten Lehrjahr (1947) wir ein Bügeleisen mit Stachel* verwenden. Der Stachel war ein schweres Stück Eisen, das in das Feuer gelegt wurde, bis es fast glühte und dann in den Hohlraum des Bügeleisens kam. Mit der größten Hitze bügelte man die schweren Sachen, dann die dünneren, bis der Stachel auskühlte und von Neuem in das Feuer gelegt werden musste. Für mich war das nichts Besonderes, denn zu Hause hatten wir nie ein anderes Eisen, weil die Stromleitung noch nicht bis zu unserer Siedlung vorgedrungen war. Wir verwendeten auch wie im Krieg eine Karbidlampe, um das noch immer rationierte Petroleum zu sparen. Karbid bekam man in einem Kalkwerk, etwa zwanzig Kilometer von uns entfernt. Wenn ich konnte, begleitete ich Vater gern auf dem Fahrrad, wie ich es schon als Schulkind getan hatte. Mutter mochte die Karbidlampe nicht so gern. Es stank, wenn man sie neu befüllen musste, was man nur im Freien tun konnte. Das Gas, das durch die Berührung von Karbid mit Wasser entstand, musste richtig dosiert werden, sonst gab es eine Stichflamme. Davor fürchtete sich Mutter immer. Im ersten Winter gab es für Lehrlinge eine Aktion von der Landesregierung. Wir bekamen einige Wochen lang ein Essen 63

gratis und auch ohne Lebensmittelmarken. Da ging ich gern hin. Ein großer Saal in der Burg wurde mit langen Tischen und Bänken ausgestattet und war nun bis auf den letzten Platz besetzt. Jungen und Mädchen der verschiedensten Berufe trafen aufeinander, und es war recht unterhaltsam. Das Essen schmeckte, vom Gulasch mit Polenta, Beuschel* mit Knödel, Ritschert*, Linseneintopf bis zum Sauerkraut mit Blutwurst war alles willkommen. Meist gab es auch einen süßen Nachtisch. Da ich mich nun an das warme Essen mittags gewöhnt hatte, schloss ich mich nach dieser Aktion einer Kollegin an, die in ein nahe gelegenes Speisehaus essen ging. Es wurde von zwei älteren Damen betrieben, die anfangs nur für einige Studenten gekocht hatten, die Einrichtung aber nun wegen der großen Nachfrage ziemlich erweitert hatten. Die Räumlichkeiten lagen im ersten Stock, und man konnte in die Küche sehen, wo eine ganze Reihe Mädchen in weiß-lila gewürfelten Schürzen und weißen Häubchen arbeiteten. Man gab am Montag seine Lebensmittelmarken ab und bekam dann fünf Tage lang ein Mittagessen. Der Preis war gering, und meine Lehrlingsentschädigung reichte dafür aus. Nach wie vor kamen Studenten von der nahe gelegenen Universität hin wie auch viele ältere Leute, die mit dem Wenigen gar nicht täglich hätten kochen können. Wir wussten bald: Gab es heute Spinat, bekamen wir morgen mit Spinat gefüllte Palatschinken, gab es Palatschinken, war am nächsten Tag Frittatensuppe auf dem Plan. So brachte ich ein halbes Jahr herum, ich ging aber auch in die Berufsschule, wo meine Meisterin Material- und Kostümkunde unterrichtete. Diese Fächer interessierten mich sehr, und ich lernte mehr, als ich musste. Ich konnte nicht verstehen, dass manche Mädchen den Stoff nicht schafften oder nicht einsahen, wozu man das brauchte. Ich half aber auch gern, wenn es ungelöste Fragen gab. 64

Es kam der Herbst und mit ihm das Problem, die Werkstatt und den Probiersalon heizen zu müssen. Die Bezugsscheine reichten wie bei uns zu Hause nicht aus. Eine der Gesellinnen kam aus dem Kohleort Köflach und konnte einige Säcke Braunkohle beschaffen, die dort mühsam von Leuten aus den Halden geklaubt wurde. Allerdings kamen die Säcke nur bis zum Bahnhof. Von dort mussten unser jetzt jüngstes Lehrmädchen und ich sie mit dem Leiterwagen abholen. Es war ein Weg durch die ganze Stadt, und wir genierten uns entsprechend. Um das blamable Gefühl ein wenig zu mindern, hatten wir uns ein Schild gemalt, auf dem der Name „Salon Kora“ prangte und das wir auf dem Leiterwagen festmachten. Beim Zerhacken der großen Kohlebrocken war ich Weltmeister, und das die ganze Lehrzeit über, weil es sonst niemand konnte oder können wollte. Im Winter 1947/48 musste mein Vater eine Schulwartvertretung annehmen, denn die Entnazifizierung hatte sich inzwischen ziemlich erledigt. Die betreffende Schule war nicht weit von meinem Arbeitsplatz, und ich konnte in meiner zweistündigen Mittagspause täglich zu ihm gehen. Das war schön für mich. Er hatte dort einen Arbeitsraum, der warm geheizt war. Vater hatte seine Zigarettenration gegen einige Dosen Suppenextrakt eingetauscht und kochte auf dem kleinen Eisenofen Suppe für uns. Wir aßen die klare Suppe mit Brot oder mit den ungezuckerten Keksen aus einem Rationspaket der amerikanischen Armee, wie wir es damals neben den Lebensmittelmarken zugeteilt bekamen. Noch einen Grund gab es, dass ich gern zu Vater in die Schule ging. Sein Zimmer war voll mit Regalen und Büchern. Es waren Bücher, die im Unterricht nicht mehr verwendet werden durften, weil sie aus der NS-Zeit stammten. Dort schmökerte ich gern, nahm auch das eine oder andere mit, weil sie ohnehin nur vernichtet werden sollten. 65

Wenn es sich zeitlich ausging, konnte ich auch mit Vater gemeinsam heimfahren. So verbrachte ich einen recht angenehmen Winter. Es kam die Zeit, wo man schon Stoffe oder Schuhe ohne Bezugsschein zu kaufen bekam. Da merkte ich erst, dass ich für so etwas viel zu wenig Geld hatte. Aber ich hatte ja schon gelernt, aus alten Sachen neue zu machen. Allerdings, für ein Paar Schuhe, die ich fast täglich ansehen ging, musste ich einige Monate sparen. Inzwischen durfte ich schon ein bisschen selbständig arbeiten und bei den Proben dabei sein. Unsere Meisterin erklärte uns vieles, während sie an ihrem großen Zuschneidetisch arbeitete. Wer Interesse hatte, konnte auch zusehen, wie sie aus einem Grundschnitt einen Schnitt für ein Modell anfertigte. Ich hatte das Gefühl, dass ich hier viel lernen konnte. Bei einer Freundin zu Hause gab es plötzlich einen Plattenspieler, und ganz begeistert lud sie mich für einen Sonntagnachmittag ein. Die ganze Familie saß um den Tisch, und der Vater legte immer wieder eine andere Platte auf. Es waren die neuesten Schlager, die ich nur selten im Radio zu hören bekam, denn unser Vater mochte das nicht so gern. Er fürchtete wohl, das würde uns unserer Volksmusik entfremden. Doch ich bekam aus einem anderen Grund bald genug von Schlagermusik. Ich hatte die Oper entdeckt. An der Theaterkassa bekam man die übrig gebliebenen Ring-Karten zu verbilligten Preisen, sie kosteten nicht mehr als eine Kinokarte. Fast wöchentlich ging ich nun in die Oper. In der Schauspielschule durfte man bei den Aufführungen gratis zusehen. Dort habe ich meinen ersten „Faust“ und „Hamlet“ erlebt. Zu meinem 17. Geburtstag wünschte ich mir, dass ich die Zöpfe abschneiden durfte. Ich nähte mir ein Kleid für das Theater und konnte mich nun mit dem anderen Publikum messen, zumindest mit dem auf der Galerie. 66

Das Nachhausekommen nach einer Vorstellung war ein Problem. Mit meinem Fahrrad schlängelte ich mich durch die Stadt und wurde nicht selten von einem Polizisten aufgehalten, da man erst mit 18 Jahren nach 22 Uhr unterwegs sein durfte. Meist reichte die Theaterkarte als Beweis, und man wurde aufgefordert, so schnell wie möglich heimzufahren. Praktischerweise kam meine Schwester als Lehrmädchen in den gleichen Salon, was aber keine gute Idee war. Auch die Meisterin sah bald, dass sie keine Freude an dem Handwerk hatte, und so wurde das Lehrverhältnis noch vor Ende der Probezeit aufgelöst. Ein Nachbar vermittelte sie dann in eine Schuhfabrik. Eigentlich tat sie mir immer ein bisschen leid, denn trotz ihrer rebellischen Natur machte sie schließlich doch, was andere für sie vorgesehen hatten. Im Mai überraschte uns Vater mit dem Plan, mit uns einen Ausflug zum Kesselfall und der darüber liegenden Teichalm zu machen. Es fand dort ein Sterntreffen der FÖJ* statt. Obwohl sie sich „Freie Österreichische Jugend“ nannte, war sie doch die Jugend der Kommunistischen Partei. Die Mitglieder dieser Jugendorganisation kamen aber aus allen Richtungen dahin. Zu meiner Überraschung fand ich dort eine unserer Gesellinnen, eigentlich meine Gesellin, denn so waren wir in der Werkstatt eingeteilt. In ihrer Begleitung befanden sich eines der älteren Lehrmädchen und die Freunde der beiden. Eine Menge junger Leute, die sich alle kannten, saßen im Kreis, spielten Gitarre und sangen Wanderlieder. Sogleich war ich eine von ihnen und sang begeistert mit. Aber auch politische Lieder wurden gesungen, wie „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“, „Avanti popolo“ oder die Internationale. Sie luden mich ein, zu ihrem Chor zu kommen, was ich gern wollte. Nachmittags musste Vater mich erst suchen, als er den Heimweg antreten wollte. Er war gar nicht einverstanden, als ich sagte, dass ich dieser Jugendgruppe beitreten möchte, 67

obwohl er mich selbst hingebracht hatte. „Na ja, zum Chor kannst du ja gehen“, meinte er schließlich, „deswegen musst du nicht gleich Mitglied werden.“ Es kam der Herbst 1949, da bekam Vater beim Magistrat eine Anstellung als Magazinverwalter und eine Dienstwohnung. Er wäre wahrscheinlich lieber in unserer Einsamkeit wohnen geblieben, aber Mutter war überglücklich. Mit Liebe richtete sie die neue Wohnung ein, so gut es mit den wenigen Mitteln möglich war. Auch ich fand die Wohnung in der Stadt zumindest praktisch. Vater ging mit uns zu Lichtbildervorträgen oder zu Kursen in die Volkshochschule. Ins Theater konnte ich nun mit der Straßenbahn fahren. Auch Chorprobe zweimal wöchentlich ging sich nun besser aus. Unser Chorleiter war Berufsmusiker und spielte Geige. Er hatte auch noch andere Ambitionen, als Kampf- und Wanderlieder zu singen. Er verjazzte einige Lieder, die wir begeistert einlernten. Den Funktionären gefiel das weniger. Außerdem übte er mit uns vierstimmig den Donauwalzer ein, und wir traten bei diversen Veranstaltungen der Jugend, aber auch der Kommunistischen Partei auf. Natürlich konnte ich mich nicht abseits halten und wollte es auch nicht. Man fühlte sich so aufgehoben unter all den jungen Leuten. Wir waren alle arm, aber es fehlte uns nichts. Reich sein war ohnehin verpönt. Ins Theater oder in die Oper ging ich nach wie vor gern, doch unter all den jungen Leuten, die ich nun kannte, fand sich nur ein einziges Mädchen, das mich manchmal begleitete. Bald war ich in der Jugendgruppe organisatorisch tätig, kolportierte Zeitungen, sammelte Unterschriften für den Frieden und gründete eine Mädchengruppe innerhalb der FÖJ. Diese hielt sich aber nicht lange, denn die Mädchen wollten schließlich auch Jungen treffen. Wir organisierten Sternfahrten, und für eine Gelegenheit nähte ich Dutzende blauer Wimpel mit weißer Taube für die 68

Fahrräder. Jemand hatte die Idee, eine Volkstanzgruppe ins Leben zu rufen. Da gab es Arbeit für mich: Ich half allen beim Nähen eines einheitlichen Dirndls, und bald hatten wir unsere ersten öffentlichen Auftritte. Der Volkstanz kam gut an beim Publikum und motivierte uns, unser Repertoire ständig zu erweitern. In den Jahren 1949/50 gab es die großen Streiks. Ich erinnere mich an den Streik in Wien, wo die Kommunisten mit der sowjetischen Besatzung im Rücken Großes vorhatten. Dieser Streik wurde dann von Franz Olah, der ÖGB-Vorsitzender der Bau- und Holzarbeiter war, im Verein mit dem Wiener Bürgermeister niedergeschlagen. Aber auch bei uns in Graz ging es hoch her. Die Fraktion der Metaller kündigte einen Marsch zu den Puch-Werken an und anschließend zum nahe gelegenen Wirtschaftshof. Als der Portier davon erfuhr, verständigte er die Chefetage. Es wurde angeordnet, sofort das Tor zu sperren. Ich wohnte damals bei meinen Eltern in einem Wohnhaus im Wirtschaftshofgelände, da mein Vater dort angestellt war. Irgendwie war ich erleichtert, als ich die Kolonne wieder abziehen sah. Das hing wohl damit zusammen, dass ich meine erste „Marschkolonne“ 1938, damals sechsjährig, erlebte. Ich musste mit meiner Tante eine halbe Stunde warten, bis wir über die Straße und in unser Haus konnten. Ich war immer etwas im Zwiespalt zwischen meinem Bedürfnis nach Gerechtigkeit und den oft radikalen Mitteln, mit denen diese erreicht werden sollte. Trotzdem versuchte ich, meine Kolleginnen als Gewerkschaftsmitglieder zu werben, sie über ihre Rechte zu informieren und auf die Einhaltung der Arbeitszeiten zu bestehen, was ohnehin nur bedingt möglich war. 1950 machte ich meine Freisprechung und begann selbstbewusst meine Laufbahn als Gesellin. Ich bekam ein Lehrmädchen zugeteilt und musste von Anfang an selbständig arbeiten. Das fiel mir nun doch noch nicht so leicht, vor allem in 69

der kalkulierten Zeit zu bleiben war nicht einfach. Doch nach einigen Monaten hatte ich mit den anderen gleichgezogen. Die Arbeit machte auch Freude. Es gab schon wunderschöne Stoffe und genügend Damen, die sich diese leisten konnten. Es gab Modeschauen, wo ich im Hintergrund wachte, dass die Mannequins richtig angezogen wurden und meine Kleider und die dazugehörigen Accessoires wieder unbeschadet in die Werkstatt kamen. Im März 1951 ertrotzte ich mir meinen zweiwöchigen Urlaub. Es war nämlich kurz vor Ostern, und natürlich gab es viele Aufträge für neue Frühjahrsgarderobe. Ich aber wollte zu einer Schulung für Jugendfunktionäre nach Mauerbach, und das ließ ich mir nicht nehmen. Dazu brauchte ich einen viersprachigen Identitätsausweis, denn so ohne Weiteres konnte man nicht von Graz über Wien nach Mauerbach reisen. Ich fand es dann auch recht interessant. Bekannte Journalisten hielten Vorträge, wir produzierten eine Zeitung, wir musizierten, tanzten als Gruppe das „Hiatamadl“ und bekamen abends Filme (meist russische) vorgeführt. Bei Schneegestöber absolvierten wir einen Orientierungslauf im Wienerwald. Ein neues Mannschaftsspiel wurde uns beigebracht, das sich Volleyball nannte und von dem ich bis dahin noch nicht gehört hatte. Mit neuem Elan kehrte ich heim. Durch mein Engagement in der Jugendgruppe und mein Interesse an der Gewerkschaftsarbeit kam ich bald mit meiner Meisterin in Konflikt. Ich sah die Ungerechtigkeiten wie Arbeiten am Samstagnachmittag, unbezahlte Überstunden, Löhne unter dem Kollektivvertrag, Beschäftigung der Lehrlinge über die angemessene Zeit. Obwohl ich schon ein Jahr Gesellin und 19 Jahre alt war, wollte die Chefin mit meinem Vater sprechen, der auch kam. Sie sagte, sie wolle mich, nachdem ich auch die Meisterprüfung hätte, zur Werkstättenleiterin machen, und es ginge nicht an, dass ich Punkt sechs Uhr alles hinschmisse. Sie habe 70

Tag und Nacht gearbeitet, um ihren Salon dahin zu bringen, wo er heute sei. Außerdem habe sie den Eindruck, dass ich einen Umgang hätte, der schlechten Einfluss auf mich nähme. Vater, der selbst oft unter politischen Diskriminierungen zu leiden gehabt hatte, sagte, er kenne meinen Umgang und sei damit einverstanden. Was das Arbeiten angehe, es sei ja ihr Salon und Angestellte hätten eben feste Arbeitszeiten. In der folgenden Zeit machte ich meine Arbeit gern wie immer, aber ohne Überstunden. 1951 lernte ich meinen späteren Mann kennen. Im Chor war eines Tages ein junger Mann, der auffiel. Er wirkte erwachsener als die anderen, er benahm sich den Mädchen gegenüber mit ausgesuchter Höflichkeit, und er trug im Winter einen Hut, wofür er ausgelacht wurde. Er kam von der Gewerkschaftsjugend, und da er eine schöne Bassstimme hatte, war er gefragt in unserem Chor. Bei einer Aufführung wurden außer den Liedern auch einige politische Sketches vorgetragen, und ich sang mit einem Jungen ein Couplet. Dafür hatte ich mir einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse genäht und für einen halben Wochenlohn Seidenstrümpfe gekauft. Als ich von der Bühne kam, sagte unser neues Chormitglied: „Freundin, du hast eine Laufmasche.“ Das waren die ersten Worte, die er an mich gerichtet hatte. Seitdem wartete er nach den Proben auf mich und begleitete mich nach Hause. Immer öfter machten wir Umwege durch den Augarten oder am Murufer entlang, die Fahrräder schoben wir neben uns her. Nach einiger Zeit war er bei meinen Eltern auch ein gern gesehener Gast. Er sang mit uns die Volkslieder und spielte manchmal Mundharmonika zu unserer Zithermusik. Umwege waren nicht mehr nötig, und auch unser Grundstück mit Häuschen war am Wochenende ein willkommenes Ziel. 71

Mein Freund war zwei Jahre im Krieg gewesen, davon ein Jahr an der russischen Front. Auf dem Rückzug kam er in amerikanische Gefangenschaft und kehrte im Sommer 1945 heim. Seither arbeitete er als Hilfsmonteur in einer Installationsfirma, weil es in seinem erlernten Beruf als technischer Zeichner keine Stelle gab. Sein Gerechtigkeitssinn brachte ihn zur Gewerkschaft, und schließlich wurde er Betriebsrat in seiner Firma. Diese Tatsache war nicht karrierefördernd, und so zog er weiterhin den Karren – im wahrsten Sinn des Wortes – durch die Stadt. Er war in der kommunistischen Fraktion der Metaller tätig und einer der Hauptinitiatoren der diversen Streiks. Da hatte ich nun ja die richtige Unterstützung für meine Anliegen. Aber manchmal war es auch meine Entscheidung, wenn ich etwas fertig haben wollte und länger blieb. Da wartete dann mein Freund mit seinem Fahrrad auf der anderen Straßenseite und war ungehalten, wenn ich ihm sagte, ich könne erst in einer Stunde weg oder wir sehen uns morgen. Es gab deshalb manchen Konflikt zwischen uns, und da mir mein Freund wichtiger war, kündigte ich in der Gewissheit, gleich etwas anderes zu finden. Dem war nicht so. Man war auf alle Fälle verdächtig, wenn man selbst kündigte. Da half auch nicht mein makelloses Zeugnis. Nach einigen vergeblichen Vorstellungsgesprächen wurde ich in eine Kleiderfabrik geschickt. Dort wurde nicht lange gefragt, und ich fand mich in einer Reihe von Arbeiterinnen an automatischen Maschinen. Den ganzen Tag machte man den gleichen Arbeitsgang, und das möglichst schnell. Das hätte ich noch ausgehalten, aber als dann die männlichen Arbeiter anfingen, ordinäre Witze zu erzählen oder gar aufdringlich zu werden, da ging ich, egal was würde. Auf dem Arbeitsamt sagte man mir, wenn ich nirgends bliebe, müssten sie mich ins Gastgewerbe schicken oder die Unterstützung einstellen. 72

Zum Glück fand ich doch noch Arbeit in einem Modesalon und hatte auch recht nette Kolleginnen. Die eine war gerade aus der Schweiz zurückgekommen, wo sie als Haustochter gearbeitet hatte. So nannte man dort die Dienstmädchen, die meist in Familienbetrieben angestellt waren. Nach Arbeitszeit wurde dort nicht gefragt, erzählte sie, aber sie hatte gut verdient und ziemlich viel erspart, und nun wollte sie so bald wie möglich die Meisterprüfung machen und einen eigenen Salon eröffnen. Wir arbeiteten außer der Maßschneiderei noch für die „Steirische Kunststube“, und ich verfertigte manches Trachtenkleid für exklusive Kundinnen. Es musste alles original sein, das Material, der Druck der Muster, vom Schnitt bis zu Spitzen und Rüschen. Diese Arbeit machte mir wieder viel Freude. Zu dieser Zeit hätten wir schon gern geheiratet, aber wir hatten keine Aussicht auf eine Wohnung. Noch immer wohnten Bombengeschädigte in Untermiete, wohin sie im Krieg eingewiesen worden waren. Auch die Familie meines Freundes war ausgebombt worden, einmal zeigte er mir den dritten Stock des Hauses, wo er gewohnt hatte. Durch die fehlende Mauer konnte man noch das Tapetenmuster der Zimmer sehen. Die Wohnung, in die er mit Mutter und Bruder nach dem Krieg einziehen konnte, war klein und auch reparaturbedürftig. Sein Bruder hatte inzwischen Familie, und für meinen Freund gab es vorläufig nur einen Strohsack in der Küche zum Übernachten. Unser einfaches Häuschen auf dem Land war dagegen Luxus. Es war wie ein Teufelskreis: Suchte man um eine Wohnung an, musste man verheiratet sein, Kinder waren noch besser; wollte man heiraten, hatte man keinen Platz, wo man zusammenleben konnte. Aus diesem Dilemma half uns die sogenannte höhere Gewalt. Unser erstes Kind kündigte sich 73

Abb. 9: Die junge Familie Schleich (1954)

an. „Jetzt wird sofort geheiratet!“, polterte Vater. „Und wo wohnen?“, wandte ich ein. „Schlimmstenfalls hier. Er ist ja so schon da mehr zu Hause als sonst wo.“ Es ging uns nun schon etwas besser, aber jetzt sahen wir erst, was uns alles fehlte. Einen Anzug, ein Kleid und alles Dazugehörige zu kaufen war einfach nicht möglich. Die Löhne waren ziemlich gering Anfang der Fünfzigerjahre. Meinen Eltern ging es nicht viel besser. So nähte ich mein Kleid allen Regeln zuwider selbst, und ein abgelegter Anzug vom Schwager meines Mannes wurde liebevoll aufgebügelt. Hemd und 74

Krawatte, neue Schuhe für ihn und mich belasteten unser Budget schon ungewöhnlich. Trotz allem hatten wir ein schönes Fest. Beide Mütter übertrafen sich in ihren Kochkünsten, und zwölf Personen hatten in unserem Wohnzimmer gerade Platz. Meine Schwiegermutter bekam als Bombengeschädigte eine Entschädigung, von deren Hälfte sie uns einen Kinderwagen kaufte. Der Mutterschaftsurlaub betrug damals acht Wochen, danach konnte man auf eigene Kosten zu Hause bleiben. Da wir ja bei den Eltern wohnten, erklärte meine Mutter sich bereit, tagsüber das Kind zu betreuen; so konnte ich wieder arbeiten gehen. Seit wir verheiratet waren, eigentlich schon vorher, sind wir immer seltener zu den Chorproben gegangen und schließlich gar nicht mehr. Früher als mein Mann habe ich mich gefühlsmäßig von der KP zurückgezogen. Kollektiv? – gut und schön. Gleiche Bildung und Erziehung für alle – auch gut. Seit ich nun selbst ein Kind hatte, dachte ich anders. Es sollte individuell erzogen werden. Ich selber wollte mich auch nicht in ein Schema pressen lassen und immer die Meinung der Parteivorsitzenden haben müssen. Wenn auch die Möglichkeit, dass Österreich zur Volksdemokratie würde, gering bis undenkbar war, so wollte ich mich doch nicht für etwas einsetzen, von dem ich nicht überzeugt war. 1955 war es dann so weit. Der Bruder meines Mannes bekam eine Dienstwohnung, und wir konnten in das nun freie Zimmer mit Küchenbenützung bei meiner Schwiegermutter einziehen. Bad gab es damals in einfachen Wohnhäusern sowieso nicht, WC und Wasserleitung befanden sich im Hausflur. Auch sonst war alles denkbar einfach, da die Mutter bei dem Bombenangriff alles verloren hatte. Aber wir waren selbständig, was uns wichtig war. Die Mutter war tagsüber außer Haus, und ich konnte schalten und walten, was gar nicht einfach war. 75

Anfangs hatten wir nur eine Elektrokochplatte, aber für das bescheidene Essen damals reichte sie aus. Im Winter heizten wir einen Eisenofen, auf dem man auch kochen konnte. In diesem Jahr kam unser zweites Kind zur Welt. Das größte Problem war wohl die Wäsche. Waschküche, wie meine Mutter sie hatte, gab es in diesem Haus nicht. Die Wäsche musste in der Küche in einem Schaff mit Waschbrett gewaschen werden, die Windeln wurden in einem großen Topf auf der Elektroplatte ausgekocht. Erst ein Jahr später, 1956, konnten wir einen Elektroherd mit drei Platten und Backrohr kaufen. Nun konnte ich auch backen und braten. Ich kochte, was ich von zu Hause kannte; manchmal fragte ich auch meine Schwiegermutter, die eine gute Köchin war. Ich hatte in der vierten Klasse Hauptschule Kochunterricht gehabt, und so manches kam mir nun zugute. Wir waren damals hauptsächlich auf Lebensmittel angewiesen, die die Schülerinnen mitbrachten. So lernten wir aus dem wenigen Vorhandenen zu kombinieren und hatten immer ein dreigängiges Menü. Mein Mann hatte sich im Selbststudium in Sanitär- und Heizungstechnik weitergebildet und konnte nun im technischen Büro seiner Firma Fuß fassen, als ein Techniker nötig gebraucht wurde. Das Gehalt war allerdings auch nicht viel größer. Nun zeigte sich, dass Handwerk doch goldenen Boden hat. Um ein wenig zum Familieneinkommen beizutragen, begann ich für Bekannte und Nachbarn zu nähen. Auch die Steirische Kunststube fragte an, ob ich aushelfen könnte, da jemand ausgefallen sei. Ich konnte zu Hause arbeiten, brauchte nur zu den Proben hinzugehen. Aus der Aushilfe wurde dann eine ständige Arbeit, die ich neben Kinderbetreuung und Haushalt ganz gut erledigen konnte. Ansonsten war ich ausgelastet damit, die beiden Kinder zu versorgen: vormittags einkaufen, kochen, da mein Mann in 76

seiner Mittagspause zum Essen kam; nachmittags machte ich die Wäsche fertig, bügelte, nähte und beschäftigte die Kinder. Ich führte auch ein Haushaltsbuch, wie ich es von meinem Vater kannte, und war sehr genau mit dem Geld, das mein Mann mir bis auf ein kleines Taschengeld zur Gänze übergab. Ein Gehaltskonto oder überhaupt ein Bankkonto hatten wir damals nicht. Haushaltsbuch führe ich noch immer, obwohl manche meiner Freundinnen mich auslachen und fragen, wem ich denn Rechenschaft schulde. Ich habe das aber immer für mich gemacht. Um auf die Hausarbeit zurückzukommen: Das Abwaschen musste man in zwei sogenannten Weitlingen besorgen; das Wasser vom Hausflur holen, auf dem Herd wärmen und nach Gebrauch wieder nach draußen tragen. Erst später bekam ich so ein Möbel, in dem sich zwei Becken befanden, doch entleeren musste man sie auch in den Eimer. Auch das Reinigen der Fußböden war viel Arbeit. Der grobe Holzboden musste von Zeit zu Zeit gerieben und eingelassen werden. Die tägliche Reinigung geschah mit Besen und Mopp, da wir auch keinen Staubsauger hatten. Es gab wohl schon Staubsauger, die aber noch sehr teuer waren, auch meine Mutter hatte damals noch keinen. Zu dieser Zeit bekam meine Mutter eine technische Waschhilfe, die sich Pulsette* nannte. Es war ein elektrisches Gerät, das man in den Waschtrog mit vorgeweichter Wäsche stellte. Dort „pulsierte“ es dann und reinigte die Wäsche nach dem Prinzip der Bewegung, das auch unserer modernen Waschmaschine zugrunde liegt. Da fuhr ich dann öfter mit meiner Wäsche zu Mutter. Trotzdem war es mühsam, da man ja alles bis zur Straßenbahn und wieder zurück tragen musste. Außerdem blieb noch genug, was man täglich waschen musste, vor allem die Windeln. Ich wertete diese Ausflüge mit meiner Wäsche eben als Besuch bei den Eltern. 77

Gern wäre ich wieder in den Beruf zurückgekehrt und brachte vorerst unseren dreijährigen Sohn im Kindergarten unter. Für die Kleine hätte sich auch eine Krabbelstube gefunden, doch kostete der Platz mehr, als ich hätte verdienen können. So blieben wir alle zu Hause, und ich bemühte mich, möglichst sparsam zu wirtschaften. Im Garten, den meine Eltern hatten, bauten wir Salat und Gemüse an, und der Aufenthalt dort war zugleich auch etwas Erholung in der frischen Luft – mit den Kindern ideal. In diesen Jahren widmete ich unseren Kindern viel Zeit. Als langjähriges Mitglied der Stadtbibliothek ging ich nun auch mit ihnen hin, und sie durften nach Möglichkeit selbst etwas aussuchen. Zu Hause las ich ihnen vor, oder wir lernten Verse und sangen Lieder. Für uns Erwachsene gab es „zum Vergnügen“ ein Leihradio* und natürlich auch die Stadtbibliothek. Ganz selten leisteten wir uns einen Opernbesuch. Die meiste gemeinsame Freizeit verbrachten wir im Garten. Eines Tages kam mein Mann aufgeregt nach Hause und erzählte mir folgende Begebenheit: Die Fakturistin seiner Firma hatte Besuch aus Südtirol bekommen. In dessen Begleitung war ein Mann, der dort Inhaber einer Installationsfirma war. Ein anregendes Gespräch entwickelte sich, und mehr im Scherz sagte der Südtiroler zu meinem Mann: „Sie könnten gleich mitkommen, ich würde einen Techniker brauchen. Ich muss meine Projekte in einem technischen Büro in Innsbruck machen lassen, das kostet mich viel Zeit und auch Geld.“ Da sagte mein Mann, auch noch im Scherz: „Wenn Sie das Doppelte zahlen …“ – „Einverstanden.“ Danach folgte ein ernsthaftes Gespräch. Mein Mann brachte vor, dass er eine Familie mit zwei Kindern habe und auch eine entsprechende Wohnung brauche. „Das ist kein Problem“, lachte der Südtiroler. „Ja dann …, dann werde ich mit meiner Frau sprechen.“ 78

Und so übersiedelten wir noch im selben Jahr, es war 1958, nach Bruneck in Südtirol. An unserem neuen Wohnort hatten wir plötzlich alles, wovon wir bis dahin geträumt hatten: eine neue Wohnung mit eingerichtetem Bad und Küche, und auch die notwendigen Möbel konnten wir uns kaufen. Ich bekam eine neue Nähmaschine, denn bisher hatte ich keine eigene. Auch ein Staubsauger war kein Problem. Als Luxus betrachtete ich ein modernes Radio mit angeschlossenem Plattenspieler, der mir jedoch viel Freude machte. Damals gab es die schönen Langspielplatten mit Konzerten und Opern, und ich besitze sie noch fast alle. Ich bilde mir auch ein, dass die Musik von Schallplatten schöner klingt als von einer CD. Meinen Beruf konnte ich in Südtirol nicht ausüben, dazu hätte ich eine Arbeitsgenehmigung des italienischen Staates gebraucht. Auch war es in dieser Kleinstadt gar nicht üblich, dass Frauen einer Berufsarbeit nachgingen. 1960, als wir unser drittes Kind bekamen, kauften wir die erste Waschmaschine. Obwohl es in diesem Haus eine komfortable Waschküche gab, mit Heizkessel und Trockenraum, war die Maschine doch eine große Erleichterung meiner Arbeit. Nun war das Windelwaschen kein Problem mehr. Die ersten Wegwerfwindeln, sogenannte Schwedenwindeln*, kamen auf, die verwendeten wir aber nur, wenn wir unterwegs waren. Auch hier begann mein Tag früh, ich hatte fünfzehn Minuten Weg zum Einkaufen, und mein Mann kam meist zum Essen heim. Doch hatten wir etwas mehr Zeit, und ich genoss die kleine Mittagspause, falls die Kinder ruhig waren. 1963 war unser ältester Sohn zehn Jahre alt, und es stellte sich die Frage, welche Schulbildung er bekommen sollte. Da wir von den österreichischen Schulen viel hielten, entschlossen wir uns, ihn nach Saalfelden in Salzburg in ein Gymna79

sium mit Internat zu schicken. Er war dann auch sehr gerne dort, und wir konnten ihn öfter besuchen, da es nicht so entfernt wie Graz war. Auch er konnte schon allein nach Hause fahren. Bis 1965 hatten wir noch zwei Kinder bekommen. Nun waren es also fünf, und wir zogen in die Parterrewohnung im selben Haus, die um einiges größer war. In diesem Jahr kauften wir uns den ersten Fernseher. Ich hatte nun wöchentlich eine Putzfrau und in den Ferien zur Kinderbeaufsichtigung eines der Mädchen aus der Nachbarschaft, die sich etwas Taschengeld verdienen wollten. Kindergarten war nicht so üblich, daher beschäftigte ich mich selbst viel mit den Kleinen, wir bastelten, sangen, malten. Im Winter standen Rodeln und Eislaufen auf dem Plan. Viel Zeit widmete ich auch der Schneiderei, inzwischen nur noch für meine Familie. Vom Pyjama bis zum Wintermantel machte ich alles selber. Damals rentierte sich das noch, da Fertigsachen relativ teuer waren, und die Auswahl an Meterware war groß. Jetzt ist es gerade umgekehrt. Einmal im Jahr besuchten wir unsere Heimatstadt Graz und somit auch die Eltern und Geschwister. Das war immer eine etwas umständliche Reise per Bahn mit all dem Gepäck, das man für die große Familie brauchte. Manchmal kamen auch die Eltern zu uns, das war einfacher. Eigenes Auto hatten wir damals noch nicht. Wir waren zwölf Jahre in Südtirol. Wegen der beruflichen Aussichten meines Mannes – er musste jährlich um Arbeitsgenehmigung und Aufenthaltsbewilligung ansuchen – und auch wegen der Ausbildung unserer Kinder entschlossen wir uns, wieder nach Graz zurückzugehen. Voraussetzung waren eine Anstellung für meinen Mann und eine passende Wohnung. 80

Abb. 10: Ferien im neuen Wochenendhaus nahe Graz (1966)

1970 fand dann der große Umzug statt. Nun galt es noch, die passenden Schulen zu finden, was in der Ferienzeit gar nicht einfach war. Schließlich waren alle untergebracht. Unsere Rückkehr war eigentlich auch ein Rückschritt, was Wohnen und Umfeld anlangte, aber wir waren ja hier zu Hause, hatten auch wieder den Garten und mittlerweile ein kleines Auto, mit dem wir da hinkommen und auch Ausflüge machen konnten. Als wir in Graz einzogen, gab es praktisch an jeder Ecke eine Gemischtwarenhandlung und drei Bäckereien und drei Fleischereien in der Nähe. Etwa 1975 machte der erste Super81

markt in unserer Nähe seine Pforten auf. Ich änderte meine Einkaufsgewohnheiten aber nicht, und das bis heute, obwohl all die kleinen Geschäfte restlos verschwunden sind. Den Wunsch, in meinen Beruf zurückzukehren, habe ich aufgegeben, denn mit meinem Alter und nach der langen Unterbrechung hätte ich gerade noch in einer Kleiderfabrik arbeiten können, was ich nicht wollte. Als ich gelernt hatte, war die Damenschneiderei noch etwas Kreatives, und die Arbeit hatte mir viel Freude gemacht. Unter Zeitdruck am Fließband zu arbeiten konnte ich mir gar nicht vorstellen. Ich hatte ja auch zu Hause genug zu tun. Putzfrau war hier nicht möglich, und mein Mann war im Beruf sehr gefordert. Meine Familie hat das „Zuhause“ immer sehr geschätzt. Mein Mann hat nie versäumt, das eine oder andere zu loben oder sich für Extras zu bedanken. Da macht man dann alles gern und fühlt sich auch bestätigt. Beschäftigung gab es auch mit größeren Kindern. Wir musizierten, mit den Mädchen machte ich Handarbeiten, Nachhilfe war auch manchmal nötig. Kleinere Aufgaben konnte ich den Kindern nun schon übertragen. Als in der Schule einmal zur Sprache kam, wie die Hausarbeit in den Familien aufgeteilt sei, dokumentierte das meine Zwölfjährige so: „Der Vater und die Brüder ziehen die Uhren auf und reißen die Kalenderblätter ab, den Rest macht Mutti mit meiner Hilfe.“ Ja, es gab manches zum Schmunzeln und auch viel Freude neben der Arbeit und Verantwortung. In unserem Haushalt änderte sich im folgenden Jahrzehnt eigentlich nicht viel. In eine größere Wohnung zu ziehen ist uns aus finanziellen Gründen nicht gelungen, doch die Zeit arbeitete mit uns. Die Kinder machten nach und nach ihren Schulabschluss, fassten im Beruf Fuß und zogen aus. Nun brauchten wir keine größere Wohnung mehr. 1985 ging mein Mann in Pension, da war auch unsere Jüngste so weit, sich selber zu versorgen. 82

Abb. 11: Nach einem weihnachtlichen Festessen (1982)

Mein Mann wollte, da er nun viel Zeit hatte, mir gern im Haushalt helfen. Da er es nie getan hatte, gestalteten sich manche Dinge umständlich. Ich enthielt mich einer Kritik, da ich mich über seinen guten Willen ja auch freute. Schließlich spielte sich alles ein, vom Geschirrtrocknen, solange wir noch keinen Spüler hatten, bis zum Wäscheaufhängen und Staubsaugen. Auch einkaufen gingen wir nun gern zusammen, besonders auf den Markt, und so manches Mal musste ich meinen Kochplan umwerfen, wenn ihm etwas anderes gefiel. Dann noch ein kleiner Spaziergang durch den Stadtpark oder eine Ruhepause in einem Café – das waren die angenehmen Dinge, die nun in der Pension möglich waren. Eigentlich sind wir in all den Jahren bescheiden geblieben – kein teures Auto, keine neuen Haushaltsgeräte, außer es hat eines seinen Geist aufgegeben. Geschirrspüler bekam ich erst 1990, da mir das lange Stehen Kreuzschmerzen verursachte. Was sich in über fünfzig Jahren verändert hat? Natürlich haben wir es bequemer, aber ich wehre mich dagegen, all die 83

Dinge, die ich nicht brauche und die einem aufdringlich offeriert werden, zu kaufen. Wie mir überhaupt die überfüllten Supermärkte auf die Nerven gehen. Ich kaufe nach wie vor das Fleisch beim Fleischer, das Brot beim Bäcker, Obst und Gemüse wenn möglich auf dem Bauernmarkt. Ich richte mich dabei vorwiegend nach der Saison, wie ich es von früher gewohnt bin, wo man nicht zu jeder Jahreszeit alles haben konnte. In den Siebzigerjahren habe ich auch angefangen, mich mit gesunder Ernährung zu beschäftigen. Damit meine ich nicht die modernen Produkte, die einem von der Werbung suggeriert werden, sondern eine einfache ausgewogene Kost, vor allem selbst zubereitet. Da denke ich oft an meine Kindheit, wo Mutter im Krieg und in der Nachkriegszeit aus den einfachsten Zutaten immer eine schmackhafte Mahlzeit zustande gebracht hat. Außer gesunder Ernährung spielte bald auch der Umweltgedanke in unserer Familie eine Rolle. 1980 wurde in Graz die „ARGE Müllvermeidung“ gegründet, in der einer unserer Söhne von Anfang an mitarbeitete, anfangs nur ehrenamtlich. Inzwischen hat er diese Sparte zu seinem Beruf gemacht und viele neue Ideen eingebracht. Anfangs wurde man belächelt, wenn man auf Plastiksäcke und anderes Wegwerfmaterial verzichtete, doch die Entwicklung hat uns recht gegeben. Mülltrennung ist ja schon ein großer Fortschritt, doch ich praktiziere so weit wie möglich Müllvermeidung, was manchmal etwas mühsam ist, doch angesichts der Berge von Abfall Sinn macht. Meine Eltern hinterließen mir ihr Grundstück samt Wochenendhäuschen. Da waren wir nun oft, die erwachsenen Kinder und bald auch Enkel besuchten uns gern. So hatte ich plötzlich zwei Haushalte. Jener auf dem Land war denkbar einfach, ohne Strom und anfangs auch ohne Wasserleitung, doch wir sahen es als Sport, das Wasser von der Quelle zu 84

Abb. 12: Erika Schleich beim Musizieren mit einer Urenkelin (2005)

holen, das Holz selber zu machen für den Küchenherd und den Ofen, der in der kälteren Jahreszeit die Räume wärmen musste. Es war beinahe wie mein erster Haushalt in den Fünfzigern. Natürlich hatten wir unsere Stadtwohnung und waren nicht gezwungen, längere Zeit so einfach zu leben. 2001 ist mein Mann gestorben. Ich lebte nun allein in der relativ großen Wohnung. Fuhr auch öfter hinaus, um den Garten zu bearbeiten, und stellte mir vor, dass es mit zunehmendem Alter immer mühsamer werden würde. Die Kinder kamen nur sporadisch, jeder hatte Beruf oder auch Familie, und sie würden das Grundstück sicher nicht weiterpflegen wollen, wie ich es tat. Da entschloss sich unser jüngster Sohn, ein Haus zu bauen. Im Einvernehmen mit den anderen überschrieb ich ihm den Grund und bekam dafür eine eigene Wohnung in seinem Haus. Nun wohne ich hier das dritte Jahr, habe allen Komfort und den Garten vorm Haus. Mein Haushalt ist nach wie vor groß, denn nun kommen alle wieder gern, manchmal auch 85

mein Enkel, der schon vierzehn ist und hier so manche Freiheiten genießt. Natürlich sorge ich auch für den Haushalt des Sohnes, was angesichts seiner beruflichen, oft längeren Auslandsaufenthalte einfach ist. Eine gelegentliche Hilfe für Arbeiten, die ich nicht mehr machen kann, habe ich auch. Was ich noch erwähnenswert finde, ist, dass ich wegen meiner kurzen beruflichen Tätigkeit keine eigene Pension habe und wegen der kurzen Versicherungszeit auch die Kindererziehungszeiten nicht angerechnet werden können. So lebe ich eben bescheiden weiter, wie ich es ein Leben lang gewohnt war.

86

Laufbahn mit Schlaglöchern Traude Veran wurde am 31. Jänner 1934 als Gertraud Kotrc in Wien geboren und wuchs als älteres von zwei Kindern in beengten materiellen Verhältnissen auf. Ihr Vater war zumeist arbeitslos, ab 1939 im Krieg und nach seiner Heimkehr mit geringem Erfolg als Kaufmann tätig. Ihre Mutter, eine Arbeiterin, verließ 1944 mit den Kindern die Großstadt Wien. Die Familie verbrachte rund ein Jahr in der Wachau und fand schließlich Aufnahme bei väterlichen Verwandten in St. Johann im Pongau. Dank der Unterstützung einer Tante konnte die Autorin ein Gymnasium in der Stadt Salzburg besuchen und maturieren. 1952 ging sie nach Wien zurück und absolvierte zuerst eine zweijährige Fürsorgerinnenausbildung, danach als Werkstudentin das Studium der Psychologie. 1960 heiratete Traude Veran einen Geisteswissenschafter und wurde Mutter eines Sohnes und einer Tochter. Die Familie lebte zu dieser Zeit in Mödling im Elternhaus des Partners, sodass die Schwiegermutter zeitweise die Versorgung der Kinder übernehmen konnte. 1967 erfolgte eine Übersiedlung nach Konstanz, wo der Ehemann eine Anstellung an der neu gegründeten Universität bekam und auch die Autorin zeitweise im Lehrbetrieb beschäftigt war. Wie schon zu Studienzeiten bestritt sie weiterhin durch verschiedene Nebenjobs – nun als Psychologin, Übersetzerin und Programmiererin – ihren Lebensunterhalt selbst. Nach der Trennung von ihrem Mann kehrte Traude Veran im Jahr 1976 nach Österreich zurück und war bis zu ihrer Pensionierung als Schulpsychologin im südlichen Burgenland tätig. In diesem Rahmen war sie federführend an der Etablierung von Inte87

grationsschulklassen beteiligt. Ihre Arbeit in diesem Bereich ist in dem Buch „Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam in Schulen. Integrierte Klasse in Oberwart. Dokumente aus acht Jahren Schulversuch“, Innsbruck 1993, wissenschaftlich beschrieben. Neben weiteren pädagogischen Arbeiten veröffentlichte Traude Veran (bis 1995 unter ihrem ehelichen Namen Gertraud Schleichert) eine Vielzahl an literarischen Werken, vor allem im Wiener Kleinverlag Edition Doppelpunkt, an dessen Gründung im Jahr 1992 sie beteiligt war und in dem sie nach ihrer Pensionierung als Lektorin mitarbeitete. Über drei Jahrzehnte befasste sich Traude Veran auch mit künstlerischer Schwarz-Weiß-Fotografie und präsentierte ihre Arbeiten in mehreren Ausstellungen. Im Rahmen des EU-Aktionsprogramms Agenda 21 entstand in den Jahren 2011/12 ein Film über den Lebensweg der Autorin mit dem Titel „Ein Kind vom Alsergrund“. Weitere Informationen zur Person und zum Schaffen Traude Verans finden sich auf ihrer Internetseite unter: www.letternfilter.at.

Kindheit und Jugend Mein Berufswunsch stand bereits im Vorschulalter fest: Kinderärztin. Aber bei Kriegsende waren wir mittellose Flüchtlinge, ein Gymnasium gab es nur in der Landeshauptstadt; sein Besuch war überhaupt nicht denkbar, besonders für meine Mutter. Die verließ uns aber ein Jahr später, und das war nicht nur eine psychische Katastrophe, sondern auch großes Glück: Eine Tante übernahm ab der dritten Klasse meine Internatskosten, ich konnte maturieren. In der Schule waren alle überzeugt, ich würde Germanistik studieren – weil ich mich so gut ausdrücken konnte und zum Beispiel die lateinischen Dichter prinzipiell in Versen übersetzte, auch bei der Schularbeit. Ich wusste immer, dass ich nie Deutsch unterrichten würde. Aber mein erstes Gedicht schrieb ich mit elf. 88

Wem ist es zu verdanken, dass ich in meiner weiteren Ausbildung den richtigen Weg gegangen bin? Es klingt lächerlich: meinem Berufsberater. Dieser kam, für 1952 etwas unerhört Neues, an die Schule und testete uns kreuz und quer. Meine Ergebnisse haben ihn so beeindruckt, dass er das Interview über Stunden dehnte (und mir ein wenig später einen Heiratsantrag machte). Was wollte ich: Kinderheilkunde; und was war realistisch: dass ich bald Geld verdienen musste. Er schlug mir die zweijährige Fürsorgerinnenschule vor, nebenher könnte ich Psychologie inskribieren. Ich befolgte seine Ratschläge – bis auf den mit dem Ringlein, und ich tat gut daran. Die Fürsorgerinnenausbildung war damals gerade im Umbruch begriffen: Sie sollte aufgewertet werden. Wir waren der erste Jahrgang mit überwiegend Maturantinnen, das Niveau war in den meisten Fächern hoch und praxisbezogen. Ich habe in dieser Schule (die in etwa der späteren Akademie für Sozialarbeit entsprach) nicht nur viel Wissen erworben, sondern auch die Grundeinstellung meinem Beruf gegenüber: Menschen in ihren sozialen Beziehungen und Wechselwirkungen zu sehen; mit Beeinflussungsversuchen nicht nur an der Einzelperson anzusetzen, sondern an den gesellschaftlichen Bedingungen. Und: im Zweifelsfall immer auf der Seite der Schwächeren zu stehen. Die Ernüchterung kam im Sommer 1954 nach der Staatsprüfung: Arbeitsmöglichkeiten nur in der Provinz, Einstufung in D, das heißt, nicht einmal als Facharbeiterin. Ich entschloss mich zu studieren. Zwei Semester hatte ich ja schon inskribiert, wenn auch noch kaum Prüfungen abgelegt. Unterstützung erhielt ich nun keine mehr, auch kein Stipendium, weil mein Vater Kaufmann war und als nicht bedürftig galt. Dass er alles verzockte, stand auf einem anderen Blatt.

89

Studienjahre Medizin hätte ich nie studieren können, dort hatte man anwesend zu sein. Arbeiten konnte man daneben höchstens in der Nacht, aber das war für eine Frau damals noch kaum möglich (außer im Gastgewerbe, dem einzigen Berufszweig, aus dem ich bereits am zweiten Tag hinausflog, mangels Talent, ich servierte fast jeden Kaffee „mit Fußbad“). In der Psychologie jedoch gab es jede Menge berufstätige Studierende. Die Seminare waren auf wenige Tage zusammengedrängt, wichtige Veranstaltungen liefen abends. Sofort nach der Staatsprüfung im Juni 1954 trat ich ein Praktikum im psychologischen Labor der Universitätsklinik für Neurologie und Psychiatrie an (damals unter Prof. Hans Hoff) und blieb dort bis zum Ende des Wintersemesters hängen. Sie konnten mich gut brauchen, denn ich hatte schon Erfahrung im Testen; und ich sperrte Augen und Ohren auf, um so viel wie möglich über Psychiatrie zu lernen. Verdient habe ich dort kaum was, es war mehr oder weniger ein Taschengeld, das man mir zusteckte, aber meine Großmutter ließ mich gratis in ihrer Wohnung schlafen. Im der Freizeit übersetzte ich mit meinem damaligen Freund, einem Tschechen, die Kurzgeschichten von Jaroslav Hašek – wie ich denke, recht gut. Wir gingen damit zu mehreren Verlagen, unter anderem auch zu Zsolnay. Man warf uns mehr oder weniger hinaus, ohne überhaupt etwas zu lesen. Die einhellige Meinung: Für so einen Blödsinn gibt es bei uns keinen Markt. Man betrachtete die Tschechen damals als eine Art ang’soffene Wilde, die österreichische Literatur aber erstickte an ihrer Bedeutungsschwere. Wir waren unserer Zeit leider voraus! Ich verdiente mein Geld als: Deutschlehrerin für Ausländer, Stenografin bei Tagungen der Handelskammer, Vertragsbedienstete des Landwirtschaftsministeriums bei der Wald90

standsaufnahme, Übersetzerin, Modeschmuckvertreterin, Telefonistin. Ich schrieb alle meine Vorlesungen mit und verhökerte die Kopien. Ich paukte mit meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen auf die gefürchtete Statistikprüfung. Und ab und zu habe ich auch eine fremde Seminararbeit oder Dissertation, na sagen wir, unterstützt. Daneben half ich jahrelang meiner Tante und meinem Onkel, die im zehnten Bezirk ein Fischgeschäft besaßen, an Samstagen und vor Feiertagen aus. Außer ein paar Schillingen Verdienst durfte ich das Wochenende bei ihnen bleiben und mich anessen (die Tante war eine hervorragende Köchin). Manche meiner Tätigkeiten möchte ich hier (und später) ausführlicher beschreiben: 1. Fischgeschäft: Es war in einem gemauerten Kiosk in der Troststraße untergebracht, mit zwei großen Auslagen, einem kleineren Nebenraum und – Luxus! – einer Toilette. Zu Anfang war die Trostkaserne noch von Russen bewohnt, und meine Tante mit Muttersprache Slowenisch hat 1945 recht schnell gelernt, sich mit den Russinnen zu verständigen, zum beiderseitigen Vorteil. Das Geschäft ging sehr gut. Damals war Seefisch, vor allem Kabeljau, viel billiger als Fleisch und daher in diesem Arbeiterbezirk für die einfachen Leute die Speise der Wahl. (Ihr Sonntagsbraten stammte häufig von der Freibank auf dem Columbusplatz.) Wie oft reichte es sogar nur für 10 Deka* Kabeljau! Da warf mein Onkel gern noch ein Scherzel* ins Papier dazu. Für Festtage kaufte man Seelachs. Saure Gurken, Sauerkraut, Rollmöpse und Ähnliches kamen aus der eigenen Erzeugung eines anderen Onkels, bei dem wir im Sommer, wenn das Fischgeschäft flauer lief, mitwerkten. Wir traten das Sauerkraut noch mit den Füßen in die Fässer. Die großen Tage waren Heiliger Abend und Silvester. Da brachen wir schon vor 4 Uhr früh auf und kamen, nachdem 91

wir die Schlacht geschlagen und hinterher alles sauber gemacht hatten, kaum vor 6 Uhr abends nach Hause. Aus diesem Grund haben wir die entsprechenden Feiern immer um einen Tag verschoben. Es gab keine elektrische Kühlung. In großen betonierten Wannen lagen in Zentnern von zerkleinertem Eis die Fische und wurden vom Onkel vor der Kundschaft zerteilt. Obwohl ich damit nichts zu tun hatte (ich verkaufte Gurkerl usw.), hatte ich Frostbeulen an Händen und Füßen. Wir waren auch, trotz der großen gummierten Schürzen, immer nass. Der Onkel aber hatte stets warme Hände! Das Eis brachte ein Pferdefuhrwerk jeden Tag aus der Eisfabrik. Wenn abends geschlossen wurde, nahm die Tante in einem Netz etwa ein Viertel eines Blocks mit nach Hause in ihre Zimmer-Küche-Wohnung mit „alles außen“, um den Eiskasten damit zu befüllen. Irgendwann in der Mitte der Fünfzigerjahre eine sensationelle Anschaffung: eine Fritteuse. Ab nun gab es gebackenen Seefisch, der reißend Absatz fand. Offenbar war die Armut im Bezirk nicht mehr gar so groß. Bei der Arbeit waren wir nicht so begeistert vom Backen: Häufige Verbrennungen durch spritzendes Fett, das Heben des schweren, heißen Topfes, wenn das Fett gewechselt wurde, und der Geruch, der sich, wie wir glaubten, bis in die inneren Organe hineinzog. Die Kleinheit der Wohnung verstärkte das Problem Fischgeruch. Das Erste, wenn wir heimkamen, war: umziehen und alle „Fischsachen“ in einen Schrank stopfen, der sonst nichts enthielt und gut abgedichtet war. Was wir nicht entfernen konnten, war der Geruch in unseren Haaren. Samstag pilgerten wir gemeinsam ins Tröpferlbad. Ich hatte meist für nachher noch ein Treffen mit Freunden oder noch Privateres vor und rubbelte so lang unter der heißen Dusche an Haut und Haaren, bis mich die Badewaschlerin laut keifend aus der Kabine trieb. Mein Parfumverbrauch war in diesen Jahren enorm. 92

2. Waldstandsaufnahme. Im Palais Liechtenstein hatte das Landwirtschaftsministerium das ganze Dachgeschoß angemietet. Dort saßen Dutzende junger Frauen über Luftaufnahmen, legten Glasplatten mit Millimeterraster auf die Fotos und zählten tüpfelnd die Waldflächen aus. Das war trotz gutem Licht eine anstrengende Tätigkeit, die die Augen stark beanspruchte. Wir konnten kaum dazwischen Pause machen, denn wir wurden streng beaufsichtigt. Nach Dienstschluss – 48-Stunden-Woche, samstags bis Mittag – war mein Genick oft richtiggehend krumm. Ich war fünf Monate bis zum Ende des Projekts dort tätig, aber als ich eintrat, lief es schon eine Weile. Wie lang würde die automatische Erfassung wohl heute brauchen? 3. Telefonistin: Die Wiener Direktion der Glanzstoffwerke in der Zieglergasse war sowohl mit der St. Pöltner Fabrik als auch mit dem Mutterbetrieb in Holland in ständigem Kontakt. In unserem Raum, einem größeren Kabinett, standen zwei elektrische Schreibmaschinen, der Fernschreiber und die große Lichtpausmaschine, auf der Pläne bis zum Format A0 gepaust werden konnten. Auch der Abziehapparat und die Frankiermaschine für Poststücke fanden noch Platz. Es war heiß und laut: Hitze vor allem von den Lichtpausen, Lärm von überall, wobei sich der Fernschreiber hervortat. Wir arbeiteten dort zu zweit, beide Anfang zwanzig, und hatten alle Hände voll zu tun, denn wir mussten auch die meisten Briefe und Berichte der Direktion tippen. Tippfehler konnte man sich praktisch nicht leisten, denn jedes Schreiben hatte so viele Durchschläge wie möglich, und Ausbesserungen auf denen wirkten wirklich sehr unästhetisch. Für Rundschreiben mit noch mehr Adressaten hatten wir die Spirit-Karbon-irgendwas-Vervielfältigungsmaschine, die mit stinkendem Färbespiritus gefüllt und von Hand bekurbelt wurde. Wir spannten Wachsmatrizen ein, auf die wir 93

den Text ohne Farbband geschrieben hatten. Damit die Ringerln, wie bei a, d, o usw. nicht herausfielen und ein Loch hinterließen, war die Matrize hinten mit einem Stützgewebe versehen. Man konnte unterm Schreiben nicht viel sehen, weil ja keine dunkle Schrift, sondern nur die durchgedrückten Buchstaben da waren. Aber hinter dem Wachsblatt gab es ein zweites Blatt, quasi einen Durchschlag, auf dem man Korrektur lesen konnte. Hier war das Vertippen kein so großes Problem, denn mit einem zuckerlrosa Korrekturlack konnte man Fehler zudecken und drübertippen. Aber wehe, wenn man die Zeilenhöhe nicht genau erwischte! Bevor man vervielfältigen konnte, musste man auf Makulatur Probedrucke machen, ein großes Gepatze, wenn der Färbespiritus frisch war, oder aber anämische Blässe, wenn er zu Ende ging. Auch nach dem Vervielfältigen ging die Patzerei weiter: Alles musste gereinigt werden. Die Maschine spuckte auf sogenannter Saugpost, schlechtem Papier (weil es saugt), blauviolett bedruckte Bögen aus, die man meist nur bei gutem Licht lesen konnte. Im Lauf der Zeit nahm das Papier eine unappetitliche dunkelbeige Farbe an, die Schrift aber wurde blassrosa. Ja, und dann hatten wir noch die Post zu warten: Am Morgen im nahen Postamt die Einschreibbriefe abholen und das Postschließfach leeren, am späteren Nachmittag die Post maschinell frankieren (Drehkurbel!) und Einschreibbriefe am Schalter aufgeben. Trotz der vielen Arbeit habe ich schöne Erinnerungen an die Zeit: gutes und kameradschaftliches Arbeitsklima. Der Druck kam nicht von den Vorgesetzten, sondern er ergab sich aus den Aufgaben. So kam es auch, dass man in anderen Abteilungen aushalf, wenn es dort nottat.

94

Studium Mein Studium war natürlich daran schuld, dass ich beruflich beweglich bleiben musste. Ihm fiel auch der gute GlanzstoffJob zum Opfer, als mit dem Spätherbst die Intensivseminare kamen. Aber ich hatte inzwischen eine Frau kennengelernt, die mich wieder auf den Weg zurückführte, den ich ursprünglich als Sozialarbeiterin einzuschlagen begonnen hatte. Es war dies Dr. Maria Hunger-Kaindlstorfer, Psychologin beim Stadtschulrat und Legasthenie-Expertin. Sie nahm mich in ihre nachmittägliche Privatpraxis auf, zuerst als Praktikantin, bald aber als feste Mitarbeiterin mit Bezahlung. Heute könnte man sich so ein Ambiente kaum mehr vorstellen – es kämen keine Klienten. Maria Hunger lebte mit Mann und Sohn in einer Zweizmmerwohnung mit winzigen Nebenräumen. Mittags wurden die Betten hochgeklappt und ein Vorhang vorgezogen, fertig war die Praxis. Es gab auch kein kindgerechtes Mobiliar: Gearbeitet haben wir am Esstisch und am Couchtisch. Aber dafür war Maria unermüdlich und erfinderisch im Anfertigen von Material; es gab ja noch so gut wie nichts für Legastheniker-Übungen zu kaufen. Ihr größter Hit war das später so berühmt gewordene „Schau genau“. Eineinhalb Jahre arbeitete ich bei Maria Hunger, lernte alles, was man damals über Lernstörungen wusste und vor allem: lernte mich auf jedes Kind individuell einzustellen und zusammen mit der Familie zu überlegen, wie wir vorgehen könnten. Das war damals überhaupt nicht üblich. Die Päda­ gogik und leider auch die Psychologie arbeiteten gern mit Typen, weil das – no na – die Arbeit erleichterte: Das Sechsjährige, den Legastheniker gibt es nicht, lernte ich bei Maria. Die Bekanntschaft mit einigen führenden Vertreterinnen der Kinderpsychologie, die sie mir vermittelte, sollte mir später zugutekommen, als mir Charlotte Bühler* eine Übersetzung anbot. 95

Maria und ich waren in den letzten Monaten nicht so gut miteinander ausgekommen. Vermutlich hatten wir die Freundschaft vorher zu eng werden lassen, ich war schon fast ein Mitglied der Familie. Wir trennten uns. Ich wollte nicht mehr in den kaufmännischen Bereich zurückkehren und finanzierte meinen Unterhalt wieder durch allerhand Jobs an der Uni. Alle nötigen Einzelprüfungen waren abgelegt, und meine Dissertation machte gute Fortschritte. Da traf uns ein Unglück: Seit einigen Monaten lebte ich mit meinem Freund zusammen. Nun wurde er arbeitslos. Ich entschloss mich schweren Herzens, „schichteln“* zu gehen. Ich konnte in der jeweils schichtfreien Zeit an meiner Dissertation arbeiten, wozu ich unter anderem drei Monate lang an der Psychiatrischen Universitätsklinik und am Steinhof Interviews geführt habe. 4. Fließbandarbeit: Eine Woche 6 bis 14 Uhr, eine Woche 14 bis 22 Uhr verpackte ich am Fließband der Napoli-Fabrik im zehnten Bezirk Schnitten. In der Schicht von 22 bis 6 Uhr durften nur Männer arbeiten. Die Werkshalle wurde von einem u-förmigen Förderband durchzogen, das von der Zusammenführung von Teigblättern und Fülle bis zum fertig verpackten Schnittenpackerl in einem durchlief. Mein Platz war gegen Ende des Bandes, zu Beginn der Verpackung. Die Schnitten kamen aus dem Kühltunnel unter Drahtmesser, wurden längs und quer geschnitten. Die nächsten beiden Frauen sortierten den Bruch aus und richteten päckchengroße Rechtecke. Ich musste manchmal noch etwas an der Form ändern, aber eher selten. Ich schob die Päckchen in die Maschine, wo sie umhüllt und mit dem Aufreißfaden versehen wurden. Das war ein kritischer Moment und eine Schwachstelle der Maschine: Der Faden tat oft nicht, wie er sollte. Dann staute es sich bei mir, und die nach mir keiften: „Wo bleibt die War’?“ 96

Es war uns nicht erlaubt, die Maschine abzustellen. ich musste blitzschnell unter dem herabsausenden Messer durchgreifen und die Hüllfolie gerade ziehen. Natürlich gab es die Mär, dass hier schon einmal ein Mädchen eine Hand verloren habe, aber ich denke, das war eine Schauergeschichte. Schlimm genug, dass es hätte passieren können. Mehrmals kamen aus Jugoslawien riesige Kühllaster mit Blöcken tiefgefrorener Himbeeren für Himbeersaft. Die mussten schnell entladen werden, und alle, die gerade konnten, mussten mithelfen. Ich fürchtete diese Arbeit. Nicht nur waren die Blöcke trotz der ledernen Auflage, die die Schulter beim Tragen schützte, schwer und kantig, und die Finger froren trotz der Hitze. Der Geruch zog auch Myriaden von Wespen an. Mich hat nie eine gestochen, aber Angst hatte ich trotzdem. Wir durften vom Bruch essen, so viel wir wollten, doch die meisten Arbeiterinnen hatten schon längst genug, denn der Geruch war überall und begleitete uns in unser Privatleben, wie es der Fischgeruch getan hatte. Ich, noch nie eine Freundin süßer Sachen, brauchte in dieser Zeit viele Gurkerln. Wir konnten jeden Freitag billig einkaufen, in verschiedenen Qualitätsstufen und alle Produkte, die Casali/Napoli erzeugte. Das war wirklich günstig, besonders wenn man die Kiloware nahm. Die war auch frisch, aber stärker zerbröselt, schlecht gefüllt usw. Was mich am meisten störte, war die mangelnde Hygiene. Die Schnitten machten viel klebrigen Staub, der sich überall festsetzte. Oben wurde er weggeputzt, aber unten an den Maschinen hingen richtige Bärte. Einmal stellten wir das Band eine Viertelstunde früher ab und putzten unten. Da gab es eine riesige Schreierei, und wir wurden alle mit dem Rauswurf bedroht. Überhaupt war der Gesprächston fürchterlich: Der Vorarbeiter beaufsichtigte lauter Frauen und dachte wohl, er könne 97

uns nur mit Brüllen am Arbeiten halten. Die meisten meiner Kolleginnen störte das nicht weiter, sie hörten gar nicht hin. Ich allerdings war so einen Ton nicht gewöhnt und beschloss, zum frühestmöglichen Zeitpunkt wegzugehen. Das tat ich am Tag, nachdem mein Freund wieder Arbeit hatte. Zu kündigen brauchte ich nicht, bloß am Freitag zu sagen, dass ich am Montag nicht mehr komme. Keiner wollte wissen, warum. Unter uns Frauen war der Ton herzlich und humorvoll. Einige gab es, das waren die Kepplerinnen vom Dienst, ältere und verbitterte Frauen, aber denen nahm man nichts übel; man wusste, welche Not sie daheim hatten. Streitereien wurden laut und temperamentvoll ausgetragen, die Wortwahl war oft originell und nie kleinlich. Danach vertrugen wir uns wieder. Zuerst misstrauten mir die Kolleginnen. Ich hatte zwar nicht gesagt, dass ich Studentin war, aber der Vorarbeiter konnte seine zynischen Witzchen nicht lassen. Als sie jedoch erfuhren, dass ich mit einem Arbeitslosen zusammenlebte, ohne verheiratet zu sein, hatte ich ihr Vertrauen gewonnen. Am 1. September 1959 wurde mein Freund Institutsbibliothekar an der TU (damals Technische Hochschule). Nun kam für mich eine Zeit des reinen Glücks: Ich konnte mich auf mein Studium konzentrieren. Mein einziges Einkommen lief über die Nachmittagsbetreuung eines neunjährigen hochintelligenten Buben, den ich auf die Aufnahmeprüfung ins Theresianum* vorbereiten sollte. Da war nicht viel zu tun, er konnte ohnedies alles. Ich erlebte mit dem Kind so anregende und geistig anspruchsvolle Stunden wie selten in meinem Leben. Als ich später für meine Versicherungszeiten den Vater des Knaben um eine Bestätigung bat, gab er mir nur einen Wisch, der besagte, ich hätte seinem Sohn Nachhilfeunterricht erteilt. Er, der Anwalt, fürchtete offenbar, dass an meiner Beschäftigung irgendetwas Illegales war. Oder dachte er, ich würde mich mit finanziellen Forderungen an ihn wenden? 98

Abb. 13: Promotion an der Universität Wien (1960)

Privatleben contra Beruf Die Diss* war angenommen, die Rigorosen* abgelegt, die Promotion folgte. Und als Clou heirateten wir im Sommer 1960. Wir zogen aus meiner winzigen Substandardwohnung nach Mödling in das Haus von Huberts Großmutter. Hubert überredete mich, die Psychologie ad acta zu legen und mich einer kaufmännischen Laufbahn zu widmen. Von Mödling nach Wien zu kommen war damals nicht so einfach wie heute, es gab keine Schnellbahn. Außerdem wollten wir etwas beweglicher in finanziellen Dingen sein. 5. Büroarbeit: Also bewarb ich mich bei einem Mödlinger Emaillierwerk um die Stelle einer Büroleiterin und bekam sie. Dachte ich. Bald merkte ich, was man mir zugeschoben hatte: Die Büroleiterin war für mehrere Monate ausgefallen; ich habe nie in Erfahrung bringen können, weswegen – das war typisch für diese Firma. Ich saß an ihrem Schreibtisch, ohne die Laden öffnen oder gar verwenden zu dürfen, musste 99

Briefe nach Diktat schreiben oder irgendetwas addieren, von dem man mir nicht sagte, was es war. Telefonate durfte ich nur „umleiten“, also sagen, wann der Chef wieder zu sprechen war. Jede Frage meinerseits nach Produktionsvorgängen oder den Firmengrundsätzen wurde abgeschmettert: Davon verstünde ich nichts. Bald merkte der Prokurist, dass er sich selbst Arbeit machte, wenn er mich so behandelte. Er sagte dann nur mehr: „Schrei­ben S’ dem und dem das und das!“ Das blieb aber inoffiziell. Meine Wut war nach ein paar Wochen so groß, dass ich der Firma nur mehr schaden wollte. Hubert wusste die Lösung: Soeben wurde das Karenzjahr eingeführt. Im November konnte ich den Chefs strahlend meine Schwangerschaft verkünden. Von da an hatte ich natürlich keinerlei Aussicht mehr, irgendetwas von Belang zu erfahren oder tun zu dürfen, obwohl ich dem Besitzer anbot, nach den Mutterschutzwochen wieder zu kommen, wenn er mir die versprochene Position verschaffte. Nach Weihnachten tat ich etwas, worauf ich heute nicht stolz bin: Ich räumte den Schreibtisch meiner Vorgängerin aus und stellte alles in einem Karton auf den Schrank. Als sie zurückkam, ich war schon hochschwanger, gab es natürlich eine schreckliche Szene, aber mich tangierte das nicht mehr. Im Juli 1960 kam Hansi zur Welt. Nun war ich über ein Jahr lang Berufsmutter. Daneben schrieb ich an mehreren Manuskripten meines Gatten, die er zusammen mit seinem früheren Doktorvater verfasste. Das war ziemlich öd, denn der Professor hatte bei fast jedem Satz Sonderwünsche, die mein Mann, kaum hatte ich sie eingearbeitet, wieder zurückbeorderte. Wie einfach geht das doch heute! Ich tippte mühsam auf einer uralten mechanischen Schreibmaschine, fuhrwerkte mit Schere und Klebstoff und verlor manchmal völlig den Überblick. 100

Eine große Enttäuschung erlebte ich, als ein kleines Buch zum Gödel’schen Beweis erschien. Ich hatte es roh übersetzt, mein Mann hatte es ausgearbeitet und ich das Ganze drei oder vier Mal abgetippt. Leider schien im fertigen Werk mein Name nicht einmal in einer Fußnote auf. Auch hatte ich eine kleine Privatpraxis aufgemacht, betreute ein paar Legastheniker. Da einer davon stotterte, beschloss ich, mich mit Logopädie vertraut zu machen. Es gab damals keine offizielle Ausbildung, aber ich trieb mich ein Jahr lang an den HNO-Kliniken und in den Sprachambulanzen herum und erfuhr eine ganze Menge. Allerdings nicht, wie man Stotterer behandelt. Als ich mich für ein Zertifikat interessierte, wurde gerade ein neues Gesetz verabschiedet, das die Berufsbezeichnung „Logopäde/in“ nur Personen mit einer anerkannten Ausbildung zusprach. Die gab es nicht. Daraufhin ließ ich es sein, einiges hatte ich ja gelernt. Meine Schwiegermutter nahm an meinen „Lerntagen“ den kleinen Hansi zu sich und erwies sich als so kreative und phantasievolle Spielpartnerin, sodass er sie auch oft besuchte, als ich wieder zu Hause blieb. Im Herbst 1962 suchte die IBM-Forschungsabteilung eine Kraft mit sprachwissenschaftlichem Abschluss. Mein Spezialfach war Sprachpsychologie. Ich bekam die Stelle. Der Leiter der Wiener Forschungsgruppe, Heinz Zemanek*, war der Erbauer des berühmten Computers „Mailüfterl“, der dort noch herumstand. Damals geschahen bei IBM in Wien aufregende Dinge: Fortran* wurde entwickelt, die erste automatische Sprechmaschine gebaut. Bei der Evaluierung der Sprachqualität dieses Vocoders benötigten sie mich. Die Verständlichkeit war nicht besonders hoch – ein ernstes Problem, da die Maschine vor allem für die Ansage von Börsenkursen gedacht war. Zusammen mit zwei Ingenieuren und einer sehr kompetenten Sekretärin arbeitete ich acht Monate an diesem Projekt. Hinderlich dabei 101

Abb. 14: Die Autorin „im“ sogenannten Vocoder (1962)

war, dass uns eine statistisch recht fragwürdige Methode zur Überprüfung vorgeschrieben wurde. Die Ergebnisse ließen sich gegeneinander kaum abgrenzen. Ich fasste meine Bedenken denn auch in einer zusätzlichen Arbeit (zu den bestellten) zusammen und noch dazu in deutscher Sprache, was ein absoluter Eklat war. Aber ich wollte sowieso dort nicht mehr arbeiten. Das Projekt fraß viel zu viel von meiner Zeit auf, dazu kamen die ermüdenden Wegstrecken. Mein kleiner Sohn war die halbe Woche bei meiner Schwiegermutter, was den beiden zwar sehr gefiel, aber ich wollte doch auch etwas von ihm haben. War ich, wenig genug, daheim, hatte ich alle Hände voll zu tun mit Garten und Haus, und die Urgroßmutter wurde auch immer bedürftiger. Ich beschränkte mich also wieder fast nur auf meine Privatpraxis. Drei Monate lang interviewte ich im Auftrag der 102

WHO* Mütter von Kindern, die im Spital gewesen waren, um eventuelle Auswirkungen festzustellen. Da war ich schon mit dem zweiten Kind schwanger. Diese Tätigkeit brachte mir Erkenntnisse, die ich bei meinen eigenen Kindern später sehr gut brauchen konnte. Ich glaube, ich war eine der ersten Mütter in Österreich, die bei ihrem Kind im Krankenhaus blieben. Abb. 15: Mit den Kindern Hansi Daneben klimperte ich und Beate (1970) weiterhin die Manuskripte meines Mannes, pflegte die nun schon sehr hinfällige Urmi und sorgte für den großen Haushalt ohne technische Hilfen, als da sind: Kühlschrank, Spülmaschine, Waschmaschine, Auto. Im März 1965 kam Beate zur Welt. Sie war ein Sonntagskind. Am Samstag hatte ich noch einen meiner Legastheniker mit Aufgaben versorgt. In Wien öffnete das Institut für Höhere Studien seine Pforten. Wir lasen in der Zeitung von Postgraduierten-Stipendien, und ich bewarb mich. Zu meinem Erstinterview erschien ich mit dem Säugling im Arm, ich stillte sie noch. Hätten wir in Wien gewohnt, wäre das ein wundervolles Jahr geworden: zwei kleine Kinder fürs Herz und weltberühmte Lehrer für den Verstand! (Als besonders charismatisch erlebte ich Oskar Morgenstern und die beiden Bühlers, Karl und Charlotte.) Aber leider, leider: lange Wegzeiten, wenig koordinierte Stundenpläne, ich war viel zu viel von Mödling fort. Meiner Schwiegermutter wurde es auch zu viel; sie 103

musste nicht nur die beiden Kinder, sondern auch ihre Mutter betreuen, wenn ich in Wien war. Die letzten Monate habe ich mein Stipendium nicht mehr mit vollem Recht bezogen, trotzdem blieb am Semesterende von mir nur noch ein Schatten. Ich war zaundürr, reizbar und depressiv. Also wieder voll in Mödling. Glücklicherweise lief die Praxis ein wenig an, und ich erhielt zwei Buchübersetzungsaufträge vom Oldenbourg Verlag.

Arbeitsmigranten in Konstanz Huberts Habilitation* in Wien war abgeschmettert, sie passte nicht zur damals bestehenden ideologischen Ausrichtung der Philosophie in Wien. Dafür wurde ihm eine Assistentenstelle mit Habil-Möglichkeit an der neuen Uni Konstanz angeboten. Im Mai 1967 verließen wir Österreich. Für deutsche Verhältnisse kamen wir aus dem „feindlichen Ausland“. Wir mussten uns alle drei Monate auf der Ausländerbehörde zwecks Verlängerung unserer Aufenthaltserlaubnis nicht nur melden, sondern auch demütigen lassen. Es war uns verboten, eine freiberufliche Tätigkeit auszuüben. Ich erhielt zuerst überhaupt keine Arbeitserlaubnis, sondern man schickte uns die Fürsorge ins Haus, die den Verwahrlosungsgrad unserer Kinder feststellen sollte und ob jedes ein eigenes Bett hatte. Zum Glück konnte ich sie mit „Frau Kollegin“ anreden. Die Uni-Verwaltung sorgte schließlich dafür, dass mir großmütig gestattet wurde, dort zu arbeiten. Ich erhielt eine Ganztagsstelle als wissenschaftliche Angestellte im Fachbereich Erziehungswissenschaft. Das klingt ärger, als es ist. Ich musste meine Arbeit machen, wann und wo, interessierte keinen. Und ich war noch nie besonders langsam. Die Sache hatte aber zwei Pferdefüße: Die Uni stellte mich immer nur für drei Monate an und verlängerte dann um weitere drei Monate. Auf diese Art 104

drückten sie sich um die Lohnnebenkosten, aber ich konnte keine Pensionsmonate sammeln. Die zweite Schwierigkeit fällt ganz allein auf mich zurück – ich glitt, kaum war die Umfrage, bei der ich mitarbeitete, beendet, in eine Tätigkeit, die mir überhaupt nicht liegt. 6. Statistik: Ich sollte ein Programm entwerfen, mit dessen Hilfe die umfangreichen Daten der Umfrage maschinell ausgewertet werden konnten. Heute muss man nur wissen, was man wie berechnen will, dann lädt man sich so ein Programm herunter. Damals gab es nichts. Fortran war noch das beste Verfügbare. Niemand hatte einen Rechner, nicht einmal die Uni. Am Standort Konstanz gab es hingegen Telefunken Computer, wo auch die Universität Rechenzeit und – das ist wichtig – Mitarbeiter von Telefunken anmietete. Ich bildete ein Tandem mit einem Ingenieur namens Gunkel, mit dem wir uns später auch privat befreundeten. In der Zeit unserer Zusammenarbeit starb Gunkels elfjährige Tochter an Knochenkrebs, was uns natürlich alle schrecklich durcheinanderbrachte. Alles war so nervenzermürbend umständlich. Wir schrieben mit Bleistift auf Programmbögen, mussten jeden Schritt durchdenken, jeder kleinste logische Fehler führte zum größten Tohuwabohu. Dann wurden die Programme auf Lochstreifen übertragen. Dafür gab es Locherinnen, aber ich setzte mich lieber abends selbst an die Maschine. Endlich lief das Werkel, oft stundenlang, denn es gab ja auch Prioritäten, und wir mussten warten. Und wieder – nichts. Das Wort Error erschien mir schon im Traum. Es ging nichts weiter. Ich war immer öfter von zu Hause weg, hockte mit Gunkel bis Mitternacht beisammen. Dann: Probelauf, wieder nix. Zum Verzweifeln. Als wir endlich Licht am Ende des Tunnels sahen, erfuhren wir, dass soeben an einer anderen Universität ein Programm, das genau un105

seren Anforderungen entsprach, herausgekommen war. So muss ich sagen, dass mich die Uni eineinhalb Jahre lang ziemlich ohne Gegenleistung bezahlt hat. Ich darf mich also nicht beklagen. Charlotte Bühler schrieb mir, ob ich ihr letztes Werk, einen Sammelband, übersetzen wolle. Natürlich tat ich es. Ich arbeitete auch noch an einem kleineren (und erfolgreichen) Programm der Uni und konnte damit einen Beitrag zu Huberts Habilitationsschrift leisten: Ich programmierte ein Denkspiel, wieder in Fortran. Außerdem studierten wir beide Chinesisch. Wie wir dazu kamen? Die fortschrittlichen Kräfte an der Uni wollten natürlich Mao im Original lesen und drängten darauf, einen Lektor für Chinesisch zu verpflichten. Als der im Herbst erschien, war von den Lernbeflissenen keiner mehr aufzufinden. Der Rektor machte sich auf die Suche und fand – uns. Und noch ein paar andere. Das ist bei dem heutigen Betrieb überhaupt nicht mehr vorstellbar, aber damals war die Uni Konstanz noch im Aufbau, es gab kaum Studenten, jeder kannte jeden. Das geistige Klima war traumhaft: Hoffnung und Aufbruch. Hubert habilitierte glanzvoll und wurde bald darauf zum Professor ernannt. Er wollte nun nicht mehr, dass ich an der Uni arbeitete. Er brauchte viel Hilfe von mir und drängte auch auf die üblichen gesellschaftlichen Aktivitäten. Ich verlängerte also den Vertrag mit der Uni nicht mehr. Kurz darauf bot mir Prof. Brezinka vom Fachbereich Erziehungswissenschaft einen Lehrauftrag für Heilpädagogik an, und ich griff erfreut zu. Die Lehre war für mich eine wunderbare Zeit. Mit meinen Studentinnen und Studenten verstand ich mich gut, sie begriffen sofort meine Art zu denken, die immer mehr sozialpolitisch wurde. Und mein Bestehen auf praktischen Erfahrungen machte sie sicherer und gewandter 106

in ihrem angestrebten Beruf. Ich konnte mich zu Hause vorbereiten, war wieder viel mehr für die Familie da. Leider ging das nur drei Semester gut. Ich hatte einfach zu viel Zulauf. Natürlich ist Heilpädagogik etwas anderes als mathematische Logik, das wusste Hubert auch. Aber der Stachel, dass ich zwanzig Hörerinnen und Hörer hatte und er nur drei oder vier Männlein, saß tief. Er verlangte von mir aufzuhören. Vorgeblich, weil die Bezahlung so hundsschlecht war. Das war sie, aber wir nagten doch nicht am Hungertuch. In der Stadt Konstanz gab es ein „Heim für verwahrloste Mädchen“, dessen Leiterin in den Ruhestand trat. Sie hatte das Haus so geführt, wie man es in Büchern aus dem 19. Jahrhundert liest: Die Mädchen lernten Ziegen melken, aber nicht Schreibmaschine schreiben. Ihre „Bildung“ bereitete sie auf ein Leben als Hausgehilfin vor. Das wurden sie später nicht, sondern sie endeten, im besten Fall, als Gattin eines Alkoholikers. Die neue Heimleiterin kam aus Berlin und verlangte als Erstes eine Psychologin. Ich erfuhr gesprächsweise davon, wie empört das Kuratorium (lauter alte Damen) darauf reagiert hatte, und bewarb mich. Irmgard Menthe und ich verstanden uns auf Anhieb, auch unsere beiden Männer mochten einander. Ich erhielt eine Halbtagsstelle. Als erste Tat schlossen wir die einklassige Heimschule und brachten die Mädchen an öffentliche Schulen. Dann nahmen wir Kontakte mit den Herkunftsfamilien auf und sondierten, ob sich da was machen ließ. Gleichzeitig leisteten wir natürlich zusammen mit neuen Erzieherinnen intensive pädagogische und psychologische Arbeit. Nach etwas mehr als drei Jahren hatten wir es geschafft: Alle Mädchen waren entlassen, entweder in ihre oder in eine Pflegefamilie. Einige, die mit Sonderschule angefangen hatten, gingen nun in die Hauptschule. In zwei Fällen hatten wir nach der Entlassung Enttäuschungen erlebt, aber letztlich war 107

sogar eine von diesen beiden fähig, ihr Leben selbständig aufzubauen. Irmgard verließ Konstanz. Ich hatte Verbindung mit einem geistlichen Heim für Sozialwaisen, fuhr einmal im Monat für zwei Tage dorthin und betreute die Gemeinschaft – je nachdem, was gerade anfiel. Testen war ebenso drin wie einer Schwester zuhören, die am Ausbrennen war, oder den Kindern kreative Spiele und den Schwestern Stundenbilder zu „nicht fadem“ Lernen anbieten. Inzwischen hatte sogar ich, die verdächtige Ausländerin, die Erlaubnis, eine Privatpraxis zu eröffnen. Der Bürgermeister, mein Arbeitgeber im Heim, hatte mir dazu verholfen. Die Ingenieure bei Telefunken Computer waren meine Klientel: So viele legasthene Kinder wie bei Technikern findet man sonst kaum. Außerdem hat sich irgendwie in einer Stadt bei Hannover herumgesprochen, dass ich eine exzellente Studien- und Berufsberatung anzubieten hätte. Die ganze Hautevolee der Stadt schickte ihre Töchter (Söhne nicht!) vor dem Abitur zu mir. Ich hörte von einem sozialwissenschaftlichen Gymna­ sium in der Nähe, das Lehraufträge vergab. Auch dort nahm man mich. Wie auch an der Uni machte mich Unterrichten glücklich. Ich gab Psychologie bis zum Abitur sowie Erziehungslehre für Fachschulklassen. Die Abiturschule war ein berufliches Gymnasium, eine Art zweiter Bildungsweg, aber Vollzeit. Die Schüler/innen daher etwas älter, und sie wussten, was sie wollten. Die zukünftigen Erzieherinnen (kaum Burschen) der Fachschule waren liebe, gutwillige Ganserln. Über die Zeit dort könnte ich Seiten um Seiten schreiben. Leider erschien im Gefolge der Energiekrise 1973 am Horizont die Wirtschaftskrise. Telefunken Computer sperrte zu, alle Ingenieure und damit meine Legasthenikerbuben zogen weg. Und das Oberschulamt wies im Sommer 1975 die Schulen an, keine Ausländer mehr zu beschäftigen. Die Direkto108

rin wollte mich noch über das nächste Schuljahr schummeln, damit ich die Klasse zum Abitur führen könnte. Aber inzwischen hatten sich Hubert und ich getrennt, und ich musste schauen, dass ich mir eine sichere Existenz aufbaute. Als ich nach etwa fünfzig Bewerbungen endlich die Zusage des Landesschulrates für Burgenland in Händen hielt, falls ich kurzfristig als Schulpsychologin zur Verfügung stünde, griff ich zu, fuhr mit meinen Abiturientinnen und Abiturienten noch eine Woche nach Wien und überließ sie dann ihrem Schicksal. Einige von ihnen haben mich später besucht, mit einer Frau bin ich noch in loser Verbindung.

Burgenland Man hatte mir im Unterrichtsministerium in Wien die Wahl gelassen: Bregenzer Wald, Waldviertel oder Burgenland. Ich überlegte: Viel Autofahren ist ein Hauptmerkmal der Tätigkeit als Schulpsychologin. Sowohl im Bregenzer Wald als auch im Waldviertel sind die Winter lang. Also Burgenland. Und hier noch einmal die Entscheidung: Norden oder Süden? Ich hatte im Februar 1976 begonnen und nach wenigen Wochen wusste ich: Süden. Dort lagen die psychologischen Felder brach, und ich würde ziemlich allein sein. Außerdem gefiel mir die hügelige, waldige Landschaft. Obwohl ich für diese Position weit überqualifiziert war, gelang es mir, die folgenden dreizehn Jahre mit abwechslungsund spannungsreicher, befriedigender Tätigkeit zu füllen: Routine war ebenso gefragt wie Pionierarbeit, Lehre ebenso wie Therapie, Pädagogik ebenso wie Psychologie, soziales Miteinander ebenso wie einsames Schaffen, künstlerische Expression ebenso wie verständnisvolles Einfühlen. Nie vorher war ich so lange an einem Arbeitsplatz geblieben. Doch hatte sich dieser, als ich in Pension ging, unglaublich verändert, und mit ihm das ganze Team. Von der Notfall- über die Ein109

Abb. 16: Traude Veran bei Vobereitungen für eine Lesung im Kreuzstadl in Neumarkt an der Raab (1980)

zelfallhilfe gelangten wir zur Veränderung der Rahmenbedingungen im Schulwesen. Über diese Jahre könnte ich Seite um Seite füllen – nein, das habe ich schon getan: nachzulesen in meinem Buch „Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam in Schulen“, Innsbruck 1993. Meine Tochter Beate war elf, als wir ins Burgenland kamen. Sie, immer schon selbständig, hat mir bezüglich des täglichen Lebens kaum Sorgen gemacht. Im Gegenteil, bei all meiner drängenden Arbeit nahm ich bereitwillig hin, dass sie selbst für sich sorgen konnte. Ich habe sie nicht geistig überfordert, aber die gewisse Härte, die sie entwickelt hat, sowie ein geradezu manischer Lebens- und Genusswille sind sicher auf ihr zu frühes Erwachsenwerden zurückzuführen. 110

Wien Und wieder holte mich die Familie ein. Meine Mutter hatte uns im Burgenland gern besucht und war oft monatelang geblieben. ich musste ihretwegen eine größere Wohnung nehmen, und sie hat Beate und mir das Leben nicht leicht gemacht. Im Laufe der Achtzigerjahre wurde sie immer weniger belastbar, sie litt an Anämie. Die monatlichen Bluttransfusionen konnten nicht verhindern, dass in den Zwischenzeiten ihr Gehirn mangelhaft versorgt war. Sie wurde dement. 1988 war es schon so schlimm, dass sie ständige Betreuung brauchte. Ihre geistige Unberechenbarkeit paarte sich leider mit relativ guter körperlicher Verfassung, und sie konnte blitzschnell die schrecklichsten Dinge anstellen. Die vielen Personen, die wir zu engagieren versucht hatten, flüchteten alle nach kurzer Zeit. Sogar der Samariterdienst kündigte ihr das Notruftelefon wegen ständigen Missbrauchs. Beate hatte bereits ein Jahr ihres Studiums verloren, und ich war 1988 nahezu jeden Tag nach der Arbeit nach Wien gefahren, hin und zurück 220 Kilometer. Ich war in einem gesundheitlichen Zustand, der jeder Beschreibung spottet. Es ergab sich, dass eine junge Psychologin, Tochter eines Lokalpolitikers, eine Anstellung brauchte. Man war sehr erleichtert, als das sanfte Anfragen des Amtes, ob ich nicht vielleicht schon manchmal an die Pension denke, bei mir auf Begeisterung stieß, und verschönte mir den Abschied durch eine gewichtige Ehrenmedaille. Abgesehen von jeder Personalpolitik waren sie schon auch froh, mich loszuwerden, ich hatte ihnen ja immer wieder Arbeit gemacht. Einen ärztlichen Befund zu bekommen war kein Kunststück, ich konnte mich kaum mehr aufrecht halten. Mit 55 war ich Pensionistin. Ich ging nach Wien und fand sofort eine sehr hübsche Wohnung. Meine Mutter lebte noch eineinhalb Jahre. Als sie starb, war auch ich todkrank. Ein weiteres Jahr später hatte 111

ich mich wieder „derrappelt“ und ging daran, das wichtigste Projekt meines Berufslebens, das ich in Oberwart verwirklicht hatte, zu dokumentieren. Weil ich dabei nicht abgelenkt werden wollte, zog ich mich mit meiner Schnauzerhündin in die Einsamkeit des karpatischen Winters zurück und kam erst im Mai 1993 nach Wien zurück. Meine Wohnung hatte ich inzwischen vermietet gehabt.

Schreiben Und nun begann meine nächste Karriere. Ich war aller Fesseln ledig, hatte nur mehr einen Hund zu versorgen und begann nicht nur wieder zu schreiben, sondern auch alle Texte zu ordnen, die in den vielen Jahrzehnten angefallen waren. Ich lernte Renate Niedermaier (Petra Sela) kennen, eine vielseitig begabte Frau, die sich mit der Idee einer Verlagsgründung trug. So entstand die „Edition Doppelpunkt“, ein bis zur Jahrtausendwende recht bekannter und geschätzter Kleinverlag, in dem ich die meisten meiner Bücher veröffentlicht habe. Leider implizierte die Wertschätzung keine finanzielle Unterstützung, und schließlich hat Renate resigniert und sich ins Privatleben zurückgezogen. Ich habe zwar kaum bürokratische Verlagsarbeit gemacht, aber viel Autorenpflege, Lektorate, Öffentlichkeitsarbeit. Und ich habe viel Geld in den Verlag gesteckt. Wegen der beschränkten Mittel hat die Edition weder Werbung betrieben noch einen Vertrieb beschäftigt. Das war tödlich: Meine Bücher sind nicht verkauft worden, weil niemand von ihnen gewusst hat. Renate hat den Autoren empfohlen, selbst zu verkaufen. Aber ich, fremd in der Großstadt, hatte dazu kaum Gelegenheit. Trotzdem folgten Zeiten, die mir viel gaben. Ich trat mehreren literarischen Gruppen bei, die sich meist nach einigen Jahren wieder auflösten, aber bis dahin anregend auf mich 112

wirkten. Ich war Redakteurin zweier Zeitschriften, arbeitete an der Rechtschreibreform mit, versuchte mich in Collagen und Fotografie und legte mir 1997 das Pseudonym Traude Veran zu, das ich 2010 als bürgerlichen Namen eintragen ließ. Ich verbrachte weitere Monate in der Tschechischen Republik, wo ich das einzigartige Wohngefühl in der Art-décoGästewohnung des Krumauer Schiele-Museums genoss. Ich besuchte einige Semester lang Kurse der Schule für Dichtung in Wien und holte mir dort jede Menge Anregungen für neue Texte. Ich übersetzte Lyrik aus dem Tschechischen, Serbischen und Englischen und wurde ins Tschechische übersetzt. Texte von mir wurden vertont. Neben dem Goldenen Ehrenzeichen der Republik regnete es noch mehrere Förderungen und Preise, allerdings ist das alles schon länger her. Seit 2000 lebe ich in einem Pensionistenheim und kann mich nun ganz meinen künstlerischen Interessen widmen.

113

Der weite Weg zum Traumberuf Traute Molik-Riemer wurde am 14. Februar 1942 in Kiel, Schleswig-Holstein, als Tochter der Schneiderin Erna Winkelholz geboren. Ihr leiblicher Vater war ein Maat der deutschen Kriegsmarine, der 1946 in Kriegsgefangenschaft verstarb. Durch die Beschäftigung in einem kriegswichtigen Betrieb, der Firma Electroacustik (ELAC) in Kiel, lernte ihre Mutter in den frühen 1940er Jahren den Wiener Anton Molik kennen, der zeitweilig im selben Unternehmen als Mechaniker eingesetzt war. Die beiden heirateten im März 1945, ein gemeinsames Familienleben in Österreich konnte jedoch aufgrund von Staatsbürgerschaftsproblemen erst im Juli 1947 begründet werden. Die Autorin wuchs somit ab ihrem sechsten Lebensjahr in Strasshof nahe Wien auf, in einfachen Verhältnissen, die sie im folgenden Beitrag sehr eindrücklich beschreibt. Nach der Pflichtschule besuchte sie eine einjährige Handelsschule in Wien und nahm eine Stelle in einer Anwaltskanzlei in der Wiener Innenstadt an. Daneben bemühte sie sich, ihr zeichnerisches Talent in Volkshochschulkursen weiterzuentwickeln, entschloss sich, in einer Abendschule für Berufstätige die Reifeprüfung nachzuholen,­und fand Aufnahme in einer Klasse für Bildhauerei an der Akademie für Angewandte Kunst. In dieser Zeit, Anfang der 1960er Jahre, lernte sie auch ihren Mann kennen, heiratete und wurde mit 21 Jahren Mutter eines Sohnes. Neben ihrem ersten beruflichen Standbein als Sekretärin und ihren Aufgaben als Hausfrau und Mutter strebte Traute Molik-Riemer einen Beruf mit kreativen persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten an. Als sich ihr die Gelegenheit für einen Zuverdienst als Man115

nequin bot, nützte sie diese Chance, knüpfte in diesem Berufsfeld viele Kontakte und bekam hier auch ihre ersten Aufträge für grafische Arbeiten. Ab 1970 war sie als freischaffende Grafikerin und Illustratorin vor allem in der Werbebranche tätig. Seit dem Ende ihrer aktiven Berufslaufbahn Mitte der 1990er Jahre widmet sie sich verstärkt dem künstlerischen Schaffen mit den Schwerpunkten Druckgrafik und Malerei. Ein zweites Betätigungsfeld schuf sich Traute Molik-Riemer als Initiatorin des österreichischen „Tagebuchtages“. Seit 2006 motiviert sie Kultur- und Bildungseinrichtungen alljährlich, im zeitlichen Umfeld dieses Tages, jeweils Mitte der zweiten Novemberwoche, entsprechende Veranstaltungen durchzuführen. Als regelmäßige Tagebuchschreiberin von Jugendzeit an sieht sie die Erfahrung der alltäglichen Selbstreflexion durch Schreiben als eine persönlich bereichernde wie auch gesellschaftlich wertvolle kulturelle Leistung, die sie mit diesem Projekt anderen Menschen zugänglich machen möchte. Der folgende Beitrag der Autorin setzt sich aus drei verschiedenen Texten zusammen. Ein nach einem Schreibaufruf zum Thema „Wandel der Arbeitswelten“ im Jahr 2009 abgefasster Text, in dem vor allem Veränderungen im Bereich der Hausarbeit behandelt werden, wird unterbrochen durch zwei Texte, die erst 2012, ebenfalls auf thematische Anregung hin, entstanden sind. Zum einen schrieb die Autorin für das Bezirksmuseum des 15. Wiener Gemeindebezirks ihre persönlichen Erfahrungen in der dort gelegenen tradi­ tionsreichen „Arbeitermittelschule“ nieder, zum anderen brachte sie speziell für diesen Editionsband und in Ergänzung ihrer Darstellungen zur Hausarbeit noch Erinnerungen an ihre Erwerbstätigkeit im Lebensverlauf zu Papier.

Eine Kindheit am Rande des Wirtschaftswunders Ich war zehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal ernsthaft mit dem Haushalt konfrontiert wurde. Meine Mutter reiste im Sommer 1952 für sechs Wochen in ihre alte Heimat, und ich 116

sollte während dieser Zeit für meinen Vater kochen und den Haushalt führen. In einem Schulaufsatz beschrieb ich am Beginn des neuen Schuljahres meine Erlebnisse. Der Aufsatz hieß „Wie ich Fleischlaberln gemacht habe“. Ich schrieb über meine Schwierigkeiten beim Brotschneiden – meine Mutter hatte mir bis dahin verboten, ein Messer anzugreifen – und über meine Kochkünste, wobei mir unter anderem folgendes Missgeschick passierte: Mutti verwendete für das Rizinusöl eine alte Speiseölflasche, die ganz hinten im Lebensmittelkasten stand. Sie war nicht entsprechend beschriftet. Als mir das Öl ausging, suchte ich nach Vorräten, fand diese Flasche und mischte das Rizinusöl in den Gurkensalat. Mein Vater aß ihn widerspruchslos, obwohl ihm der Geschmack etwas seltsam vorkam. Wir stritten uns dann beide um den Vortritt auf einem gewissen Örtchen. Um nach dem Rechten zu sehen, kam zwei Wochen nach Mutters Abreise meine Oma väterlicherseits aus Essling zu uns nach Strasshof auf Besuch. Ich machte Ordnung, indem ich das Chaos, das sich inzwischen in unserem Wohnschlafzimmer angesammelt hatte, kurzerhand unter mein Bett schob und die geblümte Überdecke mit dem Volant tiefer zog. Die Oma Philomena war aus Böhmen zugewandert, wo sie „in Dienst“ gewesen war. Sie wusste, wie ein ordentlicher Haushalt auszusehen hatte, ging geradewegs auf mein Bett zu, hob die Decke an und sagte entrüstet: „Do is de ganze Glumpert*!“ Derart beschämt, mied ich nach Möglichkeit jede Hilfe im Haushalt und konzentrierte mich auf mein Dasein als gute Schülerin, bis meine Mutter zwei Jahre später – ich war inzwischen zwölf – wieder darauf bestand, sechs Wochen in Kiel bei ihrer Schwester zu verbringen. Für mich war es ein Abenteuer, den ganzen Tag allein im Hause zu sein, denn mein ­Vater ging um 6 Uhr früh aus dem Haus und kam erst um 19 Uhr hungrig heim. 117

Diesmal musste ich nicht nur das Haus möglichst sauber halten und gegen Abend das Essen kochen, sondern auch eine Brut Hühner und Enten aufziehen. Die Hühner überlebten das Experiment, die kleinen Entlein leider nicht. Sie fielen meinem Interesse an dem Wälzer „Vom Winde verweht“ zum Opfer. Ich saß lesend im Garten und vergaß zu oft, die Enten zu füttern. Sie waren noch zu klein, um sich selbst mit Futter, das sie im Garten fanden, genügend zu ernähren. Nicht nur dieses Erlebnis vertiefte in mir die Einsicht, dass ich völlig ungeeignet sei, einen Haushalt zu führen, einstmals Kinder aufzuziehen und einen Mann zu finden, der sich all dies bieten ließe. Hingegen meinte ich immerhin, theoretisch so viel vom Haushalt zu verstehen, dass ich begann, meine Mutter eingehend zu beobachten und zu kritisieren: „Du müsstest weniger abwaschen, wenn du nicht so viel Geschirr anpatzen würdest beim Kochen“, riet ich ihr schon mit zehn Jahren. Meine Mutter war 1905 in Norddeutschland geboren worden, als mittleres von drei Mädchen. Sie lebte bis zu ihrem 33. oder 34. Lebensjahr zusammen mit ihrer älteren Schwester im Haushalt ihrer Mutter (bis diese starb). Meine Großmutter war nicht berufstätig, soll aber eine hervorragende Hausfrau gewesen sein. Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einem Nebenraum und einer Küche. Mein Großvater verdiente nicht viel, also mussten meine Mutter und ihre ältere Schwester mit ihrem Verdienst zum Haushalt beitragen. Die ältere und die jüngste Schwester hatte man in eine Handelsschule geschickt, meine Mutter wurde überredet, Schneiderin zu lernen, denn eine Tochter der Familie musste damals immer Schneiderin werden, um für die ganze Familie nähen zu können. Meine Mutter besuchte außerdem kurze Zeit eine Haushaltsschule. Nach der Gesellenprüfung arbeitete sie in einem Kieler Modesalon, bis dieser 1938 arisiert wurde. Dann ging sie für ein halbes Jahr als sogenannte „Haustochter“ nach Dresden. 118

Abb. 17: Die Autorin mit ihrer Mutter (1947)

Als der Krieg ausbrach, nahm sie einen Posten im Lohnverrechnungsbüro eines großen Rüstungsbetriebs in Kiel an. Mein richtiger Vater kam im Krieg um; danach heiratete sie einen Österreicher und zog im Sommer 1947 mit mir zu ihm nach Strasshof bei Wien. An städtische Verhältnisse (Strom, Gas, Toilette und Waschgelegenheit in der Wohnung) gewöhnt, war das Haus meines Stiefvaters in Strasshof ein Schock für meine Mutter: Es bestand aus einem etwa 25 Quadratmeter großen Zimmer, einer etwa 9 Quadratmeter großen Küche und einem schmalen Gang. Im Garten standen eine Wasserpumpe und ein paar Meter dahinter ein Plumpsklo. Geheizt wurde mit dem Herd in der Küche. Das Licht flackerte aus einer einzigen Petroleumlampe, die man von der Küche ins Zimmer trug, wenn man schlafen ging. In der Nacht fiel es uns natürlich nicht ein, auf den Hof zum Plumpsklo zu wandern. Man musste also im Mondlicht auf den „Scherm“* finden, der vor der Schlafzimmertür stand und allmorgendlich ausgeleert wurde. 119

Die Möbel hatten die kurzzeitig einquartierten Russen schon im Winter 1945/46 verheizt. Auf dem Zimmerboden lagen zwei Matratzen, als wir nach wochenlanger Fahrt, teilweise im Viehwaggon, endlich in Strasshof ankamen. Am nächsten Morgen bat meine Mutter weinend, Vater möge die Matratzen verbrennen, weil sie in ihrer ersten Nacht von zahlreichen Wanzen zerstochen worden war. Wir schliefen fortan auf Strohsäcken, bis Mutters Matratzen, ein ovaler Wohnzimmertisch und ein zerlegter Kasten sowie ihre „Aussteuer“ an Tisch- und Bettwäsche und eine Singer-Nähmaschine etwa zwei Monate später per Bahnfracht in Strasshof eintrafen. Mein Vater baute inzwischen einen Doppelbettrahmen aus alten Eisenrohren, die damals auch eine Kostbarkeit darstellten. Wir schliefen zu dritt in diesem Bett, bis ein eisernes Bettgestell aus Kiel für mich eintraf. Der Fußboden unseres einzigen Zimmers bestand aus gehobelten Holzbrettern mit breiten Fugen dazwischen, in denen sich der Staub sammelte und auch durch mehrmaliges Kehren oder Aufwischen nicht herausging. Bei jedem Schritt stiegen winzige Staubwolken aus den Ritzen, die man bei schräg einfallendem Sonnenlicht sah. Ansonsten gab es nicht viel Staub, denn unser Haus stand neben mehreren unbebauten Grundstücken, die mit hohem Gras bedeckt waren. Die „Straße“ vor dem Haus war eine Wiese mit einem schmalen Gehweg, der sich durch das Gras fraß. Bezeichnenderweise hieß dieser Weg „Feldgasse“. Wir hatten nur links von uns direkte Nachbarn; auf dem Grundstück der Familie gab es einen Taubenschlag und einen Ziehbrunnen. Zwei andere Familien wohnten in der nahen Dürergasse. Es gab wohl Lebensmittelgeschäfte in Strasshof, die aber aufgrund der weiten Ausdehnung des Ortes über rund sieben Kilometer für uns zum Teil schwer erreichbar waren. Der nur etwa einen Kilometer entfernte Greißler Bates war das nächste, aber sehr kleine Geschäft. Da wir keinen Eisschrank 120

besaßen, ging meine Mutter praktisch an jedem Wochentag einkaufen und verwendete zusätzlich das von meinem Vater im Garten angebaute Gemüse. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Einkaufen, Gemüseputzen und Kochen. Am Nachmittag nähte sie oft oder stopfte Socken. Am Abend kochte sie für meinen Vater nochmals oder sie wärmte unser Essen vom Mittag auf. Sie hatte praktisch immer im Haushalt zu tun. Lesen sah ich sie nur selten. Wenn sie mit der Hausarbeit fertig war, setzte sie sich in den Garten und ruhte aus. Hinter unserem Haus stand ein großer Weichselbaum, dessen Früchte eingekocht wurden. Die Gläser bekamen wir von der Oma aus Essling. Da sie keine Deckel und Gummidichtungen besaßen, legte meine Mutter Cellophanpapier* darüber, das mit einem festen Gummiband um den Rand gespannt wurde. Vor dem Verschließen streute man eine Prise Salicyl* über das Einmachgut, um es haltbar zu machen. War der Verschluss nicht dicht genug, begann es dennoch zu schimmeln. Meine Mutter fischte den Schimmel herunter und kochte den Inhalt dann mit Maismehl zu dickem Kompott, den sie zu Vanillepudding servierte oder zu Pfannkuchen. Einfach wegwerfen konnte man solche Kostbarkeiten damals nicht. Die österreichischen Ausdrücke „Palatschinken“ und „Schlagobers“ lernte sie bald, aber Schlagobers gab es noch lange nicht für uns. Im Sommer wanderten wir in die den Ort umgebenden Föhrenwälder und pflückten Hollerbeeren*, die Mutter einkochte, um im Winter aus dem Saft „Fliederbeersuppe“ zu kochen, die sie mit Maismehl eindickte. Dazu gab es Brand­ teignockerln. Vom Abrebeln der Beeren färbten sich die rauen Hände der Mutter schwarz, denn es gab keine Gummihandschuhe, oder sie konnte sich diese nicht leisten. Aus diesem Grund durfte ich nicht beim Abrebeln der „Fliederbeeren“, wie meine Mutter sie nannte, helfen. Hinter dem Haus baute mein Vater Kukuruz* an, links und rechts des Weges, der den Grund durchschnitt und mit 121

Weinstöcken gesäumt war. Der Kukuruz wurde im Herbst von den Blättern befreit, die ich zu Zöpfen flocht und aus denen Mutter Schuhsohlen für Patschen nähte. Die Kerne schrotete mein Vater in einer Handmühle. Im Winter kochte meine Mutter daraus Polenta; dazu gab es Apfel- oder Weichselkompott. Mein Vater mochte das süße Essen, das meine Mutter bevorzugte, nicht besonders. Er liebte Schweinebauch, denn nur von fettem Fleisch wurde er richtig satt, wenn er am Abend von der schweren Arbeit beim Straßenbau heimkam. Meine Mutter briet das fette Fleisch an, goss es dann auf und dünstete es in einer schwarzen Eisenpfanne stundenlang weich. Sie ließ in dieser Pfanne auch Speck aus, um Grammelschmalz zu erzeugen, das wir als Brotaufstrich verwendeten. Ein Rest Schmalz blieb immer in der Pfanne für den nächsten Gebrauch. Manchmal fanden wir in der Früh die Spur einer Maus in dem Schmalzfilm, und meine Mutter seufzte über das schreckliche „Getier“, das ihr den Appetit verdarb. Mäuse waren im Herbst überall im Haus, aber keine Ratten. Vater stopfte die Mauslöcher im Fußboden oder in den Mauerecken mit Glasscherben zu und schmierte dann Mörtel darüber. Aber die Mäuse fanden immer wieder einen Weg. Meine Mutter lernte – trotz ihres Ekels –, die Mäuse mit ihren Holzpantoffeln zu erschlagen. Hatte sie eines dieser grauen Untiere niedergestreckt, war sie richtig stolz. Was sie nie lernte: wie ihre Schwiegermutter Philomena ein Kaninchen mit der Latte zu erschlagen oder einem Huhn den Hals umzudrehen. Diese „Morde“ musste mein Vater übernehmen, um uns einen der damals raren Sonntagsbraten zu ermöglichen. Ein etwas kränkliches Kaninchen zogen wir ein halbes Jahr in der Küche auf, sodass es zum geliebten Haustier wurde. Es hoppelte im Haus frei herum und lebte von pflanzlichen Küchenabfällen. Als ihm die Stunde schlug, weinte ich und wollte nichts essen. 122

Schon ab 1949 begann mein Vater das Haus zu erweitern. Er baute drei rechteckige Formen aus Holz, mit denen man Hohlsteine aus Beton gießen konnte. Jeden zweiten Sommerabend durfte ich helfen, Sand und Zement mit Wasser zu mischen und in die Formen zu gießen. Sie trockneten dann einen Tag in den Formen, bis man sie ausschalen konnte, und weitere ein oder zwei Wochen, bis er sie vermauerte. Er mauerte diese Steine um das alte Haus herum. Gleichzeitig wurde das Haus um zwei Räume erweitert, in die wir umzogen, sobald das Dach darüber lag. Dann riss Vater die dünnen inneren Mauern im alten Teil des Hauses ab und verputzte die neuen Mauern. So lebten wir zwar ein Jahr auf einer Baustelle, hatten aber immer ein Dach über dem Kopf. Man kann sich vorstellen, dass es für meine Mutter nicht leicht war, unter diesen Umständen ihren Haushalt aufrechtzuerhalten. Jeden Topf musste man vor Gebrauch entstauben, jedes Lebensmittel gut verpacken. Einen Winter lang verwendeten wir im neuen Teil des Hauses einen Raum als Küche. Weiß ausgemalt, mit einer Gummiwalze ein blaues Muster aufgebracht, sah die neue Küche für uns wie ein Wunder aus. Leider erwies sich der nach Norden gerichtete Raum im Winter als zu kalt und nicht beheizbar. Es bildeten sich in der Nacht Eisblumen an den Wänden, und meine Mutter fror tagsüber, selbst wenn sie den Küchenherd durchgehend heizte. Im Zimmer wurde ja nur am Sonntag in einem kleinen, runden Koksofen eingeheizt. Wir nahmen Wärmeflaschen oder heiße Ziegelsteine mit ins Bett. Mutter und ich trugen Strickhauben beim Schlafen. Jedes Stück Holz, jedes Stück Kohle musste von Vater verdient oder gesammelt werden, wir mussten also sorgfältig damit umgehen. Das gesammelte Brennmaterial war schlecht, denn Föhrenholz, das mein Vater und ich in den Wäldern rund um den Ort sammelten, brannte nicht gut und knatterte sehr beim Brennen. 123

Das Wasser wurde von der im Hof stehenden Handpumpe geholt. Im Winter fror die Pumpe regelmäßig ein, trotz Umhüllung mit einem alten Militärmantel und diversem Wollzeug. Meine Mutter musste noch bis Anfang der Fünfzigerjahre um 5 Uhr früh mit einem Topf voll heißem Wasser in den verschneiten Hof gehen und die Pumpe auftauen. Erst dann gab es Wasser zum Waschen und zum Frühstückkochen. Um 6 Uhr machte sich mein Vater auf den Weg in die Arbeit. Mein Vater baute ungefähr 1954 an das eigentliche, inzwischen aus vier Räumen bestehende Haus einen weiteren Schuppen mit flachem Dach an. Die „kalte“ Küche wurde zu einer mit Holzplatten verkleideten Bauernstube umgebaut, der angrenzende Raum blieb leer und bekam eine Tür, die in den Teil des Schuppens führte, der schon vor dem Umbau als Stall für Kaninchen und Hühner gedient hatte. Dort entstanden ein Badezimmer und ein Nähraum. Im Badezimmer befanden sich die neue Toilette (mit Abfluss in eine Senkgrube), eine richtige Badewanne und ein mit Koks beheizbarer Badeofen. Die Fliesen waren graugrün aus einer Art Gummi, der sehr leicht brach. Im Nähraum standen die alte SingerNähmaschine meiner Mutter und ein Jugendstiltisch mit Laden von meiner Großmutter aus Kiel. Unterhalb der Nähstube befand sich ein kleiner Keller, in dem Erdäpfel und Eingekochtes gelagert wurden. Die Kellerstiege diente ebenfalls als „Kühlschrank“. An diesen Teil grenzte der neu errichtete Schuppen mit Waschküche und Werkstatt. In der Waschküche baute mein Vater einen großen, verzinkten Kessel in einen Betonrahmen ein. Darunter befand sich eine Feuerstelle, sodass man in dem Kessel die Wäsche kochen konnte. Der Raum war etwa drei mal drei Meter groß. Neben dem Kessel befand sich ein Gestell, auf dem ein Waschtrog stand. Gegenüber betonierte mein Vater eine Wanne zum Spülen der Wäsche. Das Wasser 124

kam bereits aus einer elektrischen Pumpe und wurde direkt in der Waschküche entnommen. Das Abwasser rann durch ein Rohr in die Senkgrube, die auch die Abwässer der neuen Toilette aufnahm und einmal im Jahr ausgeschöpft wurde – bei Regen in den Garten. (Auf der rechten Grundseite gab es keine Nachbarn, die sich über den Gestank hätten beschweren können.) Alle zwei bis drei Wochen geriet meine Mutter in Panik, Abb. 18: Familie Molik vor ­ihrem Haus in Strasshof denn da machte sie „große (um 1954) Wäsche“. In der Waschküche büßte sie, wie sie sagte, ihre Sünden ab. Sie stand zwei Tage schweißgebadet über der Rumpel und wusch ihre schweren Leinen-Leintücher, die Bettwäsche, die Arbeitskleidung meines Vaters und unsere Kochwäsche. Nach einem Waschtag waren ihre Hände aufgequollen, rau und rissig, aber wunderbar sauber. Sie behandelte sie dann mit Wasser, in dem sie Zitronenschale mehrere Tage eingeweicht hatte. Das machte die Haut wieder glatt. Im Sommer wurde die Wäsche im Garten aufgehängt und trocknete schnell. Im Winter hingen die kleineren Stücke in der Küche. Die Leintücher und das Bettzeug baumelten steif gefroren draußen auf der Wäscheleine und hatten sich nach einigen Tagen „ausgefroren“, waren also bügelfeucht. Es gab in Strasshof keine Putzerei, sodass meine Mutter auch Mäntel und andere schwere Wollsachen selbst wusch. Sie weichte sie einen Tag lang in besondere, rötliche Holzspä125

ne ein, ich glaube, es waren Buchenspäne. Das hatte sie in der Hauswirtschaftsschule gelernt, die sie noch in Kiel besucht hatte. Gebügelt wurde auf einem hölzernen Bügelbrett und einem hölzernen Ärmelholz, die mein Vater gebastelt hatte. Da wir bis 1952 keinen Strom hatten, benutzte meine Mutter vor dieser Zeit eines der damals noch üblichen Kohlebügel­ eisen für die großen Stücke und ein kleineres sogenanntes „Stageleisen“ für die feinen Sachen. Dies war ein Bügeleisen, das einen herausnehmbaren Eisenkern besaß, den man im Herd fast glühend machte. Dann schob man den Kern wieder in das hohle Bügeleisen und konnte bügeln, solange der Kern heiß blieb. Mein Vater arbeitete im Sommer meist beim Straßenbau, obwohl er Mechaniker gelernt hatte und diese schwere Arbeit nicht gewohnt war. Im Spätherbst fuhr er mit dem Rad in die Zuckerfabrik nach Leopoldsdorf und machte dort Nachtdienst. Dann waren Mutter und ich allein im Haus und fürchteten uns, denn Strasshof war kein sicherer Ort. Die Häuser lagen weit auseinander. Bis zum Sommer 1955 waren Russen in Strasshof stationiert, die trotz strenger Strafen ihrer Kommandantur in besoffenem Zustand zu Übergriffen neigten. Nach Abzug der Russen gab es noch immer genug Leute, die durch die Not gezwungen waren, sich illegal zu versorgen. Im Ortszentrum, auf dem Bahnhofsplatz, befand sich das „große“ Geschäft der Familie Kramer. Meine Mutter gewöhnte sich bald an, „in die Stadt“ zu gehen, um dort einzukaufen. (Nach einem bösen Sturz in ihrer Jugend bestieg sie nie wieder ein Fahrrad.) Etwas näher gab es an der Hauptstraße auch noch das winzige Geschäft der Familie Sefranek. Unsere Greißler lagerten ihre Lebensmittel so wie wir im Keller und verkauften den Käse manchmal mit Maden darin. Der Kramer bekam wahrscheinlich Eis mit der Bahn geliefert und hatte einen Kühlschrank, aber auch entsprechenden Zulauf, sodass man lange warten musste. Zusammen mit dem Fuß126

weg von zweimal vierzig Minuten brauchte meine Mutter also rund zwei Stunden zum Einkaufen. Aber sie liebte diese Einkaufstouren bis ins hohe Alter, weil sie aus der Einsamkeit herauskam und sich so fit hielt. 1950 gelang es meiner Mutter erstmals, eine Bewilligung zu erhalten, nach Kiel zu fahren. Ich war erst acht Jahre alt, und sie nahm mich auf diese weite Reise mit. Wir lebten dort sechs Wochen bei meiner Tante und meiner Cousine im – für mich – unvorstellbaren Luxus einer richtigen Wohnung. Meine Mutter war aber sehr bemüht, auch in Strasshof einen gewissen Standard zu halten. So breitete sie in die Kastenfächer weiße Tücher mit Borten. In roter Baumwolle gestickt konnte man da an den Fächern von oben nach unten lesen: „Getrocknet im Sommerwinde“ – „gebleicht auf grüner Au“ – „so liegt es jetzt im Spinde“ – „zum Stolz der jungen Frau“. Diese Tücher gehörten zu ihrer Aussteuer, die sie als junge Schneidergesellin einst zusammengestellt hatte, nicht ahnend, dass sie erst mit vierzig heiraten und anschließend nach „Sibirien“ – wie sie Strasshof nannte – ziehen würde. Es gab natürlich auch kein öffentliches Bad in Strasshof. Jeden Samstag stellte meine Mutter einen großen verzinkten Zehn-Liter-Topf auf den Herd und wärmte für uns alle Wasser. Wir besaßen ein riesiges, dunkelrot emailliertes Lavoir*, das auf einen Küchenstuhl gestellt wurde. Ich durfte mich in dem Lavoir zuerst ganz waschen und bekam dann frische Unterwäsche. Danach musste ich in unser einziges Zimmer gehen und Aufgaben machen, während sich meine Mutter wusch, vermutlich mit meinem Badewasser. Zuletzt wusch sich mein Vater mit Hirschseife und frischem Wasser. Nach dieser Prozedur fühlten wir uns alle wieder sauber und wohl. Meine Mutter schminkte sich nie. Sie war naturschön, hatte aber damals mit 45 schon fast weißes Haar, das sie mit Seifenflocken wusch (eigentlich ein Mittel zum Waschen feiner Wäsche). 127

Im Jahre 1951 wurde endlich in unserem Teil von Strasshof das elektrische Licht eingeleitet. Mein Vater konnte die Einleitungsgebühren nicht bezahlen und arbeitete sie ab, indem er die Löcher für die Lichtmasten in unserer Gasse grub. Ich war damals neun Jahre alt und brachte ihm in der Milchkanne Suppe an die Gruben. Danach, von 1952 bis 1953, arbeitete mein Vater bei der USIA* im Bereich der heutigen OMV*. Es war ein Freudenfest, als wir 1952 erstmals Weihnachten ohne Petroleumlampen feiern konnten. Meine Mutter mochte sehr gerne Grog, ein Gemisch aus Rum, Zucker und heißem Wasser. Auch ich durfte kosten und war nach kurzer Zeit betrunken. Zu Weihnachten wurden viele Kekse gebacken. Sie waren steinhart und wurden – falls sie so lange überlebten – erst nach Neujahr weich. Mit der Elektrizität kam das erste „richtige“ Radio ins Haus. (Mein Vater hatte schon einige Jahre zuvor auf einem Brett einen Detektor montiert, eine silberne Lampe und andere mir unbekannte Dinge. Mit dieser stromlosen Konstruktion konnten wir bereits Musik hören.) 1953 kaufte er ein EumigRadio mit einem „magischen Auge“ für 1380 Schilling. Das waren damals zwei Monatslöhne oder mehr. Endlich wurde auch ein elektrisches Bügeleisen angeschafft. Wir konnten uns diesen Luxus nur leisten, weil mein Vater ab September 1953 in der Druckerei Schilling arbeitete und regelmäßig verdiente. 1954 wurde eine Couch mit zwei Fauteuils gekauft, die bis 1970 in unserem Wohnzimmer standen. Der neue Teppich war aus grünem Noppenmaterial, mit einem „modernen“ roten Bogenmuster eingewebt. Der Fußboden bestand aus Holzfaserplatten, mit denen mein Vater den alten Bretterboden ersetzt (oder überdeckt?) hatte, was die Reinigungsarbeit sehr erleichterte. Dieser Boden wurde mit Bodenbeize eingelassen und – so gut es ging – mit Socken poliert, das heißt, ich rutschte darauf herum, bis er glänzte. Das war „Hausarbeit“, die mich freute … 128

In den späten Fünfzigerjahren kaufte mein Vater auch den ersten Kühlschrank, der fortan im Vorzimmer stand. Auch ein Handstaubsauger wurde angeschafft. Eine Waschmaschine besaßen wir nie, nur eine Waschkugel*, die man händisch drehen musste. Sie war aber nur für kleine Stücke geeignet. Ich fuhr ab 1952 in die Hauptschule nach Deutsch-Wagram und kam meist mit dem Mittagsschnellzug um ein Uhr in Strasshof an, war also mit dem Rad erst um halb zwei zu Hause. Wir hatten in der Hauptschule einmal in der Woche nachmittags Kochen und einmal Handarbeiten. Dann ging ich zu Mittag in den damals sehr einfachen Gasthof „Marchfelderhof“ auf eine Erbsensuppe und kam erst am späten Nachmittag heim. Ich half meiner Mutter also kaum im Haushalt. Sie beanspruchte diesen aber auch eifersüchtig für sich, um zu rechtfertigen, dass sie nicht – wie viele andere Strasshofer Mütter – einer zusätzlichen Arbeit nachging. Sie wollte nicht für andere Leute nähen, hatte sie doch genug damit zu tun, für meinen Vater und mich alles selbst zu nähen und zu flicken. Sie war sehr genau bei ihrer Arbeit und daher auch sehr langsam. Außerdem wurde sie regelmäßig von Migräneanfällen heimgesucht, die sie tagelang lähmten. Ich erinnere mich an ihr rosa Kleid aus dünnem Stoff im Stil der Zwanzigerjahre, das sie „aus Friedenszeiten“ gerettet hatte und für mich in ein Festkleid umänderte. Ich trug es zum ersten Schultag, als ich acht oder neun war, ging aber barfuß bis in die Schule und zog erst dort meine weißen Turnschuhe an, um sie nicht schmutzig zu machen. Ich selbst war sehr ungeduldig beim Nähen, schlug Mutters Ratschläge, alles ordentlich vorher zu heften, in den Wind und nähte meine Puppenkleider auf gut Glück zusammen, wobei oft ein Teil verkehrt herum eingenäht war. Zornig warf ich dann mein Werk in eine Ecke. Meine Mutter besaß eine alte Singer-Nähmaschine mit Fußbetrieb. Diese Maschine 129

diente ihr während ihres ganzen Lebens und konnte sogar Leder problemlos nähen. Sie ist heute noch funktionsfähig und steht immer noch in Mutters ehemaliger Nähstube in Strasshof (meine Mutter starb im Jahr 2000). Ich hasste diese Nähstube schon als Kind, weil sich in ihr immer viele Spinnen einnisteten, deren man nicht Herr werden konnte. Sie krochen vom Garten und vom Keller ständig nach. Im Winter war die Nähstube nicht beheizbar, sodass Mutter viel mit der Hand nähte oder im Wintermantel kurzzeitig vor ihrer Maschine saß, um schnell eine Naht zu machen. Mein Vater baute um 1955 unser Dachgeschoß aus, sodass dort zwei Schlafzimmer entstanden und ich nicht mehr im Zimmer meiner Eltern schlafen musste. Mein Bett wurde in einen Alkoven gestellt, der durch die Dachschräge entstanden war. Im angrenzenden Schlafzimmer der Eltern stand ein kleiner Ofen, der beide Räume heizte. Trotzdem musste ich weiterhin mit einem warmen Ziegelstein und einer Haube schlafen, wenn es im Winter kalt war, denn ich mochte es nicht, wenn die Tür zwischen den beiden Zimmern offen blieb. Der Fußboden war mit Holzfaserplatten belegt, die Wände mit Fischkistenbrettern verkleidet, die tapeziert wurden. (Neben Vaters Druckerei im Stadtbahnbogen bei der Alser Straße gab es eine Fischhandlung, deren weggeworfene Fischkisten er über Monate sammelte …) Da wir mit unseren Nachbarn wenig gesellschaftlichen Kontakt hatten, bekamen wir kaum Besuch. Oma Philomena fühlte sich bald zu alt, um von Essling die damals sehr umständliche Reise nach Strasshof zu unternehmen, Vaters Schwester Poldi kam meiner Erinnerung nach nur einmal aus Wien nach Strasshof. Mutters Schwester hingegen gewöhnte sich an, jedes zweite Jahr auf zwei bis drei Wochen zu uns zu kommen, und meine Mutter fuhr von 1950 an ebenfalls jedes zweite Jahr nach Kiel, wobei sie sich die Reise „vom Mund 130

absparte“ oder von ihrer Schwester geschenkt bekam. Auch durch eine rege Korrespondenz hielten die beiden Schwestern Kontakt. Aus Anlass dieser Besuche meiner deutschen Tante besserte sich unsere Lage jeweils sehr, weil meine Eltern vor der Tante „glänzen“ wollten. Nach dem Abzug der Russen, also ab 1955, zogen ärmere Leute aus Wien nach Strasshof, weil bei uns die Gründe sehr billig waren. Sie bauten meist in Eigenregie neue Häuser, die aber oft nicht verputzt wurden. Meine Mutter war glücklich, als sie eine junge deutsche Frau kennenlernte, und lud diese öfter mit ihrem österreichischen Mann zu uns ein. Bevor der Besuch kam, putzte sie das ganze Haus und buk einen Marmorkuchen in einer Aluminiumform. Dazu gab es Bohnenkaffee, der für mich verboten war. Meine Mutter buk ausschließlich mit Backpulver. Der Germteig, den ihre Schwiegermutter ihr zeigte, gelang ihr nie. Manchmal wurde die junge Familie auch zum Essen eingeladen. Dann stand meine Mutter voll unter Stress und schmorte drei Stunden lang ihren wunderbaren Rinderbraten. Es war damals noch nicht Mode, das Gemüse bissfest zu kochen. Erbsen und Fisolen kochte sie sehr weich. Dazu gab es das bei uns unvermeidliche „Kartoffelmus“, das heißt Erdäpfelpüree. Zum Nachtisch gab es Vanillepudding von Haas. Später, in den Sechzigerjahren, war ihr Standardnachtisch für Besucher Ananas aus der Dose mit Schlagobers. Das war damals purer Luxus! Meine Mutter klagte immer über die viele Arbeit, die ihr der Haushalt machte. Ich hingegen dachte, dass sie sich die Arbeit selber machte. Sie kochte immer viel zu viel, weil die Rezepte aus ihrer Haushaltsschule für große Familien vorgesehen waren. Sie aß dann murrend am nächsten Tag Reste, denn sie konnte nichts wegwerfen. Selbst aus altem Brot wurde Brotsuppe gekocht, die weder mein Vater noch ich mochten. Außerdem benutzte sie während des Kochens Un131

mengen von Geschirr, das sie nie gleich während des Kochens abspülte oder weiterbenutzte, sodass am Ende ein ganzer Berg Abwasch zusammenkam. Über diese Dinge gab es zwischen meiner Mutter und mir sinnlose Diskussionen, vermutlich, weil ich mich um die Mithilfe drücken wollte. Immerhin wirkte ihr Beispiel nach: Auch ich kann keine Lebensmittel wegwerfen.

Über die Arbeitermittelschule zur Reifeprüfung „Was brauchst du die Matura!“, sagte mein Vater, als ich zehn Jahre alt war und gerade die Volksschule in Strasshof beendet hatte. Das nächste Gymnasium befand sich in Gänserndorf, zwei Bahnstationen entfernt von Strasshof, oder ich hätte gar mit der Bahn bis nach Floridsdorf fahren müssen. Meine Eltern fürchteten hohe Kosten für Schulbücher und die Tatsache, dass ich ihnen noch acht Jahre auf der Tasche liegen würde, von einem späteren Studium ganz zu schweigen. „Du heiratest eh mit achtzehn, dann bekommst du Kinder und hast einen Haushalt. Dafür braucht man keine Matura“, tröstete mich mein Vater. Meine Mutter widersprach nicht, obwohl ihr meine Volksschullehrerin versichert hatte, ich sei für das Gymnasium sehr geeignet, weil ich eine der besten Schülerinnen der Klasse gewesen war. Ich selbst hatte keine Meinung. Den Ort Gänserndorf fand ich langweilig, die Aussicht, noch acht Jahre in die Schule gehen zu müssen, ebenfalls. Außerdem gingen meine besten Freundinnen in die Hauptschule des Nachbarortes. Also besuchte auch ich bis zu meinem 14. Lebensjahr die Hauptschule Deutsch-Wagram. Danach wollte ich so schnell wie möglich Geld verdienen und entschloss mich für eine einjährige Ausbildung als Stenotypistin in der Handelsschule Deutsch in der Hörlgasse in Wien. Noch vor Beendigung der Schule erhielt ich einen Posten bei einem Patentanwalt im ersten Bezirk und konnte da132

heim Kostgeld bezahlen, was unsere finanzielle Situation sehr verbesserte. Sobald ich allerdings meine Arbeit im Büro beherrschte, wurde mir bewusst, dass ich nicht mein Leben lang nur Maschine schreiben wollte. Ich konnte sehr gut zeichnen und belegte einen Zeichenkurs in der Volkshochschule Floridsdorf. Hätte ich die Matura, könnte ich Kunst studieren, überlegte ich damals, obwohl mein Vater immer sagte, von Kunst könne man nicht leben. Mit ungefähr 16 Jahren erfuhr ich, dass mein Cousin schon längere Zeit eine Abendschule besuchte. (Er war drei Jahre älter als ich, machte die Matura an der Arbeitermittelschule und studierte später Medizin.) Ich erkundigte mich in der Arbeitermittelschule* (AMS) auf dem Henriettenplatz und erfuhr, dass ich erst mit siebzehn Jahren in diese Schule eintreten könne. Auf dem Land zur Schule gegangen, nahm ich an, ich sei viel dümmer als die Wiener Jugendlichen und würde insbesondere in Latein Schwierigkeiten haben. Deshalb nützte ich die Zeit, bis ich alt genug für die AMS war, und besuchte einen Lateinkurs in der Abendmaturaschule Dr. Roland. Ich hätte dort auch gleich innerhalb von zwei Jahren die Matura machen können, traute mir dies aber ebenfalls nicht zu. Der Lateinkurs machte mir Spaß und keinerlei Schwierigkeiten, sodass ich bald keine Angst mehr hatte, in der AMS nicht mitzukommen. Am 8. September 1959 saß ich schließlich in der 1D der Arbeitermittelschule und wartete auf das Ergebnis der Aufnahmsprüfung in Deutsch. Neben etwa 25 jungen Männern gab es noch vier Mädchen in der Klasse, die mir sehr hochnäsig vorkamen. Es waren halt Wienerinnen und ich nur eine „Gscherte“*… Zusammen mit Anni, einer Kärntnerin, die eine Nebenklasse an der AMS besuchte, bezog ich ein Untermietzimmer in der Böcklinstraße im 2. Bezirk. Das Zimmer, mit uralten Möbeln eingerichtet, besaß zwei getrennte Betten und war damit 133

für uns ideal. Die Miete betrug 500 Schilling im Monat, also 250 für jede von uns, das konnte ich mir gerade noch leisten. Von dort ging ich jeden Tag in der Früh in die Riemergasse zur Arbeit und um 5 Uhr von der Riemergasse zu Fuß über die Mariahilfer Straße zum Henriettenplatz in die Schule. Am Abend ging ich – wieder zu Fuß – vom Henriettenplatz in die Böcklinstraße, um Geld für die Straßenbahn zu sparen. Meine Mitbewohnerin fuhr mit der Straßenbahn, obwohl sie behauptete, überhaupt kein Geld zu besitzen. Sie hatte auch, glaube ich, keine Arbeit und daher den ganzen Tag Zeit. Dennoch lernte sie bis Mitternacht und stand in der Früh um 5 Uhr auf, rumorte im Zimmer und wiederholte laut vor sich hinmurmelnd den Stoff für die Schule. Ich hielt diesen Zustand ungefähr drei Wochen aus. Zufällig erzählte eine meiner Bürokolleginnen, die im 10. Bezirk wohnte, von einem leer stehenden Zimmer in ihrem Nachbarhaus. Ich rief die Hausverwaltung an, erfuhr, dass das acht Quadratmeter große Kabinett etwa 1500 Schilling Ablöse* kosten würde, dafür aber der monatliche Zins nur rund 50 Schilling betrage. Ich mietete die „Wohnung“ und kündigte mit Monatsende die Untermiete. Anni war sehr böse, denn sie wollte sich das Zimmer allein nicht leisten. Ich konnte ihr aber nicht helfen, sie raubte mir den dringend benötigten Schlaf. Mein Vater richtete mir das Hauptmietkabinett selbst ein: Er zimmerte ein Bett, das von Wand zu Wand reichte, denn das Zimmer maß exakt zwei mal vier Meter. Er baute einen schmalen Kasten aus Platten, ebenso einen kleinen Couchtisch und einen bequemen Sessel. Ferner gab es ein Kasterl für das wenige Geschirr und den Gasrechaud sowie einen Verbau unter dem Fenster. Ich nähte Vorhänge, bezog Schaumstoffauflagen für den Sessel und kaufte einen Sisalläufer, damit war die Einrichtung komplett. Die Toilette befand sich auf dem Gang, wurde aber nur von mir benützt, was damals Luxus bedeutete. 134

Die Hauswartin schenkte mir einen Salathobel. Meine Visà-vis-Nachbarin, die alte Frau Schandl, hütete durch ihren Türspion meine Moral. Es war ein uriges altes Haus, erbaut um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Wien 10, Eckertgasse 7; inzwischen ist es durch einen Neubau ersetzt. Die Wand an Wand im Nebenhaus befindliche Wäscherei lernte ich erst im Winter schätzen, denn sie heizte mein Zimmer mit. Ab 10. Oktober 1959 wohnte ich also während der Woche in Wien-Favoriten in meiner eigenen Wohnung und konnte die AMS fortan unbeschwert durch Wohnungssorgen besuchen. Auch vom 10. Bezirk ging ich morgens in die Riemergassse ins Büro und abends zu Fuß auf den Henriettenplatz. Nach der Schule wanderte ich vom Henriettenplatz in die Gudrunstraße/Eckertgasse. Ich fand, es tue mir gut, nach drei Stunden Lernen etwas Bewegung zu haben … Ich war siebzehn, hatte wenig Geld, aber viel Energie. Das erste Jahr in der Schule war das schönste. Wir waren rund dreißig Schüler und Schülerinnen. Herta und Fritzi (Friederike), die ich dem ersten Augenschein nach für hochnäsig gehalten hatte, wurden bald meine Freundinnen. Sie wohnten beide im 5. Bezirk, und wir hatten damit einen gemeinsamen Heimweg. Fritzi stellte sich ebenfalls als „Gscherte“ heraus, denn sie kam aus dem Tullnerfeld und wohnte in Wien nur zur Miete. Gleich am Anfang des Schuljahres wurde ich – zu meiner völligen Überraschung – zur Klassensprecherin gewählt. Ich teilte dieses ehrenvolle Amt mit einem Kollegen. In der Hauptschule war ich nie Klassensprecherin gewesen und daher stolz auf mein neues Amt. Ich stellte erfreut fest, dass die Hauptschule Deutsch-Wagram den Wiener Schulen in nichts nachstand, sodass ich mit guten Noten auch in der AMS glänzen konnte, nur nicht in Englisch. In der Hauptschule hatte ich mit Frau Ewald eine mir äußerst sympathische Lehrkraft gehabt, ja geradezu ein (kettenrauchendes!) Mädchenidol. In der AMS unterrichtete 135

uns eine sehr engagierte, aber persönlich mit mir nicht kompatible Professorin. Leider hing damals mein Lernerfolg immer von der Person der Lehrkraft ab. Nicht, dass ich in Englisch sehr schlechte Noten bekommen hätte, aber es freute mich nicht mehr. Das Denken „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ funktionierte selbst in diesem Alter nicht so recht. An meiner Arbeitsstätte, dem Patentanwaltsbüro, hatte mein Chef eine neue junge Dame eingestellt, deren Gehalt wesentlich über dem von uns anderen Mädchen lag, wie uns die – noch nichts von Datenschutz ahnende – Buchhalterin tratschte. Wir waren fünf ungefähr gleichaltrige Mädchen, die alle besser zu sein glaubten als „die Neue“, und wir gingen gemeinsam zum Chef, um uns zu beschweren. Er entließ uns fristlos mit dem Hinweis, er könne machen, was er wolle, „die Neue“ sei übrigens seine Nichte! Ich war froh über die Kündigung, denn ich wollte mir ab September 1960 wegen der Schule ohnehin einen Halbtagsjob suchen. Am nächsten Tag nahm der Chef allerdings die Kündigungen zurück. So war ich gezwungen, meinerseits zu kündigen. Ich nahm einen Posten bei einem blinden Rechtsanwalt in der Singerstraße an, wo ich nur von 8 bis 12 Uhr arbeitete. Dieser Job gefiel mir sehr, denn ich musste meinen neuen Chef auf allen seinen Wegen zu Gericht in Wien und manchmal auch in die Bundesländer begleiten. Ich fuhr mit ihm auch erstmals in meinem Leben Taxi. Seine Frau war sehr künstlerisch begabt, hatte selbst eine Zeit Bildhauerei studiert und riet mir, auf der Akademie für Angewandte Kunst zu studieren. Ich war aber zu schüchtern und ging dort vorerst nur an den Nachmittagen in die Bibliothek, um Bücher über berühmte Bildhauer zu bewundern und für die AMS zu lernen. Im Schuljahr 1960/61 besuchte ich an den Nachmittagen Kurse 136

für Aktzeichnen und Anatomie an der Akademie. Am Abend ging ich nach wie vor in die Arbeitermittelschule. Die Bibliothekare der Akademie machten mir Mut, mich an Prof. Knesl, den Chef der Bildhauerklasse, zu wenden. Ich zeigte Prof. Knesl schließlich meine Zeichnungen. Er war sofort bereit, mich im Schuljahr 1961/62 in seine Klasse aufzunehmen, und schlug mir Folgendes vor: Abends sollte ich weiterhin in die AMS gehen. Hätte ich die Matura geschafft, könnte ich noch ein Diplomjahr auf der Akademie absolvieren und wäre dann diplomierte Bildhauerin. Damit hatte der Besuch in der AMS plötzlich ein sehr konkretes Ziel. Ich brauchte dringend die Matura! In unsere Klasse in der AMS gingen mehrere Beamte, die ebenfalls die Matura dringend benötigten, um in der Gehaltsklasse aufsteigen zu können. Wir waren also alle sehr motiviert. Trotzdem schieden nach dem ersten Jahr mehrere Schüler/innen aus, manche aus familiären Gründen, manche, weil sie neben ihrer Arbeit den Schulstress nicht mehr schafften. Meine Freundin Herta gehörte leider zu dieser Gruppe und auch Fritzi, die heiraten wollte. Übrig blieb der „harte Kern“, der es fast geschlossen bis zur Matura schaffte. Im zweiten Schuljahr, also im dritten Semester, wurde meine Klasse mit einer anderen Klasse zusammengelegt, da die verbleibenden Schüler der 1D zu wenige waren. Durch die Zusammenlegung bekamen wir auch teilweise neue Lehrkräfte. Meine Tage sahen ab September 1960 so aus, dass ich in der Früh von der Gudrunstraße in die Singerstraße ging und bis 12 Uhr im Büro des Rechtsanwaltes arbeitete. Mein Chef bestand darauf, dass ich pünktlich wegging, denn er sagte, ich solle lernen, so viel ich nur könne. Von der Singerstraße ging ich den kurzen Weg zum AEZ. Dort kaufte ich mir in der Markthalle eine Leberkässemmel, die ich dann in der Baracke, die damals am Wienfluss neben der Akademie für die Bildhauer errichtet worden war, zum Mittagessen verzehrte. 137

Die anderen Studenten von Prof. Knesl trafen nicht viel früher ein, sodass meine Abwesenheit am Vormittag nicht weiter auffiel. Auch das Aktmodell oder das Porträtmodell, nach denen wir Tonmodelle anfertigten, kamen oft erst nach dem Essen. Die Bildhauerklasse war für mich die reinste Erholung. Um 17 Uhr machte ich mich auf den langen Weg vom Lueger- zum Henriettenplatz. An den Samstagnachmittagen fuhr ich heim nach Strasshof, bekam bei meiner Mutter endlich ordentliches Essen und lernte über das ganze Wochenende. Ich wollte damit vermeiden, an den Abenden nach der Schule noch lernen zu müssen, wenn ich todmüde nach einem anstrengenden Tag in meine Wohnung zurückkehrte. Einer meiner Klassenkollegen war der durch einen Unfall mit einer Kriegsmine erblindete Heinz. Ich saß, glaube ich, ab dem dritten Semester neben ihm in der ersten Reihe. Die Mine hatte ihm auch vier Finger abgerissen, sodass er nur mit dem kleinen Finger der rechten Hand den kleinen Stössel halten musste, mit dem er die Blindenschrift in ein steifes Papier stechen konnte. Ich kannte diese Prozedur von meinem blinden Anwalt, der im Gericht auf diese Art Notizen machte oder diese las, indem er mit der Hand über die Rückseite des Papiers glitt, wo die eingestochenen Punkte erhaben hervortraten. Heinz konnte auch auf einer für Blinde eingerichteten Schreibmaschine seine Notizen übertragen. Er war äußerst intelligent, kam gut im Unterricht mit und studierte später Jus. Sein Ehrgeiz war ansteckend, sodass ich oft, wenn mir die Schule wieder einmal zu viel wurde, dachte: „Was der Heinzi kann, das musst du auch schaffen!“ Die Schule war sehr gut auf die Bedürfnisse Berufstätiger zugeschnitten. Wir mussten nicht alle Fächer zur gleichen Zeit abschließen. Im ersten Jahr wurde neben den Hauptfächern nur Geographie und Geschichte unterrichtet und diese Ne138

benfächer im zweiten Jahr geprüft. Sie würden uns im dritten Jahr schon nicht mehr belasten. Im nächsten Jahr, 1962, konnte ich Chemie und Naturgeschichte mit „Sehr gut“ abschließen. Für die Chemiematura lernte ich bereits mit meinem Freund in meiner Miniwohnung, was wesentlich zum Erfolg dieser Prüfung beitrug, denn mein späterer Ehemann verstand mehr von der Materie als ich, obwohl er die Realschule (ebenfalls am Henriettenplatz) im vierten Jahr verlassen hatte. Heute muss ich über den Zufall lachen, dass ich die Maturaprüfung in Naturgeschichte mit sehr gutem Erfolg bestand. Von der Fortpflanzung des Menschen oder deren Verhütung war damals in Naturgeschichte sicher nicht die Rede, denn im September 1962 sagte mir mein Arzt, dass ich im dritten Monat schwanger sei. Es war eine große Freude, aber auch ein Schock für mich, denn wie sollte ich all meine Aktivitäten und die Geburt eines Kindes unter einen Hut bringen? In der Arbeitermittelschule wusste Anfang September 1962, also zu Beginn des dritten Schuljahres, niemand von meiner Schwangerschaft, nicht einmal ich selbst. Eine Schulkollegin – sie war mit einem Klassenkollegen verheiratet und bereits Mutter – wunderte sich nur, dass ich vor der Stunde gierig Rollmöpse in mich hineinstopfte. „Bist du schwanger?“, fragte sie mich lachend. „Wieso?“, fragte ich ahnungslos zurück. „Wenn man schwanger ist, hat man Gusto auf so was“, belehrte sie mich. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Mein ungewohnter Appetit auf Milch im Griechenlandurlaub, eine hautenge Hose, die nicht mehr zu schließen war … Jedenfalls ging ich nach diesem Gespräch zum Gynäkologen – mit obigem Ergebnis. Mein Freund, der Vater des ungeborenen Kindes, reagierte positiv und machte mir einen Heiratsantrag. Ich entschloss mich, die Akademie aufzugeben. Prof. Knesl hielt mir vor, dass Kinder bekommen keine Kunst sei, und ausgerechnet von einer begabten Bildhauerin wie mir hätte er so einen Blöd139

sinn nicht erwartet. Er lächelte nur nachsichtig, als ich sagte, ich würde später wieder anfangen. Und er wusste, warum … Die Arbeitermittelschule wollte ich trotz Schwangerschaft aber keineswegs aufgeben, denn ich würde ab der bevorstehenden Geburt im März 1963 ja nur noch knapp zwei Semester bis zur Matura haben. Aber ich spürte im Winter 1962/63, wie durch die Schwangerschaft fast von Woche zu Woche meine Intelligenz schwand. Eine Schularbeit nach der anderen wurde schlecht benotet, obwohl ich glaubte, das Beste geleistet zu haben. Nur in Darstellender Geometrie, das ich als Wahlfach statt Kunstgeschichte genommen hatte, gelang mir trotz Schwangerschaft ein „Sehr gut“ im Maturazeugnis. Ich besaß – auch durch die Bildhauerei – ein gutes Vorstellungsvermögen für Formen. Außerdem half mir eine weibliche List: Während die männlichen Kollegen sich etwas auf ihr abstraktes Denken zugutetaten, nahm ich zur Maturaarbeit einige Kartoffeln mit. Als angehende Bildhauerin schnitt ich unter der Bank zum Beispiel den als Aufgabe gestellten Kegelschnitt nach. Ihn dann zu konstruieren, war keine Kunst mehr. Man konnte mir nicht einmal Schwindelei unterstellen, denn sich eine Skizze zu machen war ja auch erlaubt. In Mathematik wurde es hingegen arg: Ein „Nicht genügend“ prangte schon Anfang 1963 in meinem Schularbeitsheft. Ich lernte also wie verrückt für die nächste Mathematikschularbeit, die am Montag, dem 25. März 1963, stattfinden sollte. Vergeblich, denn an diesem Tag bekam ich um 6 Uhr früh meinen gesunden Sohn Bernhard! Schon zwei Wochen später kam ich mit dem Baby auf dem Arm wieder in die Klasse. Die Kolleginnen und Kollegen schenkten mir ein wunderschönes gelbes Baby-Cape aus Frottee und gratulierten mir herzlich. Während ich abends die Schule besuchte, passte mein Mann auf das Baby auf. Tagsüber war ich daheim und teilte meine Zeit zwischen Baby und AMSSkripten. Es war ja nur noch für die Hauptfächer Deutsch, La140

Abb. 19: Traute Molik-Riemer als junge Mutter (1963)

tein, Englisch, Mathematik und für die verbliebenen Nebenfächer Physik II und Philosophie zu lernen. Das würde ich schon schaffen, denn ich musste nicht mehr arbeiten. Leider gab es neue Probleme: Anfang Mai wurde mein Mann in einen Unfall verwickelt. Ich wollte ihn abends nicht allein lassen und verließ schweren Herzens die AMS. Vier Jahre umsonst gelernt, keine Matura, kein Diplom an der Akademie … Zwei Wochen hielt ich den Stress dieser Vorstellung aus. Dann rief ich meinen Schulkollegen Ulli an und bat ihn, mir Kopien seiner Mitschriften zu geben und mich auf dem Laufenden zu halten. Auf diese Art machte ich im Juni 1963 – ich glaube mit einer Sondergenehmigung – die zweite Teilprüfung in Physik mit „Genügend“ und bestand nach verbissenem Lernen den ganzen Sommer über auch die Philosophieprüfung. Mein Mann wurde im September 1963 zum Bundesheer eingezogen. Bei Schulbeginn im September zog ich deshalb zu den Schwiegereltern in den 12. Bezirk und blieb dort bis zur Matu141

ra im Februar 1964. Ich war den ganzen Tag bei meinem Kind, lernte aber eifrig, sobald es schlief. Auf diese Weise konnte ich im letzten Semester die AMS wieder regelmäßig besuchen. Meine Schwiegereltern passten abends auf das Kind auf und unterstützten mich voll, wofür ich ihnen sehr dankbar war. Ohne meine Schwiegermutter keine Matura! Und auch nicht ohne das Patentrezept meiner Schwiegertante Fini. Ich bekam schon nach der ersten Maturaprüfung einen kräftezehrenden Durchfall. Kein Medikament nützte etwas, ich wurde zunehmend schwächer und unkonzentrierter. Da empfahl mir die gute Tante Fini, Kakaopulver mit Whiskey zu einer dicken Paste zu verrühren und diese grausliche Mischung zu schlucken. Es half! Am 15. Februar 1964, einen Tag nach meinem 22. Geburtstag, nahm ich auf einer Feier in der Arbeitermittelschule Henriettenplatz mein Maturazeugnis in Empfang. Meine Mutter war extra aus Strasshof gekommen, um an dieser Feier teilzunehmen. Persönlich hat mir die Matura vor allem sehr viel Selbstvertrauen gebracht und den Mut, meine Ideen durchzusetzen. Außerdem ist es ein gutes Gefühl, einen Überblick über das Wissen und die Welt zu haben und nicht ein sogenannter „Fachidiot“ zu sein. Es hat die für meinen späteren Beruf nötige Kreativität wesentlich gesteigert, dass ich in der AMS so etwas wie Allgemeinbildung erworben habe. Nach der Matura blieb ich zwei Jahre daheim bei meinem Sohn und begann danach wieder im Büro zu arbeiten. Aber meine Vorstellung war es immer, wenn schon nicht freie Künstlerin zu werden, wenigstens einen künstlerischen Beruf zu erreichen.

Hausfrau mit Matura Mein kleines Zimmer in Favoriten, das mein Vater zwar sehr geschickt eingerichtet hatte, konnte man eigentlich nicht als Haushalt bezeichnen. Anfangs kochte ich nur Tee und kauf142

te zum Essen täglich ein Vitalis-Brot, Topfen und etwas Obst. Von dieser Ernährung hoffte ich schlank zu werden, es gelang mir aber nicht. Als 1961 mein Freund zu mir zog, „spielten“ wir Haushalt und waren trotz des winzigen Raumes glücklich, nicht bei unseren Eltern wohnen zu müssen wie damals die meisten unserer Freunde, selbst wenn sie schon verheiratet waren. Neben uns wohnte ein junges Ehepaar in einer ZimmerKüche-Wohnung. Mit Anneliese war ich bald befreundet – und bin es heute noch, obwohl wir uns einige Jahrzehnte lang aus den Augen verloren haben! Einmal versuchte ich mit ihrer Hilfe eine (gefrorene) Ente zuzubereiten. Es dauerte eine Weile, bis wir herausfanden, wo bei dem Tier vorne und hinten war. Ich briet die Ente an und ließ sie dann sehr lange in ihrem Fett und Saft garen. Ungeduldig, wie ich immer war, nahm ich sie aber zu früh heraus, und sie war noch nicht richtig gar, als ich sie servierte. Auch mein Freund „kochte“. Wenn ich um 10 Uhr abends von der Schule heimkam, gab es Vanillepudding mit Mustern, die er durch eine Papierschablone mit Kakao aufstaubte. Einmal kochte er Grießbrei, dachte aber nicht daran, dass dieser enorm aufging. Er aß eine Woche daran … Am Samstag gingen wir auf den Viktor-Adler-Markt einkaufen: Bratwurst, Kartoffeln und Salat. Die Bratwurst briet ich – wie von meiner Mutter gelernt – in Thea-Margarine. Diese Margarine enthielt zu viel Wasser, rauchte stark und hinterließ die Bratwürste oft angekohlt, bevor sie durch waren, selbst auf kleiner Flamme. Am Samstagabend gingen wir zu den Eltern meines Freundes fernsehen, am Sonntag fuhren wir zu meinen Eltern aufs Land. Bei seinen Eltern bekamen wir Wiener Schnitzel, bei meiner Mutter Rindsrouladen oder Rinderbraten. 1963 startete auf acht Quadratmetern Fläche ein richtiger Haushalt mit Mann und Kind. Mein Vater bastelte noch ein Kasterl für die Wäsche des Babys, das wir zwischen unseren 143

Kasten und das schmale Bett zwängten. Auf dem Kasterl war rundherum ein Gitter aus Holz montiert wie bei einer Laufschule. In diesem „Käfig“ schlief unser kleiner Sohn, und er schlief sehr gut. Außerdem kauften wir eine Plastikbadewanne, die auf den Kasten gestellt wurde und zum Baden des Babys auf den niederen Tisch vor dem Bett. Für das Waschen der Windeln bekam ich von der Stadt Wien im Spital oder bei der Mutterberatung einen Gutschein geschenkt, sodass die erste Wäsche kein Problem war. Dann aber musste ich die Windeln auf dem kleinen Gaskocher in einem verzinkten Waschtopf der Schwiegermutter kochen. Es stank so bestialisch in dem kleinen Raum, dass ich – auch im Winter – nur bei offenem Fenster Windeln kochte, denn im Winter 1964 war mein Söhnchen schon neun Monate alt und bekam richtige Nahrung. Wegwerfwindeln gab es zu dieser Zeit noch nicht, soviel ich weiß. Meine Nachbarin und ich stellten unsere Kinderwägen auf den schmalen Hausgang, sodass der Durchgang kaum möglich war. In unseren Wohnungen war zu wenig Platz dafür. In den zwei Jahren, die ich nach der Matura beim Kind daheim war, sah mein Alltag folgendermaßen aus: Nach dem Frühstück ging ich mit dem Kind spazieren, meist in den Waldmüllerpark. Dort verbrachten wir viele Vormittage und auch Nachmittage. Ich strickte an diversen Pullovern, während mein Sohn in der Sandkiste saß. Nur bei Schlechtwetter blieben wir in der „Wohnung“. Üblicherweise kamen wir vormittags gegen 11 Uhr heim. Vorher kaufte ich auf der Gudrunstraße ein und kochte das Mittagessen für mich, meinen Sohn und meinen Mann, wenn er in der Nähe arbeitete. Während des Kochens machte ich die acht Quadratmeter Wohnfläche sauber, was natürlich nicht viel Zeit in Anspruch nahm. Ich kochte regelmäßig zu Mittag und am Abend für meinen Mann, weil meine Schwiegermutter darauf bestand, dass 144

er zwei warme Mahlzeiten bekommen musste. Ich fabrizierte so eigenartige Gerichte wie Knackwurst mit Kapern gefüllt. Zusammen mit Kartoffelmus füllte ich diese in ein Menagereindl* und führte es im Kinderwagen unter der Decke des Babys auf die Baustelle in einem Gemeindebau in der Knöllgasse, wo mein Mann arbeitete. Ich stellte mich unten in das Stiegenhaus und schrie laut: „Anstreicher!“ Nach wenigen Sekunden erschien dann irgendwo in einem der oberen Stockwerke das hungrige Gesicht meines Mannes: „Do sa ma!“ Er war noch sehr verliebt und aß, was immer ich zusammengekocht hatte, obwohl seine Mutter ihm oft auch über den Vater Essen mitgab. Dann aß er eben beides. Abends kochte ich wieder, häufig gebackenen Leberkäs mit Kartoffelsalat, denn das mochten wir beide. Für meinen Sohn kochte ich Gemüse und ließ auch von den Kartoffeln welche für ihn übrig. Ich musste täglich kochen, da ich auf dem Kocher nur jeweils kleine Mengen kochen konnte. Reste durften nicht bleiben, weil wir keinen Kühlschrank hatten. Viel Abwechslung und Extravaganz gab es nicht, denn mit dem Lohn meines Mannes konnten wir uns nichts leisten. Er bekam nur den im Kollektivvertrag vorgesehenen Lohn. Ich erinnere mich, dass mich eines Tages ein Vertreter besuchte, der mir eine billige Waschmaschine verkaufen wollte. Ich hatte das stinkende Kochen der Windeln auf dem Gasrechaud wirklich satt und ließ mich überreden, einen Vertrag zu unterschreiben, ohne auch nur genau zu wissen, wo ich die Maschine hinstellen könnte. Zum Glück schrieb ich mit Handschrift auf den Vertrag, dass er nur bindend sei, wenn mein Mann mit dem Kauf einverstanden wäre und diesen auch unterschreiben würde. Als mein Mann heimkam, erklärte er mir, dass wir keine Möglichkeit hätten, die Maschine an das Wasser und den Kanal im Gang anzuschließen. Ich schrieb sofort einen Brief an die Firma und teilte ihnen mit, dass ich vom Kauf zurücktrete. Einen Tag lang hatte ich im145

merhin das Gefühl gehabt, endlich eine Waschmaschine zu besitzen … 1966 bekam ich für unseren Sohn einen Platz im Kindergarten Waldmüllerpark (der alles andere als gratis war). Ich träumte davon, Grafikerin zu werden, bewarb mich auch in Studios. Man bot aber nur Lehrstellen mit geringer Bezahlung an, und so musste ich mich wieder um einen Job im Büro kümmern. Ich bekam einen Halbtagsjob in der Technischen Hochschule und damit Geld, das wir für eine Wohnung sparen konnten. 1967 rückte eine Genossenschaftswohnung in greifbare Nähe, doch da wurde uns die lange angestrebte Gemeindewohnung zugewiesen, allerdings in Kagran, Saikogasse, damals weit weg von Wien. Nicht einmal noch das Donauzentrum „erhellte“ die Gegend, und der Bezirksvorsteher von Favoriten flehte uns geradezu an, die Wohnung anzunehmen, denn keiner wollte dort hin. Im Grunde auch wir nicht, aber unsere Platznot zwang uns. Zögernd brachten wir Matratzen in das winzige Schlafzimmer, brieten am Wochenende eine Ente im neuen Herd und lauschten auf die vielen Arbeitsgeräusche in dem noch fast leeren Haus. Das Vorzimmer war riesig – für einen Einbaukasten gedacht. Highlight war das fertige Bad. Ich war 25, als ich zum ersten Mal im Leben ein eigenes Bad mit Wanne besaß! Das Wohnzimmer war lang und durch eine Loggia sehr finster. Wir besaßen keine Möbel und tauschten die Wohnung, bevor wir auch nur an Möbelkauf dachten. Die Eltern einer jungen Familie, die im gleichen Haus eine Wohnung bekommen hatte, wollten zwecks Hüten des Enkels auch in die Saikogasse ziehen und inserierten ihre 44-QuadratmeterWohnung im 14. Bezirk am Hauspostkasten. Glücklich zogen wir in die zehn Quadratmeter kleinere Wohnung nach Penzing. Das war „mitten in Wien“; mein Mann hatte es nicht weit zur Arbeit, ich hatte eine direkte 146

Abb. 20: Familie Molik-Riemer auf insgesamt bereits 44 Quadrat­ metern Wohnfläche (um 1967)

Straßenbahn in das Patentanwaltsbüro in der Singerstraße, wo ich seit einiger Zeit arbeitete. Die Wohnung in Penzing war kleiner, aber besser gegliedert, und mein Mann begann sofort damit, sie gemütlich einzurichten. Wir kauften eine blau bezogene Sitzgarnitur. Die Couch war als Einzelbett ausziehbar, sodass das Zimmer als Wohn- und Kinderschlafzimmer gleichzeitig genutzt werden konnte. Unser Schlafzimmer war schon von den Vormietern von der ehemaligen Wohnküche durch eine Wand getrennt worden, sodass der „Rest“ Küche nur noch zwei Meter breit war. Es ging sich also nur auf einer Seite Herd, Abwasch und der neue Kühlschrank (!) aus. Den Küchenkasten baute mein Mann über den Herd in einen Durchbruch zum „Bad“ hinein. 147

Das Bad, ursprünglich eine Duschnische, war dann gerade so breit, um eine Wanne hineinzuquetschen, in die wir nur am vorderen Ende hineinsteigen konnten. Um die Wanne zu reinigen, musste ich so jung sein wie damals, denn es war ein sportlicher Akt, bis nach hinten zu kommen … Zum Glück waren Abfluss und Armaturen vorne. Im Schlafzimmer baute mein Mann einen Kasten mit je zwei Stangen unten und oben, also insgesamt vier. Auch das Hängen und Wiederhervorholen von Kleidungsstücken erforderte viel Geschick und eine gewisse Größe (ich war 1,75 groß). Immerhin, ich konnte jetzt meine gesamte selbstgemachte und bescheidene Garderobe nach Wien holen. Die Wäsche war in einem Ausziehkasten untergebracht, der mit viel Kraft vorgezogen werden musste, aber sonst sehr praktisch war. Endlich, endlich im Jahr 1968 bekamen wir unseren ersten Fernseher – weiß musste er sein, um in das damals noch weiße Schlafzimmer zu passen. Er stand auf einem weißen Kasterl auf dem weißen Hirtenteppich und war unser Augenstern. Die Vorhänge und der Bettüberwurf waren aus orangem Stoff und selbst genäht. Auf den weißen Kastenverbau klebte ich im oberen Bereich eine Fotocollage aus Illustriertenfotos, was sehr hübsch aussah. Wir brauchten ein Jahr, bis die Wohnung fertig wurde, und lebten jeweils eine Zeit lang nur in einem Zimmer. Das Sauberhalten der Wohnung war schwer, denn ich hatte mir, um die Räume größer erscheinen zu lassen, weiße Böden eingebildet. Weißer Teppich im Wohnzimmer, weiße Plastikfliesen in Gang und Küche, weiße Hirtenteppiche im Schlafzimmer. Ein Traum, der bald zum Albtraum wurde, als der erste graue „Gang“ quer durchs Wohnzimmer sichtbar wurde. Ich schickte Mann und Kind, um einen Staubsauger zu kaufen. Sie kamen strahlend mit einem großen HooverStaubsauger heim, den sie gekauft hatten, weil vorne ein Licht 148

leuchtete, wenn man saugte, um auch unter Kästen sehen zu können. Nur, wir hatten keine Kästen, unter die man sehen konnte, und der Sauger – er kostete einige tausend Schilling – war für unsere kleine Wohnung viel zu groß. Sein wahrer Wert sollte sich erst später erweisen. Die Vorzimmerwand war komplett verspiegelt. Anders hätte man sich durch das enge Vorzimmer gar nicht zu gehen getraut. Diese Wand musste natürlich ständig entstaubt und poliert werden. Aber nach dem Leben in unserer Acht-Quadratmeter-Wohnung in Favoriten empfand ich diese winzige Gemeindewohnung in Penzing als Paradies und pflegte sie mit Hingabe. Dennoch kamen, wenn wir auf Urlaub waren, meine Schwiegermutter und die Tante, putzten die Wohnung auf ihre Art mit scharf riechenden Mitteln und ließen dann die stinkenden Putzfetzen demonstrativ in der Küche hängen, um mir zu beweisen, dass sie „ordentlich“ geputzt hatten. Der Kontakt zu den Schwiegereltern wurde jetzt seltener, denn wir besaßen ja nun einen eigenen Fernseher und einen Kühlschrank, der uns das Leben und Kochen sehr erleichterte. Außerdem lernte ich schnell, österreichische Gerichte wie Schnitzel und Gulasch richtig zu kochen. Im Keller des Hauses befand sich eine Gemeinschaftswaschküche. Man musste bei der Hausbesorgerin, die auf der Nachbarstiege wohnte, den Schlüssel holen und die Marken kaufen. Ich stand zweimal im Monat auf der Waschliste und sollte diese Tage genau einhalten. Die große Wäsche konnte man dort auch trocknen, ganz trocken wurde sie allerdings nie. Ich hängte sie dann noch nachträglich auf und bügelte sie, sobald sie fast trocken war, auf einem Ärmelholz in der Küche oder auf einem zusammengelegten Leintuch. Für ein richtiges Bügelbrett fehlte uns buchstäblich der Platz. Wir gaben unseren Sohn 1968 ins französische Lyzeum, von wo er erst um circa 17 Uhr mit dem Schulbus heimkam. Ich machte aber bald im Büro früher Schluss, um meinen 149

Sohn selbst abzuholen, denn im Schulbus war es so laut, dass er ständig Kopfweh bekam. Wir fuhren dann gemeinsam mit der Straßenbahn heim und gingen in der Linzer Straße für das Nachtmahl einkaufen. In der ersten regulären Klasse des Lyzeums wurden plötzlich Aufgaben gegeben, die mein Sohn zu Hause machen sollte, obwohl man uns gesagt hatte, diese würden in der Schule am Nachmittag erledigt. Ich musste mich also am Abend nach dem Kochen und Essen oft noch mit dem Kind hinsetzen und ihm bei den Aufgaben helfen. Auch an den Wochenenden waren wir sehr beschäftigt, aßen aber manchmal am Samstag entweder bei meiner Mutter oder bei meiner Schwiegermutter, die sich dann besonders bemühte, uns mit Wiener Schnitzeln und Schweinsbraten zu füttern, da sie der Meinung war, ich koche zu wenig für Mann und Kind. Wie viele ältere und molligere Damen hielt sie uns Junge für zu schlank. Samstagabends ließen wir das Kind manchmal bei den Schwiegereltern über Nacht und gingen in einen Tanzkurs, später auch in eine Diskothek in der Baunzen bei Purkersdorf, ein düsteres Lokal mit seltsamen Gästen, aber ein guter Kontrast zum stressigen Alltag im Büro. Sonntagmittags erschienen wir dann bei den Eltern zum Essen und holten unseren Sohn wieder ab. Mein Mann half damals noch kaum im Haushalt, war aber bei diversen Reparaturen so geschickt, dass er uns immer viel Geld ersparte. Ich bestand nicht auf Hilfe, denn es war zu dieser Zeit selbstverständlich, dass eine berufstätige Frau einen so kleinen Haushalt mit nur einem Kind ganz nebenbei bewältigte. Ich nähte immer noch fast meine gesamte Garderobe selbst und strickte und häkelte für Mann und Kind, während wir zu dritt auf dem Bett im Schlafzimmer saßen und in den neuen Fernseher starrten. Stricken konnte ich „blind“. Mein Lieblingsgeschäft waren die „3 Pagen“ in der Mariahilfer Straße. Dort kaufte ich Wolle, 150

Abb. 21: Traute Molik-Riemer im selbstgestrickten Minikleid (links) mit Mannequins und einer Angestellten auf dem Dach des Kauf­ hauses Gerngroß in der Mariahilfer Straße (um 1969)

oder ich ließ sie mir per Versandhandel von den „3 suisses“, wie sich die Firma später nannte, schicken. Einmal war die bestellte Wolle nicht lieferbar, und man schickte mir eine viel teurere dunkelbraune Wolle als Ersatz. Überglücklich strickte ich mir aus dieser schönen Wolle ein ganzes Minikleid, das ich jahrelang trug, bis leider diese Mode – oder meine schlanke Figur (?) – dahin war.

So kam eins zum andern … Obwohl ich inzwischen auch dem Büro als Arbeitsplatz etwas abgewinnen konnte, war ich doch in dieser Zeit innerlich unruhig und sehnte die Wochenenden herbei. Ein ganzes Leben in einem Büro zu verbringen, mit der vagen Aussicht auf den Posten einer Kanzleivorsteherin, war für mich eine absurde und bedrückende Vorstellung. 151

Im Februar 1967 überredete ich meinen Mann, mit mir auf den Bonbonball zu gehen. Er stimmte zu, denn wir erhofften uns Gratis-Süßigkeiten. Man warf dort Pralinen in die Menge! Natürlich konnten wir uns keinen Tisch leisten, sondern wanderten zwischen den Tänzen durch die Gänge des Wiener Konzerthauses, in dem der Ball stattfand. Plötzlich redete uns ein älterer Herr an, stellte sich als Besitzer einer Mannequinschule vor und beschwor mich, in seinen Kurs zu kommen, ich sei groß und schlank und könnte als Mannequin viel verdienen. Ich lachte ihn aus, denn ich war so ziemlich die Einzige in unserer Klasse gewesen, die keinerlei Interesse daran gehabt hatte, Filmstar, Mannequin oder Stewardess zu werden. Ich wollte immer nur zeichnen, Künstlerin werden oder zumindest einen künstlerischen Beruf ausüben. Der ältere Herr sprach uns wieder und wieder an, sodass ich schließlich – um ihn endlich loszuwerden – sagte, ich würde den Kurs besuchen, aber er müsse sich die Kursgebühr von meinem ersten Engagement einbehalten. Zu meiner Überraschung sagte er sofort zu. Er musste also tatsächlich Jobs für seine Kursteilnehmerinnen haben, was ich sehr bezweifelt hatte. Ich besuchte dann zweimal wöchentlich nach Büroschluss die Mannequinschule, die Herr M. in der Großwohnung seiner Mutter am Naschmarkt betrieb. Wir waren meist fünf oder sechs Mädchen, denen Herr M. beibrachte, wie man elegant geht, sich richtig schminkt und frisiert. (Mein Mann war so angetan von der Idee, mit einem richtigen Mannequin verheiratet zu sein, dass er während dieser Kurstage das Kind abholte und einkaufen ging.) Am 24. April 1967 gab es eine Prüfung vor einer Jury. Wir zeigten, dass wir einen Schirm graziös ruckartig öffnen und elegant drehen konnten, während wir anmutig über einen imaginären Laufsteg schritten. Wir bekamen sogar ein Zeug152

nis, unterschrieben von einem Kürschner, einem Friseur und Herrn M. Letzterer hatte von mir bei Kursbeginn keinen Groschen Kursgeld erhalten. Er musste mir also ein Engagement vermitteln. Er brachte mich und ein anderes Mädchen schon Ende März persönlich zu einer Textilagentur, die verschiedene englische Firmen in Wien vertrat. Erstaunt schlüpfte ich in das erste Minikleid meines Lebens – und siehe da: Die von Mary Quant in London erdachte Minimode passte mir. Ein kurzer Körper und lange Beine waren plötzlich von Vorteil! Die von mir bis dahin als ideal angestrebte (und nie erreichte) Wespentaille, wie man sie für die damenhafte Mode und die Petticoat-Zeit gebraucht hatte, war nicht mehr nötig. Der Chef der Modeagentur engagierte mich sofort für die Modewoche, und ich stolzierte Anfang April 1967 vor seinem Stand und durch die Hallen des Messepalastes als Mannequin, ja begrüßte bei der Eröffnung der Wiener Modewoche sogar Bürgermeister Marek! Den Vis-à-vis-Stand einer Vorarlberger Firma betreute Herr Böhm, ein Textilvertreter dieser Firma. Wenn keine Kunden kamen, tratschten wir. Ich erzählte ihm von meinem Bildhauereistudium und meinem Wunsch, Grafikerin zu werden, und er gab mir sofort einen Auftrag. Ich sollte eine originelle Zeichnung für eine Karte machen, mit der er seine Besuche bei Kunden in der Provinz ankündigen wollte. Ich bemühte mich sehr, aber damals schon fiel mir auf, dass ich für Comics keinerlei Talent besaß. Herr Böhm jedoch fand die Karte reizend und zahlte mir 500 Schilling. Ich schrieb sorgfältig eine Rechnung mit der Schreibmaschine, denn das war ja mein erlernter Beruf. Für die Modewoche hatte ich mir nur Urlaub genommen, und Mannequin zu spielen kam mir eigentlich wie ein Scherz vor. Doch bald begriff ich meine Chance: Wo, wenn nicht auf der Wiener Modewoche, traf ich Leute, die Illustrationen 153

brauchten oder Entwürfe für Kojen, ja vielleicht sogar Modezeichnungen und Plakatentwürfe? Die Herbst- und Frühjahrsmodewochen 1968 und 1969 verbrachte ich teils bei der genannten Textilagentur, teils bei der Firma Schneiders, wo ich Mäntel vorführte. Diese Jobs bekam ich nicht mehr von Herrn M., sondern ich wurde von anderen Mannequins gratis vermittelt, wie das damals – mangels großer Modelagenturen – normal war. Im Juni 1968 schickte ich einige Fotos, die ein AMS-Schulkollege von mir gemacht hatte, an die erste Modelagentur Wiens (Heinz Sebek). Herr Sebek lud mich ein, weil ihm mein Brief gut gefallen hatte. Ich unterschrieb einen Vertrag, und man brachte mich gleich zu einem Werbe- und Modefotografen namens Nowotny. Wenig später posierte ich im Studio Nowotny in einem selbst entworfenen und genähten Bikini aus silbernem Kunstleder mit einer BP-Motoröl-Dose in der Hand. Diesem Auftrag folgten weitere bei guten Fotografen wie Skrein, Wenzel-Jelinek, Niebuhr, Pletersky und EuropaStudio, sodass ich bald daran dachte, meinen Brotberuf im Büro aufzugeben. Auf der Frühjahrsmodewoche 1968 gab mir Herr Böhm für die Modewoche im nächsten Jahr einen Auftrag für eine Kojenwand mit Illustration, und er vermittelte mir einen Auftrag seiner Firma über eine Winterkollektion für das Jahr 1969. Ich zeichnete viele Entwürfe und sandte sie nach Vorarlberg. Die Direktricen der Firma konnten aus Zeitmangel nicht mehr alle Modelle in Entwürfen schneidern, sodass man mir Stoffcoupons* schickte, aus denen ich die ausgewählten Modelle schneidern sollte, natürlich ohne Futter und großen Aufwand. (Leider hatte ich Herrn Böhm erzählt, dass ich meine gesamte Garderobe selbst nähte.) Ich kaufte mir eine Elna-Nähmaschine, schneiderte abends, nachdem ich Kind und Mann versorgt hatte, in meiner winzi154

Abb. 22: Als Mannequin auf der „Wiener Modewoche“ im ­Messepalast mit Handelsminister Otto Mitterer und Bürgermeister Bruno Marek (um 1969)

gen Küche auf dem verlängerten Fensterbrett eine Kollektion von sieben Modellen. Praktischerweise nähte ich nach meinen eigenen Maßen, und mein Mann fotografierte mich darin. Die Modelle wurden in Vorarlberg erzeugt, danach nochmals bei einem professionellen Fotografen mit mir als Model fotografiert und in Modefachzeitschriften beworben. Die Firma wurde im Jahr darauf leider an ein deutsches Unternehmen verkauft, das eigene Leute einsetzte. Und ich hatte mich so auf eine Karriere als regelmäßig engagierte Modedesignerin gefreut! Schließlich hatte ich doch auch schon einen diesbezüglichen Preis gewonnen: Im März 1968 sah ich in einem Kaufhaus auf der Mariahilfer Straße einen Aufruf, Badeanzüge und T-Shirts zu gestalten. Ich bekam einige Vordrucke – mit den Umrissen dieser Kleidungsstücke bedruckt – und gestaltete noch am gleichen Abend mein Siegermodell. Beim Waschen der kleinen Wä155

sche fielen mir die vielen schillernden Seifenblasen im Wasch­ becken auf und wie schön sie waren. Ich malte also Wasserblasen auf die Badeanzugsvorlage, gewann damit den ersten Preis für Badeanzüge und wurde im Mai auf drei Tage in die Schweiz zur Firma Helanca eingeladen. Mein erster Flug! Im selbstgemachten Frühjahrskostüm und mit Hütchen! Ich war buchstäblich im Himmel! Im Flugzeug fragte ich Herrn Hirschauer, einen professionellen Grafiker und Gewinner des T-Shirt-Preises, was eigentlich ein Grafiker für Aufgaben hätte und was ein „Layout“ sei, ein Begriff, den ich öfter in Jobannoncen in der Zeitung gelesen hatte und für französisch hielt. Demgemäß sprach ich ihn auch „Lajou“ aus, was Herr Hirschauer erst nicht verstand, bis er schallend lachte. Wir flogen etwa zwei Stunden bis Zürich, und in dieser Zeit erhielt ich einen Überblick über ein Arbeitsgebiet, das mich faszinierte: Werbegrafik. Doch der Weg dahin war noch weit, denn vorerst arbeitete ich noch immer im Patentanwaltsbüro als Sekretärin. Niemand dort wusste von meinen „Seitensprüngen“ in die Welt der Mode und meinem Traum, Grafikerin zu werden. Immer wieder überlegte ich, ob ich meinen sicheren Job aufgeben sollte. Als Model und Mannequin würde ich es einrichten können, nachmittags oft daheim zu sein, und hätte schon gekocht, wenn mein Sohn heimkäme. Außerdem hätte ich dann mehr Zeit und Möglichkeiten, mich um Jobs als Grafikerin oder Modedesignerin zu kümmern. Im September 1969 kündigte ich schließlich meine Stellung im Patentanwaltsbüro. (Als mein Chef erfuhr, warum ich kündigte, fragte er neugierig, ob es denn nicht üblich sei, dass Models mit den Fotografen schlafen müssten. Ich sagte: „Nein, Herr Ingenieur, und kein Fotograf steckt mir das Honorar ins Dekolleté!“ Der Patentanwalt lachte herzlich, denn es war seine Gewohnheit, Extrageld für zu spät angekündigte Überstunden in das Dekolleté der betreffenden Mitarbeiterin 156

Abb. 23: Traute Molik-Riemer und Herr Hirschauer, der zweite ­Gewinner eines Modedesign-Wettbewerbs, auf der gewonnenen Reise in Zürich (1968)

zu stecken. Keine von uns nahm ihm das übel, weil damit keinerlei sonstige Zudringlichkeiten verbunden waren und er ein äußerst netter und sozialer Chef war – Eis für alle vom Schwedenplatz an heißen Tagen!) Nun musste ich versuchen, Design- und vor allem grafische Aufträge zu bekommen. Mit 27 Jahren war mir bewusst, dass ich nicht ewig als Model arbeiten konnte. 157

Ein weiterer Sidestep* auf dem Weg zur professionellen Grafikerin war das Styling von Halsbändern, die Anfang der Siebzigerjahre sehr modern waren. Ich kaufte mir Samtbänder und Schmuckzubehör und bastelte eine Kollektion von rund zwanzig verschiedenen Halsbändern, die ich Firmen anbot. Sogar der Textilriese Schöps bestellte bei mir Halsbänder! Ich schrieb darüber einen Artikel für die Kronenzeitung, den Redakteur Reinald Hübl in der neu gegründeten Sonntagsfarbbeilage veröffentlichte. Gleichzeitig gab er mir einen Auftrag für Illustrationen zu den Krimigeschichten der Beilage. Das war endlich ein künstlerischer Job! Leider wurde diese Farbbeilage im März 1971 wieder eingestellt, nicht allerdings meine Zusammenarbeit mit der Krone als Fotomodell. Ein Redakteur beschwerte sich zwar, dass ich das einzige Krone-Model sei, das auch noch Geld verlange. (Andere wären froh, überhaupt in die Zeitung zu kommen, sagte er.) Aber er schätzte meine Pünktlichkeit und Wandelbarkeit sowie die Ideen, die ich einbrachte. Einen Aktenordner mit Paragraphenzeichen fertigte ich sogar selbst für ein Foto an, allerdings mit dem Hintergedanken, ihn so groß zu machen, dass ich dahinter meinen Badeanzug verstecken konnte – zum Verdruss des Fotografen, der sich ein „Nackerpatzl“ erwartet hatte. Dennoch verzieh man mir auch, dass ich gleichzeitig für den Kurier Fotos machte, was sonst nicht geduldet wurde. Aber ich sah mit verschiedenen Perücken immer anders aus, sodass meine eigenen Eltern mich nicht erkannten. Mein Vater wusste bis zu seinem Tod nicht, was ich so trieb. Er hatte – wie viele Menschen damals – ein völlig falsches Bild vom Beruf eines Mannequins. Meine Schwiegermutter hingegen sammelte alle Fotos von mir und kaufte sich selbst eine Perücke. Ihre Schwester war Schneiderin bei Henryk am Graben gewesen und wusste, dass Mannequin ein anstrengender und durchaus seriöser Beruf war. 158

Durch die Halsbänder kam ich auf die Idee, Gürtel mit einschiebbaren Fotos zu machen. Schon geübt im Basteln, fertigte ich mehrere Gürtel und präsentierte sie einer Gürtelfirma in Wien, die sofort die Erzeugung aufnahm. Für diese Gürtel erfand ich den Markennamen „loving ring“ und bat am 6. Juli 1970 sogar beim Patentamt um eine Prüfung, ob die Marke für Gürtel frei sei. Ich schickte Fotos – mit mir als Model – an die Micky-Maus-Zeitung und den Express, die beide über meine Erfindung schrieben. Der Kurier ließ mich von Fred Riedmann fotografieren und brachte 1971 einen Artikel. Eine wunderbare Werbung für die Gürtelfirma – für mich eine weitere lehrreiche Erfahrung: Ausgemacht waren zehn Prozent vom Gewinn der Gürtel. Am Jahresende sagte man mir, man wisse nicht genau, wie viele der Gürtel verkauft seien, und bot mir ein ziemlich schäbiges Abstandshonorar. Mir war Streit immer zuwider und ab diesem Zeitpunkt die ganze Modebranche. Ich stand vor der Entscheidung, mir eine eigene Erzeugung aufzubauen oder aufzugeben. Aber wollte ich nicht eigentlich nur Grafikerin und Illustratorin sein? Unser Sohn war schon in der ersten regulären Klasse des Lyzeums unglücklich gewesen, da die neue Lehrerin sehr streng auftrat. Außerdem stellte sich heraus, dass ihm ein Hörproblem auf einem Ohr das Verstehen der französischen Sprache erschwerte. Auch die vielen Aufgaben, insbesondere in der zweiten Klasse, hinderten ihn daran, sich nach der Schule zu erholen. Es gab mehrere Kinder in seiner Klasse, die vorzeitig während des Schuljahres austraten, weil sie den Stress nicht mehr aushielten. Wir wollten das Kind nicht quälen, versuchten es noch mit einem Unterstützungskurs, in den ich ihn zweimal in der Woche brachte, beschlossen aber bald, ihn ab Herbst 1971 in eine normale Volksschule zu geben. 159

In der Volksschule in Penzing gab es weniger Unterrichtsstunden und damit für mich weniger Freizeit. Ich musste zu Mittag für das Kind kochen und meine berufliche Arbeit besser einteilen, denn die Aufträge aller Art begannen sich zu häufen. Um meinem ungelernten Quereinstieg in die Werbegrafik eine gewisse Seriosität zu geben, hatte ich mir schon 1969 in der Salesianergasse einen Gewerbeschein für das freie Gewerbe der Werbegestaltung gekauft und mir eine Steuernummer zugelegt. Den Umstand, dass ich Rechnungen ausstellen konnte, betonte ich bei jedem Kunden zuerst, damit man nicht glauben sollte, ich mache meine Arbeit als Hobby oder gar schwarz. Ich begann meine Karriere als Selbständige mit den verschiedensten Arbeiten, die vorerst noch mit den Modewochen zusammenhingen: Für die Firma Schindler-Weben entwarf ich eine Koje mit einer Wand aus silberfarben gespritztem Styropor. Sie lenkte leider das Auge des Brandschutzfachmannes auf sich und musste abgeräumt werden. Ich bezog die Wand also in der Nacht vor Eröffnung der Messe mit Silberfolie und klebte darauf eine Modezeichnung in Lebensgröße. Die nächsten Tage arbeitete ich – noch erschöpft von der Kojengestaltung – als Mannequin in der gleichen Koje und führte Blusen vor. Die Firma Huber-Wäsche lud mich zu einer Besprechung mit der Seniorchefin in eine Konditorei auf der Kärntnerstraße. Man hatte mir vorher gesagt, die Firma Huber wolle die Kollektion jugendlicher und moderner gestalten. Ich zog mich also entsprechend modisch an: weißer Minirock, weißer Kurzmantel und eine rote Schirmkappe. Die Seniorchefin, eine ältere, behäbige Dame, kam im Hubertusmantel und sah mich entgeistert an: So modisch hatte sie sich ihre Kollektion nicht vorgestellt. Wir redeten eine Weile aneinander vorbei, und ich war wenig später froh, meine Kreativität nicht an Unterwäsche verschwendet zu haben, denn die gestalterischen 160

Möglichkeiten bewegen sich bei Wäsche in sehr engen Grenzen. Ich weiß nicht mehr, wie ich zu der Bekanntschaft eines Mitarbeiters der Firma EVVA-Schlüssel kam, jedenfalls war das der größte Flop meiner Laufbahn als Neo-Grafikerin: EVVA besaß hundert circa 70 Zentimeter lange Werbeschlüssel aus Plastik und wollte diese auf schön gestalteten Platten als Auslagenwerbung einsetzen. Ich machte drei Entwürfe und ließ den Druck der Kartons kalkulieren. Er war so teuer, dass für mich vom Werbebudget der Firma nur wenig übrig blieb. Dennoch bot ich an, die Schlüssel selbst auf die Kartons zu kleben und die Kartons wiederum auf Styroporplatten. Unerfahren, wie ich war, stellte ich mir das einfach vor. Als Styroporplatten, Kartons und Schlüssel schließlich in unserer 44-Quadratmeter-Wohnung aufgestapelt waren, konnten wir das Schlafzimmer nicht mehr betreten. Der penetrante Geruch des Styroporklebers zog durch die ganze Wohnung, der Karton wellte sich, die Schlüssel fielen – trotz Kontaktkleber – immer wieder ab! An diesem Auftrag verdiente ich weder Geld noch Ruhm. Tapfer hielten mein Sohn und mein Mann die „learning-by-doing“-Schwierigkeiten ihrer Mutter und Ehefrau aus. Denn so viel Arbeit ich auch auf mich nahm, ich kochte brav jeden Tag zweimal warmes Essen und machte die Wohnung nach meinen Eskapaden immer wieder blitzsauber. Ein Fotoauftrag für die Firma Licona brachte mich mit deren Werbeagentur Hager zusammen. Ich fror im Spätherbst 1969 in einem Kettenhemd elendiglich auf dem Asperner Flugplatz. Der Wind wehte eiskalt und verschob immer wieder die Bügelfalte des Kollegen, der den Anzug vorführte. Die Aufnahmen für ein Plakat dauerten endlos. Immer wieder wurden wir in einem Bus mit Tee erwärmt, aber die Gänsehaut kam sofort, wenn ich wieder im Freien war. Doch für 5000 Schilling an einem Nachmittag – übrigens meine höchste Gage für einen einzelnen Tag – hält man das aus … 161

Traumgagen, wie sie heute an Supermodels bezahlt werden, gab es noch nicht. Auch schminken und stylen mussten wir uns fast immer selbst. Manchmal wurde sogar diese oder jene Kleidung verlangt, und selbstverständlich brachte man zu Modeschauen eigene passende Schuhe mit. Da der Dressman bei diesem Job gleichzeitig der Grafiker der Agentur Hager war, gab ich ihm meine Telefonnummer und bat ihn, mich anzurufen, falls in der Agentur irgendwelche Illustrationen benötigt würden. So erhielt ich meinen ersten Auftrag von einer professionellen Werbeagentur, und zwar für sogenannte Storyboards. Das sind Skizzen, die den Ablauf eines (Werbe-)Films festhalten, in diesem Fall war es ein Film für Waschmittel. Die Hager war damals eine der wenigen größeren Agenturen. Viele der später berühmten Agenturen bestanden in den frühen Siebzigerjahren aus einem Chef und einer Sekretärin. Die Chefs waren zum Teil Quereinsteiger wie ich, denn eine Ausbildung für Werber gab es noch gar nicht. Man arbeitete eine Zeit lang in der Werbeabteilung von Henkel oder bei Unilever und machte sich dann selbständig. Für Präsentationen holte man sich Freelancer* wie mich. Dem Auftrag bei Hager folgten gelegentliche kleine Jobs bei Ogilvy & Mather oder J. W. Thompson. Doch es kam vorerst zu keiner dauernden Zusammenarbeit, bis ich später unter die Obhut der Chefgrafikerin bei Gramm & Grey kam, die mir das Rüstzeug einer Agenturgrafikerin vermittelte. Sie selbst entwarf die damals sehr aufwendigen EduschoAuslagendekorationen, hatte aber nicht mehr die Zeit, diese in Originalgröße zu malen, da die Werbung in Österreich im Aufwind war und die Agentur viele Präsentationen machte, bei denen ihre Mitarbeit nötiger war. Später durfte ich ihr in der Agentur bei ebendiesen Präsentationen helfen. So kam eins zum anderen und ich meinem eigentlichen Ziel immer näher. 162

Abb. 24: Titelseite eines ­Katalogs der Fa. Licona (Wintermode 1970)

Zwischendurch ergaben sich immer wieder Modeschauen. Im Herbst 1972 wurde ich z. B. von der Landesinnung der Wiener Kürschner, Handschuhmacher und Gerber für zehn Modeschauen im Messepalast engagiert, jeweils von 10 bis 12 163

Uhr und 15 bis 16 Uhr, sodass ich zu Mittag heimfahren konnte, Essen kochte und mit meinem Sohn dann wieder zum Messepalast kam. Die Shows waren schlecht bezahlt: 2500 Schilling für zehn Auftritte. Aber die Innung sprach einen in der Korrespondenz mit „Euer Wohlgeboren“ an, und man durfte Pelze tragen, die man sich privat nie leisten konnte. Mein Sohn besuchte ab Herbst 1973 eine Hauptschule in der Nähe der Märzstraße und kam meist gegen 13 oder 14 Uhr heim. Auslagengestaltungen konnte ich mir dementsprechend einteilen. Leider brauchten meine Kunden auch Auslagengestaltungen in den kalten Wintermonaten, was nicht sehr angenehm war. Gerne nahm ich deshalb nebenher noch immer Modelaufträge an. So wurde ich für Werbefotos im Hotel Tulbingerkogel engagiert, saß mit einem anderen Model und einem Dressman dekorativ in der Bar, beobachtete das Grillen eines Spanferkels und lehnte entspannt in einem Ledersessel. Zu diesem Termin nahm ich meinen Sohn mit. Als ich in einer der nächsten Wochen leider einen Nachmittagstermin hatte und er ein Schlüsselkind war, suchte er aus meinem Adressbuch die Nummer des Tulbingerkogels ­heraus und bat den Chef des Hotels um ein Rezept für Linsensuppe, denn er wollte mich am Abend mit einer fertig gekochten Linsensuppe überraschen. Mein Sohn war damals etwa elf Jahre alt und ging mit diesem Telefonat den ersten Schritt in sein späteres Berufsleben – er lernte Koch. Im Studio Pletersky, wenn ich nicht irre, machte ich in dieser Zeit Fotos für Triumph-Wäsche. Wenig später bot mir der Marketingchef von Triumph Wäschemodeschauen in den Kaufhäusern Gerngroß, Herzmansky und Steffl an. Ich lehnte es aber ab, in Unterwäsche auf den Laufsteg zu gehen, da ich fürchtete, Schulkollegen meines Sohnes könnten mich sehen und ihn hänseln. Kurz vor Beginn der Shows rief mich der Triumph-Mitarbeiter erneut an und sagte, die Moderatorin 164

Inge Toifl* sei ausgefallen. Wenn seinem Chef meine Stimme so gut gefiele wie ihm, könnte ich Frau Toifl ersetzen. Ich schickte ein Tonband und wurde engagiert. Als Moderatorin musste ich mich ja nicht ausziehen, sondern trat im selbstgestrickten Minikleid auf, insgesamt drei Wochen lang. Dort lernte ich viele Kolleginnen kennen, für die ich bis heute jährlich ein Treffen organisiere. Für Triumph war es sicher ein Geschäft, denn sie Abb. 25: Mit Sohn Bernhard bei einer Modeschau im Kaufhaus zahlten mir nicht das Hono­Gerngroß (1974) rar der Fernsehsprecherin, sondern das der Mannequins. Da einige Modeschauen nachmittags stattfanden, fuhr ich mittags heim und nahm meinen Sohn mit in die Kaufhäuser. Er machte in der Umkleidekabine seine Aufgaben, während ich zwischen den einzelnen Auftritten strickte. Gerne hätte er auch vorgeführt oder Fotos gemacht, aber ich wollte nicht, dass er während der Schulzeit arbeitete. „Wenn du aus der Schule bist“, vertröstete ich ihn. Aber dann hatte er – zum Glück – andere Interessen. Im Mai 1971 hatte mir mein Mann ein aus zwei Teilen zusammengeschweißtes Havarie-Auto, Marke Ford Escort, gekauft, das neu lackiert auch wie neu aussah. Ich fuhr damit 1971 nach Laxenburg zu einem meiner ersten Einsätze als Edelstatistin – das waren Jobs, die mit je 1500 Schilling und einem Fresspackerl abgegolten wurden. (Edelstatist ist, wer einen Satz sagen muss. In dem Film „Und Jim165

my ging zum Regenbogen“ nach einem Roman von Johannes Mario Simmel schrie ich für diese Gage einmal laut auf.) Leider nötigen Statistenjobs zu sehr frühem Aufstehen. Als ich um 6 Uhr in Laxenburg für einen Fernsehfilm mit Marisa Mell eintrudelte und dort ungeschminkt und unausgeschlafen vor dem Schminktisch saß, sagte der Produktionsleiter grinsend: „Jetzt siecht ma, dass du scho a Altspatz bist …“ Da beschloss ich, meine Finger vom Filmgeschäft zu lassen, denn Charakterrollen gingen über meine Fähigkeiten. Ab dreißig wurde ich natürlich langsam für die Film- und Modelbranche zu alt, denn Photoshop*, das heutzutage die Models um Jahrzehnte verjüngen kann, gab es noch nicht. Auch die Auslagendekorationen wurden mir zu mühsam. Die Auslagendekorationen gab ich an einen Dressman weiter, der ebenfalls zur Mode einen Zusatzverdienst brauchte. Mir kam daher 1972 eine neue Bekanntschaft gerade recht, die ich bei einer Filmpremiere machte, bei der ich als Model„Aufputz“ eingeladen war. Herr Kremsner, Chef der Wiener Vertretung der Centfox*, saß neben mir und klagte, dass sein Plakatmaler demnächst in Pension gehen würde. Ich schwärmte ihm vor, dass ich Bildhauerei studiert hätte und wie gut ich Menschen malen könne. Schon anderntags kam ich in sein Büro in der Neubaugasse, um mir Unterlagen für ein Plakat abzuholen, das ich für das Wienzeile-Kino malen sollte. Aber wo? Unser Vorzimmer war etwa zweieinhalb Meter lang bis zur Türöffnung ins Wohnzimmer und verspiegelt, um dem engen Raum eine gewisse Weite zu verleihen. Ich kaufte eine Zehnmeterrolle Packpapier, denn 6,70 Meter lang sollte das Plakat sein und 1,30 Meter hoch. Ich klebte die ersten zwei Meter auf meinem Vorzimmerspiegel fest. Mit Deckfarben malte ich nach einem kleinen Entwurf zwei Meter aus und rollte das Papier dann weiter. Der Besitzer des Kinos war zufrieden, und ich bekam den Job. Fast wöchent166

lich konnte ich ein Plakat malen, abends liefern und dann gratis ins Kino gehen. Manchmal bekam ich auch einen Auftrag von MGM* dazu und verdiente damit ganz gut. (800 Schilling pro Schriftplakat und 200 Schilling zusätzlich, wenn Schauspielerporträts zu malen waren. Als zum Beispiel der Film die „Salzburg Connection“ ins Wienzeile-Kino kam, in dem ich als Statistin zu sehen war, malte ich das Abb. 26: Ein Beispiel aus einer Porträt von Hauptdarsteller Serie von Werbeprospekten für Barry Newman, dem späteKüchengeräte der Fa. Kenwood ren Serienhelden „Petrocel(um 1974) li“, aufs Plakat und verdiente an dem Film noch einmal.) Auch bei den Kinoplakaten hatte ich den immensen Vorteil der freien Zeiteinteilung, sodass ich am Nachmittag daheim bei meinem Sohn war und kleinere Aufträge – oft auf dem gemeinsamen Schreibtisch – erledigen konnte. Aber die neue Plakatmalerei brachte ein Problem mit sich: Obwohl ich Schutzfolien auflegte, war unser Vorzimmer nach vier Wochen teilweise mit Farbe versaut. Nach zwei Monaten mietete ich eine ehemalige Waschküche in einem Gemeindebau in der Breitenseer Straße. Mit viel Mühe demontierte mein Mann den Waschofen und spannte eine dünne Holzfaserplatte an zwei Wänden entlang, sodass in der Ecke eine Hohlkehle entstand. Nunmehr konnte ich die Plakate in voller Länge aufspannen und hatte keine Absätze mehr in der Illustration und der Schrift. Auch baute mein Mann einen Arbeitstisch mit ei167

ner von unten beleuchteten Glasplatte als Durchsichtvorrichtung. Diesen Tisch benütze ich heute noch als Schreibtisch. Eine Weile war ich noch als Mannequin tätig. Ich vertrat andere Mädchen, die gerade krank waren oder einen lukrativeren Fotoauftrag bekommen hatten, hin und wieder auf Modeschauen. Als ich jedoch Anfang 1975 bei Diners Club als Grafikerin empfohlen wurde, gab ich auch die Modeschauen auf. Der Diners Club war für mich ein so elitärer Kunde, dass ich mir sogar einen Hosenanzug in der dunkelblauen Firmenfarbe kaufte, um dort positiv aufzufallen. Hätte man mich beispielsweise bei „Senior Aktuell“ auf dem Laufsteg gesehen, wäre mein Image zerstört gewesen … Im Juni 1977, als unser Sohn die Hauptschule beendete und in die Gastgewerbefachschule am Judenplatz eintrat, waren also auch meine „Lehr- und Wanderjahre“ durch mehrere grafische Berufe schon abgeschlossen. Endlich wurde meine Kreativität nicht mehr an alle möglichen Nebenjobs vergeudet, sondern zielgerichtet für die Werbung eingesetzt. Ich arbeitete als ständig beschäftigte, freischaffende Grafikerin und Illustratorin für eine der besten Werbeagenturen der Stadt (TEAM Austria/BBDO) und den Diners Club, um den mich selbst Agenturen beneideten. Ich wurde sogar Mitglied bei Design Austria, der Standesvertretung der Werbedesigner, und übte diesen Beruf selbständig und professionell mit eigenem Atelier aus, bis ich 1997 in Pension ging.

Hausfrau und Hausbesitzerin Durch das Heranwachsen unseres Sohnes und meine wachsende Arbeitskapazität wurde die Wohnung für uns immer beengter, obwohl wir jeweils die umfangreicher gewordene Sommer- und Wintergarderobe saisonweise nach Strasshof auslagerten. Wir hatten dort inzwischen auf dem Grundstück 168

meiner Eltern mit dem Bau eines Hauses begonnen, das wir damals nicht ganzjährig bewohnen konnten. Ich musste als Werbegrafikerin jederzeit abrufbereit sein, und mein Mann hätte viel zu lange Anfahrtswege zu seinen Baustellen gehabt. Dennoch nahm das Haus über mehr als zwei Jahrzehnte einen Teil meiner hausfraulichen Aufmerksamkeit in Anspruch. Unser Sohn war 1975 zwölf Jahre alt, benötigte alle Arten von Sportgeräten, weil er reiten und Ski fahren ging. Sein Fahrrad stand sowieso immer in Strasshof, denn selbst in unserem winzigen Kellerabteil in Wien war kein Platz mehr. Er war auch inzwischen so groß geworden, dass er fast an die Türstöcke in der kleinen Wohnung anstieß. Unser Traum, dass die über achtzig Jahre alten Nachbarn ins Altersheim ziehen würden, erfüllte sich zwar, aber deren fünfzigjährige Kinder rückten sofort nach. Sie wohnten zwar nicht dort, hielten aber die Wohnung durch Zinszahlung für ihre eigenen Enkel frei. Wir begannen also nach einer geeigneten Miet- oder Eigentumswohnung Ausschau zu halten, denn ich brauchte unbedingt einen eigenen Raum als Atelier. Drei Zimmer, Küche, Bad waren meine Vorstellung, doch sah ich mich 1976 mit Wohnungsablösen* von fast einer halben Million Schilling konfrontiert, Eigentumswohnungen kosteten in der Regel das Dreifache. Beim Studium der Anzeigen fielen mir immer wieder Zinshäuser auf, die damals – im zweiten Bezirk zum Beispiel – um 200 000 Schilling angeboten wurden, allerdings alle Wohnungen voll belegt, als Investitionsobjekt. Im Herbst 1976 gelang mir dann das Kunststück, ein kleines, billiges Zinshaus in der Nähe des Brunnenmarkts mit zwei freien Wohnungen zu finden, eine dritte Wohnung, Zimmer, Küche, Kabinett, wurde von einer alten Dame bewohnt. Sie wurde zur „Hausmutter“, als wir einzogen. Es dauerte allerdings ein Jahr, bis mein Mann zusammen mit seinem Vater das über hundert Jahre alte Haus so weit renoviert hatte, 169

dass man Möbel kaufen konnte. Immer noch war es Mode, Wände mit dunklen Stofftapeten zu bekleben, und ich kaufte einen weinroten Spannteppich, wie ich ihn bei Freunden gesehen hatte. Meine Schwiegermutter sah diese Spannteppiche immer mit scheelen Augen an, hielt sie für Staubfänger. Ich hielt dagegen, dass sie – wie eine Wiese – den Staub binden und ohnehin regelmäßig gesaugt würden. Jetzt war nämlich der große Hoover-Staubsauger endlich in seinem Element: Wie mit einem Rasenmäher fuhr ich durch die Zimmerfluchten, denn sogar in meinem Atelier lag der Spannteppich, um Wohngefühl zu verströmen. Mehr als 100 Quadratmeter hatte der Staubsauger nun zu bewältigen, denn nur in Vorzimmer, Bad und Küche gab es glatte Bodenbeläge, die ich aufwischte. Ich hatte auch in diesem großen, zweistöckigen Zinshaus nie eine Bedienerin. Unser neues Badezimmer war mit acht Quadratmetern so groß wie seinerzeit in Favoriten meine ganze Wohnung. Unser Haus stammte aus dem Jahre 1868, und darauf waren wir stolz, denn bei einer Reise nach Amerika hatten wir gesehen, dass Gebäude dieses Alters in Amerika schon zum „National Monument“ erklärt wurden. Wir kauften 1977 eine Waschmaschine, die im Keller stand, denn wir fürchteten ihre Vibrationen auf den alten Dippelbäumen* im Haus. Für die Küche kauften wir einen Herd mit Ceranfeld, wie es damals neu aufkam. Mein Mann war dagegen, denn er fürchtete, ich würde den schweren, neuen Schnellkochtopf darauffallen lassen und damit 6000 Schilling mit einem Schlag ruinieren. Das Ceranfeld dient mir heute noch, 35 Jahre später, in der nämlichen Küche, aber in einem anderen Haus … Ich wünschte mir eine Nirostafläche in der Küche, die in die Abwasch münden sollte. Wir bestellten sie bei „Diana“ im zweiten Bezirk, erhielten – aus Versehen vermutlich – die teurere mit dem Salatwaschsieb zwischen den beiden Ab170

waschbecken geliefert. Wir meldeten das nicht, denn unsere Rechnung bei dieser Firma betrug mehr als 100 000 Schilling, sodass ich es als kleines Extrageschenk ansah. Die Strafe folgte, denn ich brauchte diese Mulde fast nie, musste sie aber die 25 Jahre, die ich dort wohnte, putzen! Die Nirostafläche liebte ich dennoch, denn egal, welche Wirtschaft man machte, alles war mit einem Wischer weg. Auf der Gegenüberseite der Küche befand sich der Herd, eingebaut in eine Kachelfläche. Diese war wesentlich schwerer zu pflegen, insbesondere wenn Fettspritzer, die fast unvermeidlich vom Herd kamen, zu entfernen waren. Die dicken Küchenplatten aus Pressholz gab es damals – glaube ich – noch nicht, oder sie gefielen mir nicht. Also plagte ich mich jahrelang mit den Fliesen, die in dieser rustikalen Eichenholzküche stilgemäß leicht rau waren. Wir konnten unser neues Glück und den vielen Platz gar nicht fassen. Ich bestand darauf, die Wohnung nicht mit Möbeln voll zu räumen. So standen im Wohnzimmer nur eine Sitzgarnitur mit zwei Fauteuils, ein niedriges Bord neben der Sitzgarnitur und ein von meinem Mann über eine ganze Wand gebautes Bücherbord. Im anschließenden Zimmer standen ein großer Schreibtisch und ein Klavier, das im Haus gewesen war – allerdings so schwer beschädigt, dass wir es ausräumten und als Hausbar einrichteten. Dann kam mein Atelier, an welches zum Hof hin das Schlafzimmer angrenzte, mit zwei großen, deckenhohen Kästen und einem Bett, aus! Ich wollte meine Reise mit dem Hoover-Staubsauger durch keine Kleinmöbel gebremst wissen. Zur Gasse hin befanden sich sieben Fenster, zum Hof – mit einem wunderschönen Kastanienbaum – gab es sechs Fenster. Aber das war nur der zweite Stock. Im ersten Stock lebte jetzt mein fast erwachsener Sohn in einem Zimmer zum Hof mit eigener Dusche, und mein Mann hatte sich einen Büroraum mit Vorzimmer eingerichtet. Diese 171

beiden Räume benutzte mein Sohn fallweise mit. Mir oblag es dennoch meist, auch dort zu saugen und zu putzen, insbesondere als mein Sohn mit achtzehn praktisch auszog und im Ausland als Koch bzw. in Amerika als Foodproduction-Manager arbeitete. Er hatte also den Luxus des großen, eigentlich für ihn gekauften Hauses nur drei Jahre während seiner Ausbildung genossen. Wenn er heimkam, beklagte er immer die „primitive“ Ausrüstung meiner Küche: Keine Fritteuse, kein „Salamander“ zum Tellerwärmen, keine Edelstahltöpfe – nein, das schädliche Email! Aber immerhin hatte ich jetzt eine Geschirrspülmaschine von Siemens und nicht nur einen Kühlschrank, sondern auch einen genauso großen Gefrierschrank. Im Sommer lud ich unsere Freunde ein und veranstaltete im Hof einen Hofheurigen mit Buffet. In diesem Haus begann ein völlig neues Leben für uns. Mit knapp vierzig Jahren hatten wir unseren ersten komfortabel ausgestatteten Haushalt. Der Preis für den Luxus war, dass ich keine Minute mehr Zeit hatte. Nach einem hastigen Frühstück ging ich in mein Atelier und arbeitete bis Mittag, oder ich fuhr in meinem blauen Escort zu Kunden. Zu Mittag kochte ich nicht mehr, sondern aß ein Stück Brot oder ging unterwegs zu McDonald’s um einen Fisch-Mac. Nachmittags Arbeit. Gegen fünf lief ich auf den Markt, um einzukaufen, kochte schnell, aß häufig schnell, weil noch immer Arbeit anstand. Die Wohnung säuberte ich am Wochenende. Alles musste schnell gehen. Auch ein Essen mit Freunden musste in längstens drei Stunden fertig sein. Nach der Fertigstellung des Hauses versuchte ich meinen Mann zu überzeugen, dass ich eine Putzfrau bräuchte. Er lehnte diese Idee glattweg ab und versprach, selbst im Haushalt zu helfen. Tatsächlich übernahm er Arbeiten, die mit Maschinen zu tun hatten: Er befüllte die Waschmaschine und hängte dann sogar die Wäsche auf. Er entwickelte ein – 172

seiner Meinung nach das einzig richtige – System, die Spülmaschine zu befüllen, und räumte auch das Geschirr aus. Er saugte öfter mit dem leuchtenden Hoover-Staubsauger die Böden. Und er putzte die vorderen Fenster zweimal im Jahr, auf dass die Vis-à-vis-Nachbarn sehen mögen, dass er ein fleißiger Mann sei. Außerdem holte er in der Früh Semmeln vom Markt und kochte mir Tee. Mir war damit wirklich sehr geholfen. Die Putzarbeit und die rückwärtigen Fenster blieben allerdings weiter an mir hängen. Boden aufwischen, Bäder und Toiletten reinigen sowie die Küche putzen waren meine Arbeiten, ebenso das Stiegenhaus, denn ich war gleichzeitig „Hausbesorgerin“. Leider hatten wir es verabsäumt, im Wohnzimmer mit seiner Siebenfensterfront Betty-Lifte zu installieren, sodass das Abnehmen und Wiederaufhängen der Vorhänge eine jährliche Prozedur wurde, die ich immer wieder hinausschob. Ich wusch die Vorhänge in der Badewanne mit Fewa und hängte sie halb feucht wieder auf. Sie wurden nicht gebügelt, hingen sich aber schön wieder aus. Übervorhänge oder gar Schabracken hatten wir nicht, sie hätten nur Licht weggenommen. Die Fensterfront in den Zimmern ging ohnehin nach Norden, sodass die Sonne nie direkt in die Räume schien, sondern nur manchmal von den Fenstern der anderen Straßenseite hereingespiegelt wurde. Unsere Heizkörper waren noch älterer Bauart, mit Durchbrüchen, die schwer zu putzen waren. Ich hatte rund zwanzig Heizkörper zu waschen. Natürlich auch eine Arbeit, die ich oft vom Frühjahr bis in den Sommer verschob oder gar ein Jahr ausließ. Die Hausarbeit wurde mir immer unwichtiger, sobald mein Sohn aus dem Haus war. Er ging 1980 nach Amerika und arbeitete dort als Manager in einem Großhotel. Wenn er auf Besuch kam, erwartete er sich zu Hause Hotelqualität und übersah kein Staubkorn. Ich gab ihm schließlich ein Staubtuch und sagte: „Wenn du irgendwo etwas siehst, 173

wisch es bitte selbst ab!“ Seit diesem Tag übersah er meine kleinen Schlampereien gnädig … Es ist halt ein großer Unterschied, ob man etwas selbst machen muss oder anderen anschaffen kann. Ich sah das sehr deutlich, als ich 1978 eine junge Grafikerin einstellte, die mir bei der Arbeit half und das Telefon bewachte, wenn ich bei Kunden war. Sie war fleißig, aber häufig krank. Ich übte mich im Delegieren und Chefinsein, eine Rolle, die mir nicht sehr behagte. Ich war froh, dass meine Angestellte eines Tages kündigte und in eine große Firma eintrat. Dort vergab sie selbst Aufträge, unter anderem an mich. So war ich am Beginn der Achtzigerjahre frei von Sorgen um Kind, Familie und Mitarbeiterin. Ich konnte in meiner Arbeit unbeschwert durchstarten und wenn nötig bis Mitternacht arbeiten. Es war sicher kein Job, der Ruhm brachte, von einem Artikel in einer Fachzeitschrift abgesehen und gelegentlichen Erwähnungen im Gesellschaftsteil dieses Mediums. Aber für mich bedeutet Karriere, wenn man es schafft, trotz gewisser Widrigkeiten, in einem Beruf Fuß zu fassen, in dem man die eigenen Talente voll entfalten kann, der einem Spaß macht und den Lebensunterhalt sichert. Insofern hatte ich mit vierzig Jahren endlich Karriere gemacht.

174

„Ich schrieb und schrieb – Tausende von Seiten“ Ilse Viktoria Bösze wurde am 23. Februar 1942 als Ilse V. Wagner in Wien geboren. Sie war die einzige Tochter eines Eisenbahnbediensteten und einer gelernten Kunstblumenmacherin und wuchs ab 1946 großteils in Kaumberg im südlichen Niederösterreich auf, wo ihr Vater einen Posten als Bahnhofsvorstand innehatte. Nach Abschluss der Hauptschule und einer einjährigen Haushaltungsschule übersiedelte die Autorin gemeinsam mit ihren Eltern 1957 wieder nach Wien. Hier besuchte sie die Handelsschule der Wiener Kaufmannschaft, perfektionierte laufend ihre Maschinschreib- und Stenographiekenntnisse und legte 1966 die Staatsprüfung in Stenotypie und Deutsch ab. Im Jahr darauf heiratete sie und wurde Mutter eines Sohnes; 1991 trennte sie sich von ihrem Ehepartner. Die berufliche Laufbahn der Autorin in der Privatwirtschaft wie im Bundesdienst und die wechselnden Anforderungen des Büroalltags in verschiedenen Branchen und im Verlauf von knapp vier Jahrzehnten sind im nachfolgenden Beitrag ausführlich beschrieben. Neben ihrer Haupterwerbstätigkeit als Sekretariats- und Verlagsangestellte trat Ilse V. Bösze mit einer Reihe eigener Publikationen (wie „Tatort Schule“, „Enrico und das Dorf im Wald“, „Geburtstag auf dem Dachboden“, „Die verschluckte Trompete“, „Die geheime Werkstatt“, „Hundegeschichte mit Rex“, „Mein Osterhasenbuch“) als Kinder- und Jugendbuchautorin in Erscheinung. Einige ihrer Kindergeschichten sind auch unter www.geschichtenbox.com nachzulesen, weitere Texte wurden in Anthologien veröffentlicht. Ilse V. Böszes Erinnerungen an den Erholungsaufenthalt bei einer 175

Schweizer Pflegefamilie in den Nachkriegsjahren wurden 2005 im Band 57 dieser Buchreihe, „Verschickt in die Schweiz. Kriegskinder entdecken eine bessere Welt“, von Anton Partl und Walter Pohl herausgegeben. Der hier veröffentlichte Text konzentrierte sich in einer Erstfassung auf die Wiedergabe von Erfahrungen aus dem Erwerbsleben und wurde von der Autorin auf Anregung hin nachträglich um Aspekte der häuslichen und familiären Arbeitsverhältnisse erweitert. In meinem zehnten Lebensjahr hätte man mich für einen Taferlklassler halten können. Mein Vater nahm meine Größe zum Anlass, mich in die Hauptschule zu schicken. Er meinte, ich sei den Anstrengungen einer Mittelschule nicht gewachsen. Ich wehrte mich dagegen: Was hatte meine Größe mit meinem Geist zu tun? Doch alles Bitten und Betteln half nichts. Nach der Hauptschule log ich den Eltern vor, Kindergärtnerin werden zu wollen. In Wahrheit wollte ich nur nicht in eine Lehre geschickt werden. Dort, so erzählten einige ältere Mädchen, wurden Lehrlinge bloß um Wurstsemmeln für die Angestellten geschickt und lernten kaum etwas. Diese Vorstellung war mir ein Gräuel. In die Kindergärtnerinnenschule wurde man erst mit dem vollendeten fünfzehnten Lebensjahr aufgenommen. Was also tun in dem einen Jahr zwischen vierzehn und fünfzehn? Da bot sich die einjährige Haushaltungsschule wie von selbst an. Ich kam ins Internat nach Baden. Parallel zur einjährigen Haushaltungsschule wurden in der Bundeslehranstalt für Frauenberufe auch die dreijährige und die vierjährige Hauswirtschaftsschule angeboten. Wieder versuchte ich, meinen Vater umzustimmen, er solle mich die vierjährige Schule besuchen lassen, die mit einer Matura abschloss, die – etwas geringschätzig so genannte – Knödelakademie. Leider war meinem Bemühen kein Erfolg beschieden. Inzwischen waren meine Eltern nach Wien übersiedelt. Wieder wollte mich mein Vater in eine Lehre stecken. Nach 176

seinen Vorstellungen sollte ich Buchhalterin werden, wozu ich nicht die geringste Begabung zeigte. Kindergärtnerin wollte ich aber doch nicht werden. Blieb noch die Handelsakademie. Das war meinem Vater wieder nicht recht; dann schon eher die Handelsschule. Die war zwar auch nicht das A und O meiner Vorstellungen, aber ein leidlicher Kompromiss. Über meinen künftigen Beruf machte ich mir keine Illusionen, da mir die Zukunft ohnehin verbaut schien, ohne Studium der Germanistik. Dennoch gab es in der neuen Schule neben Deutsch noch zwei Fächer, die ich lieben lernte: Steno und Maschinschreiben. Vielleicht war der Beruf einer Stenotypistin oder Sekretärin doch nicht so schlecht? Die Jobsuche gestaltete sich schwierig: Annoncen lesen, Bewerbungen schreiben, beim Arbeitsamt nachfragen. Vorher allerdings gönnte ich mir noch einen zweiwöchigen Aufenthalt in der Schweiz bei meinen Pflegeeltern. Schließlich hatten meine Schulkolleginnen die Abschlussreise nach Sizilien machen dürfen, die sich meine Eltern nicht leisten konnten. Es war billiger und für mich die letzte Möglichkeit, die Freifahrt auf der Bahn auszunützen (Vater war Stationsvorstand gewesen und nun im Verkehrseinnahmenamt tätig), denn mit Vollendung des 18. Lebensjahres und Eintritt ins Berufsleben verlor ich diese Vergünstigung. Im Oktober begann ich als Bürohilfskraft in einer Anwaltskanzlei in der Wiesingerstraße nahe der Urania* meinen Dienst. Ich saß allein in einem Vorzimmer, dessen einzige Einrichtung aus meinem Maschinschreibtischchen und einem riesigen Kachelofen in der Ecke des Raumes bestand. Es gab verschiedene handschriftliche Texte in die Maschine zu übertragen, deren Sinn ich nicht verstand. Einmal musste ich die fragmentarische Schrift einer Notiz tippen, die sich auf ein darunter liegendes Blatt Papier abgedrückt hatte. Leider war auch dem nichts Interessantes zu entnehmen, sodass ich zwar ständig zu tun hatte, mich aber dennoch langweilte. 177

Zwei Wochen vergingen, es wurde bitterkalt, ein früher Wintereinbruch stand bevor. Bisher hatte es mir nicht viel ausgemacht, im ungeheizten Raum zu arbeiten, nun aber wurde es ungemütlich. Auch die zwei Stunden Mittagspause, die ich nicht im Büro bleiben durfte, wurden mir jetzt zur Qual. In der Kälte draußen herumzulaufen und dabei mein Mittagsbrot zu kauen, ärgerte und deprimierte mich. In das nahe Gasthaus konnte ich mich nicht setzen, weil ich mir auch das billigste Menü nicht leisten konnte. Ich fror erbärmlich in der kalten Luft und dem eisigen Wind. Zurück im Büro, wo ich um Einlass anläuten musste, erwärmte ich mich auch nicht, denn der Kachelofen blieb kalt, und meine Finger blieben klamm. Ich wurde krank: Schüttelfrost, Schnupfen, Husten, Fieber. Als ich ins Büro zurückkam, wurde ich von der Frau des Anwalts vor der Türe abgefertigt. Alles war offenbar schon vorbereitet: Ein Kuvert enthielt Arbeitsbestätigung, Zeugnis und die Abmeldung bei der Krankenkasse. Das Gehalt wurde mir überwiesen. Wieder begann die Arbeitssuche. Schließlich fand ich bei einer Firma namens Transalpina, einer Gesellschaft für Industriebedarf in der Elisabethstraße eine Stelle. Welch ein Unterschied zu der Rechtsanwaltskanzlei! Die Räume waren hell, sauber und warm und strahlten eine gewisse Vornehmheit aus. Ich wurde einem jungen Ingenieur als Schreibkraft zugeteilt. Mit im Zimmer, gegenüber unseren Tischen, hatten der Prokurist der Firma und seine Schreibkraft ihren Platz. Ich schrieb nach Diktat Briefe und Produkterklärungen, machte die Ablage und lernte so nach und nach die Produkte kennen. Das waren zum einen die sogenannten chopped strains, Glasfaserbündel für den Schiffsbau, und Airex, ein poröser, aber fester Schaumstoff aus der Schweiz. Bald konnte ich, wenn mein Chef nicht da war, auf allgemeine telefonische Anfragen Auskunft geben. Die Arbeit war abwechslungsreich, und sie machte mir Freude. 178

Kurz vor Weihnachten ließ mich der Chef des Unternehmens durch seine Sekretärin zu sich rufen. Ich war ihm bis dahin noch nicht begegnet. Schonend brachte er mir bei, dass ich nicht die richtige Kleidung für sein Büro hätte. Er sagte etwas wie „Kleine-Mädchen-Kleider“ und „junge Dame“, was mich beschämte und freute zugleich, und meinte, ich solle mir doch etwas Hübsches zum Anziehen kaufen. Dafür war wohl das Geld gemeint, das mir die Sekretärin in einem Kuvert aushändigte. Meine Freude war riesig: 500 Schilling! Ein kleines Vermögen für mich. Zwei Kleider, Nylonstrümpfe, Pumps und eine Handtasche konnte ich von dem Geld kaufen. Das eine Kleid war aus rotem Wollstoff im Empire-Stil mit breitem Gürtel und Schnalle unter der Brust; das andere war aus einem leichten, schmiegsamen Wollstoff, grau, mit größerem Ausschnitt und Schalkragen. Leider konnte ich keines der beiden Kleider zur Weihnachtsfeier tragen, da einige Änderungen nötig waren, die vor Weihnachten nicht mehr durchgeführt werden konnten. Die Firma hatte auch die Generalvertretung für das Glaskochgeschirr Pyrex. Für Einfuhr und Vertrieb war die Schwester des Firmenchefs verantwortlich. Leicht beschädigte Ware oder Einzelstücke konnten von den Mitarbeitern zu einem Spottpreis erworben werden. Eine nette Gewohnheit war es, dass die Angestellten am frühen Nachmittag zu einer Tasse Gratiskaffee zusammenkamen. Meine erste Tasse Bohnenkaffee! Ich trank ihn heiß, schwarz und süß. Mutter brühte nur Kathreiner’s Malzkaffee auf, mit einer Spur Bohnen darin. Eines Tages erschien die Gattin meines Chefs mit ihrer kleinen Tochter, einem aufgeweckten Mädchen. Sie stellte sich vor dem Prokuristen in Positur und fragte: „Willst du ein hübsches Liedchen hören?“ Überrascht sagte er „Ja“, wohl in Erwartung, die Kleine werde ihm etwas vorsingen. Doch die zeigte auf das Radio auf dem Fensterbrett und sagte: „Dann 179

dreh das Radio auf!“ Dieser Satz der Kleinen wurde in meiner Familie zu diversen Anlässen zitiert, zur allgemeinen Heiterkeit. Die Zusammenarbeit mit meinem Chef wurde ruckartig unterbrochen, als die Kollegin aus der Anmeldung ihre „älteren“ Rechte auf meinen Posten geltend machte. Ich musste von nun an ihren Platz einnehmen. Ich war wie vom Donner gerührt. Mein Chef beschwerte sich, dass das ehemalige Lehrmädchen nicht stenographieren und schlecht rechtschreiben könne. Es half nichts. Sie sollte ihre Chance haben! Die „Anmeldung“ hatte mehrere Funktionen. Als Erstes mussten Besucher natürlich angemeldet werden oder vertröstet, wenn sie etwas warten mussten. Daneben gab es noch den Fotokopierapparat, die Frankiermaschine, den Lochschreiber, den Fernschreiber, die Kopiermaschine, das Telefon, die Materialverwaltung und die Postabfertigung – also alle möglichen Tätigkeiten, von denen ich keine Ahnung hatte. Rasch lernte ich die Geräte zu bedienen, und es hat mir nicht geschadet. Aber ich hatte natürlich viel mehr zu tun als zuvor; auch mehr als das ehemalige Lehrmädchen, denn nun brauchten die Sachbearbeiter oder deren Schreibkräfte sich nicht mehr selbst an die Lochmaschine setzen, sie brachten mir einfach den handgeschriebenen Text oder diktierten ihn mir direkt ins Gerät. Danach musste ich nur noch die jeweilige Firma auf dem Fernschreiber anwählen, den Lochstreifen einstecken, und ab ging die Post! Die Lochmaschine erinnerte mich etwas an den Telegraphen in Vaters Kanzlei. Fotokopien wurden damals noch auf dem Nasswege hergestellt, das heißt, man setzte flüssigen Entwickler und ein Fixierbad an. Das war für mich keine Hexerei, denn Vater hatte mich in den Eisenbahner-Fotoklub einschreiben lassen, wo ich den Umgang mit diesen Chemikalien gelernt hatte. Für die Frankiermaschine kaufte ich bei der Post Bons um einen bestimmten Betrag, meist 500 Schilling, die man in die 180

Maschine schob, die gewünschte Frankatur einstellte, und schon konnte man Kuvert um Kuvert durchziehen. Bei Massenaussendungen bekamen die Kuverts den Stempel „Postgebühr bar bezahlt“ aufgedruckt, wurden nach Bundesland gebündelt und so bei der Post abgegeben und bezahlt. Solche Massenaussendungen kamen öfters vor: Begleitschreiben zu Prospekten, die ich zuerst auf Wachsmatrizen tippte und dann abzog. Die Materialverwaltung war relativ einfach. Ich hatte vorsorglich die Bestellung aufzugeben und auf Wunsch Bleistifte, Papier etc. auszugeben. Bald bemerkte ich, dass die Kollegen sich selber bedienten, wenn ich nicht im Raum war, und die Vorräte allzu schnell zur Neige gingen. So führte ich eine bestimmte Zeit für die Materialausgabe ein, die murrend, aber doch zur Kenntnis genommen wurde, und sperrte den Kasten ab. Obwohl ich mir irgendwie abgeschoben vorkam, gefiel mir die Arbeit, die mir viel Spielraum für Eigeninitiative ließ und Verantwortung auferlegte. Was mich störte und letztlich auch dazu führte, dass ich kündigte, war der Umstand, dass ich, bepackt wie ein Esel, die schweren Taschen zur Post in die Riemergasse schleppen musste, wo ich oftmals verschwitzt und abgehetzt im letzten Moment eintraf. Hunderte von Briefen und Prospekten zu falten, zu kuvertieren, zu stempeln und zu sortieren ließ sich, neben all der anderen Arbeit, an einem Nachmittag kaum bewältigen. Aber jedes Mal hieß es: „Das muss unbedingt heute noch hinaus!“ Zugleich beschuldigte mich mein Vater, absichtlich spät nach Hause zu kommen, um bei der Hausarbeit nicht mithelfen zu müssen. Ich ging ungern. Doch als ich das Angebot eines Bekannten erhielt, in die Speditionsfirma Schenker einzutreten, nahm ich an. Dort war eine Frau gekündigt worden, und die Kollegen ließen ihren Groll anfangs an mir aus. Ich wurde als Schreibkraft des Chefs einer Importabteilung eingestellt, hatte jeden 181

Morgen, eine A4-Seite quer, die täglichen Kurse zu tippen, nach jeder Zeile ein 8er-Strich übers ganze Blatt – das ging ins Handgelenk! Es waren ja damals noch kaum elektrische Schreibmaschinen in Verwendung. Weiters nahm ich die Korrespondenz mit Partnerspeditionen, Behörden und Klienten in Steno auf, um sie danach in die Maschine zu tippen. Die Branche war neu für mich: Einfuhrformalitäten, Hafen- und Zollgebühren, Schadensfälle und Versicherungen und was sonst noch anfiel. Ich fragte und fragte, löcherte meinen Chef – einfach so, aus purem Interesse. Ich wollte nichts schrei­ben, was ich nicht verstand. Natürlich lernte ich auch vom Zuhören und aus den diversen Telefonaten der Kollegen. So eignete ich mir, obwohl ich keinen „Verkehr“ führte, ein kleines Wissen um die Einfuhr an. Das kam mir eines Tages zugute, als die Kollegin vom „dänischen Verkehr“ erkrankte und für längere Zeit ausfiel. Ich sollte den Verkehr übernehmen. Zuerst wehrte ich ab – „Ich kann das nicht!“ –, aber nach gutem Zureden willigte ich ein, und ich schaffte es. Natürlich bekam ich Hilfe, sobald ich mit meinem Latein am Ende war, aber im Großen und Ganzen agierte ich selbständig. Dann kam der Tag des Streiks. Es durfte nicht gearbeitet werden. Gott, war das langweilig! Weniger langweilig war das Erdbeben, das just während des Umbaues passierte. Ich ging gerade über den Gang – provisorisch aus Brettern –, als der Boden unter meinen Füßen zu zittern begann … Hatte ich im ersten Berufsjahr noch vier Wochen Urlaub gehabt, so verminderte er sich jetzt auf zwei Wochen. Außerdem hatte ich auch am Samstag Dienst. Innerhalb der nächsten beiden Jahre verringerte sich die Arbeitszeit auf jeden zweiten Samstag. Da erfuhr ich, dass beim Bund* jeder Samstag frei war und die Dienstzeit nur bis 17 und nicht bis 18 Uhr währte. Das passte mir sehr, wollte ich doch mehr Zeit für den Besuch von Kursen und für meine schriftstellerischen Versuche haben. Da 182

Abb. 27: In der Speditionsfirma Schenker & Co beim Diktat (um 1962)

Vater bei der Bahn arbeitete, bewarb ich mich bei der Bundesbahn. Doch vor einer Kontaktaufnahme wurde ich zum Amtsarzt geschickt. Das war ein schrecklich dicker Mensch. Ich war klein, hatte aber eine gute Figur. Er schaute mich an und sagte: „Solche Krewecherln* können wir bei der Bahn nicht gebrauchen.“ Zutiefst getroffen, parierte ich frech: „Ich habe in meinem kurzen Leben wahrscheinlich schon mehr gearbeitet als Sie Fettwanst hinter Ihrem Schreibtisch!“ Ich wurde natürlich nicht aufgenommen. Aufgenommen wurde ich dann allerdings beim Bund. Meine neue Arbeitsstelle war die Bundesgebäudeverwaltung II, kurz BGV II, zuständig für die militärischen Objekte. Das Haus stand neben der TU*, und manchmal hörte man drüben kleinere Explosionen. Aus den Fenstern unserer Büroräume blickten wir direkt auf die Rahlstiege. Auf dem kleinen Grünstreifen davor tummelten sich tagsüber die Ratten. Ich hatte zwei männliche Kollegen und eine Kollegin, etwa in meinem Alter. Mein Chef war ein alter Haudegen, der seine nationalsozialistische Gesinnung nicht verbarg. Um die 183

Mittagszeit hielt er in seinem Zimmer einen Mittagsschlaf auf dem Boden hinter seinem Schreibtisch. Wieder lernte ich ein neues Fachgebiet kennen: Kasernen, Truppenübungsplätze, Gebäude, Gedenkstätten, das Heeresspital – dazu bauliche, rechtliche, denkmalschützerische Angelegenheiten. Neu war auch die Art des Aktenlaufs. Wanderte der Akt bei der Firma Transalpina in einen Hängeordner und wurde er bei Schenker mit Stecknadeln zusammengehalten, so gab es hier in der BGV ein Faltblatt, das alle weiteren Schriftstücke aufnahm, bis es am Ende in der Registratur abgelegt wurde. Die Vorderseite des Blattes enthielt Angaben zum Titel des Aktes (in drei verschiedenen Versionen), Eingangs- und Ausgangsdatum und die jeweilige Abteilung. Originalbriefe wurden nicht erstellt, die besorgte die Schreibstube. Es hieß nur: „Es ergeht an …“ oder „Es hat zu ergehen …“, worauf der Text für den Brief folgte. Ging der Akt weiter an eine andere Abteilung, wurde auf dem Deckblatt die Abteilung durchgestrichen, die neue Abteilung angeführt und das aktuelle Datum eingesetzt. Täglich zweimal um eine bestimmte Zeit holte der Bote mit einem Aktenwägelchen die Akten ab und stellte sie bei Bedarf der nächsten Abteilung zu. Jetzt begann ich zu begreifen, warum die Bearbeitung einer Angelegenheit beim Bund so endlos lange dauerte. In der Privatwirtschaft hätte man nach dem Telefonhörer gegriffen oder hätte den Kollegen persönlich aufgesucht, um die Sache zu klären, und der Brief wäre sofort geschrieben und zur Post gegeben worden und nicht unnützerweise im Konzept in einer Schreibstube gelandet. Kürzere Wege, raschere Ergebnisse. Verträge wurden nicht in der Schreibstube getippt; das geschah direkt in der Abteilung. Die A4-Seiten wurden anschließend mit einem dünnen, rot-weißen Spagat, der sogenannten Bundesschnur, auf eine besondere Art gebunden und die Enden versiegelt. 184

Der Heldenberg*, eine Gedenkstätte im niederösterreichischen Weinviertel, war nach Jahren der Vernachlässigung renoviert worden. Was fehlte, war ein zeitgemäßer Führer, der nun in meiner Abteilung verfasst und von mir getippt wurde. In den arbeitsschwachen Zeiten diktierte mir ein Kollege seine Doktorarbeit in die Maschine. Ich hatte die Wahl: Beamtenmatura oder staatliche Stenotypieprüfung. Meine Kollegin Elisabeth und ich entschieden uns für die zweite Variante. Schließlich konnte sie uns auch „draußen“ nützlich sein, falls wir den Bund verlassen sollten. Wir erhöhten in den Kursen die Geschwindigkeit in Steno und Maschinschreiben, lernten eine Menge Fremdwörter und ihre Herkunft kennen und die einzelnen Teile einer Schreibmaschine benennen. Eine erweiterte Grammatik unserer Muttersprache Deutsch war selbstverständlich. Ich schloss mit Auszeichnung ab und wurde daraufhin ins Ministerium versetzt – damals für Handel und Wiederaufbau. Aufgrund der bestandenen Prüfung erhöhte sich mein Gehalt um 50 Schilling. Das veranlasste meinen Vater, mein Kostgeld ebenfalls um 50 Schilling auf 550 Schilling zu erhöhen. Die Abteilung, in der ich landete, war zuständig für die Vergabe des Ingenieurtitels und die Zuerkennung der Standesbezeichnung „Architekt“. Die Urkunden dazu wurden mit Tuschefüller geschrieben. In diese Zeit fiel auch die Ausschreibung der UNO-City. Wir erlebten den Gewinner, einen österreichischen Architekten, als einen unsicheren, schüchternen jungen Mann, der sich binnen Kurzem zu einem arroganten Menschen entwickelte. Das geschah schon in einem anderen Ministerium, als sich nämlich das BmfHuW (Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau) in das ­BMfHGI (Bundesministerium für Handel, Gewerbe und Industrie) und das Bautenministerium teilte. Einmal wurde ich für einige Wochen ins Ministerbüro geholt. Hier ging es nicht so leger, dafür aber umso spitzfindiger, manchmal sogar zynisch 185

zu. Vielleicht habe ich daher meine, wie mir manchmal attestiert wird, spitze Zunge. Für die großen Sitzungen wurden bis zu fünfzig Kopien je Teilnehmer hergestellt und mit einer Klammermaschine, die sich im Keller befand und mit dem Fuß betätigt wurde, zusammengeheftet und anschließend im Sitzungssaal aufgelegt. In einer der Abteilungen arbeitete ein junger Akademiker, der wegen seiner Dummheit verschrien war. Keine Abteilung wollte ihn haben. Als gemunkelt wurde, er solle zu uns kommen, gab es einen regelrechten Aufstand. Wir hatten Erfolg. Eine bedauernswerte andere Abteilung musste den Kollegen schließlich aufnehmen. Auf meine naive Frage, warum der junge Herr Doktor nicht gekündigt werde, bekam ich zur Antwort, dass er schon beim Eintritt pragmatisiert worden und damit unkündbar sei. Das wäre wohl auch eine der Reformen, die man schon lange hätte angehen sollen. Der Gebäudekomplex am Stubenring beherbergte drei Ministerien: für Handel, Gewerbe und Industrie, für Bauten und das Landwirtschaftsministerium. Dort konnten die Bediensteten an vorgeschriebenen Tagen Eier aus bundeseigenen Betrieben zu günstigen Preisen kaufen. Es gab stets großen Andrang. Weiters waren Polizei, Friseur und eine Restauration sowie ein Buffet vorhanden. Und es gab einen Amtsarzt – für den Ernstfall. In die diversen Stockwerke gelangte man über Paternoster*, Stiegen und Aufzüge. Gerne machte ich von Buffet und Küche Gebrauch, und auch zum Friseur, den wir während der Dienststunden besuchen durften, ging ich regelmäßig, besonders aber, als ich privat eine Gesangsausbildung begann und an der VHS* Ottakring im „Opernstudio“ mitspielte. Als die junge Friseurin, die mit meinem feinen Haar bestens umzugehen verstand, auf ihrer Hochzeitsreise in Spanien mit ihrem Mann tödlich verunglückte, besuchte ich den Salon nicht mehr. Hingegen bat ich meinen Chef, zweimal wöchentlich eine Viertelstunde früher 186

Schluss machen zu dürfen, um an den verpflichtenden Stunden zur Vollmatura der Maturaschule Dr.  Roland teilnehmen zu können. Doch da kam ich an den Rechten! Obwohl der Personalchef seine Einwilligung vorweg gegeben hatte, wollte der Herr Ministerialrat nichts davon wissen. Er wollte „nicht noch mehr Frauen mit Matura“. In dieser Hinsicht konnten sich er und mein Vater die Hand reichen.

Abb. 28: Im „Opernstudio“ an der Volkshochschule (um 1965)

In dieser Zeit lernte ich meinen späteren Mann kennen. Ich war begeisterte Hobbyfotografin, und als am Praterstern eine Fotohandlung eröffnet wurde, trug ich meine Filme zur Ausarbeitung dorthin. Der Leiter dieses kleinen Geschäftes war ein schwarzhaariger junger Mann mit deutlich fremdländischem Akzent; wie sich herausstellte, ein Ungarnflüchtling von 1956. Ich erkundigte mich nach einer Spiegelreflexkamera, und er zeigte mir verschiedene Modelle. Wir kamen ins Gespräch, telefonierten danach oft miteinander und trafen uns schließlich zu einem Ausflug. Das war der Anfang zu weiteren Treffen. Meine Eltern sahen dies nicht gerne; besonders mein Vater hatte viele Einwände gegen „diesen Ausländer“, der dazu auch noch verheiratet war. Aber je mehr mein Vater gegen Gábor wetterte, desto mehr klammerte ich mich an ihn. Kein Wunder, denn Gábor war intelligent, sah gut aus und hatte – wie ich – etwas Rebellisches in seinem Wesen. Außerdem hatten wir die gleichen Interessen wie die Fotografie, altes 187

Gemäuer, die Liebe zur Natur und ein Faible für die Musik, besonders für Gesang. Wir unternahmen Ausflüge zu den Ruinen in Wien, Niederösterreich, Oberösterreich, die Steiermark und das Burgenland. Tausende Fotos zeugen davon. Daneben studierten wir Gesang bei Professor Gundacker, der unweit des Pratersterns wohnte. Wir trafen einander dort in der Mittagspause, ich vom Ministerium kommend, Gábor vom Praterstern. In der Zwischenzeit hatte sich Gábor scheiden lassen, da starb plötzlich in Ungarn sein Vater. Wir heirateten überstürzt, damit wir nicht das Trauerjahr abwarten mussten. Von meinen Eltern hatte ich die Zusage erhalten, in „meinem“ Kabinett mit Gábor leben zu können, bis wir eine eigene Wohnung gefunden hätten. Der Glückwunsch meines Vaters zu unserer Hochzeit fiel dementsprechend aus: „Dass du dir nicht einfallen lässt, in meiner Wohnung ein Kind zu kriegen!“ Das Zusammenleben mit meinen Eltern, besonders mit meinem Vater, gestaltete sich schwierig. Meine Mutter verteidigte ihre Küche, mein Vater wachte über unseren Stromverbrauch. Wir zahlten tausend Schilling Kostgeld – das war etwa die Hälfte unseres gemeinsamen Verdienstes – und versorgten uns selbst. Kaum eine Woche verging ohne Streit. Angeregt durch Kollegen, überredete ich meinen Mann, die Nostrifikation* seiner Matura anzustreben. Ich besorgte alle notwendigen Bücher und Skripten, doch plötzlich weigerte er sich, die Prüfung zu machen. Er hatte erfahren, dass ein ehemaliger Schulkollege die Matura ohne Prüfung anerkannt bekommen hatte. Das fand er ungerecht. Statt der Nostrifikation meldete er sich zur Jagdprüfung an. Zu unserer großen Freude wurde ich schwanger. Wir gaben das Singen auf. Jeden Morgen fuhr ich mit meinem Mann im Auto zur Arbeit, abends musste ich die Straßenbahn nehmen; das dauerte eine Stunde vom 1. Bezirk in den 21. Mein 188

Mann war inzwischen vom Praterstern an den Hauptsitz seiner Firma in den 6. Bezirk gewechselt. Sein Arbeitstag endete um 18 Uhr, meiner um 16 Uhr. Im Jänner, bei tiefen Temperaturen, kam unser Sohn Zóltan zur Welt. Ich ging für ein Jahr in Karenz. Mein Vater tobte. Er schimpfte und brüllte, wenn das Baby weinte, worauf Zóltan noch mehr schrie. Vater kaufte einen Fernseher, da durften auch wir schauen. Zu diesen Zeiten gab es Frieden. Alle vier waren wir sehr aufgeregt, als die Bilder von der Mondlandung übertragen wurden. Ich konnte mich noch gut an die Zeit erinnern, als ich mit den Eltern nach Strebersdorf gepilgert war, um im SPÖ-Lokal „im Hochhaus“ einen Film anzusehen. Die Situation daheim wurde unhaltbar, aber so sehr wir auch suchten, wir fanden keine passende Wohnung. Entweder sie waren total verwahrlost oder zu teuer. Schließlich ließ mein Vater uns delogieren*. Die Klage wurde abgewiesen. Auch ein Ansuchen beim Wohnungsamt blieb erfolglos. Ich war auch im Ministerium für eine Wohnung angemeldet, doch dann wurde der Sohn eines Sektionschefs vorgezogen. Dabei hätte uns die Wohnung im Messepalast sehr gefallen, sie wäre leistbar gewesen, und ein befreundeter Innenarchitekt hatte uns sogar schon einen Plan gemacht. Zóltan war schon über zwei Jahre alt, als wir in der Taborstraße eine passende Wohnung fanden, für die mein Vater die Kaution erlegte. Von meiner Großmutter hatte ich so viel Geld geerbt, dass wir die Ablöse* bezahlen konnten. Mit einer Joka-Liege, zu der uns ein Bekannter einen 40 Zentimeter breiten Anbau gebastelt hatte, einem niederen Kasten, Marke Eigenbau, einem kleinen Tisch, zwei Sesseln, dem Kinderbett, meiner Nähmaschine, den alten Kästen meiner Eltern (sie behielten den großen Einbaukasten, den ich mir vor Jahren gekauft hatte), mit 24 Bücherkartons und dem schrecklichen Plastikgeschirr, das meine Mutter für uns gesammelt hatte, 189

übersiedelten wir. Kaum eingezogen, ereilte uns das Erdbeben von 1972, das Risse in den Wänden verursachte. Mit dem Umzug veränderte sich die Situation von einem Tag auf den anderen. Nun beanspruchten mich nicht nur Kind, Mann und Beruf, sondern auch ein voller Haushalt. Neben den üblichen Tätigkeiten wie Kochen, Waschen, Bügeln war zum Beispiel auch bei der Herstellung von provisorischen Möbeln meine Mitarbeit gefragt. Wir mussten sehr sparen. Zwar hatten wir kein Kostgeld mehr zu bezahlen, dafür aber mussten wir für Miete, Gas und Strom und die Heizkosten selber aufkommen. Am liebsten kauften wir im Supermarkt auf der Praterstraße ein. In der Seitengasse gab es eine gute Parkmöglichkeit für das Auto. Später, als im Nebenhaus ein kleiner Supermarkt aufmachte, kauften wir dort ein. Ab sofort durfte ich den Einkauf allein die vier Stockwerke hochtragen. Seit mein Mann Mitglied eines Jagdvereins war, begann er auch zu trinken, anfangs in Grenzen, dann immer mehr. Das wirkte sich auch beim Möbelbau aus – oft ging wertvolles Material verloren, weil er sich vermessen hatte. Als unser Sohn geboren wurde, scheute mein Mann sich nicht, mit dem Kinderwagen durch die Siedlung zu fahren. Das gefiel mir, ich war stolz auf ihn, und ich dachte, er würde ein guter Vater sein, der mit seinem Sohn spielen und lernen und Unsinn treiben würde. Wir hatten uns geschworen, es nicht so wie unsere Väter zu machen, nämlich das Kind nach unserem Willen zu biegen, es nicht zu quälen und nicht zu schlagen. Und nun waren offenbar alle guten Vorsätze vergessen. Mein Mann lud seine Frustration (kleiner Verdienst, keine anständige Einrichtung, die „gestopften“ Jagdkollegen, kein Urlaub und kaum noch Ausflüge) auf seinen Sohn ab. Bei der Rückkehr nach einem Jahr Karenz gestaltete sich auch meine berufliche Situation anfangs unerfreulich. Ich war in der Schreibstube gelandet. Die Arbeit dort war schrecklich 190

langweilig, irgendwelche Briefe, aus dem Zusammenhang gerissen, in die Maschine zu klopfen, war nicht mein Ding. Nach einigen Wochen wurde es mir zu öd, und da es in den Abteilungen des Ministeriums keine freie Stelle gab, sah ich mich nach einem anderen Job um. Aufs Geratewohl bewarb ich mich beim ÖAMTC und gleichzeitig, meiner Neigung folgend, bei einem Verlag: Jugend & Volk. Der ÖAMTC stellte mich sofort ein; ich kam in die Rechtsabteilung. Abgesehen von einer interessanten Arbeit bekam ich auch wesentlich mehr bezahlt, und wie im Ministerium stand für den Mittagstisch eine hauseigene Küche zur Verfügung. Vielleicht wäre ich dort geblieben, hätte nicht eine Woche vor Ablauf des Probemonats der Verlag positiv auf meine Bewerbung geantwortet. Ich kündigte. Welch andere Atmosphäre umgab mich im Verlag! Die Menschen waren locker, aufgeschlossen, es gab keine Eifersüchteleien, die Chefs waren zugänglich, ja kameradschaftlich, man war größtenteils frei in der Arbeitseinteilung und konnte im Rahmen der Gleitzeit in einem bestimmten Rahmen auch kommen und gehen, wie man es für angemessen hielt. Begonnen habe ich – in der Schreibstube. Die war allerdings etwas anders gestaltet als beim Bund. Wir schrieben fortlaufende Texte, etwa den Bilderbuchtext von Ernst A. Ekker zu seiner „Nahsehfamilie“, den der Lektor immer wieder umschrieb, bis vom ursprünglichen Text nicht mehr viel übrig blieb. Oder wir schrieben den Text für den Gesamtkatalog, der verschlüsselt durch verschiedene Zeichen für die bibliographischen Daten eingegeben wurde. Die Schreibstube war nur der „Wartesaal“, bis die bisherige Sekretärin des Lektorats für Pädagogik ihre Kündigungsfrist beendet hatte. Sie wollte ein Studium beginnen. In dieser Abteilung fühlte ich mich pudelwohl; es war die schönste und interessanteste Zeit meiner Erwerbsarbeit. Die Arbeit war in191

teressant, zuweilen aufregend, bei hoher Betriebsamkeit, der Umgang mit Autoren, Grafikern und Behörden, die Hektik vor dem Einreichtermin zur Schulbuchapprobation, der administrative Aufwand rund um den Förderungspreis zur Pädagogik der Gegenwart und letztendlich auch die Anerkennung meiner Arbeit durch meinen Vorgesetzten ließen mich erstmals in meiner Arbeit voll aufgehen. Die Arbeit gefiel mir nicht nur, ich liebte sie. Mein Chef ließ mir viel freie Hand, ob dies nun bei der Betreuung des Förderungspreises war, ob ich den einen oder anderen Text lektorieren oder etwa selber einen Artikel schreiben durfte – belohnt wurde ich durch die Gehaltseinstufung im Maturantenstatus. Jedes Jahr versammelten sich die Kollegen im Sitzungssaal bei einer Weihnachtsfeier, bei der jeder Mitarbeiter ein Geschenk in Form von Palmers- oder Meinl-Gutscheinen erhielt. Während des Jahres erhielten wir auch Gratisexemplare von Neuerscheinungen sowie ein Geburtstagsgeschenk. Und dann gab es noch den jährlichen Betriebsausflug. Wer sich dafür interessierte, erhielt auch von den ausgesonderten Werken der Herstellungsabteilung Bücher. So gelangte ich zu einer ganz ansehnlichen „Bibliothek“. Ich bediente eine kleine Chef-Sek-Anlage* mit mehreren Klappen, schrieb die Korrespondenz aller Sachbearbeiter der Abteilung, hauptsächlich natürlich die meines Chefs, schrieb Belegexemplare aus, stellte „Erschienenen-Mitteilungen“ für die Heftreihe „Frische Saat“ aus, fotokopierte (jetzt schon im Trockenverfahren mit Toner), stellte Berichte zusammen, dokumentierte die mündlich vorgetragenen Ergebnisse des Förderungspreises, schrieb Verträge. Zweimal wurde mir ein Lehrmädchen in Obhut gegeben. Vor einer Einreichung zur Approbation* halfen alle Mitglieder der Abteilung zusammen, um die Unmengen an Manuskriptseiten sechsfach zu kopieren, zusammenzustellen und termingerecht fertig zu machen. War die Arbeit getan, das Material im Ministerium, 192

Abb. 29: Ilse V. Bösze (rechts vorne) mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Verlag Jugend & Volk bei einer Feier anlässlich der Verleihung des Deutschen Jugendbuchpreises an die Schriftstellerin Renate Welsh (1980)

bestellte mein Chef Backhühnchen, die wir dann am Besprechungstisch anrichteten und in gemütlicher Runde verspeisten in der beruhigenden Gewissheit, es wieder einmal geschafft zu haben. Die Arbeit im Verlag erforderte zu Approbationszeiten mehr Aufwand, das hieß Überstunden. Darüber war mein Mann sehr verärgert. Für ihn war es selbstverständlich, dass die Frau zu Hause zu sein hatte, wenn der Mann von der Arbeit heimkam. Er wollte nicht einsehen, dass ich um Punkt fünf Uhr nicht den Bleistift fallen lassen und heimgehen konnte. Bald fühlte ich mich schuldig, wenn ich länger im Büro blieb und die Hausarbeit vernachlässigte, aber ebenso, wenn ich zeitgerecht heimging und die Arbeit im Büro liegen blieb. Ich hatte das Gefühl, mich zweiteilen zu müssen, um allen Anforderungen in Familie, Erwerbsarbeit und Schriftstellerei gerecht zu werden. Ich wurde nervös, bekam Mig193

räne. Bei schweren Auseinandersetzungen flüchtete ich mich ins Bett. Dennoch, durch die wesentlich bessere Bezahlung im Verlag konnten wir es uns schließlich leisten, die Wohnung von Grund auf zu renovieren. Heizung, Fenster, Fußböden, Möbel. Zwar mussten wir einen Kredit aufnehmen, aber es ließ sich machen. Außerdem hatte auch mein Mann die Stelle gewechselt. Er arbeitete nun bei einer Bank – zuerst ein Jahr als Nachtbote, dann in der Verwaltung – und hatte dort ebenfalls diverse Vergünstigungen in Form von Gutscheinen etc. All die Jahre hatte ich das Schreiben nicht aufgegeben, aber außer einem schmalen Gedichtbändchen, das mit Hilfe von Subskribienten gedruckt worden war, hatte ich noch nichts veröffentlicht. Jetzt versuchte ich mich erstmals an einem Kinderbuch. Nachts oder auch während des Kochens und am Wochenende schrieb ich an der Geschichte. Ich hatte Glück – dem Kinderbuchlektor meines Verlages gefiel die Geschichte. Bei der nächsten Produktion wurde mein Manuskript gedruckt. Ich war selig. Mein Mann freute sich und meinte, dass aus mir „noch etwas werde“. Während der Arbeit an meinem zweiten Manuskript unterstützte er mich sogar bei der Hausarbeit. Wir konnten uns wieder einen Urlaub leisten und fuhren nach Italien. Zuerst nach Venedig zu meinen Verwandten, von da an den Golf von La Spezia, wo ich schon als junges Mädchen Urlaub gemacht hatte. Es waren wunderschöne, harmonische Tage, von denen wir noch lange zehrten. Im Verlag hielt ein Computer Einzug. Er war von Rank Xerox und ein Ungetüm im Vergleich zu den heutigen PCs. Außerdem hatte er nur ein winziges Lesefeld, circa 48 Zeichen lang, in dem Buchstaben und Zeichen in roten Pünktchen vor schwarzem Hintergrund von rechts nach links liefen. Das Gerät ließ sich allerdings auch auf „Mitschreiben“ einstellen. Eine Woche dauerte der Kurs bei Rank Xerox, zum Abschluss erhielten wir eine Urkunde. Wenn ich mich recht erinnere, 194

nahmen wir zu sechst an dem Kurs teil. Beim Anschlusskurs lernten wir programmieren. Da war die Teilnehmerzahl um die Hälfte geschrumpft. Dieser Kurs bereitete mir besonderen Spaß, weil anstelle von Wörtern nur Zeichen – Punkt, Bindestrich, Doppelpunkt etc. – eingegeben wurden. Als der Verlag einen neuen Direktor bekam und der Oberbuchhalter das Rennen um den Posten machte, verabschiedete sich mein Chef. Er hatte keinen guten Kontakt zum neuen Direktor. Da der Verlag finanzielle Schwierigkeiten hatte, wurde ein Personalmanager bestellt, auf dessen Veranlassung nach und nach zwei Drittel der Belegschaft gekündigt wurden. Ein Jahr vor dieser Entwicklung hatte ich von ganztags auf halbtags umgestellt, um mich mehr meiner schriftstellerischen Tätigkeit widmen zu können. Drei Kinderbücher hatte ich mittlerweile veröffentlicht, und ich verdiente recht gut dabei, sodass ich mir die Halbtagsarbeit leisten zu können glaubte. Eine Kollegin aus der Personalabteilung versuchte mich zu überreden, doch wieder ganztags arbeiten zu gehen, doch ich verstand ihre versteckten Hinweise nicht. Der Personalmanager setzte zuallererst bei den Halbtagskräften den Rotstift an. Alle wurden sie gekündigt, auch ich. Nun saß ich fast sprichwörtlich „in der Tinte“, denn auch das Programm des Verlages wurde gekürzt, und als der Kinderbuchlektor starb und an seine Stelle ein Vertriebsleiter trat, wurden etliche der zum Druck vorgesehenen Manuskripte, die vertraglich noch nicht gebunden waren, ausgesondert, auch meines. Ich war zu deprimiert, als dass ich es bei einem anderen Verlag versucht hätte, obwohl die Kritiken zu meinen Büchern durchwegs gut waren. Ein schwerer Fehler. Mein Gemütszustand und der erfolgte Einbruch unserer wirtschaftlichen Lage ließen die Differenzen daheim wieder aufleben. Ich hatte den Eindruck, dass mein Mann eifersüchtig auf meinen Erfolg reagierte. Er saß abends vor dem Fernseher, und 195

ich stand in der Küche … Von nun an gab ich es auf, Unterwäsche und Bettwäsche zu bügeln. Einige Wochen nach meiner Kündigung rief mich der neue Direktor an, ob ich nicht in den Verlag kommen und dem Kollegen, der jetzt den Computer betreute, zeigen wolle, wie man programmiere; er habe es vergessen und komme damit nicht zurecht. Ich sagte unter der Bedingung zu, für die aufgewendete Zeit Honorar zu bekommen. Das wurde abgelehnt. Wie ich später erfuhr, wurde der Computer weggegeben. Nun war ich arbeitslos. Ich lief mir die Füße wund, fand aber lange keine neue Stelle. Entweder ich war den Chefs zu alt oder überqualifiziert, und auch das Angebot, um niedrigeren Lohn zu arbeiten, zog nicht. So nahm ich privat Schreibarbeiten an, um die Familie über Wasser zu halten, denn wir hatten einen Kredit für die Wohnraumsanierung aufgenommen. Kontakte hatte ich genug, so fehlte es nicht an Aufträgen. Ich schrieb und schrieb – Tausende von Seiten. Zum Beispiel, auch den Text zu „Nicht nur Tenöre“ habe ich nach Tonbandmitschnitten getippt. Das war nicht einfach, weil die Mikrophone schlecht platziert waren, die Leute oft durcheinandersprachen, Phrasen in anderen Sprachen eingeflochten wurden und ich gerade mal ein mieses Schulenglisch mitbrachte und ein wenig Italienisch verstand. Während dieser Zeit schrieb ich mein viertes Jugendbuch. Während ich den Haushalt besorgte und an der Schreibmaschine saß, machte es sich mein Mann vor dem Fernseher bequem. Mehrmals lud er seine ungarischen Verwandten für ein paar Tage ein. Ich musste groß aufkochen, obwohl wir jeden Groschen zweimal umdrehen mussten. Da machte mir mein ehemaliger Chef von Jugend & Volk das Angebot, in seinen neu zu gründenden Verlag zu kommen. Das war noch nichts Fixes, auch keine richtige Anstellung, und mein Mann riet mir strikte davon ab. Um den 196

Streit nicht eskalieren zu lassen, sagte ich ab. Später bereute ich meine Entscheidung, denn die bald darauf erfolgte Gründung des Dachs-Verlages stellte sich als Volltreffer heraus. Meine Arbeitslosigkeit, die jedes Planen zunichtemachte, dauerte nun schon ein gutes Jahr, ließ die Zukunft recht düster erscheinen. Auch Zóltan machte mir Sorgen. Er hatte keine Lust zu lernen und brach die Schule, das TGM, ab. Er begann eine Lehre als Stahlbauschlosser. Mein Mann sprach kaum noch mit ihm. Zóltan lernte ein Mädchen kennen und verbrachte die meiste Zeit mit ihm. Auch ich hatte Freunde gefunden, in der Pfarre, und ging jeden zweiten Montag in die Bibelrunde, die unser Pfarrer leitete. Er war ein Mensch, im wahrsten Sinne des Wortes. Er hatte viel Verständnis für seine Mitmenschen, ohne je weltfremd oder gar salbungsvoll zu sein. Diese Abende waren eine Art Flucht vor meinem ständig nörgelnden, Türen schlagenden Mann, der mehr denn je dem Alkohol zusprach. Ich beschloss, mich von ihm zu trennen. Rücksicht auf meinen Sohn brauchte ich nicht mehr zu nehmen, da er nach einem heftigen Streit mit meinem Mann die Wohnung verlassen hatte und mit seiner Freundin in eine Untermietwohnung gezogen war. Ich musste neuerlich einen Kredit aufnehmen, um die Ablöse für die neue kleine Wohnung in der Schönbrunner Straße aufbringen zu können. Der Anruf eines ehemaligen Kollegen – er war Hersteller bei Jugend & Volk – brachte mich wieder ins Lot. Er fragte mich, ob ich noch frei sei und Lust habe, zu ihm zu kommen, da seine Mitarbeiterin gekündigt habe. Er arbeite als Geschäftsführer bei einem kleinen Kunstbuchverlag. Obwohl nur Teilzeit bei geringer Bezahlung geboten war, sagte ich zu. Es wurde ein angenehmes, harmonisches Arbeiten. Ich lernte auch Rechnungen zu schreiben und zu kontieren, holte Bücher vom zwei Gassen entfernten Lager, verpackte sie und trug sie zur Post. 197

Leider gab es auch hier Unstimmigkeiten bezüglich des Verlagsbudgets, und mein Chef verließ das Unternehmen. Ein paar Wochen war ich allein, dann kam ein junger Mann, der vom Verlagswesen keine Ahnung hatte, aber alles umkrempeln wollte. Er warf bald das Handtuch. Wieder war ich allein, führte die wenigen Bestellungen aus. Der Winter kam, es war kalt, die Heizung funktionierte schlecht. Wenn es stark regnete, floss das Wasser unter dem Fensterrahmen in den Raum und sammelte sich in einer Lacke unter meinem Schreibtisch. Standen meine Füße nicht im Wasser, so zog es von der gegenüberliegenden Tür herein. Als der junge Mann einmal zu Besuch kam, schilderte ich ihm die Situation. Durch seine Vermittlung erhielt ich in der Abteilung seiner Mutter bei der Raiffeisen-Bausparkasse eine Stelle. Neben wenig Korrespondenz hatte ich praktisch den ganzen Tag nur die Daten für Sparbriefe in die vorgesehenen Felder in den Computer zu tippen, was meine Augen überanstrengte und die Heterophorie* verstärkte, die durch die Computerarbeit bei Jugend & Volk zum Ausbruch gekommen war. Einer ehemaligen Kollegin, die mittlerweile auch die Stelle gewechselt hatte, verdankte ich es, wieder in einem Verlag arbeiten zu können. Der Verlag produzierte vorwiegend Kinder- und Jugendbücher, was meinem Interesse sehr entgegenkam. Allerdings entpuppte sich die Arbeit dort nicht als Glückstreffer. Mein Chef, der Geschäftsführer, war ein schlauer, hintertriebener Mensch, der eigene Fehler gern auf andere überwälzte und auch nicht davor zurückschreckte, den Teilhaber anzuschwärzen. Ständig gab es Streit in der Firma, mein Chef gewährte Zahlungsziele über den üblichen Rahmen, ließ Akten verschwinden oder jubelte sie jemandem unter. Auf mich hatte er es besonders abgesehen, da ich nicht darauf einging, für ihn den Spitzel zu machen. Er überhäufte mich mit Arbeit, sodass ich oft das ganze Wochenende im 198

Büro saß, um die umfangreiche Ablage zu machen, weil wochentags dafür keine Zeit blieb. Wiederholt versprach mein Chef, eine neue Kraft zu meiner Entlastung einzustellen. Das Ergebnis war, dass er der Neuen neue, andere Aufgaben übertrug und ihr von den meinen den kleinsten Teil überantwortete, sodass sie insgesamt viel weniger zu tun hatte als ich und sich neben ihrer Arbeit ausgiebigen privaten Telefongesprächen hingeben konnte. Anfangs hatte ich die Vertreterabrechnungen für Österreich und Deutschland über. Da musste ich mich richtig hineinknien. Später wurde mir diese Arbeit nach Installation eines PC-Programms von der Buchhalterin abgenommen, ebenso die Handkassa. Trotzdem blieb mir neben der Sekretariatsarbeit noch der Vertrieb der Bücher. Die ein- und ausgehenden Manuskripte mussten registriert, Dutzende Ablehnungen eingereichter Manuskripte geschrieben werden. Belegexemplare waren zu versenden, Verträge und diverse Vorträge meines Chefs zu schreiben. Briefmarken, Verpackungsmaterial sowie die Bestellung und Verwaltung von Büromaterial, Druckaufträge für Briefpapier etc. fielen in meine Kompetenz. Leider durfte sich jeder selbst bedienen, was oft zu einem heillosen Durcheinander führte, besonders vor den großen Buchausstellungen, wo die Hektik am größten war. Meine einzige Handhabe, um diesem Missstand zu begegnen, waren Gespräche mit den Kollegen und Aktenvermerke, die ohne Wirkung blieben, da ich keine Kompetenz für Konsequenzen hatte. Ich sehnte mich zurück in die Zeit von Jugend & Volk, wo alles seinen geregelten Gang ging, ohne Hektik, auch wenn es viel zu tun gab, ohne Eifersüchteleien, die durch einen misstrauischen, ständig kontrollierenden Chef verursacht waren. Durch eine Erkrankung an Myopathie, Muskelschwäche, tat ich mir bei gewissen Arbeiten schwer (volle Ordner heben oder hoch ins Regal stellen, Postpakete machen etc.), und so 199

nahm ich nach meinem 55. Geburtstag die Gelegenheit wahr und ging in Pension. Meinem Chef wurde noch kurz vor meiner Pensionierung nahegelegt, das Haus zu verlassen. Er hat danach die Mitarbeiter einer großen Auslieferung beglückt und war dort, wie sich herumsprach, genauso beliebt wie bei uns.

200

„Ich liebte meine Schützlinge und meine Arbeit …“ Elisabeth Krug wurde am 30. September 1942 in Wien als Elisabeth Gassinger geboren und wuchs mit einem älteren Bruder in bürgerlichen Familienverhältnissen in Wien-Josefstadt auf. Ihr Großvater führte als Orthopädiemechaniker einen Meisterbetrieb, in dem auch ihr Vater, vorwiegend in der Buchhaltung und im Verkauf, beschäftigt war und den später ihr Bruder übernahm. Auch die Mutter, eine gelernte Grafikerin, war halbtags im Betrieb tätig und besorgte Haushalt und Kinderbetreuung. Über ihre schulische Laufbahn und die verschiedenen Umwege hin zu ihrer langjährigen Tätigkeit im Lehrberuf gibt die Autorin in ihrem nachfolgenden Erinnerungstext ausführlich selbst Auskunft. Elisabeth Krug heiratete 1964 einen Berufskollegen und wurde in den darauf folgenden fünf Jahren dreifache Mutter. Anfang der 1970er Jahre zog die Familie von der Stadt aufs Land, und zwar in den Salzburger Lungau, wo Elisabeth Krug fast drei Jahrzehnte als Lehrerin und später als Direktorin in der Volksschule Lessach tätig war. Nachdem ihre erste Ehe 1976 geschieden worden war, zog sie ihre Kinder alleine groß. Anfang der 1980er Jahre fand die Autorin einen neuen Partner und bekam noch einen Sohn. Seit 1984 lebt sie mit ihrem zweiten Mann, der einen Bergbauernhof bewirtschaftet, auf 1400 Metern Seehöhe im Lungauer Lessachtal. Nach ihrer Pensionierung im Jahr 2000 widmete Elisabeth Krug sich verstärkt literarischen Arbeiten und verband diese gern mit pädagogischen Projekten und Bildungsaktivitäten. Sie schrieb Gedichte und Theaterstücke für Kinder und hielt als Referentin des Salzburger 201

Bildungswerks zahlreiche Theater- und „Sprachbastel“-Workshops ab. 2006 veröffentlichte sie das Kinderbuch „Ich bin ein Mann aus Hamsterdam“. 2012 erschienen lebensgeschichtliche Aufzeichnungen der Autorin unter dem Titel „War das schon das Wirtschaftswunder? Kindheit und Jugend in der Nachkriegszeit“ sowie ein weiteres Kinderbuch, „Das Windradauto“, in der Edition Weinviertel. „Na, Kleine, freust du dich schon auf die Schule?“ – Diese Frage hörte ich vor meinem Schuleintritt so oft, dass es mir zu dumm wurde und ich patzig antwortete: „Überhaupt nicht!“ In Wahrheit fieberte ich diesem Tag entgegen. Ich konnte bereits lesen; das hatte ich von meinem Bruder, der mir zwei Klassen voraus war, mitbekommen. Auch schrieb ich eifrig alle Buchstaben, allerdings seitenverkehrt, wie ich sie über den Küchentisch sah. Dort erledigte Ludwig seine Hausübungen, meistens sehr widerwillig, und ich war fest entschlossen, ihn durch großen Fleiß zu überflügeln. Mein Bruder würde Augen machen. Ich hatte es gründlich satt, mich von ihm als dumme kleine Schwester behandeln zu lassen. In der ersten Schulwoche erlebte ich jedoch eine herbe Enttäuschung. Ein junger, zackiger Aushilfslehrer führte von einem Podium aus, auf dem der Lehrertisch stand, das Kommando und ertappte mich, als ich meiner Sitznachbarin etwas zuflüsterte. Prompt musste ich mich für den Rest der Unterrichtsstunde vor dieses Podium hinstellen, und ich fühlte förmlich, wie sich die Blicke von dreißig Augenpaaren in meinen Rücken bohrten. Gottlob kehrte Frau Lehrerin Hornung bald aus ihrem Krankenstand zurück. Sie war eine kleine, weißhaarige Dame mit sehr ausdrucksvollen Augen, und ich liebte sie auf den ersten Blick. Wir waren die letzte Klasse, die sie vor ihrem Ruhestand übernahm. Ihrer Erfahrung, Güte, aber auch Strenge verdanke ich eine wunderbare Volksschulzeit und den Wunsch, nach ihrem Vorbild Lehrerin zu werden. 202

Abb. 30: In der zweiten Volksschulklasse unter den Fittichen der geliebten Lehrerin (1950)

Fürs Erste versetzte ich mich im Spiel mit Hingabe in diese Rolle. Ich bastelte mir kleine Hefte, in die ich meine Hausübungen in winziger Schrift kopierte. Puppe, Bär und Kasperl waren meine Schüler, und an die Türschnalle des Wohnzimmers hängte ich außen eine Papptafel mit der Aufschrift „Bitte nicht stören“. Mein Bruder kommentierte das überaus ernsthaft betriebene Rollenspiel mit der Bemerkung: „Die Lisi spinnt.“ Meine Eltern ließen mich gewähren. Immerhin trugen die Übungen mit meinen „Schülern“ dazu bei, dass ich immer lauter Einser bekam, außer in Leibesübungen, was leider nicht zu meinen größten Talenten zählte. Gassinger-Großvater unterstützte meinen Lerneifer noch zusätzlich, indem er jede gute Note mit einem Schilling belohnte. Meine fixe Idee, Lehrerin zu werden, nahm dennoch niemand wirklich ernst, denn eigentlich war ich für das Büro im großväterlichen orthopädischen Betrieb vorgesehen. Ludwig sollte den handwerklichen Teil übernehmen. Der Besuch eines Gymnasiums war daher kein Thema, aber ab der siebenten Schulstufe beschlossen meine Eltern, mich in eine „bessere“ 203

Hauptschule zu schicken, nämlich in eine von Klosterschwestern geführte private Bildungsanstalt in der Kenyongasse im siebenten Bezirk. Dort wäre nach der Pflichtschule der Besuch der Lehrerinnenbildungsanstalt möglich gewesen. Inzwischen hatte ich aber ein schlechtes Gewissen, weil das monatliche Schulgeld für meine Eltern ein großes Opfer bedeutete, während Ludwig als Lehrling bereits Geld verdiente. Deshalb trat ich nach der Hauptschule in die Handelsakademie ein, was durchaus den Wünschen des Großvaters entsprach. Nach wenigen Wochen bereute ich diese Entscheidung bitter, denn es gab keinerlei musische Fächer, weder Zeichnen noch Musik, und trotz guter Noten streikte ich von einem Tag auf den anderen. Ich weigerte mich strikt, weiterhin die Handelsakademie zu besuchen, worauf ich kurzerhand als Lehrmädchen in ein Papierfachgeschäft gesteckt wurde, denn untätig herumzusitzen war in meiner fleißigen Familie undenkbar. Nun war ich aber erst recht vom Regen in die Traufe gekommen, denn das Lernen fehlte mir furchtbar. Also schmiss ich auch die Lehre. Aus der Vorzugsschülerin war unversehens ein Problemfall geworden, und wieder stand ich im Schatten meines Bruders, der inzwischen eine glänzende Gesellenprüfung abgelegt hatte und bereits an Familiengründung dachte. In praktischen Dingen war er mir eben schon immer weit voraus gewesen. Auf Vermittlung der Klosterschule verbrachte ich einige Monate mit dem Erteilen von Nachhilfestunden und begann im Herbst zwar nicht mit der Lehrerinnenbildungsanstalt, aber als Kompromiss mit dem Seminar für Kindergärtnerinnen und Horterzieherinnen, sodass meine Eltern „nur“ drei Jahre lang für das Schulgeld aufkommen mussten. Es war eine Verlegenheitslösung, die mir aber viel mehr für mein weiteres Leben mitgab, als ich damals abschätzen konnte, vor allem den kreativen Umgang mit Kindern und eine lebenslange, tiefe Freundschaft mit einer Schulkollegin. 204

Das Vorzugszeugnis bei der Diplomprüfung nahm ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Endstation. Keine Möglichkeit mehr weiterzulernen. Hätte ich doch Matura gemacht! An meinem 18. Geburtstag begann ich im Wiener Taubstummeninstitut* zu arbeiten. Bei einer Exkursion während meiner Ausbildung hatte ich diese Anstalt kennengelernt und einen besonderen Eindruck mitgenommen, nämlich dass gehörlose Mädchen tanzen konnten. Der alte Schuldirektor, im Aussehen Albert Einstein sehr ähnlich, hatte sich im Speisesaal an einen großen, schwarzen Flügel gesetzt, und während er einen flotten Walzer spielte, legten die Schülerinnen des Nählehrganges ihre rechten Hände auf den Klangkörper und machten nach den Schwingungen der Musik graziöse Tanzschritte. Dabei strahlten sie vor Freude. Der Dienst im 24-Stunden-Rhythmus war eine ziemliche Herausforderung für mich. Ich wechselte mich mit einer erfahrenen Kollegin bei der Betreuung der Gruppe der „großen Buben“ im Internat ab. Einige meiner 23 Schützlinge waren bärenstarke, rebellische Jugendliche, andere waren körperlich, zum Teil auch geistig zurückgeblieben. Allen gemeinsam war aber die Ablehnung, die mir unartikuliert, fast wie Hundegebell entgegenschlug. Die Gruppe hatte sich nämlich einen männlichen Erzieher gewünscht, der nach der Lernzeit als Schiedsrichter beim Fußballspielen auf dem Sportplatz fungieren konnte. Nun, dazu war ich wirklich nicht geeignet, aber nach einigen schlaflosen Nächten im Eisenbett des schmucklosen Dienstzimmers nahm ich mir fest vor, nicht aufzugeben. Mit Körben voll Bastelmaterial weckte ich die Neugierde der Buben. Was würde ich wohl wieder mitbringen? Ton, gebügelte Strohhalme, Peddigrohr, Karton, Wollreste, Bast? Es kam mir zugute, dass ich von klein auf meinem Bruder beim Werken zugesehen hatte. Auch in der Klosterschule war auf Kreativität viel Wert gelegt worden. Es entstanden zum Teil 205

recht ansehnliche Werkstücke. Manchmal improvisierte ich eine kleine Ausstellung im Gruppenraum, und das „Frau Lisl“, mit dem ich im Dienst angeredet wurde, klang längst nicht mehr so ablehnend. Notdürftig lernte ich sogar die Gebärdensprache und die Fußballregeln. Freilich gab es auch Situationen, mit denen ich pädagogischer Grünschnabel sehr zu kämpfen hatte. Einmal war ein Diebstahl aufzuklären, ein andermal der Jähzorn eines sehr labilen Jugendlichen zu bändigen. Andererseits bemühten sich einige meiner Schützlinge, mir eine Freude zu machen, und waren auf unbeholfene und gerade dadurch rührende Art höflich und zuvorkommend. Ich war erst wenige Monate im Taubstummeninstitut als Erzieherin beschäftigt und an die besonderen Arbeitsbedingungen halbwegs gewöhnt, als eine Zeitungsannonce die Weichen für mein späteres Leben stellte. Da wurde Fernmatura nach individuellem Lerntempo angeboten, je nachdem, wie schnell man die Teilprüfungen in den einzelnen Fächern ablegte. Noch am selben Tag bestellte ich das erste Skriptenpaket und stürzte mich mit Feuereifer ins Lernen. Der Wechsel – 24 Stunden Dienst, 24 Stunden Freizeit – bot mir ausreichend Gelegenheit, rasch voranzukommen. Die Prüfungen für die Unterstufe des Gymnasiums erledigte ich binnen Kurzem. Die Nebenfächer für die Oberstufe waren auch kein Problem. Selbst Deutsch und Englisch gingen ziemlich spielend. Schwieriger war die höhere Mathematik zu begreifen, und auch die lateinischen Übersetzungen erwiesen sich als immer komplizierter. Ich lernte auf Schritt und Tritt, hatte stets das jeweils aktuelle Skriptenheft bei mir, ob im Schwimmbad, auf dem Nachtkästchen oder in der Lade meines Schreibtisches im Gruppenraum, denn auch im Dienst bei „meinen taubstummen Buben“ warf ich ab und zu einen Blick auf Vokabeln oder mathematische Formeln. Zum Glück ertappte mich die strenge Heimleiterin nie dabei. Sie war von 206

meiner nebenberuflichen Aktivität nämlich keineswegs begeistert. Leider konnte auch meine Mutter der „ewigen Lernerei“, wie sie es nannte, nicht viel abgewinnen, denn für Hausarbeit blieb dadurch kaum Zeit. Zu meiner Entschuldigung darf ich allerdings sagen, dass Teamwork ohnehin nicht möglich gewesen wäre. Mutters hausfraulicher Perfektionismus führte dazu, dass es ihr niemand recht machen konnte. In Ordnung war ihrer Meinung nach nur, was sie selbst erledigte. Kommt Zeit, kommt Rat. Später habe ich es doch geschafft, eine große Familie zu bekochen, wenn auch mit erheblichen Anfangsschwierigkeiten. Ich gebe zu, dass ich mich über den Kinderbrei erst allmählich zu anspruchsvolleren Gerichten emporgearbeitet habe und zwischendurch manch Ungenießbares produzierte. Vater brachte meinem Wunsch, die Matura nachzuholen, viel Verständnis entgegen. Vielleicht hing es damit zusammen, dass ihm sein Traumberuf Buchhändler verwehrt geblieben war. Gesundheitlich war er schon sehr angeschlagen, aber da er trotzdem seiner Arbeit im Geschäft gewissenhaft nachging und nie klagte, ahnten wir nicht, wie lebensbedrohlich sein Zustand nach zwei Herzinfarkten und oft sehr hohen Blutzuckerwerten war. Eigentlich stand eher Mutter im Mittelpunkt unserer Sorge, da sie sich im Abstand weniger Monate einigen schweren Operationen unterziehen musste. Ungefähr zwei Jahre, nachdem ich begonnen hatte, für die Fernmatura zu lernen, schenkte mir Vater unverhofft eine zierlich eingefasste Goldmünze, die ich als Kettenanhänger oder Brosche tragen konnte, ein Geschenk für die erfolgreiche Abschlussprüfung, wie er sagte. Erst viel später habe ich begriffen, dass er es in der Vorahnung, er werde meine Matura nicht mehr erleben, getan hat. Mit 56 Jahren mitten aus seiner Arbeit gerissen, starb er im Juli 1963 an akut hohem Blut­ zucker. 207

Drei Monate später, knapp nach meinem 21. Geburtstag, trat ich vor einer Kommission von Professoren, die ich nie zuvor gesehen hatte, gemeinsam mit ungefähr hundert anderen Kandidaten, die ich ebenfalls nicht kannte, zur mündlichen Matura an. Die schriftliche Prüfung hatte ich bereits bestanden, wobei Deutsch und Englisch gut, Latein und Mathematik mit einem schwachen Genügend ausgefallen waren. Ich dachte fest an meinen Vater, der mir das Erreichen meines Zieles vor seinem Tod zugetraut hatte, und fühlte mich ruhig, fast geborgen. Wenige Stunden später hatte ich mein Maturazeugnis in der Tasche, mit mehreren Genügend zwar – außer in Mathematik und Latein auch in Philosophie und Physik –, aber ich war die Einzige unter den vielen Kandidaten, die die Abschlussprüfung beim ersten Antreten binnen zweieinhalb Jahren geschafft hatte, und ging glücklich wie auf Wolken nach Hause. Ich kündigte meine Stelle im Taubstummeninstitut und konnte in den seit September laufenden Maturantenlehrgang in einer Döblinger Klosterschule einsteigen, da mir die pädagogische Vorbildung des Kindergärtnerinnendiploms angerechnet wurde. Diese Art der Lehrerausbildung war eine Übergangslösung, nachdem die Lehrerseminare abgeschafft und die Pädagogischen Akademien noch nicht eingeführt worden waren. Ich landete mitten in einem bunten Haufen „Spätberufener“, zum Teil schon verheiratet und mit Nachwuchs gesegnet. Im Unterricht merkten wir bald, dass wir Versuchskaninchen waren. Es schien keine fixen Richtlinien für die Lehrziele zu geben, und vor allem die älteren Klosterfrauen taten sich schwer mit ihren an weltlicher Lebenserfahrung überlegenen Schülerinnen. Von den Volksschul-, Hauptschul- und Gymnasiumsklassen waren sie adrette Mädchen in Schuluniform gewöhnt. Eine Ausnahme bildete die Lehrerin der zweiten Klasse der Übungsvolksschule, ebenfalls eine Nonne. Sie 208

Abb. 31: Die Autorin mit ihrem Goggomobil (1963)

exer­zierte uns methodisch perfekt aufgebaute Unterrichtsstunden vor. Von ihr konnten wir eine Menge lernen. In der ersten Bank saß ein zartes Mädchen mit langen, blonden Haaren, eine gewisse Susi Neumayer, die Tochter des berühmten Sängers und Schauspielers Peter Alexander, der mit seiner Familie in Döbling eine Villa bewohnte. Mit Nachhilfestunden hielt ich mich finanziell über Wasser. Meinen alten Opel, der mir ab dem 18. Lebensjahr gute Dienste geleistet hatte, tauschte ich gegen ein Goggomobil* ein. In diesem winzigen, gelben Fahrzeug küsste ich zum ersten Mal meinen späteren Mann. Wie von einer starken Welle überrascht, fühlte ich mich davongetragen, nicht ahnend, dass in dieser Welle ein Strudel verborgen war, gegen den ich mich viele Jahre lang mit aller Lebensenergie würde wehren müssen. Am Anfang jedoch überschwemmte mich die Liebe oder das, was ich in meiner Unerfahrenheit dafür hielt; vor allem begeisterte mich der Idealismus meines Freundes. Kennen209

gelernt hatten wir uns im Taubstummeninstitut, wo er ein Jahr nach mir den Dienst angetreten hatte, vorerst als Erzieher, bald aber wurde für ihn eine Lehrerstelle frei. „Nichts für mich“, war mein erster Gedanke gewesen, als er sich vorstellte. Wie hätte ich mit dem blauen Leinenkleid und der unförmigen weißen Schürze, meiner „Arbeitstracht“, einem derart gut aussehenden, unbekümmert lachenden jungen Mann auch gefallen können? Es stellte sich bald heraus, dass er eine Freundin hatte. Sie hieß Aiko, stammte aus Japan und studierte Operngesang. Trotzdem lud mich Gerhard manchmal ein, ihn bei Unternehmungen mit einer Jugendgruppe, bei der er sich engagierte, zu begleiten und führte mich in seinen Bekanntenkreis sowie im Afro-Asiatischen* Institut ein. Meiner Mutter war die Sache längst nicht mehr geheuer. Seit dem Tod meines Vaters klammerte sie sich an mich, wodurch ich wahrscheinlich noch mehr Partei für den unkonventionellen jungen Mann ergriff. Ich sah in ihm einen um viereinhalb Jahre älteren, platonischen Freund, der einen viel weiteren Interessenkreis hatte als meine „materialistische Geschäftsfamilie“, wie er sich unverhohlen abwertend ausdrückte. Dass er sich von Aiko trennte und für mich entschied, kam völlig unverhofft. Begeistert ließ ich mich auf Zukunftsvisionen ein. Wir würden als Entwicklungshelfer nach Afrika gehen, sobald ich die Lehrbefähigungsprüfung abgelegt hätte, und selbstverständlich würden wir in ganz bescheidenem Rahmen kirchlich heiraten. Gerhard hatte die Matura im Stiftsgymnasium Melk abgelegt und ein abgebrochenes Theologiestudium hinter sich, und ich konnte mir ein Zusammenleben ohne kirchlichen Segen sowieso nicht vorstellen. Wie naiv! Wir heirateten – arm wie die Kirchenmäuse und gegen den Willen meiner Familie (seine bestand aus einer schwer kranken Mutter und zwei jüngeren Geschwistern) – zur Wintersonnenwende 1964 in einer Kapelle im romantisch verschnei210

ten Wienerwald. Vier Wochen später war ich schwanger. Wir wohnten in einer winzigen, altmodischen Dachwohnung mit Wasserleitung und WC am Gang, keine geeignete Bleibe für ein Baby. Gerhard fühlte sich in Familienpflichten gezwängt, die er so nicht hatte haben wollen. Er warf mir vor, ihn absichtlich um seine Pläne, sich in Entwicklungsländern zu engagieren, betrogen zu haben. Ich war tief verletzt, spielte aber nach außen hin die Rolle der zufriedenen werdenden Mutter und legte hochschwanger die Abschlussprüfung im Maturantenlehrgang ab. Ich war Lehrerin, welches Glück! Meine Tochter Katharina wurde im Oktober 1965 geboren, gesund und wunderschön wie eine kleine Puppe. Wir waren in eine etwas größere Behausung gezogen, wieder ohne Fließwasser und Toilette. Ich versuchte mit allem zurechtzukommen, so gut ich konnte. Am schlimmsten war der unberechenbare Wechsel zwischen Abweisung und Zuwendung meines Mannes zu ertragen. Damals wusste ich noch nicht, dass eine schleichende psychische Krankheit dahintersteckte. Im Wechselbad der Gefühle kamen noch zwei weitere Kinder im Abstand von jeweils 21 Monaten zur Welt, und wir landeten nach einer Übersiedlung zwischendurch im ersten Eigenheim, einer Zweizimmerwohnung im Grünen mit kleinem Balkon. Um diese zu erwerben, hatte ich bereits zwei verschiedene Lehrerposten zwischen den Schwangerschaften hinter mir, eine Karenzvertretung im Sacre Cœur in Pressbaum und ein Jahr in der damaligen Barackensiedlung in Auhof, wo für ziemlich verwahrloste Kinder Sonderschulklassen eingerichtet waren. Ich liebte meine Schützlinge und meine Arbeit, organisierte daneben die Betreuung meiner Kleinen und die Familienpflichten. Die Unterstützung des Gatten hielt sich in Grenzen, vielmehr verlangte er äußerste Rücksichtnahme, da er sich für das Lehramt an Hauptschulen weiterbildete. Ich war in unserer Siedlung bald als Mutter, die bei jedem Wetter mit ihren Kindern spazieren geht, bekannt. 211

Mit der Geburt von Bernhard schien das Ende meiner beruflichen Tätigkeit gekommen zu sein. Kathi, Waltraud und das Baby nahmen mich ganz in Anspruch, zugleich wurde die Ehe immer problematischer. Die Hoffnung, unsere Kinder, die mein Mann auf seine Weise durchaus liebte, könnten unser Zusammenleben retten, erwies sich als trügerisch. Ich fasste den Plan, so bald wie möglich eine Stelle als Kindergärtnerin anzunehmen, und hoffte, auf diese Weise meine eigenen Kinder mitbetreuen zu können. Im Sommer 1971 ergab sich die passende Gelegenheit. In Herrnbaumgarten, einer kleinen niederösterreichischen Gemeinde nahe der tschechischen Grenze, bot man mir die Leitung des Kindergartens und eine Wohnmöglichkeit an, darüber hinaus einen kostenlosen Platz für meine drei Kleinen, damals zwei, knapp vier und fünfeinhalb Jahre alt. Als ich dem Bürgermeister meine Zeugnisse vorlegte, verfrachtete er mich jedoch umgehend in sein Auto und fuhr mit mir zu seinem Freund, der den Posten des Bezirksschulinspektors in Mistelbach innehatte. In dem Weinviertler Schulbezirk herrschte akuter Lehrermangel. Ehe ich mich’s versah, war ich als Lehrerin der Hauptschule Wolkersdorf zugeteilt und für Kathi, Waltraud und Bernhard eine sehr gute Betreuungsmöglichkeit im Klosterkindergarten gefunden. Sie konnten in einer Gruppe beisammenbleiben. Die junge Nonne, die sie mit Liebe aufnahm, kannte ich sogar aus dem Kindergärtnerinnenseminar Kenyongasse. Dort hatte sie die Ausbildung ein Jahr vor mir abgeschlossen. Bernhard brauchte noch Windeln und war ihr „kleiner Teddybär“. Anfangs pendelte ich jeden Tag die 35 Kilometer von der Wiener Wohnung nach Wolkersdorf hin und zurück. Ich musste die Kinder um fünf Uhr früh aus dem Schlaf reißen, um rechtzeitig in der Schule zu sein. Die Raten für den VWKäfer, den wir gekauft hatten, verschlangen einen erheblichen Teil meines Monatsgehaltes. Im morgendlichen Herbstnebel 212

Abb. 32: Mit den zwei Töchtern zu Weihnachten 1969

erschien mir die Unfallgefahr bald zu groß, und ich suchte eine Bleibe in Wolkersdorf. Relativ günstig quartierten wir uns in einem alten Bauernhaus ein. An den Wochenenden in Wien kamen mein Mann und ich einander wieder etwas näher. Als in mir die Entscheidung reifte, der Großstadt endgültig den Rücken zu kehren, sagte er sogar seine Unterstützung zu. Ich hatte schon vor längerer Zeit Bewerbungen an die Landesschulräte Steiermark, Tirol und Salzburg geschrieben. Da ich meinen Kindern beim besten Willen kein wirklich geborgenes, intaktes Familienleben bieten konnte, sollten sie wenigstens in gesunder ländlicher Umgebung aufwachsen. Antwort kam aus Salzburg. Es wurde mir eine Stelle als Volksschullehrerin im Bezirk Tamsweg angeboten. 213

Der Dienstvertrag in Wolkersdorf lief nach einem Schuljahr aus. Zum Entsetzen meiner Mutter brach ich die Brücken zu Wien ab. Das Abenteuer Lungau begann. Die Eigentumswohnung wurde verkauft. Mein Mann nahm sich ein Mietzimmer. Er war ja nach wie vor Lehrer im Taubstummeninstitut und übte seine Arbeit mit viel Engagement aus. An den Wochenenden wollte er uns regelmäßig besuchen, mit dem VW-Käfer eine Fahrt von etwa vier Stunden. Insgeheim hegte ich die Hoffnung auf eine allmähliche Trennung in Frieden. Das Dorf, in das es uns verschlug und in dem Katharina, inzwischen knapp sieben Jahre alt, ihre Schullaufbahn begann, lag 1200 Meter hoch, sieben Kilometer nördlich von Tamsweg in einem sonnigen Tal: Lessach. 600 Einwohner. Eine Kirche. Der Ortskern in Ober- und Unterdorf geteilt, an den Hängen ringsum Bergbauernhöfe. Ein winziger Kaufladen, eine zweiklassige Kleinschule. Der Direktor, zufällig ebenfalls Wiener, hatte nach dem Krieg mit seiner Frau hier Fuß gefasst. Für mich ein glücklicher Zufall, denn der einheimische Dialekt gab mir am Anfang Rätsel auf. An meinem dreißigsten Geburtstag begann ich meine Laufbahn als Dorfschullehrerin. Abteilungsunterricht, erste und zweite Schulstufe, mehr als dreißig Kinder, mittendrin Kathi, die sich augenscheinlich wohlfühlte und auf Anhieb Freundinnen gefunden hatte. Uralte Schulpulte und Bänke. Mit Müh und Not fanden alle Platz, die „Erstler“ in der Fensterreihe, die „Zweitler“ entlang der Wand. Eine quietschende Schultafel, ein eisernes Ofenungetüm in der Ecke neben der Tür. Ein leerer Klassenraum musste als „Turnsaal“ herhalten. Bis vor Kurzem waren die Kinder bis zur sechsten Schulstufe im Dorf unterrichtet worden, nur die Begabtesten durften in Tamsweg die Hauptschule oder gar in Salzburg das Borro­ mäum, ein streng katholisches Knabengymnasium, besuchen. Die großen Fenster boten einen herrlichen Ausblick Richtung 214

Abb. 33: Die Autorin in ihrer Klasse in der Volksschule Lessach (Schuljahr 1976/77)

Süden über Wiesen und Felder bis hin zu Bergketten, von denen schon im Spätherbst der Schnee leuchtete. Während ich an den Vormittagen in der Unterrichtsarbeit aufging, betreute ein englisches Au-pair-Mädchen die fünfjährige Waltraud und den dreijährigen Bernhard. Elizabeth Mortimer war uns von einem Freund meines Mannes vermittelt worden, der als Deutschlehrer in London lebte. Unter „Salzburg“ hatte sie sich wahrscheinlich vor allem Mozart, viel Kultur und ein umfassendes Kennenlernen von Land und Leuten vorgestellt. Dazu war das abgeschiedene Bergdorf nicht wirklich der richtige Ort; ich hatte ja nicht einmal ein Auto zur Verfügung und zudem keine Spur von Freizeit. Für die Hausarbeit fühlte sich Libby nicht zuständig. Sie spielte Klarinette, ihre Fingerkuppen mussten weich und feinfühlig bleiben. Meistens kochte ich in aller Frühe vor, erledigte nachmittags die Hausarbeit und saß bis spätnachts bei Heften und 215

Unterrichtsvorbereitung. So ergab es sich, dass mein Mann an den Wochenenden zum Fremdenführer wurde, mit der jungen Engländerin Konzerte besuchte und sich in ihr Zimmer zu hochgeistigen Gesprächen zurückzog, die er mit mir nicht führen konnte. Alles platonisch, wurde mir versichert, sogar, als er sie während der Weihnachtsferien in ihre Heimatstadt Sheffield begleitete. Es war ein groteskes Jahr, aber es ging vorbei, und das Pendel schlug wieder in die andere Richtung aus, nämlich zu mir. Gerhard gab seine Arbeit im Wiener Taubstummeninstitut auf, zog ebenfalls in den Lungau und wurde in der Hauptschule Mariapfarr angestellt, da er neben der Sonderschullehrerprüfung auch die erforderliche Qualifikation in Deutsch, Geographie und Leibesübungen besaß. Während ich das zweite Jahr in Lessach unterrichtete, saßen meine beiden Mädchen bei mir in der ersten und zweiten Stufe, redeten mich in den Schulstunden respektvoll mit „Frau Lehrer“ an und holten sich in der Pause von der „Mama“ die Jause. Bernhard hätte jeden Tag mit seinem Vater nach Mariapfarr mitfahren und dort den Kindergarten besuchen sollen, sehr oft klagte er jedoch am Morgen über Bauchweh und blieb lieber allein in der Dienstwohnung im zweiten Stock des Schulhauses, wo er stundenlang Lego spielte. Mein Chef, Herr Oberschulrat Stadler, drückte großzügig ein Auge zu, wenn Bernhard ab und zu in meine Klasse schlich, um in meiner Nähe zu sein. Gerhard fühlte sich in der Wohnung, die ja meiner Anstellung zu verdanken war, eingeengt. Zunächst erschien mir der Gedanke, ein Eigenheim zu bauen, wie ein Hirngespinst, doch dieses nahm ziemlich Hals über Kopf Gestalt an. Mein Gehalt reichte für unseren bescheidenen Lebensunterhalt, mit den Einkünften meines Mannes und einem geförderten Familienkredit konnte bald ein Baugrund in sonniger Hang­ lage nahe Tamsweg gekauft werden. Der Hausbau wurde ein 216

Albtraum, da mein Mann zwar ständig großartige Pläne, aber keinerlei praktische Erfahrung hatte und zudem die Schuld an jeglichem Missgeschick auf mich und sogar auf die Kinder schob, die er in die Arbeiten einbezog und überforderte. In all dem Chaos überredete mich Gerhard 1976 zur einvernehmlichen Scheidung, wobei er mir zusicherte, die Lebensgemeinschaft unverändert aufrechtzuerhalten, solange Katharina, Waltraud und Bernhard beide Elternteile brauchten. Der Scheinfrieden hielt nicht lange. Der Rohbau war kaum fertig gestellt, als mir klar wurde, dass ich nie in diesem Haus leben würde. Als Miteigentümerin schien ich ohnehin nicht auf. Ich brauchte eigenen Boden unter den Füßen, einen sichtbaren Ausdruck dafür, nicht länger von meinem geschiedenen Mann abhängig zu sein. Mit Gehaltsvorschuss, Kredit und minimalen Eigenmitteln (mein Verdienst war ja während der zwölf Ehejahre immer in die Erhaltung der Familie geflossen) erwarb ich das Ferienhaus eines deutschen Jagdgastes am Ortsende von Lessach. Es war aus Holzfertigteilen errichtet, nicht unterkellert, auf 36 Quadratmetern Grundfläche mit Wohnraum, Küche, Bad und im Obergeschoß mit drei kleinen Schlafräumen ausgestattet. Der Bauer, auf dessen Pachtgrund es stand, ließ sich zum Verkauf desselben überreden. Er gestand mir sogar eine Zahlungsfrist von drei Jahren zu. Die finanziellen Sorgen waren indes unbedeutend im Vergleich zu den haarsträubenden Auseinandersetzungen, die sich um die Kinder entspannen. Mein Exmann verkraftete es nicht, dass ich seinem Einfluss entglitt. Er fasste einen Plan. Darin spielte seine gute Beziehung zum örtlichen Bezirksrichter, der nach einer Scheidung übrigens alleinerziehender Vater einer Tochter war, eine ausschlaggebende Rolle. Zudem hing der geförderte Kredit für das im Bau befindliche Haus vom Status des Familienerhalters ab. Es gab noch keine kostenlosen Beratungsstellen, Geld für einen Rechtsanwalt besaß 217

ich nicht. Kurzum: Der Richter sprach Gerhard die Obsorge für die Kinder zu, als sie acht, zehn und zwölf Jahre alt waren. Ich zog in das kleine, kaum möblierte Haus, etwa zehn Gehminuten von der Wohnung entfernt. Die räumliche Trennung war ein hoher Preis dafür, dass eine völlige Eskalation vermieden worden war. Wiederholt hatte mein Exmann mit Entführung und Gewaltanwendung gedroht, falls ich nicht zustimmen würde. Eine Zeit lang erwog ich, mein Häuschen aufzugeben. Ich hätte Berufspraxisunterricht im Kindergärtnerinnenseminar in Klagenfurt erteilen können. Es schwebte mir vor, die Kinder zu mir in die Stadt zu holen, sobald sie höhere Schulen besuchen konnten. Alle drei wehrten sich aber vehement dagegen und wollten mich unbedingt in ihrer Nähe behalten. Mehr oder weniger heimlich sahen wir uns fast täglich. Ich flickte ihre Wäsche und wir steckten einander kleine Liebesbeweise zu. Eigentlich erreichte ihr Vater mit dem Gerichtsbeschluss das Gegenteil: Wir wurden zur verschworenen Gemeinschaft. Die Geschwister hielten fest zusammen, besonders Katharina als die Älteste entwickelte ein starkes Verantwortungsgefühl. Während die beiden Mädchen die Hauptschule in Tamsweg besuchten, war Bernhard weiterhin Schüler in Lessach, allerdings nicht in meiner Klasse. Dem Ansinnen seines Vaters, ihn nach Tamsweg umschulen zu lassen, hatte er sich so heftig widersetzt, dass er schließlich bleiben durfte. Die tapfer versteckte Not der Kinder sprengte meinen Glauben an die Unauflöslichkeit der christlichen Ehe, der mich all die Jahre wie ein Panzer umschlossen hatte. Allmählich gewann ich das Vertrauen, Gott müsse auch auf krummen Zeilen gerade schreiben können. Hatte ich nicht meinen Beruf, der mich unabhängig machte? In der Tat wurde meine Arbeit im Dorf sehr geschätzt. „Bei der lernen die Kinder was, und sie gehen gern in die Schule“, hieß es. 218

In der Zerreißprobe zwischen äußerer Anpassung und innerem Widerstand war ich leider auch empfänglich für manchen falschen Trost. Eine Zeit lang suchte ich bei einer glücklicherweise harmlosen Sekte Halt, und eine zweifelhafte Liebschaft half mir auch nicht weiter. Als Segen erwiesen sich unerwartete berufliche Möglichkeiten, die sich auftaten. Eines Tages erschien eine ältere, hagere Dame im Gemeindeamt, die Fachinspektorin für alle Kindergärten des Landes Salzburg, wie sich herausstellte. Ich wurde zur Besprechung eingeladen, da meine doppelte Berufsausbildung bekannt war. Es lief ein Finanzierungsprogramm, das nach Möglichkeit auch kleine Orte mit Kinderbetreuung ab dem dritten Lebensjahr versorgen sollte. Räumlichkeiten waren dafür in Lessach nicht vorhanden, aber ich bot an, während der Sommerferien einen sechswöchigen Erntekindergarten in den Schulklassen abzuhalten. Der Vorschlag wurde sofort angenommen und bescherte mir nebst höchst kreativer Tätigkeit einen zwar bescheidenen, aber für mich damals dringend benötigten finanziellen Zuschuss. Ich musste ja die Kreditraten für den Hauskauf abzahlen. Der liebe Gott hatte mich also doch nicht vergessen! Im ersten Jahr besuchten mehr als dreißig Kinder den Erntekindergarten. Zwei halbwüchsige Mädchen stellten sich begeistert als Helferinnen zur Verfügung. Sie bekamen von der Gemeinde einen kleinen Obolus ausbezahlt. Wieder besann ich mich auf das Basteln mit einfachen Mitteln wie bei meiner ersten Anstellung im Taubstummeninstitut, ich dachte mir aber auch Gedichte, Lieder und allerlei Spiele aus. Die Kinderbetreuung kam so gut an, dass auch während des Schuljahres jeweils Dienstag und Donnerstag Nachmittagskindergarten eingeführt wurde. Im Dezember 1977 trat Herr Oberschulrat Stadler in den wohlverdienten Ruhestand. Er hatte 32 Jahre lang die Geschi219

cke der Lessacher Volksschule geleitet. Ich wurde zur provisorischen Direktorin ernannt und suchte um die fixe Stelle an. Auch ein jüngerer Kollege, der mit seiner Familie in die Dienstwohnung im ersten Stock des Schulhauses einzog, reichte eine entsprechende Bewerbung ein. Da sein freundliches, gewinnendes Wesen die äußerst nachlässige Arbeitsweise nicht wettmachen konnte, hatte er allerdings wenig Chance, die Schulleitung übertragen zu bekommen. Unerwartet wurde ein anderer Kandidat an die erste Stelle gereiht; die Hintergründe erfuhr ich erst viel später. Im Lessacher Gemeinderat war ein Aufruhr entstanden, dass eine Frau, noch dazu eine „Geschiedene“, die ihre Kinder dem Exmann überlassen hatte, den Direktorposten erhalten sollte. Deswegen machte sich hinter meinem Rücken eine Abordnung, angeführt vom Vizebürgermeister, auf den Weg, um einen in ihren Augen würdigeren künftigen Schulleiter zu suchen. Wunschgemäß hätte dieser auch gleich die örtliche Trachtenmusikkapelle und den Kirchenchor übernehmen sollen. Tatsächlich ließ sich ein Lehrer aus einem Dorf am anderen Ende des Lungaus überreden. Dass auch er geschieden, allerdings wieder verheiratet war, tat nichts zur Sache, und eigentlich verdanke ich es seiner zweiten Frau, die unter keinen Umständen nach Lessach übersiedeln wollte, dass ich letzten Endes am 31. August 1978 im Chiemseehof in Salzburg feierlich das Ernennungsdekret zur Schulleiterin überreicht bekam. Insgesamt lebte ich in diesen Monaten in einem seelischen Ausnahmezustand. Einerseits fügten sich die beruflichen Aufgaben in beglückender Weise, andererseits ließ mich die nagende Sorge um meine Kinder in keinem Augenblick los. Noch wohnten sie ja mit ihrem Vater im oberen Stockwerk des Schulhauses, und wir sahen einander fast täglich, aber was würde nach der Fertigstellung des Eigenheimes werden? Dass Kathi mit ihren Geschwistern heimlich Auswege beratschlagte, ahnte ich nicht. Von Lessach wegzuziehen erschien 220

ihnen unvorstellbar. Also ging Kathi auf eigene Faust zum Jugendamt und schilderte die Situation. Sie war zwölf Jahre alt. Einer Fürsorgerin, die daraufhin vorsprechen wollte, verwehrte Gerhard auf unflätige Weise den Zutritt zur Wohnung. Er fühlte sich in die Enge getrieben, zumal er zunehmend mit Schwierigkeiten an seiner Dienststelle zu kämpfen hatte, wo sein labiler psychischer Zustand von Kollegen und Eltern offen kritisiert wurde. In einem Zornesausbruch schob er den Kindern die Schuld an seiner verfahrenen Lage zu, worauf Waltraud vom Balkon der Wohnung laut um Hilfe rief. Als Nachbarn herbeieilten, klammerten sich die Kinder anei­nander, sagten, dass sie beisammenbleiben und zu mir wollten. Ich hätte nie erwartet, dass mein Exmann so rasch und kampflos aufgeben würde. Er muss gespürt haben, dass er gegen meine Eigenständigkeit und die Dorfgemeinschaft machtlos war, denn als er die Kinder zu mir brachte und mich zu beschimpfen versuchte, jagte ihn der Bauer, der gerade auf dem Feld jenseits des Zaunes Erdäpfel klaubte, davon. Der 8. Oktober 1978 war der Beginn unseres neuen Lebens, und dieses Datum ist bis heute ein Familienfeiertag für mich und meine drei „Großen“ geblieben. Nie werde ich die erste gemeinsame Nacht im Häuschen vergessen. Wir lagen auf Campingbetten, lachten und scherzten und konnten vor freudiger Aufregung nicht schlafen. Unsere Habseligkeiten waren fein säuberlich in Bananenkartons verstaut, einige Kleidungsstücke hingen an Haken auf einem quer durch das Zimmer gespannten Strick. Die Armseligkeit am Beginn des von nun an unangefochten gemeinsamen Lebens störte uns nicht im Mindesten. Wir waren glücklich. Durch meine Arbeit konnte ich für die Kinder allein sorgen. Ein schriftlicher Bescheid vom Jugendamt übertrug mir das Obsorgerecht, noch ehe ich Zeit gefunden hatte, mich darum zu kümmern. 221

Voll Lebensfreude und Tatendrang machten wir es uns im Häuschen gemütlich. Der Garten wurde zum öffentlichen Spielplatz für die Dorfkinder. Kathi und Waltraud halfen mir, die Gemeindebücherei neu auszustatten und zu betreuen. Bernhard lernte fleißig für den Übertritt ins Gymnasium. Wir malten, bastelten, sangen, musizierten und betrieben Sport. Vielleicht überdeckten wir mit unserer Betriebsamkeit die seelischen Verletzungen, die wir in den Jahren der Bedrängnis erlitten hatten. Wir sprachen nicht darüber. Wir schauten in die Zukunft. Ich begann ein theologisches Fernstudium, um später auch Religion unterrichten zu dürfen. Bald darauf ergab sich eine neue Herausforderung. Auslöser dafür war die wachsende Beliebtheit des Nachmittagskindergartens. Einmal hockte ich hinter einer provisorischen Kasperlbühne, und während ich den Kindern mit Wollsockenfiguren eine aufregende Geschichte vorspielte, betrat unbemerkt die Kindergarteninspektorin den Raum. Am Ende der „Vorstellung“ jubelten die Kinder, und ich erntete für mein Improvisationstalent großes Lob. Am gleichen Tag wurde vor versammelter Gemeinde der Bau eines Kindergartens beschlossen. Binnen Kurzem stellte sich heraus, dass mit Landesförderung ein viel umfassenderes Projekt in Angriff genommen werden konnte, nämlich ein neues Schulgebäude mit Turnhalle, gleichzeitig ein großzügiger Umbau der alten Klassenräume zu einem modernen Kindergarten. Ich durfte bei der Ausgestaltung Wünsche und Ideen einbringen. Im Schuljahr 1979/80 entstanden die neuen Gebäude. Der Gemeindearbeiter übermalte die Glasscheiben der Klassenfenster mit weißer Farbe, sonst hätten die Kinder im Unterricht unmöglich aufpassen können. Die fortschreitenden Bauarbeiten zu beobachten war eine allzu spannende Angelegenheit. 222

Jänner 1979. Ein Wendepunkt ganz anderer Art in meinem Leben, mit dem ich nie und nimmer gerechnet hätte. Schuld daran war eigentlich der Schilift. Gemeinsam mit dem Elternverein hatte ich eine Unterschriftenaktion zur Erhaltung des kleinen Dorfschiliftes gestartet. Der örtliche Schiklub wollte mit Unterstützung der Gemeinde den Lift aus privater Hand übernehmen, falls mindestens hundert verbindliche Zusagen für den Kauf einer Saisonkarte zusammenkämen. Es war klar, dass die Erhaltung viel Idealismus erfordern würde. Das Echo war überwältigend. Mit Landesförderung konnte sogar ein neues, sehr passables Pistengerät angeschafft werden. Es eignete sich auch zum Präparieren einer Langlaufloipe, was weitere sportliche und touristische Möglichkeiten für den Ort versprach. Der Erfolg wurde mit einem Schiklubball gefeiert. Natürlich bekam ich eine Einladung, wäre aber gar nicht hingegangen, hätten meine Töchter mir nicht zugeredet. Offenbar vergönnten sie mir eine Abwechslung in meinem arbeitsreichen Leben. Hätten sie geahnt, dass mitten im Winter der zweite Frühling über ihre Mutter hereinbrechen würde, wären sie vermutlich vorsichtiger gewesen. Ich lernte an diesem Abend den Vater meines Nachzüglers kennen, einen feschen Lessacher Bergbauern. Eigentlich kannte ich ihn ja bereits, denn im Dorf kannte jeder jeden. Er hatte zwei uneheliche Töchter, ungefähr gleichaltrig mit meinen Mädchen, und bewirtschaftete einen Hof am westlichen Talhang, erreichbar über einen kurvenreichen Güterweg, 1400 Meter hoch gelegen. Daran dachte ich aber nicht, als wir uns in einer ruhigen Ecke abseits des Ballgeschehens näherkamen. Wir hatten nichts gemeinsam, außer dass wir sehr viel Energie in unsere Arbeit steckten, so unterschiedlich diese auch war. Um Mitternacht suchte ich eine Gelegenheit für die Heimfahrt vom Balllokal, das sechs Kilometer von Lessach 223

entfernt war. Im letzten Moment fing mich ein Freund meines Verehrers ab und überredete mich zum Bleiben. Nein, ich wollte mich nicht verlieben, aber es ist trotzdem geschehen. Alfons, als rechter Schürzenjäger bekannt, konnte sehr charmant sein, und, was mich am meisten überraschte, er meinte es ernst. Er wollte eine Familie gründen, ausgerechnet mit mir. Wir waren 37 Jahre alt, als wir uns aller schier unüberwindbaren Hindernisse zum Trotz behutsam auf einen gemeinsamen Weg machten. Es musste alles langsam gehen. Keiner konnte seine Verpflichtungen und seine Arbeit vernachlässigen. Da waren seine alten Eltern auf dem Hof, und es gab mehrere ledige Geschwister. Von Anfang an stellte ich klar, dass ich meinen Beruf unter keinen Umständen aufgeben würde. Alfons war damit einverstanden. Den Widerstand seiner Familie schirmte er, so gut es ging, von mir ab, und dass er manchmal spöttisch als „Herr Direktor“ angeredet wurde, schien ihm nichts auszumachen. Waltraud verhielt sich sehr ablehnend, wenn er uns im Häuschen besuchte, Kathi und Bernhard zogen sich eher zurück. Bei der feierlichen Eröffnung des Lessacher Bildungszentrums, das die neu erbaute Schule mit Turnhalle und den adaptierten Kindergarten umfasste, trug ich – noch unbemerkt – mein viertes Kind unter dem Herzen. Es gab damals so viele Schulkinder im Dorf, dass drei Klassen geführt werden konnten. Sobald meine Schwangerschaft bekannt wurde, schlug mir mehr Wohlwollen entgegen, als ich erhofft hatte. Auch meine Kinder begannen sich auf das Geschwisterchen zu freuen. Bei der Geburt von Robert am 12. Juli 1981 waren sie zwölf, vierzehn und knapp sechzehn Jahre alt. Mit Schulbeginn im Herbst 1981 endete der Mutterschutz, und ich nahm meine Arbeit wieder auf. Bei einer künftigen Schwägerin, die in der Nähe der Schule wohnte, konnte ich 224

Abb. 34: „Ein bisschen als Bäuerin ‚verkleidet’“, vor dem Krughof auf 1400 Meter Seehöhe (1984)

den Kleinen während der Unterrichtszeit zur liebevollen Betreuung abgeben. Die Jahre mit meinen Kindern im Häuschen habe ich als besonders glückliche Zeit in Erinnerung. Aber ich schuldete meinem Jüngsten und auch der Liebe zu seinem Vater zumindest den Versuch eines gemeinsamen Lebens auf dem Bauernhof. Der Umzug erfolgte im Jänner 1984. Der Abschied von unserem kleinen Heim fiel uns sehr schwer. Von nun an galt meine Berufsarbeit sozusagen als Nebenverdienst für den Bauernhof, denn Bäuerin konnte und wollte ich nicht werden. Ausgelastet war ich dennoch mehr denn je. Die tägliche Herausforderung bestand darin, unsere grundverschiedenen Lebenswelten beizubehalten und trotzdem füreinander da zu sein, wo immer es möglich war. Leicht war es nicht, weder für uns als Paar noch für die Kinder und auch nicht für die zahlreichen neuen Verwandten. 225

Aber das Experiment ist geglückt. Geglückt – ja, das Wort ist richtig gewählt. Es steckt „Glück“ darin, wohl auch Mühe, Geduld, Ausharren und beständige Liebe. Fast genau zwanzig Jahre nach der Einweihung des neuen Schulzentrums trat ich in den Ruhestand, dankbar für eine lange und erfüllte berufliche Laufbahn. Nebenbei hatte ich inzwischen in einem anderen Beruf Fuß gefasst, nämlich als Autorin von Gedichten, Geschichten Abb. 35: Ein Sprachbastel-Workund Theaterstücken für Kinshop in der Volksschule Lessach der. Was zunächst nur für (2010) den Unterricht gedacht war, fand einen rührigen Verleger. Weiterer kreativer Tätigkeit sind daher keine Grenzen gesetzt. Mein Mann bewirtschaftet nach wie vor den Bauernhof. Als Nachfolger kommt am ehesten einer der Enkelsöhne in Frage, denn Robert hat ein technisches Universitätsstudium abgeschlossen wie sein älterer Bruder Bernhard, Kathi ist Sprachheillehrerin geworden, und Waltraud arbeitet als Physiotherapeutin in eigener Praxis. Es erfüllt mich mit großer Freude, dass meine Kinder mit Fleiß und Ausdauer den jeweiligen Wunschberuf als tragfähiges Rückgrat für ihr Leben erreichen konnten. Ob sie sich an uns ein Beispiel genommen haben?

226

Mein Glück war, dass ich so klein war Barbara Wass wurde am 1. Mai 1944 als Barbara Krallinger in Scheffau am Tennengebirge, Land Salzburg, geboren und wuchs als jüngstes von drei Kindern auf einem entlegenen Bergbauernhof im Lammertal auf. Ihr Vater war Holzarbeiter, die Mutter arbeitete in der vom Arbeitgeber des Vaters gepachteten Landwirtschaft, wo auch die Kinder schon früh zur Mithilfe angehalten wurden. Als die Autorin zwölf Jahre alt war, übersiedelte die Familie in ein kleines Haus im Tal, nachdem der Vater Arbeit in einem Sägewerk bekommen hatte. In den Jahren 1958 bis 1965, zwischen dem Abschluss der Pflichtschule und ihrer Heirat, war Barbara Waß an verschiedenen Orten als Kindergartenhelferin und als Hausgehilfin beschäftigt. Diese Tätigkeiten stehen im Mittelpunkt ihrer nachfolgenden Erzählung. Nach ihrer Eheschließung war die Autorin nicht mehr bzw. nur in geringfügigem Ausmaß erwerbstätig. Mit ihrem Ehemann, einem Facharbeiter in der Lebensmittelindustrie, zog sie drei Kinder groß. Daneben engagierte sie sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und erlangte durch ihre Arbeit in der Erwachsenenbildung und als Buchautorin Bekanntheit im Land Salzburg und darüber hinaus. Schon relativ früh empfand Barbara Waß das Bedürfnis, die erlebten Diskrepanzen zwischen ihrer Kindheit auf dem einsam gelegenen Bergbauernhof und dem Leben ihrer eigenen Kinder, somit die raschen Veränderungen im Alltag der Menschen, schriftlich festzuhalten. 1984 kam sie über alltagsgeschichtliche Rundfunksendungen in Kontakt mit der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeich227

nungen“ und schrieb in der Folge aufgrund eigener Erinnerungen und Nachforschungen die Lebensgeschichten ihres Vaters und einer ihrer Großmütter auf. Die beiden Manuskripte wurden unter den Titeln „Mein Vater, Holzknecht und Bergbauer“ (1985) und „Für sie gab es nur die Alm … Aus dem Leben einer Sennerin“ (1988) in der Buchreihe „Damit es nicht verlorengeht …“ veröffentlicht. In mehreren Sammelbänden dieser Reihe finden sich weitere, themenbezogene Erinnerungstexte der Autorin. Außerdem war Barbara Waß ab Mitte der 1980er Jahre in der Erwachsenenbildung aktiv, arbeitete im Bildungswerk Salzburg mit und leitete lebensgeschichtliche Gesprächskreise im Tennengau, unter anderem in der Zweigstelle der Salzburger Volkshochschule in ihrem Wohnort Kuchl. Schon vor ihrem Engagement in der Bildungsarbeit war die Autorin eine Zeit lang Mitglied in der religiösen Gemeinschaft der Zeugen Jehova gewesen. Ihre diesbezüglichen Erfahrungen dokumentierte sie 1989 in dem Buch „Leben in der Wahrheit? Zwölf Jahre Zeugin Jehovas“. 2007 erschien ihr bislang letztes Buch mit dem Titel „Vom alten Leben mit der Natur. Großmutter erzählt“. Solang’ ich denken kann, war ich in die Tagesarbeit auf dem kleinen Bergbauernhof eingebunden, auf dem ich aufgewachsen bin. Ich wurde hierhin und dorthin geschickt, und mit meinem Alter wuchsen die Pflichten, die ich zu erledigen hatte. Ich lernte mit den Kühen, Schweinen, Ziegen, Hühnern und Bienen umzugehen, lernte melken, Milch abtreiben, Butter rühren, mähen und Getreide schneiden, lernte wie Heuschober oder Schwedenreiter* gemacht wurden, wie Garben gebunden und Getreide geschnitten wurde. Ich half mit, wenn ein geschlachtetes Schwein zerlegt, eingesurt* und schließlich der Speck geselcht wurde, ebenso wie beim Anbau und bei der Ernte von Kartoffeln und Kraut bis hin zur Verarbeitung zu Sauerkraut. Meine Kinderhände waren bei allem dabei, was mit der Wolle zusammenhing. Sie haben das kleine Lämmlein ge228

streichelt, beim Schafscheren mitgeholfen, bei der Verarbeitung der Wolle, und zuletzt habe ich Socken oder Fäustlinge daraus gestrickt. Natürlich war ich auch dabei, wenn ein Bienenvolk schwärmte, wenn Honig geschleudert wurde oder im Spätsommer die Bienen gefüttert werden mussten. Wenn Mutter und ich allein zu Hause waren, musste ich manches sogar allein machen, denn Mutter war allergisch auf Bienenstiche. Sie bekam sofort hohes Fieber und war dann in einem elenden Zustand. Mein Vater war ein geschickter Handwerker, und ich hab stets eifrig zugeschaut, ob er nun einen Heuwagen gebaut, die Sensen gedengelt oder Schuhe geflickt hat. So lernte ich früh die verschiedensten Werkzeuge kennen und unterscheiden, wusste, wozu sie gebraucht wurden und wie sie hießen. Das war auch wichtig, denn oft wurde ich geschickt, um dieses und jenes zu holen. Brachte ich etwas Verkehrtes, musste ich nochmals laufen. Seit frühester Kindheit spielte in meinem Umfeld Holz eine wichtige Rolle. Der Besitzer des Hofes, auf dem wir lebten und den meine Eltern gepachtet hatten, war Holzhändler. Er hatte das Anwesen nur gekauft, weil relativ viel Wald dazugehörte. Mein Vater war bei ihm als Holzknecht angestellt (von der kleinen Landwirtschaft hätten wir nicht leben können), und da es rings um uns ebenfalls viel Wald gab, bin ich gewissermaßen unter Holzknechten aufgewachsen und hab die Waldarbeit aus unmittelbarer Nähe miterlebt. Im letzten Sommer, den wir auf diesem Hof verbrachten, waren meine Brüder – die um fünfeinhalb und siebeneinhalb Jahre älter waren als ich – schon aus dem Haus. Deshalb war nun ich an der Reihe, mit Vater früh am Morgen zum Mähen aufs Feld zu gehen. Mutter musste um diese Zeit die Stallarbeit erledigen und die Milch verarbeiten. Ob ich nun mit Vater mitgehen „durfte“ oder „musste“, ist schwer zu definieren. Einerseits war das Mähen eine anstrengende Arbeit, 229

andererseits war ich aber stolz, dass ich jetzt schon bei dieser wichtigen Arbeit dabei war. Ich strengte mich auch mächtig an, um halbwegs mit Vater mithalten zu können. Wahrscheinlich hab ich mich vor lauter Ehrgeiz zu viel angestrengt, denn nach einigen Tagen wurde mir schwindlig, ich musste erbrechen und schließlich einen Tag im Bett bleiben. Während der Heuernte ging der Arbeitstag von spätestens halb fünf Uhr morgens bis in den späten Abend. Das war wohl etwas zu viel für mich, ich war damals gerade erst elf Jahre alt. In diesem Sommer kauften meine Eltern ein kleines Haus im Tal, und im darauffolgenden Winter übersiedelten wir dorthin. Der Besitzer fand danach keine neuen Pächter mehr, deshalb wurden die Wiesen schließlich aufgeforstet und die Gebäude verfielen. Für uns veränderte sich mit dem Umzug vieles. Mein Weg von der Schule nach Hause dauerte nun nicht mehr eineinhalb Stunden, sondern nur mehr zwanzig Minuten. Die restliche Zeit war auch nicht mehr so dicht mit Arbeit ausgefüllt. Wir hatten allerdings noch drei Ziegen, zwei Schweine und acht bis zehn Hühner, bei deren Betreuung ich helfen musste. Außerdem gab’s beim Haus kein Wasser; das musste vom Brunnen des Nachbarn geholt werden. Da es für die Ziegen beim Haus nur wenig Futter gab, hatte Vater zwei kleine Wiesenflächen gepachtet, die zwei Kilometer von uns entfernt lagen. Er baute einen kleinen Leiterwagen, und mit dem fuhren Mutter und ich jeden zweiten Tag dorthin, um Futter zu mähen und nach Hause zu bringen. Obwohl die Strecke ziemlich eben war, war das doch relativ anstrengend, denn die schmalen, eisenbeschlagenen Holzräder liefen auf der Schotterstraße nur schwer. Außerdem ratterte das Gefährt derart, dass wir schon von Weitem zu hören waren. Auch das Heu für den Winter brachten wir auf diese Weise nach Hause. Zudem hatte Vater mit einem anderen Bauern eine Abmachung getroffen, durch die wir etwa einen 230

Kilometer entfernt ein Stück Weide nutzen durften. Wenn’s nicht gerade stark regnete, trottete ich jeden Tag nach der Schule mit den Ziegen dorthin. Das Ziegenhüten hab ich nie gemocht, denn diese Viecher wollten immer viel lieber ins Feld nebenan. Der Zaun war für sie dabei kein Hindernis. Wenn meine Mutter nicht daheim war, musste ich am Abend die Tiere allein versorgen und auch für die Männer kochen. Im Sommer war das öfter der Fall. Damals haben die Bauern in der Gegend noch alle Getreidesorten angebaut. Für die Ernte dingten* sie tageweise Frauen aus der Umgebung als Schnitterinnen. Die meisten Arbeiterfrauen kamen ja selber von Bauern oder hatten in ihrer Jugend als Dienstboten bei Bauern gearbeitet; sie kannten und konnten also diese Arbeit. Meist brachten sie auch ihre eigene Sichel mit. Meine Mutter ging öfters „schneiden“ und freute sich über das Geld, das sie dabei verdienen konnte. Manchmal gab’s dafür eine Suppe aus einem richtigen Suppenwürfel und vielleicht gar eine Speckwurst hinein; das war dann ein ganz besonderes Essen. Auch ich habe mein erstes Geld bei Bauern verdient. In der Nachbarschaft gab es einen kleinen Hof, der einem der größeren Bauern gehörte und vom Haupthof aus bewirtschaftet wurde. Das Haus war vermietet. Bei der Heuernte wurden Frauen aus der Nachbarschaft gedungen, denn es sollte alles schnell eingebracht werden. Der Bauer fragte meine Mutter, ob „das Dirndl“ nicht auch mithelfen möchte. Meine Aufgabe war es, mit dem Pferd den Heuwagen Stück für Stück vorzufahren und außerdem dem Pferd die Bremsen vom Leib zu halten. Gegen Abend wurde ich auf den Hof geschickt, um dort das Essen für alle zu holen. Der Weg dorthin dauerte eine Dreiviertelstunde. Mit dem Essen für mehr als zehn Personen wurde der Rückweg nach dem langen Tag auf dem Feld schon ziemlich schwer, aber die Bäuerin hatte mir auch eine gute Wegzehrung gegeben. 231

Als der Bauer nach dem Essen die Frauen auszahlte, bekam auch ich meinen Anteil. Nicht so viel wie die Erwachsenen, aber dafür noch ein Lob dazu. Beim nächsten Mal wurde ich schon aufs Heufuder geschickt und ersetzte dort die Magd, die bisher fürs „Fudertreten“ zuständig gewesen war. Da ständig zwei Männer aufluden, musste ich mich schon ordentlich ranhalten, um das Heu richtig zu verteilen und festzutreten. Nebenbei hieß es aufpassen, dass ich nicht herunterfiel, wenn das Pferd wieder anzog. Ich hatte allerdings einen großen Vorteil, denn ich hatte diese Arbeit auf unserem Bergbauernhof in sehr steilem Gelände gelernt. Dagegen war es hier auf dem relativ flachen Feld leichter und weniger gefährlich, auch wenn bedeutend größere Fuder gemacht wurden. In meinen letzten beiden Sommerferien hab ich jeweils mehrere Wochen bei einem anderen Bauern gearbeitet. Das war für Arbeiterkinder damals nicht außergewöhnlich. Der Weg dorthin dauerte zu Fuß eine Dreiviertelstunde, aber ungefähr die Hälfte davon konnte ich mit dem Rad fahren, dann ging es noch einen schmalen Weg steil bergauf. Straßen gab es zu den Bauern dort noch länger nicht. Die Arbeit war sehr vielseitig. Hauptsächlich Feldarbeit, aber bei Schlechtwetter auch bügeln, stopfen, kleine Ausbesserungsarbeiten an der Wäsche, Holz tragen usw. Am liebsten war mir aber das Kirschenpflücken. Tagelang stand ich ganz allein auf den großen Kirschbäumen und füllte meine „Zistel“ mit den kleinen roten oder schwarzen Früchten. (Zistel ist ein Körbchen extra für diesen Zweck, das mit einem Strick um die Taille gebunden wurde.) Ich konnte essen, so viel ich wollte, und nebenbei einfach meinen Gedanken nachhängen. Alle paar Stunden kam einer der Männer, um die Leiter umzustellen, damit ich überall hinkam. Sie brachten leeres Geschirr und nahmen das volle mit. Die Kirschen wurden für den Winter gedörrt; außerdem gab es in der Zeit öfters ein herrliches „Kerschmuas“, einen Kirschenschmarren. Das Es232

sen auf dem Hof war sehr gut und das Klima ebenfalls. Die Bauersleute waren schon etwas älter, außerdem waren zwei erwachsene Söhne da. Jeder tat ruhig seine Arbeit, nie wurde herumgeschrien oder geflucht, wie es anderswo öfter der Fall war. Auch dann nicht, wenn’s Probleme mit dem Vieh gab, wenn etwas kaputtging oder ein Gewitter aufzog und alles schnell gehen musste. Bezahlt bekam ich am Tag zehn Schilling. Im zweiten Sommer bei diesem Bauern war ich schon 14 Jahre alt, hatte meine Schulzeit hinter mir, und am 1. September sollte mein Berufsleben beginnen. In meiner Schulzeit wurde ich oft gehänselt, weil ich so klein war, doch als es darum ging, in einen Beruf einzusteigen, wurde gerade das zu einem wirklichen Glücksfall für mich. Mein Traumberuf wäre immer schon Lehrerin gewesen, doch das war aus mehreren Gründen unerreichbar. Meine Eltern konnten sich eine solche Ausbildung nicht leisten, zumal ich dafür in ein Internat gehen hätte müssen. Mein Lehrer hatte meinen Wunsch zwar sehr unterstützt und gefördert, hatte mehrmals versucht, meine Eltern umzustimmen, wollte mich auch beim Lernen unterstützen, aber es half alles nichts. So blieb mir nichts anderes übrig, als mein Entlassungszeugnis vom 2. Juli 1958 zu den anderen Zeugnissen in den Schrank zu legen. Stolz war ich trotzdem drauf, denn es gab darin nur die Note „Sehr gut“. Zu der Zeit sahen die meisten Menschen Arbeit noch für viel wichtiger an als Bildung, besonders auf dem Land. Als Mädchen sollte ich klarerweise erst einmal ordentlich die Hausarbeit lernen. Meine Eltern dachten, ein guter Platz dafür wäre bei den Schwestern* in Hallein. Die betrieben damals schon unter anderem eine Haushaltungsschule und ein Internat. Die Schule kam zwar nicht in Frage, aber als Küchenhilfe würde ich sicher auch viel lernen, und außerdem wäre ich gut behütet. 233

Als ich dort hinkam, um mich vorzustellen, sah mich die zuständige Schwester von der Seite an, dann sagte sie, es täte ihr leid, aber ich sei so klein, da könnte ich ja nicht einmal in die Töpfe schauen. Für diese Arbeit sei ich einfach zu schwach. Mein Vater sagte zwar, ich wäre eh bedeutend stärker, als ich aussehe, und das stimmte auch, aber die Schwester nahm mich doch nicht. Sie gab uns aber den Rat, in Abtenau im Kindergarten nachzufragen. Dieser Kindergarten wurde ebenfalls von Halleiner Schulschwestern betrieben. Die Leiterin war eine Schwester, als Helferin wurde jeweils für ein Jahr eine „Vorschülerin“ eingestellt. Das war eigentlich ein Praktikum, ehe man die Kindergartenschule absolvieren konnte, aber so genau wurde das damals nicht genommen. Der Kindergartenschwester kam ich zwar auch reichlich klein vor, aber sie meinte, wenn ich fleißig wäre, würde ich es schon schaffen. Also wurde ich wegen meiner (fehlenden) Größe statt Küchenmädchen Kindergartenhelferin, und das war ein wirklicher Glücksfall. Als Entlohnung gab es ein monatliches „Taschengeld“ von 100 Schilling und die „Kost“, also das Essen, dazu die Fahrkarte für den Bus. Als Vorschülerin bekam ich eine Schülerwochenkarte, die kostete erst 20, später 22 Schilling. In diesem Status musste ich auch nicht bei der Sozialversicherung angemeldet werden, sondern blieb bei meinem Vater mitversichert. Der Umstieg aus dem Elternhaus in diese für mich völlig neue Welt war sehr aufregend. Meine Arbeit begann schon fast zwei Wochen vor Ende der Kindergartenferien – mit Putzen! Sämtliche Spielsachen waren während der Ferien angeschimmelt, weil sie nach dem Waschen zu Ferienbeginn wegen schlechten Wetters nicht genug ausgetrocknet waren. Also musste ich eine Lade nach der anderen und jedes Stück Holz- und Kunststoffspielzeug waschen, bürsten und wieder trocknen. Zum Glück war diesmal gutes Wetter, und die 234

Sonne half mir dabei. Dazu waren die Fenster und die Räume durchzuputzen. Neben der Arbeit galt es auch, sich die Struktur des Hauses anzueignen. Im Haus gab es neben der Kindergärtnerin noch vier andere Schwestern. Die Oberin war Lehrerin in der Volksschule, eine Schwester war für Küche und Haus zuständig, eine für die Wäsche, den großen Garten und die Hühner, und dann gab es noch eine alte Schwester, die nicht mehr arbeiten konnte. Wenn mittags um 12 Uhr die Glocken zu läuten begannen, fanden sich alle in der Küche ein, und die Oberin begann das Mittagsgebet. Teile davon sind mir noch heute in Erinnerung: „Herr, Du öffnest Deine Hand und gibst allem Lebenden …“ Nach dem Gebet setzten sich die Schwestern an den Tisch in der Küche. Ich saß meistens zusammen mit zwei Volksschülerinnen im Kindergarten. Die zwei Mädchen wurden am Nachmittag im Kindergarten mitbetreut, einen Hort gab es im Ort nicht. Die Mutter des einen Mädchens war tagsüber im Geschäft, die andere war eine alleinstehende Sägewerksarbeiterin. Vieles von dem, was es zu essen gab, kannte ich überhaupt nicht. Wenn ich etwas nicht mochte, traute ich mich das aber nicht zu sagen. Es war auch unerwünscht, dass etwas zurückgebracht wurde. An sich war das Essen aber gut, reichlich und viel abwechslungsreicher, als ich es von zu Hause gewohnt war. Der Kindergarten war gerade erst neu ausgebaut worden. Er war für die damaligen Verhältnisse sehr modern und auch gut ausgestattet. Im neuen Trakt gab es sogar schon Zentralheizung. Der Eingangsbereich war freundlich, mit viel Glas und Türen in verschiedenen Farben. Der Waschraum war ebenfalls neu, die Waschbecken und Toiletten kindergerecht. In der großen Garderobe gab es rundum Bänke, darüber Haken mit Bildern (Apfel, Birne, Tisch, Baum, ein Tier etc.), sodass jedes Kind „seinen“ Platz hatte. 235

Das Herzstück des neuen Traktes war der große Bewegungsraum, der sinnigerweise „Neubau“ genannt wurde. Der Raum hatte rundum große Fenster und – ganz neu für die damalige Zeit – einen Gummiboden. Dieser Boden war ideal für Kreisspiele sowie zum Turnen und Herumtoben für die Kinder, weil er viel weicher war als ein Holzboden. Er bekam allerdings von den Sohlen der Hausschuhe lauter Striche und sah aus wie ein vollgekritzeltes Papier, wenn wir uns dort aufgehalten hatten. Es war jedes Mal eine Knochenarbeit, ihn wieder auf Hochglanz zu bringen, denn das ging nur mit dem „Blocker“. Das war ein schwerer, rechteckiger Eisenblock mit beweglichem Stiel. Darunter kam ein Tuch, und damit musste ich so lange polieren, bis kein Strich mehr zu sehen war. Die Räume, in denen wir uns am meisten aufhielten, lagen im alten Trakt. Dort wurde noch mit einem großen Kachelofen geheizt. An der Stirnseite der Räume gab es eine lange Kommode mit vielen Laden, die mit den verschiedensten Spielsachen gefüllt waren. Zu meiner Aufgabe gehörte es, all diese Räume zu putzen und auch sonst alles in Ordnung zu halten. Natürlich ging das nur in der Mittagszeit und nach Kindergartenschluss am Nachmittag. Nur wenn die großen Fenster im Neubau zu putzen waren, durfte ich das teilweise während der Kindergartenzeit tun. Das war alles gar nicht so einfach, denn die Fenster waren so hoch, dass ich nur hinaufreichen konnte, wenn ich mich auf den Fensterrahmen stellte und streckte, so weit es eben ging. Putzmittel waren damals noch rar. Für warmes Wasser musste ich den Kessel in der Waschküche einheizen; in kleinen Mengen konnte ich es eventuell von der Küchenschwester aus dem Wasserschiff im Kochherd bekommen. Die meiste Zeit des Tages verbrachte ich zusammen mit der Leiterin mit der Betreuung und Beaufsichtigung der Kinder. Wir hatten an die sechzig Kinder im Alter zwischen drei Jahren und dem Schuleintritt in einer Gruppe zusammen und 236

damit stets beide Hände voll zu tun. Die Strukturen waren klar und wurden entsprechend eingehalten. Zur Arbeit fuhr ich mit dem Postbus, mit dem auch die Hauptschüler zur Schule fuhren. So kam ich um 7 Uhr 45 im Kindergarten an, gerade rechtzeitig, um die Kinder in Empfang zu nehmen und ihnen beim Ausziehen zu helfen. Am Morgen gab es zuerst offenes Spiel, später wurde aufgeräumt. Wenn alle auf der Toilette waren, wurden die Jausentascherln ausgeteilt. Wenn alle ihre Jause hatten, holte sich die Schwester ihre Jause aus der Küche, anschließend durfte ich in die Küche gehen und dort mein Jausenbrot essen, das die Küchenschwester schon vorbereitet hatte. Nach der Jause gab’s gemeinsame Beschäftigung für alle Kinder. Wenn wir nicht in den Neubau gingen, bekamen die Kinder Spielzeug (Plastilin, Steckspiele, Zeichensachen etc.) auf die Tische, oder wir bastelten etwas. Wir waren für die damalige Zeit mit sehr gutem Material ausgerüstet. Die Schwester hatte stets gute Ideen, sie hat auch immer wieder neue Dinge aufgetrieben, aus denen wir was machen konnten. Zum Zeichnen gab es meist kleine Blätter in allen möglichen Formen und Farben (Abfälle aus einer Papierfabrik), von denen die Kinder stets begeistert waren. Um 11.15 Uhr wurde wieder aufgeräumt, und wir gingen in die Garderobe, damit bis zur Mittagspause um halb zwölf alle fertig angezogen waren. In der warmen Jahreszeit verbrachten wir bei schönem Wetter den zweiten Teil des Vormittags draußen im Garten. In der Mittagspause musste ich alle Sessel hochstellen, die Böden kehren – Staubsauger gab es noch nicht – und alles in Ordnung bringen. Bei so vielen Kindern kommt ja einiges zusammen. Da ein Teil der Kinder nur am Vormittag da war, war die Arbeit am Nachmittag etwas leichter. Es macht natürlich einen Unterschied, ob zwanzig Kinder mehr oder weniger in einer Gruppe sind. Strukturiert waren die Nachmittage ganz 237

ähnlich wie der Vormittag. Im Sommer nahmen wir an schönen Tagen die Kinder gleich im Garten in Empfang. Dort gab es einen Sandkasten, Schaukeln und auch sonst allerhand Beschäftigung. Sobald alle da waren, gingen wir spazieren. Dabei mussten wir natürlich schon sehr auf der Hut sein und alle gut im Auge behalten, besonders bei Spielen im Wald. Sobald der Kindergarten aus war, machte ich mich ans Saubermachen: kehren, abstauben, Toiletten und Waschbecken putzen, die Fingerabdrücke von den schönen bunten Türen wegpolieren, Boden aufwischen usw. Dabei musste ich mich stets beeilen, damit ich rechtzeitig zu meinem Bus kam. Bei Ferienbeginn wie zu Weihnachten und Ostern – in längeren Phasen ohne Ferien auch zwischendurch – hieß es immer Großreinemachen, denn es musste ja auf Hygiene geachtet werden. Dabei half mir aber meistens auch die Schwester: Tische, Sessel, Möbel etc. wurden gründlich abgewischt, dann kamen die Böden dran. Die Holzböden im alten Trakt bearbeiteten wir kniend Stück für Stück mit der Bürste, um das alte Bohnerwachs zu entfernen. Dann wurden sie – wieder im Knien – erst gebeizt und dann neu gewachst. Die Beize war ein Pulver, das in Wasser aufgelöst wurde. Es war eine Heidenarbeit, die großen Räume dreimal auf diese Art zu bearbeiten. Handschuhe hatten wir dabei nicht, dafür aber nachher eine Woche lang gelbe Hände, denn die Beize ist nicht nur in den Boden eingezogen. Die Böden im neuen Trakt mussten zwar auch gebürstet und gewachst werden, aber wenigstens nicht gebeizt. Für mich als Vierzehn-, Fünfzehnjährige war das schon jedes Mal eine anstrengende Arbeit, zumal ich ohnehin recht klein war. Auf den Gedanken, mich zu beklagen, wäre ich nie gekommen, das war eben so. Ich war bemüht, alles recht zu machen, und freute mich, wenn ich von der Schwester gelobt wurde. Das vergaß sie nämlich nie. Sie war sehr genau in allem, tadelte mich, wenn etwas nicht so war, wie sie es haben woll238

Abb. 36: Faschingsfeier im Kindergarten Abtenau (1959); die Autorin in der hintersten Reihe

te, aber sie lobte mich auch immer für gute Arbeit. Ich habe viel von dieser Schwester gelernt, vor allem den Umgang mit Kindern, aber auch mit den Eltern und anderen Erwachsenen. Gelegenheit hatte ich dazu genug, denn ich musste nicht nur jeden Tag auf die Post, sondern für den Kindergarten oder fürs Haus auch sonst alle möglichen Dinge in Geschäften, auf der Gemeinde, bei Handwerksbetrieben etc. erledigen. Wir hatten kein Telefon, deshalb mussten alle Erledigungen persönlich gemacht werden. Telefon gab es nur beim Nachbarn, der damals gerade ein Busunternehmen begonnen hatte. Dieses Telefon wurde von den Schwestern in ganz seltenen Fällen genutzt, wenn es irgendwelche dringende Angelegenheiten mit dem „Mutterhaus“ in Salzburg zu klären gab. Im Zuge dessen hab auch ich das allererste Telefongespräch meines Lebens geführt, und das gleich mit doppelter Aufregung. Einerseits eben, weil es mein erstes überhaupt war, andererseits, weil ich mit der Generaloberin des Ordens 239

zu sprechen hatte. Die war zwar zu Beginn meiner Zeit noch als Oberin und Volksschullehrerin in unserem Haus gewesen, gleich darauf aber an die allerhöchste Stelle des Ordens berufen worden. Weil es kein Telefon gab, musste ich auch öfters zu verschiedenen Kindern nach Hause gehen, besonders zu solchen, die schon allein kamen, sodass wir die Eltern nicht trafen. Wir arbeiteten recht eng mit Volks- und Hauptschule zusammen, deshalb kam ich oft in die Schulen oder auch zu Lehrern oder zu den Direktoren nach Hause. Unser „Nikolaus“ war ein junger Hauptschullehrer, er hat mit einem Kollegen zusammen sogar eine aufklappbare Kasperlbühne für uns gebaut. Als Gegenleistung wünschten sie sich, dass wir in der Aula der Schule für die Schüler ein Kasperltheater spielten. Das Stück dafür entwickelte die Kindergartenschwester selber. Ich erinnere mich heute noch, dass darin der „Tonei Sailer“ vorkam, der „den Hahnenkamm hinuntersaust“. Der damals weltbeste Schiläufer Toni Sailer war jedem Kind ein Begriff. Durch all diese Umstände war ich im Ort bald überall gut bekannt und lernte selber viele Leute kennen. Da ich stets schauen musste, so bald wie möglich wieder in den Kindergarten zurückzukommen, war ich immer in Eile. Oft sagte jemand zu meinen Eltern: „Euer Dirndl sieht man immer nur laufen.“ Ich war sehr gern im Kindergarten, und das Jahr ging viel zu schnell vorbei. Da ich mich gut mit der Schwester verstand und die mich ungern gehen lassen wollte, wurde schließlich eine Möglichkeit gesucht und gefunden, damit ich noch ein weiteres Jahr als Vorschülerin geführt werden konnte. Die Schwester fuhr mit mir nach Hause, um mit meinen Eltern zu sprechen. Es brauchte einiges an Überredungskunst, bis sie einverstanden waren. Mein Taschengeld sollte zwar auf 150 Schilling erhöht werden, aber das war natürlich immer noch sehr wenig. Es war von Anfang an klar, dass ich nach diesem Jahr auf jeden Fall in eine „richtige“ Arbeit wechseln musste. 240

Arbeit gab es allerdings auch hier mehr als genug für mich, zumal die Schwester öfters krank war. Da musste ich dann für Stunden und manchmal sogar für Tage sehen, wie ich allein mit den ganzen Kindern zurechtkam. Wenn es länger dauerte, bekam ich zwar zeitweise die Schwester als Hilfe, die für Garten und Wäsche zuständig war, aber das war höchstens ein wenig zur Beaufsichtigung, denn sie konnte mit Kindern wenig anfangen. Den üblichen Kindergartenbetrieb musste ich schon alleine bewältigen. Das war natürlich eine ordentliche Herausforderung. Ein wirksames Mittel, die Kinder für eine Weile zu beschäftigen, war, eine Geschichte zu erzählen. Das hatten sie immer gerne. Es machte mir auch selber Freude, wenn sie alle mit großen Augen um mich herum saßen und jedes Mal mit neuem Erstaunen den Geschichten lauschten, auch wenn sie manche davon schon öfters gehört hatten. Meine Chefin war eine hervorragende Geschichtenerzählerin, da konnte ich mir manches abschauen. In diesem Jahr tauchte etwas auf, das mich über längere Zeit sehr „umgetrieben“ hat. Ich bekam angeboten, die Kindergartenschule zu besuchen – wenn ich in den Orden der Schwestern eintrete. Da ging auf einmal eine Tür zu einer Ausbildung auf, die mir bisher fest verschlossen schien. Zwar nicht als Lehrerin, aber die Arbeit als Kindergärtnerin gefiel mir inzwischen auch sehr gut. Der Preis war zwar hoch, doch so wie ich das Leben bei den Schwestern bisher kennengelernt hatte, konnte ich mir das durchaus vorstellen. Ich kam ja aus einem religiösen Elternhaus. Ich wurde ins Mutterhaus nach Salzburg eingeladen und dort von der Generaloberin persönlich empfangen und herumgeführt. Ich konnte mir gut vorstellen, dort mit den anderen Mädchen in Ausbildung zu leben und zur Schule zu gehen. Der endgültige Eintritt in den Orden sollte erst nach Ende der Ausbildung erfolgen. Meine Überlegungen tendierten trotz einiger Bedenken stark dahin, diesen Weg zu gehen. 241

Doch als es ernst wurde, waren meine Eltern dagegen. Vor allem meine Mutter wollte nichts davon wissen, weil ich dann ja für sie nicht mehr jederzeit erreichbar gewesen wäre. „Zu was hätt’ ich denn dann ein Dirndl …?“, war ihr Argument. Das war eine andere Zeit wie heute, es war selbstverständlich, dass schwerwiegende Entscheidungen von den Eltern gefällt wurden und dass man sich als Jugendlicher fügte. Damit war klar, dass für mich die Zeit im Kindergarten mit Ende des zweiten Jahres vorbei sein würde und dass ich dann „den Haushalt lernen“ müsste. Meine Mutter fand auch bald einen entsprechenden Arbeitsplatz für mich. Die Tochter einer Hausiererin, die seit Jahren schon zu uns kam, machte eine Bürolehre in einem Möbelhaus, und dort wurde gerade eine Hausgehilfin gesucht. Also fuhr ich an einem Sonntag nach Hallein, um mich vorzustellen. In der Familie gab es sechs Kinder, für die ich zuständig sein sollte, das kam mir entgegen. So sagte ich zu, und damit war meine nächste Zukunft auch schon entschieden. Als Gehalt gab es monatlich 600 Schilling, dazu Unterkunft, Verpflegung und „Familienanschluss“. Der Rest der Zeit im Kindergarten ging viel zu schnell vorbei. Zu Ferienbeginn musste ich mich von „meinen“ Kindern verabschieden. Wehmütig putzte ich noch einmal das ganze Spielzeug und die Räume, dann war der letzte Arbeitstag da. Schweren Herzens verabschiedete ich mich von den Schwestern im Haus, ich hatte mich mit allen gut verstanden. Als ich mich von der Kindergartenschwester verabschieden wollte, war diese nirgends auffindbar. Weder in ihrem Zimmer noch in der Kapelle war sie zu finden, es wusste auch keiner, wo sie war. Also musste ich ohne Abschied zum Bus gehen. Erst bei einem späteren Besuch erzählte sie mir, dass sie absichtlich weggegangen war, weil ihr der Abschied so schwer gefallen sei. Wir sind bis zu ihrem Tod 1999 in Kontakt geblieben. 242

Ferien oder Urlaub gab es in diesem Jahr für mich nicht, weil mich die neue Chefin schon sehr dringend brauchte. Sie hatte auch wirklich einen triftigen Grund dafür. Sie stammte aus Breslau (heute Polen) und hatte wie so viele Deutsche, die im Krieg aus dem Osten fliehen mussten, nicht nur ihre Heimat und ihr Hab und Gut verloren, sondern auch alle lieben Menschen. Erst viele Jahre nach dem Krieg hatte sie ihre Freundin wiedergefunden, die nun in Hamburg lebte. Diese Freundin kam nun in den Sommerferien mit ihrer Familie erstmals zu Besuch. Die beiden Frauen wollten natürlich bei ihrem ersten Wiedersehen nach vielen Jahren so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen. Da wurde ich dringend gebraucht. Für mich Landpomeranze war der Einstieg in diesen großen Stadthaushalt natürlich eine große Herausforderung, noch dazu, wo gerade Besuch da war. Von den Hamburgern wohnten zwar nur die Kinder im Haus, die Eltern waren aber ebenfalls viel da. Diese „Kinder“ waren ungefähr in meinem Alter – 15 und 17 Jahre alt –, ich selber war gerade 16 Jahre und drei Monate. Sie kamen für mich aus der „großen Welt“, ich für sie wahrscheinlich von hinter dem Mond. Wir haben uns aber in den paar Wochen gut verstanden. Gleich am ersten Vormittag nahm mich die Chefin ins Geschäft hinunter mit, um mich mit dem Chef und den beiden anderen Mädchen im Büro bekanntzumachen. Das Lehrmädchen (die Tochter der Hausiererin, durch die ich vermittelt worden war) war um ein Jahr jünger als ich, die andere war schon älter, bereits 21. Sie hatte ebenfalls hier gelernt und wohnte während der Woche in der Familie. Mit ihr sollte ich das Zimmer teilen. Der Chef beobachtete mich von der Seite, und ehe ich wieder aus dem Büro ging, meinte er in seiner polternden Art: „Die ist halt noch schüchtern – aber du wirst sehen, das wird dir bei uns bald vergehen.“ Damit sollte er recht behalten, aber er kannte ja seine Familie, sein Umfeld und sich selber. 243

Zum Haus gehörten auch noch drei Tischler und einige Hilfskräfte, die in ihrer Freizeit in der Werkstatt und auf Montage mitarbeiteten (im Hauptberuf waren sie Gendarmen und Eisenbahner). Da zu allen Mitarbeitern gute Beziehungen gepflegt wurden, sollte ich sie alle noch gut kennenlernen. Meine erste Arbeit im Haus war, die Küchenkastln auszuräumen und sauber zu machen. Die Chefin meinte, da wüsste ich dann auch gleich, wo alles hingehörte. Sie selber kochte nebenbei das Mittagessen, erklärte mir dabei die Grundregeln meines künftigen Arbeitsfeldes und schaffte mir auch gleich diese und jene Arbeit an. Beim Mittagessen konnte ich dann meine neue „Familie“ erstmals näher kennenlernen. Der Älteste von den Kindern war zwölf Jahre alt, der Jüngste sechs Monate; dazwischen gab es vier Mädchen. Die mittleren waren Zwillinge. Sie waren sich so ähnlich, dass sie selbst der Vater immer wieder verwechselte. Danach hab ich den ersten von vielen, vielen Geschirrbergen abgewaschen, die ich in diesem Hause noch abzuwaschen hatte. Geschirrspüler hatten wir natürlich noch nicht, auch kein Warmwasser, das musste alles im Küchenherd oder auf dem E-Herd warmgemacht werden. Die Wohnverhältnisse waren überhaupt sehr beengt, das sollte erst im nächsten Jahr durch einen Umbau besser werden. Das Herzstück der ganzen Wohnung war der große Ausziehtisch in der Küche. Dort wurde gegessen, Besucher empfangen, gespielt, die Hausaufgaben gemacht, und die Abende verbrachten ebenfalls alle dort. Es war der einzige Platz, an dem alle zusammensitzen konnten. Von der Küche ging es ins Kinderzimmer, wo die vier Mädchen mit ihrem Vater schliefen. Die Betten wurden tagsüber weggeklappt, damit wenigstens ein klein wenig Platz war, denn sonst konnte man sich nur mit Mühe dazwischen durchschlängeln. Die Mutter schlief mit dem Baby im „Wohnzimmer“. Auch ihr Bett wurde am Tage weggeklappt, und das Gitterbett stand in einer Ni244

sche hinter einem Vorhang. Es war der einzige Ort, wo eventuell einmal zu zweit oder dritt ein ruhiges Gespräch geführt werden konnte, aber mehr Platz war dort nicht. In dieses Wohnzimmer kam man von der Küche über einen Gang um die Ecke, wo sich auch die einzige Toilette befand. Der Bruder vom Chef wohnte mit Familie auf demselben Gang wie wir, die Küchentüren lagen genau gegenüber. Um in mein Zimmer zu gelangen, musste ich am Wohnzimmer vorbei über die Terrasse in den Ausstellungsraum für Möbel und von dort über die Stiege in das Dachgeschoß. Dort gab es drei Zimmer und eine Toilette mit kleinem Waschbecken. In einem der Zimmer schliefen wir zwei Mädchen, in einem der Sohn, und das andere diente als Gästezimmer. In unserem Zimmer war gerade Platz für die Betten, für einen kleinen Tisch davor und einen eingebauten Schrank mit platzsparenden Schiebetüren. Auf dem Betonboden lag ein Flickenteppich. Das Gästezimmer war gleich, nur seitenverkehrt. Im Zimmer vom Sohn war zwischen Bett und Einbauschrank nur ein schmaler Gang, und an dessen Ende vor dem Fenster befand sich ein breites Brett mit einem Hocker drunter als Schreibtisch. Diese Wohnverhältnisse machten die Arbeit natürlich nicht leichter. Alles war eng, für alles war zu wenig Platz da, alle stiegen sich andauernd gegenseitig auf die Füße. So war es natürlich schwierig, halbwegs Ordnung zu halten. Trotz allem herrschte in der Familie gute Stimmung, und es war ein gastfreundliches Haus. Man musste immer damit rechnen, dass zur Jause oder zum Essen ein Gast da war, Flexibilität war also gefragt. Bereits an meinem zweiten Arbeitstag lernte ich das Baby baden, anziehen und füttern. Das war Neuland für mich, denn mit Babys hatte ich bisher noch keine Erfahrungen. Viel Zeit, etwas zu lernen, blieb mir nicht, das meiste musste ich einfach anpacken und sehen, wie ich es hinkriege. Meine erste 245

Feuerprobe hatte ich diesbezüglich bereits wenige Tage nach meinem Einstand. Die Chefin musste ins Büro, weil mehrere Kunden da waren. Sie kam nur kurz in die Wohnung, erklärte mir, was ich zu tun habe, und verschwand wieder. Zum Mittagessen sollte es Suppe und Rindsschnitzel mit Erbsen und Nudeln geben – das hatte ich bis dahin noch nie gegessen, geschweige denn gekocht. Zeit, darüber nachzudenken, wie ich das schaffen könnte, gab es nicht, denn da war das Baby, und um Punkt 12 Uhr musste das Essen fertig sein. Irgendwie ging es wohl, jedenfalls war die Chefin recht zufrieden mit meinen Bemühungen, als sie kurz vor 12 Uhr kam, um letzte Hand anzulegen. Auf diese Art hab ich viele Gerichte kochen gelernt. Wenn ich wo gar nicht mehr weiterwusste, musste ich halt schnell ins Büro sausen und mir weitere Anweisungen holen. Die Chefin war eine gute Köchin, ihr Speiseplan war abwechslungsreich. Manches zeigte sie mir, sehr oft aber war sie im Geschäft, und ich musste – ausgerüstet mit ihren klaren Anweisungen – allein zurechtkommen. Wenn auch nicht immer alles gleich klappte, so lernte ich doch in relativ kurzer Zeit, den Haushalt in den Griff zu bekommen. Das größte Problem war die Zeit. Die Chefin hatte mir zwar einen genauen Zeitplan aufgestellt, aber der war so knapp bemessen, dass er kaum einzuhalten war. Dazu kam, dass mit Kindern, noch dazu mit einem Baby, immer unvorhergesehene Dinge auftauchen. Mein Arbeitstag begann um 6 Uhr. Als Erstes musste ich Frühstück für den Chef vorbereiten, der las daneben gern seine Zeitung und musste vor sieben in der Werkstatt sein. Gleichzeitig standen die Kinder auf, brauchten Frühstück und in der Schulzeit Pausenbrote zum Mitnehmen. Der Älteste ging in die Hauptschule, drei Mädchen in die Volksschule und die Jüngste in den Kindergarten. Die Chefin war zwar am Morgen noch da, kümmerte sich um das Baby, doch kurz vor 8 Uhr ging sie ins Geschäft. 246

Abb. 37: Die Autorin und einer von vielen Geschirrbergen (um 1961)

Bei mir stand bis zum nächsten Fixtermin um 9 Uhr Geschirrwaschen und Aufräumen auf dem Programm, dann war der Kleine zu baden und zu füttern. Um halb zehn kamen die Chefleute zu Kaffee und Jause, oft brachten sie dafür auch schon einen Besucher mit, der gerade im Büro vorbeikam. Es galt aber als selbstverständlich, dass ich auch dabei war. Diesbezüglich gab es für uns Mädchen wirklich „Familienanschluss“, denn es gab nichts, von dem wir ausgeschlossen 247

gewesen wären. Für mich war das Essen halt immer unruhig, weil ich ja alle zu bedienen und mich um alles zu kümmern hatte. Nach der Kaffeepause musste ich einkaufen und danach das Mittagessen kochen. Den Speiseplan stellte die Chefin immer schon vorweg für die ganze Woche auf. Geld zum Einkaufen holte ich mir im Büro, wenn ich etwas brauchte; die genaue Buchführung darüber samt Belegen wurde von der Chefin zum Monatsabschluss überprüft. Der Nachmittag begann mit Abwasch, dann die Schulaufgaben der Kinder – zwischendurch immer das Baby. Die kurzen Zwischenräume waren ausgefüllt mit Putzarbeiten und Wäsche. Zum Glück gab es seit Kurzem eine Waschmaschine im Haus. Meine Vorgängerinnen hatten noch die Windeln und die Wäsche in der Waschküche im Erdgeschoß waschen müssen. Papierwindeln gab es noch nicht. Damals hatte man zur Waschmaschine meist extra eine Schleuder, doch bei unserer war die Schleuder sogar schon integriert. Allerdings begann sie beim Schleudern derart zu rumpeln und zu hüpfen, dass sich immer entweder ein paar Kinder oder ein Erwachsener draufsetzen mussten, damit sie nicht davonhüpfte. Außerdem musste man die Wäsche herausnehmen und bei eingeschalteter Schleuder alles einzeln wieder einwerfen. Dabei musste man natürlich entsprechend aufpassen, damit man besonders bei großen Wäschestücken nicht mit den Händen verwickelt und mit hineingerissen wurde. Wenn heute meine Waschmaschine und mein Geschirrspüler ruhig ihr Programm abspielen, denke ich oft, wie herrlich das ist, dass sie ganz allein meine Arbeit machen, während ich zum Beispiel hier beim Schreiben sitze. Zum Bügeln kam die „Oma“, die Mutter vom Chef, ins Haus. Jemand hatte mich gewarnt, dass sie ziemlich schwierig sei, aber ich bin gut mit ihr ausgekommen. Für mich war sie eine „alte Dame“, vor der ich sowieso Respekt hatte. Sie dürf248

te etwa Anfang sechzig gewesen sein, also jünger als ich heute. Sie war gebürtige Wienerin und von Beruf Hutmacherin, ehe sie geheiratet hatte. Ich hörte ihren Erzählungen wahrscheinlich interessierter zu als manch anderer, schließlich war es einer meiner Träume, die ferne Stadt Wien irgendwann selber zu sehen. Damals hätte ich nicht gedacht, dass solche Träume sich später erfüllen ließen und sogar weit übertroffen würden. Von der Oma hab ich gelernt, wie man einen richtigen Apfelstrudel macht. Während der Schulzeit hingen die Stundenpläne der Kinder an der Wand, damit ich wusste, wer wann Nachmittagsunterricht hatte und wer wann was mitnehmen musste (Turnsachen, Handarbeitszeug etc.). Dazu kamen noch zusätzliche Termine für Aktivitäten außerhalb der Schule. Der älteste Sohn war schon selbständig, aber mit den Mädchen musste ich Hausaufgaben machen, Flöte üben und darauf achten, dass sie jeweils rechtzeitig zu ihren Terminen kamen. Zwischendurch der Nachmittagskaffee für die Eltern und schließlich das Abendessen – erst für die Kinder, damit die ins Bett kamen, und dann für die Erwachsenen. Der Älteste wurde diesbezüglich schon zu den Erwachsenen gezählt. Bis ich dann wieder aufgeräumt hatte, war es 20 Uhr, und ich hatte einen durchgehenden Arbeitstag von 14 Stunden hinter mir. Da beneidete ich schon öfters meine Zimmergenossin. Die musste morgens erst um 8 Uhr anfangen, hatte nach dem Mittagessen bis 14 Uhr frei und abends um 18 Uhr Dienstschluss. Am Mittwochnachmittag aber hatte ich auch vier Stunden – von 13.30 bis 17.30 Uhr – frei, das heißt, wenn ich es schaffte, mit der Küche bis dahin fertig zu werden; sonst ging das auf meine Freizeit. Am Abend musste ich wieder pünktlich zur Stelle sein, um den üblichen Tagesablauf abzuwickeln. Diese freien Nachmittagsstunden waren für mich immer eine ganz besondere Zeit, und ich freute mich jedes Mal darauf. Da konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Bei Schlechtwetter 249

kaufte ich mir manchmal etwas Obst oder eine Tafel Schokolade und fühlte mich dann in meinem Zimmer – das ich zu der Zeit ganz allein hatte – wie ein König. An Wochenenden hatte ich nur jeden zweiten Sonntag frei, ansonsten war der Tagesablauf wie immer. Allerdings durfte ich am Sonntag etwas länger schlafen. Am Samstagnachmittag musste ich immer die Hauptmahlzeit für Sonntag vorkochen, einen Kuchen backen und die Küche putzen. Wenn ich frei hatte, wurde es immer knapp bis zum Zug, mit dem ich den letzten Bus erreichte. Nach Hause kam ich erst gegen 20 Uhr. Am Sonntag musste ich um 17 Uhr mit dem Bus wieder los, damit ich am nächsten Morgen pünktlich zur Arbeit da war. Manchmal war es gar kein so großer Unterschied, wenn ich am Sonntag Dienst hatte. Durch das vorgekochte Mittagessen war weniger Arbeit, die Kinder hatten keine Termine, und am Nachmittag brauchte ich mich nur mit den Kindern zu beschäftigen. Öfters machte die ganze Familie einen Ausflug. Dann kletterte ich mit den Kindern hinten auf die Ladefläche des Möbelwagens, wo eine alte Couch ohne Beine und einige Matratzen als Sitze dienten. Auf diesen Fahrten gab es immer gute Laune. So mancher Passant hat sich nach dem Möbelwagen umgedreht, aus dem lebhaftes Singen und Lachen kam. Die Kinder waren – wie ihre Eltern – alle musikalisch. Der Vater spielte Klavier, die Mutter war eine gute Sängerin, und die Kinder lernten alle gleich nach Schuleintritt Flöte und später ein anderes Instrument. Wenn eines der Kinder in der Schule ein neues Lied gelernt hatte, sangen wir es gleich alle. Eine oftmals zum Singen genutzte Gelegenheit war der tägliche Abwasch, bei dem die Kinder mithelfen mussten, wenn sie Zeit dafür hatten. Mit Geschirrtüchern in der Hand und Geschirrgeklapper als Umrahmung wurde von „Aus grauer Städte Mauern“ bis „Stille Nacht“ alles gesungen, was uns gerade einfiel und in die Jah250

reszeit passte. Dabei ging die ungeliebte Arbeit etwas leichter von der Hand. Oft erledigten wir dabei aber auch ernsthaftere Dinge, etwa das Einmaleins oder ein Gedicht lernen, das jemand als Hausaufgabe aufhatte, oder wir besprachen oder lernten sonst etwas, was gerade aktuell war. Durch all das sind diese Kinder sehr bald auch „meine“ Kinder geworden. Besonders ans Herz gewachsen ist mir natürlich der Kleinste. Seine ersten Schritte, seine ganze Entwicklung berührten mich genauso wie seine Mutter. Schon bald wurde ich auch in Aktivitäten der Familie außerhalb eingebunden. Unter anderem waren alle Mitglieder im Turnverein. Als nach der Sommerpause die Turnstunden wieder begannen, lud mich die Chefin ein, mitzukommen. Die Mädchen aus dem Büro waren ebenfalls dabei. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen Turnsaal von innen gesehen, Turngeräte kannte ich nur aus den Erzählungen der Kinder. In unserer Schule hatte es lediglich einen holprigen Turnplatz gegeben, auf dem wir vor allem Völkerball gespielt hatten. Ich hatte deshalb eine ziemliche Scheu, zum Turnen zu gehen. Mein Argument, dass ich ja gar keine Turnbekleidung habe, nützte mir wenig. Die Chefin schenkte mir einige Tage später eine nagelneue Turnhose. „Ein Leiberl hast du ja“, sagte sie dazu nur. Was ich nun nicht mehr hatte, waren Gründe, durch die ich mich davor drücken hätte können. In diesem Turnverein erlebte ich viele schöne Stunden und Feste. Bei einem Gschnas* in der Turnhalle war ich zum ersten Mal in meinem Leben tanzen, und der Turnerball war mein erster Ball überhaupt. Einige Male durfte ich im Winter auch mit ins Hallenbad nach Salzburg fahren, wo der Turnverein an einem Abend in der Woche Ermäßigung hatte. Gefahren sind wir dorthin wie üblich mit dem Möbelwagen. Die Chefin war zudem bei einem Volksliedchor und nahm mich – wie die anderen Mädchen – dorthin mit. Da sie So251

pran- und ich Altstimme hatte, konnten wir neue Lieder daheim einüben. Das war besonders vorteilhaft, wenn öffentliche Auftritte bevorstanden. Leiter des Chores war ein Musikprofessor, der ein Freund des Hauses und oftmaliger Gast bei uns war. Er war bei der Arbeit recht anspruchsvoll, doch wir hatten auch viel Spaß im Chor. Mein Problem war halt immer, rechtzeitig fertig zu werden, um zum Turnen oder Singen zu kommen, doch da hat mich die Chefin sogar unterstützt, indem sie mir etwa mal schnell beim Abtrocknen geholfen hat. An den Abenden, an denen wir Frauen weg waren, hat daheim der Chef die Stellung gehalten. Die Kinder waren dann ohnehin schon im Bett, wenn wir weggingen. Hin und wieder nahm sogar er das Geschirrtuch in die Hand und half mir kurz, damit ich fertig wurde. Unser Chorleiter war hauptberuflich Musiklehrer an der heimischen Musikschule. Die Kinder lernten bei ihm Flöte, sangen im Kinderchor, spielten in der Flötengruppe und waren von Anfang an dabei, als er die erste Orff-Gruppe* aufbaute. Daheim sangen wir die Lieder und übten die Stücke, die sie dort lernten. Jetzt konnte ich die Flöte, die ich von der Schwester im Kindergarten zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, gut gebrauchen. Zusammen mit den drei größeren Mädchen waren wir selber schon eine kleine Flötengruppe. Unsere „Bühne“ war die breite Stiege vom Garten zur Terrasse im ersten Stock. Der Musiklehrer machte mir eines Tages den Vorschlag, ob ich nicht Altflöte bei ihm lernen möchte. Er brauchte nämlich für seine Flötengruppe eine Altflöte, besonders bei Auftritten. Weil er ohnehin so oft im Haus war und von mir bedient wurde, wollte er mir den Unterricht in der Musikschule gratis geben. Ich musste halt dafür die Hälfte meines freien Nachmittags opfern. Wenn öffentliche Auftritte waren, bekam ich sogar für ganz wichtige Proben frei; eingeübt habe ich die 252

Stücke ohnehin gemeinsam mit den Kindern. Die versäumte Arbeit musste ich dann nachholen. Meine Zimmerkollegin hatte schon länger geplant, für einige Zeit nach England zu gehen. Als ich etwa fünf Monate in der Familie war, ging sie dann tatsächlich weg. Es war ein bisschen, als ob ein erwachsenes Kind aus dem Haus ginge. Sie war als Abb. 38: Die Autorin beim Flöte­ Vierzehnjährige ins Haus gespielen mit ihren Schützlingen kommen und hier erwachsen (um 1961) geworden. Zum 21. Geburtstag hatte sie sich gewünscht, dass sie in Zukunft per Sie angeredet werde, aber das funktionierte nicht und wurde schließlich wieder fallen gelassen. Sie bekam aber ein anderes großes Geschenk – ein gebrauchtes Radio, weil sie gerne klassische Musik hörte. Dazu war sie ebenfalls in der Familie geführt worden. Die Chefleute hatten ein Abo für Konzerte, und einmal durfte sogar ich mit zu einem Konzert im Festspielhaus in Salzburg, weil irgendjemand nicht gehen konnte und dadurch eine Karte frei war. Wir Mädchen haben uns noch länger geschrieben, sie kam später auch wieder zu uns auf Besuch ins Haus. Dass ich das Zimmer nun für mich allein hatte, genoss ich aber. Es gab ja sonst nie eine Möglichkeit, allein zu sein, da war ein wenig Rückzug schon sehr angenehm. Lange dauerte es ohnehin nicht, denn im Frühjahr brachen große Ereignisse herein. Mit der neuen Angestellten im Büro hatte ich wenig zu tun, aber dazu kam an drei Vormittagen in der Woche – bei Bedarf auch länger – eine Frau ins Haus, die vor allem Näharbeiten 253

für das Geschäft machen sollte. Außer Möbel und Geschirr wurde nämlich auch Bettzeug verkauft bzw. auf Wunsch nach Maß angefertigt. Diese Frau saß nun im Wohnzimmer an der Nähmaschine, und ich half ihr öfters, Tuchenten und Polster mit Federn zu füllen. Wenn Zeit dafür war, nähte sie auch für die Familie. So bekamen die vier Mädchen alle gleiche Dirndlkleider und Vater und Sohn gleiche Hemden. Gelernt hatte sie das Handwerk in der Schule bei den Halleiner Schulschwestern. Wenn sie da war, aß sie auch mit uns, so waren wir wieder zehn Personen. Von ihr hab ich gelernt, wie man einen Grießschmarren kocht. Bald nachdem diese Frau bei uns angefangen hatte, musste sie allerdings eine Zeit lang bei ganz anderen Arbeiten helfen. Der geplante Umbau sollte beginnen, und dafür musste der größte Teil des Inventars aus der ohnehin schon sehr beengten Wohnung für einige Zeit ausgelagert werden. Wie es in dieser Zeit zuging, lässt sich kaum beschreiben. Wir zwei Frauen mussten alles, was nur irgendwie entbehrlich war, aus der alten Wohnung ausräumen, verpacken und auf unseren Möbelwagen verfrachten. Zusammen mit den Möbeln wurde alles bei einem Freund im Dachgeschoß seiner Schlosserei gelagert. Meine neue Kollegin hat mir dabei irgendwann auf dem Möbelwagen das Du angeboten. Sie war schon etwas älter, hatte bereits eine Tochter im Volksschulalter. Sie wurde mir mit der Zeit eine sehr gute, fast mütterliche Freundin und Vertraute. Leider ist sie schon sehr früh an Krebs verstorben. Waren die Wohnverhältnisse vorher mit „beengt“ noch relativ milde bezeichnet, so gab es während des Umbaus keine Bezeichnung, die den Umständen gerecht geworden wäre. Von Anfang März bis September „lebten“ wir nun alle in den drei Räumen im Dachgeschoß, in denen früher wir Mädchen und der älteste Sohn geschlafen hatten. Die Eltern zogen in mein bisheriges Zimmer, weil dort gerade noch Platz für das Gitterbett des Kleinen war. Das älteste Mädchen bekam das 254

Zimmer von ihrem großen Bruder, dieser musste zum Schlafen zur Oma gehen, die eine Viertelstunde entfernt bei ihrer Tochter, der Schwester vom Chef, wohnte. Das jüngste Mädchen kam während dieser Zeit zu meinen Eltern nach Abtenau. Sie ging noch nicht zur Schule und war somit die Einzige, die „ausgestiftet“* werden konnte. Das muss für sie am Anfang sehr schwer gewesen sein, weg von den vielen Geschwistern in ein fremdes Haus, zu fremden Leuten, die sie nur von wenigen Besuchen kannte. Später fühlte sie sich dann sehr wohl. Sie war bei meinen Eltern ja die verwöhnte Prinzessin, und als sie wieder nach Hause kam, tat sie sich gar nicht so leicht, sich wieder in den großen Kreis einzufügen. Für mich vermischten sich in diesen Monaten Arbeit und Freizeit total. Einerseits kam ich zwar manchmal auch an Sonntagen nach Hause, wo ich eigentlich Dienst hatte, weil wir am Nachmittag das Mädchen besuchten, andererseits waren aber die „freien“ Sonntage und auch der Urlaub nie wirklich frei. Das Mädchen hing natürlich an mir, freute sich, wenn ich da war, und so war die Arbeit immer präsent. Manchmal kam die Familie auch an meinen freien Tagen die Tochter besuchen. Selbst wenn sie dann einen Ausflug machten, musste ich mit, da hätten mich schon die Kinder nicht ausgelassen. Und wenn sie wieder nach Hause fuhren, war es selbstverständlich, dass ich auch gleich mitkam. In diesen Monaten gab es rund um die Uhr keine einzige Minute, über die ich selber bestimmen hätte können. Geschlafen hab ich im ehemaligen Gästezimmer, im zweiten Bett schliefen die beiden Zwillingsmädchen. Vor unseren Betten stand der Ausziehtisch aus der ehemaligen Küche, und damit war unser Zimmer zugleich der einzige Wohnraum für alle. Beim Essen saßen wir auf den Betten; dort wurden Aufgaben gemacht, es wurde gespielt, gebügelt und auch sonst alles getan, was es halt zu tun gab. Zum Schrank oder dem kleinen 255

Fenster konnte man nur, wenn an der Vorderseite keiner am Tisch saß. Trotz allem kam auch weiterhin gelegentlich ein Gast zum Kaffee oder zum Essen. Als Küche wurde der schmale Vorraum vor den Zimmern umfunktioniert. Platz fanden dort neben E-Herd und Kühlschrank nur mehr eine kleine Anrichte und ein alter Servierwagen als Abstellgelegenheit. Es gab kein Fenster in dem Raum, also selbst an den schönsten Sommertagen kein Tageslicht. Hinter der Längswand tobte der Baulärm. An einer Seite meines Arbeitsplatzes führte die lange Stiege ins Möbellager und zum Ausgang hinunter, dort gab es noch eine Speisekammer. Diese offene Stiege war natürlich eine Gefahrenquelle für den Kleinen, der inzwischen ein Jahr alt war und gerade zu laufen begann. Auf der anderen Seite war die Tür zur Toilette. Das kleine Waschbecken dort war die einzige Wasserstelle für uns alle, eine Schüssel oder die Kinderbadewanne die einzige Waschgelegenheit. Zum Geschirrwaschen gab es eine Blechschüssel. Warmwasser musste am E-Herd heiß gemacht werden. Unter diesen Umständen hab ich ein halbes Jahr für die große Familie gekocht. Wie üblich gab es auch weiterhin jedes Wochenende einen Kuchen. Irgendwann an Feiertagen, zu Ostern oder Pfingsten, hatte ich zwei Torten gebacken. Als ich am Sonntag zum Frühstück eine aus der Speisekammer holen wollte, war keine mehr da. Wo konnten die hingekommen sein? Etwas kleinlaut ging ich zur Chefin, doch die lachte nur und gab mir ihren Generalschlüssel. Sie hatte für die Feiertage in der Auslage mit den Wohnzimmermöbeln die Tische mit Kaffeegeschirr aus dem Geschäft dekoriert, und als sie in der Speis die fertigen Torten sah, stellte sie diese dazu. „Wäre ja direkt schade gewesen, die schönen Torten in der Speis stehen zu lassen“, sagte sie nur. Das war natürlich auch eine Art von Anerkennung. Neben der Stiege konnte man gerade noch vorbeigehen; von dort aus wurde die Wäsche zum Trocknen auf Schnü256

re gehängt, die an Rädern über die Stiege gezogen werden konnten, so wie man es im Süden oft zwischen den Häusern sieht. Die Waschmaschine stand unten im Innenhof unter dem Vordach im Freien. Beim Waschen hätte ich öfters einen Regenschirm gebraucht, aber es hatte auch einen Vorteil. Es war immer jemand aus dem Büro oder aus der Werkstatt in der Nähe, den ich bitten konnte, sich beim Schleudern auf die Maschine zu setzen. Das Schlimmste war, dass es durch den Umbau für längere Zeit im Erdgeschoß keine Toilette gab. In der Zeit benutzten nicht nur alle Mitarbeiter des Hauses, sondern auch die Bauarbeiter unsere einzige Toilette oben. Wenn ich am Herd oder beim Abwasch war, kamen sie gerade hinter mir vorbei. Manchmal versuchte es einer der Männer auch, noch enger an mir vorbeizuschlängeln, als es ohnehin schon nötig war. Da musste ich mich ordentlich auf die Füße stellen, um mir Respekt zu verschaffen. Ich wusste aber, dass Chef und Chefin mir jederzeit zur Seite gestanden wären, wenn ich Unterstützung gebraucht hätte. Der Chef selber war immer hundertprozentig korrekt, machte nie irgendwelche Annäherungsversuche und hätte das auch von keinem anderen geduldet. Das schätzte ich sehr, und deshalb konnte ich mich immer sicher fühlen. Trotzdem hatte ich gegen Ende dieses Sommers einfach genug und begann, in unserer Tageszeitung die Stellenangebote zu lesen. Da stieß ich auf ein Inserat, in dem ein Kindermädchen für zwei Kinder in einem etwa zehn Kilometer entfernten Schloss gesucht wurde. Kurz entschlossen bewarb ich mich. Schon wenige Tage danach kam die Gräfin, um mich kennenzulernen, und ich sagte auch gleich zu. Als sie weg war, ging ich ins Büro und sagte es meiner Chefin. Die fiel aus allen Wolken und bat mich, am Abend nochmals drüber zu reden. Da hat sie mich dann sehr gebeten, doch zu bleiben, wenigstens bis sie eine bevorstehende Operation hinter sich 257

gebracht hätte, damit die Kinder während des Krankenhausaufenthaltes gut versorgt seien. Und danach würde sie ja auch noch einige Zeit nicht voll einsatzfähig sein. Es wäre unmöglich, binnen kurzer Zeit einen Ersatz zu finden, noch dazu in der gegebenen Situation. Da wollte ich sie dann doch nicht im Stich lassen. Den Job im Schloss hätte ich aber schon zwei Wochen später antreten müssen. Dort stand nämlich auch grad irgendein wichtiges Ereignis an, deshalb musste ich schweren Herzens absagen. Das hat mir schon sehr leid getan, auch später noch. Wer weiß, vielleicht wäre es eh nicht so gut gewesen, aber ich denke auch heute noch dran, wenn ich an diesem Schloss vorbeifahre. Meine Chefin war jedenfalls sehr froh, und am Monatsende wurde, ohne dass ich etwas gesagt hätte, mein Lohn um hundert Schilling erhöht. Wie wir es schafften, unter diesen Umständen den „Normalbetrieb“ in der Familie aufrechtzuerhalten, weiß ich selber nicht. Trotz allem kamen die Freunde der Kinder und die Freunde der Eltern ins Haus, und wie üblich wurden gelegentlich Arbeiter aus der Werkstatt zu mir geschickt, wenn sie erst später von einer Montage zurückkamen und noch kein Mittagessen bekommen hatten. Ich sollte ihnen dann immer „irgendwas“ zurechtmachen. Es war eine unverrückbare Selbstverständlichkeit, dass es immer ordentliches Essen für alle gab. Vielleicht war gerade dieses so weit wie möglich „normale“ Weiterleben das Geheimnis, weshalb wir in der Situation nicht alle durchgedreht haben. Erschüttern konnte mich jedenfalls nach diesem Sommer nicht mehr so leicht etwas. Und dann kam endlich der große Augenblick, als die Tür in den neuen Teil der Wohnung aufgebrochen wurde. Als alles fertig war, holten wir die Sachen aus dem Lager, und die Kinder kamen zurück. Es war eine richtige Befreiung, als wir endlich einziehen konnten. Jetzt gab es eine richtige, helle 258

Küche mit Abwasch und Heißwasser, ein Bad mit Badewanne und zwei Waschbecken, ein zusätzliches Zimmer für zwei der Mädchen, einen großen Wohnraum und eine Terrasse. Die Waschmaschine wurde in einem eigenen Raum auf einem Betonsockel festgeschraubt. Ich musste zwar immer noch die Wäsche beim Schleudern einzeln einwerfen, doch ich brauchte keinen mehr zum Draufsetzen. In dem Raum gab es auch noch eine zweite Toilette. In einem der alten Zimmer schliefen nun die zwei Jungs, in dem anderen die Zwillinge; ich bekam das Einzelzimmer und damit endlich einen Platz für mich allein. Das war eine ungeheure Wohltat. Auch die Näherin war sehr froh, als sie nun mit ihrer Nähmaschine ins neue Wohnzimmer einziehen konnte. Sie hatte während der Zeit des Umbaus ihren Arbeitsplatz in einer Ecke des Möbelschauraums im ersten Stock, wo es nicht nur ziemlich dunkel, sondern zeitweise auch recht kalt war. Dass wir jetzt beide zusammen in der Wohnung waren und uns neben der Arbeit auch öfters unterhalten konnten, war ein netter Nebeneffekt. Ich bemühte mich deshalb auch gar nicht mehr um eine neue Arbeitsstelle, als die Chefin ihre Operation hinter sich hatte und es ihr wieder besser ging. Es wurde auch nie mehr ein Wort drüber verloren. Im kommenden Winter wagten es meine Chefleute sogar, auf eine Möbelmesse zu fahren und mich mit den Kindern für eine knappe Woche allein zu lassen. Im Notfall sollte ich mich an die Schwester vom Chef wenden, tagsüber war ohnehin jemand im Büro. Telefon gab es zwar nur unten im Büro, aber ich hatte sowieso die Generalschlüssel, weil ich ja jeden Tag am Morgen die Werkstatt aufsperren und am Abend wieder absperren musste. Außerdem musste ich gegen 22 Uhr im Geschäft in den Auslagen das Licht abdrehen. Als die Eltern wieder zurückkamen, gab es nicht nur für die Kinder Mitbringsel, auch ich bekam ein schönes Geschenk – eine Handtasche und eine Geldbörse, passend zum Dirndlkleid. 259

Das Dirndl hatte ich mir hauptsächlich für Auftritte mit dem Chor gekauft, wo wir alle Dirndlkleider trugen. Die Chefin hat mich beim Kauf beraten. Gekauft wurde natürlich bei der Schwester vom Chef, die mit ihrem Mann ein Modengeschäft samt Schneiderei betrieb. Als mein Bruder heiratete, ging die Chefin ebenfalls mit mir dorthin zum Einkaufen. Sie riet mir zu einem roten, ärmellosen Kleid mit kurzer Jacke aus grobem Leinen. Dazu kaufte ich mir meine ersten Stöckelschuhe aus hellem Rauleder. Allein hätte ich mich das nie zu kaufen getraut, denn ich wusste schon, was mein Vater dazu sagen würde. So konnte ich mich auf meine Chefin ausreden. Meine erste Berghose, eine Bundhose aus Schnürlsamt, kam ebenfalls aus dieser Schneiderei. Zum Berggehen wurden damals gerade die ersten Hosen für Frauen akzeptiert, sogar von meinem Vater. Schließlich konnte kaum jemand bestreiten, dass ein „Kittel“ (Rock) dafür nicht gerade praktisch war. In diesem Jahr bekam ich mehrmals eine schwere Angina. Unter den gegebenen Umständen war es aber nie möglich, mich ganz auszukurieren. Der Arzt, der auch Hausarzt der Familie war, stellte fest, dass bereits die Nieren angegriffen waren und empfahl dringend eine Mandeloperation. Im Mai ließ ich mir also die Mandeln herausnehmen. Im Krankenhaus wurden zwei Wochen Krankenstand verordnet, aber es wurde mir nahegelegt, stattdessen nach einer Woche in Urlaub zu gehen, da könne ich mich ja ohnehin auskurieren. Nach diesem Urlaub bin ich sehr ungern wieder zurückgegangen. Ich war jetzt 18 Jahre alt und wollte auch einmal ein bisschen Freiheit haben, nicht immer einen 14-Stunden-Tag und nur alle zwei Wochen am Sonntag frei. Da hörte mein Bruder, dass in Golling eine Kindergartenhelferin gebraucht wurde, weil die andere geheiratet habe. Also fuhr ich gleich am nächsten freien Nachmittag hin, um mich beim Bürgermeister vorzustellen. Dieser war damals noch nicht den ganzen Tag auf dem Amt, deshalb musste ich zu seiner Wohnung gehen. Er 260

hatte sich inzwischen bei meiner ehemaligen Chefin im Kindergarten Abtenau erkundigt, und so ging das sehr schnell. Nach einem kurzen Gespräch vor seiner Haustür hatte ich den Posten und sollte am Ende der Ferien im September anfangen. Auf der Heimfahrt im Zug legte ich mir die Worte für die Kündigung zurecht. Diesmal war es endgültig. Jetzt war der Bau vorbei, alles lief in geordneten Bahnen, niemand war krank, und es war ja noch einige Zeit bis September, sodass sie sich nach einem Ersatz umsehen konnten. Die Kinder waren inzwischen ja auch schon älter. Natürlich war die Chefin alles eher als begeistert über meinen Entschluss, aber ich glaube, sie hat es auch verstanden. Jedenfalls gingen wir in gutem Einvernehmen, und ich war auch später immer herzlich willkommen. In einer solchen Situation wächst man schließlich auch zusammen, deshalb war der Abschied nicht leicht, besonders von den Kindern und speziell vom Kleinsten, der inzwischen zweieinhalb Jahre alt war. Mein Chef hatte übrigens recht behalten. Meine Schüchternheit war mir in diesem Haus tatsächlich weitgehend vergangen, und durch das gute Essen war ich trotz der vielen Arbeit sogar zu normaler Größe herangewachsen. Der Kindergarten in Golling befand sich im Untergeschoß des Pfarrhofes und war bei Weitem nicht so komfortabel wie der in Abtenau. Es gab nur einen einzigen großen Raum für sechzig Kinder, als Garderobe dienten Haken an der Rückwand des Raumes. Im Winter war der Raum schwer zu beheizen. Den Ofen durfte man nur mäßig heizen, sonst flog hinten die Eisenplatte heraus, durch die er gekehrt werden konnte. Es gab eine normale und eine kleine Toilette im Kellergeschoß des Pfarrhofes, davor als einzige Wasserstelle ein normales Waschbecken, zu dem die Kinder nicht hinaufreichen konnten. Für Warmwasser zum Putzen musste in der Waschküche der Kessel geheizt werden. Besonders am frühen Nachmittag 261

musste man darauf achten, dass die Kinder nicht zu laut waren, weil sich sonst der Pfarrer gestört fühlte. Als Kindergartenhelferin war es auch dort meine Aufgabe, den Kindergarten zu putzen, doch die Arbeitszeit war gegenüber vorher reiner Luxus. Ich musste zwar auch früh aufstehen, denn mein Bus fuhr kurz nach 6 Uhr und ich hatte zwei Kilometer dorthin. Bei uns zu Hause gab es damals noch keinen E-Herd, deshalb musste ich erst den Ofen einheizen und mir Frühstück machen. Das hätte ich wahrscheinlich für mich selber nicht jeden Tag getan, aber kurz bevor ich wegging, musste auch mein Vater aufstehen, und der hätte schön geschimpft, wenn ich ohne Frühstück gegangen wäre. Es war natürlich dann auch praktisch, wenn schon Feuer im Ofen war. Am Abend kam ich etwa um 18.15 Uhr nach Hause. Es war klar, dass ich dann mithelfen musste beim Abendessen und Geschirrwaschen, doch danach gab es endlich wirklich Freizeit für mich. Am Mittwoch und am Samstag war nur vormittags Kindergarten, da kam ich schon um 15 Uhr nach Hause. Sonn- und Feiertage waren wirklich frei, zudem gab es Weihnachts- und Osterferien. Für mich natürlich nicht so lange wie für die Kinder, denn da war ja der übliche Großputz zu erledigen, aber einige Tage blieben doch jedes Mal übrig. Nicht nur deshalb war das die schönste Zeit in meiner ganzen Jugend überhaupt. Die Busfahrt zur Arbeit und zurück dauerte jeweils eine Dreiviertelstunde. Fad ist es dabei nie gewesen. Mit mir fuhren noch zwei andere Mädchen aus unserer Ortschaft, dazu kamen einige, die zeitweise in die Berufsschule fuhren. Man kannte auch die anderen Fahrgäste, wusste, wo sie zu- und ausstiegen. Die Busse waren immer gesteckt voll, auf der Heimfahrt gab es oft über lange Strecken keinen Sitzplatz. Damals wäre aber keiner auf die Idee gekommen, sich deshalb zu beklagen. Stattdessen unterhielten wir uns oft über mehrere Reihen hinweg und hatten eine Menge Spaß. Da konnte 262

Abb. 39: Mit Freundinnen auf dem Motorroller des älteren Bruders (um 1959)

es schon vorkommen, dass jemand fast seine Haltestelle übersah. Unter uns Mädchen entwickelte sich bald eine nette Freundschaft, besonders mit einem. Wir machten zusammen Wanderungen oder fuhren ein Stück mit dem Rad, wir sangen viel oder redeten über Gott und die Welt. An den Samstagabenden trafen wir uns immer bei einer von uns, hörten die „Hitparade“ im Radio, die es damals gab, und tanzten dazu. Mit alten Schlagern wie „Junge, komm bald wieder“, „Rote Lippen soll man küssen“ etc. verbinde ich viele schöne und lustige Abende aus dieser Zeit. Schon als ich vierzehn Jahre alt war und aus der Schule kam – und seitdem immer wieder einmal –, hatte unsere ehemalige Hausfrau, die Besitzerin des Bergbauernhofes, mich dazu zu überreden versucht, bei ihr als Hausgehilfin zu arbeiten. Es war bekannt, dass das kein besonders guter Posten war, und ich hatte deshalb auch nie zugesagt. Als dieses Anliegen jetzt 263

wieder an mich herangetragen wurde, habe ich es aufgrund einiger Umstände doch in Erwägung gezogen. Zwar wollte ich viel lieber im Kindergarten bleiben, aber inzwischen hatte ich meinen Mann kennengelernt und wir wollten bald heiraten. Ich würde gleich viel verdienen wie im Kindergarten, aber weil ich die Woche über dort wohnen sollte, brauchte ich daheim nur fürs Wochenende meinen Beitrag zu leisten. Dazu ersparte ich mir die Wochenkarte für den Bus. Und so schlimm würde es schon nicht werden. Illusionen machte ich mir sowieso nicht, ich wusste ja vieles über die angehende Chefin. Den Mann kannte ich seit meiner frühesten Kindheit gut; er war viel bei uns auf dem Hof gewesen und auch später noch öfters auf Besuch gekommen. Meine Eltern kannten die Ausgangslage noch besser als ich. Sie sahen aber vor allem, dass ich besser verdienen würde. Ich glaube, sie hatten die Arbeit im Kindergarten ohnehin nie als „vollwertige“ Arbeit angesehen. Die Entscheidung für diesen Wechsel war keine gute. Das Essen war alles eher als gut. In den sieben Monaten, in denen ich dort war, gab es nie Fleisch, lediglich am Samstag eine Bratwurst. Gekocht hat die Chefin. Das Beste war noch, als ich für Weihnachten Kekse backen sollte. Ein Rezept davon verwende ich, etwas abgewandelt, immer noch; es sind die Lieblingskekse meiner gesamten Familie geworden. Die Arbeit war zum Teil sinnlos und stumpfsinnig. In dem riesigen, alten Haus musste ich regelmäßig auch in den zahlreichen leer stehenden Räumen Fenster und Böden putzen, zudem jede Woche die Tür- und Fensterklinken aus Messing. Viele Stunden verbrachte ich damit, die alten, schon zerfallenden Teppiche zu stopfen. Außerdem musste ich bei der Tochter putzen, die fünf Minuten entfernt in einem großen, neuen Haus wohnte. Ein Lichtblick dort war der dreijährige Sohn, der keinen Schritt von meiner Seite wich und so die Arbeit etwas auflockerte. 264

Für die Tochter und ihre Familie musste ich auch die Wäsche mitbügeln. Bei dieser Arbeit gab es ganz exakte Regeln, an denen nicht gerüttelt werden durfte. Die Chefin bestand darauf, dass die Wäschestücke in einer ganz bestimmten Reihenfolge gebügelt und auch noch genau nach Plan auf dem Tisch aufgelegt wurden. Jede Abweichung davon zog eine lange Belehrung nach sich. Obwohl es im Haus genug leere Zimmer gab – unter anderem jene, in denen die Tochter vorher gewohnt hatte –, musste ich wie alle meine Vorgängerinnen im Zimmer im Dachboden schlafen. Im Winter war es dort so kalt, dass jeder Tropfen Wasser in der Waschschüssel sofort einfror. Toilette gab es da oben natürlich keine, dafür musste ich zum Plumpsklo im ersten Stock. Zeitweise wehte es im Dachboden so herein, dass vor meiner Tür eine 15 bis 20 Zentimeter hohe Schneewehe lag. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es ohnehin nicht lange dauern würde, wäre ich sicher nicht so lang geblieben, aber nun hatte ich mir das schon selber eingebrockt, und so musste ich es auch auslöffeln. Obwohl die Chefin von Anfang an gewusst hatte, dass ich demnächst heiraten würde, war sie doch stocksauer, als ich kündigte. Sie warf mir vor, dass ich sie einfach im Stich lasse. Später stellte sich heraus, dass sie mich nur mit einem Teil meines Gehaltes bei Krankenkasse und Sozialversicherung angemeldet hatten, um sich Abgaben zu sparen. Unter diesen Umständen freute ich mich natürlich immer auf die unbeschwerten Wochenenden mit meinen Freundinnen. Das fehlte mir später sehr. Obwohl ich nach meiner Heirat nur etwa zwanzig Kilometer von zu Hause entfernt wohnte, gingen diese Kontakte leider fast ganz verloren, weil ja keiner von uns ein Auto hatte. Das hab ich sehr vermisst. Eine dieser Freundschaften gibt es jedoch heute noch, auch wenn der Lebensweg uns zwischendurch für längere Zeit auseinandergeführt hatte. 265

Nach der Heirat im Frühjahr 1965 bewohnten wir zwei Zimmer in einem alten Haus. Außer uns waren noch drei weitere Parteien im Haus. Wir alle mussten das Wasser aus der Waschküche hinter dem Haus holen, denn im Haus selbst gab es kein Wasser. In der Waschküche rann das Wasser in einen großen Bottich, und von dort konnte man es herausschöpfen. Direkt vom Wasserhahn war es nicht brauchbar, weil Sand und Schmutz dabei waren, die sich erst im Bottich absetzen mussten. Trotzdem bildete sich im Eimer auf dem Boden immer noch eine Schicht, wenn das Wasser eine Weile stand. Im Winter war die Waschküche total vereist. Wurde der Waschkessel eingeheizt, entstand ein derartiger Dampf, dass man kaum mehr etwas sehen konnte. Als unser Sohn im Winter geboren wurde, hab ich die Windeln und die Babywäsche auf dem Herd in der Küche ausgekocht und das Wasser zum Schwemmen ins Haus getragen. Als Wöchnerin war die vereiste Waschküche nicht ratsam, außerdem konnte ich das Baby nicht so lang alleine lassen. Erst drei Jahre später kam Wasser ins Haus. Es gab zwar nur ein Waschbecken im Flur für jeweils zwei Parteien, aber das Wasser war jetzt sauber. Sobald wir das Geld beisammen hatten, kauften wir eine Waschmaschine. Das war eine unglaubliche Erleichterung. Die Waschmaschine ist überhaupt das Gerät, das die Hausarbeit am meisten erleichtert hat. Sehr froh war ich über den einzigen Luxus in unserer Küche – einen E-Herd mit zwei Platten. So musste ich wenigstens nachts und im Sommer nicht wegen jedem Fläschchen den Holzherd einheizen. 1969 übersiedelten wir in ein anderes Haus im Markt. Das war zwar auch keine abgeschlossene Wohnung, sondern wir bewohnten drei Zimmer nebeneinander. Doch es gab eine ordentliche Toilette und ein Waschbecken mit fließendem Wasser in der Küche. Es war herrlich einfach, zum Wasserhahn gehen zu können und nicht jeden Tropfen Abwasser hinaus266

tragen zu müssen – besonders als 1970 und 1971 zwei weitere Kinder kamen. Wie einfach war es jetzt mit den Windeln und der Wäsche, ich konnte sie einfach in die Waschmaschine werfen! Im Herbst 1971 übersiedelten wir in das Haus, in dem wir auch jetzt noch wohnen. Hier gab es schon ein richtiges Bad und Zentralheizung. Was das alles wert ist, kann man erst richtig ermessen, wenn man es auch anders erlebt hat. Wenn heute meine Waschmaschine und mein Geschirrspüler für mich arbeiten, denke ich oft daran zurück, wie mühselig das früher alles war, und freue mich über diese Erleichterungen. Als wir geheiratet hatten, war es keine Frage, ob ich weiter berufstätig sein könnte. Mein Mann war sehr froh, endlich ein richtiges Zuhause zu haben. Er arbeitete in der Nähe, kam auch mittags zum Essen heim. Damals waren die Verkehrsverbindungen auf dem Land nicht vorhanden, da wäre es ohnehin schwierig gewesen. Als unser Sohn geboren wurde, war es erst recht kein Thema mehr. Für mich war auch immer klar, dass ich meine Kinder selber betreue und großziehe. Später hab ich freilich öfters nach passenden Gelegenheiten ausgeschaut; wir hätten das Geld gut brauchen können. Viel mehr als einige Zeit Heimarbeit mit Kunstgewerbe und Aushilfe in einem Lebensmittelgeschäft ist es aber nie geworden. Als die Kinder aus der Pflichtschule draußen waren, wagte ich nochmals einen Anlauf, als gerade eine Kassiererin in einer nahen Autobahnraststätte gebraucht wurde. Der „Familienrat“ diskutierte ausführlich darüber. Ich hätte ein Auto gebraucht, das hätte ohnehin schon einiges vom Verdienst aufgefressen. Die Kinder gingen damals schon alle drei in Salzburg in die Schule und kamen zu den verschiedensten Zeiten heim; die waren froh, wenn ich da war. Dafür waren sie auch bereit, auf einiges zu verzichten. Im Rückblick gesehen war das eine gute Entscheidung. Ich hab zwar heute keine eigene Pension, aber es hat sich so vieles 267

ergeben, das ich nicht missen möchte. Ich hab mehrere Bücher geschrieben und fünfzehn Jahre in der Erwachsenenbildung gearbeitet, das wäre nie möglich gewesen, wenn ich berufstätig gewesen wäre.

268

Blitzlichter aus meiner Arbeit mit Kindern Margarete Weiss wurde am 15. Mai 1950 als zweites von drei Kindern einer Land­ arbeiterfamilie geboren und wuchs in einem entlegenen Ort des Triestingtales im südlichen Niederösterreich auf. Da sich ihre Eltern nach sechs Ehejahren trennten, verbrachte die Autorin den Großteil ihrer Kindheit mit Mutter und Geschwistern auf dem kleinen Anwesen ihrer Großeltern, die eine Selbstversorgerlandwirtschaft betrieben. Die Lebensumstände ihrer Kindheit hat Margarete Weiss in einem 2007 veröffentlichten autobiographischen Roman mit dem Titel „Das verlorene Gesicht“ beschrieben. Nach dem Besuch der zweiklassigen örtlichen Volksschule und einer Haushaltungsschule nahm die Autorin mit sechzehn Jahren eine Stelle als Kindermädchen bei einer Wiener Familie an, wurde dort aber je nach Bedarf auch als Mädchen für alles eingesetzt. Auf ihrem weiteren Berufsweg hatte sie in vielen verschiedenen Bereichen und Funktionen mit Kindern zu tun: in einem Mutter-Kind-Heim der Caritas, in der Kinderübernahmestelle der Stadt Wien, als Pflegerin im St. Anna Kinderspital oder zuletzt als Betreuerin in der mobilen Hauskrankenpflege. Zudem war sie nach ihrer Heirat im Jahr 1972 und der Geburt zweier Kinder fünfzehn Jahre lang als Tagesmutter tätig. Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann heiratete die Autorin ein zweites Mal und lebt heute in Wien. Wegen einer Parkinson-Erkrankung musste Margarete Weiss im Jahr 2004 vorzeitig aus dem aktiven Erwerbsleben ausscheiden. Seither kümmert sie sich vorzugsweise um ihre drei Enkelkinder und widmet sich verstärkt ihren Hobbys, insbesondere dem Malen 269

von Aquarellen und dem Schreiben. Neben Gedichten, oft in Mundart, Kurzgeschichten und den schon erwähnten Kindheitserinnerungen entstand 2006 der hier etwas gekürzt wiedergegebene Text. Verzichtet wurde insbesondere auf die Wiedergabe mehrerer „Fallgeschichten“ von betreuten Kindern während ihrer Zeit als Tagesmutter und in der Heimhilfe. Die szenischen Rückblenden an verschiedene Stationen der Arbeit mit Kindern sind im Text oft mit einem Wechsel der Erzählzeit ins Präsens verbunden. Die damit verbundene Schreibhaltung erläutert die Verfasserin in einem kurzen Vorwort: „Beim Schreiben habe ich versucht, mich ganz auf die damalige Situation einzustellen, es nachzuempfinden, wie ich zu diesem Zeitpunkt gefühlt und empfunden habe, und hoffe, dies dem Leser auch vermitteln zu können. Die einzelnen Episoden und Ereignisse sind ohne langes Nachdenken wie Blitzlichter aufgeleuchtet. Viele sind im Dunkel geblieben.“ Näheres zur Person der Autorin und ihren Werken findet sich unter http://margareteweiss.at/ bzw. http://www.lookover.at/Berichte/Kunst_Kultur/0000/Margarete_Weiss_Verlorene.php

Ein Kindertraum Als ich selbst noch Kind war, träumte ich davon, Ärztin zu werden. Schon früh interessierte ich mich für alles, was mit dem menschlichen Körper zusammenhängt, und ich stellte es mir toll vor, all dies genau erforschen und kennenlernen zu dürfen. Aber leider, wie bei den meisten Menschen ging dieser Wunschtraum nicht in Erfüllung. Zum einen sah man damals – vor allem auf dem Land, wo ich aufgewachsen bin – keine Notwendigkeit, ein Mädchen studieren zu lassen, zum anderen hätten die finanziellen Möglichkeiten meiner Herkunftsfamilie dafür nicht ausgereicht. Auch die Möglichkeit, eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester zu machen, war nicht gegeben, sodass ich nach der Pflichtschule und zwei Jahren Haushaltsschule zu 270

einer Familie nach Wien kam, um dort als „Kindermädchen“ zu arbeiten.

August 1966: Der Start ins Berufsleben – Vom Kindermädchen zum „Mädchen für alles“ Die Familie wohnte im 6. Bezirk. Der „Herr des Hauses“, Erich, war dreißig Jahre alt und arbeitete im Steuerberatungsbetrieb seines Vaters als Juniorchef. Er war sehr zugänglich, humorvoll, und ich sah in ihm ein wenig einen Vaterersatz. Seine Frau Brigitte, meine Chefin, war etwas jünger. Wir kamen gut miteinander aus, und ich bin ihr heute noch dankbar für das Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte. Sie war zur Zeit meines Dienstantrittes in Karenz. Die Schwiegermutter betrieb eine Blumenhandlung, stand kurz vor der Pensionierung, und Brigitte sollte das Geschäft übernehmen. Dazu war aber die Ausbildung zur Floristin notwendig. Das war auch der Grund, warum ich dann doch sehr viel auf mich allein gestellt war. Ich wohnte bei der Familie und war sozusagen Familienmitglied, ein Status, der seine Vor-, aber auch Nachteile hatte. Vorteil war sicher der totale Familienanschluss. Ich kannte ja in Wien niemanden und wäre sonst sicher einsam gewesen. Das war nie der Fall. Mit meinem Chef konnte ich lachen, er konnte sehr fröhlich sein; es machte mir Freude, mit ihm an der Wohnung zu basteln. Die Folge waren manches Mal Eifersüchteleien seiner Frau, für die es aber keinerlei Anlass gab. Mein erstes „Opfer“ ist Claudia. Sie ist zehn Monate alt, und wir schließen schnell Freundschaft. Von nun an bin ich fast rund um die Uhr für sie zuständig. Die Eltern sind berufstätig und haben anscheinend großes Vertrauen in meine Fähigkeiten. 271

Anfangs stimmt die Bezeichnung „Kindermädchen“. Es gibt eine „Bedienerin“, die Wäsche wird auswärts gewaschen, und gegessen wird meistens bei der wenige Gassen entfernten Großmutter. Doch ganz langsam und schleichend ändert sich das. Die Putzfrau kündigt, bald kommt eine Waschmaschine ins Haus, und Omi will auch nicht immer kochen. Wer wohl macht jetzt all die diversen Arbeiten? Na, wozu ist denn Grete da? Ich werde „Mädchen für alles“. Das Stadtleben ist für mich Landpomeranze ja so verschieden von meinem früheren Leben, als würde man einen ZooElefanten plötzlich in die Wildnis verpflanzen. Nun muss ich auch noch Arbeiten machen, die mir völlig fremd sind. An den Umgang mit Gasherd, Waschmaschine und Staubsauger muss ich mich erst gewöhnen. Dabei passieren immer wieder Missgeschicke, bei denen mein Chef mir oft genug hilft, sie vor seiner Frau zu verbergen. Bunte Socken unter der Weißwäsche sind dabei noch das kleinste Übel. Beim „Überfüttern“ des Dauerbrandofens setze ich fast die Wohnung in Brand, und was beim Kochen so an Unfällen passiert ist … Es sind Gäste eingeladen, auf der Speisekarte steht unter anderem Rindsuppe. Die Leute sitzen schon bei Tisch, ich will die Suppe abseihen – aber leider, die gute Suppe rinnt in den Abfluss. Ich habe vergessen, einen Topf unterzustellen. Zum Glück sind alle geduldig und warten auf eine – natürlich ziemlich verdünnte – Suppe. Bald darauf ist die Mutter von Claudia wieder schwanger. Sie bekommt noch ein Mädchen, das Angelika genannt wird. Angelika wird ganz und gar „mein“ Kind. Sie kommt aus dem Krankenhaus, und ich bin von Anfang an für sie zuständig. Ihre Mutter muss zu der Zeit mehrere Prüfungen machen, sodass sie wenig Zeit für das Baby hat. Ein aufregender Lebensabschnitt für mich! Noch nie hatte ich ein so frisch geschlüpf272

tes Kindchen im Arm, und nun musste ich es füttern, wickeln und versorgen. Ich stehe Todesängste durch, wenn sie nach dem Füttern das Gesichtchen verzieht, weil ich Angst habe, etwas falsch gemacht zu haben. Trotzdem würde ich sie am liebsten überhaupt nicht aus der Hand geben. Heute weiß ich nicht mehr, wie ich das alles mit meinen noch Abb. 40: Die Autorin als nicht einmal 19 Jahren gemaKindermädchen (1968) nagt habe. Nur 16 Monate später kommt Alice, das dritte Mädchen. Mittlerweile häufen sich die Probleme. Ich bin älter geworden, habe einigen Anschluss zu Gleichaltrigen gefunden und leide immer mehr unter der knappen Freizeit. Ich habe zwar ein eigenes Zimmer in Wien, aber natürlich ist es verboten, dort Besuche – vor allem männliche – zu empfangen. Nun, Verbote sind da, um gebrochen zu werden. Es ist Sonntag, die Familie macht einen Ausflug, und ich habe, wie man so schön sagt, sturmfreie Bude. Die beste Möglichkeit, Franz, einen Freund aus der Jugendgruppe, mitzunehmen. Doch der Spaß dauert nicht lang: Unerwartet kommen die Leute viel früher als erwartet nach Hause! Nun ist guter Rat teuer. Flucht durchs Fenster ist unmöglich: zweiter Stock. Wir verhalten uns mucksmäuschenstill. Jeden Augenblick kann jemand ins Zimmer kommen. Es liegt direkt neben der Küche, und es ist relativ schwierig, ungesehen aus der Wohnung zu kommen. Aber wir haben Glück. Irgendwann sind alle Türen zu, und Franz kann sich auf leisen Sohlen davonmachen. Er hat mich nie wieder besucht! 273

Mehrere Monate im Jahr verbringe ich mit den Kindern in Salzburg bei der Oma mütterlicherseits. Von ihr fühle ich mich noch viel mehr bevormundet. Dort gibt es auch kein eigenes Zimmer für mich, und ich habe die Kinder rund um die Uhr um mich. So sehr ich die Kleinen liebe – ich habe nie das Gefühl: „Ich habe frei.“ Egal, ob Sonn- oder Feiertag, das Dreimäderlhaus hängt an meiner Kittelfalte. Die einzige Möglichkeit ist Flucht! So lerne ich jeden Winkel Salzburgs kennen … Ich lerne zum Glück auch eine nette Familie kennen, bei der ich viel Zeit verbringe, die mich aber auch in meinem Wunsch nach mehr „Freiheit“ unterstützt. Auf mein Drängen nach einem eigenen Zimmer in Salzburg wird vom Chef geantwortet, dass ich unterschreiben müsste, bis zum Schuleintritt der Kinder zu bleiben, dann würde man das Geld investieren und ein Zimmer im Dachboden ausbauen. Das ist mir doch zu viel Druck, sodass ich, wenn auch mit schwerem Herzen, kündige. Ich weiß, dass ich bei dieser Familie viel für mein weiteres Leben gelernt habe. Ich bin selbständiges Arbeiten gewöhnt, habe gelernt, Verantwortung zu tragen, und habe auch das erste Mal eine „richtige“ Familie erlebt. Was für mich, die ohne Vater aufgewachsen ist, sehr viel bedeutet. […]

1969 – Das „Heim für Mutter und Kind“ der Caritas Socialis in Wien-Hütteldorf Hier lebten junge Mütter, die Probleme mit ihren Familien hatten. Oft verbrachten sie schon einen Großteil der Schwangerschaft in diesem Haus und blieben auch nach der Geburt, bis wieder ein geregeltes Leben für sie möglich war. Die Mütter kümmerten sich um ihre Kinder, waren aber auch im Haus beschäftigt. 274

Gleichzeitig wurden dort Kinder des Jugendamtes der Gemeinde Wien betreut. Es gab fünf Familiengruppen mit Kindern von ein bis sechs Jahren, eine Behindertengruppe und die Säuglingsstation. Um den Kindern eine möglichst familiäre Atmosphäre zu bieten, gingen die Kinder der Familiengruppen tagsüber in Kindergarten bzw. Kinderkrippe, die auch im Haus untergebracht waren. In der Gruppe blieben dann nur zwei bis drei Kleinkinder, die von der diensthabenden Schwester liebevoll betreut wurden. Für mich ist all dies völlig neu, doch ich lebe mich schnell ein, und bald werde ich überall eingesetzt. Es ist hier absolut nicht so, wie man sich ein Heim vorstellt, und die Kinder sind eigentlich recht zufrieden und guter Dinge. Es gibt wenig Wechsel im Pflegepersonal; für die Schwestern des Ordens sind die Kinder, als wären es die eigenen, und ich fühle mich sehr wohl in dieser Gemeinschaft. Bald darf ich auch Nachtdienst machen, wobei ich ganz allein für fast hundert Kinder verantwortlich bin. Ich gehe jede halbe Stunde durch alle Gruppenräume, schaue, ob alles ruhig ist, setze hier und da ein Kind auf den Topf, messe Fieber, wenn eines krank ist, tröste, wenn eines aufgewacht ist und weint. Gegen 5 Uhr wecke ich den Beidienst, und gemeinsam wickeln und füttern wir die Babys auf der Säuglingsstation. Meine Aufgabe im Nachtdienst ist es auch, bei den Behinderten ein paar Kinder zu wickeln. Davor habe ich anfangs ziemlichen Bammel. Hier gibt es Sabine, ein Kind mit schwerer Störung der Schilddrüsenfunktion. Man glaubt, ein Skelett vor sich zu haben, Knochen mit Haut drüber und geistig zurückgeblieben. Anfangs kostet es mich eine Riesenüberwindung, sie nur anzugreifen. Oder Hansi mit seinem monströsen Wasserkopf. Ich kann nicht verstehen, wie Schwester Jakoba so an diesen seltsamen Wesen hängt. Aber: Dienst ist Dienst, und so verrichte ich auch dort – wenn auch mit Widerwillen – meine Arbeit. 275

Eine weitere Schwierigkeit beim Nachtdienst ist meine Angst in der Dunkelheit. Im Haus gibt es lange, dunkle Gänge, die mir besonders in der Nacht sehr unheimlich erscheinen. Es kostet mich viel Selbstüberwindung, in den Keller zu gehen, wo sich Milchküche* und Waschküche befinden. Wenn ich in einen Raum gehen muss, halte ich mir die Augen zu, dreh am Lichtschalter, und erst wenn ich sicher bin, dass das Licht brennt, mach ich die Augen wieder auf. Jede Nacht kommt der Milchwagen, da muss ich auch noch in die Küche, um die Sachen zu übernehmen. Alles Tätigkeiten, bei denen mir der Angstschweiß ausbricht. Aber ich sage niemandem etwas und beiße mich durch. Nichts ist mir passiert! Besonders gerne mache ich Dienst in der Gruppe bei Schwester Diemut. Hier sind Dominik und Susi, meine Lieblinge. Susi ist knapp zwei und Dominik vier Jahre alt. Susis Mutter hat einen neuen Partner gefunden und will sie bald nach Hause holen. Vorher soll sie aber noch getauft werden. Zu meiner großen Freude werde ich von der Mutter gebeten, die Patin zu werden. Ich kaufe ein schönes Kleidchen, und stolz trage ich sie 1969 am Karsamstag bei der Osternachtsfeier in der schönen Kapelle des Hauses zum Taufbecken. Bald darauf zieht Susi nach Bad Vöslau zu ihrer Mutter, und ich habe über lange Jahre mit ihr Kontakt, darf sie durch die Schulzeit und einen Teil ihrer Jugend begleiten. Eines Tages sehe ich auf dem Dienstplan, dass ich für die Gruppe F – das sind die Behinderten – eingeteilt bin. Nur das nicht! Ich bin entsetzt und will mich bei der Oberschwester beschweren. Nach einigen inneren Kämpfen beschließe ich, es einfach zu versuchen. Der Anfang war hart! Außer Sabine und Hansi, von denen ich schon erzählt habe, gibt es noch den sechsjährigen Harald. Er sollte abgetrieben werden und hat dadurch einen schwe276

ren geistigen Schaden erlitten. Er kann nur mühsam gehen, ist Spastiker und kann nur breiige Nahrung zu sich nehmen. Ihn zu füttern ist ein Geduldspiel: Man schiebt einen Löffel voll in seinen Mund, und meistens rinnt das Mehrfache davon wieder heraus. Eine unendliche Geschichte! Es gibt auch Rudi, knapp drei und schwer herzkrank. Auch er kann nicht gehen, nur auf dem Boden herumrutschen. Greterl, vier Jahre, ist taubstumm, Sylvana, sechs Jahre, ist mehrfach behindert, kann aber gehen und versteht auch vieles. Claudia ist sechs, sieht aus wie ein Baby und verhält sich auch so. Sie ist auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkindes von acht Monaten. Stefan ist knapp zwei, auch schwerstbehindert, Leo, vier Jahre, hat schwere epileptische Anfälle, und auch Erich ist Epileptiker. Es gibt viel Arbeit. Schwester Jakoba, die in dieser Abteilung die Chefin ist, liebt ihre Kinder abgöttisch, tut alles für sie – und erwartet das auch von ihren Mitarbeiterinnen. Bei schönem Wetter schleppen wir die Kinder mit allem, was sie brauchen, auf die Sonnenterrasse, gehen mit ihnen in unserem schönen Park spazieren und machen mit ihnen die verschiedensten Übungen, die von den Ärzten vorgeschrieben sind. Es dauert nicht lange, bis ich merke, wie dankbar diese Geschöpfe für jede Kleinigkeit sind, wie sehr sie sich über ein Lachen, eine Zärtlichkeit freuen. Besonders Rudi hängt sehr an mir, und sobald ich in das Zimmer komme, rutscht er auf mich zu und will hochgenommen werden. Auch an Sabine gewöhne ich mich langsam, und es kostet mich keine Überwindung mehr, sie zu berühren. Von Schwester Jakoba lerne ich unendlich viel für meine ganze weitere Beschäftigung mit Kindern. Sie hat mich in der Zeit bei ihr mehr geformt als jede andere, und mein Kontakt zu ihr ist auch bis heute nicht abgerissen. Leider nimmt die schöne Zeit in diesem Heim ein unschönes Ende. Die Stadt Wien, die für die Belegplätze zahlt und 277

damit den Erhalt der Institution ermöglicht, zieht ihre Kinder ab und damit auch den finanziellen Hintergrund. Nie werde ich die Tage vergessen, an denen die Leute vom Jugendamt mit den Kleinbussen kamen, um die Kinder zu Pflegeeltern im ganzen Bundesgebiet zu bringen. Sie werden aufgeteilt wie eine Herde Vieh. Es ist traurig für uns, nicht zu wissen, welche Zukunft sie erwartet, was aus ihnen wird. Auch unsere Behinderten müssen weg. Hansi kommt ins Caritasheim „Am Himmel“, andere in ein Heim in Oberösterreich, und Harald und Rudi müssen nach Steinhof*. Ich bin dabei, als wir sie dort „abliefern“. Ein Riesensaal mit lauter rundum vergitterten „Raubtierkäfigen“. Ein schlimmes Erlebnis. Beide leben dort nicht lange. Sie waren anderes gewöhnt. Die geistlichen Schwestern werden auf andere Wirkungskreise verteilt, die Kindesmütter möglichst gut versorgt, die Schülerinnen, die bei uns ihr Praktikum gemacht haben, werden auch verlegt. Und ich? Ich werde, so wie viele der Kinder, von der Gemeinde Wien übernommen und bekomme ab September 1971 eine Stelle als Hilfsschwester in der Kinderübernahmestelle Lustkandlgasse, kurz KÜST genannt. Inzwischen hatte ich mir eine kleine Wohnung gesucht, da ich ja bisher immer an meinen Dienststellen gewohnt hatte. Bei einem Urlaub in Windischgarsten hatte ich Bruno kennengelernt, und wir schmiedeten bereits Hochzeitspläne.

September 1971: Die Kinderübernahmestelle der Gemeinde Wien In dieser Einrichtung wurden Kinder aufgenommen, die aus den verschiedensten Gründen rasch von den Eltern wegmüssen – sei es, dass sie misshandelt wurden, dass die Eltern einen Streit mit Polizeieinsatz hatten, verunglückten oder oder oder … Die Ursachen waren verschieden, für die Kinder aber 278

immer traumatisch. Für die Kleinen, weil sie nicht verstanden, warum sie plötzlich weg von Papa und Mama mussten, für die Größeren, weil sie es verstanden. Es gab da Schicksale, die man sich in seiner Phantasie nicht ausdenken kann und will. Es war ein „Durchzugsheim“, das hieß, dass die Kinder nur dort blieben, bis eine Entscheidung getroffen wurde, was weiter mit ihnen geschieht. Im besten Fall konnten sie wieder nach Hause, was leider nur selten vorkam. Für die Kleinsten war es relativ leicht, Adoptiv- bzw. gute Pflegeplätze zu finden, aber je älter die Kinder waren, umso schwieriger wurde es, sie in Familien unterzubringen. Dann blieb nur ein anderes Heim. Mir war es von Anfang an wichtig, die Hintergründe des Aufenthalts bei uns zu kennen – was keine Selbstverständlichkeit war. Aber ich habe es durchgesetzt, dass wir die Aufnahmeberichte lesen durften. Es war einfach notwendig zu wissen, was diese armen Kinder durchgemacht hatten, um ihr Verhalten besser verstehen zu können. Es ist gut, dass ich nicht so genau weiß, was mich an meiner neuen Dienststelle erwartet. Ich werde anfangs bei den Säuglingen eingesetzt. Hier sind die Kinder bis zwei Jahre. Ich bin von meiner Arbeit in Hütteldorf gewohnt, dass immer die Kinder vorrangig sind. Wenn ich sehe, dass eines weint, traurig und unglücklich ist – was natürlich oft der Fall ist –, nehme ich es aus dem Bettchen und will es trösten. Leider ist das hier absolut nicht erwünscht. Sofort bekomme ich irgendeine furchtbar wichtige Tätigkeit, wie zum Beispiel Windeln falten, zugewiesen, denn es geht nicht an, dass die Kinder verwöhnt werden. Ich füge mich, aber mein Herz blutet. Füttern, Wickeln, Baden – alles wird wie am Fließband, ohne Lachen, Kuscheln, Schmusen, abgewickelt. Es herrscht 279

ständiger Personalwechsel, kaum hat das Kind sich an ein Gesicht gewöhnt, ist wieder ein anderes da. Das muss zusätzlich zu den schlimmen Erlebnissen, die diese Kinder ohnehin schon hatten, ein entsetzlicher Dauerstress sein. Zuerst weinen sie, dann verfallen sie in Lethargie, schlagen sich die Köpfe am Gitter blutig und werden dann „brav“. Ich leide mit ihnen. Zum Glück komme ich bald in die Gruppe zu den älteren Insassen, zwei bis sechs Jahre. Hier übernehme ich selbständig eine Gruppe, obwohl ich eigentlich keinerlei pädagogische Ausbildung habe. Meine Kollegin in der Parallelgruppe ist Kindergärtnerin, macht die gleiche Arbeit wie ich, bekommt aber fast das Doppelte an Gehalt, aber was soll’s. Ich bin trotzdem stolz, in Eigenverantwortung arbeiten zu dürfen, und außerdem lerne ich auch viel von Hilde, meiner Kollegin. Hier läuft alles etwas anders. Es gibt die zwei Gruppen mit je zwei Leiterinnen, die sich abwechseln. Daneben haben wir eine sogenannte „Radlschwester“*, die für Essen, Bekleidung usw. zuständig ist und die auch die Nachtdienste macht. Hilde und ich sind nur für die erzieherischen Belange zuständig. Die Anzahl der Kinder schwankt natürlich stark. Manchmal sind es nur fünf, dann wieder fünfzehn Kinder. Nun macht es sich bezahlt, dass ich bei den Schwestern auch im Kindergarten eingesetzt war und doch schon einiges an Erfahrung habe. Vor allem kommt es mir zugute, dass ich in meinem Fernkurs über Kindererziehung viel über positive Konditionierung gelernt und auch meine Abschlussarbeit darüber geschrieben habe. Positive Signale bewirken positive Reaktionen. Ich zeige den Kindern, dass ich sie mag und auch verstehe, wenn sie unglücklich sind, und wir kommen meistens gut miteinander zurecht. Trotz meiner konsequenten Erziehung mögen mich die Kinder. Ich mache aber auch die Erfahrung, dass es hilft, ein Kind, 280

Abb. 41: Morgengymnastik im Heim der Wiener Kinderübernahmestelle (1972)

das total außer sich ist, durch Festhalten, dadurch, dass ich es fest an mich drücke, wieder zu beruhigen. Da ist Erich, der oft richtige Tobsuchtsanfälle hat, vor allem, wenn seine Mutter ihm jedes Mal verspricht, ihn mitzunehmen … und dann doch wieder allein nach Hause geht. Ich bekomme vier Mädchen aus einer Familie. Man hat sie total verdreckt, in ihrem eigenen und in Hundekot liegend, aufgefunden. Sie können nicht sprechen, sind nur ruhig, wenn sie sich aneinanderkuscheln können, und haben Panik vor den anderen Kindern. Sie können nicht allein essen und sind am ganzen Körper wund. Wie es wohl in ihrer Seele aussieht? Eines Tages kommt der kleine Harald in meine Gruppe. Seine Mutter ist Prostituierte und hat ihn einfach auf die Straße geschickt, wenn sie ihre Freier empfangen hat. Er hat sich dort das Essen zusammengebettelt und lässt sich das sehr schwer abgewöhnen. Er ist etwas über drei und spricht kein Wort. Aber er ist ein sehr kluges Kerlchen und holt das in kürzester Zeit auf. Nur auf der Straße oder im Park kann er 281

es einfach nicht lassen, Menschen, die Essbares in der Hand haben, anzubetteln – was nicht immer mit Freundlichkeiten honoriert wird. Habe ich eine kleine Gruppe, gehen wir viel weg, am liebsten in den Pötzleinsdorfer Park. Dort gibt es Tiere, und wir können die Enten im Teich füttern. Dies geht natürlich nur, wenn ich eine Begleitperson habe, denn mit mehr als fünf Kindern mag ich nicht alleine in der Straßenbahn fahren. Noch eine Bemerkung zu den Radlschwestern: Zu ihrer Aufgabe gehört es auch, die Aufnahmen der Kinder zu machen. Das ist eine der schlimmsten Aufgaben im Haus. Die Kinder sind oft derart verwahrlost und verschmutzt, dass eine dritte Hand notwendig wird – um sich die Nase zuhalten zu können! Es ist wirklich unglaublich, wie schmutzig und stinkend ein Kind sein kann. Und dann die Läuse! Nach dem ersten Kopfwaschen ist das Becken oft schwarz. Viele haben auch Skabies (Krätze), die sehr ansteckend ist und gleich behandelt werden muss. Es ist manchmal ein richtiges Wunder, wenn so ein kleines Menschlein dann gewaschen und frisch gekleidet aus dem Bad kommt. Bei den größeren Kindern ist das eine noch schlimmere Prozedur. Es kommt ja kein Kind freiwillig zu uns. Damit sie nicht gleich wieder entwischen, müssen sie in den Keller und sich dort völlig entkleiden! Sie werden nicht nur ihrer Kleider, sondern auch ihrer Würde beraubt. Ich finde es einfach unmenschlich! Es muss doch auch eine andere Lösung geben. Anfangs denke ich, bei den Kindern, die ja ohnehin oft nur ein paar Wochen bei uns sind, nicht wirklich etwas bewirken zu können. Aber je länger ich in der Gruppe bin, desto bewusster wird mir: „Sie spüren, dass ich sie mag. Sie dürfen lachen, weinen, einfach so sein, wie sie sind, und wenn es auch nur ein Samenkorn der Liebe ist … vielleicht geht es einmal auf!“ 282

Mittlerweile bin ich verheiratet, habe mich in meiner Wohnung eingewöhnt, verstehe mich mit den Kolleginnen gut und komme auch mit den verschiedensten Situationen bei den Kindern gut zurecht. Nun bekomme ich Hannes in meine Gruppe. Er ist sechs und lebte in einem Verhau auf dem Anwesen seiner Eltern, die sich für ihr behindertes Kind schämten. Damals wusste man noch nicht viel über Autismus, heute bin ich überzeugt, dass er schwer autistisch war. Er wirft alles über den Haufen, was ich mir aufgebaut habe. Nicht nur, dass er einfach alles zerstört, was die Kinder bauen oder basteln. Er verschmiert den Inhalt seines Topfes, wo er nur kann, bekommt fürchterliche Schreianfälle und hat den ständigen Drang, wegzulaufen. Er ist blitzschnell und wendig wie eine Schlange, sodass man ihn fast nicht festhalten kann. Mit ihm auf die Straße zu gehen ist schwierig und für einen allein fast untragbar. Gerade zu der Zeit fehlt es an Personal, sodass mir oft gar nichts anderes übrig bleibt. Dabei darf man ihn keine Sekunde aus den Augen lassen. Er tritt und bespuckt die Passanten, steckt in den Mund – und schluckt –, was ihm in die Finger kommt, und ist ständig am Sprung, um auf die Straße zu laufen. Will ich ihn zu Hause lassen, höre ich von der Stationsschwester, die dann auf ihn aufpassen müsste, dass er ja auch an die frische Luft muss. Die hat ja leicht reden! In der Nähe des Heimes befindet sich der Währinger Park. Hier gibt es ein eingezäuntes Areal, für Kindergärten der Stadt Wien und unsere Kinder vom Heim. Praktischerweise sind in diesem Areal auch die Garagen für die Gärtner untergebracht, die der Einfachheit halber meistens das große Tor offen lassen. Somit kann ich mit Hannes auch dort nicht wirklich beruhigt hingehen. Wie schnell kann er hier entwischen oder unter ein Fahrzeug der Gärtner geraten. Es ist Stress pur. Noch dazu bin ich in den ersten Schwangerschaftswochen. 283

Mir ist ständig schlecht, und dann noch diese ununterbrochene Aufmerksamkeit, Sorge und Angst, dass etwas passiert. Natürlich habe ich auch nicht wirklich Zeit und Ruhe, mich mit den anderen Kindern so zu beschäftigen, wie sie es brauchen, was zur Folge hat, dass auch sie unruhiger und verstörter werden. Es wird September. Rund um den Zaun im Park sind Ligustersträuche. Die Beeren reifen und sind ein begehrenswertes Objekt für meinen „Allesfresser“. Wenn auch unser Arzt im Heim immer wieder darauf hinweist, dass Hannes ein anderes Verdauungssystem hat und Dinge verträgt, die andere umbringen – zum Beispiel Rosskastanien –, glaube ich nicht ganz, dass ihm die Ligusterkugeln nicht schaden. Es ist ein Kampf. Er lässt sich nicht festhalten; man glaubt, er hat hundert Hände, mit denen er diese Früchte von den Stauden reißt. Ich weiß mir nicht anders zu helfen und schlinge ihm eine zusammengelegte Springschnur um die Mitte, um ihn vom Zaun fernhalten zu können. Dabei werde ich von einer anderen Kindergartentante beobachtet … und angezeigt! Nun habe ich ein Disziplinarverfahren am Hals. Ich werde zum Gottöbersten des Jugendamtes vorgeladen. Dort kann ich aber glaubwürdig versichern, dass ich von der Stationsschwester immer wieder angehalten wurde, Hannes mitzunehmen, obwohl sie von den Problemen wusste. Meine Hauptargumentation war aber, dass keine Mutter angezeigt würde, wenn sie ihr Kind im Kinderwagen anhängt, um zu verhindern, dass es hinausfällt. Mein „Fesseln“, wie es ausgedrückt wurde, war genauso eine Vorsichtsmaßnahme. Die Anzeige wird daraufhin zurückgezogen, ich werde aber trotzdem strafversetzt. Mein nächstes Arbeitsgebiet ist ein Heim für schwererziehbare Mädchen bis 18 in Klosterneuburg. „Die Martinstraße“, ein geschlossenes Heim für – wie es damals hieß – „gefallene Mädchen“. Dort sind Mädchen vom 284

Schulalter bis 18 untergebracht. Meistens solche, die schon in mehreren anderen Heimen waren, dort als untragbar galten und so wie ich nach Klosterneuburg „strafversetzt“ worden waren. Es gab dort eine Schule und die Möglichkeit, eine Schneider-, Koch- oder Gärtnerausbildung zu machen. Auch hier gab es Gruppen gemischten Alters, die Mädchen ab 16 durften rauchen, aber niemand durfte allein das Grundstück verlassen. Wurde eines der Mädchen krank, kam es auf die Krankenstation. Diese war in einem gemütlichen Häuschen etwas außerhalb der anderen Gebäude untergebracht. Dort wurden auch die Medikamente aufbewahrt. Die jungen Damen durften zwar nicht weg, aber sie waren sehr einfallsreich und fanden immer wieder Gelegenheiten zu türmen. Meistens wurden sie wenige Tage später von der Polizei in der Pratergegend aufgefunden, und die Freiheit war wieder zu Ende. Die Mädchen, die in ihrem Leben nicht viel an Liebe erlebt hatten, gingen oft mit dem nächsten Mann, der ihnen ein wenig Zärtlichkeit bot, ins Bett. Wurden sie dann aufgegriffen, mussten sie erst einmal auf die Krankenstation, und man brachte sie nach Wien zur Kontrolle bezüglich einer venerischen Infektion. Mein Arbeitsbereich ist also die oben erwähnte Krankenstation. Ich bin dort für die erkrankten Mädchen zuständig. Zusätzlich muss ich dreimal täglich durch alle Gruppen gehen, um die laufend verschriebenen Medikamente zu verteilen. In meinem Korb befinden sich aber auch Grippemittel, Halswehtabletten, Kreislauftropfen und Verbandzeug. Wenn ich in eine Gruppe komme, frage ich, ob eines der Mädchen Schmerzen, eine Verkühlung oder sonst irgendwelche Probleme hat. Ich entscheide dann, ob ich ihr etwas aus meiner „Schatzkiste“ gebe oder ob sie der Ärztin vorgestellt werden muss. Ich hab auch immer ein Fieberthermometer bei mir. Hat ein Mädchen Temperatur, nehme ich es gleich mit. 285

Ich komme sehr schnell dahinter, dass ich hier sehr energisch und vor allem genauso schlau sein muss wie diese Kinder. Sind Schularbeiten im Anzug, werden sie gerne krank. Hier heißt es schon einmal abwägen, wie weit die starken Bauchschmerzen usw. echt sind. In unserem Fundus gibt es Merfen-Lutschtabletten. Diese finden reißenden Absatz, werden sie doch als „Zuckerl­ ersatz“ gelutscht. Nun, da habe ich schnell eine Lösung: Leider sind keine mehr vorrätig! Die armen Mädchen mit den Halsschmerzen werden gepinselt und bekommen eine Lösung zum Gurgeln. Das wirkt Wunder! Bei der nächsten Visite sind sie doch glatt gesund. Kopfschmerztabletten ersetze ich oft durch einige Tropfen Kamillosan. Scheint auch zu wirken. Wenn ich aber sehe, dass es einem Mädchen wirklich psychisch schlecht geht, bespreche ich das mit unserer Ärztin und bitte sie, sie für ein paar Tage krankzuschreiben. Auf der Station bei mir sind ja immer nur wenige Patientinnen, und so habe ich dann genug Zeit, mich mit diesen zu beschäftigen, mit ihnen zu plaudern und vor allem: ihnen zuzuhören! Das ist oft wichtiger als jedes Medikament. Ich habe auch hier alle „Dossiers“ der Insassinnen gelesen, vor allem von denen, die bei mir auf der Station sind. Somit habe ich das nötige Hintergrundwissen, auch um Flunkereien nicht allzu ernst zu nehmen. Einmal ist ein circa elfjähriges Mädchen auf der Station. Sie erzählt, dass ihr Vater sie und ihre zwei Schwestern, sobald die Mutter aus dem Haus war, missbraucht hat. Er drohte, sie zu ermorden, wenn sie etwas davon erzählen würden. Endlich gelang es ihr, ihm eine Bierflasche an den Kopf zu werfen, worauf er kurz das Bewusstsein verlor. Sie glaubte, ihn getötet zu haben, und lief davon. Sie schloss sich einem Wanderzirkus an, und erst dort wurde sie von der Polizei aufgegriffen und ins Heim gebracht. 286

So hat jedes dieser Mädchen seine traurige Vergangenheit, und es tut mir weh, sehen zu müssen, dass sie wenig Chancen haben, aus diesem Rad herauszukommen. Sie werden schwanger, weil sie sich nach Liebe sehnen, aber keine Ahnung von Verhütung haben, werden von den Männern ausgenützt und oft als Prostituierte missbraucht. Eines der Mädchen, knapp vierzehn, ist schwanger – und es gelingt ihr, vor uns allen diesen Zustand geheim zu halten. Sie holt brav jedes Monat ihren Bedarf an Vorlagen, trägt weite T-Shirts, und angeblich weiß auch keines der Mädchen aus ihrer Gruppe davon. Sie glaubt, das Kind heimlich am WC entbinden und „entsorgen“ zu können. Dabei unterschätzt sie die Schmerzen der Wehen, und die Schwester hört sie schreien. Seither weiß ich, dass es wirklich möglich ist, eine Schwangerschaft zu verstecken. Auch bei mir in der Krankenstation geht natürlich nicht immer alles problemlos ab. Es ist dort absolutes Rauchverbot, was die Damen nicht gerne akzeptieren. Da gibt es endlose Diskussionen und Bitten. Aber auch Drohungen. Eine Patientin ist zur Nachsorge nach einer Blinddarmoperation auf der Station. Sie droht, ihre Wunde aufzuschneiden, wenn sie nicht rauchen darf. Hier hilft nur ein Schritt nach vorne. Ich bringe ihr eine Schere und fordere sie auf, dies zu tun – mit der Vorwarnung, dass sie dann halt noch länger auf ihre geliebte Zigarette warten wird müssen. Sie hat es sich überlegt – ich kann die Schere wieder wegräumen. Sie ahnt nicht, wie mulmig mir bei dieser Aktion ist. Ich muss auch regelmäßig mit den „Ausreißerinnen“ nach Wien zur Untersuchung fahren. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Meistens haben sie vor, die beste Gelegenheit zu nützen, um gleich wieder auszureißen. Ich kann die großen Mädchen ja schwer an der Hand führen. Noch dazu sind sie da sehr einfallsreich. Mehr als einmal komme ich mit weniger Jugendlichen zurück, als ich weggefahren bin. Ich muss dann 287

nur angeben, was sie anhaben, und sie werden wieder polizeilich gesucht. In einigen Tagen sind sie wieder bei mir auf der Krankenstation. Meine Zeit in Klosterneuburg ist bald vorüber. Nach zwei Monaten gehe ich in den Mutterschutz und kann mich nun auf mein eigenes Kind freuen.

1974: Endlich ein eigenes Kind! Am 19. November bekam ich Ingrid, mein lang erwartetes, eigenes Baby. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, wie die Mütter im Krankenhaus so ängstlich und unsicher sein konnten. Ich kam von Anfang an gut mit ihr zurecht, sie war ein braves, friedliches Kind, das sich gut entwickelte und uns viel Freude machte. Wir wohnten damals noch in meiner kleinen Wohnung mit Kaltwasser am Gang. Die Windeln – Wegwerfwindeln gab es noch nicht – kochte ich in einem großen Topf am Ofen aus, gespült wurden sie am Gang. Die größere Wäsche brachte ich zur Schwiegermutter, wo ich sie mit der Maschine waschen konnte. Ingrid war neun Monate alt, als ich feststellte, dass ich wieder schwanger war. Leider ging es mir diesmal schlechter als in der ersten Schwangerschaft. Mir war nur schlecht, und ich musste schon erbrechen, wenn ich Ingrid aus dem Bettchen heben wollte, wenn ich in die Nähe einer Fleischhauerei kam und auch bei jeder Mahlzeit. Nach dem Jahr Karenz sollte ich wieder in Klosterneuburg arbeiten, aber es ging mir so schlecht, dass mein Gynäkologe mich nach wenigen Tagen von der Arbeit freistellte. Inzwischen hatten wir beschlossen, in die Wohnung der Schwiegereltern zu ziehen. Diese bauten den Dachboden aus und stellten uns ihre große Wohnung zur Verfügung. Mit zwei Kindern war es in der bisherigen Substandardwohnung* doch nicht zu machen. Trotz meines schlechten Zustandes began288

nen wir also mit der Wohnungsrenovierung, bei der wir aus finanziellen Gründen möglichst viel in Eigenregie machten. Am 13. April 1976 konnten wir provisorisch die Wohnung beziehen, und am 9. Mai, am Muttertag, wurde dann Martin geboren. Er sollte erst zehn Tage später kommen, aber ich hatte das schon Monate vorher „geplant“, am Muttertag zu entbinden. Nun, es war so ziemlich das einzige Mal, dass mein Söhnchen mir wirklich gefolgt hat! Martin war im Gegensatz zu Ingrid immer – nun ja, lebhaft, ein richtiger Lausbub. Nichts war vor ihm sicher, er heckte ständig irgendwelche Streiche aus und war vor allem „dauerschmutzig“. Dazu hatte er von Geburt an Probleme mit der Lunge, bekam schnell Pneumonien* und war sehr oft im Krankenhaus. Obwohl er viele Medikamente nehmen musste und jede Verkühlung durch sein Bronchialasthma zum Problem wurde, war er kaum zu bremsen. Das brachte oft Schwierigkeiten mit den Schwiegereltern. Sie hätten ihn gerne unter den „Quargelsturz“ gestellt und machten mir oft Vorwürfe, dass ich zu wenig auf ihn aufpasse. Ich wollte aber, dass er trotz seiner Krankheit möglichst normal leben und selbst lernen solle, was und wie viel er sich zumuten kann. Dabei passierten halt so kleine „Unfälle“ wie ein Einbruch ins eiskalte Wasser eines zugefrorenen Teichs bei minus zehn Grad, was wieder einen Krankenhausaufenthalt zur Folge hatte, oder Asthmaanfälle beim Fußballspiel, bis er merkte, dass es ihm im Tor am besten ging, weil er da weniger laufen musste. Die ersten Jahre in der Volksschule waren äußerst schwierig. Die Lehrerin hatte kein Verständnis für seine Husterei. Er musste sich auf den Gang stellen, weil sein Husten angeblich den Unterricht störte und die anderen Kinder Angst hatten, angesteckt zu werden. Ich bekam immer wieder den Auftrag, ihn nicht in die Schule zu schicken, wenn er hustete. Schwie289

rig, da hätte ich ihn überhaupt zu Hause lassen müssen. Ich konnte ja nicht abschätzen, wann er sich auf dem Schulweg zu sehr hetzte oder er sich in der Turnstunde überanstrengte, sodass er anschließend den ganzen Vormittag husten musste. Nach knapp zwei Jahren Stress wechselten wir die Schule, und seltsamerweise gab es dort keinerlei Probleme. Im Gegenteil, die Lehrerin besuchte ihn im Krankenhaus, um mit ihm zu lernen, brachte Grüße der Mitschüler mit und baute ihn damit sehr auf. Die Hauptschuljahre machte er in der Hans-Radl-Schule, einer Behinderten-Integrationsschule, wo er sehr gut aufgehoben war. Heute noch besucht er seine Lehrer und hat viele schöne Erinnerungen an diese Zeit. Im Frühling 1977 ging die Karenzzeit zu Ende, und es stellte sich die Frage, wie es in meiner beruflichen Laufbahn weitergehen sollte. Für mich war klar, dass ich wieder mit Kindern arbeiten wollte. Aber wohin mit den eigenen? Meine Schwiegermutter wohnte zwar bei uns im Haus, aber ich wollte ihr nicht die ständige Beaufsichtigung der Enkel zumuten. Sie war auch nicht mehr die Jüngste, und außerdem war der Schwiegervater sehr reiselustig, was alles zusammen sicher bald zu Problemen geführt hätte. Da las ich in der Wiener Bezirkszeitung einen Artikel über Tagesmütter. Man hatte gerade erst begonnen, diese Form der Kinderbetreuung aufzubauen. Mir schien das ideal. Ich konnte bei meinen eigenen Kindern bleiben und daneben bis zu vier fremde betreuen. Unsere Wohnung war groß genug, wir hatten einen Garten, also die besten Voraussetzungen für diese Tätigkeit. Das Gehalt war nicht umwerfend, aber ich war selbst versichert und konnte doch ein wenig zum Familienbudget beitragen. Ich bewarb mich beim Wiener Hilfswerk*, musste verschiedene Tests absolvieren, außerdem musste ich um eine Pflege290

stellenbewilligung einreichen. Bei meinem beruflichen „Vorleben“ war dies alles kein Problem, und im Mai 1977 kamen Hannes und Renate, die ersten Tageskinder.

Mai 1977: Mein Debüt als Tagesmutter Hannes ist knapp drei, also so alt wie Ingrid, und Renate ist 13 Monate. Ingrid und Hannes schließen schnell Freundschaft. Renate braucht länger, bis sie sich an das morgendliche Ritual des „Ablieferns“ gewöhnt. Aber bald geht es ganz reibungslos, und ich kann daran denken, die Gruppe zu vergrößern. Es ist der kleine Georg, auch gerade ein Jahr alt, der nun jeden Tag kommen wird. Mit seiner Mutter verstehe ich mich sehr gut, und sie bleibt immer nach dem Abholen noch auf einen Kaffee sitzen. Das halten wir dann die ganzen 15 Jahre so. Es ist sehr wichtig, mit den Eltern einen guten persönlichen Kontakt zu haben, weil es dann auch für die Kinder leichter ist, am Morgen hergebracht zu werden. Georg ist ein süßer Schelm, den wir schnell ins Herz schließen. Am liebsten räumt er die Spielsachen aus dem Schrank, um sich selbst darin zu verstecken. Da ich für vier Kinder die Bewilligung habe, suche ich noch nach einem weiteren Zwergerl. Eine Ärztin meldet sich an, sie ist noch schwanger, müsste aber das Baby schon ganz früh zu mir bringen, weil sie den Turnus fertig machen will. Wir treffen einander zum Kennenlernen. Sie möchte mir ihr Baby zwar überlassen, hat aber die Sorge, dass ich mit sechs Kindern überfordert bin, und verlangt, dass ich die anderen kündige, um nur für ihr Kind da zu sein. Dazu bin ich aber nicht bereit. Sie sucht weiter – und kommt doch wieder auf mich zurück. Im Jänner 1978 wird Alexander geboren, und wir dürfen ihn schon im Krankenhaus besuchen kommen. Wir sehen uns auch in den ersten Monaten, die er noch zu Hause ist, sehr oft, 291

und im Frühling kommt er dann zu uns. Die „Großen“ sind begeistert vom Baby und gehen sehr liebevoll mit ihm um. Auch die Mutter hat ihre Bedenken längst vergessen und ist froh, den Kleinen gut untergebracht zu haben. Er schläft auch in der Nacht oft hier, wenn die Mutter Dienst hat. Für mich ist es ein kleines Taschengeld und ihr ist damit sehr geholfen. Alexander ist eindeutig das klügste meiner Tageskinder. Mit zwei Jahren spricht er fließend, kann eine Unmenge an Liedern und ist sehr wissbegierig. Dafür ist er motorisch nicht so gut drauf. Klettern, Laufen, Spielen im Park sind nicht seine Lieblingsbeschäftigungen. Bei ihm sieht man deutlich, wie verschieden sich die einzelnen Gehirnregionen eines Kindes entwickeln. Weihnachten 1979 – Alexander ist knapp zwei. Er kann so gut „Kling, Glöckchen, klingelingeling“ singen und soll das bei der Weihnachtsfeier für die Eltern vortragen. Ich habe ihm ein Engelkleidchen genäht, und bei den Proben klappt alles super. Doch bei der Feier schlägt der Vorführeffekt zu, und Alexander beginnt bitterlich zu weinen. Die Weihnachtsfeiern sind immer beliebt. Ich übe mit den Kindern selbst gedichtete Stücke ein, wir haben Geschenke für die Eltern gebastelt, und es ist jedes Jahr sehr stimmungsvoll. Inzwischen haben wir ein neues Baby bekommen. Patrick, genannt „Petzi“. Auch seine Mutter ist Ärztin, hat aber schon eine eigene Ordination und auch Familie im Hintergrund, sodass Petzi kein „Nachtkind“ ist. Mein Tag ist ohnehin lang. Je nach Arbeitszeit der Eltern sind die Kinder offiziell vierzig Stunden in der Woche bei mir. Rechnet man die Fahrtzeit dazu, geht sich das einfach nicht aus. Außerdem kommen manche Kinder ganz früh, werden dadurch auch früher geholt – die anderen kommen erst später, und es schiebt sich die Abholzeit hinaus. So kommt es, dass an manchen Tagen von 6.30 bis 18 Uhr oder noch länger Kinder da sind. Das hält ganz schön auf Trab! 292

Wir wohnen im ersten Stock, und es gibt eine Menge Stufen. Besonders im Sommer, wenn die Größeren in den Garten laufen, heißt es immer gut aufpassen, dass nicht ein Krabbelkind – mindestens eines ist ja immer in der Gruppe – die Stiegen hinunterkullert. So habe ich ihnen immer sehr bald beigebracht, die Stufen verkehrt hinunterzurutschen. Zum Glück ist nie etwas Gröberes passiert. In der Gruppe ist auch Philipp, das nächste Ärztekind. Seine Mutter ist Spanierin, der Vater Österreicher. Er wird zweisprachig erzogen, und es fasziniert mich immer wieder, wie schnell er von Spanisch auf Deutsch „umschalten“ kann. Er und Alexander können gar nicht miteinander. Es gibt ständig Rangeleien zwischen den beiden. Philipp zieht Alexander an den Haaren, der kann sich nicht rächen, denn der „Feind“ hat fast keine Haare. So kommt er schon in der Früh mit dem Vorsatz: „Fest hauen musst du den Philipp!“, was er auch bei jeder Gelegenheit macht. Ich darf die zwei Kampfhähne nicht eine Minute aus den Augen lassen. Einig sind sie sich nur, wenn sie die Möglichkeit haben, etwas anzustellen. Einmal erwischen sie mein Schminkzeug und verschmieren den ganzen Inhalt auf sich und die Umgebung. Da sind sie mucksmäuschenstill dabei, diese Lauser. Alexander kommt mit drei Jahren in den Kindergarten, verbringt aber auch dann noch viele Nächte bei uns, wenn die Mutter Dienst hat. Das nächste Baby, Gregor. Auch mit ihm gibt es keine Schwierigkeiten. Er hat Sichelfüße und bekommt mit sechs Monaten auf beiden Beinchen einen Gips. Das stört ihn aber nicht besonders, und er liebt es, mit seinen „Hämmerchen“ auf den Boden zu klopfen. Später versucht er mit Vorliebe in den Geschirrspüler zu klettern. Ob er darin gewaschen werden möchte? 293

Mittlerweile hat sich ein guter Rhythmus herausgebildet. Die meisten Kinder kommen mit drei in den Kindergarten, sodass ein neues Kind nachrücken kann. Meine Teamleiterin weiß, dass ich gerne Säuglinge habe, und vermittelt mir regelmäßig welche, sodass viele Kinder schon von ganz klein auf bei uns sind. Ingrid geht inzwischen zur Schule, und da heißt es, noch besser zu organisieren. Ich muss ja auch die nötige Zeit haben, um ihr bei der Hausübung zu helfen. Zum Glück gehen die Tageskinder zu Mittag alle ins Bett, sodass ich diese Zeit meinen eigenen Kindern intensiv widmen kann. Martin geht das letzte Jahr vor der Schule in den Kindergarten, was ohnehin ziemlichen Stress bedeutet. In der Früh alle anziehen, in den Kindergarten, wieder zurück, ein wenig spielen, dann muss ich schnell kochen und wieder anziehen, zwei der Kleinsten dürfen ins Wagerl, und es geht wieder los Richtung Kindergarten. Wir sind, besonders in der Übergangszeit, wenn wir noch nicht in den Garten können, und im Winter viel unterwegs. Wenn ich so mit meiner Schar daherspaziere wie eine Entenmutter mit ihren Jungen, erregt das oft die Aufmerksamkeit der Passanten. Manche regen sich auf, ob das notwendig sei, so viele „Fratzen“ zu haben, andere wieder bestaunen sie, weil sie so brav sind. Einmal fragt ein Straßenarbeiter, ob die alle mir gehören. „Aber nein“, antworte ich ihm, „es sind auch Enkel dabei!“ Das hat ihn etwas irritiert, und er hat den Mund gehalten. Es hat ja auch gestimmt, ich habe ja nicht gesagt „meine Enkel“. Während ich koche, sitzen alle beim Tisch, und es wird gesungen, oder ich sage ihnen ihre Lieblingssprüche und Gedichte auf, die ich zum Glück auswendig kann. Somit habe ich sie alle unter meinen Fittichen, und sie sind trotzdem beschäftigt. Es ist ohnehin faszinierend, wie gut alles klappt. Die Kinder gewöhnen sich immer sehr schnell daran, auf die Kleins294

ten Rücksicht zu nehmen. Schon mit fünf Monaten liegen sie auf Boden mitten unter den anderen und haben jede Unterhaltung, die sie sich nur wünschen. Es ist rührend zu sehen, wie vorsichtig sie mit den Dreirädern um die Babys herumfahren, um ihnen nicht wehzutun! Die „Großen“ sind stolz, wenn sie helfen dürfen, ziehen den Kleineren die Schuhe an, helfen beim Füttern usw. Die Eltern sind oft erstaunt, wenn sie sehen, wie ruhig und ausgeglichen die Kinder sind. Es gibt selten Geraunze und wenig Anlass zu weinen. Der nächste Alexander ist da! Seine Mutter ist erst 16 und will die Schule fertig machen. Ich bewundere sie sehr, wie toll sie mit der Situation zurechtkommt und ihr Baby in ihr Leben mit einbezieht. Auch wenn sie sicher oft gerne mit ihren Freunden alleine weggehen würde, sie nimmt das Baby überallhin mit. Ihr Umfeld steht total hinter ihr, und ich bin froh, ihr ein wenig helfen zu können. Meine eigenen Kinder werden immer älter, und ich muss dafür sorgen, dass ihre Bereiche geschützt bleiben. So ist zum Beispiel Ingrids neue Puppe für die fremden Kinder tabu – außer sie borgt sie selbst her. Wenn Martin mit seinen Legosteinen etwas baut, darf es auch nicht zerstört werden. Wir haben das Kinderzimmer nun abgeteilt, damit Ingrid und Martin ihren eigenen Raum zur Verfügung haben. Das wird auch von den Kleinen toleriert. Meine Kinder hängen sehr an den Tageskindern. Einmal gibt es mit einer Mutter Probleme. Sie ist immer mit den Zahlungen im Rückstand, und ich muss sie oft daran „erinnern“, dass ich noch kein Geld bekommen habe. Martin bekommt dies einmal mit und meint dazu: „Ich finde es gemein, dass du von den Eltern Geld verlangst, denn wir haben das Vergnügen, und die armen Eltern müssen dafür bezahlen!“ Dieser Ausspruch zeigte mir, dass er es schön fand, so viele „Geschwister“ zu haben. Manche Leute, die sich nicht vorstellen konnten, wie so ein Tag mit vielen Kindern verlaufen 295

kann, meinten immer wieder, dass meine Kinder sehr unter den anderen leiden würden. Ich versuchte aber gerade die Stunden, die wir allein waren, wirklich Zeit für sie zu haben und mich mit ihnen zu beschäftigen. […] Leider ging nach 19 Jahren meine Ehe in Brüche. Ich hatte vor, mich von meinem Mann zu trennen, das hieß, dass ich das Haus verlassen musste. Somit hatte auch meine fünfzehnjährige Tagesmutterzeit ein Ende. Es war für mich eine schöne Zeit, in der ich viele wichtige Erfahrungen gesammelt habe. Ich weiß es nicht mehr genau, aber es waren insgesamt an die vierzig Kinder, die in diesen 15 Jahren in unserer Familie gelebt haben. Nicht an alle kann ich mich gleich gut erinnern, nicht alle sind mir in der gleichen Weise ans Herz gewachsen. Ich habe mich jedoch immer bemüht, mein Bestes zu geben und ihnen Geborgenheit und Wärme zu vermitteln. Mit vielen habe ich noch regelmäßig Kontakt, es gibt von Zeit zu Zeit von mir organisierte Treffen, damit sie sich nicht ganz aus den Augen verlieren. Alle, die ich noch kenne, sind gut geraten, was mich ein wenig stolz macht – haben sie doch die wichtigste Zeit ihres Lebens unter meiner Obhut verbracht. Nun war ein wichtiger Lebensabschnitt vorbei, und es galt Ausschau zu halten nach neuen Ufern. Um mir eine Wohnung leisten zu können, musste ich einen Hauswartposten suchen, den ich wie durch ein Wunder recht bald fand. Als ich aber die sogenannte „Dienstwohnung“ betreten wollte, traf mich fast der Schlag. Es war eine verwüstete Räuberhöhle. Ich weiß nicht, wie meine Vorgängerin dort gehaust haben muss. Es war unmöglich, das den Kindern zuzumuten. Es gab ein großes Zimmer, eine Gangküche und zwei Kabinette. Somit konnte ich jedem Kind ein eigenes Zimmer einrichten. Aber wie es aussah! Total abgewohnt und vernachlässigt. Nach schweren Kämpfen mit dem Hausherrn, der kein Geld für eine Sanierung lockermachen wollte, erreichte ich 296

doch, dass alle meine Vorstellungen erfüllt wurden. Ich müsste mich nur selbst um alles kümmern – was auch geschah. In drei Monaten war aus der Räuberhöhle eine schmucke, gemütliche Wohnung geworden, in der auch die Kinder sich wohlfühlten. Die Tätigkeit einer Hausbesorgerin schloss für mich die Sorge um das Haus ein, und ich stürzte mich mit Energie in diese Aufgabe. Es war aber nicht ganz einfach. Mein Vorhaben, den Innenhof zu begrünen und wohnlich zu gestalten, wurde von den Hausparteien völlig sabotiert. „Was will die Depperte mit dem Grünzeug?“, hieß es da, und die Pflanzen wanderten in den Müll. Der wiederum war auch ein Problem. Die Papiercontainer im Stiegenhaus wurden regelmäßig mit dem Restmüllkübel „verwechselt“, Mülltrennung war für die meisten Mieter ein Fremdwort, und jede Woche gab es Diskussionen, warum bloß alle Kübel so voll sind. Der Hof wurde als großer Aschenbecher benutzt. Bis ich einen Aschenbecher mit schöner Masche und dem Hinweis, dass dies auch eine Möglichkeit sei, seine Kippen zu entsorgen, ans schwarze Brett hängte. Ganz, ganz langsam lernten die Mieter einander kennen, es gab Kartenspielabende, es wurde gegrillt und an den Wochenenden gemeinsam gefrühstückt. Auch an die Blumen hatten sich die Hausparteien gewöhnt, und man freute sich über den weihnachtlichen Schmuck des Stiegenhauses im Advent bzw. die Girlanden im Fasching. Nur, von der Hausmeisterei allein konnte ich nicht leben. Ich brauchte zwar keine Miete zahlen, bekam auch ein kleines Reinigungsgeld, aber ich musste mir noch eine zusätzliche Beschäftigung suchen. Die Trennung von meinem Mann hatte mir psychisch ziemlich zugesetzt, sodass ich mir eine Arbeit wünschte, bei der ich nichts von mir hergeben musste, die höchstens meine körperlichen Kräfte beanspruchen würde. Ich fühlte mich zu leer, um die „Gebende“ sein zu können. 297

So kam ich ins St. Anna Kinderspital. Ich wurde dort als Abteilungshilfe angestellt. Meine Aufgaben waren die Beaufsichtigung der Teeküche, Essensausteilung, Sauberhalten der Nachtkästchen, Bettenwaschen nach den Entlassungen, die Wäschesortierung und Verteilung sowie die Innenreinigung aller Stationsschränke. Die Kinder durfte ich laut Vorschrift nicht berühren. Nun, im ersten Moment klang es genau nach dem, was ich mir vorgestellt hatte.

April 1991 – Arbeitsbeginn im St. Anna Kinderspital Meine Anlernstation ist die 3B, die HNO-Abteilung. Meine Kollegin, die mich in die Feinheiten des Dienstes einführen wird, heißt Erna, steht kurz vor der Pensionierung und ist sehr nett. Hier auf der HNO gibt es einen sehr geregelten Ablauf, da der Großteil der Patienten zur Tonsillektomie* kommt. Sonntagnachmittag und Mittwochnachmittag werden die Kinder aufgenommen. Montag und Donnerstag wird operiert, Mittwoch- und Sonntagvormittag wieder entlassen. Das sind Tage mit viel Arbeit wie Betten waschen und so weiter, die anderen Arbeiten sind auf die restlichen Tage aufgeteilt. Auf jeder Station gibt es eine Liste, auf der man nachlesen kann, wie der Wochenplan aussieht bzw. was der Vormittagsdienst zu machen hat und was die Kollegin vom Spätdienst für Aufgaben hat. Daran sollte man sich halten und die Arbeiten jede Woche durchführen. Das ist nicht schwer zu begreifen, und ich habe mich schnell an den erforderlichen Rhythmus gewöhnt. Da man am Beginn einer Einstellung immer als Springerin arbeitet, bis eine feste Station frei ist, werde ich bald versetzt, und zwar auf die Onkologie. Hier läuft alles wieder ganz anders. Es ist ein völlig neues Betätigungsfeld. Es macht mich 298

sehr betroffen, zu sehen, wie die Kinder leiden; mich beeindrucken aber auch ihre Energie und ihre Fröhlichkeit, sobald es ihnen etwas besser geht. Wenn ich nach Dienstschluss weggehe, ist es jedes Mal, als wäre ich in einer Therapie gewesen. Wie gut geht es mir doch! Meine Kinder sind gesund – habe ich Grund, den Kopf hängen zu lassen? Kurz nach meinem Beginn auf der 2A sehe ich das erste tote Kind. Es ist für mich ein gewaltiges Schockerlebnis! Es ist ein moslemisches Kind, und stundenlang höre ich die Gebetsschreie der Angehörigen. Es geht mir durch Mark und Bein. Noch halte ich mich von den Kindern fern, so gut es geht. Es ist auch ungewohnt – all diese Geräte und Apparate, hinter denen diese armen Kleinen versteckt sind. Dann, eines Nachmittags, stirbt wieder ein kleiner Patient. Ich habe schon mehrmals kurz mit der Mutter gesprochen und weiß, dass sie keine Hoffnung mehr hatte. Sie kommt zu mir in die Küche, und ich kann nicht anders, als gemeinsam mit ihr über den Tod ihres Kindes zu weinen. Diese Mutter sagt mir später einmal, wie sehr ihr das geholfen hat, dass ich nicht nach irgendwelchen tröstenden Worten gesucht, sondern nur ihr Leid geteilt habe. Mit ihr treffe ich mich noch öfter, und ich bin froh, dass ich ihr in dieser Zeit ein wenig helfen konnte. Dieses Erlebnis trägt dazu bei, mehr Kontakt mit den Müttern zu suchen. Einmal sehe ich eine Mutter traurig im Spielzimmer sitzen. Ich gehe zu ihr, frage sie, wie es ihr geht. Sie beginnt zu weinen und sagt: „Endlich einmal jemand, der fragt, wie es mir geht!“ Sie sitzt schon monatelang den ganzen Tag beim Bettchen ihres Kindes, es geht immer nur um das Kind, und kein Mensch kümmert sich darum, wie sie mit all dem zurechtkommt. Es stimmt auch. Die Schwestern sind zu beschäftigt; 299

haben sie einmal Pause, wollen sie diese auch nutzen, um sich ein wenig zu entspannen, und bei den Ärzten ist einfach der Patient vorrangig. So werde ich immer mehr zum „Ansprechpartner“ für belastete Eltern. Ich sorge natürlich dafür, dass ich mein Arbeitskontingent nicht vernachlässige, aber mit einer guten Organisation ist das leicht zu schaffen. Ich werde nie den kleinen Michael aus Tirol vergessen. Er war durch seine Krankheit weit reifer als andere Kinder mit neun Jahren. Seine Einstellung zur Krankheit war ergreifend. Er meinte, der Einzige in der Familie zu sein, der es sich „leisten“ kann, so krank zu sein. „Die Mama“, so meinte er, „brauchen wir ja alle, der Papa muss arbeiten, um Geld nach Hause zu bringen.“ Und Christian, der zweijährige Bruder, sei einfach noch zu klein, um verstehen zu können, was da mit ihm passiert. Michael hat lange gekämpft. Er sollte noch eine Knochenmarktransplantation erhalten, hat aber vorher aufgegeben. Für die Operation hätte er ein bestimmtes Gewicht erreichen müssen, hörte aber jedes Mal knapp davor auf zu essen. Es war seine Entscheidung, zu gehen. Sein Wunsch war es, vorher noch gefirmt zu werden. Diese Firmung am Krankenbett war eine berührende Zeremonie. Bald darauf ist er eingeschlafen. Die Eltern haben sein Weggehen akzeptiert und ihn bewusst losgelassen. Es war ein sehr lehrreiches Erlebnis für mich und hat meine Einstellung zum Tod stark geändert. Bald darauf wird ein Platz auf der 3A frei, und ich werde für die nächste Zeit von 14 bis 18 Uhr auf dieser Station arbeiten. Später wird die Arbeitszeit verlängert, und ich beginne um 12 Uhr. Die 3A ist eine interne Station mit einer eigenen Abteilung für gastroenterale* Erkrankungen, wo die Kinder in Quarantäne gehalten werden können. Wieder eine Umstellung. Dazu kommt, dass meine Kollegin vom Vormittag unter permanenter Bequemlichkeit leidet 300

und vieles, was sie schon gemacht haben sollte, liegen bleibt, nach der Devise: „Hinter mir die Sintflut!“ Es kristallisiert sich immer mehr heraus, dass ich zu den Schwestern, mit denen ich zusammenarbeite, viel mehr Kontakt habe als zu den Kolleginnen. Meine Mitarbeiterinnen beschweren sich laufend, dass sie von den Schwestern abschätzig und diskriminierend behandelt würden. Aber ich beobachte sie dabei, wie sie mit den Frauen vom Reinigungsdienst umgehen, die in der doch sehr ausgeprägten Krankenhaushierarchie noch eine Stufe tiefer stehen. Um keinen Deut besser! Ich erfahre viel über die Erkrankungen der Kinder, versuche auch immer, etwas über die Behandlungsmethoden zu lernen, und frage manche Ärzte aus. Nicht bei allen geht das, aber es gibt immer welche, die meine Fragen auch beantworten. Ich arbeite gerne auf dieser Station. Mit Schwester Eva, der Stationsschwester, und Schwester Rosi, ihrer Vertretung, komme ich gut zurecht, und die Arbeit macht mir Freude. Auf dieser Station werden die verschiedensten internen Krankheiten behandelt. Ich verliere immer mehr die Distanz zu den Kindern und plaudere beim Bettenmachen und während der verschiedenen Arbeiten gerne mit ihnen. Da ist ein türkischer Bub, der meinen Namen wissen will. Ich sage „Margarete“. Er darauf: „Ah, ich weiß schon, Margaretengürtel!“ Ich antworte ihm lachend: „Nein, Margarete ohne Gürtel!“ Dieser Beiname ist mir lange geblieben. Hier werden viele Kinder nach einer Blasenplastik, die im AKH* ausgeführt wird, nachbehandelt. Diese Operation wird notwendig, wenn infolge einer Blasenmissbildung Restharn in der Blase bleibt. Nach diesem Eingriff dürfen die Kinder drei Wochen nicht aufstehen. Was mich dabei fasziniert: Je jünger die Patienten sind, umso schneller erholen sie sich davon. Da ist eine Vierjährige, die steht nach diesen drei Wochen auf und läuft herum, als wäre nichts geschehen. Einige 301

Wochen später bekommt ein elfjähriges Mädchen beim Aufstehen einen Kreislaufkollaps. Es zeigt mir, wie schnell der Körper wieder abbaut, je älter man wird. Mein Hauptproblem auf dieser Station ist das „Durchfallzimmer“. Hier werden die Kinder unter strengen hygienischen Vorschriften betreut, um zu verhindern, dass ein Durchfallvirus auch die anderen Patienten anstecken kann. Es lässt sich aber nicht vermeiden, dass der Inhalt der Spielzeugkisten, die in jedem Krankenzimmer stehen, ständig durcheinandergemischt wird. So sehr ich darauf achte, dass in diesem Zimmer nur leicht waschbare Spiele sind, kaum bin ich einige Tage nicht da, ist alles wieder durcheinandergeraten. Wen wundert’s da, wenn es doch immer wieder spitalsinterne Infektionen gibt? Ich bemühe mich, die Spielsachen möglichst sauber zu halten, wandern sie ja doch, gerade bei den Kleinsten, oft in den Mund. Ein Versuch, es besonders gründlich zu machen, geht aber ziemlich schief: Ich gebe alle Legosteine und verschiedene andere Sachen in den Geschirrspüler, um sie dort zu reinigen. Dabei vergesse ich, dass unsere Maschinen auf fast 100 Grad erhitzen. Die Legosteine verformen sich total und sind nicht mehr zu verwenden. Leider! An das Gebot, die Kinder nicht zu berühren, kann ich mich nicht ganz konsequent halten. Wenn einem Kind die Jause aufs Nachtkästchen gestellt wird und dieses gar nicht die Möglichkeit hat, dort hinzugelangen, oder noch gar nicht alleine essen kann, kann ich nicht einfach zusehen. Es ist traurig, aber die pflegerische Organisation ist darauf ausgerichtet, dass bei jedem Kind ein Angehöriger rund um die Uhr dabei ist – was bei 90 Prozent der Kinder auch der Fall ist. Die Kinder werden vom Besuch gefüttert, gewickelt, herumgetragen und beaufsichtigt. Die restlichen zehn Prozent kommen zu kurz! Die Schwestern mögen noch so bemüht sein, aber es fehlt einfach die Zeit für diese Kinder. Ich 302

kann nicht seelenruhig ein paar Schränke auswischen – die ja in der Vorwoche auch gewischt wurden – und zusehen, wie so ein kleiner Wurm sich die Seele aus dem Leib brüllt. Ich merke immer sehr schnell, wo ein Kind ist, das keine Rundum-Betreuung hat, und versuche dort ein wenig auszuhelfen. Ein kleiner Schwarzer mit schweren Brandwunden auf der Brust. Er hat die Tischdecke mit der heißen Kaffeekanne heruntergezogen und sich den ganzen Brustbereich verbrüht. Seine Mutter hat noch ein Kleinkind und kann nicht oft da sein. Er freut sich immer, wenn ich komme, und seine großen dunklen Augen leuchten. Ich lese ihm vor, singe mit ihm und schaue, sooft ich kann, an seinem Bettchen vorbei. Die Schwestern haben sicher eine fundierte medizinische Ausbildung, aber sehr oft keinerlei pädagogische Erfahrung. Wir haben immer wieder auch verhaltensauffällige Kinder, die nicht bettlägerig sind. Es ist sehr schwer, diese im Zaum zu halten, zu verhindern, dass sie nicht ins Behandlungszimmer gehen, wo ja jede Menge Medikamente aufbewahrt werden, oder sonst etwas aushecken. An manchen Nachmittagen habe ich dann so ein „braves“ Kind als fleißigen Helfer bei mir. Es gibt fast kein Kind, das nicht glücklich ist, einem Erwachsenen helfen zu dürfen. Somit ist der „schwierige Fall“ aus dem Verkehr gezogen, und für mich ist es ja nichts Ungewohntes, ein Kind zu beschäftigen. Ich gehe eigentlich jeden Tag mit einem sehr guten Gefühl nach Hause, weil ich spüre, auch hier mein Bestes gegeben zu haben. Noch eine kleine Episode zum Thema Hierarchie im Krankenhaus: Ich bin schon fast zwei Jahre auf der gleichen Station. Während einer kurzen Kaffeepause, in der ich mit den Schwestern im Aufenthaltsraum plaudere, kommt der Sohn der Stationsärztin und bringt eine große Box mit Eis eines bekannten Eissalons. Die Frau Doktor fragt alle, ob sie Eis wollen. Ich bin anscheinend Luft für sie, ich werde nicht gefragt. 303

Da mich das Verhalten dieser Ärztin schon mehrmals geärgert hat, überlege ich, wie ich „rüberbringen“ kann, dass nicht sie allein die Wichtigste in diesem Team ist. Bald darauf jährt sich der Tag, an dem ich auf der 3A zu arbeiten begonnen habe. Ich backe eine gute Torte und schreibe eine Karte dazu: „Für die Schwestern und Pfleger als Dank für die gute Zusammenarbeit!“ Wer wohl will das erste Stück von der Torte? Die Frau Stationsärztin! Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und sage: „Nein, die ist nur für die Schwestern!“ Sie fragt ganz erstaunt, warum nicht auch für sie, worauf ich ihr die „Eisgeschichte“ erzähle. Ihre Reaktion passt zu ihrem Verhalten, denn nun erklärt sie, dass sie mir keines angeboten hätte, weil sie mich ja gar nicht kenne! Und das nach zwei Jahren, an denen ich täglich sechs Stunden auf ihrer Station arbeite. Da bin ich nicht mehr zu halten, und es ergibt sich ein langes Gespräch, in dem ich ihr erkläre, dass sie und ihre Ärztekollegen überhaupt nichts ausrichten könnten, wären da nicht auch all die anderen Menschen, die die unscheinbaren, niederen Dienste verrichten. Ein Krankenhaus, in dem nichts gereinigt wird, wird sehr bald keine Kinder gesund machen können. Die großen Denker und Gelehrten, sie alle hätten nie etwas schaffen können, wären da nicht Tausende von Menschen der „unteren Schichten“ gewesen, die die Arbeiten ausgeführt haben. Meiner Meinung nach ist ein Team nur dann ein Team, wenn jeder darin seinen Stellenwert hat und es keine Wertung der unterschiedlichen Positionen gibt. Das größte Uhrwerk wird nicht funktionieren, wenn auch nur ein paar winzige Rädchen fehlen. Unser Gespräch gibt der Ärztin doch zu denken, und sie meint, es wäre ihr nicht bewusst gewesen, dass sie sich so diskriminierend verhalte. Von dem Tag an kennt sie mich aber, und auch später, wenn ich einen Besuch mache, werde ich freundlich gegrüßt. 304

Abb. 42: Mit einer kleinen Patientin im St. Anna Kinderspital (1993)

Leider musste ich mich 1993 mehreren Operationen unterziehen, was einen längeren Krankenstand zur Folge hatte. Als ich dann den Dienst wieder antrat, war „meine“ 3B leider an die Kollegin, die mich vertreten hatte, vergeben worden, und ich kam auf die 4A, auch eine interne Station. Hier hatte man schon längere Zeit umgebaut und kurz vor meinem Antritt die neue Intensivstation eröffnet, die auch in meinen Arbeitsbereich gehörte. Meine Kollegin vom Vormittag heißt Erika, ist als sehr „schwierig“ bekannt, und mir ist nicht ganz wohl zumute. Mit Dragica von der 3A hatte ich ja schon genug Schwierigkeiten, obwohl wir uns dann zum Schluss recht gut zusam305

mengerauft hatten und sie sich zumindest bemühte, ihren Teil der Arbeit zu machen. Überraschenderweise geht es mir mit Erika sehr gut. Sie ist schon kurz vor der Pensionierung, völlig alleinstehend und „adoptiert“ mich. Immer wieder bekomme ich kleine Geschenke von ihr, und mit ihr kann ich wirklich gut zusammenarbeiten. Wenn sie einmal mehr Zeit hat, macht sie Arbeiten, die auf meinem Plan stehen, sodass ich mich mehr den Kindern widmen kann. Hier werden immer wieder HIV-infizierte Kinder behandelt. Vor allem der kleine Mike, der dann mit 17 Monaten stirbt, verbringt einen Großteil seines Lebens bei uns. Seine Mutter und Geschwister haben auch Aids, und er bekommt nicht oft Besuch. Bis zu seinem sechsten Lebensmonat entwickelt er sich ziemlich normal. Er hat oft schwere Pneumonien, weshalb er dann immer lange stationär behandelt werden muss. Ab dem siebenten Monat bleibt seine Entwicklung nahezu stehen. Micky wird nie sitzen oder stehen lernen. Er ist ein liebenswertes Baby, aber es geht ihm oft sehr schlecht. Er bekommt durch das ständige Liegen schlecht Luft, sodass ich ihn stundenlang herumtrage. Ich erkundige mich, inwieweit durch Tränen und Schweiß eine Ansteckungsgefahr besteht. Durch den engen Kontakt beim Herumtragen und Kuscheln mit ihm lässt es sich nicht vermeiden, damit in Berührung zu kommen. Aber man beruhigt mich, und er ist bald „mein“ Kind. Wenn er da ist, kümmere ich mich viel um ihn. Ich bin traurig, dass ich bei seinem Sterben nicht dabei war, bin aber sicher, dass es für ihn eine Erlösung ist. Hier gibt es immer wieder schwerstbehinderte Kinder, und ich lerne viel über die verschiedensten Ursachen. Der Sta­tionsarzt hier ist sehr nett und beantwortet mir alle meine Fragen. 306

Wir haben ein Kind, dessen Mutter in der Schwangerschaft an Zytomegalie erkrankt war, einer Viruserkrankung, die einer Verkühlung ähnlich ist, aber schwere geistige und körperliche Schäden am ungeborenen Kind zur Folge hat. Immer wieder kommen Patienten mit Mucoviscidose, einem Leiden, bei dem der Körper eine abnorme Menge an Schleim erzeugt, der die Bronchien verstopft, Verdauungsprobleme verursacht und sehr unangenehm für die Kinder ist. Die Schwestern zeigen mir, wie ich diesen Kindern durch eine besondere Klopfmassage Erleichterung verschaffen kann. Schon als ich meinen Dienst auf dieser Station antrete, werde ich gebeten, hier und dort mitzuhelfen. Auch Daniel, ein Spastiker, sechs Jahre alt, ist oft bei uns. Wenn er im Bett liegt, ist er steif wie ein Brett. Nehme ich ihn auf den Arm und streichle sanft seine Beine, werden sie weich und locker, und auch am Monitor sieht man eine Veränderung. Er reagiert zwar nicht, aber ich merke, es tut ihm gut. Wir haben viele Diabetiker zur Insulineinstellung; auch hier erfahre ich viel Neues. Ich versuche immer, so viel wie möglich über die verschiedenen Krankheiten herauszufinden. Auf der Station gibt es auch jede Menge medizinischer Lektüre, die ich mir ausleihen darf. Besonders gerne bin ich bei Schwester Anita auf der Intensivstation. Hier kenne ich mich bald gut aus, weiß über die verschiedensten Instrumente und Geräte Bescheid und werde immer wieder um Mithilfe gebeten. Hier gibt es viele Kinder, die einmal Krebs hatten, durch Chemotherapie geheilt wurden – und nun an den Folgen der Chemo sterben. Das erschüttert mich am meisten. Ihre inneren Organe sind so von Pilzbefall betroffen, dass man ihnen nicht mehr helfen kann. So auch ein 18-jähriger Bursche. Er liegt mehrere Wochen im Koma, bis man feststellen muss, dass man nichts mehr für ihn tun kann, und die lebenserhaltenden Medikamente absetzt. Der Körper kämpft noch ein paar Tage. 307

An einem Nachmittag spüre ich fast körperlich das Nahen des Todes. Ich habe einen richtigen Druck auf der Brust und fühle mich ganz seltsam. So habe ich das noch nie empfunden. Es ist Freitag. Nach Dienstschluss gehe ich noch einmal zu ihm, um ihm ein letztes Mal übers Gesicht zu streicheln; ich weiß, am Montag wird er nicht mehr da sein. Ich zeichne ihm ein Kreuz auf die Stirn und verabschiede mich für immer. Bei ihm habe ich erfahren, dass ein Mensch, auch wenn er im Koma liegt, sehr wohl auf angenehme oder unangenehme Reize reagiert. Der Druck liegt noch immer wie ein Stein auf meiner Brust, bis circa 23 Uhr. Da ist mir auf einmal ganz leicht, und ich weiß genau: Jetzt ist er eingeschlafen. Die diensthabende Schwester bestätigt mir später diesen Zeitpunkt. Es ist die genaue Sterbezeit. Sie erzählt auch, dass die ganze Familie anwesend war. Die Mutter war vorher sehr gefasst, bekam dann aber einen Weinkrampf. Von da an konnte man am Monitor sehen, wie seine Körperfunktionen abfielen und er verstarb. Es ist eine sehr beeindruckende Erfahrung für mich. Ganz sicher haben diese Erlebnisse meine Einstellung zum Tod, zum Sterben für immer geprägt. Ich verstehe immer mehr, warum viele Menschen nur sterben können, wenn ihre Angehörigen kurz weggehen. Wenn ein Kranker keine Kraft mehr hat, mit seinem Leben abgeschlossen hat, sollte man die Stärke haben, ihn loszulassen. Das sagt sich leicht, aber anscheinend haben gerade die Kinder viel weniger Angst vor dem Tod und spüren viel besser, wenn die Zeit gekommen ist zu gehen. Sitzt dann eine Mutter da, die es anfleht, nicht zu sterben, wird es ein Kampf. Es ist mir bewusst, wie schwer dieses „Loslassen“ ist, und ich fühle mit den Eltern. Natürlich ist mir klar, wie sehr ich bei meiner Tätigkeit gegen die Vorschriften verstoße. Ich steh’ immer mit einem Fuß im Gefängnis. Auch, wenn ich von den Schwestern dazu 308

angehalten werde, diese Arbeiten zu verrichten. Wenn etwas passiert, bin ich diejenige, die zur Verantwortung gezogen wird! Da kommen Zwillinge auf die „Intensiv“ – Frühgeburten, richtige Winzlinge mit Lungenentzündung. Anfangs bekommen sie ihre Nahrung über Magensonde, später aber müssen sie auch lernen, aus dem Fläschchen zu trinken. Eine mühsame Sache! Es dauert lange, bis man ihnen einige Gramm eingeflößt hat. Zur gleichen Zeit gibt es mehrere andere schwere Fälle, sodass mich die Schwestern immer wieder bitten, das Füttern der Zwillinge zu übernehmen. Da sitz’ ich also und versuche, in das hustende, schnaufende Zwergerl Milch hineinzubekommen. Plötzlich schießt mir durch den Kopf: „Was ist, wenn das Baby mir dabei erstickt?“ Dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los. Ich weiß genau, dann sitze ich gewaltig in der Tinte. Ich spreche mit Anita darüber, und sie schlägt mir vor, mit der Verwaltung zu reden, ob man mir eine Pflegehelferausbildung ermöglicht; damit wäre meine Tätigkeit legalisiert. Für die Schwestern wäre es eine große Hilfe, und ich könnte ohne Angst arbeiten. Aber leider, Verwalter und Oberschwester waren stolz da­ rauf, in ihrer Anstalt nur diplomiertes Personal zu haben, und spielten nicht mit. Die Weiterbildung wurde mir verweigert, und man legte mir nahe zu gehen, wenn ich damit nicht einverstanden wäre. Nun, das machte ich auch. Mittlerweile war es nicht mehr so einfach, ohne fundierte Ausbildung eine anspruchsvolle Tätigkeit zu finden. Eine Ausbildung, die man selbst bezahlen musste, konnte ich mir nicht leisten. Außerdem war es schwierig, weil ich ja auch auf meine Tätigkeit als Hauswart Rücksicht nehmen musste. Ich hatte mich schon länger für eine Institution interessiert, die kranke Kinder in der Familie betreute. Sie hieß damals 309

noch „Die Frau und ihre Wohnung“ und wurde erst später in „Sozial Global“ umbenannt. Dorthin schickte ich auf gut Glück ein Bewerbungsschreiben und wurde aufgrund meiner guten Zeugnisse und meiner bisherigen Erfahrung in der Kinderbetreuung aufgenommen. Hier war nur noch Bedingung, einen einführenden Kurs über zwei Wochen zu besuchen, wozu ich gerne bereit war. Im September 1995 begann also ein neuer Abschnitt in meiner Arbeit mit Kindern.

September 1995: Kinderbetreuerin – was ist das? In diesem Kurs wurden uns die Grundregeln unserer neuen Tätigkeit nahegebracht. Es würde eine Menge von uns verlangt werden. Schließlich ging es darum, erkrankte Kinder zu betreuen. Kinder, deren Eltern keine Möglichkeit hatten, von der Arbeit zu Hause zu bleiben. Wir sollten uns also tagsüber alleine und selbständig in deren Wohnung um die kleinen Patienten kümmern. Außerdem wären wir berechtigt, die verordneten Medikamente zu verabreichen und mit den Kindern zum Kinderarzt oder in eine Klinik zu gehen. Hier sollten wir nicht einen Beruf ausüben, nein, wir waren Mutterersatz, Köchin, Krankenschwester, Lehrer und Therapeuten gleichzeitig. Kein einfaches Unterfangen! Kannten wir doch in den meisten Fällen weder das Kind noch die Familie. Wir waren konfrontiert mit einer gestressten Mutter, hinund hergerissen zwischen Arbeitsstelle und Kind, oft erst in der Probezeit mit der ständigen Angst, wieder gekündigt zu werden, und einem kranken, oft weinenden Kind, das nicht verstehen wollte, dass die Mama gerade dann, wenn sie am meisten gebraucht wurde, wegging und es einem wildfremden Menschen überließ. Da war eine gewaltige Menge an Einfühlungsvermögen notwendig. In unserem „Schnellsiederkurs“ erfuhren wir also einiges über Erste Hilfe bei Kindern und die verschiedenen Kinder310

krankheiten. Erfahrene Kolleginnen gaben Tipps, wie man kranke Kinder beschäftigen kann. Außerdem wurde uns beigebracht, wie die verschiedensten Formulare, die es für jeden Einsatz auszufüllen gab, zu handhaben waren. Aber was uns wirklich erwartete, das konnten nur die Einsätze selbst zeigen. Am 16. September 1995 darf ich – noch mit Unterstützung einer Kollegin – zu meinem ersten Einsatz. Es ist aufregend. Das erste Kind, das ich betreue, ist ein süßes schwarzes Mädchen in einem Frauenhaus der Caritas. Sie ist 14 Monate alt und stark verkühlt. Ich habe mehrere Einsätze in Frauenhäusern. Dieses aber ist das komfortabelste. Die Mutter hat ein kleines Appartement mit Kochnische, und wir sind wie in einer Wohnung. Da die Kleine die Kollegin schon kennt, ist es nicht so schwer, Kontakt aufzubauen. Schon am nächsten Tag gehe ich alleine hin. Die Einsätze dauern immer so lange, wie der Arzt eine Pflegebedürftigkeit bescheinigt. Wird das Kind „gesundgeschrieben“, melde ich dies telefonisch der Einsatzleiterin und bekomme auch telefonisch den nächsten Einsatz mitgeteilt. Es wird zwar versucht, die Fahrzeiten gering zu halten, jedoch die Krankheiten halten sich nicht an Stadtpläne, sodass ich bald jedes Eckchen Wiens kennenlerne. Am ersten Tag versuche ich immer, einen gewissen „Zeitpolster“ einzuplanen. Ich habe zwar kein Problem, die verschiedensten Adressen zu finden, jedoch sind manche Wohnhausanlagen die reinsten Labyrinthe, in denen nur Eingeweihte sich zurechtfinden. Mehrmals kommt es vor, dass ich die Mutter telefonisch um einen Lotsendienst bitten muss. Dabei ist es wichtig, früh genug da zu sein, müssen die Eltern doch pünktlich weg zur Arbeit, und ich will immerhin ein wenig über das Kind erfahren. Ich bekomme zwar Alter, Name und Krankheit mitgeteilt, habe aber sonst keine Ahnung von den Bedürfnissen des Kindes. 311

Ich mache es mir zur Gewohnheit, am ersten Tag nur die nötigen Unterlagen mitzunehmen. Ich möchte ganz frei sein, um mich völlig auf den neuen Patienten einstellen zu können. Das Alter allein sagt nichts aus über Entwicklungsstand und Lieblingsbeschäftigung. Erst wenn ich sehe, was an Spielzeug, Beschäftigungsmaterial vorhanden ist, was das Kind gerne macht, beginne ich, meine Tasche mitzunehmen, in der ich Spiele, Bastelbedarf und Bücher mitbringe. Ich komme zu allen Bevölkerungsschichten, zu Begüterten und Ärmsten, in Traumwohnungen – und schmutzige Löcher. Es heißt, sich immer schnell auf die Erfordernisse einzustellen. Flexibilität und Toleranz sind wichtige Voraussetzungen für diese Arbeit. Es ist eine echte Herausforderung. Aber nirgends gibt es so direktes, positives Feedback wie hier. Wenn so ein kleiner Knirps nach dem ersten Tag fragt, ob man morgen eh wieder komme, so ist dies das größte Lob, das man sich vorstellen kann. Wie schwer das auch für die Mütter ist, erfahre ich bei meinem Einsatz bei Melanie. Bis jetzt ist immer die Oma eingesprungen. Die ist aber selbst erkrankt, und mit der Schwiegermutter gibt es Probleme. Leider erinnere ich die Mutter aber vom Aussehen her sehr an diese, was uns den Beginn nicht gerade erleichtert. Melanie hat in der Nacht wenig geschlafen und schläft jetzt am Morgen tief. Wir wollen sie nicht wecken. Sie ist vier und weiß, dass eine fremde Tante kommt. Was aber noch lange keine Garantie für ein problemloses Erwachen ist. Die Mutter gibt mir eine ganze Liste Anordnungen, und ich merke, wie schwer es ihr fällt, das Kind mir zu überlassen. Als Melanie aufwacht, ist sie zwar anfangs etwas schüchtern, aber das ist bald vorbei. Sie hat viele gute Bücher, wir spielen mit ihrer Puppe und verbringen einen schönen Tag. Die Mutter ist beim Heimkommen überrascht, ihr kleines Mädchen froh und zufrieden vorzufinden. Am nächsten Tag 312

ist alles schon unverkrampfter, und am Ende des Einsatzes erzählt mir die Mutter, wie sehr sie am ersten Tag gelitten hat. Sie musste sich mit aller Gewalt zurückhalten, nicht ständig anzurufen, und hatte Schweißausbrüche vor Sorge um ihr krankes Kind. Wir sind richtige Freundinnen geworden, und ich habe Melanie noch oft betreut. Ich bin der Mutter dankbar, dass sie mir so offen von ihren Befürchtungen und Sorgen erzählt hat. Dadurch kann ich mich viel besser in ihre Situation hineindenken. Wie muss es sein, einem wildfremden Menschen das kranke Kind, die eigene, vielleicht nicht ordentlich aufgeräumte Wohnung zu überlassen? Es ist da ein immenser Vertrauensvorschuss notwendig, um damit zurechtzukommen. Im Lauf der Zeit bekomme ich immer mehr Erfahrung im Umgang mit den Eltern, der meist schwieriger ist als der mit den Kindern. Ich bin unter anderem auch für die Zubereitung des Mittagessens zuständig. Das wird von Familie zu Familie verschieden gelöst. Manche Mutter zeigt mir die Küche und sagt, ich solle schalten und walten, wie ich will. Soll kochen, was das Kind möchte. Dann wieder gibt es schon alles vorbereitet in der Mikrowelle. Andere legen penibel alles heraus, was ich zu einer bestimmten Mahlzeit benötige. Ich überlasse das immer den Eltern, was sie lieber möchten. In manchen Haushalten findet man fast keine Lebensmittel, um überhaupt etwas kochen zu können, und auch sonst ist innovativer Erfindergeist angesagt. David soll zum Mittagessen Spinat bekommen, sagt aber schon den ganzen Vormittag, dass er Spinat nicht mag. Also disponiere ich um, und es gibt „Krokodilgulasch“ (Spinat mit Erdäpfelstücken). Mit diesem Menü ist er vollauf zufrieden, und wir erfinden täglich neue, lustige Speisen. Besonders gerne essen fast alle Kinder Palatschinken. Ich werde zum Meister im Palatschinkenschupfen. Das hat einen besonders hohen Stellenwert. Jedoch nicht bei einem Ge313

schwisterpaar, beide im Vorschulalter. Sie beobachten mich aufmerksam. Der kleinere Bruder fragt die Schwester: „Was macht denn die da?“ Die Schwester hat fliegende Palatschinken auch noch nie gesehen, antwortet ihm: „Ach, lass sie, sie kann das machen, wie sie will!“ Hier bin ich mit meiner Show also echt abgeblitzt. Nach dem Weggehen der Eltern ist es besonders am ersten Tag schwierig, einen Zugang zu den Kindern zu bekommen. Ich habe da bald meine eigene Taktik: Ignorieren. Ich habe mir angewöhnt, erst bei den Familien zu frühstücken. Die Kinder haben es gerne, wenn sie nicht alleine essen müssen, und das gemeinsame Frühstück ist meistens sehr nett und gemütlich. Merke ich, dass ein Kind scheu ist und Zeit braucht, richte ich mein Frühstück, lese die Zeitung und lasse den kleinen Patienten möglichst in Ruhe. Einmal bin ich bei einem dreijährigen Knirps, der sehr weint, als die Mutter weggeht. Ich darf gar nicht in sein Zimmer kommen, er versteckt sich unter der Decke und ist traurig. Ich kann ihn gut verstehen, schau nur hin und wieder kurz nach ihm, lasse ihn aber ansonsten in Ruhe. Im Wohnzimmer liegt ein Fotoalbum mit Babybildern von ihm. Ich blättere darin und sehe aus den Augenwinkeln, wie er in der Tür steht und mich beobachtet. Wenige Minuten später klettert er auf meinen Schoß und erzählt mir, wer auf den Fotos zu sehen ist. Das Eis ist gebrochen. Noch schwieriger ist es bei einem kleinen Mädchen. Sie schreit: „Geh weg, geh weg!“ Nun, diesen Wunsch kann ich ihr nicht erfüllen, aber ich setze mich mit dem Rücken zu ihr. Später lege ich ihr das Gewand hin, damit sie sich anziehen kann, denn wir müssen zum Arzt. Auf meine Frage, ob ich ihr helfen soll, nickt sie, bleibt aber mit dem Gesicht unter der Decke. Ich helfe ihr, noch immer ohne Blickkontakt, und erst beim Frühstück beginnt sie langsam zutraulich zu werden. 314

Ich erkenne immer mehr, wie wichtig es auch bei kleinen Kindern ist, ihre Intimsphäre nicht zu verletzen, sie nicht mit Liebe zu „überfallen“. Vor allem ist es wichtig zu verstehen, dass diese momentane Ablehnung nicht gegen mich persönlich gerichtet ist, sondern einfach gegen die Situation. Ich habe mir angewöhnt, bei Schwierigkeiten die fünf W zu beachten, die mir aufgrund eigener Erfahrung zu Leitlinien im Umgang mit Kindern geworden sind: Warum reagiert das Kind so? Wie ist es mir in einer ähnlichen Situation als Kind gegangen? Was habe ich dabei gefühlt? Was hätte ich mir da von der Betreuungsperson gewünscht? Wenige Worte sind oft mehr! Problematische Kinder gibt es mehr als genug. Aber diese werden nicht so geboren. Erst ihre Umwelt macht sie dazu. Die meisten Kinder sind schon glücklich, wenn da jemand ist, der wirklich jede Zeit hat, um zu spielen, vorzulesen oder zu basteln. Besonders das lieben fast alle. Meine Tasche ist da unerschöpflich, und wir machen aus allem, was ich so sammle, schöne Sachen. Ich erinnere mich an Julia. Sie ist elf und erklärt mir am ersten Tag, dass ich mich gerne am Bücherschrank bedienen kann. Sie würde mich nicht brauchen, weil sie ohnehin den Fernseher habe. Gut, auch kein Problem, ich lese ein wenig und beginne dann mit der Vorbereitung einer Weihnachtsbastelei. Nach einiger Zeit fragt sie, was ich da mache und schaut interessiert zu. Ich erkläre es ihr, und bald kommt die Frage, ob sie auch was machen dürfe. Ich antworte, dass sie ja fernsehen wollte und ich sie nicht stören wolle. „Ich kann ja abdrehen!“, ruft sie und sitzt von da an jeden Morgen schon aufgeregt da und wartet, was wir wieder basteln. Fernsehen ist out! 315

Am Beginn eines neuen Einsatzes bespreche ich immer mit dem kleinen Patienten, was wir für ein Programm durchziehen werden, was er gerne macht, wie das so mit dem TV-Verhalten aussieht. Ich sage dann auch gleich, dass ich nach dem Essen eine Stunde für mich brauche, um mich auszuruhen. Denn nur so kann ich dann wieder ganz für sie da sein. Viele benötigen ohnehin einen Mittagsschlaf, entweder weil sie noch klein sind oder durch die Krankheit geschwächt. Manche wehren sich aber dagegen, weil sie ja überhaupt nicht müde sind. So auch Benjamin. Ich erkläre ihm, dass er nicht schlafen müsse, dass es aber wichtig sei, sich auszurasten, weil er dadurch schneller gesund werde. Er darf also bei mir auf der Bank liegen und hat die Füße auf meinem Schoß. Ich streichle sie sanft, während ich lese, und in wenigen Minuten schläft Benjamin. Am nächsten Tag legt er sich schon ganz freiwillig hin und bittet mich, seine Füße wieder so lieb zu „massieren“, das hätte ihm sooo gut getan. Wenn’s weiter nichts ist, das mache ich gerne für ihn. Diese Mittagsruhe ist sowohl für mich als auch für die Kinder wichtig und macht meistens nur in den ersten Tagen Probleme. Die Kinder merken sehr schnell, dass ich das konsequent durchziehe, und akzeptieren das dann auch. Was mir bei meinen Einsätzen immer wieder auffällt, ist die Tatsache, dass die Kinder viel zu wenig gelobt werden. Sage ich ihnen, wie brav und tüchtig sie sind, spornt sie das an, sich immer mehr zu bemühen und mir Freude zu machen – was für beide Seiten angenehm ist! Für das Selbstbewusstsein der Kinder ist Lob unendlich wichtig. Auch bei der Kinderbetreuung habe ich das Glück, eine sehr nette, kompetente Teamleiterin als Chefin zu haben. Sie kennt ihre Betreuerinnen sehr gut und weiß genau, bei welchen Einsätzen wir richtig am Platz sind. Auch mit ihr verbindet mich nach diesen neun Jahren mehr als eine rein dienstliche Beziehung. 316

Leider bekam ich ab 2003 immer mehr gesundheitliche Probleme. Starke Muskelschmerzen, Unsicherheit beim Gehen und Erschöpfungszustände. Eine Kur und laufende physikalische Behandlungen brachten keine Besserung, und es waren immer wieder Krankenstände erforderlich. 2004 erhielt ich die Diagnose: Morbus Parkinson – was ich ohnehin schon lange vermutet hatte. Der Betriebsrat teilte mir mit, dass man mich wegen der häufigen Krankenstände kündigen werde. Da ich mich körperlich ohnehin zu schwach fühlte, willigte ich ein, und so ging meine langjährige Beschäftigung mit Kindern, diesen fröhlichen, dankbaren, neugierigen, wissenshungrigen Wesen, zu Ende. Jahrelang hatte ich einer versäumten Karriere als Ärztin nachgeweint. Ich weiß nicht mehr, wann ich begonnen habe, zu erkennen, dass der Platz, an dem ich jeweils gestanden bin, der richtige für mich war. Ich konnte zwar keine Universität besuchen, aber es sind mir in vielen Situationen die richtigen Menschen begegnet, von denen ich vielleicht mehr gelernt habe, als man je in einer Schule lernen kann. Ich möchte all diesen Menschen danken, die meine Lehrer waren – sehr oft, ohne dies zu wissen. Ich möchte vor allem all den vielen Kindern danken, die mir ihre Liebe, ihr Lachen, ihr Vertrauen und ihre Zuneigung geschenkt haben. Ich werde sie für immer in meinem Herzen tragen, wenn ich mich auch nicht mehr an alle gleich gut erinnern kann. Jedes von ihnen war mir wichtig, und ich habe versucht, jedem mein Bestes zu geben. Danken möchte ich vor allem dem lieben Gott! Er hat mir immer genug Schutzengel zur Verfügung gestellt, die dafür gesorgt haben, dass meinen Schützlingen nie etwas Gröberes passiert ist. Froh und dankbar schaue ich zurück auf ein erfülltes und befriedigendes Berufsleben, in dem ich meine Begabungen und Talente voll einsetzen konnte. 317

Die unbemerkte Vielfalt Lebensgeschichtliche Darstellungen von Frauenarbeit in den 1950er bis 1980er Jahren in Österreich Nachwort von Jessica Richter 1 und Brigitte Semanek

Einleitung Wer die Arbeit von Frauen beschreiben möchte, kann sich nicht nur auf jene Tätigkeiten beziehen, die gemeinhin mit ‚Beruf‘ oder ‚Beschäftigung‘ in Verbindung gebracht werden. Frauen erbringen in verschiedenen Bereichen Leistungen: im Beruf, in der Familie, für Verwandte und im Kreis der Freundinnen und Freunde oder in Ehrenämtern. Sie erledigen eine Fülle von Tätigkeiten, die oft gleichzeitig erfolgen müssen und sich nur schwer unter einen Hut bringen lassen. Unsere Gesellschaft braucht all diese unterschiedlichen Leistungen – sie braucht die Erziehung der nächsten Generation genauso wie die Produktion von Gütern oder Dienstleistungen. Dennoch wird der Arbeit von Frauen weniger Wertschätzung zuteil als jener von Männern. Dies lässt sich zum Beispiel daran ablesen, dass Frauen immer noch viel seltener in hohen politischen oder wirtschaftlichen Positionen zu finden sind und überall in Europa deutlich weniger Lohn oder Gehalt bekommen. Gerade weil viele Leistungen von Frauen nicht als Beruf eingeordnet werden, werden diese in der Öffentlichkeit kaum 319

wahrgenommen – oft nicht einmal von den Frauen selbst. Gleichzeitig verwischen sich vielfach die Grenzen zwischen ‚Erwerb‘, ‚Hausarbeit‘, ‚Familienleben‘ und ‚Freizeit‘, die auch in den Erzählungen der Autorinnen oft nicht voneinander zu trennen sind. Dieses Nachwort ist für uns ein Ort, den wir nutzen wollen, um das Bewusstsein für die Vielfalt der Tätigkeiten von Frauen zu schärfen. Außerdem geht es uns darum, die in diesem Band versammelten Lebensgeschichten zu würdigen und – trotz aller Unterschiede – Gemeinsamkeiten zwischen ihnen herauszuarbeiten. Zunächst ist aber ein kurzer Überblick über den gesellschaftlichen Kontext vonnöten, in dem die Autorinnen ausgebildet wurden, erwerbstätig waren und Familien gründeten. Dabei skizzieren wir die Entwicklung der Erwerbstätigkeit von Frauen in Österreich in Zusammenhang mit ihrer Stellung in den Familien ab den späten 1940er Jahren.

Der gesellschaftspolitische Kontext der Frauenarbeit Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen aus den Fugen geraten. Aufgrund der Rekrutierung vieler Männer für den Kriegsdienst und der Ausweitung der Kriegswirtschaft hatte die Frauenerwerbsarbeit während des Krieges stark zugenommen. Bis in die ersten Jahre nach Kriegsende waren viele Frauen allein dafür zuständig, den eigenen Lebensunterhalt und jenen ihrer Kinder zu organisieren.2 Die Politik der Nachkriegszeit zielte daher darauf ab, die Hierarchie zwischen den Geschlechtern abzusichern und die Arbeitsteilung, wo sie aufgeweicht worden war, wiederherzustellen. Frauen sollten mit Hilfe von Appellen, Verboten und Entlassungen zugunsten von rückkehrenden ehemaligen Soldaten aus Erwerbsarbeitsplätzen herausgedrängt und in 320

die Hausarbeit verwiesen werden. Dies galt vor allem für jene Arbeitsplätze, die vor Kriegsbeginn überwiegend Männer besetzt hatten. Tatsächlich sank der Anteil der Erwerbsarbeit von Frauen in den Nachkriegsjahren ab, besonders in besser entlohnten Beschäftigungen.3 Diese Politik wurde von einer weitreichenden Durchsetzung des bürgerlichen Kernfamilienmodells begleitet. Dieses zeichnete sich durch das Zusammenleben heterosexueller, einander in romantischer Liebe verbundener Ehepartner/innen mit ihren Kindern aus. Gemäß der Annahme angeblich ‚natürlicher‘ geschlechtsspezifischer Eigenschaften und Fähigkeiten sollte die Ehefrau als Hausfrau und Mutter nicht erwerbstätig und in ihren Tätigkeiten auf den Haushalt beschränkt sein. Dem Ehemann war die Rolle des Familienoberhaupts zugedacht. Er sollte erwerbstätig sein und mit seinem Einkommen die Familie erhalten.4 Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hatte sich diese Familienform zum kulturellen Leitbild entwickelt. Dabei wurden Hausarbeit und das Aufziehen von Kindern5 immer klarer als Ausdruck von ‚Liebe‘ (und nicht als Arbeit) verstanden.6 Die Hierarchie und die Arbeitsteilung der Geschlechter wurden auch im Familienrecht festgeschrieben. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811, auf dem das österreichische Familienrecht der ersten drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gründete, bestimmte den Ehemann als Familienoberhaupt und -erhalter. Die Ehefrau, aber auch die Kinder waren ihm untergeordnet und sollten ihm laut Gesetz Gehorsam erweisen.7 Vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich das hierarchische Familienideal in der Bevölkerung zumindest teilweise auch als gelebte Praxis durch.8 Allerdings erhielten nur manche Erwerbstätige ein ausreichendes Entgelt, um die Familie zu ernähren. Unter anderem deswegen war die Erwerbsbeteiligung von Frauen hoch. Ungeachtet der großen Schwankungen betrug sie 1890 321

wie 1997 ca. 42 %9 – darin sind allerdings nur jene Erwerbsmöglichkeiten enthalten, die auch statistisch erfasst wurden. Andere wie beispielsweise informell organisierte Tätigkeiten von Frauen schienen oft nicht in Statistiken auf.10 Nach 1945 wurde der Familie als Lebensform gesellschaftlich großer Wert beigemessen.11 In den 1950er und 1960er Jahren wurde sie für die Mehrheit der Bevölkerung in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß realisierbar.12 Auch die Erziehung von Mädchen orientierte sich an dieser Norm. Eltern und Schule bemühten sich, sie auf die Rolle als Hausfrau und Mutter einzuschwören und vorzubereiten.13 In den 1960er Jahren, dem „Goldenen Zeitalter“14 der Familie, heirateten 90 % der zwischen 1930 und 1945 Geborenen; 85 % von ihnen bekamen ein oder mehrere Kinder.15 Die Familie hatte sich als die ‚richtige‘ Weise des Zusammenlebens durchgesetzt – auch wenn daneben andere Lebensformen bestanden und sich gelebte Familienrealitäten zweifellos sehr grundlegend vonei­ nander unterschieden.16 Allerdings stiegen Frauen nach der Heirat oft nicht oder nicht endgültig aus dem Erwerbsleben aus, wie anhand der Lebensgeschichten in diesem Band deutlich wird. Das zeigt sich auch in der offiziellen Beschäftigtenquote verheirateter Frauen, die seit den 1950er Jahren stetig anstieg.17 In der öffentlichen Wahrnehmung und den Politiken dieser Zeit wurde ihnen aber lediglich der Status als Zuverdienerinnen zugebilligt. Ihre Familienpflichten sollten unter ihrer Erwerbsarbeit keinesfalls leiden; andere Lebensentwürfe (wie eine Karriereorientierung) wurden oft verurteilt.18 Zu Beginn der 1950er Jahre waren Frauen in Österreich, wie der Sekundärliteratur zu entnehmen ist, noch vielfach als mithelfende Familienangehörige oder selbständig tätig – Tätigkeiten also, die weitgehend im Rahmen oder im Umfeld des eigenen Haushalts geleistet wurden. Auch in Hotels und Gaststätten, im Gesundheits- und Fürsorgewesen oder 322

der Textilindustrie fanden Frauen häufig Verdienstmöglichkeiten. Allerdings hatte sich, gemessen an der Vorkriegssituation, die Struktur der Frauenerwerbsarbeit verändert. So halbierte sich die Zahl der Hausangestellten österreichweit um 80.000 Personen; auch die Landwirtschaft beschäftigte weniger Frauen. Andere Branchen und Tätigkeiten hatten hingegen einen Zuwachs an weiblichen Beschäftigten zu verzeichnen: der öffentliche Dienst, andere Dienstleistungen, die Textil-, aber auch die Eisen- und Metallindustrie – Letztere waren jedoch immer noch männlich dominierte Branchen. Diese Entwicklung setzte sich in den Folgejahren fort. Grundsätzlich lassen sich für die Zweite Republik ein Strukturwandel der Frauenerwerbstätigkeit von mithelfender zu unselbständiger Tätigkeit sowie eine Zunahme der Beschäftigung in staatlichen, kommunalen und privatwirtschaftlichen Dienstleistungen konstatieren.19 Ab Mitte der 1950er Jahre führte das Wirtschaftswachstum zu Lohnsteigerungen, einem immer höheren Lebensstandard und einem Anwachsen der privaten Konsumausgaben. Frauen sollten vor allem als Konsumentinnen an der Wirtschaft teilnehmen. Ihre Erwerbsquoten gingen zwar bis Anfang der 1970er Jahre auf ca. 30 % zurück, aber Frauenerwerbsarbeit wurde auch am Zenit der Periode des Heirats- und BabyBooms nicht irrelevant.20 Dazu trug nicht zuletzt auch die Durchsetzung des Massenkonsums in den Wirtschaftswunderjahren bis Anfang der 1970er Jahre bei, da Anschaffungen ein ‚Zusatzeinkommen‘ von verheirateten Frauen erforderten oder eine außerhäusliche Erwerbstätigkeit mit Konsumwünschen gerechtfertigt werden konnte.21 In den Jahren zwischen 1969 und 1975, die von besonders hohen Beschäftigungsraten und Arbeitskräfteknappheit geprägt waren, nahm auch die (offizielle) Erwerbsbeteiligung von verheirateten Frauen mit Kindern zu. Dieser Trend hielt danach trotz wieder steigender Arbeitslosenzahlen an.22 Auch insgesamt nahm die Betei323

ligung von Frauen an bezahlter Beschäftigung seit den 1970er Jahren wieder zu.23 Allerdings war und ist die Erwerbsarbeit in der Zweiten Republik von erheblichen Ungleichheiten zuungunsten von Frauen geprägt. Zwar konnten besonders Frauen von der Bildungsexpansion der 1970er und 1980er Jahre profitieren; auf dem Arbeitsmarkt nahmen sie aber niedrigere Positionen ein als Männer und ihre Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs waren geringer. Ungeachtet der Strukturveränderungen der Frauenerwerbsarbeit waren Frauen weiterhin oft in anderen Branchen und innerhalb dieser in anderen Bereichen tätig als Männer. Dies war ein wichtiger Faktor für die Benachteiligung von Frauen, denn die Branchen und Berufe, in denen vor allem Männer anzutreffen waren, wurden höher bewertet. Beispielsweise wurden hier viel höhere Löhne gezahlt als in den Bereichen, in denen eher Frauen tätig waren. Bis heute klaffen die Einkommen von Männern und Frauen unter anderem deshalb auseinander.24 Nicht zuletzt stellten Familie und Haushalt für viele Frauen – anders als für Männer – einen zusätzlichen Arbeitsplatz dar. In einem Beschäftigungssystem, das voll verfügbare Arbeitskräfte voraussetzt, gingen damit vielfach berufliche Nachteile einher. Zugleich brachte ihr doppelter Einsatz auch Überbelastung durch ganz unterschiedlich gelagerte Anforderungen in den privaten und öffentlichen Einsatzbereichen mit sich.25 Manche Frauen suchten Anstellung in Teilzeitbeschäftigungen, um ihre Belastungen abzumildern. Seit den 1960er Jahren nahmen diese Arbeitsverhältnisse, in denen weibliche Beschäftigte überrepräsentiert sind, stark zu. Allerdings entsprachen sie keineswegs den Wunschvorstellungen aller dieser Frauen. In der Regel waren Teilzeitarbeitsverhältnisse mit geringeren Aufstiegsund Weiterbildungschancen und schlechterer Bezahlung verbunden.26 324

Während sich für Männer eine ‚Vereinbarkeitsproblematik’, wie sie landläufig genannt wird, selten stellte, waren (und sind) erwerbstätige Mütter außerdem „zu einem Hinund Herpendeln zwischen verschiedenen Praxisfeldern“ gezwungen, wie Regina Becker-Schmidt ausführt. Diskontinuierliche Berufsverläufe, wie sie sich auch in den lebensgeschichtlichen Texten finden lassen, seien die Folge.27 Zwar wurden diese von den erzählenden Frauen durchaus unterschiedlich bewertet, grundsätzlich aber führten Brüche in den Erwerbsbiographien zu Nachteilen. Unterbrechungen versicherungspflichtiger Beschäftigungszeiten oder Zeiten geringer Beitragszahlungen als Folge eines niedrigen Erwerbseinkommens schlugen sich dann auch in niedrigen Sozialleistungen nieder. Ungeachtet der Kontinuität in der einseitigen Zuständigkeit für Haus-, Pflege- und Betreuungsarbeiten hatten sich die Familienstrukturen seit dem Ende der 1960er Jahre verändert: Frauen heirateten weniger häufig und etwas später und bekamen weniger Kinder.28 Die Anzahl jener, die alternative Weisen des Zusammenlebens befürworteten und umsetzten, stieg.29 Die Sozialdemokratie, seit 1970 an der Regierung, unterstützte mit ihrer Politik zwar einerseits das Modell der Kernfamilie, ging andererseits aber auch Reformen im Familienrecht, zur sexuellen Liberalisierung, rechtlichen Besserstellung und gegen die Diskriminierung von Frauen an.30 Dazu trugen aber nicht zuletzt die Interventionen der ‚Neuen‘ Frauenbewegung bei. Deren Aktivistinnen brachten auch in Österreich angeblich ‚rein private‘ Themen auf die politische Agenda. Sie übten Kritik an der öffentlichen Unsichtbarkeit von Reproduktionsarbeit, an Gewaltverhältnissen in den Familien und an der ökonomischen Abhängigkeit der Frauen in der Ehe. Genauso prangerten sie die gesellschaftliche Geringschätzung der Arbeit von Frauen in Haushalt und Beruf gemessen an der Erwerbsarbeit von Männern an.31 325

Diese Kontinuitäten und Veränderungen in der Zweiten Republik erlebten die Autorinnen dieses Bandes als Zeitgenossinnen mit. Was sie selbst als Vor- oder Nachteile, als Schwierigkeiten oder Erleichterungen bei ihrer Arbeit beschreiben und welche Besonderheiten ihre Tätigkeiten aufwiesen, fassen wir in den nächsten Abschnitten zusammen. Dabei ist uns bewusst, dass eine Lebensgeschichte zu verfassen immer bedeutet, dieses Leben im Schreiben und Erinnern erst hervorzubringen.32 In einer weiterführenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Erzählungen sollten daher die angesprochenen Inhalte nicht unabhängig von den jeweiligen Erzählweisen untersucht und die Entstehungsbedingungen und -zusammenhänge genau rekonstruiert werden.33 In diesem Rahmen konnten wir dies nicht leisten. Wir konzentrieren uns deshalb auf die Vielfalt der Tätigkeiten, die die Autorinnen dokumentiert haben.

Erwerb und Haushalt als Gegenstand der lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen Was von den acht Autorinnen über Arbeit erzählt wird, muss nicht immer im Einklang mit den oben ausgeführten Erkenntnissen der historischen Forschung und auch nicht mit den erwähnten Geschlechterbildern stehen. Im folgenden Abschnitt versuchen wir aufzuschlüsseln, welche Ausbildungswege die Autorinnen gegangen sind und welche Themen aus den Bereichen Erwerbs- und Hausarbeit in den Erzählungen angesprochen werden. Ausbildung, Erwerb und Sozialversicherung

Die von den Autorinnen nach Beendigung ihrer Pflichtschuljahre – im Zeitraum zwischen 1945 und 1965 – vorgefundenen 326

Ausbildungsmöglichkeiten entsprachen mehrheitlich nicht ihren Wunschvorstellungen. In den Texten wird einerseits auf fehlende finanzielle Mittel für die angestrebte Ausbildung hingewiesen, andererseits auf divergierende Vorstellungen von Eltern und Schreiberinnen, was ihre Berufswahl anging. Die Ausbildungswege, die die acht Frauen schließlich einschlugen, führten durchwegs in die Richtung von sogenannten ‚klassischen Frauenberufen‘: drei Schreiberinnen wurden als Bürokräfte ausgebildet, zwei wurden Hausgehilfinnen und Kindermädchen, daneben gibt es eine Fürsorgerin, eine Kindergärtnerin und eine Schneiderin. Allerdings sind die beschriebenen Berufs- und Lernstationen vielfältiger, als es diese Aufzählung vermuten lässt. Die Schreiberinnen machten Zusatzausbildungen oder wechselten die Branche. Traute Molik-Riemer zum Beispiel arbeitete bereits neben ihrer Bürozeit auch als Model und suchte ständig nach Möglichkeiten, sich grafisch weiterzubilden; Elisabeth Krug konnte neben ihrer Arbeit als Erzieherin eine Lehrerinnenausbildung absolvieren; Ilse Bösze erhielt nach ihrer Staatsprüfung in Stenotypie und Deutsch eine bessere Stelle. Traude Veran begann nach der Fürsorgerinnenausbildung noch ein Studium und erlangte als einzige der Autorinnen dieses Bandes einen Hochschulabschluss mit Doktorat. Sie steht damit stellvertretend für Frauen mit einer ‚höheren‘ Ausbildung (die in diesem Fall dennoch mit finanziellen und familiären ‚Hindernissen‘ verknüpft war). Erika Schleich hingegen hatte eine gute Ausbildung in ihrem Handwerk vorzuweisen. Sie absolvierte alle für Schneiderinnen möglichen Ausbildungsstationen bis zur Prüfung als Meisterin. Die auf einem Bauernhof aufgewachsene Barbara Waß wiederum verfügte, wie sie schreibt, über ein weites Spektrum an von Kindheit an praktisch eingeübten Fertigkeiten, die sie durch die Arbeit in der Familie ihrer Arbeitgeber/innen vervollständigen konnte. 327

Dass mehrere Autorinnen dieses Bandes das Schreiben so gründlich erlernen konnten, dass sie es später im Leben als (Erwerbs-)Arbeit und/oder erfüllendes Hobby betrieben, ist im Zusammenhang mit Ausbildung ebenso erwähnenswert wie die in allen Texten vorkommende Praxis in der Haushaltsführung und Kinderbetreuung. Laut ihren Erzählungen erlernten die Autorinnen die Hausarbeit und den Umgang mit Kindern im Elternhaus sowie später im eigenen Haushalt oder in jenem ihrer Dienstgeber/innen. Sie mussten sich also schon früh mit der Geschlechterrolle auseinandersetzen, die ihnen zugedacht wurde. Wie anhand der Ausbildungswege aufgezeigt, beschreiben die Autorinnen in ihren lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen ganz unterschiedliche Werdegänge. Die Tätigkeiten, für die sie bezahlt wurden, reichen von Fabrik- und Büroarbeit, Verwaltungs- und Schreibtätigkeiten über persönliche Dienste und Kinderbetreuung (sowohl in Einrichtungen als auch in Privathaushalten), freiberufliche und selbständige Tätigkeiten bis hin zur Lehre an der Universität. Eine der wesentlichen Gemeinsamkeiten der Lebensbeschreibungen aber lässt sich wie folgt auf einen Nenner bringen: Ein ‚Normalarbeitsverhältnis‘, von dem in Wissenschaft und Medien häufig die Rede ist34, war für diese (und die Mehrzahl der anderen) Frauen keineswegs ‚normal‘. Dieser Begriff bezeichnet geregelte, abgesicherte und langfristige Vollzeitbeschäftigungen, die außerhalb des Familienhaushalts geleistet werden. Wie Sigrid Wadauer darlegt, war die als Beruf organisierte Erwerbsarbeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Bezugspunkt und Maßstab für alle anderen Wege zum Lebensunterhalt durchgesetzt worden.35 Viele der hier dargestellten Arbeitsverhältnisse können den eher gering vergüteten und wenig abgesicherten Erwerbsarbeiten zugeordnet werden. Zwar thematisieren die Autorinnen Vergütungen und Sozialversicherungen nur sel328

ten, aber in Bezug auf manche Arbeitsverhältnisse bringen sie Nachteile zur Sprache. So erhielt Ilse Wolfbeisser in der Buchhaltung einer großen amerikanischen Nähmaschinenfirma ein „nach heutiger Sicht – mieses Gehalt“. Ilse Bösze arbeitete in einem Kunstbuchverlag in Teilzeit „bei geringer Bezahlung“. Den Mangel an sozialer Absicherung beschreiben die Autorinnen im Zusammenhang mit der Pensionsversicherung – jener Sozialversicherung also, die auf ihre aktuelle Lebenssitua­tion unmittelbare Auswirkungen hat. Traude Veran konnte beispielsweise als wissenschaftliche Angestellte an der Universität Konstanz in ihren Kurzzeit-Arbeitsverhältnissen von je drei Monaten „keine Pensionsmonate sammeln“. Wie in den Lebensgeschichten deutlich wird, werden die Autorinnen aber auch durch ihr Engagement im Haushalt und für die Familie in der Pension benachteiligt. So blieben Barbara Waß und Erika Schleich, die sich ausschließlich für Haushalt und Kinderbetreuung entschieden, ohne Anspruch auf eine „eigene Pension“. Ilse Wolfbeisser wiederum plante ihren Wiedereinstieg ins Erwerbsleben in dieser Hinsicht sehr bewusst, wie sie erzählt. Die Arbeitsverhältnisse der Autorinnen waren also in vielen Fällen von kurzer Dauer. Manche Autorinnen waren viele Jahre auf dem selben Arbeitsplatz beschäftigt. Wenn andere Anstellungen aber beispielsweise bessere Arbeitsbedingungen, interessantere Aufgaben oder die Möglichkeit, Geld anzusparen, versprachen, wechselten die Autorinnen oft dorthin. Sie unternahmen damit Versuche, für sich Verbesserungen zu erreichen, oder reagierten auf Veränderungen in ihrer jeweiligen Lebenssituation. In einigen Fällen entsprachen Arbeitsplatzwechsel ausdrücklich nicht den Wünschen der Autorinnen. Ilse Bösze etwa schreibt, dass sie Anstellungen aufgrund von Krankheit oder ihrer Entscheidung für eine Teilzeitbeschäftigung verlor. Insgesamt sind diese Arbeits329

platzwechsel aber ein weiteres Indiz dafür, dass die in diesem Buch dargestellten Werdegänge dem ‚Normalarbeitsverhältnis‘ kaum entsprachen und entsprechen konnten. Die ‚Normalität‘, die dieser Begriff beschreibt, war nur für bestimmte – vor allem männliche – Arbeitskräfte Realität. Leben und Arbeiten im Haushalt

Für Frauen war diese ‚Normalität‘, wenn überhaupt, nur unter großen Anstrengungen zu erreichen. Ilse Bösze war beispielsweise in Vollzeit erwerbstätig und arbeitete ‚nebenbei‘ als Autorin und als Hausfrau. Ihrer Beschreibung nach nahm ihr Mann keine „Rücksicht“ auf diese Mehrfachbelastung; sie musste sich „Zeit zum Schreiben stehlen“. Dies erreichte sie unter anderem dadurch, dass sie die Hausarbeiten einschränkte und etwa beim Bügeln weniger genau war. Für die Lehrerin Elisabeth Krug addierten sich Haus- und Erwerbsarbeit zu einem den ganzen Tag füllenden Arbeitsleben: „Meistens kochte ich in aller Frühe vor, erledigte nachmittags die Hausarbeit und saß bis spätnachts bei Heften und Unterrichtsvorbereitung.“ Bis in die 1970er Jahre war das Hausfrau-Ernährer-Modell die vorherrschende Norm für die innerfamiliäre Rollenverteilung. Wenn die Autorinnen Erwerbstätigkeiten nicht, nicht vollständig oder nur zeitweise aufgaben, waren es doch sie, die für Haus- und Familienarbeiten zuständig waren. Ihre Ehemänner beteiligten sich nicht an der Erledigung dieser Aufgaben oder sie ‚halfen‘ in meist geringem Ausmaß. Wenn sich im Hinblick auf gesellschaftliche Normen auch ein Wandel konstatieren lässt, so hat sich daran, dass grundsätzlich eher Frauen Haus- und Familienarbeit erledigen, bis heute doch relativ wenig geändert. Rückblickend reflektieren einige der Autorinnen ihre Position und haben im Kopf, dass ihre Arbeitsbiographie auch anders hätte verlaufen können: So 330

schreibt Ilse Wolfbeisser über die Zeit nach ihrer Heirat, „es war für mich – und ihn – selbstverständlich, dass ich zu arbeiten aufhörte“, denn weiter erwerbstätig zu sein, „war zu jener Zeit nicht in meiner Denkweise enthalten“. Barbara Waß formuliert ihre Entscheidung für die ‚VollzeitHausarbeit‘ in ganz ähnlichen Worten. Für sie war die Kindererziehung noch ein weiteres Kriterium: „Als wir geheiratet hatten, war es keine Frage, ob ich weiter berufstätig sein könnte. Mein Mann war sehr froh, endlich ein richtiges Zuhause zu haben. […] Für mich war auch immer klar, dass ich meine Kinder selber betreue und großziehe.“ Ein Argument, das die Einteilung Hausarbeit für Frauen und Erwerbsarbeit für Männer aufweichen konnte, war das finanzielle, wie zum Beispiel Barbara Waß für die Zeit festhält, als sie nach Verdienstmöglichkeiten für sich suchte: „[…] wir hätten das Geld gut brauchen können. Viel mehr als einige Zeit Heimarbeit mit Kunstgewerbe und Aushilfe in einem Lebensmittelgeschäft ist es aber nie geworden.“ Traute Molik-Riemer hingegen führt das finanzielle Moment an, um Nachsicht gegenüber ihrem Ehemann zu artikulieren und die Arbeitsteilung in ihrer Ehe als ein Gleichgewicht darzustellen: „Mein Mann half damals noch kaum im Haushalt, war aber bei diversen Reparaturen so geschickt, dass er uns immer viel Geld ersparte.“ Wie diese täglichen Hausarbeiten im Detail abliefen, ist in den Texten ein hervorstechendes Thema. Traute Molik-Riemer beispielsweise geht scherzhaft auf ihre frühen Versuche ein, für ihren Ehemann möglichst gut zu kochen, und weist somit darauf hin, dass die Hausarbeit auch das Wohlergehen anderer zum Ziel hat, sobald mehr als eine Person im Haushalt lebt. Erika Schleich beschreibt ihre täglichen Arbeiten mit Einkaufen, Kochen, Abwaschen, Waschen, Bügeln – und sie musste gleichzeitig ihre Kinder tagsüber allein versorgen. In anderen Texten wiederum wird auch auf das Zusammen­ 331

leben mehrerer Generationen hingewiesen, der Haushalt ging also teilweise über die ‚Kernfamilie‘ hinaus. Besonders deutlich wird dies bei Traude Veran, die zuerst in der Wohnung ihrer Großmutter gratis wohnen durfte, später mit ihrer Familie bei der Großmutter des Ehemannes wohnte und diese auch pflegte. Die Schwiegermutter kümmerte sich im Gegenzug um den Sohn von Traude Veran. Margarete Weiss und Erika Schleich wiederum erwähnen sich selbst als Großmütter, die Enkelkinder betreuen oder auch den Haushalt der Kinder mitversorgen. Gemeinsam ist den Autorinnen, dass sie Hausarbeit als wichtige, beziehungsstiftende, zeitaufwendige und kräfteraubende Arbeit definieren – während Hausarbeit in zeitgenössischen Diskursen der letzten Jahrzehnte eher als eine ‚kleine Nebenbeschäftigung‘ zu verschwinden scheint. Hausarbeit war – auch das zeigt sich in den Texten – eine vielgestaltige Tätigkeit. Konkrete Tätigkeiten und Abläufe konnten sich mit der Größe der Wohnung, der Anzahl der Kinder oder der Infrastruktur der Umgebung stark unterscheiden bzw. wandeln. Wenn die Schreiberinnen selbst Bilanz über ihre Haushaltstätigkeiten im Laufe des Lebens ziehen, präsentiert sich ein recht unterschiedliches Bild. Ilse Wolfbeisser zum Beispiel sieht sich als keine „perfekte Hausfrau“, weil sie Putzen nicht so gerne mochte, weist aber auf ihre Fähigkeit hin, mit dem Haushaltsgeld gut wirtschaften zu können. Vielleicht fasst sie die Arbeit im Haushalt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am besten zusammen, wenn sie erklärt: „Mein Hausfrauenleben war so bunt gefächert, hatte so viele Höhen und Tiefen, und Vergleiche anzustellen erübrigt sich.“

332

Wie Technik und Ausstattung für den Haushalt wichtiger wurden

Das Thema Hausarbeit reicht natürlich auch über ‚das Haus‘ hinaus. Von Orten, die außerhalb der Wohnung liegen, aber mit Haushaltsfragen verknüpft sind, erzählt beispielsweise Ilse Wolfbeisser. Sie schildert die ersten Supermärkte in Wien und die Vorratshaltung mit eigenem Tiefkühlschrank und Fleischkauf im Schlachthof St. Marx. Dies führt zu einem weiteren Punkt, der in diesem Buch auffällig ist: In allen hier versammelten Erzählungen spielt die fortschreitende Technisierung des Haushalts36 eine wichtige Rolle, denn der endlich mögliche Ankauf neuer Geräte markierte verschiedene Sta­ dien des wirtschaftlichen Aufstiegs. Ilse Wolfbeisser erinnert sich, dass in ihrer Kindheit der Staubsauger das einzige Elektrogerät im Haushalt war, später weist sie auf die Bedeutung des „Sparherds“ für ihre zu Kriegsende nach Vorarlberg geflüchtete Herkunftsfamilie hin. Margarete Weiss dagegen musste als Kindermädchen Geräte bedienen, die ihr von zu Hause fremd waren, etwa einen Gasherd, eine Waschmaschine oder einen Staubsauger, und beschreibt in ihrer Erzählung die daraus folgenden Missgeschicke. Hinsichtlich des eigenen Haushalts sollen Markennamen die Qualität der Geräte bezeugen, die nun für die Familie, in diesem Fall die Wolfbeissers, leistbar waren: „Regina-Küche“, „Constructa-Waschmaschine“, „Elektrolux-Bohnerbürste“. Für andere Schreiberinnen war es besonders der Herd, der auf dem neuesten Stand sein musste, ein Elektroherd mit drei Platten und Backrohr im Jahr 1956, ein Ceranfeld, „wie es damals neu aufkam“, in den 1970er Jahren, gefolgt von einer „Geschirrspülmaschine von Siemens“. Traude Veran allerdings versorgte Mitte der 1960er Jahre ihren Haushalt noch „ohne technische Hilfen, als da sind: Kühlschrank, Spülmaschine, Waschmaschine, Auto“. 333

Wie an der mehrmaligen Nennung der Waschmaschine zu erkennen ist, lässt sich an den Texten auch die technische Entwicklung, die das Wäschewaschen im Lauf des 20. Jahrhunderts genommen hat, nachvollziehen – und es lässt sich auch erkennen, dass diese Entwicklung nicht überall gleichzeitig Fortschritte nahm. Die Mutter von Traute Molik-Riemer machte in den 1940er/1950er Jahren alle vierzehn Tage „große Wäsche“ und „büßte“ dabei „ihre Sünden ab“, auch Ilse Wolfbeisser erwähnt in ihrem Text öfters die Mühsal des Waschens. In Erika Schleichs Wohnung wiederum war man weniger gut ausgestattet als in der Waschküche ihrer Mutter, die Tochter musste 1955 noch die Wäsche im „Schaff mit Waschbrett“ reinigen, während Ilse Wolfbeisser etwa zu dieser Zeit bereits eine Wäscheschleuder anschaffen konnte. In jenem Haushalt, in dem Barbara Waß um 1960 als Hausgehilfin arbeitete, gab es zwar eine für damalige Verhältnisse sehr moderne Waschmaschine mit integrierter Schleuder, doch diese bewegte sich so stark, dass sich jemand zum Stabilisieren daraufsetzen musste. Auch diese Anekdote belegt die Ereignishaftigkeit des Waschtags. In späteren Jahrzehnten war der Ankauf einer Waschmaschine bei Haushaltsgründungen durchwegs üblich, wie Traute Molik-Riemers Hinweis nach ihrem Umzug im Jahr 1977 zeigt. Ein Haushaltsgerät, das den Frauen sowohl Familien- als auch Erwerbsarbeit erleichterte, war die Nähmaschine, die darum auch in den meisten Texten besonders gewürdigt wird. Die Schilderungen über das Nähen sind oft generationsübergreifend; Ilse Wolfbeisser etwa erbte die Nähmaschine ihrer Großmutter, und Traute Molik-Riemer erzählt, wie ihre Mutter alle Näh- und Flickarbeiten selbst durchführte und sie selbst dann auch bald erste eigene Nähversuche unternahm. Mehrere Schreiberinnen vergleichen den eigenen Haushalt mit dem der Eltern bzw. schildern die Hausarbeiten der Mut334

ter. Abgrenzungen und Fortschritte spielen also offenbar im Denken der ‚Hausfrauen‘ eine nicht unwichtige Rolle. Ilse Bösze etwa erzählt, dass sie während ihrer ersten Berufsjahre noch bei ihren Eltern wohnte, Kostgeld zahlte und die Hausarbeiten hauptsächlich von ihrer Mutter erledigt wurden. Im Fall von Elisabeth Krug gab es offensichtlich Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter um den Anteil an der Hausarbeit, doch dem „Perfektionismus“ ihrer Mutter hätte sie ohnehin nicht entsprechen können, schreibt die Autoren. Traute Molik-Riemer wiederum fand, ihre Mutter „hatte praktisch immer im Haushalt zu tun“, während sie ihr erstes eigenes Zimmer in Wien „eigentlich nicht als Haushalt bezeichnen“ konnte, unter anderem deshalb, weil sie dort kaum kochte. Später, zusammen mit ihrem Freund, „spielte“ sie Haushalt, und 1963 schließlich war bei Traute Molik-Riemer „auf acht Quadratmetern Fläche ein richtiger Haushalt mit Mann und Kind“ etabliert. Auch für Ilse Wolfbeisser war „der erste richtige Haushalt“ erst nach mehreren Umzügen erreicht, nämlich als sie eine Wohnung mit drei Zimmern, Küche, Bad und Terrasse bekam, dazu „eine amerikanische Küche und – endlich! – einen Kühlschrank und einen Boiler. Ein Ofen, der alle Räume heizte, stand auch dort. Ich war glücklich!“ Die Schreiberinnen streichen also die Bedeutung einer angenehmen Wohnsituation heraus und präsentieren in ihren Texten sehr klare Vorstellungen, die sie zum jeweils besprochenen Zeitpunkt von Behaglichkeit und angemessener Ausstattung eines Haushalts hatten. Auch mehrere Umzüge hintereinander waren durchaus üblich. Allgemein war in Öster­reich der Bedarf an Wohnfläche seit den 1950er Jahren erheblich gestiegen.37 Dies belegen auch die Erzählungen von Ilse Wolfbeisser, Erika Schleich und Traude Veran, die alle Umzüge in größere Wohnungen zum Thema haben. Traude Veran brauchte unter anderem deshalb eine größere Woh335

nung, weil sonst kein Platz für ihre häufig länger zu Besuch weilende Mutter gewesen wäre. Aber auch Tendenzen zu kleineren Wohnungen in späteren Lebensphasen kommen zur Sprache. Dass die Wohnsituation von Frauen oft durch Faktoren bestimmt war, die außerhalb ihres eigenen Entscheidungsbereichs lagen, zeigen die Beispiele von Margarete Weiss, die nach der Trennung von ihrem Mann das gemeinsame Haus verlassen musste und später über einen Hauswartposten eine Wohnung bekam, und von Elisabeth Krug, für die ihr eigenes kleines Holzfertigteilhaus, das sie in einer schwierigen Lebenslage nur mit Mühe finanzieren konnte, besondere Bedeutung besaß: Es war das Symbol für Selbständigkeit und nach einer weiteren Eskalation des Konflikts mit ihrem geschiedenen Ehemann die wichtigste Voraussetzung für den „Beginn unseres neuen Lebens“.

Das Arbeitsleben als ‚Patchwork‘ Diese Tour durch die inhaltlichen Schwerpunkte der lebensgeschichtlichen Texte zeigt das breite Spektrum an Erwerbs-, Haushalts- und ‚Freizeit‘-Aktivitäten, welchen die Erzählerinnen im Laufe der Jahrzehnte nachgegangen sind. Wie ihre Lebensgeschichten deutlich machen, war das Arbeitsleben der Autorinnen meist von einem ‚Patchwork‘ an ganz unterschiedlichen Tätigkeiten gekennzeichnet und ständig Veränderungen unterworfen. Übergänge im Lebenslauf: Wann sind die Erzählerinnen ­‚berufstätig‘, ‚in Ausbildung‘ oder ‚im Ruhestand‘?

Traude Veran berichtet beispielsweise davon, wie sie sich unter anderem durch ein Praktikum im psychologischen Labor der Universitätsklinik, als Vertragsbedienstete des Landwirt336

schaftsministeriums, als Fabrikarbeiterin, Telefonistin oder im Fischgeschäft ihrer Tante und ihres Onkels ihren Lebensunterhalt und ihr laufendes Studium finanzierte. Und auch später war ihr Alltag von einem Nebeneinander unterschiedlicher Tätigkeiten geprägt. So schreibt sie beispielsweise: „Ich beschränkte mich also wieder fast nur auf meine Privatpraxis. Drei Monate interviewte ich im Auftrag der WHO Mütter von Kindern, die im Spital gewesen waren […]. Daneben klimperte ich weiterhin die Manuskripte meines Mannes, pflegte die nun schon sehr hinfällige Urmi [Urgroßmutter] und sorgte für den großen Haushalt […].“ Eine ähnliche Vielfalt zeigt sich in der Lebensgeschichte Traute Molik-Riemers, wenn sie etwa gleichzeitig in einem Patentanwaltsbüro und als Mannequin und angehende Modedesignerin tätig war und ‚nebenbei‘ „Kind und Mann versorgt[e]“. Wie Traude Veran hatte sie sich zuvor die Ausbildung selbst finanziert. Neben der Schule war sie erst bei einem Patentanwalt, dann in einem Rechtsanwaltsbüro tätig gewesen und hatte außerdem Lehrveranstaltungen an der Kunstakademie besucht. Kurz vor der Matura hatte sie ferner ihren Sohn zur Welt gebracht, den sie dann betreute. In den Lebensgeschichten finden sich noch weitere Beispiele dafür, dass das berufliche Lernen in der Erwerbsphase nicht aufhörte. Die Autorinnen berichten vom Besuch von Kursen oder davon, wie sie sich durch Fragen, Nachlesen oder Zuschauen Arbeitsinhalte aneigneten oder ihre Kenntnisse vertieften. Das Nebeneinander von Ausbildung und bezahlter Arbeit durchbricht die gängige Vorstellung eines chronologischen Ablaufs von Ausbildung, Erwerbsarbeit und Ruhestand. Anfangs- und Endpunkte der Erwerbsphase im Lebensverlauf sind keineswegs eindeutig. So kommt Barbara Waß’ Mithilfe auf dem Bergbauernhof, den ihre Eltern gepachtet hatten, einem ‚Hineinwachsen‘ in die Arbeit gleich. Und auch die Pensionierung erscheint nicht gleichbedeutend 337

mit Ruhestand. Für die meisten Autorinnen gewann etwa das Schreiben gerade nach ihrer Pensionierung einen besonderen Stellenwert. Gerade das Beispiel des Schreibens macht darauf aufmerksam, dass Tätigkeiten auf ganz unterschiedliche Weisen praktiziert werden konnten und dass ihnen, je nach Perspektive und Kontext, ein anderer Status zugemessen werden konnte.38 Ist Schreiben als Beruf aufzufassen – oder als etwas anderes? Die Autorinnen präsentieren diesbezüglich kein einheitliches Bild: So benennt Traude Veran die Wiederaufnahme ihrer Autorinnentätigkeit mit Mitte/Ende fünfzig als ihre „nächste Karriere“. Elisabeth Krug schreibt in Bezug auf ihr literarisches Schaffen: „Nebenbei hatte ich inzwischen in einem anderen Beruf Fuß gefasst“. Barbara Waß hingegen begreift sich nicht als ‚berufstätig‘; vielmehr bringt sie ‚Beruf‘ mit etwas in Verbindung, das ihr Schreiben und andere Aktivitäten behindert hätte: „Ich hab mehrere Bücher geschrieben und 15 Jahre in der Erwachsenenbildung gearbeitet, das wäre nie möglich gewesen, wenn ich berufstätig gewesen wäre.“ Es ist also möglich, eine Tätigkeit als ‚Beruf‘ oder ‚Karriere‘ aufzufassen und zu praktizieren – oder sich davon abzugrenzen und sie gerade nicht auf diese Weise auszuüben. Dies gilt beispielsweise auch für das Nähen. Dieses konnte einerseits im Rahmen von Hausarbeiten erledigt werden. Andererseits war Schneiderin ein für Mädchen relativ einfach zugänglicher Lehrberuf. Erika Schleichs Erlebnisse als Lehrling in einem Modesalon nehmen ja einen wichtigen Teil ihrer Erzählung ein. Nicht als durchgängige Berufsarbeit, aber als Möglichkeit, gelegentlich Geld zu verdienen, präsentierte sich das Nähen für Ilse Wolfbeisser. Sie stellte „für den Verkauf Kinderkleidung in den gängigen Größen“ her und ordnet diese Tätigkeit als „Pfusch“ ein – im Gegensatz zu einem ‚ordnungsgemäßen‘ Angestelltenverhältnis, das sie als Schneiderin ebenfalls innehatte. Auch hier werden verschiedene Ka338

tegorien sichtbar, in die die Schreiberinnen selbst, aber auch ihr Umfeld, ihre Familien und Arbeitgeber/innen, Tätigkeiten einordneten. Es ist also nötig, genauer hinzusehen, wenn die unterschiedlichen Tätigkeiten von Frauen adäquat benannt werden sollen. Übergänge zwischen ‚Privatleben‘ und ‚Arbeit‘

Erwerbstätigkeiten in privaten Haushalten, haushaltsnahe Tätigkeiten oder solche, die in besonderem Maße Beziehungs­ arbeit erfordern, wurden in der untersuchten Zeit in der Regel von Frauen geleistet – und werden dies auch noch heute.39 In mehreren Erzählungen werden diese Übergänge zwischen Erwerb und (Familien- oder Privat-)Leben, Arbeiten und InBeziehung-Sein deutlich. Margarete Weiss beispielsweise schreibt in Bezug auf ihre Tätigkeit in der mobilen Kinderkrankenpflege: „Hier sollten wir nicht einen Beruf ausüben, nein wir waren Mutterersatz, Köchin, Krankenschwester, Lehrer und Therapeuten gleichzeitig. Kein einfaches Unterfangen! Kannten wir doch in den meisten Fällen weder das Kind noch die Familie.“ Dass eine Beziehung zu betreuten Personen hilfreich und notwendig für die Ausübung der Tätigkeit sein konnte, thematisieren Margarete Weiss und andere Autorinnen auch in anderen Arbeitszusammenhängen. Ein persönlicher Kontakt zu den Betreuten konnte von Vorgesetzten als Erwartung an die Angestellten herangetragen oder im Gegenteil seitens der Institution auch unterbunden werden, wie Margarete Weiss kritisiert. Wie auch immer die Beziehungen zu Betreuten oder Vorgesetzten sich gestalteten, in diesen Erwerbsarbeiten waren sie von zentraler Bedeutung: Sie waren etwas, womit sich die Autorinnen häufig auseinandersetzten. An den Arbeitsverhältnissen von Margarete Weiss wird das Ineinander von Erwerbstätigkeit und persönlichen Bezie339

hungen besonders gut sichtbar, etwa wenn sie auf Bitte der Mutter eines von ihr betreuten Kindes dessen Patin wurde. Weiters betreute sie fünfzehn Jahre lang als Tagesmutter ihre leiblichen Kinder gemeinsam mit Tageskindern im eigenen Haushalt. In ihrer ersten Anstellung als Kindermädchen wohnte sie noch im Haushalt der Dienstgeber/innen. Wie sie schreibt, war sie dort „sozusagen Familienmitglied“. Ähnlich äußert sich auch Barbara Waß über ihre erste Stelle als Hausgehilfin. Die Familie, bei der sie arbeitete, habe sie auf Ausflüge mitgenommen und sie in andere Aktivitäten eingebunden. Sie sei von „nichts ausgeschlossen“ gewesen. Die Kinder der Dienstgeberfamilie seien im Verlauf der Betreuung „ihre“ Kinder geworden. Allerdings wird in den Beschreibungen genauso offensichtlich, wie sehr dieses ‚Familienleben‘ für die betreffenden Frauen auch mit negativen Auswirkungen verbunden war. Da das Aufgabenspektrum im Privathaushalt nicht klar eingegrenzt ist – es reicht von Pflege-, Betreuungs- und Beziehungsarbeit bis hin zu Reinigungstätigkeiten oder Herstellung von Mahlzeiten und Kleidung –, konnten potenziell alle anfallenden Arbeiten zu Aufgaben dieser Frauen werden. Dies war selbst dann der Fall, wenn sie wie Margarete Weiss zunächst eigentlich als ‚Kindermädchen‘ eingestellt worden waren. Ferner dehnte sich die Arbeitszeit tendenziell in die ohnehin knapp bemessene Freizeit aus, da sie im Haushalt der Dienstgeberfamilie lebten und daher permanent für diese verfügbar waren. So hatte Margarete Weiss „nie das Gefühl: ‚Ich habe frei.‘ Egal, ob Sonn- oder Feiertag, das Dreimäderlhaus [die betreuten Töchter der Familie] hängt an meiner Kittelfalte“. Für Barbara Waß entstand während eines Umbaus im Haus ihrer Dienstgeberfamilie die eigentümliche Situation, dass sich sogar die Grenzen zwischen Eltern- und Diensthaushalt verwischten, wiederum mit merklich negativen Aus340

wirkungen auf die Freizeit. Ihre Eltern nahmen während dieser Umbauphase eine Tochter der Kaufmannsfamilie zu sich, sodass die Autorin einerseits manchmal zu ihren Eltern fahren konnte, wenn sie eigentlich „Dienst“ hatte, andererseits ihre „Freizeit“ nun von der Betreuung dieser Tochter oder durch Besuche der Dienstgeberfamilie in ihrem Elternhaus geprägt war. Barbara Waß selbst fasst zusammen: „Für mich vermischten sich in diesen Monaten Arbeit und Freizeit total. […] In diesen Monaten gab es rund um die Uhr keine einzige Minute, über die ich selber bestimmen hätte können.“40 Ein Verpflichtungsgefühl gegenüber der Familie konnte die persönliche Belastung in einer solchen Anstellung zusätzlich erweitern. Allerdings war diese Last insofern einseitig, als auf die Bedürfnisse und sogar verbriefte Rechte der Autorinnen als Arbeitnehmerinnen nicht gleichermaßen Rücksicht genommen wurde. So zog Barbara Waß ihre ausgesprochene Kündigung auf Bitte ihrer Chefin zurück, und als ihr vom Arzt zwei Wochen Krankenstand verordnet wurden, wurde ihr von Dienstgeberseite nahegelegt, „[…] stattdessen nach einer Woche in Urlaub zu gehen, da könne ich mich ja ohnehin auskurieren“. Unter einem Mangel an arbeitsfreier Zeit hatten auch Autorinnen zu leiden, die nicht als bezahlte Arbeitskräfte in fremden Haushalten tätig waren, zum Beispiel, wenn sie eine außerhäusliche Erwerbstätigkeit mit den Belangen ihrer eigenen Familie vereinbaren mussten. Als Arbeitskräfte im eigenen Haushalt war ihre Situation aber nur bedingt mit jener der Hausangestellten vergleichbar. Elisabeth Krug erwähnt das Wort Freizeit nur in dem Zusammenhang, dass sie „keine Spur“ davon hatte. Auch steigender Wohlstand machte das Leben für die Autorinnen nicht unbedingt leichter. So gelang einigen Familien der Kauf eines Sommerhauses auf dem Land, was den betreffenden Frauen wiederum Mehrarbeit im Haushalt verschaffte. Auch wenn dieses Haus aufgrund 341

beruflicher Verpflichtungen in der Stadt nur selten bewohnt werden konnte, erklärt Traute Molik-Riemer, „nahm das Haus über mehr als zwei Jahrzehnte einen Teil meiner hausfraulichen Aufmerksamkeit in Anspruch“. Auch die Veränderungen der Wohnungen, der Haushaltsgeräte und Produkte für den alltäglichen Konsum waren kaum per se mit einer Verringerung des Zeitaufwands für Hausarbeit verbunden. Während die Technisierung der Haushalte und die immer größere Verfügbarkeit von Fertigprodukten Erleichterungen brachten, wuchsen die Anforderungen „für das Kaufen und Warten der vermehrten Konsumgüter, die Pflege größerer Wohnungen usw.“41 Auch Investitionen in die eigene Weiterbildung und Bildung der Kinder oder längere Wege zur Arbeit beanspruchten zusätzlich Zeit. Freizeit – das wird in den lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen deutlich – war nicht gleich Freizeit, „berufsarbeitsfreie Zeit [bedeutete] keineswegs Mußezeit“.42 In den Beschreibungen der Autorinnen verschwimmen also die Grenzen zwischen ‚Arbeit‘ und ‚Freizeit‘ oder ‚Privatleben‘. Gesellschaftlich wurden Haus- und Familienarbeit allerdings nicht ausreichend als ‚Arbeit‘ anerkannt, bewertet und belohnt.

Schlussbemerkung Von den einführenden Gedanken zur allgemeinen Lebenssituation von Frauen in Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die in den Texten geschilderten Ausbildungs-, Erwerbs- und Haushaltsszenarien spannte sich der Bogen bis zu Übergängen zwischen bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten, zwischen ‚Arbeit‘, ‚Freizeit‘ oder ‚Haus­arbeit‘. Wie die Texte zeigen, erledigten Frauen eine Vielzahl an Tätigkeiten, die diesen Begriffen oft nicht eindeutig zuzuordnen waren. Auch die Schreiberinnen selbst tendierten manchmal dazu, die Fülle und Unterschiedlichkeit ihrer Tätigkeiten bei342

spielsweise mit dem Schlagwort von der ‚Nur-Hausfrau‘ zu fassen. Ihren Erzählungen nach bewegten sich ihre Aktivitäten in Grenzen, die von Eltern, Ehemännern, der zeitgenössischen Geschlechterordnung, finanziellen Rahmenbedingungen usw. gesetzt wurden. Diese, so schreiben sie, wussten sie aber auch genauso oft zu unterlaufen, zu verschieben oder zu verändern. Dennoch waren meist sie es, die die Mehrfachbelastungen durch Haushalt, Erwerbstätigkeit(en) und andere Aktivitäten unter einen Hut bringen mussten. In dieser Zusammenstellung können die Erzählungen dieses Bandes Vergleichsmöglichkeiten und Denkanstöße nicht nur für die Schreiberinnen, sondern auch für die Leser/innen bieten. Auch eine weitergehende wissenschaftliche Ausei­ nandersetzung mit vielfältigen Arrangements von Tätigkeiten in den Lebensläufen und im Alltag von Frauen könnte durch den Band inspiriert werden. Wir hoffen, dass dieses Buch dazu anregt, genau hinzusehen und die Tätigkeiten von Frauen als eine zwar oft unbemerkte, aber bemerkenswerte Vielfalt zu begreifen.

Anmerkungen 1 Jessica Richter erhielt Förderung durch das Johanna-Dohnal-Stipendium 2012. 2 Johanna Gehmacher, Maria Mesner, Land der Söhne. Geschlechterverhältnisse in der Zweiten Republik (Österreich – Zweite Republik. Befund, Kritik, Perspektive 17), Innsbruck/Wien/Bozen 2007, 37 f. Wir danken Veronika Helfert für ihre Anmerkungen zu diesem Abschnitt. 3 Ebd., 38 f.; Erika Thurner, „Dann haben wir wieder unsere Arbeit gemacht“. Frauenarbeit und Frauenleben nach dem Zweiten Weltkrieg, in: zeitgeschichte 15 (1988), Nr. 9/10, 403–425, hier 410 f. 4 Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Gabriella Hauch, Liebe widerständig erforschen. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen (L’Homme Schriften 10), Wien/Köln/Weimar 2005, 9–35, hier 14; Karin Hausen, Arbeit und Geschlecht, in: Jürgen Kocka, Claus Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt am Main/New York 2000, 343–361, hier 348 f. 5 Dasselbe galt für die Versorgung anderer, beispielsweise pflegebedürftiger Angehöriger.

343

 6 Gisela Bock, Barbara Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.), Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976, 2. Aufl., Berlin 1976, 118–199, hier 151.  7 Gehmacher/Mesner, Land, 60; Maria Mesner, Die „Neugestaltung des Ehe- und Familienrechts“. Re-Definitionspotentiale im Geschlechterverhältnis der AufbauZeit, in: zeitgeschichte 24 (1997), , Nr. 5–6, 186–210, hier 187. Zur Geschlechterasymmetrie im bürgerlichen Modell von Liebe und Ehe sowie zu feministischer Kritik und alternativen Entwürfen im 19. und 20. Jahrhundert siehe Bauer/Hämmerle/Hauch, Liebe, 14–19.  8 Josef Ehmer, Die Entstehung der „modernen Familie“ in Wien (1780–1930), in: Laszlo Cseh-Szombathy, Rudolf Richter (Hg.), Familien in Wien und Budapest, Wien/Köln/Weimar 1993, 9–34, hier 9 f.  9 Gabriella Hauch, „Arbeite Frau, die Gleichberechtigung kommt von selbst!?“ Die Rolle der Frau im Erwerbsleben und in der Familie gestern und heute, in: Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte (Hg.), „Man ist ja schon zufrieden, wenn man arbeiten kann.“ Käthe Leichter und ihre politische Aktualität, Wien 2003, 95–103, hier 96. 10 Beispielsweise nähte Erika Schleich für „Bekannte und Nachbarn“, „um ein wenig zum Familieneinkommen beizutragen“. Aber auch andere erwerbende Frauen (wie nicht ‚voll berufstätige‘ Frauen in den Volkszählungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts) waren nicht unbedingt in offiziellen Statistiken repräsentiert, worauf Josef Ehmer bereits 1981 aufmerksam machte. Vgl. Josef Ehmer, Frauenarbeit und Arbeiterfamilie in Wien. Vom Vormärz bis 1934, in: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), 438–473, hier 441. Siehe auch Hausen, Arbeit, 346. 11 Karin M. Schmidlechner, Weibliche Jugendliche in Österreich in den Fünfziger Jahren, in: Siegfried Beer, Edith Marko-Stöckl, Marlies Raffler, Felix Schneider (Hg.), Focus Austria. Vom Vielvölkerreich zum EU-Staat (Schriftenreihe des Ins­ tituts für Geschichte 15, Festschrift für Alfred Ableitinger zum 65. Geburtstag), Graz 2003, 524–539, hier 524. Allerdings war es entgegen zeitgenössischen Diskursen weniger das Ziel von Frauen als von Männern, möglichst schnell zu heiraten. Vgl. Claudia Born, Helga Krüger, Dagmar Lorenz-Meyer, Der unentdeckte Wandel. Annäherung an das Verhältnis von Struktur und Norm im weiblichen Lebenslauf, Berlin 1996. 12 Mesner, „Neugestaltung“, 187. 13 Schmidlechner, Jugendliche, 525. 14 Reinhard Sieder, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt am Main 1987, 243. 15 Ebd., 256; Gehmacher/Mesner, Land, 57 f. 16 Reinhard Sieder, Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück, in: André Burguière, Christiane Klapisch-Zuber, Martine Segalen, Françoise Zonabend (Hg.), Geschichte der Familie. Band 4: 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York/Paris 1998, 211–284, hier 224; siehe auch 237 f. Für eine differenzierte Betrachtung der Familie im 20. Jahrhundert siehe auch Michael Mitterauer, „Das moderne Kind hat zwei Kinderzimmer und acht Großeltern“. Die Entwicklung in Europa, in: ders.,

344

Norbert Ortmayr (Hg.), Familie im 20. Jahrhundert. Traditionen, Probleme, Perspektiven, Frankfurt am Main 1997, 13–51. 17 Sieder, Sozialgeschichte, 243. 18 Mesner, „Neugestaltung“, 187; Schmidlechner, Jugendliche, 524. 19 Eva Cyba, Modernisierung im Patriarchat? Zur Situation der Frauen in Arbeit, Bildung und privater Sphäre, 1945 bis 1995, in: Reinhard Sieder, Heinz Steinert, Emmerich Tálos (Hg.), Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 60), 2. Aufl., Wien 1996, 435–457, hier 438 f., 443; Gehmacher/Mesner, Land, 40 f., 44. 20 Schmidlechner, Jugendliche, 531; Gehmacher/Mesner, Land, 43; Karl Vocelka, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, Graz/Wien/Köln 2000, 330. 21 Gehmacher/Mesner, Land, 44; Born/Krüger/Lorenz-Meyer, Wandel, 219. 22 Cyba, Modernisierung, 439, 442; Marina Fischer-Kowalski, Sozialer Wandel in den 1970er Jahren, in: Sieder/Steinert/Tálos, Österreich, 200–212, hier 203. 23 Gehmacher/Mesner, Land, 46. 24 Regina Becker-Schmidt, Zur doppelten Vergesellschaftung von Frauen, in: gender … politik … online, FU Berlin, Juli 2003, online unter: http://web.fuberlin.de/gpo/pdf/becker_schmidt/becker_schmidt_ohne.pdf (abgerufen am 12.02.2013), 16; Cyba, Modernisierung, 439, 441, 443 f., 449; Gehmacher/Mesner, Land, 46 f.; Fischer-Kowalski, Wandel, 205. 25 Becker-Schmidt, Vergesellschaftung, 13. 26 Cyba, Modernisierung, 444; Gehmacher/Mesner, Land, 46. 27 Regina Becker-Schmidt, Zur Erkundung von Frauengeschichte. Oral History, narrative Interviews und themenzentrierte Gesprächsführung, in: Gabriella Hauch (Hg.), Geschlecht – Klasse – Ethnizität. 28. Internationale Tagung der Historikerinnen und Historiker der Arbeiterbewegung (ITH-Tagungsbericht 29), Wien/ Zürich 1993, 113. Dies betraf vielfach auch andere Frauen mit Betreuungs- und Pflegeverantwortung. 28 Cyba, Modernisierung, 445. 29 Sieder, Besitz, 243 f. 30 Fischer-Kowalski, Wandel, 201. 31 Gehmacher/Mesner, Land, 20, 48 f. 32 Vgl. dazu etwa den Hinweis auf autobiographische Texte als „kulturelle Konstrukte“ in: Peter Eigner, Christa Hämmerle, Günter Müller, Editorial, in: dies. (Hg.), Briefe – Tagebücher – Autobiographien. Studien und Quellen für den Unterricht (Konzepte und Kontroversen 4), Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 7–8, hier 7, und Sigrid Wadauers Überlegungen zum autobiographischen Schreiben in: Sigrid Wadauer, Die Tour der Gesellen. Mobilität und Biographien im Handwerk vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2005. 33 Beispielhaft kann hierfür auf die Studie von Sigrid Wadauer zur Mobilität im Handwerk zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert verwiesen werden. Vgl. Wadauer, Tour. 34 Siehe dazu Ulrich Mückenberger, Der Wandel des Normalarbeitsverhältnisses unter Bedingungen einer „Krise der Normalität“, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 4 (1989), 211–223.

345

35 Sigrid Wadauer, Überlegungen zur Historisierung von Arbeit, in: Jörn Leonhard, Willibald Steinmetz (Hg.), Semantiken von „Arbeit“ im internationalen Vergleich, Stuttgart (erscheint 2013). 36 Vgl. dazu beispielsweise Gisela Dörr, Der technisierte Rückzug ins Private. Zum Wandel der Hausarbeit, Frankfurt am Main/New York 1996, 117–175. 37 Vocelka, Geschichte Österreichs, 331. 38 Siehe Wadauer, Überlegungen. 39 Bezahlte Haushaltsarbeit wie Reinigungsarbeit oder Kinderbetreuung in Privathaushalten wird heute häufig von Migrantinnen unter meist prekären Bedingungen geleistet. Vgl. exemplarisch den Sammelband von Claudia Gather, Birgit Geissler, Maria S. Rerrich (Hg.), Weltmarkt Privathaushalt. Bezahlte Haushaltsarbeit im globalen Wandel (Forum Frauenforschung 15), Münster 2002, oder die Forschungsarbeiten von Helma Lutz, Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung, Opladen/Farmington Hills 2007, und Maria S. Rerrich, Die ganze Welt zu Hause. Cosmobile Putzfrauen in privaten Haushalten, Hamburg 2006. 40 Ähnliche Aussagen finden sich in den 1950er Jahren in dem Berufsschulaufsatz einer Hausangestellten, den Peter-Paul Bänziger analysiert hat. Da deren Arbeitstag nicht klar begrenzt gewesen sei, habe sie keine Verabredungen treffen können. Eine feste Struktur des Arbeitstages, die sich auf Freizeit und Konsum auswirkte, gehörte dem Autor zufolge zu den zentralen Kriterien, mit denen Berufsschüler/innen ihre Arbeitsplätze bewerteten. Vgl. Peter-Paul Bänziger, Arbeiten in der „Konsumgesellschaft“. Arbeit und Freizeit als Identitätsangebote um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Lars Bluma, Karsten Uhl (Hg.), Kontrollierte Arbeit – Disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert (Histoire 27), Bielefeld 2012, 107–134, hier 116. 41 Inge Karazman-Morawetz, Arbeit, Konsum, Freizeit. Veränderungen im Verhältnis von Arbeit und Reproduktion, in: Sieder/Steinert/Tálos, Österreich, 409–434, hier 416. 42 Ebd., 416.

346

Glossar Ablöse, auch: Wohnungsablöse – hier: illegale Zahlung einer höheren Summe an den/die Inhaber/in eines Wohnhauses als Voraussetzung für den Abschluss eines Mietvertrags Afro-Asiatisches Institut – 1959 von kirchlicher Seite gegründete Bildungseinrichtung zur Förderung des interkulturellen und interreligiösen Dialogs, vor allem mit und zwischen Studierenden aus afrikanischen und asiatischen Ländern, mit Zweigstellen in Wien, Graz und Salzburg AKH – Allgemeines Krankenhaus der Stadt Wien AMS, auch: Arbeitermittelschule – 1928 annähernd gleichzeitig in Linz und Wien gegründete Schulform, die Berufstätigen in Abendkursen den Weg zur Reifeprüfung ermöglicht; nach 1945 von den Sozialpartnern wieder eingerichtet, erlangte die Schule 1950 Öffentlichkeitsrecht und besteht in Wien bis heute als Bundesgymnasium, Bundesrealgymnasium und Wirtschaftskundliches Realgymnasium für Berufstätige (Abendgymnasium) auf dem Henriettenplatz im 15. Bezirk. Approbation, Approbationszeiten – Genehmigung eines Schul­buchs durch das Unterrichtsministerium; Manuskripte für Schulbücher müssen von Verlagsseite zur Prüfung eingereicht werden. ausgestiftet – von: ausstiften – in fremde Obhut übergeben, insbesondere für Kinder, die in fremden Familien aufwachsen Beuschel – Ragout aus Lunge (evtl. auch weiteren Innereien) in einer sauren Rahmsoße Brenner – auf der Brennerpasshöhe wird gleich hinter der Staatsgrenze auf Südtiroler Seite zweimal im Monat ein 347

traditioneller Markt abgehalten, der in den Nachkriegsjahrzehnten vor allem für preisgünstige Lebensmittel weithin bekannt und viel frequentiert war Bühler, Charlotte (1893–1974) – Kinder- und Jugendpsychologin, die von 1923 bis 1938 gemeinsam mit ihrem Mann Karl Bühler (1879–1963) am Institut für Psychologie der Universität Wien tätig war; im Wiener „Charlotte Bühler Institut für praxisorientierte Kleinkindforschung“ wird die Tradition ihrer entwicklungspsychologischen Schule fortgeführt. Bund – hier: Bundesdienst Cellophan(papier) – früherer Markenname für Cellulose­ hydrat; eine dünne, durchsichtige Folie zur Verpackung von Lebensmitteln Centfox – Centfox-Film Gesellschaft; Wiener Niederlassung der US-amerikanischen Filmverleihfirma Twentieth (20th) Century Fox Film Corporation Chef-Sek-Anlage – Telefonanlage, bei der zwei oder mehr Rufnummern so zusammengeschaltet sind, dass Gesprächsumleitungen und Direktverbindungen zwischen Vorgesetzten und Sekretariatskräften möglich sind; auch: Vorzimmer-Anlage Deka – Dekagramm, in Österreich gebräuchliches Gewichtsmaß; 1 Deka = 10 Gramm delogieren – einen Mieter mittels gerichtlichem Räumungsbescheid zwangsweise aus seiner Wohnung befördern (lassen); hier eigentlich: eine Delogierungsklage einreichen, damit die betroffene Partei aufgrund ihres Status als Obdachlose/r eher eine Sozialwohnung zugewiesen bekommt dingen – als Taglöhner verpflichten Dippelbäume – Deckenbalken einer Dippel- bzw. Dübeldecke; die bis ca. 1900 in Österreich übliche Deckenkonstruktion – aus nebeneinander gelegten, dreiseitig behauenen und längsseitig aneinandergereihten Holzbalken – wurde von der wesentlich leichteren Tramdecke abgelöst. 348

Diss – abgekürzt für: Dissertation; schriftliche akademische Abschlussarbeit als Voraussetzung zur Erlangung des Doktorats einsuren – einpökeln entrieren (Geschäft) – anbahnen, in die Wege leiten, einfädeln FÖJ – Freie Österreichische Jugend; 1945 in der sowjetischen Besatzungszone gegründete Jugendorganisation mit dem erklärten Ziel, über weltanschauliche Grenzen hinweg ein freies und demokratisches Österreich aufzubauen Fortran – ab 1953 entwickelte höhere Programmiersprache Freelancer – freier Mitarbeiter; Freischaffender gastroenteral – den Magen-Darm-Trakt betreffend genant – peinlich, unangenehm Glumpert – Zeug, Gerümpel Goggomobil – in den Jahren 1955 bis 1969 in Dingolfing, Bayern, hergestellter Kleinwagen Gscherte – abfällige Wiener Bezeichnung für Menschen aus anderen Bundesländern; Provinzler/in Gschnas – Kostümfest im Fasching Habilitation, Habil – schriftliche wissenschaftliche Arbeit als Teil der akademischen Prüfung zur Erlangung der Lehrbefähigung an einer Universität (Habilitationsverfahren) Heldenberg – im Anschluss an siegreiche Schlachten der k. u. k Armee in Italien und Ungarn ließ der Heereslieferant Joseph Gottfried Pargfrieder (1787–1863) um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Garten seines Schlosses Wetzdorf in Kleinwetzdorf im Weinviertel eine Gedenkstätte, bestehend aus 169 Büsten und Standbildern von österreichischen Herrschern und Armeeangehörigen, errichten und schenkte dieses Monument 1858 dem österreichischen Kaiser. Heterophorie – latente Form des Schielens, die in den meisten Fällen ohne Beschwerden im beidäugigen Sehvorgang kompensiert werden kann 349

Hilfswerk – in den Nachkriegsjahren gegründeter, gemeinnütziger, überparteilicher Verein und einer der größten Anbieter von Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen in Österreich (Essen auf Rädern, Tagesmütter, Besuchsdienst, Heimhilfe, Nachbarschaftszentren u. a.) mit Landesverbänden in allen Bundesländern; seit 1989: Dachverband Hilfswerk Österreich hin – tot, kaputt Holler(beeren) – Holunder(beeren) Krewecherl – abschätzige Bezeichnung für einen schwächlichen, kleinwüchsigen Menschen Kukuruz – Mais Lavoir – Waschschüssel Leihradio – vereinzelt wurden Radioapparate in Elektrogeschäften bis in die 1950er Jahre als Leihgeräte angeboten; die Leihgebühr betrug im konkreten Fall einen Schilling pro Tag. Lochgerät – auch: Lochkarten- oder Hollerithmaschine; bis in die 1970er Jahre verwendete Geräte zur Datenerfassung, -speicherung und -auswertung mittels Lochkarten, in die ein Code gestanzt wurde Menagereindl – verschließbares Gefäß, in dem Essen transportiert und erwärmt werden kann MGM – Metro-Goldwyn-Mayer, US-amerikanische Filmproduktions- und Filmverleihgesellschaft, gegründet 1924 Milchküche – Raum, in dem unter besonderen Hygienebedingungen Babynahrung zubereitet wird niederpracken – zusammengeschlagen Nostrifikation – Anerkennung von Zeugnissen, die nach dem Lehrplan eines anderen Staates erworben wurden OMV – nach Ende der zehnjährigen Verwaltung der österreichischen Erdölindustrie durch die USIA gründete die Republik Österreich 1956 die Österreichische Mineralölverwaltung (ÖMV); seit 1995: OMV AG. 350

Orff-Gruppe – auf den Komponisten und Musikpädagogen Carl Orff (1895–1982) und seine Anfang der 1950er Jahre erschienene „Musik für Kinder“ zurückgehende Form der musikalischen Früherziehung, vor allem in Instrumentalgruppen mit Instrumenten wie Glockenspiel, Xylophon, Metallophon, Triangel, Trommeln u. Ä. Paternoster – in den 1870er Jahren in England entwickelte und heute kaum noch gebräuchliche Form des Personenaufzugs, bei der eine Anzahl von hintereinander an einer Kette aufgereihten offenen Kabinen sich im Umlaufbetrieb befinden Photoshop – Bildbearbeitungsprogramm des Softwareherstellers Adobe Systems Pneumonie – Lungenentzündung Pulsette – Schallwaschgerät, bei dem ein Elektromagnet eine Membran in Bewegung versetzt, sodass die Lauge das zu waschende Gewebe „durchpulst“ und den Schmutz he­ rauslöst Radlschwester – Krankenpflegerin, die im Wechselschichtdienst arbeitet Rigorosen – Serie von mündlichen akademischen Abschlussprüfungen zur Erlangung des Doktortitels Ritschert – Eintopf aus Rollgerste, Bohnen und geräuchertem Schweinefleisch Salicyl – Salicylsäure, entzündungshemmendes, schmerzlinderndes Mittel (z. B. im Aspirin), hier in Pulverform; die Verwendung zur Konservierung von Lebensmitteln ist medizinisch umstritten Scherm – Nachttopf Scherzel – Randstück, Endstück; Brotanschnitt schichteln – Schicht arbeiten schupfen (Arbeit) – hier: souverän erledigen, meistern Schwedenreiter – Vorrichtung zum Heutrocknen; zwischen einer Reihe von Holzpfählen sind in unterschiedlicher 351

Höhe Drähte gespannt, auf die das Heu zum Trocknen aufgelegt wird Schwedenwindeln – in Schweden entwickelte und von der Firma Mölny ab den 1960er Jahren auch in Mitteleuropa vertriebene erste Kunststoffwindeln Schwestern (in Hallein) – die heutige „Gemeinschaft der Halleiner Schwestern (Franziskanerinnen)“ wurde 1723 gegründet, um sozial benachteiligten Kindern in der damaligen Salinenstadt Hallein eine Ausbildung zu ermöglichen Sidestep – hier: Umweg, Ausweichmanöver Souterrain – Untergeschoß Spitzbuben – heute: Spitzbuben Pawlatschen; Weinlokal im 19. Wiener Gemeindebezirk; ehemals als „Nussdorfer Pawlatschen“ bekannte Wirkungsstätte des (von 1953 bis 1972 bestehenden) Wiener Heurigen-Kabarett-Trios „Die 3 Spitzbuben“ Stachel – hier: Eisenteil zum Erhitzen eines früheren Bügeleisenmodells (Stachel- bzw. Stageleisen); das Eisen wurde im Feuer glühend gemacht und in einen entsprechenden Hohlraum im Bügeleisen gesteckt Steinhof – Anfang des 20. Jahrhunderts wurde am westlichen Stadtrand Wiens die „Niederösterreichische LandesHeil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Geisteskranke Am Steinhof“ errichtet; seit 2000: Otto-Wagner-Spital Stoffcoupons – Stoffstücke, die nicht eigens zugeschnitten, sondern in einer bestimmten Länge – in diesem Fall für die Anfertigung von Modellen – bereitgestellt werden Substandardwohnung – Wohnung ohne zeitgemäßen Komfort, insbesondere ohne Toilette und/oder Fließwasser Taubstummeninstitut – 1779 unter dem Namen k. k. Taubstummeninstitut gegründete pädagogische Anstalt für Gehörlose, ehemals in der nach ihr benannten Taubstummengasse in Wien-Wieden; heute Bundesinstitut für Gehörlosenbildung mit Sitz im 13. Wiener Gemeindebezirk 352

Theresianum – renommiertes Wiener Privatgymnasium, untergebracht im gleichnamigen Barockschloss in der Favoritenstraße 15 im 4. Wiener Gemeindebezirk Toifl, Inge (*1934) – österreichische Filmschauspielerin und Fernsehsprecherin der 1960er Jahre Tonsillektomie – operative Entfernung der Mandeln TU – Technische Universität, ehemals Technische Hochschule in Wien Urania – 1897 gegründete und anfangs von einem Verein getragene Bildungseinrichtung, die seit 1910 in einem charakteristischen Bau mit integrierter Sternwarte am Wiener Donaukanal untergebracht ist; seit der Wiedereröffnung im Jahr 1957 im Wiener Volkshochschulverband eingegliedert USIA – etwa 300 wichtige österreichische Industriebetriebe, die nach Kriegsende als „deutsches Eigentum“ erkannt wurden und in der sowjetischen Besatzungszone lagen, unterstanden zwischen 1945 und 1955 der „Verwaltung des sowjetischen Eigentums in Österreich“ (abgekürzt: USIA/УСИА) verwaltet. VHS – Volkshochschule Waschkugel – kugelförmiges Gebilde aus Kunststoff, das mit einer Handkurbel in Drehung versetzt werden konnte; durch die fortdauernde Drehbewegung in einer Lauge sollte der Schmutz aus der Wäsche gelöst und so die mühsamere Arbeit an einem Waschbrett ersetzt werden. WHO – World Health Organization, Weltgesundheitsorganisation; 1948 gegründete Sonderabteilung der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf Wohnungsablöse – siehe Ablöse zedieren – eine Forderung an einen Dritten abtreten (zumeist in Zusammenhang mit einem Zessionskredit) Zemanek, Heinz (*1920) – österreichischer Nachrichtentechniker und Computerpionier; Konstrukteur eines volltransistorisierten Computers namens „Mailüfterl“ in den 1950er Jahren 353

Bildnachweis Titelbild: Judith Schachenhofer Rückseite: Barbara Waß Abb. 1–7: Ilse Wolfbeisser Abb. 8–12: Erika Schleich Abb. 13–16: Traude Veran Abb. 17–23: Traute Molik-Riemer Abb. 24: Fa. Licona; Foto: Werbeagentur Hager Abb. 25: Horak Pressefoto Abb. 26: Fa. Kenwood; Foto: Hermann Lichka Abb. 27–28: Ilse Viktoria Bösze Abb. 29: Verlag Jugend und Volk Abb. 30–35: Elisabeth Krug Abb. 36–39: Barbara Waß Abb. 40–42: Margarete Weiss

354

„Damit es nicht verlorengeht ...“ ist ein Leitmotiv vieler Menschen, die sich im fortgeschrittenen ­Alter verstärkt mit ihrer Lebensgeschichte beschäftigen und selbst Erlebtes in der einen oder anderen Form zu dokumentieren versuchen. Daran orientiert sich der Titel dieser Buchreihe, die seit 1983 besteht und vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ herausgegeben wird. Persönliche Erinnerungstexte bieten vielfältige Einblicke in vergangene Lebens-, Arbeits- und Beziehungsverhältnisse und können das Verständnis für historischen Wandel sowie für unterschiedliche Denkweisen und Traditionen erweitern. Über den privaten Familienkreis hinaus haben solche Lebensaufzeichnungen in den letzten Jahrzehnten in vielen gesellschaftlichen Bereichen als sozial-, kultur- und zeitgeschichtliche Dokumente Aufmerksamkeit gefunden. Aus diesem Grund wurde am Institut für Wirtschafts- und ­Sozial­geschichte der Universität Wien die „Dokumentation le­­­bens­­ geschichtlicher Aufzeichnungen“ eingerichtet, ein Text­archiv, in dem schriftliche Lebensaufzeichnungen aller Art (Autobiographien, kürzere Erinnerungstexte, Tagebücher, Familiengeschichten, Chroniken usw.) gesammelt, wissenschaftlich genutzt und für fachlich Interessierte bereitgestellt werden. Die Leserinnen und Leser sind eingeladen, Beiträge zu dieser Textsammlung zu leisten, indem sie eigene lebensgeschichtliche Texte oder überlieferte Aufzeichnungen von Vorfahren zur Verfügung stellen oder uns auf entsprechende Materialien in Privat­besitz aufmerksam machen. Ebenso freuen wir uns über Kontakte zu schreibfreudigen Menschen, die sich durch das Motto der Buchreihe angesprochen fühlen. Kontaktadresse: Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ Universitätsring 1, 1010 Wien (z. H. Mag. Günter Müller) Tel. +43 (0)1/42 77-41306 E-Mail: [email protected] http://lebensgeschichten.univie.ac.at http://www.MenschenSchreibenGeschichte.at