Kelsen im Spiegel der italienischen Rechtslehre 9783631627006, 9783653025064, 3631627009

Das Werk rekonstruiert die Interpretation der reinen Rechtslehre seitens der italienischen Juristen des 20. Jahrhunderts

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Kelsen im Spiegel der italienischen Rechtslehre
 9783631627006, 9783653025064, 3631627009

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INHALT
I. PONTIUS PILATUS
1.1. Kelsen und die neukantianischen Wurzeln der Reinen Rechtslehre in "Vom Wesen und Wert der Demokratie" (1920).
1.2. Ein irrationales Ideal.
1.3. Weiteres zu "Wesen und Wert der Demokratie".
1.4. 1947: "Kelsenism".
II. EIN IRRATIONALES IDEAL
2.1. Die Kritik an der Kantschen Philosophie in Hegels Leben Jesu.
2.2. Giuseppe Capograssi und die "Impressioni su Kelsen tradotto".
2.3. Anmerkungen zum juridischen Idealismus des Giuseppe Capograssi.
2.4. Das ethische Leben: die juridische und die moralische Erfahrung. Die Hoffnung im Denken von Giuseppe Capograssi.
2.5. "De profundis calmavi ad te, domine": Das Recht nach der Katastrophe.
2.6. „Jeder dient seiner Zeit nach seinen Möglichkeiten.“ Recht und Geschichte – Giuseppe Capograssis Problem.
III. EIN TRADITIONELLES IDEAL
3.1. Erste Spuren von Kelsen in Italien: "Die Staatslehre des Dante Alighieri". Geschichte der Rezeption dieses Werkes und dessen Interpretation durch Vittorio Frosini.
3.2. Kelsen und "L'ordinamento giuridico" von Santi Romano.
3.3. Giuristi: Die Erwähnung Kelsens in den "Frammenti di un dizionario giuridico" (1947).
3.4. Anmerkungen zum juridischen Realismus von Santi Romano.
3.5. Der Eintrag "Autonomia" in den "Frammenti di un dizionario giuridico".
3.6. Kurze Darstellung der Hauptmomente der italienischen Kritik an Kelsen.
3.7. Vittorio Frosini und Kelsens Einfluss in Italien.

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32 Das Werk rekonstruiert die Interpretation der reinen Rechtslehre seitens der italienischen Juristen des 20. Jahrhunderts. Der Gedanke Hans Kelsens spiegelt sich in der italienischen Rechtslehre wider und übernimmt die Rolle eines Schlüssels, um die Gedanken von Juristen wie Giuseppe Capograssi, Vittorio Frosini und Santi Romano zu interpretieren, die oftmals den eigenen Gedankengang im Vergleich mit der reinen Rechtslehre erklärt haben.

Salzburger Studien zum Europäischen Privatrecht

Band 32

Antonio Merlino lehrt vergleichendes Verfassungsrecht (Italien - Österreich) an der Universität Salzburg. Er promovierte mit Auszeichnung an der Universität Paris Lodron in Salzburg im Fach Rechtswissenschaften und an der Universität Suor Orsola Benincasa in Neapel im Fach „Scienze giuridiche e teoria del diritto“.

www.peterlang.de

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Antonio Merlino · Kelsen im Spiegel der italienischen Rechtslehre

Antonio Merlino Kelsen im Spiegel der italienischen Rechtslehre

ISBN 978-3-631-62700-6

23.01.2013 11:30:13 Uhr

Salzburger Studien zum Europäischen Privatrecht Herausgegeben von Prof. DDr. J. Michael Rainer

Band 32

Antonio Merlino

Kelsen im Spiegel der italienischen Rechtslehre

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: © Olaf Gloeckler, Atelier Platen, Friedberg

ISSN 1435-6090 ISBN 978-3-653-02506-4 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-02506-4 ISBN 978-3-631-62700-6 (Print) © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2013 Alle Rechte vorbehalten. PL Academic Research ist ein Imprint der Peter Lang GmbH Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.de

von Jan Matia Prinoth in die deutsche Sprache übersetzt

Ich danke Herrn Professor Michael J. Rainer für die Annahme meines Buches und für seine Unterstützung bei der Veröffentlichung in der von ihm geleiteten, wertgeschätzten Reihe "Salzburger Studien zum europäischen Privatrecht". Mein Dank gilt außerdem dem Verleger Peter Lang für die Annahme des Manuskripts. A.M.

INHALT I. PONTIUS PILATUS .................................................................................... 11 1.1. Kelsen und die neukantianischen Wurzeln der Reinen Rechtslehre in Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920)............................... 11 1.2. Ein irrationales Ideal.......................................................................... 22 1.3. Weiteres zu Wesen und Wert der Demokratie.................................... 30 1.4. 1947: Kelsenism. ............................................................................... 33 II. EIN IRRATIONALES IDEAL .................................................................... 43 2.1. Die Kritik an der Kantschen Philosophie in Hegels Leben Jesu......... 43 2.2. Giuseppe Capograssi und die Impressioni su Kelsen tradotto. ........... 51 2.3. Anmerkungen zum juridischen Idealismus des Giuseppe Capograssi. 67 2.4. Das ethische Leben: die juridische und die moralische Erfahrung. Die Hoffnung im Denken von Giuseppe Capograssi......................... 79 2.5. De profundis calmavi ad te, domine: Das Recht nach der Katastrophe. ..................................................................................... 88 2.6. „Jeder dient seiner Zeit nach seinen Möglichkeiten.“ Recht und Geschichte – Giuseppe Capograssis Problem. .................................. 94 III. EIN TRADITIONELLES IDEAL ............................................................ 101 3.1. Erste Spuren von Kelsen in Italien: Die Staatslehre des Dante Alighieri. Geschichte der Rezeption dieses Werkes und dessen Interpretation durch Vittorio Frosini. .............................................. 101 3.2. Kelsen und L'ordinamento giuridico von Santi Romano.................. 108 3.3. Giuristi: Die Erwähnung Kelsens in den Frammenti di un dizionario giuridico (1947).............................................................................. 138 3.4. Anmerkungen zum juridischen Realismus von Santi Romano. ........ 140 3.5. Der Eintrag Autonomia in den Frammenti di un dizionario giuridico. ....................................................................................... 144 3.6. Kurze Darstellung der Hauptmomente der italienischen Kritik an Kelsen. ........................................................................................... 146 3.7. Vittorio Frosini und Kelsens Einfluss in Italien. .............................. 151

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I. PONTIUS PILATUS INHALTSVERZEICHNIS: 1.1. Kelsen und die neukantianischen Wurzeln der Reinen Rechtslehre in Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920). 1.2. Ein irrationales Ideal. 1.3. Weiteres zu Vom Wesen und Wert der Demokratie. 1.4. 1947: Kelsenism.

1.1. Kelsen und die neukantianischen Wurzeln der Reinen Rechtslehre in Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920). In den letzten Seiten seines Werkes Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920) erinnert Hans Kelsen an den Prozess gegen Jesus wie er im achtzehnten Kapitel des Evangeliums von Johannes geschildert wird: „Diese schlichte, in ihrer Naivität lapidare Darstellung gehört zu dem großartigsten, was die Weltliteratur hervorgebracht hat.“ Diese Episode aus dem Leben Jesu wird hier „zu einem tragischen Symbol des Relativismus und der – Demokratie.“1 Der Protagonist dieser Episode ist Pontius Pilatus, Vertreter „einer alten, müde und darum skeptisch gewordenen Kultur.“ Zur Zeit des Osterfestes wird Jesus mit der Anklage, sich für den Sohn Gottes und den König der Juden ausgegeben zu haben, vor den römischen Statthalter Pilatus geführt. Für Pilatus ist Jesus nur „ein armer Narr“. Er fragt ihn ironisch: „Also du bist der König der Juden? Und Jesus antwortet im tiefsten Ernst und ganz erfüllt von der Glut seiner göttlichen Sendung: Du sagst es. Ich bin ein König, und bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, daß ich der Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, höret meine Stimme.“ Pilatus fragt: „Was ist Wahrheit? – Und weil er nicht weiß, was Wahrheit ist und weil er – als Römer – gewohnt ist, demokratisch zu denken, appelliert er an das Volk und veranstaltet – eine Abstimmung. Er ging hinaus zu den Juden, erzählt das Evangelium, und sprach zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. Es ist aber bei euch Herkommen, daß ich euch am Osterfeste einen freigebe. Wollt ihr nun, dass ich euch den König der Juden freigebe? – Die Volksabstimmung fällt gegen Jesus aus. – Da schrien wiederum alle und sagten: Nicht diesen, sondern Barabbas. – Der Chronist aber fügt hinzu: Barabbas war ein Räuber.“ Kelsen fährt hier folgendermaßen fort: „Vielleicht wird man, werden die 1

H. KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, Band 47, Heft 1, 1920, S. 84. 11

Gläubigen, die politisch Gläubigen einwenden, daß gerade dieses Beispiel eher gegen als für die Demokratie spreche. Und diesen Einwand muß man gelten lassen; freilich nur unter einer Bedingung: Wenn die Gläubigen ihrer politischen Wahrheit, die, wenn nötig, auch mit blutiger Gewalt durchgesetzt werden muß, so gewiß sind wie – der Sohn Gottes.“2 So Kelsen 1920. In einer späteren Schrift behauptete er, die Gerechtigkeit sei eine Idee, welche „inaccessible to rational cognition“ sei: der Mensch kann die Idee der Gerechtigkeit also nicht erkennen, wie Pilatus, der die Wahrheit nicht kennt und Jesus für einen „armen Narren“ hält. 3 Kant hielt das Ding an sich für unerkennbar. Der Neukantianer Hermann Cohen, Gründer der Marburger Schule, übte einen starken Einfluss auf das juridische Denken von Hans Kelsen aus.4 Erich Kaufmann schrieb 1921 seine Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie. Er kritisierte hierin den „neukantischen Kelsen“ heftig, welcher unter der Ägide des „Postulates der Einheit“ die „Kompliziertheiten und Differenziertheiten der Wirklichkeit“ in einem abstrakten 2 3

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Ebenda, S. 85. Für eine Lektüre, die zur Harmonisierung der evangelistischen Quellen und der Schriften von Flavius Josephus und Philon aus Alexandria neigt, siehe J. BLINZER, Der Prozess Jesu. Das jüdische und das römische Gerichtsverfahren gegen Jesus Christus auf Grund der ältesten Zeugnisse dargestellt und beurteilt, Dritte, stark erweiterte Auflage, Regensburg, F. Pustet, 1960, S. 12-338, insbesondere S. 187-262. Für eine kritische Lektüre, die die „Tendenzen“ der evangelistischen Quellen hervorheben soll, siehe H. K. BOND, Pontius Pilate. History and Interpretation, Cambridge, Oxford University Press, 1998. Für eine kritische Lektüre, die die Quellen in einem „großen historischen Überblick“ und „Lösungen und Hypothesen“ darstellt, siehe A. DEMANDT, Hände in Unschuld, Pontius Pilatus in der Geschichte, Freiburg-Basel-Wien, Herder, 2001 insbesondere das Vorwort (Seite VII-X), Kapitel zur Frage „Ist die Bibel ein Geschichtsbuch?“ (Seite 93-107) sowie zu „Die Passion“ (Seite 143-177). Für Demandt hat die Bibel wie kein anderes Buch Geschichte geschrieben, nicht zuletzt weil es selbst die Geschichte beschreibt (Seite 107) und die Frage der Wahrheit ist der archimedische Punkt der gesamten Bibel (Seite 155). Für eine ganz andere Sichtweise, die nicht zur Harmonisierung der Quellen sondern zu deren Anfechtung neigt, siehe C. COHN, Processo e morte di Gesù. Un punto di vista ebraico. Von G. Zagrebelsky, Turin, Einaudi, 2000, Seite 1-378 (Originaltitel: Der Prozeß und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, Frankfurt am Main, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 1997). Kelsen selbst bemerkte, dass Cohens Erkenntnistheorie einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausgeübt hatte. Er habe ihr aber nicht in allen Punkten Gefolgschaft geleistet. Man siehe H. KELSEN, Veröffentlichte Schriften 1905-1910 und Selbstzeugnisse, aus Hans Kelsen Werke, Band I, hrsg. von M. Jestaedt in Kooperation mit dem Hans Kelsen Institut, Tübingen, Mohr-Siebeck, 2007, S. 22.

„Weltrechtsmonismus“ aufgelöst haben soll. Weiters schrieb er: „Die Spannungen und Antinomien des Lebens, die doch auch real sind, kőnnen nach dem Prinzip der denkőkonomischen Vereinfachung nie begriffen werden.“ Kaufmann sieht die Wurzeln der reinen Rechtslehre „in Kants rationalistischer Metaphysik mit seiner Lehre vom Dinge an sich, von den Ideen der reinen Vernunft“5 Kaufmann kritisierte Kelsen, weil er das Konzept der Souveränität in der globalen civitas maxima verdrängte.6 Die Schlüsse, die Kelsen in Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer reinen Rechtslehre (1920) zog, veranlassten Kaufmann zur Behauptung, dass die Reine Rechtslehre kantischen Ursprungs sei: „Dieser metaphysische Logizismus ist das Grundmotiv der Kelsenschen Rechtsphilosophie.“7 Wenige Jahre später verfasste der deutsche Jurist Hermann Heller eine klar herausgearbeitete, sehr ähnliche Kritik. 8 Kant hatte nicht nur die Unbestimmbarkeit des Dinges an sich postuliert, sondern auch Form und Materie strikt voneinander getrennt. In seinem Werk Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hatte er sein Konzept der Pflicht dargestellt, dass er als ein authentisches, natürlich formelles Prinzip des kategorischen Imperatives verstand. In diesem Werk wird unbedacht der juridischen Tradition die Dialektik zwischen Ethik und Recht aufgehoben, und, unbedacht der juridischen Tradition, das iuris principium der honestas zur formellen Kategorie eines auf der Pflicht gründenden kategorischen Imperatives reduziert. Der moralische Wert einer Handlung liegt nicht in dieser selbst und auch nicht in deren Ziel, sondern in der Anpassung der Handlungsmaxime an die von außen aufgezwungene Pflicht.9 Pietro Piovani hat in seinem Werk Giusnaturalismo ed etica moderna zu erkennen gegeben, dass er die Komplexität dieses Problems verstanden hat. Piovani vertrat eine Ethik der 5

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E. KAUFMANN, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie. Eine Betrachtung über die Beziehungen zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft, Tübingen, Mohr, 1921, S. 24-26. H. KELSEN, Das Problem der Souveränität. Beitrag zu einer reinen Rechtslehre, Tübingen, Mohr-Siebeck, 19282, S. 320. E. KAUFMANN, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie. Eine Betrachtung über die Beziehungen zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft, Ebenda, S. 29. H. HELLER, Die Krisis der Staatslehre, „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, Hrsg. von Emil Lederer, Mohr, Tübingen, Nr. 55, 1926, S. 289-316. Bezüglich Heller siehe man U. POMARICI, Nota del curatore, in H. HELLER, Dottrina dello Stato, Neapel, Edizioni Scientifiche Italiane, 1988, S. 441-451. I. KANT, Grundlegung zur Metaphyisik der Sitten, aus Kant's gesammelte Schriften, Band IV, Berlin, G. Reimer Verlag, 1911, S. 397f. 13

individuellen Verantwortung und bemerkte, dass das kantische Individuum sich zunächst entpersonalisieren müsse, um überhaupt ein eigenständiges Individuum sein zu können. Bei Kant sollte sich die Individualität des Menschen, dessen Entwicklung im Mittelalter begonnen hatte, nicht voll verwirklichen, sondern sich an ein externes Gesetz anpassen. Für Piovani hingegen müsste die Entwicklung des Individuums abgeschlossen werden, was „zu einer existentieller Fülle und Lebenskraft des Menschen führen würde, welche nicht auf das Schema einer Norm zurückgeführt werden kann, auch wenn diese Norm aus autonomen menschlichen Willensbestrebungen entstanden ist.“ Wenn der moderne Mensch (Piovani dachte hier an den Menschen nach der Katastrophe, an den Menschen also, der sich der „tückischen Obhut“ des Staates anvertraut hat) seine Existenz gefährdet sieht, so sucht er nicht in einer abstrakten Menschheit nach den Gründen für seine Existenz, sondern in seiner persönlichen Art und Weise, in menschlicher Hinsicht dem Leben anzugehören.“10 Piovani schrieb:11 Ein Mensch, welchem es durch Erhöhung ins Unendliche gelingt sein wahres Wesen zu verwirklichen, will nicht zum „Gesetz“ werden und will sich auch nicht in der „Menschheit“ auflösen. Stattdessen will er sich selbst bleiben, besser gesagt, er will in diesem herausragenden Moment ganz sich selbst werden.

Kelsens Denken wurzelt nicht nur in der kantschen Spekulation, sondern radikalisiert auch einige ihrer Aspekte. Kelsen geht so weit sogar den kategorischen Imperativ Kants anzufechten, weil dieser voller extrajuridischer Inhalte sein soll. Wenn man nicht die kantschen Wurzeln Kelsens Denken kennt, kann man den Sinn von Vom Wesen und Wert der Demokratie nicht verstehen. Darüberhinaus könnte man zudem auch das Gerücht anfachen, nach dem Kelsen ein Verfechter der Demokratie sei. Bei einer ersten Lektüre von Vom Wesen und Wert der Demokratie möchte man meinen, zwischen einem politisierten, den Wert der Demokratie befürwortenden Kelsen und dem reinen Juristen Kelsen, für den Werte gleichgültig sind, unterscheiden zu müssen. 12 Wenn man jedoch dieses Werk in den Rahmen jener Zeit stellt, in der Kelsen lebte und arbeitete, so wird klar, dass der politische Denker Kelsen und Kelsen der Jurist ein und diesselbe Person sind – es liegt hier also keine Schizophrenie vor, sondern Kohärenz. Dies ist im Beitrag Kelsens über den Prozess gegen Jesus ersichtlich, der von der Kritik oft übersehen wurde, als ob es sich hierbei nur um eine etwas 10 11 12

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P. PIOVANI, Giusnaturalismo ed etica moderna, Bari, Laterza, 1961, S. 148-152. (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). Ebenda, S. 152. Man siehe P. PETTA, Introduzione zu H. KELSEN, Il primato del parlamento, Hrsg. von G. Geraci, Mailand, Giuffrè, 1982, S. VII-XXV.

marginale Passage handelte. Gustavo Zagrebelsky veröffentlichte 1995 „Il crucifige! e la democrazia“. Er kommentierte folgendermaßen: Demzufolge pendelt man in der politischen Ethik zwischen zwei Extremen hin- und her: zwischen Dogma und Skepsis, zwischen Absolutheitsanspruch und Relativität von Werten. Für einen dogmatischen Menschen wäre die Demokratie nicht akzeptabel; sie würde nur durch eine skeptische und relativistische Geisteshaltung gerechtfertigt werden. So würde die Demokratie auf die Skepsis gründen, wie die Wirkung auf die ihr zugrundeliegende Ursache. Jesus wäre gemäß dieser Sichtweise das Beispiel par excellence der Antidemokratie, also ein Autokrat. Pilatus hingegen wäre als positives Beispiel eines Demokraten anzusehen – es ist nicht leicht diese Schlussfolgerungen zu akzeptieren.

Jesus sagte „ich bin die Wahrheit“ und nicht „diese Idee oder jene Lehre stellt die Wahrheit dar.“ „Er forderte die Leute somit nicht dazu auf, an eine Idee oder Lehre zu glauben, sondern ihm als Verkünder der Wahrheit anzusehen und darauf zu vertrauen dass er immer bei einem ist, dass er sich nicht verstecken wird, dass er einem nicht vergessen wird (aletheia, a-lonthano).“ Zagrebelsky schrieb, dass Jesus im Prozess eine Haltung „triumphierenden Schweigens“ einnahm: „er war völlig von der Kraft der Wahrheit durchdrungen und somit bereit, alle Konsequenzen seiner Haltung zu ertragen.“13 Antonio Spadaro widmete bereits 1994 sein Werk Contributo per una teoria della Costituzione Kelsens Darstellung des Prozesses gegen Jesus. Spadaro verstand, dass das zentrale Problem von Vom Wesen und Wert der Demokratie die Religion ist. Selbiges gilt auch für die anderen Werke, in denen Kelsen sich mit Demokratie und Parlamentarismus außeinandersetzte. Laut Spadaro waren für Kelsen Menschen, „welche der Stimme der Wahrheit folgten, die ihnen von ihrem Gewissen vermittelt wird“, „Fanatiker und potentielle Despoten“, weil sie „eine absolutistische Einstellung hätten, welche in ihrem Kern antidemokratisch sei.“14 Anatole France veröffentlichte 1902 eine lange Erzählung mit dem Titel Le procurateur de la Judée. France stellte einen fiktiven Dialog zwischen Pontius Pilatus und dem Ehebrecher L. Aelius Lamia dar. Die beiden Männer trafen sich 13

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G. ZAGREBELSKY, Il crucifige! e la democrazia, Turin, Einaudi, 20072, S. 20 und 26f. (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). Gustavo Zagrebelsky war von 1995 bis 2004 Richter am italienischen Verfassungsgerichtshof. 2004 war er Vorsitzender des Verfassungsgerichtshofs. Ich erinnere an dieser Stelle an sein Werk Il diritto mite. Legge, diritti, giustizia, Einaudi, Turin, 1992. Auf diesen Seiten sagt Zagrebelsky: „Das wirklich Wesentliche des Rechts soll nicht schriftlich festgehalten werden, sondern gilt als grundlegende Voraussetzung.“ (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). A. SPADARO, Contributi per una teoria della Costituzione, Band I, Mailand, Giuffrè, 1994, S. 211 (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). 15

im Alter zufällig in Rom. Lamia erzählte dem ehemaligen Statthalter von Judäa Pilatus, der unter Gicht litt und sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatte, um Landwirtschaft zu betreiben, dass er in seiner Jugend eine Jüdin in Jerusalem kennengelernt hatte, welche „in einer elenden Spelunke, beim Schein einer kleinen qualmenden Lampe auf einem elenden Teppich tanzte. Dabei reckte sie die Arme empor, um ihre Zimbeln zu schlagen.“ Lamia erzählte, dass er die „wollustverschleierten Augen, die „barbarischen Tänze“ und den „rauhen und doch so wohlklingenden Gesang“ dieser Frau geliebt hatte. Er gestand, dieser Frau überall hin gefolgt zu sein, bis sie sich „einem jungen Galiläer“, „der umherzog und Wunder tat“, angeschlossen hatte. „Er hieß Jesus und war aus Nazareth.“ Lamia erinnerte sich sodann, dass Jesus gekreuzigt worden war; er wusste aber nicht mehr, welches Verbrechen er begangen hatte. So fragte er Pilatus danach. „Pontius Pilatus runzelte die Brauen. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, als ob er sich auf etwas zu besinnen suchte. Dann, nach einer kurzen Pause, murmelte er: ‚Jesus? Jesus – aus Nazareth? – Nein, ich erinnere mich nicht mehr.’“15 Leonardo Sciascia hatte diese Erzählung in einer Anmerkung als „Verteidiger eines größtmöglichen Skeptizismus (und somit auch der Toleranz, die daraus erwächst)“, bezeichnet. Auch sei sie eine Art Hommage an das historische Gedächtnis der Menschheit. Laut Sciascia könne man den Schlussteil dieser Erzählung aber nicht allein als „eine Hommage an das Vergessen“ und „eine Apologie des Skeptizismus“ bezeichnen. Das Buch von France über Pilatus ist einerseits eine Apologie des Skeptizismus, andererseits aber wieder nicht: „Durch den Vergleich zwischen der Erinnung des Aelius Lamia und der Nicht-Erinnerung des Pontius Pilatus“ wird ersichtlich, dass diese Bezeichnung „Widersprüche in sich birgt und somit eine gegenteilige Sichtweise hervorrufen kann.“ Aelius Lamia erinnert sich, der ehemalige Statthalter Pilatus hingegen nicht. „Lamia kann sich aufgrund von Liebe – wenngleich diese nur einer einfachen Frau galt – erinnern. Die Liebe führt den Menschen zu Christus und zum Christentum: so wie Maria Magdalena Christus gefolgt war, so besinnt sich Aelius Lamia mittels der Erinnerung an sie auf Jesus Christus. So also gibt sich France durch diese skeptische Erzählung der Liebe hin. Vielleicht tut er dies nur aus einer Zerstreuung heraus – die Schriftsteller wissen aber oft nicht was sie tun.“16 15 16

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A. FRANCE, Der Statthalter von Judäa und andere Novellen, Leipzig, Insel, 1928, S. 38 und 39. L. SCIASCIA, Nota aus A. FRANCE, Il procuratore della Giudea, italienische Übersetzung, Palermo, Sellerio, 20079, S. 38f. (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers).

Für Sciascia ist das Vergessen eine Sünde. Pilatus kann sich nicht mehr erinnern und auch Kelsens Lehre sieht von dieser Begebenheit ab, obwohl sie eine eigene Geschichte hat und Teil der Menschheitsgeschichte ist: in ihr wird nämlich auf implizite Art und Weise negiert, dass das Recht historisch einzuordnen ist.17 Auch wird die traditionelle Auffassung von ius a iustitia negiert und behauptet, dass das Recht Norm und Urteil des Gesetzgebers sei. Pilatus enthält sich eines Urteils und gibt die große Frage – quid est veritas? – an das Volk weiter, so wie auch die Verantwortlichkeit für das Urteil über Jesus.18 An dieser Stelle erinnert man sich an das Werk von Salvatore Satta „Il mistero del processo“ in den Sinn. Satta vergleicht den Revolutionsgerichtshof mit dem Prozess gegen Jesus und behauptet dann, dass „das Urteil eines Revolutionsgerichtshofes für den Juristen kein Urteil darstellt.“ Die Frage von Pilatus quid est veritas? „löst sich in der Frage quid est processus? auf.“19 Für Satta ist der Prozess „ein ewiger Moment des Geistes“, „eine antirevolutionäre Handlung ohne Ziel.“ Er ist ein „actus trium personarum,

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Man siehe A. GIULIANI, Contributi ad una teoria pura del diritto, Mailand, Giuffrè, 1954, S. 11f. Laut Giuliani „hat uns der Objektivierungsprozess der Rechtstheorie von der Geschichte entfernt.” Durch die angeblichen „Reinen Theorien“ sei die Rechtswissenschaft in „Elfenbeintürme“ geraten, „in völlige Isolation“, abseits der Wirklichkeit, abseits der konkreten Erfahrung. Die Reinen Theorien hätten sich einer „gleichsam mystischen und magischen Sprache“ bedient, um unseren „alten Sicherheitsinstinkt“ zu befriedigen. Sie haben sich, im Namen einer postulierten Objektivität und Rationalität, unabhängig von der Erfahrung entwickelt (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). Zu Pilatus lese man den Sammelband Ponzio Pilato o del giusto giudice. Profili di simbolica politico-giuridica, Hrsg. von C. Bonvecchio und D. Coccopalmiero, Padua, Cedam, 1998, S. 1-304, insbesondere den Beitrag von R. GATTI, „Che cos’è la verità?: Pilato, Kelsen e la parabola del buon democratico“, S. 71-88. Spezifischer über den Prozess vor Pilatus siehe J. BLINZER, Der Entscheid des Pilatus - Executionsbefehl oder Todesurteil?, „Münchner theologische Zeitschrift“, 1954, S. 171-184; Il processo contro Gesù, Hrsg. von F. Amarelli und Francesco Lucrezi, mit einem Vorwort von F.P. Casavola, Neapel, Jovene, 1999, S. 1-244. Zum Prozess siehe K. JAROŠ, In Sachen Pontius Pilatus, Mainz am Rhein, Verlag Philip von Zabern, 2002, S. 73-125. Zur Frage der Wahrheit siehe A. TORNO, Ponzio Pilato. Che cos’è la verità?, mit einem Beitrag von M. CACCIARI, Mailand, Bompiani, 2007, S. 3-32. Im Anhang mache ich auf die neue Auflage von A. FRANCE, Il procuratore della Giudea, italienische Übersetzung von A. Ginnasi, S. 71-88. Für Cacciari kommt die „dramatische Macht“ des Dialogs zwischen Jesus und Pilatus im Buch des Johannes von einer „unüberwindbaren Kluft“ zwischen Kulturen und Zivilisationen, also aus dem „Verhältnis zwischen den Unversöhnbaren“. 17

actoris, rei, iudicis.“20 Die Revolutionsordnung, welche nur als Recht angesehen wird, weil sie einem Befehl entstammt, strebt danach, den Prozess für ihre Zwecke zu missbrauchen. Satta schrieb Folgendes dazu:21 Man kann sagen, dass der antirevolutionäre, ewige Moment und Charakter nicht dem Prozess eigen ist, sondern bereits im Gesetz enthalten ist, welches dem Prozess vorangeht. Das wahre hieran ist, dass das Gesetz an sich nicht mit der revolutionären Handlung vereinbart werden kann – wer ein Gesetz will, negiert die Revolution. Wer dem aber auf dem Grunde geht bemerkt, dass die Wahrheit hier mehr Schein als Sein, oder wenigstens mehr Form als Substanz beinhaltet, weil sie sich hier nicht auf den inhaltlichen Aspekt eines Gesetzes, sondern stattdessen auf dessen Form und Funktion bezieht. Der Inhalt eines Gesetzes stellt immer eine Anordnung dar: diese ist definitionsgemäß eine willkürliche und allmächtige Handlung und will durchgesetzt werden. Demzufolge ist es nicht möglich, dass eine solche Handlung nicht gegenüber einer anderen, vorhergehenden Handlung einen revolutionären Akt darstellt. Als solche entzieht sie sich auch jediglicher Kritik, mit Ausnahme solcher politischer oder moralischer Art. In juridischer Hinsicht können nur Episoden kritisiert werden, die zeitlich vor einem gewaltsamen Machtwechsel, vor der Umwälzung der vorher bestehenden Rechtsordnung liegen. Man kann hier einwenden, dass der Inhalt des Gesetzes, also die revolutionäre Anordnung, es bedingt, dass sie im Prozess notwendigerweise angewendet wird – was den Tod des Angeklagten zur Folge hätte. Der Richter würde also töten bzw. den Befehl zum töten geben, weil er vom Gesetz dazu gezwungen wäre: er hätte also während des Prozesses keinen Handlungsspielraum. Die Entscheidung über das Töten würde also demnach im Gesetz und nicht im Prozess liegen. Um es in moderner Sprache auszudrücken würde es sich hierbei also um materielles Recht und nicht um Prozessrecht handeln. Wenn dies stimmen würde, so würde das hier behandelte Problem gar nicht existieren. Man kann natürlich nicht abstreiten, dass in dieser Sichtweise etwas Wahres liegt: der Richter muss sich nämlich mit der Gesetzeslage befassen, er kann dieses Element nicht unberücksichtigt lassen. Die Gesetzeslage ist jedoch nur ein Element unter mehreren – es ist nicht mehr nötig die Falschheit des 20

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S. SATTA, Il mistero del processo aus Soliloqui e colloqui di un giurista, Hrsg. von A. Mazzarella, Nuoro, Ilisso, 2004, S. 41 und 47 (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). Ein Teil dieser Passage wurde nicht zufälligerweise wiedergegeben in L. SCIASCIA, Porte aperte, Mailand, Adelphi, 200210. Aus dem Werk Sciascias kann man ein lebendiges Interesse für den Prozess herauslesen: seine Literatur fungiert sozusagen als Tribunal des Gewissens. Beim Lesen von Satta kann man nicht darauf verzichten, sich an einen Klassiker der amerikanischen Literatur zu besinnen, der voll und ganz an das Prozess gewidmet ist. Ich beziehe mich hiermit auf J. STEINBECK The moon is down, London, Penguin books, 2000 (1942), S. 1-112 (der Roman wurde von Einaudi 1948 übersetzt: ma siehe La luna è tramontata, it. Übersetzung von E.Albertini, Mailand, Mondadori, 2009, S. 7-182). S. SATTA, Il mistero del processo, Ebenda, S. 41f.

juridischen Sylogismus zu beweisen. Wenn die Gesetzeslage mehr als ein Element unter anderen wäre, so hätte es der Gesetzgeber nicht nötig, Revolutionsgerichtshöfe einzurichten nachdem er das Revolutionsgesetz erlassen hat. In Wirklichkeit tötet also nicht der Gesetzgeber bzw. das Gesetz, sondern der Richter, durch seinen Beschluss. Der Prozess ist in seiner totalen Autonomie dem Gesetz und dem Befehl gegenüberzustellen. Durch seine Autonomie löst er den Befehl auf, und zwingt sich sei es dem Empfänger des Befehls als auch jenem Organ oder Menschen auf, der den Befehl erlassen hat; hierbei findet der Prozess seinen „ewigen Moment“, der außerhalb jediglichem revolutionären Inhalt steht.

Die Geschichte der Rezeption Kelsens in Italien erschöpft sich nicht in einer Aufzählung von Autoren, Artikeln und Büchern, aus denen man mehr oder weniger klar und deutlich das Echo der reinen Rechtslehre heraushört. Sie stellt stattdessen in ihrem Kern die Reaktion einer bestimmten juridischen Tradition auf den Normativismus und seine Verbreitung dar. Der revolutionäre Prozess negiert sich selbst und verzichtet dadurch auf seine Autonomie. Das Juridische wird von Kelsen auf den Bereich des Normativen reduziert. Pontius Pilatus entzieht sich im Prozess gegen Jesus der Aufgabe, zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu entscheiden. „Justice,“ so Kelsen, „cannot be established by rational cognition.“22 Demnach kann nur der formelle Aspekt einer Norm Gegenstand der rationellen Erkenntnis sein. 1967 rezensierte Eugenio Montale den postum bei Einaudi erschienenen Roman des russischen Schriftstellers Michail Bulgakov Der Meister und Margarita. Für Montale ist es „ein Wunder, dass jedem zu Herzen gehen soll, dass 1940 ein Freigeist ein derartiges Werk schreiben und auch noch veröffentlichen konnte.“ „Es ist eine wahre Entdeckung solch ein tolles Buch zu finden.“ Der Protagonist – oder besser gesagt der Anti-Protagonist – dieses Romans von Bulgakov schreibt ein Buch über Pontius Pilatus, in der sich mit obsessiver Häufigkeit der Satz „Die größte Sünde ist die Feigheit“ wiederholt. „Bulgakov schrieb während der härtesten Jahre des Stalinismus. Er wurde ständig von der Vereinigung der proletarischen Schriftsteller gedemütigt.“ „Der Meister und Margarita ist letztendlich das Werk eines Mannes, welcher in einer klar definierten gesellschaftlichen Situation schrieb. Es gelang ihm, seine schriftstellerische Inspiration mit Hilfe von verhüllenden Vorwänden und Tricks auszudrücken. Vielleicht gelang es ihm gerade durch den handlungstragenden dämonischen Plan, die heftige Realsatire, welche sich durch den gesamten Roman zieht, zu verdecken und ihn somit für die Zensoren akzeptabel zu machen. Der Roman ist eine Allegorie: in ihm wird beschrieben 22

H. KELSEN, The metamorphoses of the idea of justice, aus Interpretations of Modern Legal Philosophies. Essays in Honor of Roscoe Pound, edited with an Introduction by P. Sayre, Oxford University Press, New York, 1947, S. 397. 19

wie eine Masse toter Seelen, nicht mehr Fronbauern, sondern nunmehr Diener eines unmenschlichen Systems, durch einen großen Betrüger, der seine Rolle gut spielen kann, beeinflusst und um den Finger gewickelt werden. Am Ende des Werkes wird noch auf die – in diesem Werk zentrale – mythisch-religiöse Grundlage des Ganzen eingegangen, nämlich auf eine unsichtbare Verbindung zwischen Luzifer und Gott dem Schöpfer, welche auf einer gegenseitigen Abhängigkeit oder auf einer Notwendigkeit gründet. Ich überlasse es den Theologen und den Häretikern die Natur dieser Verbindung zu untersuchen.“23 Der bizarre Teufel aus Bulgakovs Feder bringt das Leben der gewöhnlichen Menschen völlig durcheinander und unterwirft eine widerstandslose Menschheit seinem Willen.24 Dieser Teufel war beim Prozess gegen Jesus anwesend. In seinem ersten unheimlichen Auftritt behauptet er – welch ein sonderbarer Zufall! – mit Immanuel Kant gefrühstückt zu haben. So Montale: „Der Teufel ist die auffälligste Figur in diesem großen, postum veröffentlichten Roman dieses wiederentdeckten Schriftstellers. Er erscheint eines Morgens in Menschengestalt neben zwei Leuten, von denen einer gerade Beweise gegen die Existenz Gottes aufzählt. Der Teufel gesellt sich zu den beiden und gibt bekannt, dass er nicht die Meinung des Atheisten teilt. Er scheint ein Mensch mit großer Lebensweisheit zu sein. Zudem muss er auch schon ziemlich alt sein, da er angeblich mit Immanuel Kant gefrühstückt haben soll. Er war zudem sogar beim zweiten Verhör von Jesus durch Pontius Pilatus dabei. Darüber berichtet er in einem Kapitel welches vielleicht das Sonderbarste des ganzen Romans ist.“ In diesem „sonderbaren“ zweiten Kapitel des Romans richtet Pilatus folgende Frage an den Angeklagten, der Jeschua han-Nasris genannt wird: „Warum hast du auf dem Basar das Volk verwirrt, Landstreicher, indem du ihnen von der Wahrheit sprachst, von der du gar keine Vorstellung hast? Was ist Wahrheit?“25 Eine Schrift von Levi Matthäus, einem Zöllner der Jeschua überall hin folgte, dessen Worte niederschrieb aber dabei verfälschte, wird gegen den Angeklagten vorgelegt. Pilatus glaubte, dass Jeschua ein „offenkundig Verrückter“ sei.26 23 24

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E. MONTALE, Il maestro e Margherita, aus „Il Corriere della Sera”, 9. April 1967, S. 11 (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). Im zweiten Kapitel werde ich aufzeigen, dass der Kreis der italienischen Rechtsgelehrten den kelsenschen Normativismus auf ähnliche Art und Weise kritisiert hat, weil er die Menschheit als eine undefinierte Masse ansieht, welche ab libitum geformt werden kann. Ich verweise hierfür vor allem auf das nächste Kapitel. M. BULGAKOV, Der Meister und Margarita, Luchterhand, Darmstadt und Neuwied, 1973, S. 28. Ebenda, S. 41.

Trotzdem wird ihm seine Aufgabe als Richter im Prozess zur Last; auch quält ihn, der „Ritter der Goldenen Lanze“ und der Gedanke, dass die Seele unsterblich sein könnte. Jeschua lässt in ihm schließlich noch den Zweifel aufkommen, dass sein weiteres Leben, welches am seidenen Faden zu hängen scheint, nicht von seinem Urteil, sondern von einer höheren Kraft abhängt:27 „Wobei soll ich schwören?“, fragte der Gefangene lebhaft. „Meinetwegen bei deinem Leben“, antwortete der Prokurator, „bei ihm zu schwören ist höchste Zeit, denn wisse, es hängt an einem Haar.“ „Du meinst doch nicht, daß du es dort aufgehängt hättest, Hegemon?“, fragte der Arrestant. „Falls doch, so irrst du sehr.“ Pilatus zuckte zusammen und antwortete durch die Zähne: „Ich kann jedenfalls dieses Haar durchschneiden.“ „Auch daran irrst du“, widersprach der Arrestant mit freundlichem Lächeln und beschirmte sich mit der Hand gegen die Sonne. „Du wirst zugeben, dass es doch wohl nur der durchschneiden kann, der es aufgehängt hat?“

Bulgakovs Jesus gibt unumwunden zu, folgende Aussage gemacht zu haben: Von jeder Machtstruktur geschieht den Menschen Unrecht. Es wird eine Zeit kommen, in der „kein Kaiser noch sonst jemand Macht hat. Der Mensch wird eingehen in das Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit, wo es keiner Macht mehr bedarf.“28 In Bulgakovs Buch will Pilatus alleine mit Jeschua bleiben, nachdem er von ihm diese Worte vernommen hat. Er begründet seinen Wunsch damit, dass es sich hierbei um eine Staatsaffäre handle. Daraufhin schreit er den Gefangenen zornig an, dass das Reich der Wahrheit „niemals!“ kommen wird. 29 Und: „Meinst du, Unseliger, ein römischer Prokurator werde einen Menschen freilassen, der gesagt hat, was du gesagt hast?“ 30 Daraufhin bestätigt er die Verurteilung des Synedrion gegen Jeschua und überlässt sein eigenes Urteil über ihn dagegen dem Volk. Pilatus, der durch Kaifa angefeuert wird Jesus zu verurteilen, fühlt in seinem Innern eine „unerklärliche Schwermut.“31 Bulgakovs Pilatus, der die Wahrheit nicht kennt und Jesus für einen armen Narren hält, der skrupellose fünfte Prokurator von Galiläa, gibt seine Urteilsbefugnis freiwillig ab und enthält sich eines Urteils, genau wie auch der von France dargestellte Pilatus.

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Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 36. Ebenda, S. 37. Ebenda, S. 38. Ebenda, S. 42. 21

Für die normativistische Lehre ist die Gerechtigkeit ein „divine mistery.“ 32 Sie ist „nothing else but a euphemistical paraphrase of the painful fact that justice is an ideal inaccessible to rational cognition.“33

1.2. Ein irrationales Ideal.34 1947 erschien in einer Roscoe Pound gewidmeten Schriftensammlung ein Essay von Kelsen. Dieser Sammelband trug den Titel Interpretations of Modern Legal Philosophies und wurde von Oxford University Press herausgegeben. Kelsens Beitrag trug den Titel The metamorphoses of the idea of justice. Hierin behauptete Kelsen „the concept of law designates a specific technique of social organization, the idea of justice – a moral value.“ Auch schrieb er „justice is primarily the quality of a social order.” Gleich darauf wirft er folgende Frage auf: „But what does it really mean to say that a social order is just?“ Seine Antwort auf diese Frage ist:35 It means that this order regulates the behavior of men in a way satisfactory to all men, so that all men find their happiness in it. The longing for justice is man’s eternal longing for happiness. It is happiness that man cannot find alone, as an isolated individual, and hence seeks in society. Justice is social happiness; it is happiness guaranteed by a social order. In this sense one may say that a just man, and – as some moralists maintain – only a just man, is happy. Thus the question of justice is transformed into that of happiness.

Die Frage nach der Gerechtigkeit wird in eine Frage nach dem Glück umgewandelt. Kelsen weist in Folge darauf hin, dass „the happiness of the one is inevitably the unhappiness of the other.“ Als Beispiel hierfür stellt er den Fall von zwei Männern dar, die beide in die gleiche Frau verliebt sind. Er kommentiert diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Any solution of such conflict is possible only by sacrificing – wholly or partly – the happiness of one or both parties to the conflict.“ Weil die Gesellschaft für Kelsen von „conflicts of 32

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H. KELSEN, The metamorphoses of the Idea of Justice, Ebenda, S. 417. Eine bibliographische Auflistung der Werke Kelsens zur Thematik der Gerechtigkeit wurde von M. G. Losano erstellt; sie ist in H. KELSEN, Il problema della giustizia, Turin, Einaudi, 20003, S. XLIII-XLVII zu finden. H. KELSEN, The metamorphoses of the Idea of Justice, Ebenda, S. 397. Die Geschichte der Idee der Gerechtigkeit wird dargestellt in D. QUAGLIONI, À une déesse inconnue. La conception pré-moderne de la justice, Paris, Publications de la Sorbonne, 2003, S. 11-132, italienische Űbersetzung La giustizia nel medioevo e nella prima età moderna, Bologna, Il Mulino, 2004, S. 7-180. H. KELSEN, The metamorphoses of the Idea of Justice, Ebenda, S. 391.

interests“ durchzogen ist, kann man nicht erwarten, dass alle ihre Mitglieder glücklich sind. Man kann nur daran arbeiten „the greatest possible happiness of the greatest number of individuals“ zu erreichen. „Bentham's famous formula is not realizable if, by happiness, is meant a subjective value and if, consequently, different individuals have different ideas of what constitutes their happiness. The happiness that a social order is able to assure cannot be happiness in a subjective-individual (sense). It must be happiness in an objective-collective sense, that is, the satisfaction of certain needs, recognized by the social authority, the law-giver, as needs worthy of being satisfied, such as the need to be fed, clothed, housed, and the like.“ Die Gerechtigkeit ist also für Kelsen der menschliche Wunsch nach individueller Glückseligkeit. Deshalb: „the idea of happiness must radically change its significance in order to become a social category, the happiness of justice.“ Für Kelsen verbergen sich hinter der Idee der Gerechtigkeit sowohl Interessen als auch Interessenskonflikte. Man kann den Ursprung seines Gedankengangs erahnen, aber noch nicht völlig nachvollziehen. Daraufhin behandelt Kelsen die Idee der Freiheit, die seiner Meinung nach der Idee der Gerechtigkeit und der Idee der Glückseligkeit ähnelt. Die Idee der Freiheit muß sich aber wandeln, fast läutern: ursprünglich ist sie „genuine freedom“, Freiheit im anarchistischen Sinne. Von dieser Semantik muss sie sich lösen „to become a political principle.“ Folgendes Zitat von Kelsen macht verständlich, welcher Konzeption er hier folgt: „Since genuine freedom, that is, freedom from any kind of social authority or government, is incompatible with any kind of political organization, the idea of freedom must cease to mean absence of, it must mean a special form of government: government exercised by the majority, if necessary against the minority of the governed. The freedom of anarchy turns into the self-determination of democracy. Thus, the idea of justice is transformed from a principle guaranteeing the individual happiness of all the subjects into a social order protecting certain interests socially recognized as worthy of being protected.“36 Kelsen bezieht sich hier auf den Sozialvertrag von Jean-Jacques Rousseau, wie auch in Wesen und Wert der Demokratie. Auch in diesem Werk bezieht er sich auf den Autor. Er schrieb bereits 1920:37 Indem nun die Freiheit als politische Selbstbestimmung in der Demokratie sich nicht mehr auf das Individuum, sondern auf das Kollektivum des Volksganzen bezieht und so zur Volkssouveränität wird, zieht sich die individuelle Freiheit in die 36 37

Ebenda, S. 391f. H. KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Ebenda, S. 59. 23

Vorstellung der angeborenen und unveräußerlichen Menschen – und Bürgerrechte zurück, deren klassische Formulierung die große französische Revolution, diese ewige Quelle kontinentaler Demokratie, gebracht hat.

Weiters behauptete Kelsen mit Bezug auf Rousseau, dem „vielleicht bedeutendsten Theoretiker und Apostel der Demokratie“, dem „Freiheitsapostel“, dass die Freiheit der Anarchie sich in die Freiheit der Demokratie verwandelt. Kelsen sprach bereits 1920 von einer „Metamorphose des Freiheitsgedankens.“38 Bei dieser Metamorphose löst sich der Interessenskonflikt im Parlamentarismus auf. Im Parlament, in dem die verschiedenen Segmente der Gesellschaft proportionell vertreten sind, löst sich die Dialektik zwischen Mehrheit und Minderheit auf. In seinem Essay aus dem Jahre 1947 über die Metamorphosen der Gerechtigkeitsidee behauptet Kelsen, dass man angesicht des Interessenkonfliktes nicht „in a rational, scientific way“ entscheiden kann.39 Die Idee der Gerechtigkeit war für ihn „a social phenomenon“, „the product of a society“ und somit relativ und ohne Wahrheitsgehalt.40 Kelsen schrieb an einer hervorgehobenen Stelle seiner Metamorphoses:41 Since humanity is divided into many nations, classes, religions, professions and so on, often at variance with one another, there are a great many very different ideas of justice; too many for one to be able to speak simply of „justice.”

Die Idee der Gerechtigkeit ist für Kelsen an das Naturrecht geknüpft, das von der Vernunft des Menschen oder von Gott ausgeht. Gottes Wille ist aber nicht ergründbar – die Vernunft kann nicht in Ebenen vordringen, die ihr nicht zugänglich sind. Kelsen kritisierte seit seinen Hauptproblemen aus dem Jahre 1911 das Naturrecht. 1947 meinte er dazu Folgendes:42 Faced by the existence of a just ordering of society, intelligible in nature, reason, or divine will, the activity of positive law-makers would be tantamount to a foolish effort at artificial illumination in bright sunshine. Were it is possible to answer the question of justice as we are able to solve problems of the technique of natural science or medicine, one would as little think of regulating the relations among men by positive law, i.e. by an authoritative measure of coercion, as one thinks today of forcible prescribing by positive law how a steam engine should be built or a specific illness healed. If there were an objectively recognizable justice, there would be no positive law and hence no State; for it would not be necessary to coerce people to be 38 39 40 41 42 24

Ebenda, S. 53, 54 und 55. H. KELSEN, The metamorphoses of the Idea of Justice, Ebenda, S. 392. Ebenda, S. 394. Ebenda, S. 395. Ebenda, S. 396 und 397.

happy. The usual assertion, however, that there is indeed a naturally good order, but transcendental and hence not intelligible, that there is such a thing as justice, but that it cannot be clearly defined, is in itself a contradiction. It is, in fact, nothing else but a euphemistical paraphrase of the painful fact that justice is an ideal inaccessible to rational cognition.

Wenn die Ordnung der Natur entschlüsselbar wäre, wenn Gott sich offenbaren würde, wenn die Gerechtigkeit nicht eine Idealvorstellung, sondern eine konkrete Wesenheit wäre, dann bedürfte es nicht des positiven Rechts. Metaphorisch ausgedrückt würde man kein künstliches Licht benötigen, wenn man unter strahlender Sonne stünde. Für Kelsen ist die Gerechtigkeit „regarded from the point of view of rational cognition“ wie gesagt nicht erkennbar – „there are only interests, and hence conflicts of interests.“ Daraus ensteht das Bedürfnis nach einer reinen Rechtslehre, welche nicht für den einen oder den anderen Standpunkt Partei ergreift, sondern sich darauf beschränkt, das Recht so zu beschreiben „as it is“ und die zudem „declines to evaluate positive law.“43 In den Metamorphoses tritt erneut die Idee des „compromise between the opposing interests“ auf, welche in Vom Wesen und Wert der Demokratie einen dominanten Platz einnahm. Durch Kompromisse entsteht nämlich sozialer Frieden.44 In den Metamorphoses beschäftigt sich Kelsen mit juridischer Ideengeschichte: Er versucht, Ursprünge und Werdegang menschlicher Ideen über die Gerechtigkeit zu ergründen und beschäftigt sich hierbei mit Platon, Aristoteles, Ulpianus, Augustinus, Thomas von Aquin – dann folgt ein großer Zeitsprung bis hin zu Immanuel Kant. Kelsen kritisierte an der „rationalistic philosophy of justice“ von Aristoteles dessen Idee des rechten Maßes, also die sogenannte mesótes. Laut Kelsen kann man in der Ethik nicht mathematisch-geometrische Verfahren einsetzen, die zum Instrumentarium der Naturwissenschaften gehören. Aristoteles Lehre des rechten Maßes war für Kelsen eine „empty tautology“: in ihrer Behauptung, dass die Tugend auf halbem Wege zwischen zwei Extremen, zwischen zwei Lastern liege, schweigt sich diese Lehre darüber aus, was denn eigentlich Laster und was Tugend und was somit Gut und Böse sei. Die Antwort auf diese Frage muss man laut Aristoteles im „given social order“ und bei der „authority of the positive morality and the positive law“ suchen. 45 Kelsen kritisiert Aristoteles, der in seiner Nikomachischen Ethik einen Dualismus zwischen nóminon und díkaion aufrechterhalten hatte, „but only to identify positive law with justice, to justify 43 44 45

Ebenda, S. 397. H. KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Ebenda, S. 60f. H. KELSEN, The metamorphoses of the Idea of Justice, Ebenda, S. 403. Man vergleiche mit H. KELSEN, Das Problem der Gerechtigkeit, Anhang zu Reine Rechtslehre, zweite, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Wien, Deuticke, 1960, S. 357-401. 25

the nóminon as díkaion.“ Die Idee der Gerechtigkeit, welche Kelsen von sich weist, strahlte für Aristoteles schöner als der Abendstern: die auf das kantsche Modell der mathematisch-formellen Erkenntnis reduzierte Rechtswissenschaft bemüht sich die Mathematik zu emulieren, die für Kant und die Neukantianer das Paradigma der Erkenntnis darstellt. Mit ähnlichen Argumenten kritisierte Kelsen das jus suum cuique tribuere, eines der drei juris principia.46 Hier fragte er sich „what is everybody’s due?“47 Das auch von Cicero verwendete römische Rechtsparadigma war für Kelsen leer und inhaltslos.48 Die Worte des Thomas von Aquin zum Thema waren für Kelsen Tautologien: Der große Scholastiker hatte gesagt, dass „iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum unicuique tribuens.“ (Summa theologiae, IIa-IIae, q. LVIII, a. 1).49 Dann folgte der große Zeitsprung hin zu Immanuel Kant. Dessen kategorischer Imperativ, den der Königsberger Philosoph in seiner Grundlegung formuliert hatte, überzeugt den Wiener Juristen nicht – auch dieser auf die Pflicht gründende Imperativ, an dem sich die Handlungsmaxime ausrichtet, scheint ihm ein Übrigbleibsel des Naturrechts zu sein. Kelsen fragt sich „what are the principles which one can – and that means ought to – will to be binding on all men, the maxims which should become a universal law?“ 50 Für Kelsen 46 47

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Man siehe F. SCHULZ, Prinzipien des römischen Rechts, Duncker & Humboldt, Berlin, 1934. Dig., 1,1,10 in Corpus iuris civilis, I, Institutiones Recognovit P. Krueger. Digesta, recognovit Th. Mommsen, retractavit P. Krueger; Berolini Weidmann, 196317 (rist. Hildesheim, 198824), p. 29: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. Iuris prudentia est divinarum ac humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia.” Man siehe W. WALDSTEIN, Das Naturrecht und die Grundlagung seiner Erkenntnis im Römischen Recht, aus J. SEIFERT, Wie erkennt man Naturrecht?, Heidelberg 1998, S. 35-63; W. WALDSTEIN - M. J. RAINER, Römische Rechtsgeschichte, München, Verlag C.H. Beck, 2005, S. 1-259. CICERO, De inventione, II, 53, 160, G. Achard, Paris, Les Belles Lettres, 1994, S. 225; CICERO, De finibus bonorum et malorum, V, 23, 65, J. Martha, Paris, Les Belles Lettres, 1967, II, S. 150. Man siehe D. QUAGLIONI, La giustizia nel Medioevo e nella prima età moderna, Ebenda, S. 40-41. H. KELSEN, The metamorphoses of the Idea of Justice, Ebenda, S. 405 und 411. Man vergleiche mit H. KELSEN, Das Problem der Gerechtigkeit, Ebenda, S. 374. Kelsen zitiert eine Stelle in der Summa theologiae (Ia-IIae - q. XCIV, a. II), die besagt dass „Hoc est ergo primum praeceptum legis, quod bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum; et super hoc fundantur omnia alia praecepta legis naturae“. H. KELSEN, The metamorphoses of the Idea of Justice, S. 411. Man vergleiche mit H. KELSEN, Reine Rechtslehre, Ebenda, S. 268-274.

verstecken sich die „Normen der Gerechtigkeit“ auch hinter der goldenen Regel, hinter dem Prinzip „Gutes tun und Schlechtes vermeiden“, sowie hinter den anderen aufgezählten Postulaten.51 Kelsen wiederholte immer wieder, dass die Gerechtigkeit nicht erkennbar sei; die Gerechtigkeitsvorstellungen werden von gesellschaftlichen Autoritäten erzeugt, oder sie sind, was noch schlimmer ist, rein subjektive Annahmen. 1926 griff Kelsen in eine Debatte mit dem Titel Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichverfassung ein, polemisierte mit Kaufmann und schrieb zum Thema:52 Die Frage, die auf das Naturrecht zielt, ist die ewige Frage, was hinter dem positiven Recht steckt. Und wer die Antwort sucht, der findet, fürchte ich, nicht die absolute Wahrheit einer Methaphysik noch die absolute Gerechtigkeit eines Naturrechts. Wer den Schleier hebt und sein Auge nicht schließt, dem starrt das Gorgonenhaupt der Macht entgegen.

Kelsen behauptete „ich bin Positivist, noch immer und trotz allem Positivist“, und nahm an, dass der Weg der Menschheit zur Gerechtigkeit zu einem „radikalen Subjektivismus“ führen würde.53 Er präzisierte dies 54 folgendermaßen : Bekenntnis ist Ausdruck subjektiver Anschauung. Dieser Weg führt aber nicht zu der Metaphysik, sondern zu vielen, voneinander sehr verschiedenen Metaphysiken, und daher auch nicht zu dem Naturrecht, als einer objektiven, eindeutig bestimmten Ordnung, sondern zu vielen, voneinander sehr verschiedenen, einander entgegengesetzter Naturrechten. Sucht man aber aus diesem Chaos subjektiver Metaphysiken einen Ausweg, so gelangt man notwendigerweise auf den Boden einer positiven Religion. Ich mőchte mit grőßtem Nachdruck betonen, daß es eine objektive Metaphysik und sohin auch ein objektives Naturrecht als ein System materialer Wertprinzipien nur auf dem Boden einer positiven Religion gibt. Eine „positive“ Religion ist aber eine in historischen Tatsachen manifestierte, durch einen Propheten, Heiland usw. geoffenbarte Religion. Zwischen positiver, geoffenbarter Religion und positivem, d. h. gesetztem, in historischen Akten geoffenbartem Recht besteht weitgehende Analogie. Und so bedeutet der Rekurs von dem positiven Recht an das Naturrecht keineswegs eine „Űberwindung des Positivismus“, sondern nur di Ersetzung des einen Positivismus durch den andern. An Stelle des positiven Rechts wird die positive Religion als hőchste Autorität anerkannt.

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H. KELSEN, Das Problem der Gerechtigkeit, Ebenda S. 357-401. Man siehe H. KELSEN, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichverfassung, „Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatslehrer“, Heft 3, Berlin und Leipzig, 1927, S. 55. Ebenda, S. 54f. Ebenda, S. 54. 27

Der Bezug auf das Naturrecht erscheint Kelsen als eine Scheinheiligkeit, hinter der sich Politik, Religion sowie die Bestrebungen des Individuums verbergen. Im Anhang der zweiten Ausgabe der Reinen Rechtslehre aus dem Jahre 1960 erschien ein Beitrag mit dem Titel Das Problem der Gerechtigkeit; hierin kritisierte Kelsen erneut die „Normen der Gerechtigkeit.“ Auch in diesem Beitrag wird die schrankenlose Sorghaftigkeit und die Befürchtungen bezüglich des Subjektivismus laut. Er schließt mit einer Religionskritik. Verschiedene Gerechtigkeitsauffassungen werden kritisiert, wobei Kelsen mit einer Kritik der rationalistischen Auffassungen beginnt und bei den sogenannten metaphysischen Konzeptionen endet. Einen Abschnitt widmete er „der Gerechtigkeit der Liebe Gottes.“ Die von Jesus gelehrte Liebe liegt für Kelsen „jenseits jeder in einer gesellschaftlichen Realität möglichen Ordnung.“ „Die Liebe, die Jesus lehrt, ist nicht die Liebe des Menschen. Es ist die Liebe, durch die der Mensch so vollkommen werden soll wie sein Vater im Himmel.“ Die Gerechtigkeit bleibt „in der verborgenen Weisheit Gottes“ isoliert. Die Liebe, die Jesus lehrt (ein unbekannter, nie in der Menschheitsgeschichte aufgetauchter Jesus) liegt „jenseits verstandesmäßiger Erkenntnis.“ „Sie ist ein Geheimnis, eines der vielen Geheimnisse des Glaubens.“55 Die einzige Gerechtigkeit, die die Menschen kennen, ist für Kelsen die „relative“ Gerechtigkeit. Sie steht im Gegensatz zur übermenschlichen „absoluten Gerechtigkeit.“ Er erläuterte dies folgendermaßen:56 Die Gerechtigkeit, nach der die Welt schreit, „die“ Gerechtigkeit par excellence, ist daher die absolute Gerechtigkeit. Sie ist ein irrationales Ideal. Denn sie kann nur von einer transzendenten Autorität, nur von Gott ausgehen. Daher muß die Quelle der Gerechtigkeit, damit aber auch ihre Verwirklichung von dem Diesseits in das Jenseits verlegt, muß auf Erden mit einer bloß relativen Gerechtigkeit vorlieb genommen werden, die in jeder positiven Rechtsordnung und in dem von ihr mehr oder weniger gesicherten Friedens- und Sicherheitszustand erblickt werden kann. An Stelle des irdischen Glückes, um dessentwillen Gerechtigkeit so leidenschaftlich gefordert wird, das aber keine relativ-irdische Gerechtigkeit garantieren kann, tritt die überirdische Glück-Seligkeit, die die absolute Gerechtigkeit Gottes denen verspricht, die an ihn und damit an sie glauben. Das ist die List dieser ewigen Illusion.

Ähnliche Worte schrieb Kelsen bereits 1947: damals erinnerte er daran, dass „the Sophists had sceptically denied the existence of an absolute justice“ und dass Sokrates sich schließlich gezwungen sah zuzugeben, dass er nicht wusste 55 56 28

H. KELSEN, Das Problem der Gerechtigkeit, Ebenda, S. 400f. Ebenda, 401.

was die Gerechtigkeit sei. Somit führt die Suche nach der Gerechtigkeit laut Kelsen zu einem metaphysischen Absolutismus, zu einem „religious mysticism“, ohne dabei aber die Frage „was ist Gerechtigkeit?“ zu beantworten.57 Der „divine mistery“, die Gerechtigkeit, ist für Kelsen die Religion. Das Problem der Gerechtigkeit wird in der „Reinen Rechtslehre“ wie ein unerwünschter Gast eines Festes draußen vor der Türe stehen gelassen, um es mit einer treffenden Metapher von Losano auf den Punkt zu bringen. 58 Diese Metapher definiert die Sachlage richtig; diese Gerechtigkeit, welche ein unerkennbares Geheimnis ist, das von einem entfernten Gott verborgen gehalten wird, stellt eine höhere Ordnung dar als das positive Recht 59 Kelsen nimmt die Konzeption der Gerechtigkeit aus der Rechtsordnung, nimmt Gott und die Religion, die Psychologie, die Politik, die Soziologie usw. aus dem Spiel. Weil die Wahrheit für den Menschen nicht zugänglich ist, kann sich dieser auch mit der abstrakten erkennbaren Form zufriedengeben – hier wird Kants Erbe sichtbar. Der Jurist kennt die Norm, beschreibt sie und enthält sich eines Werturteils über das positive Recht. Religion steht hier an erster Stelle für das Gewissen, dann erst für die positive Religion.60 Der Jurist kelsenscher Façon muss aber nicht darauf 57

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H. KELSEN, The metamorphoses of the Idea of Justice, Ebenda, S. 418. Man siehe auch H. KELSEN, Was ist Gerechtigkeit?, Wien, Deuticke, 1953, S. IV-47. What is Justice? war der Titel der letzen Lektion Kelsens an der Universität von Berkeley am 17. Mai 1952 und stellte sein intellektuelles Testament dar. Kelsen bekennt dass er auf die Frage „was ist Gerechtigkeit?“ keine Antwort gegeben hatte. (S. 47) So Kelsen: „Und in der Tat, ich weiß nicht und kann nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolute Gerechtigkeit, dieser schöne Traum der Menschheit. Ich muß mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist. Da Wissenschaft mein Beruf ist und sohin das Wichtigste in meinem Leben, ist es jene Gerechtigkeit, unter deren Schutz Wissenschaft, und mit Wissenschaft Wahrheit und Aufrichtigkeit gedeihen können. Es ist die Gerechtigkeit der Freiheit, die Gerechtigkeit des Friedens, die Gerechtigkeit der Demokratie, die Gerechtigkeit der Toleranz.“ Wenn es doch einen Richtungswechsel im Denken Kelsens gibt, so muss man ihn auf diesen Seiten, in diesen seinen Bekenntnissen suchen. M. G. LOSANO, Introduzione zu H. KELSEN, Il problema della giustizia, Ebenda, S. XII. Man siehe von Losano auch Forma e realtà in Hans Kelsen, mit einer Einleitung von R. Treves, Mailand, Comunità, 1981, S. 13-175 (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). Man siehe A. SPADARO, Contributo per una teoria della Costituzione, Ebenda. (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). Laut Spadaro glaubte Kelsen nicht „an das Vorhandensein eines Gewissens im Menschen” (S. 211 und S. 245ff). Hier sei an eine den Metamorphoses sehr ähnliche Schrift erinnert, welche bereits 1936 in Frankreich mit dem emblematischen Titel L’âme et le droit erschien, und zwar im 29

zurückgreifen, weil es nicht seine Aufgabe ist zu unterscheiden: Die Gesellschaft spiegelt sich nämlich im Parlament wider, in dem deren Interessenskonflikte gelöst werden.

1.3. Weiteres zu Wesen und Wert der Demokratie. Vom Wesen und Wert der Demokratie erschien zur selben Zeit, als die österreichische Verfassung von 1920 in Kraft trat. Kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges wurde Kelsen vom damaligen ersten österreichischen Staatskanzler Karl Renner dazu berufen, sich an der Erstellung der Verfassung zu beteiligen. 61 Kelsens Denken ist stark von Karl Renner beeinflusst worden. Renner verfasste das grundlegende Gesetz vom 30. Oktober 1918. In diesem wurde behauptet, dass das österreichische Volk mittels seiner Vertreter in der (damals provisorischen) Nationalversammlung die Souveränität im Staate ausübte. Renner befürwortete den Primat der Legislative und den Primat Wiens bzw. des Zentrums gegenüber den Ländern, sowie die Ersetzung des territorialen durch das persönliche Wahlrecht. Der Ausdruck „Kompromiss“ findet sich häufig in Schriften von Renner, sowie ihm und Kelsen nahestehenden Autoren wie Eduard Bernstein und Otto Bauer. In seiner Schrift Das Problem des Parlamentarismus behauptete Kelsen, dass er „die Freiheit der Demokratie, also die Freiheit des Kompromisses, die Freiheit des sozialen Friedens“ befürworte. Nachdem er die kantianischen Prämissen seiner Rechtslehre mit der politischen Theorie des parlamentarischen Kompromisses verbunden hatte, behauptete er Folgendes: „So wie der Verzicht auf die kühnen und trügerischen Hoffnungen metaphysischer Spekulation immer wieder von neuem erzwungen wird, so oft der menschliche Geist vergeblich gegen die ehernen Schranken stőßt, die der Erkenntnis gezogen sind, so sucht die von messianischen Heilsversprechungen ihrer verschiedentlichen Diktatoren in blutige Gewaltfrohn verführte Menschheit immer wieder den Weg in den Frieden eines sozialen Ausgleichs. Denn schließlich und endlich bleibt uns Menschen ja doch nichts anderes übrig, als daß wir uns, wie in unserem Erkennen bescheiden, so in unserem sozialen Streben vertragen.“62

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„IIe Annuaire de l’Institut international de philosophie du droit et de sociologie juridique“, Paris, Recueil Sirey, 1936, S. 1-62. Man siehe S. LAGI, Il pensiero politico di Hans Kelsen (1911-1920). Le origini di Essenza e valore della democrazia. Mit einer Einleitung von Lea Campos Boralevi, Genua, Name, 2007, S. 125-159. (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). Man siehe H. KELSEN, Das Problem des Parlamentarismus, Wien-Leipzig, Braumüller, 1925, S. 43f.

Die Idee des Kompromisses verwirklicht sich im Parlament, in dem sich der einzigste dialektische Prozess vollzieht, den Kelsen anerkennt: jener zwischen Mehrheit und Minderheit. Die Idee der Freiheit ist zunächst anarchistisch, dann sozial. Aus letzterer entstammt das Mehrheitsprinzip, aus dem wiederum die Idee des Kompromisses entsteht. Kelsen verteidigte das Mehrheitsprinzip: „Das Majoritätsprinzip wird abgelehnt, weil – zu Recht oder mit Unrecht – das Kompromiss abgelehnt wird, dem das Majoritätsprinzip die Voraussetzung schafft. Gerade weil das Kompromiss nur die reale Annäherung an die von der Idee der Freiheit geforderte Einstimmigkeit in der Erzeugung der sozialen Ordnung durch die dieser Ordnung Unterworfenen ist, bewährt sich das Majoritätsprinzip auch nach dieser Richtung im Sinne der Idee der politischen Freiheit.“63 Im November 1918 – der Prozess der institutionellen Wandlung in Österreich hatte gerade erst begonnen – lud Renner Kelsen dazu ein, an der Diskussion über die zu wählende verfassungsgebende Versammlung teilzunehmen. Beide betrachteten jedigliche Form von juridischem und institutionellem Pluralismus mit Misstrauen. Sie hofften, die Krise Österreichs nach dem Ende des Ersten Weltkrieges durch einen Zentralstaat in den Griff zu bekommen, der auf dem Primat des Parlaments gründete und seine Ziele durch ein instrumental aufgefasstes Recht erreichen sollte. 1899 schrieb Renner unter dem Pseudonym Synopticus ein Essay mit dem Titel Staat und Nation, dessen Grundannahmen in seinem 1917 erschienen Werk Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bestätigt wurden.64 Vor nicht langer Zeit bemerkte Sara Lagi, dass „Renner klar ausgedrückt hatte, dass der Übergang vom ‚Territorialprinzip’ zum ‚Persönlichkeitsprinzip’ durch die ‚Verrechtlichung der Nation’ erfolgte, wenn diese also nicht mehr als eine ‚natürliche’ oder ‚gegebene’ Tatsachen angesehen wird, deren jeweiliger status quo auf brutale Machtverhältnisse gründet, sondern als eine auf Recht gegründete Tatsache. Diese Transformation kann laut Renner nur innerhalb eines Staatsgefüges erfolgen.“65

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H. KELSEN, Das Problem des Parlamentarismus, Ebenda, S. 38f. SYNOPTICUS [K. RENNER], Staat und Nation. Staatsrechtliche Untersuchung über die möglichen Prinzipien einer Lösung und die juristischen Voraussetzungen eines Nationalitäten-Gesetzes, Wien, J. Dietl Verlag, 1899, S. 1f . S. LAGI, Il pensiero politico di Hans Kelsen (1911-1920). Le origini di Essenza e valore della democrazia, Ebenda, S. 133f (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). 31

Die Nation war für Renner eine Kulturgemeinschaft. Sie müsse sich läutern und zu einem souveränen Staat wachsen. Renner selbst gibt uns hier eine Definition von dem, was er unter dem Begriff „Staat“ versteht:66 Der Staat ist souveräne Gebietskőrperschaft. Nothwendige Begriffsrequisite sind: 1. Bevőlkerung, 2. Organisation derselben, so dass diese nicht ein bloßes Aggregat von Individuen bleibt, sondern neben den Einzelzwecken Gesammtzwecke zur Geltung kommen, welche Organe zur Bildung des Gesammtwillens und Organe zu dessen Realisation hervorrufen. Dieser Gesammtwille deckt sich nicht mit dem Einzelwillen aller Staatsangehőrigen, ist also nicht allgemeiner Wille: sonst bedürfte er nicht der zwangsweisen Durchsetzung gegen Widerstrebende.

Weiters schrieb Renner Folgendes: Er ist der Ausdruck des Willens der jeweils herrschenden Interessengruppen. 3. Souveränität dieses Gesammtwillens. 4. Ausschließliche Herrschaft dieser souveränen Kőrperschaft über ein Gebiet.

Die Nation hingegen besteht aus einer kulturellen Gemeinschaft, sie ist nicht an ein bestimmtes Territorium gebunden und besteht somit aus einem gleichartigen Denken und Fühlen ihrer Mitglieder, aber nicht aus einem organisierten „Gesammtwillen.“67 Renner stellt sich die Frage, wie der souveräne Staat seinen Willen durchsetzen kann. Seine Antwort lautet folgendermaßen: „Es erklärt sich aus den Existenzbedingungen des Staates und der Nation. Der Staat lebt durch das Recht: Sein Leben besteht in der Bildung des Gesammtwillens, dem er durch rechtliche Imperative den Einzelwillen unterwirft.“ Hierzu erläutert er: „die Umsetzung des Einzel - in Gesamt - und des Gesamt - in Einzelwillen geschieht nicht mechanisch, automatisch, wie sich Naturkräfte durchsetzen, sondern durch das Medium der Menschen: der Gesamtwille muß, um wirksam zu werden, den sprachlichen Ausdruck annehmen, dieser selbst wendet sich an das menschliche Erkenntnisvermögen.“68 Mittels des Rechts lenkt der Staat das Verhalten des Einzelnen in bestimmte Bahnen. Im Unterschied zum „primitiven Staat des Mittelalters“, der keine unmittelbaren Beziehungen zu seiner Bevölkerung hatte, sondern nur mit den Patrimonialherren, also einem verschwindenden Teil der Bevölkerung, über wenige Dinge direkt kommunizierte, sind in dem Staate von Renner „die faktischen Beziehungen“ zwischen den Menschen „von einer ungeheueren 66

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SYNOPTICUS [K. RENNER], Staat und Nation. Staatsrechtliche Untersuchung über die möglichen Principien einer Lösung und die juristischen Voraussetzungen eines Nationalitäten-Gesetzes, Ebenda, S. 13. Ebenda. Ebenda, S. 14.

Comliciertheit geworden.“ „Und alle diese factischen Beziehungen regelt der Staat und macht sie zu Rechtsverhältnissen. Für alle hat er seine spezifische Bezeichnung. Die rechtliche Terminologie allein ist ein kaum zu bewältigendes Begriffssystem geworden. In dieser Form tritt der staatliche Befehl an jedes einzelne Individuum heran.“69

1.4. 1947: Kelsenism. In seiner Vorrede zur ersten Ausgabe der Hauptprobleme (1911) schrieb Kelsen:70 Meine Untersuchungen stehen unter der Annahme der beiden grundlegenden Gegensätze, die Sein und Sollen, Inhalt und Form trennen.

Daraus entstünde „ein unleidlicher Zwiespalt“ zwischen „Ich und Welt, Seele und Leib, Subjekt und Objekt, Form und Inhalt.“ Diese „ewige Zweiheit“ kann nicht verborgen werden.71 Kelsen behauptete, eine actio finium regundorum durchzuführen, um die Rechtswissenwissenschaft von psychologischen und soziologischen Elementen zu befreien. 72 Dafür habe er seine „geistige Bewegungsfreiheit“ auf schmerzvolle Art und Weise einschränken müssen. „Kaum eine andere Disziplin, ist so sehr der Gefahr ausgesetzt, ihre Kompetenz zu überschreiten, als gerade die Jurisprudenz.“ 73 Somit muss ein Rechtwissenschaftler, der ein widerspruchsfreies System erschaffen will, sich selbst einschränken. Diese Vorrede beinhaltet auch eine Unterscheidung zwischen dem Naturgesetz (mit dem sich bestimmte erklärende, explikative Wissenschaften beschäftigen), welches von der kantschen Kategorie der Kausalität bestimmt wird, und dem juridisch-normativen Gesetz (mit welchem sich die Rechtswissenschaft befasst), welches vom Sollen bestimmt wird. Die Reine Rechtslehre beschäftigt sich mit dem normativen Aspekt des Rechts. Ihr Ziel ist nicht „kausale Erklärung des tatsächlichen Geschehens, also die Erkenntnis von Naturgesetzen“, sondern die Erfassung von Normen. 74 Die

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Ebenda, S. 14 und 15. H. KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen, Mohr (Paul Siebeck), 1911, S. V. Ebenda, S. VI. Ebenda, S. V. Ebenda, S. VII. Ebenda, S. VI und VII. 33

Wirklichkeit gehört nicht zum Untersuchungsbereich der Reinen Rechtslehre, und ebenso wenig Psychologie, Soziologie und Rechtsgeschichte:75 Die Rechtsgeschichte fällt dabei außer Betracht. Diese ist ein Zweig der historischen Disziplinen und als Kausalwissenschaft weit mehr mit der Naturwissenschaft und der Psychologie verwandt als mit der Jurisprudenz oder mit der Ethik. Vom methodologischen Standpunkte aus betrachtet, besteht zwischen Rechtsgeschichte und dogmatischer Jurisprudenz oder Rechtsphilosophie – wenn man die Gewinnung der Grundbegriffe so nennen will – keinerlei Verbindung, und nun sehr äußerlich ist die Beziehung, die beide Disziplinen in einen gemeinsamen Rechtswissenschaften vereinigt.

So Kelsen: „Zu weitestgehender Selbstbeschränkung ist der wissenschaftliche Jurist gezwungen, wenn er ein von inneren Widersprüchen freies System, wenn er logisch haltbare Grundbegriffe haben will.“76 Der Jurist muss sich auf die Betrachtung der Norm beschränken, denn nur so kann der ganze Komplex der juridischen Konstruktion erhalten bleiben, was eine unabdingbare Vorraussetzung für „jenes logisch-geschlossene System einheitlicher“ ist.77 In der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Hauptprobleme (1923) wendet sich Kelsen vor allem gegen das Naturrecht, das „die Rechtstheorie aus dem Bereiche positiver Rechtssätze in den der ethisch-politischen Postulate zieht.“78 Kelsen bezieht sich auf Kant, um seinen Gegensatz zwischen Sein und Sollen sozusagen philosophisch zu erhöhen. Außerdem kritisiert er die Kausalgesetzlichkeit, polemisiert gegen die Imperativtheorie und postuliert die Neutralität des hypothetischen Urteils. „Verknüpft das Naturgesetz Ursache und Wirkung mit der Notwendigkeit eines keine Ausnahme duldenden Müssens, setzt das Rechtsgesetz die Synthese des bedingenden und des bedingten Tatbestandes mit der nicht geringeren Strenge des Sollens.“79 Kelsen behauptete, 75 76 77

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Ebenda, S. VII. Ebenda, S. VIII. Ebenda, S. XI. 1911 hatte Kelsen noch nicht seine Stufenbautheorie entwickelt, an deren Spitze sich die sogenannte Grundnorm befindet, welche sein System sozusagen abschließt. Durch diese Norm der Normen kann Kelsen sozusagen Tatsachenkraft bzw. konkrete politische Macht in Rechtskraft verwandeln. Auch ist sie der Kitt zwischen Statik und Dynamik des Rechts. Kelsen kam durch Adolf Merkl auf die Idee der Grundnorm. Er erwähnte dieses Konzept zum ersten Mal 1914 erwähnt in H. KELSEN, Reichsgesetz und Landesgesetz nach der österreichischen Verfassung, aus „Archiv des öffentlichen Rechts“, 1914, S. 202-245 und 390-438 erwähnt. Man siehe M.G. LOSANO, Forma e realtà in Kelsen, Ebenda, S. 28-32 (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). H. KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen, Mohr, 1923, S. V. Ebenda, S. VI.

„die Objektivität der Geltung“ zu suchen, „mit der allein wie Gesetzlichkeit überhaupt so auch Rechtsgesetzlichkeit auftreten kann.“ Zudem meinte er, dass „ohne Rechtsgesetz aber keine Rechtskenntnis, keine Rechtswissenschaft. Darum objektives Urteil, nicht subjektiver Imperativ.“ Kelsen sprach sich für die Eingliederung des subjektiven Rechts in die Sphäre des objektiven Rechts aus, um einen „unzulässigen Dualismus“ innerhalb „eines einheitlichen Erkenntnissystems“ zu überwinden. „Die Betonung des Rechtspflichtbegriffes ist hier von größter Bedeutung.“80 Kelsen greift auch die Dialektik zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht an, weil er sie für eine „Maske“ hält, „hinter der gewisse politische, d.h. aber naturrechtliche Elemente in die Darstellung des positiven Rechtes einschleichen.“81 Er setzt an Stelle der Kausalität das Prinzip der Zurechnung (zum Staate). 82 Die Zurechnung ist die Verbindung, „die zwischen den innerhalb des Rechtssatzes zusammengefassten Elementen besteht, jene Verbindung, die grammatisch durch das ‚Soll’ aufgestellt wird.“ In der Vorrede integriert Kelsen das Zurechnungsprinzip mit der Möglichkeit der Zurechnung eines Tatbestandes zu einer Person. Vor allem bezieht er sich hier auf den als Person aufgefassten Staat, auf den Staat als Willen. Dieser Wille ist nicht unreiner, „psychischer Art“, der den Gegenstand kausal-wissenschaftlicher Erkenntnis bildet.“ Er ist hingegen Ausdruck für „die Einheit des rechtlichen Sollens.“ Die „scharfe Scheidung“ zwischen dem Begriff des rechtlichen Wollens (Sollen) und dem psychologischen Begriff des Wollens ist sehr wichtig, um die Verunreinigung der Rechtslehre durch psychologische und soziologische Elemente zu vermeiden. „Von dem psychischen Akte des Wollens, insbesondere auch des

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Ebenda, S. VII und VIII. Ebenda, S. VIII. Man vergleiche mit der Vorrede zur ersten Ausgabe der Hauptprobleme (1911), Ebenda, S. X. So Kelsen: „Allein, meine Arbeit wird vielleicht zeigen, daß ich nicht das Privatrechtssystem ungegebührlich überspannt, sondern daß ich das Staatsrecht weit über seine bisherigen Grenzen ausgedehnt habe, daß ich nicht auf dem Standpunkte stehe: Alles Recht ist Privatrecht, - sondern gerade umgekehrt, den Grundsatz vertrete: Alles Recht ist Staatsrecht.“ Man vergleiche mit H. KELSEN Allgemeine Staatslehre, Berlin-Heidelberg-New York, Springer-Verlag, 1925, S. 55. In Folge werde ich auf den ersten Artikel von Kelsen eingehen, der in italienischer Sprache erschienen ist: er trägt den Titel Diritto pubblico e privato (1924). H. KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtlehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1923), Ebenda, S. IXf. Man vergleiche mit H. KELSEN, Causality and Imputation, „Ethics“, 1950, S. 1-11. 35

Wollens der Norm scheidet sich deutlich, das Sollen der Norm als ein spezifischer Sinngehalt.“83 Kelsens Überlegungen finden ihren logischen Schluss in der Identifikation zwischen Staat und Rechtsordnung, jedoch mit folgender Präzisierung: Kelsen hatte in der Vorrede der zweiten Ausgabe seiner Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1923) angegeben, dass für ihn das Recht Wille des Staates sei und demzufolge „der Rechtssatz das hypothetische Urteil über den Willen des Staates zu eigenem Verhalten“ darstellt. „Damit nichts anderes gesagt sei, als daß der Rechtssatz in der logischen Form der Bedingung und Folge zwei Tatbestände miteinander verknüpft und daß in der Behauptung, der Folgetatbestand sei vom Staate gewollt, nur die Zurechnung zum Staate als der Einheit des Inbegriffes aller Rechtssätze, die Beziehung auf die Einheit der Rechtsordnung zum Ausdruck kommt. Der Rechtssatz besagt zunächst nichts anderes, als dass auf einen bestimmten Tatbestand als Bedingung ein bestimmter Tatbestand als Folge von rechtswegen gesetzt ist. Dass der Staat die Rechtsfolge ‚will’ bedeutet nur, daß dieser Tatbestand in der Einheit eines Systems von Rechtssätzen, bzw. rechtlich qualifizierten Tatbeständen begriffen wird. Das ist der eigentliche Sinn der Reduktion der Begriffe ‚Staat’ oder ‚Staatswille’ auf die Bedeutung von ‚Ordnungseinheit’, ‚Zurechnungs- oder Beziehungspunkt’.“84 „Eine Begriffsbestimmung der Rechtsnorm, durch die die spezifische Differenz zur Moralnorm angezeigt wird, scheint nicht ohne Zuhilfenahme des Zwangsmomentes möglich zu sein.“85 Das Recht ist dem Wesen nach eine Zwangsnorm im Sinne einer die Zwangsanwendung unter Menschen regelnden, sohin zwangsanordnenden Norm.

Nachdem er auf die Integration der Hauptprobleme mit einem dynamischen Teil der Reinen Rechtslehre hingewiesen hatte (welche in seiner Allgemeinen Staatslehre aus dem Jahre 1925 erfolgte und in Folge eine Konstante seiner Lehre blieb), behauptete Kelsen seine Hauptprobleme gegenüber dem Jahr 1911, in dem er sie zum ersten Mal veröffentlicht hatte, weiterentwickelt zu haben. Der „wichtigste Fortschritt“, so Kelsen, „ist die Erkenntnis der Einheit zwischen Staat und Rechtsordnung.“86 Die Einfügung eines „dynamischen Anteils“ in das System der Reinen Rechtslehre wurde fälschlicherweise für eine Revidierung der Ausgangspunkte 83 84 85 86

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H. KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtlehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1923), Ebenda, S. IX . Ebenda, S. X. Ebenda, S. XI. Ebenda, S. XVI. Man siehe H. KELSEN, Gott und Staat, aus „Logos“, Band XI, 1922/23, S. 261-284.

des Kelsenismus gehalten, die der Realität einen Zugang zu diesem formalen System verschaffen würde. Das Aufkommen dieser These wurde vermutlich durch Kelsens Beschäftigung mit der „Kulturantrophologie“ gefördert. Diese These hat in Italien einen großen Einfluss ausgeübt, aber sie hat sich auch in einem ideologischen Standpunkt gelöst. 87 1945 beschäftigte sich Kelsen wieder mit der Einheit zwischen Staat und Recht. Diesselben Ideen, welche bereits in den Hauptproblemen vorkommen und Kelsens Ansichten zur Demokratie und zum Parlamentarismus zugrundeliegen, sind in seiner General Theory of Law and State von 1945 aufzufinden, sowie auch in seinen zwei Jahre später erschienenen Metamorphoses, unbeeindruckt von den traurigen Lehren der Geschichte. Der Teil der General Theory, welcher der „Gültigkeit der einzelnen Normen“ gewidmet ist, beginnt mit einem Kapitel, welches den Titel The concept of law trägt. Dessen erster Abschnitt behandelt die Konzepte Law and justice. „Law is an order of human behavior. An ‚order’ is a system of rules.“ 88 Die Norm wird hier als „de-psychologized command“ bezeichnet, „which does not imply a ‚will’ in a psychological sense of the term.“ 89 Das Recht wird immer als „coercive order“ bezeichnet: „A social order that seeks to bring about the desired behavior of individuals by the enactment of such measures of coercion is called a coercive order.“90 Kelsen bestätigte seine Aussagen aus Über Staatsunrecht, indem er sagte dass „the delict is the condition to which the sanction is attached by the legal norm.“91 Ein Verbrechen hat also nichts mit Recht oder Unrecht zu tun: es liegt vor, wenn es einen Sachverhalt betrifft, der bei effektivem Vorhandensein sanktioniert wird bzw. sanktioniert werden soll. 92 Die Zwangsfunktion des Rechts besteht darin, dass es die Menschen unter Androhung von Sanktionen zu einem bestimmten Sozialverhalten drängt.93 Im

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Man siehe hierfür beispielsweise N. BOBBIO, La teoria pura del diritto e i suoi critici, aus „Rivista trimestrale di diritto e procedura civile“, 1954, S. 356-377. H. KELSEN, General Theory of Law and State, übersetzt durch A. Wedberg, Cambridge, Harvard University Press, 1945, S. 3. Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 18 und 19. Ebenda, S. 51. Man vergleiche mit H. KELSEN, Über Staatsunrecht, aus „Zeitschrift für das privat- und öffentliche Recht“, XL, 1913, S. 1-114. Ebenda, S. 51f. Ebenda, S. 50f. Man siehe zu diesem Thema auch H. KELSEN, Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 1. Auflage 1934, Hrsg. von M. Jestaedt, Tübingen, Mohr Siebeck, 2008, S. 37f. 37

Allgemeinen kann man sagen dass „law is, according to the theory here presented, a specific order or organization of power.“94 So Kelsen zum Unterschied zwischen law und justice:95 The problem of law, as a scientific problem, is the problem of social technique, not a problem of morals. The statement: „A certain social order has the character of law, is a legal order,” does not imply the moral judgement that this order is good or just. There are legal orders which are, from a certain point of view, unjust. Law and justice are two different concepts. Law as distinguished from justice is positive law. It is the concept of positive law which is here in question; and a science of positive law must be clearly distinguished from a philosophy of justice.

Die Normen sind in einer pyramidenförmigen Struktur eingefügt, an deren Spitze sich die Grundnorm befindet, welche der Grundsatz der Gültigkeit einer Rechtsordnung ist.96 In den Interpretations of Modern Legal Philosophies, welche die Schrift von Kelsen über die Metamorphosen der Idee der Gerechtigkeit beinhalten, befindet sich auch ein Essay mit dem Titel Kelsenism von Bustamante y Montoro97, der in Italien entweder unbekannt war oder ignoriert wurde. Durch die Erkenntnisse der Quantenphysik, die den Einwand Einsteins hervorriefen, dass Gott nicht Würfel mit der Welt spielt, erschien das Sein Kelsens als nicht mehr durch Kausalgesetze bestimmt. Die kausalen Naturgesetze wurden somit nicht mehr als gegebene Tatsachen, sondern nur als Ausdruck einer bestimmten statistischen Wahrscheinlichkeit angesehen. Kelsen stellte ein Zuweisungsprinzip an ihre Stelle. Man muss vorsichtig mit den ethnologischen oder, wenn man so will, „kulturanthropologischen“ Schriften von Kelsen umgehen. Man darf nicht vergessen, dass Kelsen diese Arbeiten vom Standpunkt eines Juristen heraus verfasst hat, der sich für die Sitten der sogenannten „primitive cultures“, der Quantenphysik und der Kausalität interessiert hat. Auch in diesem Fall, wie auch bei Vom Wesen und Wert der Demokratie, erscheint es mir ein sehr schwieriges Unterfangen, zwischen Kelsens Rolle als Ethnologe oder Anthropologe und seinem bewährten Metier als Juristen zu unterscheiden.98 94 95 96 97 98

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H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 121. Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 110f. A. S. DE BUSTAMANTE Y MONTORO, Kelsenism aus Interpretations of Modern Legal Philosophies, Ebenda, S. 43-51. Man siehe hierfür H. KELSEN, Society and Nature. A sociological Inquiry, Routledge, London, 1998; U. SCARPELLI, Società e natura nel pensiero di Hans Kelsen, aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, 1954, S. 767-780; G. FASSÒ, Legge naturalistica e legge pratica, aus „Studi parmensi“, III, 1953, S. 275-317.

Angeblich verwirft Kelsen die kantsche angeborene Idee über die Kausalität, jedoch nur um seine Theorie auf eine neue epistemologische Grundlage zu stellen. Gott versteckt sich hinter dem Gesetz der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem, durch welches die „primitiven“ Menschen die Natur interpretieren. Derselbe Gott steht nun, anders als in den Hauptproblemen behauptet, auch hinter dem Kausalgesetz. Hume und Kant hatten das Kausalgesetz schrittweise von dessen animistischem Übrigbleibsel, dem Gesetz der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem, losgelöst. Nun stellt die Quantenphysik die menschliche Sichtweise des Universums aber auf den Kopf und weist auf, dass die Aussagen der Wissenschaft zur Wirklichkeit mit Vorsicht gehandhabt werden müssen, da sie nur „statistical probabilities“ darstellen würden.99 „The human mind can foresee the future only in terms of probability“: Nur ein unbekannter Gott, der sich nicht in der Geschichte der Menschheit verkörpert hat, kann die Gesetze erkennen, welche dem Fluss der Zeit zugrundeliegen. Gott wurde aber, wie auch die Idee der Gerechtigkeit, aus dem kelsenschen System ausgeschlossen. Der positivistische Jurist Kelsen schrieb Folgendes:100 In the infinite distance between God and man, theology has from time immemorial expressed the limitation of human beings, contrasted with the infinity of God. Only God can foresee the future with absolute certainty, since only God fully knows the present; and only God can fully comprehend the present, since only God fully knows the past.

Auf dem Kausalitätsprinzip lastet das Erbe des Gesetzes der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem, welches wie dieses ein animistischer Aberglaube ist, der irrational und emotional ist. „Causality exists but in God's will“: nur eine „transcendent authority“ kann die Ursache mit der Wirkung verbinden. Für Kelsen existiert die Kausalität nur im Willen Gottes. „Our belief in causality, in continuance of the course of nature, is ‚the effect of istinct, not of reason.’ It is God who guarantees this continuance by establishing ‚the present laws of nature’.“101 Nachdem die Gottheit endlich aus dem Kosmos ausgeschlossen und der Natur ihre Gesetze weggenommen wurden, bleibt ein völlig rationalistischer und entpsychologisierter extremer Anthropozentrismus übrig. Daraus ergibt sich:102

99 100 101 102

H. KELSEN, Society and Nature, Ebenda, S. 249-266. Ebenda, S. 258. Ebenda, S. 261 und 262. Ebenda, S. 262. 39

Only a norm can lay claim to inviolability, for a norm is not a statement about reality and therefore can never contradict it.

Beim Übergang von der deterministischen Sichtweise zum Prinzip der statistischen Warscheinlichkeit verliert das Kausalitätsprinzip „its most important element, with which it was still burdened as the heir of the principle of retribution: Άνάγκη. This is necessity with which Δίκη, the goddess of retribution, punishes evildoers and at the same time keeps nature in its prescribed course.“103 Die kantianische Prämisse der Wiener Schule wurde in Wirklichkeit nicht verworfen: sie präsentiert sich lediglich auf einem neuen Sockel wieder. So Bustamante y Montoro:104 To the Viennese master, therefore, there no longer exists a natural law under which the facts of nature are bound necessarily, in such a manner that every effect inevitably presupposes a cause; he believes that „the Law of Causality can only mean a statistical probability; therefore, if it is to be retained as a law, it should be in this new sense, while heretofore, it really constituted a norm of thought.“

Zudem:105 Technically, the new Kelsenian conception of the Principle of Causality implies an abandonment of the Kantian conception which served the School of Vienna as its original basis. Both nature and the world of norm appear in this new conception to be governed by a single law, the formulation of which coincides with the Principle of Imputation (Zurechnungsprinzip) which served as foundation to this theory of the world of ‘Ought be.’ And yet all this interesting philosophic shifting of course, in its reference to Ontology, is only a matter of words, according to Karl Larenz' relevant criticism. We feel that it is a question of words because, when we ponder upon these philosophical technisms, the conclusion we reach is that the new monist conception of the laws governing both ontological realms of ‘Being’ and ‘Ought to be’ in no way modify the conception of the latter, which is the world of norms, nor can we, therefore, derive from it such connections between the two objective sectors as might lead us to envisage law as a form of life in the sense of sociological realism. Law continues, nevertheless, being envisaged as a lifeless form, and Juridical Science as strictly formal Logic.

„Lifeless form“: für Bustamante y Montoro ist die Reine Rechtslehre leblos: „Only the dehumanized, cold regularity, consequent upon the principle of imputation and its applications, preserves purity and objectivity and permits 103 Ebenda. 104 A. S. DE BUSTAMANTE Y MONTORO, Kelsenism, aus Interpretations of Modern Legal Philosophies, Ebenda, S. 44. 105 Ebenda, S. 45. 40

building upon it scientific generalizations. This means that only the contentless content of formal juridical logic is free from the ideological stigma and can become pure.“106 Hinter der scheinbar entpolitisierten, neutralen und objektiven Lehre Kelsens versteckt sich laut Bustamante y Montoro „nothing but the policy of force“: „a horror of natural Law.“107 Die Philosophie der Wiener Schule ist „a philosophy hostile to the world and to life, without values, without nuances, without ideals, without vitality; a pure Prussianism always aware of the surrounding chaos and trying to impress upon things, from without, an order not recognizable in them; and yet, a philosophy enslaved to that same world which it shuns because it recognizes no other but its own reality and dissolves whatever is ‚trascendent’ into the categories of the ‚trascendental’.“108 Für Bustamante y Montoro war sie also eine lebensfeindliche Philosophie, deren Weiterentwicklung in „a matter of words“ endete.

106 Ebenda, S. 47. 107 Ebenda, S. 50. 108 Ebenda, S. 48. 41

II. EIN IRRATIONALES IDEAL INHALTSVERZEICHNIS: 2.1. Die Kritik an der Kantschen Philosophie in Hegels Leben Jesu 2.2. Giuseppe Capograssi und die Impressioni su Kelsen tradotto. 2.3. Anmerkungen zum juridischen Idealismus des Giuseppe Capograssi 2.4. Das ethische Leben: die juridische und die moralische Erfahrung. Die Hoffnung im Denken von Giuseppe Capograssi. 2.5. De profundis calmavi ad te, domine: Das Recht nach der Katastrophe. 2.6. Jeder dient seiner Zeit nach seinen Möglichkeiten.“ Recht und Geschichte – Giuseppe Capograssis Problem.

2.1. Die Kritik an der Kantschen Philosophie in Hegels Leben Jesu. 1795, zehn Jahre nach Kants Grundlegung, schrieb der junge Hegel Das Leben Jesu. Hegels Darstellung von Christus nimmt Kants ethischen Legalismus auseinander: die durch Christus verkörperte reine Vernunft ist nicht wie bei Kant abstrakt, formell und damit beschäftigt, ihre eigenen Grenzen auszuloten. Stattdessen hat sie sich durch die Geburt Jesu in der Menschheitsgeschichte verkörpert. Hegel schrieb Folgendes zur Vernunft:109 Die reine aller Schranken unfähige Vernunft ist Gott selbst – Nach Vernunft ist also der Plan der Welt überhaupt geordnet. Vernunft ist es, die dem Menschen seine Bestimmung, einen unbedingten Zweck seines Lebens kennen lehrt; oft ist sie zwar verfinstert, aber doch nie ganz aufgelöscht worden, selbst in der Finsternis hat sich immer ein schwacher Schimmer derselben erhalten.

Die reine Vernunft, „die aller Schranken unfähig ist“, „ist Gott selbst.“ Der Plan der Welt ist „nach Vernunft“ geordnet. Durch die Vernunft erkennt der Mensch „seine Bestimmung“ und den „unbedingten Zweck“ in seinem Leben. Diese Vernunft kann zwar „verfinstert“ werden, jedoch nie ganz „aufgelöscht.“ 110 In seinen reifen Jahren schrieb Hegel: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig - Diese einfachen Sätze haben manchen

109 G. W. F. HEGEL, Das Leben Jesu, in Hegels theologische Jugendschriften, nach den Handschriften der königlichen Bibliothek in Berlin, Hrsg. von Dr. Herman Nohl, Tübingen, Mohr, 1907, S. 73-136. Ich zitiere hier aus Seite 75. 110 Ebenda, S. 75. 43

auffallend geschienen und Anfeindung erfahren.“111 In Das Leben Jesu zitiert Hegel Johannes: Der Evangelist machte „die Menschen wieder auf diese ihre Würde aufmerksam, die ihnen nichts fremdes sein sollte.“ Die Menschen könnten diese Würde „in sich selbst, in ihrem wahren Selbst finden“, und zwar „in der Ausbildung des göttlichen Funkens, der ihnen zuteil geworden ist, der ihnen das Zeugnis gibt, daß sie in einem erhabnern Sinne von der Gottheit selbst abstammen.“ Die „Ausbildung der Vernunft“ ist „die einzige Quelle der Wahrheit und der Beruhigung.“ Johannes gab nie vor, sie ausschließlich oder als eine seltene Gabe zu besitzen – alle Menschen könnten sie „in sich selbst aufschließen.“112 Der hegelsche Jesus ist kein Wundertäter: Das Verbum, also der Logos, ist nicht auf diese Welt gekommen um die Menschen von ihrer Verantwortlichkeit in der Geschichte zu befreien: die Welt ist eben kein göttliches Spiel, sondern ein göttliches Risiko. Der hegelsche Jesus verwandelte keine Steine in Brot, „er wies diesen Gedanken ab“:113 In den Stunden seines Nachdenkens in der Einsamkeit kam ihm einst der Gedanke, ob es nicht der Mühe verlohnte, durch Studium der Natur und vielleicht mit Verbindung mit hőheren Geistern es soweit zu bringen zu suchen, unedlere Stoffe in edlere, für den Menschen unmittelbarer brauchbare zu verwandeln, etwa wie Steine in Brot, oder sich von der Natur überhaupt unabhängiger zu machen – (herunterstürzen), aber er wies diesen Gedanken ab, durch die Betrachtung der Schranken, die die Natur dem Menschen in seiner Macht über sie gesetzt hat, – durch die Betrachtung, daß es selbst unter der Würde des Menschen ist, nach einer solchen Macht zu streben, da er in sich eine über die Natur erhabene Kraft besitzt, deren Ausbildung und Erhőhung die wahre Bestimmung seines Lebens ist.

So verwarf Jesus diesen Gedanken, „entschlossen, dem ewig getreu zu bleiben – was unauslöschlich in seinem Herzen geschrieben stand – allein das ewige Gesetz der Sittlichkeit, und den zu verehren, dessen heiliger Wille unfähig ist, von etwas anderm affiziert zu werden als von jenem Gesetz.“114 So Karl Rosenkranz: „das Eigenthümliche der Hegel'schen Evangelienharmonie besteht also in der Abstraktion von allem im physischen 111 G. W. F. HEGEL, Einleitung zur Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Hrsg. von F. Nicolin und O. Pöggler, Hamburg, F. Meiner Verlag, 19596, S. 38. 112 G. W. F. HEGEL, Das Leben Jesu, in Hegels theologische Jugendschriften, S. 75. 113 Ebenda, S. 77. In diesen Sätzen kann man klar die Weigerung erkennen, sich einer trügerischen, dämonischen, faustischen Kraft anzuvertrauen (der Ausdruck streben nach kommt auch in Goethes Faust vor). 114 Ebenda, S. 51. Jesus erinnert die Wundertäter daran, dass „Sittlichkeit der einzige Maßstab der Wohlgefälligkeit Gottes ist.“ (S. 87). 44

Sinn Wunderbaren. Aber eben weil dies gar nicht da ist, weil es dem Verstande gar keinen Anstoß erregt, von ihm nicht kritisch hinausgezankt oder durch Erklärungen depotenziert wird, macht die Erzählung doch einen großen Eindruck. Hegel hat Christus sich in der vollen menschlichen Wirklichkeit vorstellen, ihn nach seiner geistigen Probehaltigkeit sich vorführen wollen.“ 115 Wer weiß, was Gut und was Böse ist, nimmt am göttlichen Teil, ist ein coadiutor dei. Er hat den „göttlichen Funken“ in sich erweckt und trägt demzufolge eine große Verantwortung. Für Kant war das Ding an sich nicht erkennbar und damit auch nicht die Wahrheit. Hegels Jesus ist hingegen eine historische Figur, welche eine Sinnesänderung bzw. einen inneren Wandel gepredigt hat, den man durch konkrete Taten unter Beweis stellen sollte („Beurteilt sie aufgrund ihren Werken!“).116 Hegel widerholt beharrlich den Aufruf des Heiligen Paulus, die mosaische Religion zu vervollständigen, indem man die Buchstaben mit lebendigem Geist erfüllt, indem man also das positivistische an den Gesetzen durch Hinzufügung des Geistes überwindet. Littera enim occidit, spiritus autem vivificat: Hegels Jesus versuchte, „den eingeschränkten Geist jüdischer Vorurteile und jüdischen Nationalstolzes zu vertreiben“, und sie mit seinem Geiste „zu erfüllen suchte, der nur in Tugend, die nicht an eine besondere Nation oder positive Einrichtungen gebunden ist, einen Wert setzte.“117 Hegels Jesus ließ in seiner Bergpredigt folgende Worte erklingen:118 Glaubt nicht, daß ich etwa gekommen sei, um die Ungültigkeit der Gesetze zu predigen, nicht die Verbindlichkeit zu denselben aufzuheben, bin ich gekommen, sondern sie vollständig zu machen – diesem toten Gerippe Geist einzuhauchen – Himmel und Erde mőgen wohl vergehen, aber nicht die Forderungen des Sittengesetzes, nicht die Pflicht, ihnen zu gehorchen – Wer sich und andre von der Befolgung derselben freispricht, ist unwürdig, den Namen eines Bürgers des Reiches Gottes zu tragen; wer sie aber selbst erfüllt, und noch andere sie ehren lehrt, der wird angesehen sein in dem Himmelreich – Aber was ich, um das ganze System der Gesetze auszufüllen, hinzusetze, ist die Hauptbedingung, daß ihr euch nicht mit der Beobachtung des Buchstabens der Gesetze begnügt, die allein der Gegenstand menschlicher Gerichte sein kann, wie die Pharisäer und die Gelehrten eures Volks, sondern im Geist des Gesetzes aus Achtung für die Pflicht handelt.

115 K. ROSENKRANZ, G. W. F. Hegels Leben, unveränd. reprograph. Nachdr. d. Ausg. Berlin 1844 unter Hinzufügung e. Nachbemerkung von O. Pöggeler zum Nachdr. 1977, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977, S. 51 und 52. 116 G. W. F. HEGEL, Das Leben Jesu, S. 87. 117 Ebenda, S. 78. 118 Ebenda, S. 82f.. 45

Jesus predigte, dass man Almosen insgeheim und „im Geiste der Tugend“ verteilen sollte und dass „das Licht der Seele“ bzw. die Vernunft sich nie verdunkelt. Auch dass der „Geist“ des Gebetes zu einer tugendhaften Lebensführung führen soll. Jesus verursachte einen Skandal, weil er eine Frau, „von einem solchen übeln Rufe“, die seine Füße umfasst und mit ihren Tränen benetzt hatte, liebevoll aufnahm; weil er am Sabbath einen Kranken heilte und weil er sagte, dass der Mensch „mehr als ein Tempel ist“: „Der Mensch, nicht ein gewisser Ort, heiligt die Handlungen oder macht sie unheilig – Der Sabbath ist um des Menschen willen geordnet, nicht dieser um des Sabbaths willen gemacht.” Zudem verlange Gott „Liebe und nicht Opfergaben.“ Zu den Schriftgelehrten und Pharisäern, die zu ihm eine Frau brachten, die Ehebruch begangen hatte, sagte er: „Wer sich unter euch ohne Vergehen weiß, der werfe den ersten Stein auf sie.” Jesus selbst verurteilte die Frau nicht.119 Den Pharisäern, die ihn dazu aufgefordert hatten, die Wahrheit seiner Lehre zu beweisen, antwortete Jesus folgendermaßen:120 Glaubt ihr etwa, die Gottheit habe das menschliche Geschlecht in die Welt geworfen, der Natur überlassen, ohne ein Gesetz, ohne ein Bewußtsein des Endzwecks ihres Daseins, ohne die Mőglichkeit in sich selbst es zu finden, wie es der Gottheit wohlgefällig werden kőnne – es sei eine Sache des Glücks die Kenntnis der moralischen Gesetze, die euch allein, diesem Winkel der Erde, man weiß nicht warum, ausschließlich von allen Nationen der Erde zu teil geworden sei – dies macht euch die selbstsüchtige Eingeschränktheit eurer Kőpfe zu wähnen – Ich halte mich allein an die unverfälschte Stimme meines Herzens und Gewissens – wer aufrichtig dieser horcht, dem leuchtet aus ihr Wahrheit entgegen – auf diese Stimme zu hőren, fordre ich allein von meinen Schülern. Dieses innerliche Gesetz ist ein Gesetz der Freiheit, dem sich, als von ihm selbst gegeben, der Mensch freiwillig unterwirft, es ist ewig, in ihm liegt das Gefühl der Unsterblichkeit – Für die Pflicht, die Menschen damit bekannt zu machen, bin ich bereit wie ein treuer Hirt für seine Herde das Leben zu lassen – ihr mőgt mir es nehmen, so raubt ihr es mir nicht, sondern frei opfere ich es selbst auf – ihr seid Sklaven, denn ihr steht unter dem Joche eines Gesetzes, das euch von außen her aufgelegt ist, und darum nicht die Macht hat, euch durch Achtung vor euch selbst dem Dienste der Neigungen zu entreißen.

Religio, das Lob des Bewusstseins, sowie der Aufruf, auf die authentische „Stimme des Herzens“ und auf das „innere Gesetz“ zu hören, zerstören den Kantschen Formalismus. Hegel legt Jesus einen kategorischen Imperativ in den Mund – dieser hat bei ihm aber eine ganz andere Bedeutung als bei Kant. Er hat hier nämlich seinen Formalismus und seinen Legalismus kantscher Art verloren

119 Ebenda, S. 84, 85, 89, 90, 91-92, 97. 120 Ebenda, S. 98. 46

und stimmt mit der goldenen Regel, „mit dem höchsten Grundsatz der Sittlichkeit“ überein:121 Es ist Ein Gott und diesen sollst du von ganzem Herzen lieben, ihm deinen Willen, deine ganze Seele, alle deine Kräfte weihen, dies ist das erste Gebot; das zweite ist diesem an Verbindlichkeit ganz gleich und lautet so: liebe jeden Menschen als wenn er Du selbst wäre; ein hőheres Gebot gibt es nicht –.

Hegels Christus kritisiert die zu Lippendienst, Fremdbestimmung und Positivismus entartete Religion heftig.122 Jesus sagte beim letzten Abendmahl zu seinen Jüngern: „Ich hinterlasse euch einen Führer in euch selbst.“123 Ein Mensch, der in seinem Gewissen zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, benötigt keinen Meister, keine Führung, keinen Messias: Hegels Christus fordert seine Jünger bei seinem Abschied dazu auf, „sich selbst zu führen“, dem „Samen des Guten“ zu vertrauen, welcher die „Vernunft“ in sie gelegt hat, um so dem „heiligen Geist der Tugend“ folgen zu können: „Ihr seid Männer geworden, die ohne fremdes Gängelband sich endlich selbst anzuvertrauen sind – wenn auch ich nicht mehr bei euch bin, so sei von nun eure entwickelte Sittlichkeit euer Wegweiser.“124 Daraufhin kündigt Jesus an, bald zu einer höheren Welt überzugehen und sich dort mit der Unendlichkeit zu vereinen. Bei seiner Polemik gegen „den Zustand der Unmündigkeit“ kritisierte Hegel weniger die Schrift Kants Was ist Aufklärung?, sondern drehte vielmehr den kantschen Formalismus um. 125 Hegels Jesus betont von Anfang bis Ende die Verantwortlichkeit des Menschen in der Geschichte. Bei Hegel gibt es keinen Platz für eine formelle Pflicht hinter der man sich verstecken könnte, und ebensowenig für einen abstrakten kategorischen Imperativ, der eine individuelle Lebensmaxime in ein Universalgesetz verwandelt. Hegel spricht sich auch gegen bequeme Lösungen aus: Jesus wird nicht kommen, also nicht wiedergeboren werden und Gott wird keine Wunder vollbringen. Der Mensch muss stattdessen auf Erden selbst Wunder vollbringen können, hic et nunc. Hegel lässt seinen Jesus dazu folgende Worte sagen: „Wartet nicht auf einen andern, legt selbst Hand an das Werk eurer Besserung – setzt euch ein hőheres Ziel als das, wieder zu werden, was die alten Juden waren, bessert euch – dann bringt ihr das Reich Gottes herbei.“126

121 122 123 124 125 126

Ebenda, S. 120. Ebenda. Ebenda, S. 125 und 126. Ebenda. Ebenda, S. 127. Ebenda, S. 81. 47

Hegels Christus weigert sich, als Messias angesehen zu werden. Er prophezeit: „Diese Erwartung eines Messias wird meine Landsleute noch in große Gefahren stürzen, und, verbunden mit ihren übrigen Vorurteilen und ihrer blinden Hartnäckigkeit, ihren völligen Untergang graben; diese chimärische Hoffnung wird sie zum Spiel listiger Betrüger, oder kopfloser Schwärmer machen – Nehmt euch in Acht, dass auch ihr dadurch euch nicht in Irrtum führen laßt – Oft wird es heißen: Hier oder dort ist der erwartete Messias; viele werden sich für den Messias ausgeben, unter diesem Titel sich zu Anführern von Empörungen und Häuptern religiöser Sekten aufwerfen, Weissagungen verkünden, und Wunder verrichten, um wo möglich auch die Guten irre zu machen; oft wird es heißen: Dort in der Wüste zeigt sich der erwartete Messias, hier in Grüften hält er sich noch verborgen – laßt euch dadurch nicht verführen ihnen nachzulaufen.“127 Auf die Frage der Pharisäer, wann denn das Reich Gottes kommen werde, antwortete Jesus:128 Das Reich Gottes zeigt sich nicht durch Gepräng, oder äußerliche Gebärden, man kann auch nie sagen, sieh hier ist es, oder dort ist es, denn siehe, das Reich Gottes muß inwendig in euch erreicht werden.

Jesus bittet seine Jünger (die Hegel immer „Freunde“ nennt), seine Mitarbeiter zu sein. Der „Plan der Gottheit“ „schränkt sich nicht auf Ein Volk, Einen Glauben ein, sondern umfaßt mit unparteiilicher Liebe das ganze menschliche Geschlecht“, welches in einem einzigen Wurf erschaffen wurde.129 Jesus verabschiedet sich von seinen Freunden und sagt dabei, dass er ihnen nicht etwas „Fremdes oder Willkürliches“ aufdrängen wolle. Zu seinem himmlischen Vater gewandt sagt er, die Stunde sei gekommen, „den Geist, dessen Ursprung deine Unendlichkeit ist, in seiner Würde zu zeigen – und heimzukehren zu dir! Seine Bestimmung ist die Ewigkeit, und Erhebung über alles, was Anfang und Ende hat, über alles, was endlich ist – Meine Bestimmung auf Erden, dich Vater, und die Verwandtschaft meines Geistes mit dir zu erkennen, und durch Treue gegen dieselbe mich zu ehren, und die Menschen durch das erwachte Bewußtsein dieser Würde zu veredeln – diese Bestimmung auf Erden habe ich vollendet – die Liebe zu dir hat mir Freunde zugeführt, welche es einsehen gelernt haben, daß ich nicht etwas Fremdes oder Willkürliches den Menschen aufdringen wollte, sondern daß es dein Gesetz ist, was ich sie lehrte, das still, nur verkannt von den Menschen, in aller Busen

127 Ebenda, S. 121f. 128 Ebenda, S. 112. 129 Ebenda, S. 122. 48

wohnt.“130 Jesus wird erst zu Anna und dann zu Kaifa gebracht und gibt sich vor diesen als Sohn Gottes aus. Das Synedrion will ihn dafür zum Tode verurteilen, kann aber dieses Urteil nicht aussprechen, geschweige denn vollstrecken. So wendet es sich an den römischen Statthalter Pontius Pilatus. Dieser wirft Jesus laesa majestas vor („Gibst du dich wirklich für den König der Juden aus?). Jesus antwortet ihm „dass sein Reich nicht ein herkömmliches ist“, denn sonst hätte er eine Gefolgschaft und Untertanen, die dazu bereit wären, es zu verteidigen. So setzt sich der Dialog zwischen Pilatus und Jesus fort:131 So gibst du dich doch, erwiderte Pilatus, für einen Kőnig aus, da du von deinem Reiche sprichst? Wenn du es so nennen willst, ja, antwortete Jesus, ich glaube mich dafür geboren, dies für meine Bestimmung in der Welt, Wahrheit zu lehren, und ihr Anhänger zu werben – und wer sie liebte, der hőrte auf meine Stimme! Was ist Wahrheit? erwiderte Pilatus – mit der Miene des Hofmanns, die kurzsichtig doch lächelnd des Ernstes Sache verdammt – und hielt Jesum für einen Schwärmer, der sich für ein Wort, für eine Abstraktion aufopferte, das in der Seele des Pilatus bedeutungslos war.

Pilatus hält Jesus für einen „Träumer“, der bereit ist, sich für leere Worte aufzuopfern. Er sieht keinerlei Schuld in ihm. Pilatus meint, nicht als Richter für den Prozess gegen Jesus zuständig zu sein und schickt ihn zu König Herodes, damit dieser über ihn urteilt. Herodes verspottet Jesus und schickt ihn dann zu Pilatus zurück. Der Römer greift daraufhin auf einen alten Pessachbrauch zurück und überlässt es dem Volk, ein Urteil über Jesus auszusprechen. Das Volk brüllt: „Laß ihn kreuzigen!“ Stattdessen lässt Pilatus Jesus zunächst geißeln, in der Hoffnung, das Volk würde sich mit dieser Bestrafung begnügen. Das jüdische Volk besteht aber auf die Kreuzigung Jesu, wobei es sich auf die Staatsraison beruft. („Kreuzige ihn! Wir erkennen keinen König als Cäsarn!“)132 Auf die letzten Fragen Pilatus’ gibt Jesus keine Antwort. Er sagt nur noch, dass sein Leben und sein Tod nicht von ihm, Pilatus, abhängen, sondern von dem Plan der Vorsehung. „Doch – so Jesus – vermindert dies die Schuld deren nicht, die mich überlieferten“.133 Die Neudarstellung der Evangelien seitens Hegel endet mit dem Tode von Jesus auf dem Kreuz. („Vater, in deine Hände befehl ich meinen Geist, neigte das Haupt und verschied.“) Josef von Arimathia „in Gesellschaft des Nikodemus“ „nahm den Toten also ab“ und „setzte ihn in

130 Ebenda, S. 127. 131 Ebenda, S. 131 und 132. Man siehe R. GATTI, Pilato, Kelsen e la parabola del buon democratico, aus Ponzio Pilato o del giusto giudice, Hrsg. von C. Bonvecchio und D. Coccopalmiero, Padua, Cedam, 1998, S. 72f. 132 Ebenda, S. 133-134. 133 G. W. F. HEGEL, Das Leben Jesu, Ebenda, S. 133. 49

seiner Familiengruft bei“, „noch vor dem Anfange des Festes selbst, an dem es nicht erlaubt gewesen wäre, mit Toten zu tun zu haben.“134 Der Logos, die Gottheit hat sich in der Menschheitsgeschichte verkörpert, hat in Menschengestalt gelebt und gewirkt. Die Vernunft ist real geworden und hat in Menschengestalt Zeugnis für die Wahrheit abgelegt. Hegels Jesus vereint sich nach seinem Tode wieder mit dem Unendlichen. Im Rahmen des wahrhaftig göttlichen Mysteriums des Kreuzes starb Jesus als ein Mensch und ließ durch die Würde seines Todes seinen Geist erkennen. Vittorio Frosini schrieb, dass sich dem juridischen Positivismus, und vor allem der Rezeption des Kelsenismus in Italien, der juridische Idealismus entgegengesetzt habe.135 Pietro Piovani kritisierte den Kantianismus und die „auf den Kopf gestellte Naturrechtslehre“ von Kelsen folgendermaßen, wobei er Hegels Lehre im Hinterkopf hatte: Der Kelsenismus „entwertet jede Erfahrung der Gerechtigkeit, weil er sich nicht damit begnügen will, diese menschliche Erfahrung in ihrer jeweiligen Historizität zu erfassen.“136 Piovani, Vertreter einer Ethik der individuellen Verantwortung, schrieb:137 Man kann nicht abstreiten, dass der kategorische Imperativ eine gute Basis für das menschliche Gewissen darstellt. Es hemmt die Menschen aber und verhindert dadurch ihre volle Verwirklichung. Die menschliche Persönlichkeit muss sich stattdessen vollständig verwirklichen. [...] Die Moralität eines Menschen will, dass dieser sich voll und ganz verwirklicht und somit über die Grenzen eines abstrakten normativen Modells hinausgeht, dass er selbst erschaffen oder internalisiert hat.

Eine menschliche Handlung dem kantschen universellen Imperativ anzupassen, bedeutet für Piovani sie zu entpersonalisieren. Es bedeutet für ihn, „jedes Mal darauf zu verzichten, das Universelle in der eigenen Persönlichkeit zu erkennen“, und darauf zu verzichten, jede Handlung „einer individuellen, spezifischen, schweren Gewissensprüfung zu unterziehen – dies im wahren Sinne des Wortes.“ Laut Piovani ist solch ein Verhalten teilweise „naturrechtlicher“ Art.138

134 Ebenda, S. 135-136. 135 V. FROSINI, La struttura del diritto, Mailand, Giuffrè, 1962, S. 151. Frosini ist Autor von L' idealismo giuridico, Mailand, Giuffrè, 1978. 136 P. PIOVANI, Giusnaturalismo ed etica moderna, Ebenda, S. 17 (Eigene Übersetzung. Anmerkung des Übersetzers). Man siehe auch Piovanis Überlegungen in Linee di una filosofia del diritto, Padua, Cedam, 19683, S. 11-158. 137 Ebenda, S. 158. 138 Ebenda, S. 158f. 50

Die italienische Kritik an Kelsen gewinnt die Bedeutung der Worte Bewusstsein und religio zurück, und erstellt die Dialektik zwischen Bewusstsein und Recht wieder, die durch Kelsen zerstört worden war. Giuseppe Capograssi schrieb, sich abwechselnd auf Hegel und Vico beziehend, dass das verum sich in das factum und die Vernunft sich in die Wirklichkeit umwandelt – und umgekehrt.

2.2. Giuseppe Capograssi und die Impressioni su Kelsen tradotto.139 Vittorio Frosini schrieb: „Was Hegel über Spinoza sagte, gilt auch für Kelsen – dass man nämlich spinozieren können muss, um philosophieren zu können. Das System von Spinoza stellt einen entscheidenden Moment innerhalb der europäischen Geistesgeschichte dar; und gerade deshalb ist es zu überwinden. Kelsens Gedanken sind jenen von Spinoza sehr ähnlich. Beide gehen von einem absoluten Monismus aus, gemäß dem bei Spinoza Gott der Natur entspricht, und bei Kelsen der Staat als Recht zu verstehen ist; der Gleichstellung des ordo idearum bei Spinoza entspricht jener zwischen Fakten und Normen bei Kelsen. Bei beiden findet sich sogar eine kuriose Mischung zwischen der Anerkennung des Rechts des Stärkeren, welches von beiden als einziges authentisches Naturrecht angesehen wird, und der energischen Fürsprache zugunsten der Verpflichtung zur Toleranz beim Aufeinandertreffen von widerstreitenden philosophischen und religiösen Überzeugungen ( die von Kelsen als „Ideologien“ bezeichnet werden ).“ Frosini erinnert daran, dass „gegen den juridischen Spinozismus von Kelsen – dessen rigorose Verbindung von Normen und die Folgerichtigkeit seiner Gedanken – gegen diesen stolzen, geschützten, menschliche Leidenschaften und Illusionen verachtenden ‚Systemgeist’, die gegen den philosophischen Spinozismus gerichteten Einwände von Vico aufkommen, welche dieser im Namen einer Menschheit, welche mühselig dafür kämpft, im Fortgang ihrer Geschichte höheren menschlichen Idealen gerecht zu werden, erhoben hat. Rechtsnormen sind wie die Blätter eines Baumes: vergängliche Zeichen eines tiefer sitzenden Lebens, welches sich ausdrücken will.“140 139 Man siehe A. MERLINO, Storia di Kelsen. La recezione della 'Reine Rechtslehre' in Italia, Napoli, Editoriale Scientifica, 2012. Alle italienischen, nicht in die deutsche Sprache übersetzten Werke, aus denen ich hier zitiert habe, wurden von mir übersetzt (Anmerkung des Übersetzers). 140 V. FROSINI, La critica italiana a Kelsen, aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, XXXVIII, 1961, S. 201–213. Hier aus V. FROSINI, Saggi su Kelsen e Capograssi. 51

Um zu philosophieren muss man kelsenisieren. Michel Villey hatte wohl eine ähnliche Auffassung, als er meinte, das erste Kapitel einer „Geschichte der Gerechtigkeitsvorstellungen“ müsse den Gedanken von Hans Kelsen gewidmet werden. Dessen Lehre wird hier durch „videtur quod“ eingeführt, was den Weg für die Historisierung seiner reinen Rechtslehre frei macht.141 Man muss Kelsens Gedanken nachvollziehen, um zu dem zu gelangen, was in seiner Lehre fehlt – nämlich die Verbindung mit der europäischen juridischen Tradition. Bei Kelsen scheint das Recht gleich dem Gesetz zu sein, das Urteil tritt bei ihm in Form einer Hypothese auf. Das Recht scheint bei Kelsen eine spezifische Sozialtechnik zu sein, die im Rahmen einer Zwangsordnung durchgeführt wird; und die Gerechtigkeit scheint ihm ein irrationales Ideal zu sein. Die europäische juridische Tradition hat sich aber („sed contra“) nicht auf Grundlage solcher Annahmen, die durch Kelsen bis zu ihren extremen Konsequenzen durchgezogen wurden, entwickelt.142 „Kelsenisieren“ bedeutet Kelsen zu historisieren. Jeder Jurist, der ein Bewusstsein für die Rechtsgeschichte hat und diese kennt, und zudem ein juridisches Gewissen hat, ist sprachlos angesichts des Kelsenschen Systems, das sich dem Monismus, den „Leidenschaften ohne Größe“, der Entartung der Due interpretazioni del diritto, Mailand, Giuffrè, 19982, S. 21-34. Man siehe vor allem die Seiten 33-34, aus denen ich das Zitat entnommen habe. Bezüglich „Systemgeist“ hat Anna Maria Battista in einer Schrift über Tocqueville von „Leidenschaften ohne Größe” gesprochen, die „einer neuen Art Mensch” eigen seien, welche aus dem Zerfall der pluralistischen, in Klassen aufgegliederten aristokratischen Gesellschaft entstanden sei. „Der moderne Mensch zeichnet sich auf philosophischem Gebiet durch eine Vorliebe für allgemeine Ideen und einheitliche Systeme, auf ethischem Gebiet durch eine utilitaristische Einstellung, und durch die Neigung, sich in die Sphäre seiner Privatinteressen zurückzuziehen, aus.“ Ich habe hier aus einer Essaysammlung über Tocqueville zitiert. Später werde ich diese, scheinbar sonderbare, Entscheidung rechtfertigen. An dieser Stelle will ich nur daran erinnern, dass sei es Kelsen, als auch Georg Jellinek, Tocquevilles Schriften gelesen und missverstanden haben. Man siehe A. M. BATTISTA, Studi su Tocqueville, Florenz, Centro Editoriale Toscano, S. 25 und 29. 141 M. VILLEY, Leçons d’histoire de la philosophie du droit, Paris, Dalloz, 1962, S. 285. Villey schreibt: „Si l’on écrivait un traité des doctrines contemporaines de la philosophie du droit, Kelsen y pourrait occuper la première place, je veux dire le chapitre I. Car il n’est pas de philosophie qui représente plus parfaitement ce qu’il s’agit de critiquer: la méthode, les désirs profonds, les tendances inconscientes des juristes français d’aujourd’hui“. Laut Villey entsprechen die Gedanken Kelsens den tiefliegenden Wünschen der heutigen Juristen. Man siehe auch M. VILLEY, La formation de la pensée juridique moderne, Paris, Éditions Montchrestien, 1975. 142 So S. ROMANO in einer seiner ersten, keineswegs zu vernachlässigenden Anmerkungen aus L’ ordinamento giuridico, Firenze, Sansoni, 19462, S. 4. 52

traditionellen Konzepte (an erster Stelle des Konzeptes jus a iustitia) verschrieben hat.143 Giuseppe Capograssi schrieb 1952 die Impressioni su Kelsen tradotto, welche in der Rivista trimestrale di diritto pubblico veröffentlicht wurden. Kelsens Werke waren in Italien bereits sehr bekannt als 1952 die italienischen Übersetzungen seiner Reinen Rechtslehre und seiner General Theory of Law and State erschienen.144 Das Essay von Capograssi beinhaltet die „naiven, unmittelbaren Eindrücke eines nach Wissen strebenden Lesers“, eines Lesers „der mit all den Polemiken nichts zu tun hat, welche Kelsens Lehre ausgelöst hat ( auch weil er sie nicht kennt ).“ Laut Capograssi stellen diese beiden Werke „sehr deutlich einen vergangenen Zeitabschnitt der europäischen Kultur dar“. Weiters werde in ihnen „auf sehr folgerichtige Art und Weise eine einfache, gefährliche und typische Rechtsauffassung dargestellt.“ „Eine sonderbare Art von Ruhe“ überkäme einen bei der Lektüre dieser Werke. Weiters schreibt Capograssi:145 Es wäre wunderschön, wenn jemand diese Gedanken annehmen könnte! Sie entstanden in einer Welt, welche mit Leichtigkeit allerlei Arten von Illusionen aufnahm. In jener Welt hatten diese Gedanken Erfolg. Diese Welt und Epoche ist von der Heutigen jedoch sehr weit entfernt. In Kelsens Lehre gibt es keine Probleme mehr. Alle Probleme sind wie durch Zauber verschwunden. Es gibt in den Gedanken und in der Realität keine Unruhen, Unsicherheiten, und Ungereimtheiten mehr. Alle 143 Kelsens Auffassung, dass die Gerechtigkeit ein irrationales Ideal sei, könnte man entgegenhalten, dass diese ein traditionelles Ideal ist. 144 H. KELSEN, Teoria pura del diritto, Hrsg. von R. Treves, Turin, Einaudi, 1952; H. KELSEN, Teoria generale del diritto e dello Stato, Ebenda. 145 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, „Rivista trimestrale di diritto pubblico“, 1952/IV, pp. 767-810, hier aus Opere, Band V, Hrsg. von M. D’Addio und E. Vidal, Mailand, Giuffrè, 1959, S. 311-356. Man siehe vor allem die Seiten 313-314. Capograssi schrieb, dass Kelsens reine Lehre in einer Welt entstand, „die nunmehr sehr weit entfernt von uns liegt“, und dass die Übersetzung von 1952 (von Kelsens Werken) „einen Zyklus abschließen würde“. Ihm ist jedoch die „in der Kraft stehts vorhandene Barbarei“ bewusst. Auf der letzten Seite dieses Abschnittes wird daran noch erinnert werden. Kelsens Lehre kann überwunden werden, aber der Kelsenismus wird, wie der Faschismus für Sciascia, stets vorhanden bleiben. Bereits 1940 hatte G. MAGGIORE ein Essay mit dem Titel Quel che resta del Kelsenismo, in den Scritti giuridici in onore di Santi Romano, Padua, Cedam, 1940, S. 55-64, veröffentlichen können. R. TREVES hatte (in Il fondamento filosofico della dottrina pura del diritto di Hans Kelsen, aus den «Atti della Reale Accademia delle Scienze di Torino», 1933-1934, S. 1-41), bereits behauptet, dass „wenngleich Kelsens Lehre einen bemerkenswerten Einfluss auf die zeitgenössischen Ansichten ausübt, verfügt sie doch nicht mehr über jenes Prestige und über jene Beachtung, welche sie von Anbeginn an umgaben.“ (S. 1). 53

Dinge wurden in einer Art Generalverzeichnis untergebracht, geordnet und verzeichnet, welches alles sortiert und es in voneinander getrennte Abteilungen verteilt. Wenn jemand so etwas annehmen könnte! Man lese mit umso größerer Aufmerksamkeit.

Capograssi erwähnt einige wichtige Punkte der Lehre Kelsens und konzentriert sich dann auf Kelsens Definition des Rechts als „coercive order“, „the social technique which consists in bringing about the desired social conduct of men through the threat of a mesure of coercion which is to be applied in case of contrary conduct" Diese Sozialtechnik werde mittels der Normen ausgedrückt – man spricht hier von Normen, da sie ein Strafelement enthielten („A rule is a legal rule because it provides for a sanction“).146 „By ‚validity’ we mean the specific existence of norms. To say that a norm is valid, is to say that we assume its existence or – what amounts to the same thing – we assume that it has ‚binding force’ for those whose behavior it regulates“. Capograssi entgeht die Schlüsselpassage von Kelsens Denken nicht: für diesen ist das Recht, anders als für Austin, kein Befehl. Die zwingende Kraft entstehe nämlich nicht aus einem Befehl, sondern aus den Bedingungen, individual commanding has an actual superiority in power, but because he is ‚authorized’ or ‚empowered’ to issue commands of a binding nature. And he is ‚authorized’ or ‚empowered’ only if a normative order, which is presupposed to be binding, confers on him this capacity, the competence to issue binding commands.“ Diese „Ermächtigung“ sei aus der normativen Ordnung abzuleiten.147

146 H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 19 und 29. 147 Ebenda, S. 30-32. Diesbezüglich möchte ich erinnern an F. CARNELUTTI, Meditando Capograssi...: variazioni sull'accordo, aus Discorsi intorno al diritto, Band III, Padova, Cedam, 1961, S. 213-220. Dieser Aufsatz von Carnelutti wurde das erste Mal 1957 in der Rivista di diritto processuale veröffentlicht. Für Carnelutti unterscheidet sich das „wahre Recht“ vom „falschen Recht“ weil es auf Liebe, und nicht auf Angst, gründet. Das wahre Recht, welches auf der Idee der Gerechtigkeit gründet, wird vom falschen Recht imitiert (welches aufgrund eines Befehls mit Strafandrohung erlassen wird, und mit gewissen falschen Diamanten verglichen werden kann). Das Recht entsteht laut Carnelutti „aus der Liebe“, es ist eine soziale Sache, eben ein „Einverständnis“ (Seiten 218 – 220 ). In dieser Schrift streitet Carnelutti bewusst seine Behauptungen aus der Teoria generale del diritto ab, in welcher er als Rechtselemente die Vorschrift und die Sanktion ermittelt hatte. Carnelutti erkannte den Einfluss von Capograssi auf seine Gedanken an ( Seite 219 ). Explizite Kritik an Kelsen übte Carnelutti in einem Aufsatz aus, den er 1958 veröffentlichte, und zwar wieder in der Rivista di diritto processuale, I, 1958, S. 409ff : F. CARNELUTTI, Meditazioni sul dover essere, hier aus Discorsi intorno al diritto, Ebenda, S. 221-227. 54

Besonderen Eindruck machte auf Capograssi die Definition Kelsens von juridischer Norm als eines „entpsychologisierten Befehls“ („de-psychologized command“), der in psychologischer Hinsicht keinen Willen impliziert. Einen noch heftigeren Eindruck machte auf ihn Kelsens Definition des Rechtsverstoßes: „The delict is the condition to which the sanction is attached by the legal norm. Certain human conduct is a delict because the legal order attaches to this conduct, as a condition, a sanction as consequence“. Kelsen spezifizierte dies folgendermaßen: „The usual assumption according to which a certain kind of human behavior entails a legal sanction because it is a delict is not correct. It is a delict because it entails a sanction. From the view-point of a theory the only object of which is the positive law, there is no other criterion of the delict than the fact that the behavior is the condition of a sanction. There is no delict in itself“.148 Subjektives Recht und rechtliche Pflicht wurden in den Bereich des objektiven Rechts übertragen, und an das Element der Strafe gebunden. Letzteres zeichnet in dieser sonderbaren Umdrehung die primäre Norm aus, die für Kelsen die einzige wahre Norm ist. Der sekundären Norm steht hingegen die Aufgabe zu, die Vorschrift zu spezifizieren. Die Person wird hier als „the personification of a complex of legal norms“ definiert.149 Der Staat ist die juridische Ordnung, „a relatively centralized legal order“. Er besteht als solcher bis die Zwangsordnung aufrecht erhalten bleibt.150 Capograssi behandelt dann die Grundnorm, und zeigt eine Passage bei Kelsen auf:151 The unity of these norms is constituted by the fact that the creation of one norm – the lower one – is determined by another – the higher – the creation of which is determined by a still higher norm, and that this regressus is terminated by a highest, 148 H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 35 und 51. Diese Theorie des Rechtsverstoßes, welche im Kontext der Gleichung zwischen Staat und Rechtsordnung angegeben wurde, hatte auch Santi Romano verblüfft. Sie ist folgenschwer. Auf Romano und Kelsen werde ich in Folge eingehen; hier sei nur vorweggenommen, was Romano in einer Anmerkung zu L’ordinamento giuridico angegeben hat. Romano erinnert an einigen Seiten aus den Hauptproblemen und an das Essay von Kelsen Über Staatsunrecht (Ebenda, S. 1-114), und schreibt Folgendes: Kelsen hat „eine alte Theorie wiederbelebt, wonach ein Staatsunrecht nicht vorstellbar sei, weil der Staat ausschließlich als Rechtsordnung anzusehen sei. Diese These verwechselt das, was der Staat ist, mit dem, was der Staat tut: insofern er ist, kann der Staat niemals dem Recht entgegengesetzt sein, seinem Recht entgegengesetzt sein - insofern er handelt, indes sehr wohl.“ 149 H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 61f und 95. 150 Ebenda, S. 325. 151 Ebenda, S. 124. 55

the basic norm which, being the supreme reason of validity of the whole legal order, constitutes its unity.

Sowie: „The legal order is a system of general and individual norms connected with each other according to the principle that law regulates its own creation. Each norm of this order is created according to the provisions of another norm, and ultimately according to the provisions of the basic norm constituting the unity of this system of norms, the legal order. A norm belongs to this legal order only because it has been created in conformity with the stipulations of another norm of the order. This regressus finally leads to the first constitution, the creation of which is determined by the presupposed basic norm.“152 Capograssi vernachlässigt das Problem der Rechtsphilosophen nicht: die Unterscheidung, oder besser gesagt der einzige rechtmäßige Dualismus innerhalb der Zwangsordnung, nämlich jener zwischen Wirksamkeit und Gültigkeit. Laut Kelsen beziehen sich diese beiden Begriffe auf unterschiedliche Phänomene. Wirksamkeit bedeutet, dass die Normen de facto angewandt und befolgt werden; sie ist somit keine Eigenschaft des Rechts.153 Es besteht jedoch „a very important relationship“ zwischen Wirksamkeit und Gültigkeit: die Wirksamkeit ist die conditio sine qua non der Gültigkeit. 154 Die Rechtsordnung ist wirksam, wenn die in ihr enthaltenen Normen im allgemeinen von den ihnen unterstellten Subjekten befolgt werden. Ohne Wirksamkeit existiert die Gültigkeit nicht. Kelsen, der zur Zeit der Veröffentlichung seiner General theory in den USA lebte, umgeht so die Gefahr eines möglichen Widerspruches, indem er die Wirksamkeit nicht als eine Eigenschaft des Rechts ansieht, sondern als die conditio sine qua non der Gültigkeit. Demnach gibt es zwei Rechtswissenschaften: die normative und die soziologische Rechtswissenschaft. Erstere zeigt auf, dass „the law“ ein „system of valid norms“ ist. Zweitere beschreibt „the actual human behavior which presents the phenomenon of law“155 Zwischen diesen beiden Arten der Rechtswissenschaft bestehe eine „perfekte Kompetenzenverteilung“. Für Kelsen müssen diese beiden Arten der Rechtswissenschaft im Gleichschritt voranschreiten, weil „eine Diskrepanz ihrer Ergebnisse fast unmöglich ist.“156 Nachdem er die wichtigsten Punkte von Kelsens Lehre dargestellt hat, behauptet Capograssi:157 152 153 154 155 156 157 56

Ebenda, S. 132. Ebenda, S. 40. Ebenda, S. 41f. Ebenda, S. 162. G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 318. Ebenda, S. 319.

Auf einer Seite also die Normen,und nichts als die Normen. Auf der anderen die Fakten, und nichts als die Fakten. Diese beiden Seiten, welche beide rein, also ohne Einmischung fremder Elemente sind, gehen ein Verhältnis ein, in dem Übereinstimmung und parallel voranschreitende Entwicklung immer gewährleistet sind. Auf der einen Seite steht eine normative Wissenschaft, welche alle Probleme durch normatives Vorgehen löst. Auf der anderen Seite steht eine „tatsachenbezogene“ Wissenschaft, welche das reale Verhalten beobachtet und die ihm zugrundeliegenden Motive ermittelt. Zwischen diesen beiden Wissenschaften herrscht gegenseitiges Einverständnis. Die auf diesen Gebieten tätigen Wissenschaftler sind glücklich; sie haben das Gefühl, als hätten sie ihr Werk vollbracht, weil alles heterogene aus diesen beiden Gebieten entfernt wurde. Diese beiden Gebiete sind dermaßen rein, dass sich in ihnen nichts Heterogenes, Widersprüchliches, Fremdes befindet. Darüberhinaus sind sie völlig miteinander verbunden, sodass sie sich immer in gegenseitigem Einverständnis befinden müssen. Jede mögliche Unstimmigkeit bzw. Krise zwischen diesen beiden Gebieten ist für immer ausgeschlossen. Der Wissenschaftler bewegt sich auf diesen beiden so reinen Gebieten mit der Leichtigkeit eines durch die Lüfte gleitenden Vogels.

Laut Capograssi seien die in der Lehre von Kelsen dargestellten Verhältnisse zwischen den Dingen „zu gut“. „Alles verläuft in langsamen, geordneten Ableitungskreisläufen, wobei nie ein Fehler, ein Problem, oder ein Konflikt entstehen. Alle Probleme werden unweigerlich durch diese Logik gelöst.“158 Der Leser merkt jedoch, dass alles so gut verläuft, „weil es im Vorhinein so vorbereitet wurde“: Ableitungen und Standpunkte „gründen auf Annahmen“, und „die ganze Forschung wird durch diese Annahmen in bestimmte Bahnen geleitet.“ Laut Capograssi findet sich in Kelsens Lehre weder etwas Neues, noch habe diese überhaupt Substanz – mit Ausnahme der Annahmen. Diese zeichnen sich durch drei Besonderheiten aus: Das Recht wird als Sanktionstechnik aufgefasst, die Rechtsnorm wird als Norm aufgefasst, welche eine Sanktion verordnet (somit ist sie inhaltsleer, d.h. von ihrem Inhalt getrennt), und die Realität wird in Teilbereiche unterteilt, welchen absolute Gültigkeit zugesprochen wird, und die jegliches Verhältnis zum Ganzen verloren haben. Die Realität „ist nämlich aus Teilen zusammengestellt, welche voneinander getrennt sind und selbstständig existieren. Diese Teile sind Form und Inhalt, Vernunft und Wille, Erkenntnis und Emotion, Vorschrift und Sanktion, Norm und die Realität, aufgrund der und in der die Norm existiert, Ordnung und Wirklichkeit, welche durch diese Ordnung verregelt wird.“ Kelsens Lehre erscheint Capograssi als auf Trennungen aufgebaut, welche „als Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt werden“, aber überhaupt nicht selbstverständlich sind. Für Capograssi ist „die juridische Erfahrung“ und „die gesamte Welt des Rechtes“ eine „lebendige Einheit, welche man nicht aufteilen 158 Ebenda, S. 319f. 57

kann, ohne dadurch ihre authentische und genau definierte Eigentümlichkeit zu zerstören.“ Kelsens Lehre löse „im naiven Leser“ „Bestürzung“ aus – die Lehre des Wiener Meisters verwechselt nämlich das Teil mit dem Ganzen, sie gewährt „Vorurteilen, welche dieser oder jener Philosophie entnommen worden sind“ einen absoluten Wert, sie verwechselt „bestimmte Konzepte, welche als Arbeitshypothesen angenommen wurden, mit der effektiven Realität der Dinge“. Sie gaukle dem Leser vor, dass „der Erkenntnisprozess abgeschlossen sei, was aber nicht der Fall ist“, und dass „die Probleme gelöst worden seien, was aber auch nicht stimmt.“159 Vittorio Frosini konnte nachweisen, dass die Kritik von Capograssi etwas nicht ganz Neues war. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde in der italienischen juridischen Literatur bereits in fragmentarischer Form Kritik, die jener Capograssis ähnlich war, an Kelsen ausgeübt. Capograssi gelang es, diese Kritik durch Klarheit, Weitsicht und synthetischem Stil darzustellen.160 Die Stufenbautheorie Kelsens hatte bereits die Gemüter der italienischen Juristen erregt, sie wurde, gemeinsam mit dem in ihr enthaltenen Konzept der Grundnorm, bereits kritisiert. Capograssi bringt die Kritik besser als andere auf den Punkt, indem er auf eine Passage von Kelsen verweist, in der dieser behauptet: „the basic norm merely establishes a certain authority“. „The basic norm of a dynamic system is the fundamental rule according to which the norms 159 Ebenda, S. 320-322 160 Auf diese kritischen Beiträge werde ich in Folge eingehen. Hier verweise ich vorerst auf V. FROSINI, La critica italiana a Kelsen, Ebenda, S. 21-34. Weiters siehe man V. FROSINI, Kelsen e il pensiero giuridico italiano, aus „Il Veltro“, XXI, nr. 5-6, S. 761-768. Dieser Punkt ist grundlegend für die historische Einordnung der Gedanken von Capograssi. Die Kritik am „katholischen“, „ideologischen“ Juristen Capograssi gründet auf eine falsche Annahme: man nimmt an, dass die Impressioni su Kelsen tradotto auf Capograssis „ideologischer Positionierung“ basieren. Stattdessen hatte Capograssi in diesem Buch eine gründliche Zusammenfassung der Kritik an Kelsen von den mit stärkerem Geschichtsbewusstsein ausgestatteten italienischen intellektuellen Kreisen widergegeben. Diese meine Aussage werde ich in Folge begründen. Hier will ich nur daran erinnern, was Frosini in La critica italiana a Kelsen, dem ersten italienischen Versuch einer Rezension der italienischen Kritik am Kelsenismus, geschrieben hatte: „Die Kritik von Capograssi hat Argumentationen zusammengefasst und zugespitzt, welche in der italienischen juridischen Literatur bereits geäußert wurden – etwa von Condorelli / Carestia und von Balladore Pallieri. Diese Kritik bekräftigte die Historizität der juridischen Erfahrung und den Übergang der Idee in die Tatsache. Idee und Tatsache bleiben bei Kelsen getrennt, die Erstere steht bei ihm über der Zweiteren.“ (Ich zitiere hier aus den Saggi su Kelsen e Capograssi. Due interpretazioni del diritto, Ebenda, S. 31). 58

of the system are to be created“161 Die Grundnorm verwandelt die Tatsache, die sich in einer Hegelschen Zufälligkeit befindet, in ein Recht. Die Grundnorm ist begründend aber nicht begründet, passiv, inhaltslos und somit geeignet, jeglichen Inhalt aufzunehmen; sie bleibt bestehen, „was auch immer geschehen mag“. Capograssi erscheint sie als eine „Ausrede“, oder „Erfindung“, in der Hinsicht, dass „hier eine Norm erfunden wird, welche die Grundnorm aller anderen Normen ist“. Dadurch wird der Wissenschaftler von der Aufgabe befreit, „sich Gedanken über die endgültige Grundlegung der Gültigkeit der Normen zu machen.“162 „Jene große Sache, welche der Staat ist“ – jener Staat, über den Capograssi seinen Saggio im Jahre 1918 geschrieben hatte – „jene große Sache zerfließt völlig in normative Elemente. Somit wird jede Unterscheidung zwischen Recht und Staat aufgehoben. Denn wo alles Norm ist, kann es nichts anderes mehr geben.“: jedes Problem wird dadurch verdeckt und hinausgeschoben, jeder Dualismus wird dadurch in einen Monismus verwandelt, „bis irgendwann, wenn man von der wahren, umfassenden Realität des Rechts ausgeht, diese Probleme wieder hochkommen werden, lebendig, explizit, und dringend zu lösen.“ Die Probleme des Staates und des – objektiven und subjektiven – Rechts entstehen aus der „untrennbaren Einheit von Form und Inhalt, von Rechtsordnung und – Erfahrung, aus welchen eben das Recht besteht.“ 163 In der Kelsenschen Rechtsphilosophie wurde „alles was vereint war als getrennt dargestellt: Form und Inhalt, Rechtsordnung und Erfahrung.“ Dann wurde angenommen, dass „einige dadurch ‚gewonnene’ Teile Recht darstellten würden“. Der Jurist ist dadurch der Illusion verfallen, dass er „ruhig schlafen“, auf seine Arbeit verzichten könne, da diese ja scheinbar abgeschlossen sei. Stattdessen gehe die Arbeit „mehr als je zuvor weiter, denn man müsse Lösungen für jene Probleme suchen, die man durch diese (Kelsens) Hypothesen beiseitegelegt hatte.“164

161 H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 113. 162 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 323. Auch in diesen Gedanken Kelsens, ähnlich wie bei jenen über den Prozess gegen Jesus, wird die unüberwindbare Kluft zwischen politischen und juridischen Gedanken erwähnt, sowie die Abtrennung von Teilbereichen aus dem Ganzen. 163 Kelsen hatte die Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Recht negiert: für ihn war das ganze Recht objektiv. Man siehe H. KELSEN, Allgemeine Staatslehre, Berlin, J. Springer-Verlag, 1925, S. 55. 164 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, bereits zitiert, S. 324. Der Ausdruck „ruhig schlafen“ erinnert an den „ruhigen Schlaf der Vernunft“ von Huizinga. Man siehe J. HUIZINGA, In de schaduwen van morgen, een diagnosi van het geestelijk lijden 59

Capograssi erkennt den Ernst der Angelegenheit, und kommt wieder auf die Grundnorm, die Vorraussetzung dieses philosophischen Systems, zurück und die, um Croce zu paraphrasieren, gegenüber der Geschichte, gegenüber „dem Erfahrungsschatz menschlicher Angelegenheiten“165 nicht unschuldig ist. „Annahmen und Hypothesen werden hier als Sichtweisen der Welt und des Rechts dargestellt und verstanden“, und nicht nur als mögliche Methoden wissenschaftlicher Forschung. Die Forschung „bleibt an der Oberfläche der Norm und des Lebens“, und umgibt sich nur mit einer Aura von Wissenschaftlichkeit; und zwar von jener Art der Wissenschaft, die die mathematische Genauigkeit als Vorbild hat. Sie versteckt ihre „Annahmen“ hinter der postulierten Neutralität der Grundnorm.166 Kelsen definierte die Formel der Grundnorm folgendermaßen: „Under certain conditions laid down by the supreme authority, coercion is to be applied in a fashion determined by that authority.“167 Im Staatsrecht weist die Grundnorm die Gestaltungsmacht über das Recht den „Vätern der Verfassung“ zu, während im Internationalen Recht die Grundnorm aus dem Zweckmässigkeitsgrundsatz abgeleitet wird: Dieser Grundsatz ermöglicht es den „Verfassungsvätern“, wie die obersten Gesetzgeber eines Staates zu agieren. Hierbei stellt „eine erfolgreiche Revolution oder ein gelungener Staatsstreich den Ursprung des Rechts dar.“168 Also ist die Grundlage der Gültigkeit, der grundlegenden Gültigkeit, der Wille der siegreichen Macht. Diese Macht ist durch ihren Sieg souverän geworden, und die Grundnorm weist ihr ex post facto den Status als Ursprungskraft des Rechts zu. Dieser Wille ( der siegreichen Macht ) verwandelt sich in das höchste Gesetz, welches mittels der Normen, welche die Sanktionen verordnen, das ganze übrige Recht erschafft und organisiert.

Capograssi erinnert an eine der kelsenschen Definitionen der Grundnorm: „The content of the basic norm, that is, the particular historical fact qualified by the basic norm as the original law-making fact, depends entirely upon the material to be taken as positive law, on the wealth of empirically given acts subjectively claiming to be legal acts.“169

165

166 167 168 169 60

van onzen tijd, Haarlem, H.T. Tjeenk Willink & Zoon, 1935, ital. Übers. La crisi della civiltà, a cura di B. Allason, Turin, Einaudi, 19622, S. 91. B. CROCE, Dieci conversazioni con gli alunni dell’Istituto Italiano per gli Studi Storici, Neapel, Veröffentlichung des italienischen Institutes für historische Studien, Il Mulino, 1993, S. 19. G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 327. H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 406. G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S.225, 373f. H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, p. 436.

Capograssi kommentiert dies folgendermaßen:170 Ein Wille hat sich durchgesetzt, und hat es geschafft, dass alle anderen Willen ihm gehorchen. Die völlige Trennung zwischen Form und Inhalt, die völlig Gleichgültigkeit der Form gegenüber jediglichem Inhalt, die für alle Normen gilt, und die Basis dieses gesamten Systems ist, gilt aber nicht für die Grundnorm, die allen anderen Normen ihre Gültigkeit gibt. Für die Grundnorm gilt diese Trennung deshalb nicht, weil gerade der Inhalt dieser ihre Gültigkeit gibt. Der Inhalt der Grundnorm ist nichts anderes als eine historische Tatsache: Etwa die Entscheidung einer Menschenversammlung, oder der Befehl eines Tyrannen. Auf normativer Ebene stellt eine solche historische Tatsache die Grundnorm dar.

Capograssi fährt fort, und zitiert dabei Kelsen171 : Die Grundnorm ist gewissermaßen der Ausdruck der Verwandlung der Macht in das Recht. Wer gewonnen hat, wird Vater der Verfassung, Gesetzgeber, und sein Wille wird, bis er die Kraft hat ihn durchzusetzen, Gültigkeit erlangen. Und dieses Gültigwerden des Willens, welches sich in allen als sanktionierbar bestimmten Bereichen ausdrückt, ist das gesamte Recht.

Zudem: Hier wird mit viel Mut und ohne jedigliche Falschheit klar ausgedrückt, was das Recht ist: das Recht ist der Staat, besser gesagt jene Zwangsordnung, welche man als Staat bezeichnet. Und dies so lange, bis sie durch Gewalt gehorsam erlangen kann – diese Gewalt nennen die Menschen politische Macht. Damit die Tragweite der Bedeutung dieser Identifikation zwischen Staat und Recht klar verstanden werden kann, muss man wissen, dass jeder Staat sich mit dem Recht identifiziert – und umgekehrt. Dies unter der Bedingung, dass der Staat seinen Willen durch ein Sanktionensystem durchsetzen kann.

Für Kelsen muss jeder Staat ein Rechtsstaat sein, weil „jeder Staat nur eine Rechtsordnung ist.“172 So Capograssi: Ein Unrecht bleibt Unrecht bis eine Macht nicht die andere Macht, welche die herrschende Ordnung stützt, überwältigen kann, und damit die politische Macht erlangt, und somit ihre eigene Ordnung zweckmäßig und gültig werden lassen kann (diese beiden Adjektive sind hier als Synonyme zu verstehen ) . In dem Moment, in dem es gewonnen hat, verwandelt sich das Unrecht in Recht. Es ist somit mehr als offensichtlich, dass „das Prinzip ex injuria ius non oritur einer positivistischen Rechtsordnung angehören kann, aber nicht muss.“ Denn wenn dieses Prinzip dieser Rechtsordnung notwendigerweise angehören würde, dann würde das bedeuten, dass die Macht(-haber) sich nicht verändern kann ( können ), oder, besser gesagt, dass 170 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 328f. Das Zitat von Kelsen findet sich in H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 436. 171 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 329f. 172 H. KELSEN, Reine Rechtslehre, 1934, Ebenda, S.136. 61

das Recht nicht mehr der Macht, sondern etwas anderem entsprechen würde. Das wahrhaftige Recht ist die Macht, denn diese kann Recht zu Unrecht werden lassen, und umgekehrt. Im Angesicht der Macht haben die Wörter„Recht“ und Unrecht“, welche die Menschen erfunden haben und jeden Tag verwenden, keine Bedeutung 173 mehr.

Für Capograssi beinhaltet der Kelsensche Positivismus nichts Formelles, in der Hinsicht, dass das offengelegte Grundgerüst der Stufenbautheorie vom „Naturrecht der Macht“ gestützt wird. Die Macht setzt sich gegenüber der Norm durch – diese ist daher untätig und inhaltsleer. Die Macht prägt den Willen der Individuen, löst alles Natürliche auf, was im Staat, im Individuum und im Recht existiert, „von dem man unabdingbare Inhalte für die Rechtsnorm ableiten kann.“174 Dementsprechend gibt es keine vorausgesetzten juridischen Prinzipien: „legal principles can never be presupposed by a legal order; they can only be created by this order.“175 Indem man die Macht als Prinzip des Rechts ansieht, „ist es unmöglich, nein, unvollstellbar, dass es einen anderen Fixpunkt, ein anderes Wahrheitsprinzip geben kann, welches einen unabdingbaren Inhalt der Norm und ein stabiles aliquid gegenüber dem ständigen Schwanken der Macht darstellen würde.“176 „Macht und Form“, dass heißt, Zweckmässigkeit und Gültigkeit: dies ist der einzige Dualismus den Kelsen rettet, die anderen zerstört er alle – eine Feinheit dieser „besonderen Philosophie“, welche die Essenz des Kelsenismus darstellt.177 Im Denken Kelsens sieht Capograssi klar den kantschen Einschlag und dessen Erbe: Gerechtigkeit, Wahrheit, Naturrecht, Prinzipien – dies alles sind nur Masken, die Interessen und Interessenskonflikte verbergen, die aus dem trüben Grund der menschlichen Leidenschaftlichkeit hervorquellen. Mächte, Interessen, Ideologien, die den Sieg davontragen, und dann unter dem Namen „Verfassungsväter“ erscheinen, „erschaffen alsdann Zwangsordnungen, und füllen die leeren Formen der Normen mit ihren irrationalen Wünschen aus.“ In 173 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 330; man siehe H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 372. 174 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 331f. 175 H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 249. 176 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 332. 177 Ebenda, S. 333. Man siehe H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 191: für Kelsen ist jener zwischen Zweckmäßigkeit und Gültigkeit der einzige gültige Dualismus. R. TREVES hatte 1933 mit präzisen philosophischen Verweisen die Reine Lehre Kelsens gewissermaßen in den Schoß der Neukantianischen Philosophie zurückgeführt. Dies in Il fondamento filosofico della dottrina pura del diritto di Hans Kelsen, Ebenda. 62

der Kelsenschen Rechtsphilosophie gibt es nichts, „was durch die Vernunft erkannt werden könnte.“ Die Reine Rechtslehre ist keine unschuldige, formalistische Lehre. Sie drückt hingegen „in höchst rationeller Form das Naturrecht der Macht und dessen Dogmatik aus.“178 Ideale und Werte, „man denke nur an die Gerechtigkeit“, sind ursprünglich irrationell, dem Logos also fremd.179 Capograssi äußerte sich dazu folgendermaßen:180 Die These über die Irrationalität, jene der Fremdartigkeit des Logos, jene die besagt, dass all jene Prinzipien und Werte, welche den konkreten Gehalt des Lebens ausmachen, rationell unzugänglich seien, und die These, welche alle Prinzipien und Qualitäten ausschließt, mit Ausnahme des Prinzipes der Macht und der Theorie der Inhaltsleere der Normen, verstellen dem Leser den Blick dafür, dass alle hier gemachten Konstruktionen nur rein formaljuridische Konstruktionen sind, welche die Frage nach der Wahrheit weder streifen noch berühren. Die Reine Lehre ist ein widersprüchliches Werk: Es setzt der Vernunft viele Grenzen, es schließt sehr große Lebensbereiche aus der Sphäre des sogenannten objektiven Erkenntnisvermögens aus. Anstatt sich aber bescheiden auf jenen Bereich des Rechts, den sie ausgewählt hat, und auf die strengstmögliche positivistische Vorgangsweise zu beschränken, ist sie dem Drang verfallen, über alle Angelegenheiten zu urteilen, alle substantiellen Probleme, und sogar alle Rätsel lösen zu wollen.

Kelsens Werk „weiß Bescheid über das Recht, die Gerechtigkeit, den Staat, die Geschichte, die Religion“, es „lüftet die Schleier aller Ideologien“, „es weiß genau, wie alle Dinge in den Köpfen der Menschen verarbeitet werden“. Durch diese Erkentnisse „löst es alle Probleme.“181 Die „Verdoppelungen“, also die Dualismen, gegen die sich Kelsen ausspricht – jener zwischen Staat und Recht, zwischen subjektivem und objektivem Recht, zwischen Norm und Justiz – sind „illusorisch“, und „Halluzinationen, wie im Narrenheim“. „Alle intellektuelle Probleme und alle Lebensprobleme“ erleiden eine schmachvolle „Massenhinrichtung“.182 Der abgeleugnete Dualismus zwischen Staat und Recht, der zu Kritik seitens Volpicelli, Maggiore und Condorelli geführt hatte, die Kelsensche Kritik an der „Hypostasierung“ und am „animistischen Aberglauben“ haben Capograssi dazu bewogen, sich zu fragen: „Wie kann man denn alles dermaßen minimieren? Sind alle Menschen, welche diese beiden Seiten der Realität erleben, und die ehrwürdigsten Denker, welche darüber nachgedacht und spekuliert haben, 178 179 180 181 182

G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto,Ebenda, S. 334f. H. KELSEN, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 439f. G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 336f. Ebenda, S. 337. Ebenda, S. 340f. 63

wirklich nichts anderes als Primitive, denen es nicht auffällt, dass sie sich zu einem animistischen Aberglauben bekennen. Traurig, dass man solcherart Behauptungen lesen muss.“183 Die Lehre, die Kelsen mittels dieser Seiten ausdrückt, ist „Opfer einer Philosophie“, Geisel eines Partikularismus, der einem das Verständnis der Erfahrungen vorenthält, und einem im Namen einer „sophistischen und abstrakten Idee über die Erfahrung“ „Ausschlüsse und Kürzungen im Leben und im Konkreten“ aufzwingt. Dadurch löst sie aber Rätsel. Capograssi erinnert daran, dass Gesetz und Grundsatz besagen, „innerhalb der menschlichen Erfahrung zu verweilen und diese nicht zu überschreiten“, sich dabei an einer „eigenen und besonderen Idee von ‚Erfahrung’“ haltend. Pflicht des Juristen sei es, „Erfahrungen zu machen und dabei zu bleiben, wobei man ehrlicherweise all dass anerkennen muss, was sie beinhalten, und all dass, zu dessen Zweck sie bestehen, samt ihrer historischen Bedeutung.“184 Die „historische Bedeutung der Erfahrung“ wird hier abgeleugnet: Kelsen, der sich für Anthrophologie, Dantescher Kritik, platonischem Eros und für die Heiligen Schriften interessiert, arbeitet eine Lehre aus, welche – zumindest vom Anspruch her – die Historizität des Rechts löscht. Kelsens Ausführungen rufen im Leser „tiefe Traurigkeit“ und „unbeschreibliche Trostlosigkeit“ hervor.185 Man fühlt sich wie verloren: man verliert das Recht und die Geschichte des Rechts. Die ganze Rechtsgeschichte verschwindet, mit ihren Entwicklungen, Phasen, Prinzipien- und Institutionsbehandlungen, weiteren Erfindungen, mittels denen der langsame Prozess der Bewusstseinswerdung des Menschen bezüglich seiner

183 Ebenda, S. 340. Zurück zu H. Kelsen, General Theory of Law and State, Ebenda, S. 191. Kelsen schreibt: „To describe State as ‚the power behind the law’ is incorrect, since it suggests the existence of two separate entities where there is only one: the legal order. The dualism of law and State is a superfluous doubling or duplication of the object of our cognition; a result of our tendency to personify and then to hypostatize our personifications. A typical exemple of this tendency we found in the animistic interpretation of nature, that is, primitive man’s idea that nature is animated, that behind everything there is a soul, a spirit, a god of this thing: behind a tree, a dryas, behind a river, a nymph, behind the moon, a moon-goddess, behind the sun, a sun-god. Thus, we imagine behind the law, its hypostatized personification, the State, the god of the law. The dualism of law and State is an animistic superstition. The only legitimate dualism here is that between the validity and the efficacy of the legal order. But this distinction presented in the first part of this book – does not entitle us to speak of the State as a power apart from, or back of, the legal order.„ 184 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 341. 185 Ebenda, S. 346 und 349. 64

Handlungen sich entwickelt und systematisiert hat, und dies gegenwärtig weiter tut, sich mühselig durchsetzend und verteidigend.186

Die Geschichte geht verloren, sie „verschwindet.“ Was übrig bleibt, sind verschiedene ordentlich präsentierte Techniken, gleich Waren in einer Vetrine, sowie „die Ideologien und Interessen“ Kelsenscher Façon: sie können nicht historisiert werden, da sie „nicht konkret erkannt werden können“ und deshalb „keine Geschichte haben.“ „Um eine Geschichte zu haben, müssten sie eine eigene, innere Rationalität haben und sich in das absolute Leben des Geistes einfügen.“ Capograssi fährt folgendermaßen fort:187 Zudem verschwindet gemeinsam mit der Rechtsgeschichte auch die Geschichte an sich: denn mit dem Verschwinden der großen Lebensprinzipien verschwindet auch das Fundament, auf dem sich die konkreten menschlichen Handlungen stützen. Diese Prinzipien weisen den menschlichen Bestrebungen nämlich eine Richtung und verleihen ihnen Schwung. Sie beinhalten auch jene innerliche, tiefgreifende Rationalität, aufgrund der dann aus der Bestrebung Geschichte wird. In Kelsens Theorie ist die Geschichte aber mit einem Museum oder einem Magazin vergleichbar, in dem, bunt zusammengewürfelt, Ideologien, Interessen und Techniken ausgestellt bzw. aufbewahrt werden. Diese werden dann einer sogenannten Wissenschaft zur Verfügung gestellt, welche unermüdlich darum bemüht ist, sie in einen unendlich langen und nutzlosen Katalog aufzunehmen. Die hier dargestellte Welt des Rechts ist ein geisterhafter Bereich, in der weder Geschichte noch Leben mehr existieren können.

Eine geisterhafte, an „gespenstisch anmutende Städte und Dörfer erinnerde Lehre, deren Kriegsruinen nur noch aus Teilen der Grundgerüste bestanden.“ Was bleibt, sind „erschütternde Skelette von nackten und leeren Häusern, deren Anblick im Mondeslicht grauenhaft war. Sie vermittelten den Eindruck, dass das Dorf noch existierte, was aber nicht der Fall war.“ Damit kann man die Kelsensche Lehre vergleichen: sie vermittelt den Eindruck, dass das Recht noch besteht, was aber nicht der Fall ist. Sie ist somit eine traurige Lehre. Nach der Katastrophe scheint das Recht seiner Tradition, seiner Geschichte, entleert worden zu sein, und zu einer Einheit, zu einer grauenhaften Vision reduziert worden zu sein – in der die „im Mondeslicht schauerhaft erscheinenden Mauern“ mehr Bedeutung zu haben scheinen als das Leben, das es zu hüten und zu verteidigen gilt. Hier verliert also jenes Rechtsverständnis an Bedeutung, das 186 Ebenda, S. 349. Man siehe R. NICOLOSI, Formalismo e storicismo del diritto, aus „Rivista italiana per le scienze giuridiche“, V, 1951, S. 293-329. 187 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 349f. Bezüglich des besonderen Historizismus von Capograssi siehe man E. OPOCHER, Giuseppe Capograssi, aus „Rivista di diritto civile“, II, 1956, S. 476-479. 65

im Bewusstsein des „gewöhnlichen Menschen“ besteht, der „von Hoffnungen nach Freiheit und Menschlichkeit beseelt ist“, und „der deshalb versucht, seine Handlungen menschlicher werden zu lassen, indem er sie auf den Geist und auf die Wahrheit gründet.“ Ebenso verliert die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht hier an Bedeutung.188 Aus den Seiten der Impressioni von Capograssi kann man das Echo von Vicos „Gedanken der Menschlichkeit“ heraushören. Hier ist die Geschichte den Menschen zugänglich, da sie ja von den gewöhnlichen Menschen gemacht wurde. Capograssis Werk entstand nicht aus dem Nichts, es führt hingegen eine nicht erloschene Tradition fort, die im neunzehnten Jahrhundert wieder ausgekeimt ist, wobei sie die Komplexität der Dimension des Rechts wiederentdeckt hat, die nicht auf das Begriffspaar StaatIndividuum zurückgeführt werden kann. 189 Die traurigen Lehrbeispiele aus der Geschichte zwingen die Menschen dazu, in menschliche Kategorien zu denken, und fordern sie dazu auf, auf der Höhe dieser Menschlichkeit zu leben, nämlich „ihre Handlungen auf den Geist und auf die Wahrheit zu gründen. Dies ist die wahre Heldentat des Menschen, der versucht seine Geschichte aufzubauen und zu verteidigen. Menschlichkeit und Freiheit humanisieren die Macht, auf die das Recht angewiesen ist, und auch die Sanktionen, welche das Recht einsetzen muss, um das Schlechte in Zaum zu halten, welches ständig versucht die konkreten Handlungen zu durchkreuzen.“ Bei Kelsen verlieren Normen und Sanktionen „den Rückhalt des Lebens, welches sie in seine Logik zurückführen würde.“190 Wenn man aber andererseits aus Kelsens Gedanken eine Lehre ziehen will, so hieße das, sich Vicos Warnung zu vergegenwärtigen, die dazu aufrief „sich nicht außerhalb der Menschlichkeit zu stellen, jener gewöhnlichen Menschlichkeit, aus der die grundlegenden Prinzipien und Strukturen der Erfahrung entstehen.“ Der Jurist Capograssi schrieb weiter, dass man „dieser tiefen Menschlichkeit treu bleiben muss, um die lebendige Einheitlichkeit des menschlichen Erlebens erfassen und beibehalten zu können, in der Form und Inhalt dasselbe sind.“ Das Recht ist nicht eine in sich geschlossene Dimension, die fernab des menschlichen Lebens angesiedelt ist. Es bedarf stattdessen der aus der „lebendigen Einheitlichkeit des menschlichen Erlebens“ stammenden Erfahrung, welche der Jurist kennt, weil er an ihr teilnimmt. Er „arbeitet mit dem Rechtsleben zusammen“, und „kennt“ es somit.

188 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 347. 189 Man siehe P. GROSSI, Scienza giuridica italiana. Un profilo storico 1860-1950, Mailand, Giuffrè, 2000, S. 119-214. 190 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda, S. 348f. 66

Diese Kenntnisse „fließen wiederum in das (bzw. in sein) Leben zurück, und werden zu einem konstitutiven Element von diesem.“191 Der Jurist ist ein „Mitarbeiter des Lebens“, „ein unabdingbarer Mitarbeiter an jenem geheimen Vorgang, durch den sich das konkrete Leben in die juridische Erfahrung verwandelt“. Um es mit Vico zu sagen, „wird die menschliche Geschichtswelt vom Juristen stets gegen die ständig vorhandene Barbarei der Macht verteidigt. Wenn nicht dies seine Aufgabe ist, welche dann? Was macht er sonst im Leben? Wieso lebt er sonst?“ 192

2.3. Anmerkungen zum juridischen Idealismus des Giuseppe Capograssi. „Capograssi war der wachsame Zeuge des Vollzuges eines außerordentlichen Vorganges: nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges – in jener Zeitspanne gab es ein Wiederaufflammen von sozialen Vorstellungen, welche sich dann in den abstoßenden Erscheinungen des stalinistischen Kommunismus, des Faschismus, und des Nationalsozialismus ausgedrückt haben, bei denen der einzelne Mensch in seiner Bedeutung der Rasse, der Klasse, der Partei und der Gruppe untergeordnet wurde – nach dem Zweiten Weltkrieg trat er auch als gewissenhafter Zeitzeuge dieser Katastrophe, und als unbewaffneter Prophet für eine moralische Erneuerung der ganzen westlichen Zivilisation auf. Capograssi ging von einem klaren Verweis auf den Gang einer historischen Entwicklung zur Warnung vor den Risiken, die mit dieser Entwicklung verbunden sind, über.“ Laut Paolo Grossi, in Scienza giuridica italiana, ist Capograssi ein „wachsamer Zeitzeuge”, der „mit sehr scharfem historischen Blick Schritt für Schritt den langen Verlauf der Krise” mitverfolgt. Er schildert die Ereignisse „der Befreiung und der Verkomplizierung des Rechts“. Grossi eröffnet das Kapitel „La semplicità perduta: il diritto oltre lo Stato e l’individuo”, indem er Capograssis Schriften zitiert, und diesem „beispielhaften Zeugen“ einige Erkenntnisschlüssel und nach der Sinnhaftigkeit dieser historischen Entwicklung fragt. 193 In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts legten die Juristen jene Brille ab, die die Wahrnehmung der Realität verstellte und auf „wenige grundlegende Elemente“ beschränkte – diese waren einerseits der Staat mit seiner Herrschaftshoheit, andererseits das Individuum mit seiner persönlichen Freiheit. Die Juristen „fanden nun den Mut, 191 Ebenda, S. 354f. 192 Ebenda, S. 356. 193 P. GROSSI, Scienza giuridica italiana. Un profilo storico 1860-1950, Ebenda, S. 119f. 67

sich eine Brille mit scharfen Linsen auf die Nase zu setzen, und damit die Realität ohne Voreingenommenheiten, ohne innerliche Verfälschungen und ohne mythologische Vorstellungen, die auf jeden Fall erhalten bleiben mussten, zu beobachten.“194 Durch die Verwendung „angemessener Brillen“ gelang es dem Juristen, „seinen Sinn zur Wahrnehmung der Komplexität“ wiederzuerlangen – und so „erschien ihm wie durch ein Wunder eine bisher verborgene, unbekannte oder verkannte Wirklichkeit“. Grossi schreibt über die Krise jenes Rechts, das „als einzige tragende Stütze den Staat hatte“. Durch die Sprünge in der nun „verlorengegangen Einfachheit“ der Sichtweise kann man die tatsächliche Komplexität der Materie erspähen, welche „auf ein völlig neues Territorium verweist“. „Ja, es gibt eine Krise. Diese ist aber die Krise jenes Rechts, welches sich passiv und spekulativ im Schatten der bürgerlichen politischen Verfassung entwickelt hat.“195 Capograssi, wie bereits erwähnt ein wachsamer Zeitzeuge, Prophet und scharfsinniger Interpret der Krise, der Vico gelesen hatte, flößt die Hoffnung ein, dass die „wirklich menschlichen Gedanken“ durch den Willen der Vorsehung aus den Trümmern der Katastrophe wiederauferstehen werden. Bereits Vittorio Frosini bezeichnete Capograssi als einen „unbewaffneten Propheten“.196 Frosini bezeichnet Capograssis Denken als „von flüssiger, musikalischer Art, gewissermaßen auch flüchtig“, und „einer komplexen und faszinierenden musikalischen Komposition, etwa einer Fuge von Bach, ähnlich.“ Weiters sei es allergisch gegenüber Formeln, nicht systematisch dargestellt, und widerwillig bezüglich der Klassifizierungsbestrebungen der positivistischen Juristen: dadurch sei es „schwer aneigenbar“, und „unmöglich zu definieren“.197 Pietro Piovani schrieb über Capograssi, dass dessen „überschäumende Lebenskraft sich nicht in die Form des Schriftlichen, welches immer gewisse

194 Man siehe P. GROSSI, Mitologie giuridiche, dritte erweiterte Ausgabe, Milano, Giuffrè, 2007, S. I-234. Es sei hier auch an den Eintrag von S. ROMANO, Mitologia giuridica, aus Frammenti di un dizionario giuridico erinnert, unveränderte Neuauflage, Milano, Giuffrè, 1953 (1947), S. 126-144. 195 P. GROSSI, Scienza giuridica italiana. Un profilo storico 1860-1950, Ebenda, S. 109 und 111. 196 V. FROSINI, Capograssi e l’ambiguità dell’ esperienza etica, aus La filosofia dell’ esperienza giuridica di G. Capograssi, Herausgegeben von P. Piovani, Neapel, Morano, 1976, S. 272-286, hier aus Saggi su Kelsen e Capograssi. Due interpretazioni del diritto, Ebenda, S. 129-143, insbesonders S. 131. 197 V. FROSINI, Diritto e Stato nel pensiero di G. Capograssi, aus „Jus“, VIII, 1957, S. 462470, hier aus Saggi su Kelsen e Capograssi. Due interpretazioni del diritto, Ebenda, S.91-106. Das Zitat entstammt S. 91. 68

formelle Elemente in sich trägt, pressen lassen wollte.“ Capograssis Bücher waren für Piovani „beinahe phonographische Wiedergaben seiner Gespräche“198 Salvatore Satta bezeichnete Capograssi als „eine jener seltenen Seelen, welche in der Ewigkeit gelebt haben, und, bei ihrem Tode, bei dem sie in der Ewigkeit aufgegangen sind, ein Vermächtnis hinterlassen haben – Die Bitte an die Hinterbliebenen, ihnen ein wenig von dem Leben zurückzugeben, das sie ihnen geschenkt haben.“199 Für Francesco Carnelutti ist Capograssi ein Verkünder der Hoffnung. Seine Gedanken entsprächen mehr der Musik als der Poesie. 200 Antonio Pigliaru schrieb, Capograssi sei jener Denker gewesen, der „mit der größten Sanfheit aber auch mit der stärksten Beharrlichkeit die Rechtsphilosophie dazu aufgerufen hat, eine ihrer unumgänglichen Pflichten zu erfüllen“, und zwar „sich auf jene lebendige Rechtserfahrung einzulassen“, wo „jene authentische Rechtsphilosophie zu finden ist, welche das Recht selbst ist.“201 Laut Enrico Opocher liebte Capograssi die Wahrheit. Er sei ein Lebensmeister gewesen, der sich durch „stillen Eifer, im verborgenen wirkende Gnade und tiefen Glauben“ ausgezeichnet habe. Für diesen „zerbrechlichen Mann“ sei das Leben „eine Berufung“gewesen, das Denken „ein Gebet“ (so hatte es Capograssi selbst bezeichnet) und die Freundschaft „freudige Treue.“202 Felice Battaglia schrieb, dass man „in Zukunft das italienische juristische Ambiente nicht versuchen könne zu erklären ohne dabei die Person Capograssis, seine Worte und Schriften, zu berücksichtigen.“203 Die zur Erinnerung an Capograssi verfassten Worte vermitteln das Bild eines zurückhaltenden Denkers, der damit beschäftigt war, seiner „Berufung“ nachzugehen und der Zeit, in der er lebte, „zu dienen“. Er war ein Denker, dem 198 P. PIOVANI, Introduzione von G. CAPOGRASSI, Il problema della scienza giuridica, Mailand, Giuffrè, 1962, S. III. 199 S. SATTA, Il giurista Capograssi, aus „Rivista trimestrale di diritto e procedura civile“, XIV, 1960, S. 786. Satta behandelte besser als andere Autoren die Frage der „religio“ bei Capograssi. 200 F. CARNELUTTI, Interpretazione di Capograssi, aus Discorsi intorno al diritto, Ebenda, S. 158, 179 und 180. Die Rede von Carnelutti wurde zum ersten Mal 1955 in der Reihe „Quaderni di San Giorgio“, Florenz, Sansoni, veröffentlicht. 201 A. PIGLIARU, Scienza e filosofia del diritto nel pensiero di Giuseppe Capograssi, aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, XXXV, 1958, S. 207. 202 E. OPOCHER, Giuseppe Capograssi, aus „Rivista di diritto civile“, II, 1956, S. 476. Man vergleiche mit E. OPOCHER, Giuseppe Capograssi filosofo del nostro tempo, Mailand, Giuffrè, 1991, S. 1-110. 203 F. BATTAGLIA, Ricordando Giuseppe Capograssi (1889-1956), aus „Rivista trimestrale di diritto e procedura civile“, X, 1956, S. 603. 69

der Dialog wichtig war, für den Aufregung und Klatsch in Bezug auf seine Philosophie fremd waren. Man kann sagen, Capograssi sei eine „stille historische Persönlichkeit gewesen.“ 204 Frosini hatte sich nicht geirrt, als er in der Einleitung zu seinen Saggi als Unterscheidungskriterium zwischen den Gedanken von Kelsen und jenen von Capograssi „entgegengesetzte Ideale“ nannte, ein Unterschied, der auch zwischen der deutschen und der italienischen juridischen Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts bestand. 205 Capograssis Gedanken widerspiegeln eine juridische Tradition, die sich nicht damit abfindet, die Form als vom Inhalt abgespalten anzusehen und auch nicht an eine Idee kantscher Art glaubt, die der Realität entrückt ist und sich als leer und somit unfruchtbar erweist. Capograssi erwähnt seit Beginn seiner intellektuellen Tätigkeiten die alte Wahrheit, gemäß der das Wahre, also die Idee, sich in der Welt verkörpert:206 der absolute Geist tritt in die Geschichte ein, und nur in der Geschichte ist nach seinem Aufflackern zu suchen. Frosini weist darauf hin, dass im Saggio sullo Stato, der zur selben Zeit wie L’ ordinamento giuridico von Romano erschien, „die Formalismuskritik bereits klar formuliert wurde.“ Mit „Formalismus“ meint man hier eine von seinem Inhalt abgespaltene Form. 207 Der Saggio sullo Stato erschien 1918, mehr als dreißig Jahre vor den Impressioni: mit ihm begann der Weg des Giuseppe Capograssi.“208 204 S. SATTA, Il giurista Capograssi, Ebenda, S. 788. Das Wort „Berufung” findet sich ständig im Werke Capograssis. 205 V. FROSINI, Saggi su Kelsen e Capograssi. Due interpretazioni del diritto. Ebenda, S.1. Man vergleiche mit S. 96: Hier wird Capograssi grobgesprochen als die „Antithesis von Kelsen“ bezeichnet. 206 Capograssi polemisierte aber auf rechtsphilosophischer Ebene gegen die Immanenzphilosophie Hegels. Für Capograssi ist die Geschichte nicht mit der vermeintlichen Verkörperung Gottes im Staate zum Stillstand gekommen. 207 V. FROSINI, Diritto e stato nel pensiero di G. Capograssi, Ebenda, S.103. 208 Ich verweise hier auf die wertvollen Seiten von P. PIOVANI, Itinerario di Giuseppe Capograssi, aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, XXXIII, 1956, S. 417-438. Man erinnere sich an die Behauptungen von Piovani dass Vico „der Autor Capograssis” gewesen sei, und über den gesunden Menschenverstand der „armen Menschen“ (beispielsweise jener Menschen, die Manzoni in I promessi sposi beschreibt), S. 421, 434. Piovani schrieb: „Man muss sagen, dass Vico nicht ein, sondern der Autor Capograssis ist. Er ist ihm am wesensgleichsten: wesensgleich im ewigen Wiederholen von einigen großen Themen, unter die sich alles Űbrige unterordnen lässt; wesensgleich in der Fähigkeit, Recht und Philosophie in der konkreten Menschengeschichte miteinander zu verbinden, wesensgleich bei dem Vorhaben, das Wahre und das Gewisse in den von den armen Menschen beschrittenen Wegen zu suchen, die sich jeden Tag 70

In einer Vittorio Emanuele Orlando gewidmeten Schrift aus dem Jahre 1918 schrieb Capograssi, dass der Staat ein „armer Riese sei, dem seine Krone weggenommen worden ist“, der „seinen Rang verloren habe“, und „gedemütigt und erniedrigt“ worden sei.209 Die „Gelehrtenphilosophie” hat nicht bemerkt, dass der Staat Probleme mit dem „Weltgeist“ hat, der zur Wirklichkeit, zur Geschichte der Menschheit gehört. Die „Gelehrtenphilosophie“ begnüge sich damit, ihr einsames Spiel fortzusetzen – nämlich zu katalogisieren, vergleichen, in einer Reihe anzuordnen, und jene vier oder fünf mögliche Lösungen heranzuziehen, welche das Problem ihrer Sichtweise gemäß lösen können.“210 Der Staat war für Hegel „die höchste Manifestation des objektiven Geistes.“ In ihm herrscht ein Kampf, der nicht wie von Hegel angenommen, „innerhalb der staatlichen Grenzen bleibt“, sondern aus dem von den Gelehrten gezogenen „magischen Kreis“ ausbricht. Dieser Kampf durchbricht also eben diese Grenzen des Staates, und schafft dadurch eine höhere Realität, in der die menschlichen Eigentümlichkeiten aufgehoben sind. Über der wilden Anarchie der bewaffneten, gegeneinander kämpfenden Staaten ist eine civitas maxima sichtbar. Vico, dessen Blick schärfer als jener Hegels war, sieht ihr noch schemenhaftes Profil und erkennt ihre Haupteigenschaft – die totale Gerechtigkeit.211 Capograssi warnt davor, dass „Die Geschichte nicht zum Stillstand gekommen sei:“ Hegel hatte sich getäuscht, als er im modernen Staat ihres Lebens unscheinbar an jene Ideen anpassen, welche das Menschengeschlecht voranbringen - oder, falls diese Ideen von den Menschen fallengelassen oder verraten werden, es in Katastrophen stürzten, wie in bestimmten Abständen, geschehen ist.“ Man sehe nicht ab von G. CAPOGRASSI, L’ attualità di Vico, aus Opere, Band IV, Ebenda, S. 394-410. 209 G. CAPOGRASSI, Saggio sullo Stato, Torino, Bocca, 1918, hier aus Opere, Band I, S. 1145, vor allem S.5. Man lese auch U. POMARICI, L’ individuo oltre lo Stato. La filosofia del diritto di Giuseppe Capograssi, Neapel, Editoriale Scientifica, 1996, S. 7-120. 210 G. CAPOGRASSI, Saggio sullo Stato, Ebenda, S.9. Der Leser des Saggio sullo Stato wird davon genauso überrascht sein wie von der Staatslehre von Heller (H. HELLER, Staatslehre, aus Gesammelte Schriften, M. Drath / G. Niemeyer / O. Stammer / F. Borinski [ Hrsg ], III Band, Leiden, A. W. Sijthoff, S. 79-410. Ital. Übersetzung durch U. Pomarici: Dottrina dello Stato, Ebenda, 1988, S. 23-451 ). Der reine Jurist erwartet sich von diesem Buch Definitionen, Theoreme, Kataloge und Begriffe. Stattdessen handelt es sich hierbei um ein ideengeschichtliches Buch: Capograssi setzt sich darin vor allem mit Rosseau, Vico, Hegel, Pascal, Giucciardini, Botero, Macchiavelli und Augustinus ausseinander. In diesem Buch finden wir sogar den Satz, dass die Herrschaft vor allem „Geschichte“ ist. 211 Man siehe P. PIOVANI, Giuseppe Capograssi, aus Enciclopedia filosofica, FirenzeVenezia, Istituto per la collaborazione culturale, 1957, S. 885-886. Laut Piovani lässt sich Capograssi mittels Vico mit Hegel in Verbindung setzen. 71

den Endpunkt der geistigen Entwicklung der Menschheit gesehen hatte – denn dieser Staat ist ein Koloss mit tönernen Füßen, der nachgibt und zerfällt: „Die Wirklichkeit schreitet problemlos über das Buch von Hegel hinweg.“ „Um den Staat zu verstehen, muss man den Geist verstehen, welcher ihn zusammenfallen lässt, und über ihn hinwegschreitet. Das Entstehen des Staates trägt schon dessen Zerfall in sich.“ Und schließlich ist, „jede wahre Untersuchung über den Staat eine tiefe Überlegung über dessen Ende.“212 Mit diesen Worten schließt sich die Einleitung des Saggio. Die folgenden Seiten sind von einem prophetischem Unbehagen durchdrungen: Capograssi behandelt darin den Staat in seinen Eigenschaften als Zwangsordnung und als Macht, das Gesetz als Zwangsinstrumentarium, und die Justiz. Außerdem warnt er vor den Gefahren, die aus der Abspaltung der Form vom Inhalt, der Autorität von der Vernunft, und der Wissenschaft vom gesunden Menschenverstand ausgehen.213 Wir schrieben hier das Jahr 1918: Die Geschichte musste ihre traurige Lektion noch vollenden. Der unbewaffnete Prophet äußerte seine Warnungen: Dieser Staat, dem der Mensch die Obhut über sein Leben anvertraut hat, hatte sich nicht als Verfechter des Friedens, sondern als kriegerisch erwiesen; auch war er kein Rechtsstaat, sondern ein Staat des verbitterten Kampfes, des Terrors und des Todes gewesen. Die trügerische Fürsorge des Staates hatte soeben ganze Generationen von jungen Menschen in den Tod geführt, und war dabei, sich in das schrecklichste je auf Erden erschienene Regime zu verwandeln. Während also der Staat – auf den das Individuum seine Hoffnung gesetzt hatte – nun seine Rache gegen dieses Individuum plante, erzählte die Wissenschaft „Märchen“, indem sie sich von der „(Herrschaft der) Geschichte“ loslöste.“214 Für die Wissenschaft ist der Staat „ein auf einem bestimmten Territorium lebendes Volk, welches als Ganzes gesehen, als eine Institution aufgefasst wird. Wenn man diese Institution genauer betrachtet, sieht man, dass sie aus Personen besteht, welche Rechte haben, zu denen vor allem die höchste Herrschaftsgewalt im Staate gehört. Herrschaft ist mit dem bedingungslosen Willen dieser Personen gleichzustellen – somit sind Herrschaft und Person untrennbar miteinander verbunden.“215 Capograssi hat die Bedeutung der Verabsolutierung der Herrschaft, die durch das Fehlen der traditionellen Verbindung des Staates mit dem

212 G. CAPOGRASSI, Saggio sullo Stato, Ebenda, S. 16f. 213 Ebenda, S. 25-29. Man vergleiche G. CAPOGRASSI, Riflessioni sull’ autorità e la sua crisi, Ebenda. 214 G. CAPOGRASSI, Saggio sullo Stato, Ebenda, S. 142. 215 Ebenda, S. 43f. 72

Autonomiekonzept entsteht, klar verstanden. 216 Er hat auch klar verstanden, was die leere Form des Gesetzes und die Verabsolutierung der Form gegenüber dem Inhalt wirklich sind: nicht ein Ziel der Wissenschaft, nicht Reinheit, sondern – um Hannah Arendt zu paraphrasieren – die Abtrennung des Juridischen von seinem ethisch-religiösen Fundament.217

216 Ich verweise hier auf D. QUAGLIONI, La sovranità, Rom-Bari, Laterza, 2004, S. 116120. Man siehe die einleuchtende Schrift von G. CAPOGRASSI, Il nuovo regionalismo, aus „Il Tempo“, Nr. 59, 3 März 1919, S. 3. Beim Lesen dieser Seiten kann man im wahren Sinn des Wortes behaupten, dass Gott im Detail steckt: „Der wichtigste Architekt am italienischen Staate war ein anderer Staat, und zwar der piemontesische. Dies ist unsere Erbsünde.“ Der durch „Kannonen und Eroberungen“ errichtete italienische Staat entstand, während „sensible und lebendige Organismen, die auf jahrhundertelange Traditionen und die Identifikation seitens ihrer Bevölkerungen zurückblicken konnten, zerstört wurden. Was an ihre Stelle trat, kann man ungefähr mit einer Wüste vergleichen. Wir präsentierten also einen neuen Staat, der völlig gegensätzlich aufgebaut war als die reichhaltige, tausendjährige Geschichte Italiens es uns nahegelegt hat. Dies ist eine vielleicht einmalige Sache. Den Höhepunkt des Widerspruches stellte die abstrakte Gleichförmigkeit der Verwaltungsvorschriften und die absolute Abhängigkeit der verschiedenen Ebenen des Staates vom Zentrum dar. Dem gegenüber stand die historisch gewachsene, völlig individuell ausgestaltete Autonomie der verschiedenen Herrschaftsgebilde auf italienischem Boden.“ Durch Gewalt wurde uns also „ein Staatskonzept und eine Staatsordnung aufgezwungen, welche uns fremd war.“ Die Folgen davon war „der größte Verlust an Traditionen, welche die Geschichte je gesehen hatte.“ Der „Mythos der staatlichen Allmacht“ hat sich gegenüber der „lebendigen Realität“ (der politischen Gebilde) Italiens durchgesetzt, und hat dadurch die „ursprünglichen und wunderbaren Züge der nationalen Physionomie“ zerstört. „Es ist verständlich, dass die Realität sich gerächt hat.“ Man vergleiche diese mit einer anderen Schrift, welche nur ungefähr einen Monat nach diesen Überlegungen über den Regionalismus verfasst worden war: G. CAPOGRASSI, La rivoluzione amministrativa, aus „Il Tempo“, 18 aprile 1919, S. 5. Capograssi schrieb: „Unsere Verwaltung ist streng militärischer Art. Erkenntnishungrige Menschen wissen, dass der gigantische Staatsorganismus ausschließlich auf einer einfachen, aber genialen Idee gründet – nämlich die absolute Herrschaft des Staates. Die Annahme hinter dieser von Rechtsgelehrten erfundenen und von Männern der Tat umgesetzten Idee ist, dass der Staat von anderer und höherer Natur als die Gesellschaft ist, durch welche er bestehen kann; und, dass er diese Gesellschaft, der er dienen soll, beherrschen muss.“ Mit Bezug auf die von Napoleon errichtete Verwaltung des modernen Staates „hat sich unsere Demokratie stark dem Schlaf des Vergessens hingegeben.“ Napoleon nutzte das Revolutionswerk aus, welches „die lokalen Autonomien beseitigt hatte.“ 217 Man siehe H. ARENDT, On Revolution, London, Penguin Books, 1988, S. 189 und 191, zitiert aus D. QUAGLIONI, La Sovranità, Ebenda, S. 110. 73

Vico warnte in seinem De uno universi iuris principio et fine uno:218 Unde conficias certum ab auctoritate esse, uti verum a ratione, et auctoritatem cum ratione omnino pugnare non posse: nam ita non leges essent, sed monstra legum.

Monstra legum: „Der Inhalt des Gesetzes verliert jedigliche Bedeutung und jediglichen Wert.” „Das Gesetz ist bloß Gesetz, weil dies vom Staat so gewollt wurde: der Wille des Staates ist immer Gesetz für die Menschen.“ Somit steht „das moralische und spirituelle Vermächtnis der Menschen, welches in der Geschichte zu finden ist, und der einzige Reichtum der Menschen und das Bedeutendste in ihrem Leben ist, dem Befugnis des Gesetzgebers in keiner Weise im Weg.“ Die Wirklichkeit wird auf das einfache Begriffspaar Staat – Individuum reduziert: Das Individuum steht alleine und wehrlos der Allmacht des Staates gegenüber. „Der Hammer des Gesetzes“, so Capograssi, „zerstört all jene moralische Institutionen, welche über dem einzelnen Inviduum stehen, und dem Staat selbst Leben und Bewegung verleihen: zum Beispiel religiöse Gesellschaften, soziale Ordnungsinstanzen, die regionale politische Ebene und die spontane und antike Autonomie der Gemeinden.“ Alle sozialen Gebilde und Gruppen werden vom Staat und seiner „Allmacht“ – die „ignorant und blind ist, weil sie partikularistisch und willkürlich ist“ – „völlig verkannt.“219 Die staatliche Mythopoiesis führt dazu, dass die traditionelle Idee der Souveränität vergessen wird. Die Wissenschaft vergisst, dass die Souveränität, bevor sie sich zu einer gefährlichen Lehrbuchdefinition umgewandelt hat, „wahrhaftige Objektivität“, und „Ausdruck und Interpretation der tiefen Wirklichkeit des Konkreten in seiner konkreten Struktur“ ist. Sie ist „Vernunft 218 G. B. VICO, De uno universi iuris principio et fine uno, Caput LXXXIII, aus Opere giuridiche, Hrsg. von P. Cristoforini, mit einer Einleitung von N. Badaloni, Florenz, Sansoni, 1974, S. 101. 219 G. CAPOGRASSI, Saggio sullo Stato, Ebenda, S. 136f. Capograssi hat weiteres über die „in der Mitte, d.h. zwischen Staat und Individuum, stehenden sozialen Organismen geschrieben. Man siehe hierfür G. CAPOGRASSI, Riflessioni sull’autorità e sulla crisi, Lanciano, Carabba, 1921. Hier aus Opere, Band I, Ebenda, S. 149-402. Hier hat Capograssi über die „Metaphysik des Staates“, welcher seinen Ursprung in der Aufklärung hat, geschrieben. Der Staat hat versucht, sich das Monopol der juridischen Gestaltung anzueignen. Den sozialen Kräften gelang es aber auch, zu einer Autorität zu werden (S. 255f). Das Individuum und die Idee der Herrschaft sind am Zerfallen. Die Idee der Herrschaft ist nicht mehr ein Teil der Gesellschaft und ihrer verschiedenen Bereiche; stattdessen wurde sie an die Spitze einer hypothetischen sozialen Pyramide gestellt. Die Herrschaft, dieses „unschätzbar wertvolle und zerbrechliche Gut“ scheint in jenen Jahren von der Gesellschaft getrennt, und der Wahrheit beraubt worden zu sein: die Herrschaft verliert sich, „wenn die Wahrheit sich in der Seele verdunkelt“ (S. 293). Man vergleiche mit H. ARENDT, Authority in the Twentieth Century, aus „The Revue of Politics“, XVIII, 1956, S. 403-417. 74

und Gedanke“, und auch „Wahrheit“, nämlich „die Wahrheit der ganzen praktischen und sozialen Welt in einem bestimmten Moment der Geschichte.“ „Das Denken dieser Wahrheit, das Nachsinnen über sie, und schließlich ihre Durchsetzung in der Wirklichkeit machen Gesetz und Recht aus.“ Die Souveränität ist keine „leere“ Macht, sie ist nicht bloß „die Möglichkeit zu handeln, eine abstrakte und inhaltslose Möglichkeit.“. Stattdessen ist sie „eine volle Macht, die wegen ihres Inhaltes einen höheren Willen darstellt. Dieser Wille umfasst in sich alle Elemente des konkreten Lebens, welche die, von Mal zu Mal immer umfassenderen Bedingungen der menschlichen Persönlichkeit darstellen. Die Souveränität ist „ratio und Gedanke“, sie ist „ratio, welche in der Bestimmheit Vicos lebendig ist.“ Souveränität „ist immer Wirklichkeit“. Aus all diesen Gründen ist sie „grundsätzlich Geschichte.“220 Capograssi warnt, „dass das Leben über der Logik steht.“ „Weil eben der Inhalt der Wirklichkeit und die Form der Vernunft entspricht, muss man sich damit begnügen, die Vernunft in der Wirklichkeit zu erkennen, und auch erkennen, wie sich die Vernunft ändert, wenn sich die Wirklichkeit ändert; zudem auch noch, wie die Wirklichkeit rationell wird.“ Jene Menschen, welche „die Idee weit oberhalb der Realität, oder die Form vom Inhalt getrennt darstellen“, sollten resignieren und von ihren Vorstellungen absehen, was eine demütige Handlung wäre.221 „Die Essenz des Staates und des Rechts in einem Begriff, in einer Idee, oder in einer kantianischen Form suchen zu wollen, bedeutet, in Illusionen zu schwelgen, weil dies mit der Realität nicht zu tun hat“, so Capograssi. Eine Idee, die sich nicht verkörpert, bleibt gegenüber dem Fluss der Geschichte unbeweglich und fremd, und ist somit „eine Erklärung, welche nichts erklärt“, und „ein Konzept, welches nichts konzipiert“, „weil es nicht erklärt und konzipiert, was die Menschen machen und erschaffen, was also die Menschen wirklich interessiert.“222 Im mittleren Teil des Saggio finden sich einige Seiten, die Capograssi dem Il problema dello Stato e Vico gewidmet hat: Hier interpretiert Capograssi das juridische Denken von Vico scharfsinnig. Er hebt das iuris principium der honestas hervor, welches laut Vico „den ewigen Aspekt“ des Gesetzes inspiriert, nämlich die ratio legis oder das Wahre. Dann vergleicht er dies mit dem „wandelbaren Aspekt“ des Gesetzes, der der Nützlichkeit zukommt, und in dem das Gewisse lebt. Certum est pars veri: Capograssi erinnert daran, dass dieses Gewisse nicht ein unbewegliches Werkzeug oder Mittel ist. Eigentlich kann man es aber schon als ein Mittel zum Erhalt des Wahren bezeichnen. Dieses Mittel 220 G. CAPOGRASSI, Saggio sullo Stato, Ebenda, S. 103, 105-107. 221 Ebenda, S. 81. 222 Ebenda, S. 78f. 75

wird von den Gesetzesgebern unter den Menschen aufbewahrt, denn der menschliche Anstand allein wäre nicht in der Lage, es zu erhalten. Verum factum convertuntur: das Gewisse ist das Wahre und umgekehrt. Das Geheimnis des einen befindet sich im anderen, das eine ist das andere. 223 Certum ab auctoritate, verum a ratione: das durch die Autorität hervorgebrachte certum entspricht dem verum, und das aus der Vernunft hervorgehende verum entspricht dem certum. So verwandelt sich die Autorität in Macht, dabei ihre eigene Unmittelbarkeit überwindend. Als Macht verstanden, wird die Autorität dann auch zur Gerechtigkeit, vis veri.224 Somit wird die Nützlichkeit, durch das Verhältnis und durch die Anerkennung der Wechselseitigkeit, von einer Eigentümlichkeit zu einem Allgemeingut erhoben. 225 Auf gleiche Art und Weise verschmilzt bei einem Prozess menschlicher Weiterentwicklung das jus naturale prius mit dem jus naturale posterius. Die vis veri „ist das informierende Moralprinzip, welches sozusagen die Sensibilität humanisiert“. Sie ist auch der „Ursprungsgrund des Rechts.“ Das menschliche Gewissen erreicht sie durch die Scham, Schritt für Schritt, durch Fehlschläge und abermalige Fehlschläge, per multas tribolationes. Die Scham ist der einzige von der Vorsehung bestimmte „Funke von Menschlichkeit“. Sie ist auch das Prinzip, durch das der Mensch mittels den tausenden Entwicklungen 223 G. B. VICO, De opera proloquium, aus De uno universi iuris principio et fine uno, Ebenda, S. 35. 224 G. CAPOGRASSI, Saggio sullo Stato, Ebenda, S. 66. 225 Um zu verstehen, was Capograssi unter „das Recht als allgemeine Erfahrung“ verstanden hatte, verweise ich hier auf G. CAPOGRASSI, Agricoltura, diritto, proprietà, aus „Rivista di diritto agrario“, II, 1952, S. 26-59, hier aus Opere, Band V, S. 269-310, vor allem S. 297. Capograssi schrieb: „Ich schließe die Tore, und begrenze dadurch meinen Besitz. Wenn die Gemeinschaft dieser meinen Entscheidung aber nicht zustimmen würde, nicht solidalisch mit mir wäre, diese meine Handlung nicht gewissermaßen durch ihre Anwesenheit bestätigen würde, dann wäre diese meine Handlung leer, ohne Wert und ohne Folgen. Es wäre bloß eine leere Tatsache geblieben, aus welcher keine objektive Form und keine stabile Institution des Lebens hätte entstehen können. Dies ist Gehalt und Bedeutung des Eingriffes der Gemeinschaft bei der Verwandlung der Handlung eines Einzelnen in ein Recht. Wenn diese Handlung vom Einzelnen als auch von der Gemeinschaft gewollt wird, verwandelt sie sich in eine allen eigene Form des Lebens – in ein System von Pflichten und Funktionen, von Mächten und von Bestrebungen, welche den Egoismus des Einzelnen und seine Handlungen stärker in das Leben und in die Arbeit der Gemeinschaft einbinden.“ Capograssi bezieht sich hier auf die l. ex hoc aus D., 1, 1, 5, aus dem Corpus iuris civilis, Digesta, Ebenda, S. 29, die besagt: „Ex hoc iure gentium introducta bella, discretae gentes, regna condita, dominia distincta, agris termini positi, aedificia collocata, commercium, emptiones venditiones, locationes conductiones, obligationes institutae: exceptis quibusdam quae iure civili introductae sunt“. 76

seiner Aktivität, sein praktisches und ethisches Leben, sein vere vivere, sein vivere ex vero et ratione nachvollziehen kann. 226 Einige Jahrzehnte später schrieb Capograssi, dass die Handlung „sich vom Morgengrauen ihres Anfangs, wo sie noch Schwester des Traumes war, mittels der Erfahrung, welche die Geschichte ist, sich von etwas Unmittelbarem zu etwas vorher Reflektiertem verwandelt hat. So wird sie zum Gedanken, und dann, am Ende der Odysee des Handels, in der Dämmerung der Handlung, schließlich zu einem Gebet.“ 227 Als was anderes konnte also das, um Spinoza zu paraphrasieren, „auf eine gewalttätige Bedrohung reduzierte Recht“ Capograssi 1918 erscheinen wenn nicht als eine „Katastrophe?“228 In diesem Essay aus dem Jahre 1918 scheint der desillusionierte Prophet Capograssi bereits stark durch. In den Trümmerfeldern des entthronten Staates, der einen „totalen Kampf ausgelöst und bis an sein Limit gebracht hat“, sieht man den Weg, auf dem der menschliche Wille bis zur Errichtung der „neuen Stadt“ vorankommen kann: Dessen Gerechtigkeit ist die Gnade, und die vollkommene Gnade ist gemäß Augustinus vollkommene Gerechtigkeit. Die Gnade stellt „das Erscheinen der Wahrheit inmitten des Lebens“ dar. In ihr ist „der Geist geistiger“, weil durch sie „der unendliche Gott das einfache Leben und die armselige Sterblichkeit der Menschen zu sich nimmt und erhöht.“ Für die Gnade „sind Geist und Geschichte ein Gedicht.“ „Die Gnade ist die einzige wirklich poetische Tugend des menschlichen Geistes“. „Sie ist ständig im Kampf der Geschichte tätig, um die neue Welt unserer Zivilisation zu gründen, errichten und höherentwickeln.“229 „Principium et finis iurisprudentiae christianae et moralis christianae omnino idem, quae iubet christiano in omnes homines prae Deo charitatem“ – aus diesem Grunde hallt das Echo Vicos aus jeder Seite Capograssis. So (man siehe das obige Zitat) hat Vico eine traditionelle Lehre erneuert, deren erstes (ethisches) Prinzip die honestas ist, gefolgt von jus suum cuique und von neminem laedere. Ihr Fundament ist die caritas, dieses „einzige Prinzip“, welches Gerechtigkeit, ratio aeterna, also constans et perpetua, ist.230 226 G. CAPOGRASSI, Saggio sullo Stato, Ebenda, S. 62-78. 227 Man siehe Unterkapitel 2.5. 228 Ebenda, S. 69-73. Das Wort „Katastrophe“ befindet sich auf S. 71. Capograssi kritisiert in diesen Seiten auch die Idee der Reduktion der Rechtes auf eine ökonomische Nützlichkeit. 229 Ebenda, S. 142- 145. Man vergleiche mit G. CAPOGRASSI, Prefazione zu „La certezza del diritto“ di F. Lopez de Onate, aus Opere, Band V, S. 77-118. 230 Man siehe die Definition von Gerechtigkeit in Vico ( Ebenda, Caput LVII, S. 71 ). Auch G. CAPOGRASSI, Honeste vivere, aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, IV, 1926, S. 558-565, hier aus Opere, Band IV, Ebenda, S. 29-41. 77

„Der Staat, der gemäß Petrus einer unendlich größeren Autorität unterstellt ist (so wie es Pilatus vor Jesus war), dieser betrügerische, kriegsschürende, den „Hammer des Gesetzes“ verwendende und nur mit einer verschwindend geringen Anzahl von Menschen in Beziehung tretende Staat, muss überwunden werden.“231 So wie ein Mensch, der aus lauter Verzweiflung an Selbstmord denkt, dann aber doch wieder Hoffnung schöpft, und dadurch zum Gebet findet, dass ihn dann rettet, „so erkennt der ( menschliche ) Geist, durch seine Verzweiflung, seine Rettung im Ende des Staates.“232: „der Wille, der sich als Staat konkretisiert hat, kann diesen Staat auch überwinden.“ Dieser Wille erkennt auch, „dass die Geschichte Menschheit bzw. Menschlichkeit“ ist, und nicht eine dumpfe, in staubigen, vergilbten Büchern aufgezeichnete Materie. Dadurch erkennt er deren ewige Idealität, „welche eine tiefsinnige Ordnung ist, die Gott auf geheimnisvolle und wunderbare Art und Weise durch das Wirken der freien menschlichen Willenskräfte verwirklicht, von Schmerz zu Schmerz fortschreitend.“233 Am Ende des Weges befindet sich die Stadt Gottes, civitas magna, in der die Menschheit in einer einzigen Geburt wiedervereint wird: die Wahrheit erscheint in der Geschichte. Die sich konkret manifestierende Idealität der idealen und ewigen Geschichte erscheint wie ein Stern am Firmament, der den Weg anzeigt. Der Staat ist nur im Gedanken eine „überwundene Kraft“, und „Etwas, was der Vergangenheit angehört“ gewesen. In der Wirklichkeit war er eine Macht, die sich zu einem schrecklichen Unglück, zu einem monstra legum entwickelt hat. Die Gedanken des entwaffneten Propheten sind Hoffnung in einer vor der Katastrophe stehenden Welt, deren Lärmen „die in der Stadt Gottes herrschende höchste Ruhe aber nicht zu stören vermag.“ 234

231 G. CAPOGRASSI, Saggio sullo Stato, Ebenda, S. 130-138. 232 Der Versuch die hegelsche Rechtsphilosophie zu überwinden ist hier offensichtlich. 233 Ebenda, S. 140. Man vergleiche mit G. CAPOGRASSI, Introduzione alle vita etica, Turin, Edizioni di Filosofia, 1953, hier aus Opere, Band III, S. 1–171. Das Selbstmord und Gebet (“suicidio e preghiera”) gewidmete Kapitel schließt dieses Essay von Capograssi ab. 234 G. CAPOGRASSI, Saggio sullo Stato, Ebenda, S. 147. 78

2.4. Das ethische Leben: die juridische und die moralische Erfahrung. Die Hoffnung im Denken von Giuseppe Capograssi. In Bezug auf Capograssis Denken spricht Frosini ein Wort aus, „welches die Juristen nicht aussprechen, und die modernen Philosophen vermeiden zu benutzen; wenn sie es aber doch machen, dann ziemlich widerwillig, wie jemand der gezwungen ist, in der Sprache der Primitiven oder der Kinder zu sprechen. Es handelt sich hierbei um das Wort ‚Seele’.“ Für Frosini war Capograssi ein Mystiker. Sein „gewöhnliches Gewissen, „welches Philosophierereien ignoriert, und stattdessen über das Gute und das Schlechte urteilt, ist die Seele.“ Frosini geht sogar so weit, zu behaupten, dass „das Individuum von Capograssi im wesentlichen Seel ist.“235 Die Analisi dell’ esperienza comune von Capograssi und seine „Indagine della vita etica“ enden beide in der Mystik, gelangen beide zur Vorstellung einer die Hoffnung darstellende Religion, die besagt, dass der Mensch nicht alleine im Universum ist. Antonio Pigliaru schreibt dazu Folgendes: „Der Gott, von dem Capograssi spricht, ist sicherlich der Gott seiner Religion, nämlich der katholische Gott – und nicht etwa der Gott eines katholischen Philosophen. Es ist also sicherlich der Gott seiner Kirche. Das Konzept aber, dass Capograssi von diesem Gott hat, ist, auch wenn es stark durch seinen Glauben vorgeprägt ist, höchst offen und laizistisch.“236 „Das menschliche Leben wird beurteilt werden“, so Capograssi. „Das einzelne Urteil ist fast ein Symbol, fast ein entferntes Bild jenes Urteils, welches sich über das ganze Leben erstreckt. Und wenn es andererseits dieses endgültige, allumfassende Urteil nicht geben würde, dann wäre das einzelne, bezüglich einer bestimmten Handlung ausgesprochene Urteil doch absurd.“237 Das Problem des Prozesses ist eines der grundsätzlichen Probleme in Capograssis Denken. Sattas Reflexion ist von diesem Problem ausgegangen. Jus ist jus aufgrund von judicium: das Recht erwacht während jenes – wirklich demokratischen – Teils des Prozesses zu tatsächlichem Leben, in dem der Richter über „richtig“ oder „falsch“ entscheiden muss. Der Prozess ist „ein 235 V. FROSINI, Diritto e Stato nel pensiero di G. Capograssi, Ebenda, S. 104f. 236 A. PIGLIARU, La lezione di Capograssi, Sassari, Gallizzi, 1962, S. 9. 237 G. CAPOGRASSI, Analisi dell’ esperienza comune, Rom, Atheneaum, Società editrice romana, 1930, hier aus Opere, Band II, S. 1-207. Ich zitiere hier aus S. 206. Man siehe P. PIOVANI, Una analisi esistenziale dell’ esperienza, aus La filosofia dell’ esperienza comune di G. Capograssi, Ebenda, S. 7-61. 79

Herzstück der (menschlichen Lebens-) Erfahrung“, aus ihm scheint etwas „Magisches“ durch, was menschlich und göttlich zugleich ist.238 Die ethische Erfahrung entsteht aus der Erfahrung des Bösen: das Böse ist mehr als jene Müdigkeit, die den Menschen befällt und mit dem Versprechen der Ruhe schmeichelt. Das Böse liegt in der Negation der ganzheitlichen Realität, in der Negation der gemeinschaftlichen Erfahrung. Das Böse liegt in der Einsamkeit des Individuums, welches sich in seiner eigenen Erfahrungswelt einschließt, diese als universal ansieht, und somit seinen eigenen Willen als „gesetzgebend“ versteht. Auf die Frage „quid est veritas?“ wird ein solcher Mensch antworten, dass er keine andere Wahrheit außerhalb seines eigenen Willens kennt.“239 Capograssi schrieb, dass das Böse „vor allem Mord“ sei. Ein Leben, das sich von der gemeinschaftlichen Erfahrung entfernt, und sich im Solipsismus einkapselt, „sieht sich als das einzige Leben an“, und „macht es zu ihrem Prinzip, dass zu machen, was es will“. Solch ein Leben „zerstört notwendigerweise durch Hass und Tod [„das höchste Übel“] die anderen Leben.“ Die Negierung des ethischen Lebens drückt sich im Wunsch und Willen aus, Böses zu tun und zu töten. „Die gesamte Logik des Bösen führt zum Mord.“240 Das Böse kann sich nicht mit dem Konkreten identifizieren: es bekräftigt seine eigene Erfahrung und verleugnet die gemeinschaftliche Erfahrung, es gerät in Widersprüche. Die Erfahrung des Bösen stellt den Willen vor die Wahl: entweder verrät man die wahre Handlung, oder man „zieht die Handlung durch.“ „Die Essenz des Individuums“ befindet sich somit vor der problematischen Wahl, „sein Schicksal, sein Leben und sein eigenes Gesetz zu wählen. Dies ist sein Problem, diese Wahl betrifft sein ganzes Wesen.“ Capograssi bekräftigt die Verantwortung des Menschen in der Geschichte: denn auch für ihn ist die Welt kein göttliches Spiel, sondern ein göttliches Risiko. Das – freie – Individuum ist dazu berufen, sich sein eigenes Gesetz zu geben, und das Problem seines Schicksals zu lösen. „Gerade diese grundsätzliche Freiheit macht seine lebendige und unzerstörbare Wesenhaftigkeit aus.“241 Die ethische Erfahrung entsteht als „Verteidigung vor dem Bösen“ Der „vom Bösen bedrängte“ Wille will weiterhin das Leben, und widersteht somit dem Bösen. 238 G. CAPOGRASSI, Giudizio processo scienza verità, aus „Rivista di diritto processuale“, 1950, I, S. 1-22, hier aus Opere, Band V, Ebenda, S. 51-76, vor allem S. 57 und 62. 239 G. CAPOGRASSI, Analisi dell’ esperienza comune, Ebenda, S. 90. 240 Ebenda, S. 92. 241 Ebenda, S. 97f. G. CAPOGRASSI, Liberali e cattolici, aus „Meridiano”, Nr. 17, 1 november 1945, S. 1f, hier aus Opere, Band VI, S. 109-113. Capograssi schreibt: „Wie kann man das Individuum zum vollen Besitz seiner Selbst führen? Dies ist das Problem der Freiheit, der Demokratie, der Zukunft der Menschheit.“ Mit diesem Problem verbunden ist „das Schicksal dieser armen, agonisierenden menschlichen Welt“ (S. 113). 80

Die Verteidigung vor dem Bösen wird somit zum Problem des Individuums – es entsteht das ethische Leben. Die ethische Erfahrung besteht aus juridischer Erfahrung und aus moralischer Erfahrung; diese verstärken sich gegenseitig und gehen ineinander über. Die ethische Erfahrung besteht aus Anstrengung und Aufopferung. Sie entsteht aus „unmittelbar aufkommendem Interesse“, aus Leidenschaften. Sie wächst aber vom „rohen Willen“ zur „lebendigen Wahrheit“: in der gemeinschaftlichen Erfahrung erreicht der Wille einen Zustand, in dem er das Leben „voll und ganz will“. Wahrheit und Leben können vom einzelnen Individuum nicht alleine genossen werden, sondern nur in der gemeinschaftlichen Erfahrung, in der Bemühung, „das Leben gemäß dem Gesetz der Geschichte zu vollenden.“ Das Geheimnis im Kampf gegen das Böse liegt in der kraftvollen Richtigstellung des Willens. Ethik und Recht sind die Rettung vor dem Bösen. Das einheitliche ethische Gesetz teilt sich bei seinen notwendigen Bemühungen gegen das Böse in das juridische und in das moralische Gesetz auf: denn die Gefahr richtet sich gegen die Handlung und gegen den Handelnden. Das juridische Imperativ schreibt somit vor, die Handlung zu retten; das moralische Imperativ hingegen, den Handelnden. Auch wenn der Imperativ ein doppelter ist, so ist die Wahrheit und die Erfahrung doch nur eine einzige. Um die Handlung zu retten muss man alle Formen der praktischen Erfahrung erleben, erleiden und wollen. Alle Wahrheiten der praktischen Erfahrung müssen also durch die Handlung durchgeführt und bejaht werden. Man muss juridische Erfahrung sammeln, damit diese ein grundsätzlicher Teil der Geschichte der menschlichen Handlungen sein kann. Diese juridische Erfahrung ist eine unabdingbare und wertvolle Substanz im Leben des Individuums und Hauptphase und Hauptform seines Schicksals.242

Capograssi schrieb: „Die juridische Erfahrung kann man als Vorbereitung auf die moralischen Erfahrung bezeichnen: beide stellen die gleiche ethische Erfahrung dar, die eine verweist auf die andere.“243 Frosini hatte von einer „widersprüchlichen ethischen Erfahrung“ im Denken Capograssis gesprochen. Er glossierte Capograssis Gedanken folgendermaßen:244 Diese Widersprüchlichkeit in der ethischen Erfahrung, welche der Keimkern der gemeinschaftlichen Erfahrung der Menschheit ist, wurde von Capograssi endgültig erfasst. Er hat sie, durch eine geniale Intuition, im intrinsischen Verhältnis zwischen Handelndem und Handlung gefunden. Die Widersprüchlichkeit ist wirklich ein grundlegender und unauslöschlicher Bestandteil dieses Verhältnisses, weil jeder

242 G. CAPOGRASSI, Analisi dell’ esperienza comune, Ebenda, S.111f. 243 G. CAPOGRASSI, Introduzione alla vita etica, Ebenda, S. 70. 244 V. FROSINI, Capograssi e l’ ambiguità dell’ esperienza etica, aus La filosofia dell’ esperienza comune di G. Capograssi, Ebenda, S. 237. 81

dieser beiden Begriffe sich in den anderen übertragen lassen kann, ja, jeder dieser beiden Begriffe ständig im anderen Begriffe ein- und ausgeht, und somit gleichzeitig sich selbst und der andere Begriff ist: denn der Handelnde kann sich nur durch die Handlung ausdrücken, und umgekehrt. Capograssi hat dadurch ein für alle Mal die philosophische These ausgedrückt, welche die vexata quaestio – den Unterschied zwischen Recht und Moral – löst.

Die „Widersprüchlichkeit“ der ethischen Erfahrung ist die Basis des Denkens Capograssi. Das moralische Gesetz „setzt das juridische Gesetz fort.“ „So wie der Imperativ die Handlung rettet, so rettet der moralische Imperativ den Handelnden, weil das Böse von seiner Entstehung an die Handlung bedrängt“: das „wahre Böse“, das „totale Böse“ hingegen „zielt auf das Herz ab. Deshalb schreibt das moralische Gesetz vor, „guten Willen zu haben“, und „gut zu sein.“245 Die juridische Erfahrung führt dazu, dass man auch ohne zu wollen will, sie stellt den Willen zurecht.246 Die moralische Erfahrung besteht aus „der völligen Ergründung des eigenen Willens, welcher einer bestimmten Handlung zugrundeliegt“; sie beinhaltet auch „das eigene wollen zu wollen“ und „den eigenen Willen zu wollen“ – eine „sehr schwierige Tat.“247 Das ethische Leben, das sich in der gemeinschaftlichen Erfahrung manifestiert, „besteht aus einer Reihe von etappenweisen Proben, durch die man den Willen seinem hohen Schicksal, seiner schwierigen Berufung, zu seinem natürlichen Zielobjekt zurückführen will.“248 Das ethische Leben erreicht aber nicht seine Zwecke, denn „die Handlung bleibt hinter dem sie auslösendem Antrieb zurück“, der Staat rutscht in einen Krieg hinein, das Recht wird zum Egoismus, die Gesellschaft wird zu einem Unterdrückungsapparat, die Verantwortung verwandelt sich in ein Paradox und das Gesetz in ein ministratio mortis.249 Die ethische Erfahrung beendet nicht die Geschichte des Individuums. Stattdessen öffnet sie diese: sie stellt das Individuum nämlich „vor sich selbst“, sie legt ihm die „fürchterliche Ungerechtigkeit“ der Bürde der Verantwortung auf, sie gibt ihm „Bewusstheit seiner Selbst“, sie macht ihn zum „Protagonisten der Wirklichkeit“, der für die Menschheitsgeschichte auf dieser Welt

245 246 247 248 249 82

G. CAPOGRASSI, Analisi dell’ esperienza comune, Ebenda, S. 171. G. CAPOGRASSI, Introduzione alla vita etica, Ebenda, S. 69. Ebenda, S. 72. Ebenda, S. 78. Ebenda, S. 79-99.

verantwortlich ist.250 Die ethische Erfahrung endet damit, dass das Individuum sich folgende Frage stellt: „Was will ich denn wirklich?“. Das Bedürfnis zu wissen, was dieses Wollen des Lebens ist, entsteht. Es geht aber hier nicht darum „das Leben so zu wollen, so wie es leben will, sondern wie man wollen soll.“251 Diese Seiten erinnern an Leopardi: Man kann das Individuum, wie es bei Capograssi beschrieben wird, mit einem herumirrenden Hirten vergleichen, der seinen nächtlichen Gesang angestimmt hat, „weil er die Endlichkeit, die gesamte „Endlichkeit nicht akzeptiert.“252 Sich in der materiellen Welt fortzuentwickeln erscheint einem solchen Individuum zwar ein Ziel, aber nicht das Ziel. Die Begrenztheit aller Freuden, Vergnügen und Genüssen der materiellen Welt betrübt ihn, da er das Leben nicht „vollständig, unbegrenzt“ leben kann. 253 Des Weiteren stellt sich, wie in Leopardi, die Frage der Zeit, die alles verfärbt: das Individuum weiß, dass ein dem Genuss und der Befriedigung von weltlichen Wünschen gewidmetes Leben einen amari aliquid mit sich bringt: es vergeht. 254 Es hätte gerne eine Dimension, in der die Zeit nicht vergeht, in der es kein Ende, sondern Unendlichkeit, und somit keinen Tod gibt. „Der Wille möchte das ewige Leben, auch wenn dieser Wunsch unwirklich erscheint. Der – unwirklich erscheinende – Gegenstand des Willens ist somit die Unendlichkeit. Dieser Gegenstand erscheint dem Willen unwirklich, weil er ihn nicht in Erfahrung bringt.“ Der menschliche Wille will also in seinem Entwicklungsgang „das Beständige, welches es nicht gibt“. „Das ganze Leben wird durch dieses tiefe, geheime, unwiderstehliche Streben beherrscht.“ 255 Der Wille „möchte wirklich das Unendliche“, und die Realität „befriedigt diesen Wunsch nicht.“256 Die Welt der Geschichte entsteht. In ihr ist die Selbstwahrnehmung des menschlichen Lebens von Unzufriedenheit geprägt. Das Leben ist hier als gemeinschaftliches Leben zu verstehen – die Menschen schließen untereinander eine social catena, sie streben nach „tiefer und solidarischer Einheit.“257

250 251 252 253 254 255 256 257

Man siehe A. PIGLIARU, La lezione di Capograssi, Ebenda, S. 7-11. G. CAPOGRASSI, Introduzione alla vita etica, Ebenda, S. 103. Ebenda, S. 124. Man siehe den „L’etica dello stordimento“ benannten Beitrag von P. PIOVANI aus La filosofia dell’ esperienza comune di Giuseppe Capograssi, Ebenda. G. CAPOGRASSI, Introduzione alle vita etica, Ebenda, S. 104f. Ebenda, S. 107. Ebenda, S. 108 und 114. Ebenda, S. 115. 83

Der Sinn der Liebe, „in welcher der Grunde der Handlung zu finden sind“, und des Todes, an den das Individuum „nicht glaubt“, entsteht. Schließlich entsteht aus dem Kontrast zwischen der Endlichkeit des Individuums und seinem Streben nach Unendlichkeit das Geheimnis. Wie der von Leopardi geschaffene Wanderhirte fragt sich das Individuum nach dem Warum aller Dinge dieser Welt, erkennt, dass es Teil von ihnen ist, behauptet dann, dass sein Leben „etwas Schlechtes sei“, und sehnt sich nach „einem anderen Leben.“258 Er hofft auf unendliches Leben. 259 Was folgt, Suicidio e preghiera, ist eines der schönsten Kapitel von Capograssi. Man kann nichts über Capograssi schreiben, ohne es zuvor gründlich durchdacht zu haben. Alle im Namen des Kelsenismus über den „katholischen Juristen“ und den „religiösen Menschen“ Capograssi geschriebenen Betrachtungen, dessen Autoren dieses Kapitel nicht zur Kenntnis genommen haben, erscheinen überheblich.260 Satta hatte Capograssi als „Meister 258 Ebenda, S. 122-127. 259 Es sei hier an einen Dialog über die Unsterblichkeit der Seele erinnert, der vor dem Starec stattfand. Aus: F. DOSTOJEWSKI, Die Brüder Karamasow aus Dostojewskis Werke, Band IV, Übers. von V. Lesowsky, Zürich, Stauffacher, 1962, S. 80: „Iwan Fjodorowitsch fügte dabei unter anderem hinzu, gerade hierin bestünde das ganze Naturgesetz. Wenn man in der Menschheit den Glauben an ihre Unsterblichkeit vernichte, so würde in ihr nicht nur die Liebe sofort versiegen, sondern jede Lebenskraft, das irdische Leben fortzusetzen. Es würde dann keinen Sinn mehr für Moral geben, alles würde erlaubt sein, sogar die Menschenfresserei. Iwan Fjodorowitsch schloß mit der Behauptung: ,Für jeden Menschen, der wie ich weder an Gott noch an die Unsterblichkeit glaubt, muß das natürliche Sittengesetz sich sofort in das volle Gegenteil des früheren religiösen Gesetzes verwandeln, und der Egoismus, sogar bis zum Verbrechen, muß in einem solchen Fall dem Menschen nicht nur erlaubt sein, sondern muß als notwendiger, vernünftigster und vielleicht gar edelster Ausweg aus seiner Lage anerkannt werden'.“ 260 Eine beunruhigende Tendenz unserer Zeit, welche in akademischen Kreisen weit verbreitet ist, basiert auf der Überzeugung, dass man die Bedeutung der Wörter selbst festlegen kann, alsob die Sprache keine allgemeingültige Grundlage hätte. Beispielsweise liest jemand das Wort „Religion“, und versteht darunter „Inquisition“; oder der Ausdruck „katholischer Jurist“ wird als „voreingenommener Denker“ interpretiert, wobei gleich ist, ob man „auf dessen Seite“ steht oder nicht. Man könnte hier noch unendlich viele Beispiele nennen: „Schuhabsatz“ wird als „Hammer“ verstanden, „Weiß“ als „Schwarz“, und so weiter. Diese „Art zu Denken“, wenn man dies so nennen kann, gründet auf einer geistigen Voreingenommenheit, welche wie ein Miasma vererbbar ist. Die Wörter verlieren ihren Sinn, weil man ihre gesellschaftlich historisch gewachsene Semantik nicht akzeptiert. Das stipulated concept verhindert somit Nachforschungen über die Bedeutung, welchen die Menschen im Laufe der Zeit Wörtern wie „Religion“, „Recht“, „Autorität“, usw. gegeben haben. Die Bedeutung 84

des Denkens“ bezeichnet, der sich „arg um die Untersuchung des Rechts bemühte“. Capograssi hatte „sein gesamtes hervorragendes Bedürfnis nach Spekulation auf dem Feld des Rechts ausgelebt.“ „Von diesem Kapitel muss man ausgehen, dieses Kapitel muss man studieren, wenn man Capograssis Werk erfassen und verstehen will“, so Satta. „Capograssis juridische Berufung geht von einer religiösen Berufung aus.“261 Capograssis Religion ist die Hoffnung. Sie ist eine „wahre Religion.“262 Selbstmord und Gebet: Das Individuum, das aufgrund einer Situation an der Endlichkeit verzweifelt, die einmal mit dem Tod enden wird, bittet um Hilfe. Es sehnt sich danach, diese Endlichkeit zu überwinden.263 „An der Endlichkeit zu verzweifeln bedeutet, so paradox dies auch klingen mag, auf etwas zu hoffen, welches diese Endlichkeit zu überwinden vermag.“ Hoffnungslos zu sein, bedeutet also hier zu hoffen. Der Selbstmord stimmt mit Vicos „Hilfeschrei“ überein. Der Wille zum Selbstmord kann aber in das Gebet, also in die Hoffnung, übergehen.“264 Auch der verfluchteste aller Dichter, Baudelaire, weist auf dieses Paradoxon hin: im Moment seines Verzweifelns entsteht seine Hoffnung auf Gott. Die Hoffnung wandelt sich dann aber zu einem Gefühl des Entferntseins von Gott, gegen das es keinen Trost gibt. Sie wird zu einem „fruchtlosen Hoffen.“ Und dann kommt es in der Geschichte der Menschheit zur mysteriösen Erscheinung von Christus. „Gott erweist sich als Gnade, er vollbringt Taten von unglaublich großer Liebe: er verkörpert sich in Menschengestalt, geht die tödlichen Heraus- forderungen des Lebens und der

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dieser Wörter wird selbst festgelegt, was zu einer kolossalen Verbanalisierung ihrer Bedeutsamkeit führt. All das entspricht einer Logik der Funktionalisierung aller Konzepte und Ideen. Philosophisch gesehen ( wenn man diesen Ausdruck in seiner allgemeinen Bedeutung verwendet kann ) bedeutet dies, das ich dazu berechtigt bin, den Absatz meines Schuhes „Hammer“ zu nennen, wenn ich ihn dazu verwendet habe, einen Nagel in die Wand zu schlagen. Dieses Beispiel entstammt H. ARENDT, Authority in the Twentieth Century, Ebenda, S. 414-417. Ich verweise auf dieses Buch bezüglich klaren Überlegungen zu Autorität, Religion, und Funktionalisierung von Konzepten und Ideen. S. SATTA, Il giurista Capograssi, Ebenda, S. 788. Man siehe G. CAPOGRASSI, Liberali e cattolici, Ebenda. G. CAPOGRASSI, Analisi dell’ esperienza comune, aus Opere, II, Ebenda, S. 201. G. CAPOGRASSI, Introduzione alla vita etica, Ebenda, S. 131. Diesbezüglich siehe man die klaren Ausführungen von Francesco Carnelutti (die gemeinsam mit denen von Satta zu den klarsten gehören, welche zu diesem Thema verfasst wurden), für den Capograssi „mehr Philosoph der Hoffnung als Philosoph der konkreten Erfahrung“ war. Man siehe F. CARNELUTTI, Interpretazione di Capograssi, aus Discorsi intorno al diritto, Ebenda, S. 155-184, vor allem S. 178-181. 85

Geschichte an, wird gekreuzigt, und sühnt dort, in einem Akt von unendlicher Sühne, das Böse der Welt.“265 Dies ist das Geheimnis des Kreuzes. Es ist nicht verwunderlich, dass Capograssi genau an dieser Stelle – ich würde sagen an der Stelle – Hegel zitiert, ohne ihn dabei beim Namen zu nennen. Er schrieb: Ein großer Geist, der sein ganzes geistiges Leben lang den Zauber dieser unglaublichen Geschichte gespürt hat, und der versucht hat, diese Geschichte durch eine großartige Leistung seiner spekulativen Phantasie zu erklären, hat diese Religion „absolute Religion“ bezeichnet. Und in der Tat ist diese Religon dies, denn sie deckt das tiefe, innere Leben Gottes auf, sie deckt die grundlegende Verbindung zwischen Gott und der Welt auf („in propria venit“), sie definiert das Problem des Lebens als die Suche nach Rettung vor dem Bösen und dem Tode. Dieses Problem wird von Gott und Mensch gemeinsam gelöst: Der Schmerz und die Hoffnung des Menschen mischen sich mit dem Leiden Gottes und besiegen so das Böse und den Tod.266

1930 hatte Capograssi bereits Ähnliches über Hegel geschrieben: in seinem dem ethischen Gesetz gewidmeten Kapitel des in der Fußnote angegebenen Buches kritisierte er „die Abstraktheit und die Härte“ sei es der „moralischen Auffassung“, als auch der „juridischen Auffassung“ von Kant. Kant hatte laut Capograssi zu Unrecht „das Intelligible vom Sensiblen“ getrennt, weil er den Zusammenhang zwischen Ideen und Erfahrung nicht gesehen hatte. „Hegel hat diesen Zusammenhang hingegen gesehen, und dies ist eine wertvolle und unvergängliche Seite seines Denkens: er sah wie das gesamte Leben des Geistes, von den ersten Regungen des Bewusstseins bis zur höchsten philosophischen Erkenntnis, zur unendlichen Freiheit hin strebte. Bei diesem Streben hin zur unendlichen Freiheit – also zu Gott – erlangt alles an Wert, alles wird zu einem Moment, zu einer Etappe auf dem Weg dieses Strebens. Die konkrete Erfahrung des Rechts und das dazugehörige Leben - Form und Inhalt, Leib und Seele – werden Teil dieses Strebens, und erlangen dadurch einen grundsätzlichen Wert.267 Capograssi widmete 1932 Hegel die Endseite seiner Studi sull’ esperienza giuridica. Laut ihm setzt das Prinzip des Rechts die intrinsische Wahrheit der Realität voraus, die effektive Teilhabe des Menschen an der absoluten Wahrheit, also am absoluten Gedanken. Auf der höchsten Ebene des Spekulation muss 265 G. CAPOGRASSI, Introduzione alla vita etica, Ebenda, S. 235. 266 Ebenda, S. 138. 267 G. CAPOGRASSI, Analisi dell’ esperienza comune, Ebenda, S. 74. Man vergleiche mit einem Essay desselben Jahres: G. CAPOGRASSI, Le glosse di Marx a Hegel, aus Studi filosofico-giuridici dedicati a Giorgio Del Vecchio, Band I, S. 54-71, hier in Opere, Band IV, Ebenda, S. 43-69. 86

man also das Problem des Rechts mit dem Problem der objektiven Vernunft und mit dem Problem des objektiven Wertes der Wirklichkeit gleichstellen.“ „Wenn das Problem der Wirklichkeit auf der Wahrheit, auf dem ‚absoluten Gedanken’ gründet“, so Capograssi, „dann erklärt und rechtfertigt sich die Verwirklichung der juridischen Ordnung als moralische Notwendigkeit der Vollbringung einer Tat gemäß ihrer intrinsischen Wahrheit völlig, denn nur im Absoluten liegt die wahre Notwendigkeit.“268 Capograssi schließt folgendermaßen:269 Das christliche und das moderne Denken, insbesonders jenes von Hegel, stimmen darin überein, dass sie die Grundlage der Autorität des Rechts, und somit der Gesetze, im Absoluten sehen. Das christliche Denken gründet das positive Recht auf das Naturrecht, und dieses wiederum auf das ewige Recht, und somit letztendlich auf die absolute Vernunft. Hegels Denken sieht in der praktischen Wirklichkeit die Präsenz der objektiven Vernunft, welche nichts anderes als der notwendige und dialektische Ausdruck des Absoluten zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte ist.

Zurück zu „Selbstmord und Gebet“: in der Stunde der Verzweiflung erwacht die Hoffnung wieder. In der Stunde seines Endes ist das Individuum alleine, „sein einziges Gesetz und seine einzige Wirklichkeit sind das Kreuz.“ Lockere Lebensphilosophien können ihm nicht mehr helfen. Es ruft Gott an, so wie der Unterdrückte bei Hegel.270 Hier kann man verstehen, was für Capograssi „Hoffnung“ ist: der Mensch verzweifelt, betet (hofft) dann, und ruft dabei Gott an. In der Stunde seines Todes erfasst er diesen wirklich menschlichen Gedanken, die Hoffnung also, findet sich selbst in dieser Hoffnung wieder, und erahnt das Prinzip eines neuen Lebens. Als „Mitarbeiter Gottes“ erkennt der Mensch, dass der „Skandal seines Todes“ überwunden werden wird, „er erahnt durch die Hoffnung eine andere, jenseitige Welt.“ „Der Weg der Auferstehung führt hier durch.“271 In Liberali e cattolici schrieb Capograssi: „Wir glauben nicht an den Tod. Besser gesagt haben wir den unglaublich erscheinenden Glauben, dass der Tod zerstört werden wird. Wir werden wohl, nein, wir sind sicher töricht und verrückt, weil wir so etwas denken und glauben.“ 272 Capograssi schrieb 1930 in der Analisi dell’ esperienza comune: „über alles wird geurteilt werden.“ Er sah das wahre Ziel des menschlichen Handelns in der „Hoffnung auf ein neues Lebensprinzip.“ 268 G. CAPOGRASSI, Studi sull’esperienza giuridica, Roma, P. Maglione, 1932, hier aus Opere, Band II, Ebenda, S. 209-373. Man siehe die Seiten 372-373. 269 Ebenda, S. 373. 270 G. CAPOGRASSI, Introduzione alla vita etica, Ebenda, S. 161 e 169. 271 Ebenda, S. 169f. 272 G. CAPOGRASSI, Liberali e cattolici, Ebenda, S. 112. 87

Schließlich erinnerte er daran, dass „nur Gott die menschliche Handlung fortsetzen kann und Christus sie fortsetzt“273

2.5. De profundis calmavi ad te, domine: Das Recht nach der Katastrophe. „Jeder kennt die Verfassung des armen menschlichen Geistes: er kann seine Reflexionsfähigkeiten erst in Gang setzen, wenn die Erfahrung sein Leben schmerzhaft trifft, und ihm etwas nimmt, was es braucht.“ Mit diesen Worten beginnt Capograssis Schrift Il diritto dopo la catastrofe, welche er 1950 in einer Schriftensammlung zu Ehren von Francesco Carnelutti veröffentlichte. „Der arme menschliche Geist“ bemerkt nicht die Luft und das Licht, bis diese vorhanden sind: erst wenn sie nicht mehr da sind, merkt er, wie wichtig sie für ihn waren. „Der Entzug übt wie immer und überall auch hier eine ausschlaggebende Funktion aus.“ Durch die Katastrophe, welche die Welt der Menschen in eine alptraumhafte Welt des Todes verwandelt hat, hat der Mensch verstanden, was das Leben vor Tod und Alptraum bewahrt und verteidigt. Es wäre besser, wenn der Mensch dies auch ohne Katastrophen verstehen könnte. Er ist aber derart gemacht, dass er die schreckliche Pädagogik der Geschichte braucht. (Das Problem hierbei ist, dass diese Pädagogik eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für das Verständnis des Menschen ist! )

„Aufdass die Belehrung nützlich sein kann, muss man sie klarstellen und darüber nachsinnen.“274 Nachsinnen bedeutet zu verstehen was geschehen ist. Um zu verstehen muss man zuerst „die Krise nicht relativieren oder herunterspielen.“ 273 G. CAPOGRASSI, Analisi dell’esperienza comune, Ebenda, S. 207. Francesco Carnelutti schrieb dass aus diesen „so musikalischen Seiten der Gesang der Hoffnung erklingt. Er erklingt erst melodisch und dann symphonisch, hoch und tief, klar und feierlich.“ Man siehe F. CARNELUTTI, Interpretazione di Capograssi, aus Discorsi intorno al diritto, Ebenda, S. 158. Man vergleiche die letzten Seiten der Analisi dell’ esperienza comune mit jenen der Introduzione alla vita etica. In letztgenannter Schrift vermischen sich die Überlegungen von Capograssi auf eloquentere Art und Weise mit der Behandlung Vicos der Katastrophe. Carnelutti bezeichnete die letzten Seiten der Introduzione alla vita etica als einen „erhabenen Gesang, der nur mit der Musik von Bach verglichen werden kann.“ ( Ebenda, S. 175 und 180 ). 274 G. CAPOGRASSI, Il diritto dopo la catastrofe, aus „Jus“, II, 1950, S. 177-207, hier aus Opere, Band V, Ebenda, S. 151-195. Man siehe die Seite 153. Die Schrift wurde ursprünglich in den Scritti in onore di F. Carnelutti, Band I, Padova, Cedam, 1950, S. 1-131, veröffentlicht. 88

Capograssi:275 An den Wurzeln der Krise befindet sich eine falsche, aber zentrale Vorstellung über den Menschen und über sein Leben. Diese Vorstellung hat viele Menschen überzeugt, ist ihnen wie eine Tatsache erschienen. Laut ihr hat die Menschheit keinen Wert an sich. Das Individuum ist nicht (mehr) ein intelligentes und moralisches Wesen, welches einer bestimmten inneren Wahrheit unterstellt ist und dementsprechend einem bestimmten Gesetz folgt. Er ist laut dieser Vorstellung ein abstraktes Paradigma von Kräften, eine abstrakt gesehene Gehorsamkeitsfähigkeit, eine rein passive Kraft. Was gemäß dieser Vorstellung zählt ist der Zweck, das Ziel, welches bestimmte dominante gesellschaftliche Gruppen durchsetzen wollen. Diesem Ziel wollen sie den einzelnen Menschen unterordnen.

In dieser Vorstellung erscheint die Menschheit als eine Materie, „der man von Außen jene Richtung, Form und Zweck aufzwingt, welcher (von diesen dominanten Gruppen) als sinnvoll erachten wird.“ Die Menschheit erscheint hier als „völlige Passivität, ohne eigener Natur und eigener Wahrheit“, als „völlig leer und formlos“, als „verfügbar“, so wie es die Protagonisten des Romans von Bulgakov sind. Es existieren hier „keine Werte“ und „keine Prinzipien“ mehr. Verfügbarkeit bedeutet hier völlige „Potenzialität“ und „Passivität“, aufgrund der „jedigliche Erfahrung“ gemacht, und „jedigliche Richtung eingeschlagen werden kann.“ Diese „falsche, zentrale Vorstellung über die Menschheit“ hat durch die konkrete Situation, die sie erzeugt hat (den Krieg), ihre „schreckliche Tragweite“ offenbart.276 Capograssi:277 Das schreckliche an dieser Krise ist, dass diese falsche Vorstellung die ( richtige ) Vorstellung des Menschen aus dem Geiste bzw. aus dem Gewissen von vielen Zeitgenossen verdrängt hat. Das heißt, sie hat aus dem Geiste von vielen Zeitgenossen die Überzeugung entfernt, dass alle Menschen eben Menschen sind. Es ist nicht leicht gewesen, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie alle gleich sind. Es ist nicht leicht gewesen, sie davon zu überzeugen, dass trotz aller Unterschiedlichkeiten die Menschheit eine gemeinsame Identität hat. Diese Wahrheit ist jedoch, wenn nicht auf der praktischen Ebene, dann wenigstens rechtlich-theoretisch universal anerkannt worden, auch wenn es hierbei viele Unsicherheiten, und viele, erschreckend viele Ausnahmen gegeben hat. Die christliche Wahrheit, dass jeder Mensch eben ein Mensch ist, wurde also als 275 Ebenda, S. 154f. 276 Ebenda, S. 155. 277 Ebenda, S. 155f. Der Leser dieser Worte wird an Benedetto Croce erinnert: B. CROCE, Perché non possiamo non dirci «cristiani», aus Discorsi di varia filosofia, Band I, Laterza, Bari, 19592, S. 11-23, hier aus La mia filosofia, herausgegeben von G. Galasso, Milano, Adelphi, 1993, S. 38-53. 89

Wahrheit anerkannt. Nicht alle haben sie anerkannt: die Verstöße gegen diese Wahrheit wurden versteckt, abgestritten,oder als provisorische Erscheinungen angesehen. Letzteres beweist, dass diese Verstöße als etwas Negatives angesehen worden sind. Diese genannte falsche Vorstellung hat sozusagen diese „christliche Übereinkunft“, die Anerkennung dieser christlichen Wahrheit also, unter Anklage gestellt.

Der Mensch wird als „dem Zweck, den diese oder jene dominante Gruppe der Gesellschaft aufgezwungen hat“, und dem „Wert“, welche eine dominante Gruppe „als Imperativ und als Regulativ einer bestimmten Gesellschaft“ aufgezwungen hat, unterstellbar angesehen. Das Individuum hat keinen Wert an sich, sondern „nur als Mittel, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen“. Wer an der Erreichung dieses von einer sozialen Klasse oder Gruppe definierten Zieles nicht mitarbeitet, „hat keinen Wert als Mensch.“ Demgemäß muss der widerspenstige Mensch unterdrückt werden. Und muss es dem Individuum auch verboten werden, „so zu Leben wie es will“, und „selbstständig zu denken“ – „denn denken bedeutet die Wahrheit zu sagen.“ 278 Für das Individuum wird eine Moral hergestellt, welche mit dem Totem der dominanten Gruppe vereinbar ist. Ihm wird durch Angst, Betäubung, Lärm und Propaganda ein Surrogat der Wahrheit aufgezwungen. Das entindividualisierte Individuum wird zu einem Teil der Masse. Nachdem die Idee von der Gerechtigkeit verdreht wurde, nachdem die allgemeinen moralischen Vorstellungen aus dem Weg geräumt wurden, nachdem das Individuum entmenschlicht wurde, erscheint jedes Verhalten, dass mit dem Ziel der dominanten Gruppe vereinbar ist, als „richtig, oder besser gesagt, als notwendig“. Verhaltensvorgaben der dominanten Gruppe werden dann „eine ganze Masse von Anführern und von Ausführern“ finden, die dazu bereit sind, sie in die Tat umzusetzen.279 In Zeiten der Katastrophe werden „die Technik und die modernen Wissenschaften“ den Zielen der dominanten Gruppe unterstellt, und entfalten ihr zerstörerisches Potential. Nachdem die „Gottesfurcht“ verschwunden ist, hat der Mensch „Folter, Schmerz und Leid seiner Mitmenschen mit kaltem, mechanischem Geiste behandelt.“ Er hat „nach industriellem Muster angelegte Massenvernichtung seiner Mitmenschen“ betrieben.280 Laut Capograssi soll die „Lehre der Vorsehung“ nicht „fallengelassen“ werden: eine wahre Katastrophe wäre es, es zu versäumen, „Schlüsse und Lehren aus der Katastrophe zu ziehen.“

278 G. CAPOGRASSI, Il diritto dopo la catastrofe, Ebenda, S. 156-157. 279 Ebenda, S. 160 und 162. 280 Ebenda, S. 163. 90

Die „falsche, zentrale Vorstellung“ muss „an die Oberfläche gebracht und klar darstellt werden“: „kein Fehler wäre schlimmer, als sich die Einzigartigkeit dieser Epoche entgehen zu lassen.“281 Man muss wieder menschlich denken, sich wieder „die wahrhaftig menschlichen Vorstellungen vor Augen führen.“ Laut Capograssi gründet die falsche Vorstellung der Menschheit auf ein Vakuum: die Krise entsteht „aufgrund von Gottes Tod“. Und wenn Gott „tot“ ist, dann ist – um hier eine „zentrale Aussage“ von Dostojewskji“ zu zitieren – „alles möglich“. Der Mensch fühlt sich allmächtig, und seine Freiheit ist „grenzenlos“, da sie durch nichts einschränkt wird: „diese Art von Freiheit ist völlig immanent, da sie an keine Wahrheit (außerhalb ihrer selbst) gebunden ist.“ Sie ist in ihrem Absolutheitsanspruch „dämonisch“, „und lässt sich somit mit dem Tod, und nicht mit dem Leben vereinbaren.“ Das Böse ist ein Mangelzustand: er ist „das Fehlen des Guten im Leben“, so Capograssi. 282 In seinem Abfall aus dem Himmel hat der Mensch Glaube, Vernunft und Gott durch ein Totem ersetzt, welches „verabsolutierte oder vergötterte pseudonatürliche Kräfte symbolisiert“. Ein typisches Beispiel für ein solches Totem ist „die Rasse.“283 Aufgrund seines Abfalls wurde die Physiologie des Menschen durch eine Pathologie ersetzt; Capograssi zitiert hier Freud, derselbe Freud, der mit Einstein über Eros und Thanatos diskutiert hat. Es ist aber unmöglich, dass Capograssi hierbei nicht auch an die Polemologische Lehre von Schmitt gedacht hat („Krieg als Normalzustand“). Jedenfalls behandelt Capograssi Schmitt nicht in einer einzigen Zeile. Polyphem ist zu Nero geworden, und Nero hat aufgrund seiner „falschen, zentralen Idee“ eine Katastrophe im Namen des Staates ausgelöst. Er hat dies im Namen des „Mythos des Staates“ getan, welcher „Gesellschaft und Individuum“ prägt.284 Laut Capograssi hat „eine kriminelle Gruppe“ die Macht im Staat erobert und ihm „eine Wertetafel nach ihrem Geschmack“ sowie „eine Reihe von Zielen“ aufgezwungen, „als ob der Staat nicht Prinzipien, Bedürfnisse, Institutionen in sich hätte, welche aus den tiefen Bedürnissen der menschlichen Natur entstanden sind.“ Auch der Staat kann eine Larve, eine passive Kraft sein; sobald er dann erobert wurde, beginnt er seinen Krieg gegen das Individuum. Dadurch befreit er paradoxerweise das Individuum, das heißt, er zwingt es, aus dem Schatten

281 282 283 284

Ebenda, S. 164. Ebenda, S. 165. Ebenda, S. 166. Ebenda, S. 167f. 91

seiner bzw. der staatlichen Obhut zu treten und zum Vorschein zu kommen. 285 Der Staat als „lebendige Synthese und als Träger der Wahrheit“, auf den Hegel hoffte, ist hier zu einem „Mittel“, zu einem „Instrument“ der gesellschaftlichen Gruppe verkümmert, die ihn beherrscht. „Diese kriminelle Gruppe instrumentalisiert den Staat für ihre Zwecke und zerstört ihn dabei gleichzeitig: sie bringen ihn also in einen Zustand, „in dem kein Gesetz der Wahrheit für die Menschen verbindlich ist.“ Das einzige, was in einem solchen Zustand wirklich zählt, ist „das bestimmte Menschen anderen Menschen ihren Willen aufzwingen können.“286 So Capograssi. Der Staat verschwindet. Und dabei verschwindet auch „das auf Ethik aufgebaute Recht“. Das Recht verkümmert zu einem Mittel. „Jedes Ziel, welches eine dominante Gruppe dem Leben (der Gesellschaft) aufzwingt, wird Teil des Rechtssystems.“287 Capograssi fügt noch folgendes hinzu:288 Das Recht entspricht hier wirklich der Machtpolitik, wie einer der großen deutschen Juristen tiefsinnig gesagt hat. An sich ist das Recht nichts – es ist keinen Gesetzen unterworfen, es ist inhaltslos, es trägt keine Wahrheit in sich. Das Recht stellt jenen Willen dar, welcher sich zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte gegen andere durchsetzt. Das Recht ist Macht. Was wie harmlose Formeln erschienen ( mit welchen die Intellektuellen des 19. Jahrhunderts ihre dialektischen Spielchen betrieben haben, im Glauben, dass die Fundamente des Lebens zu solide seien, um von ihren Gedanken bedroht werden zu können ), sind wie durch einen Zauber zur Realität geworden. Und indem sie zur Realität geworden sind, haben sie ihre rein logische Unschuld verloren: der jeweilige historische Abschnitt und das Leben des einzelnen Individuums wurden durch Gefahr und Tod überzogen.

Das auf Staatswillkür reduzierte Recht hat das Freiheitsprinzip im Staate zerstört, das die Freiheit der Individuen und der sozialen Körperschaften garantiert hatte, dessen „Wille und Ausdruck“ der Staat eigentlich ist.289 Dieses zur Entartung führende „schreckliche Missverständnis“, wird den Menschen durch die Katastrophe klar vor Augen geführt. Aus ihren Trümmern erhebt sich die Hoffnung, zwischen den von der Katastrophe hinterlassenen Ruinen scheint die Vorsehung durch, und läßt dabei „die drei grundsätzlichen Positionen“ aufleuchten, von denen das Schicksal des Lebens abhängt:

285 286 287 288 289 92

Ebenda, S. 168f. Ebenda, S. 170. Ebenda, S. 171. Ebenda, S. 171f. Ebenda, S. 175.

• Eine Auffassung des Menschen als „universeller Wert“, mitsamt der Möglichkeit der Entstehung von freien sozialen Organisationen, welche Ausdruck der grundlegenden Bedürfnisse seiner Natur sind. • Eine Auffassung von Freiheit, die eine Synthese und Einheit zwischen dem Bedürfnis der freien Entfaltung des jeweiligen menschlichen Individuums und der Gewährleistung von bestimmten sozialen Bedingungen darstellt, aufgrund deren diese freie Entwicklung für alle Menschen möglich wird. • Das gemeinsame Interesse aller Völker, um des Friedens Willen diesen Werten treu zu bleiben, und die aus ihnen hervorgehenden Grundrechte vor den ständigen Angriffen, denen sie im Laufe der Geschichte ausgesetzt sind, zu verteidigen.290 Dieses Missverständnis, diese Verleugnung bestand eben darin, das Staat, Recht und Individuum zu bloßen Mitteln geworden sind. Und während durch die „dämonischen Kräfte“ „die Welt der Menschen“ den Zielen der dominanten Gruppe unterworfen wurde, wiederholten bestimmte Gelehrte die Lüge, dass das Recht nur Form sei. Und gerade dieser juridische Formalismus gab Capograssi zu schaffen, weil er gegenüber dem Problem des Bösen untätig bleibt. Im Laufe „des langsamen, mühseligen Fortganges der Geschichte“ hat die Vorsehung den Menschen eine Hoffnung in Form ihrer Vernunft gegeben. Weil es die schreckliche Idee „eines Menschen ohne Wahrheit und ohne Schicksal“ als Möglichkeit vor Augen hat, muss das Individuum die wirklich menschlichen Vorstellungen, die wirklich menschlichen Gedanken wiederfinden, „weil es fast bleich vor Schreck wurde durch den Gedanken, dass zu allem bereite, innerlich leere Menschen den Gang der Geschichte bestimmen könnten.“ Wie ein Blitz durchfuhr dann die Erkenntnis das Individuum, dass die Wahrheit im Gegenteil dieser Vorstellung liegen muss: dass also der gesamte Gang der Geschichte darauf ausgerichtet werden soll, das Individuum hochzuhalten, mitsamt seines wertvollen Zieles und Rechtes, versuchen zu können, sein Schicksal zu erfüllen. Demzufolge muss das Individuum vor den Angriffen jener feindlichen und primitiven Kräften verteidigt werden, welche sich an ihre selbsterschaffenen Totems klammern, und welche versuchen, diesen Totems Individuen und ganze Völker als Opfer darzubringen.“291 „Richtig zu denken“ führt dazu, dass man „das Leben respektiert“, dass man das Leben den von der „tiefen Wahrheit des Schicksals“, die sein Grundgesetz 290 Ebenda, S. 193. Capograssi bezieht sich hier auf die 1948 verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Man siehe G. CAPOGRASSI, Introduzione zur italienischen Fassung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Padua, Cedam, 1950, S. 9f, hier aus Opere, Band V, Ebenda, S. 35-50. 291 G. CAPOGRASSI, Il diritto dopo la catastrofe, Ebenda, S. 193-195. 93

ist, festgelegten Zielen nachgehen lässt. Dieses Grundgesetz schreibt die Realisierung des „echten Soziallebens" vor. 292 Nur so kann der Mensch „seiner Menschlichkeit treu bleiben“ und nur so kann der Jurist seiner Zeit dienen, damit „das Leben für alle lebenswert ist.“ 293

2.6. „Jeder dient seiner Zeit nach seinen Möglichkeiten.“ Recht und Geschichte – Giuseppe Capograssis Problem. „Wenige italienische Intellektuelle des zwanzigsten Jahrhunderts haben einen so lebendigen Sinn für die Geschichte und für die Historizität des Menschlichen gehabt wie er.“ So Paolo Grossi über Giuseppe Capograssi. 294 Grossi erinnert an ein Fragment, welches Capograssi 1948 für seinen „allerliebsten Pietro Piovani“ geschrieben hat: „Ich bin nicht für das Kurze und das Schnelle gemacht. Für uns, die wir aus einer anderen Zivilisation stammen, ist das Lange und das Langsame wichtig. Vor allem das Langsame.“ 295 Grossi kommentierte dieses Fragment folgendermaßen: „Der eigentliche Rhythmus der Geschichte besteht aus Länge und Langsamkeit. Sie verweigert sich der Flüchtigkeit, der Episodenhaftigkeit, der plötzlichen Improvisation. Stattdessen liebt sie es, sich in der Länge auszudehnen, wo die autenthisch historischen Fakten, ähnlich den großen Bäumen, sehr langsam ihre Wurzeln treiben, aber in unserem Falle tief in den menschlichen Angelegenheiten wurzeln, und so zum jeweiligen Zeitgeist einer Gesellschaft und einer Zivilisation werden.“296 1951 schrieb Capograssi an Pietro Piovani, dass der Jurist „durch dass Schlüsselloch der Geschichte spähen müsse.“297 Bezüglich Capograssis Philosophie schrieb Piovani: „Die Phantasie des Philosophen sollte nur dazu eingesetzt werden, um das Leben zu erklären; aber nicht ein abstraktes Leben des Geistes, sondern das alltägliche Leben der Menschen, welche alle ihren eigenen Zielen und Wünschen nachgehen und

292 Ebenda, S. 184 und 189. 293 Ebenda, S. 183 - 195. 294 Man siehe P. GROSSI, Nobiltà del diritto. Profili di giuristi, Mailand, Giuffrè, 2008, S. 641-667, vor allem Seite 645, welche Grossi für eine am 24. April 2005 in Bologna abgehaltene lectio doctoralis verwendet hat. 295 Man siehe das Fragment Nr. 42 aus G. CAPOGRASSI, Pensieri dalle lettere, Hrsg. von E. Opocher, Roma, Studium, 1958, S. 3. 296 P. GROSSI, Nobiltà del diritto. Profili di giuristi. Ebenda, S. 645. 297 G. CAPOGRASSI, Pensieri dalle lettere, Ebenda, S. 56 (Fragment Nr. 85). 94

dadurch unwillkürlich und schicksalshaft den Gang der Geschichte bestimmen.“ Dem fügte er hinzu, dass Capograssis Denken antiintellektualistisch sei. „Geschichte ist gemeinschaftliche Erfahrung, welche sich innerhalb von bestimmten, vom Menschen definierten Grenzen bewegt. Der Mensch folgt hierbei – auch unwilkürlich – einer höheren Kraft, welche der Menschheitsgeschichte zugrundeliegt.“298 Grossi über Capograssi: „Seine Erfahrung als Jurist war nichts anderes als Geschichte, in der die Vergangenheit zur Gegenwart und die Gegenwart wiederum zur Zukunft wird. Sein Geschichtsverständnis ist sicher kein evolutionistisches oder relativistisches gewesen. Er verstand die Geschichte hingegen als Kette von verschiedenen, zu einer bestimmten Zeit reifenden Ereignissen; und für ihn gab es viele solcher Ereignisketten. Für Capograssi war die Geschichte ein Geheimnis, so wie das gesamte Leben ein Geheimnis ist. Sie war für ihn wie ein geschlossenes Tor, das viele Spalten hatte, durch die man hindurchblicken konnte. Und wer einen scharfen und wachen Blick besaß, konnte erspähen, was sich hinter diesem Tor befand. Die Geschichte war für ihn eine treue Gehilfin der Offenbarung. Er verstand sie vor allem als eine Bahn durch die Zeit, die jedoch über die Zeit hinaus orientiert war – Zeit und Ewigkeit standen für ihn in einer kontinuierlichen, sich gegenseitig befruchtenden Dialektik. Aus diesem Blickwinkel betrachtet sieht man folgende Überzeugung im Denken Capograssis: das die Vorsehung jedem homo viator eine unerschöpfliche Menge an Zeit gegeben hat, um seine Menschlichkeit voll und ganz auszudrücken. Capograssi scheint hier die antike Weisheit ‚placebo Domino in regione vivorum’ beherzigt zu haben – denn das ewige Schicksal des einzelnen Individuums hängt von seinem konkreten Leben in jener Epoche der menschlichen Geschichte ab, in die er hineingeboren wurde.“299 Alles ist Geschichte, und nichts anderes als Geschichte. Antonio Pigliaru schrieb dazu: „Man findet in der breit angelegten Problematisierung Capograssis, in der von ihm versuchten breitangelegten Analyse der gemeinschaftlichen Erfahrung keine Stelle, in der die religio zu einem deus ex machina degradiert wird.“ Es gibt also keine Stelle, „in der die Religion herangezogen wird, um methodologische Verantwortlichkeiten der Philosophie, des kritischen Denkens und der Vernunft zu überdecken.“300

298 P. PIOVANI, Capograssi, Giuseppe, aus Enciclopedia filosofica, Ebenda, S. 1623-1624. 299 P. GROSSI, Nobiltà del diritto. Profili di giuristi. Ebenda, S. 645-646. In diesem Essay erinnert Grossi daran, dass laut Capograssi Vittorio Emanuele Orlando vom Problem der Geschichte gequält wurde. Man siehe G. CAPOGRASSI, Il problema di V. E. Orlando, aus Opere, Band V, Ebenda, S. 357ff. 300 A. PIGLIARU, La lezione di Capograssi, Ebenda, S. 7. 95

Capograssis Glaube führt nicht zu einer Negierung, sondern zu einer Betonung der menschlichen Verantwortung in der Geschichte. In Capograssis Gedanken „wird Gott weder grundlos erwähnt, noch zu einem Alibi erhoben.“301 Capograssi schrieb: „Jeder dient seiner Zeit nach seinen Möglichkeiten.“ Für ihn war „das Problem der juristischen Wissenschaft“ das Problem.302 Capograssi hatte seine vom Lichte der caritas erhellten Gedanken dem Recht verschrieben, das für ihn vera philosophia und die Berufung war, der er seine Gedanken widmete.303 Der Jurist Capograssi sagte, die Wissenschaft könne nicht von der Erfahrung getrennt werden, der quid jus kann nicht vom quid juris absehen, und das Recht kann nicht in seiner formalen Hülle verdörren. Man erkennt bald, dass auch in Capograssis Schrift Il problema della scienza del diritto der Kelsensche juridische Formalismus neokantianischer Prägung problematisiert wird, ohne dabei aber Kelsen explizit zu nennen.304 Kelsens Denken ist dem Reduktionismus verschrieben: er reduziert das Recht auf das Gesetz, das Privatrecht auf das Öffentliche Recht, das subjektive Recht auf das objektive Recht und die Dialektik zwischen positivem Recht und Naturrecht sowie zwischen Recht und Bewusstsein auf die Norm. Capograssi will die Dialektik widerherstellen, denn „im Problem der Wissenschaft des Rechts ist auch das Problem der Lebendigkeit des Rechts enthalten.“ 305 Das lebendige Recht ist „theoretisch und praktisch“, divinarum atque humanarum rerum notitia; es ist nicht in der theoretischen Sphäre der Rechtsphilosophie angesiedelt. „Entweder beinhaltet die Wissenschaft des Rechts diesen intrinsischen Dualismus, diese doppelgesichtige Seele, oder sie kann gar nicht existieren.“ Somit trägt diese Wissenschaft das Problem dieses Dualismus in sich. Man kann diesen Dualismus nicht an seinen Wurzeln verändern, man kann seine Umstände nicht ändern. Das Problem bleibt bestehen, und das Problem ist 301 Ebenda, S. 8. 302 G. CAPOGRASSI, Il problema della scienza giuridica, Roma, Società editrice del Foro italiano, 1937, hier aus Opere, Band II, Ebenda, S. 375-627. Man siehe S. 396. Ich verweise hier auf die bereits erwähnte Einleitung von P. PIOVANI zu Il problema della scienza del diritto. 303 Die „wahre Philosophie“ wird am Ende des Kapitels La scienza e la storia des Buches Il problema della scienza del diritto behandelt (aus Opere, Band II, Ebenda, S. 607): „Man kann sagen, dass die Wissenschaft des Rechts eine wahre, nicht simulierte Philosophie der Geschichte des Rechts einhaltet.“ 304 Kelsen wird im Laufe des ganzen Buches Il problema della scienza del diritto behandelt. Es reicht aber die Einleitung dieses Buches zu lesen um zu verstehen, dass Kelsen eine obligatorische Station im Laufe der juridischen Reflexion ist. 305 G. CAPOGRASSI, Il problema della scienza giuridica, Ebenda, S. 408. 96

letztendlich die Wissenschaft selbst, ihre Präsenz in der Welt des Rechts, ihre Methoden, ihre Konzepte, ihre widersprüchlichen Annahmen, ihre Unvermeidbarkeiten.“ Der Dualismus zwischen Rechtstheorie und Rechtspraxis, zwischen Idee und Wirklichkeit, „existiert und ist unlösbar.“ „Somit sind die sogenannte theoretische und die sogenannte praktische Seite dasselbe. In der praktischen Seite liegt das Geheimnis der Theorie dieser Wissenschaft und umgekehrt.“306 Capograssi schreibt über „Wahrheit“ und „Wert“ des Rechts. Damit meint er, dass das Recht einen Wert hat und eine eigene Wahrheit besitzt.307 Die juridische Wissenschaft, „Mitarbeiterin des juridischen Lebens“, kommt im Prozess zum Leben, und zwar nicht auf eine mechanische Art, sondern „mit spiritueller Gewissheit“ (wenn die Wissenschaft diese Gewissheit verlieren würde, dann wäre dies zu vergleichen mit „Dichtern, welche nicht mehr an die Dichtkunst, und Heiligen, welche nicht mehr an ihre Religion glauben würden.“)308 Der quid jus und der quid juris überkreuzen sich im Prozess: sie sind die gleiche Sache. 309 Sie überkreuzen sich auch im Gewissen des (Rechts)Interpreten: darüberhinaus ist zu sagen, dass „im Konzept der Interpretation das Leben implizit als dessen grundsätzliches Ziel enthalten ist.“ Interpretation ist „Spiritualität“, Suche nach „dem Geist“, welcher hinter „dem Buchstaben“ verborgen liegt. Ihr Zweck besteht letztendlich darin, jene Prinzipien aufzufinden, von welchen die Normen nur bestimmte Standpunkte und Formulierungen darstellen.“ 310 Das Recht ist keine Norm, und auch kein Federstrich, der ganze juristische Bibliotheken löschen kann, wie Kirchmann einmal gesagt hatte.311 Man kann das Recht auch nicht (reduktionistisch) als äußerliche Hülle des Kolosses der Ökonomie bezeichnen, wie es Croce 1907 gemacht hatte. 312 Die 306 Ebenda, S. 410-412. 307 Ebenda, S. 409. 308 Ebenda, S. 294, 409, 493. Die Rechtsgewissheit ist nicht etwas Mechanisches, sondern „eine spirituelle Gewissheit.“ Die Teilnehmer der kürzlich stattgefundenen rechtsphilosophischen Debatten, welche über „die Gewissheit“ debattiert haben, sollten auf diese Seiten zurückkommen – sie sollten also etwas weniger Philosophen und etwas mehr Historiker sein. 309 G. CAPOGRASSI, Il problema della scienza giuridica, Ebenda, S. 388. Man siehe auch G. CAPOGRASSI, Il quid jus e il quid juris in una recente sentenza, aus „Rivista di diritto processuale“, III, 1948, S. 57-62. Hier aus Opere, Band V, Ebenda, S. 19-26. 310 G. CAPOGRASSI, Il problema della scienza giuridica, Ebenda, S. 487-489. 311 Ebenda, S. 404. 312 Ebenda, S. 418. Man siehe auch B. CROCE, Riduzione della Filosofia del diritto alla Filosofia dell'economia, aus den „Atti dell'Accademia Pontaniana“, vol. XXXVI, Bari, Laterza, 1907, S. 5-46. Man vergleiche dies jedoch mit V. FROSINI, L’ idealismo 97

Rechtswissenschaft, diese wahre, nicht simulierte Philosophie, in der „unter einer Oberfläche von ständigem Dissens ein einheitlicher Grundton erklingt“ ist laut Capograssi nicht nur „die freieste aller Arten der Rechtsproduktion“, sondern auch die „in jedem Moment der juridischen Erfahrung ständig anwesende und lebendige Geschichte.“313 Die Rechtswissenschaft ist nicht die „verschriftete, außerhalb der Erfahrung liegende Form der Geschichte“, sondern „die lebendige, dem Leben innewohnende Geschichte; sie ist als Tradition zu verstehen, welche die ständig wechselnden Formen, in denen sich das Leben des Rechts ausdrückt, stützt, verdeutlicht, und ihnen einen einheitlichen Sinn gibt.314 Die Rechtswissenschaft ist „die Tradition in der Geschichte des Rechts“, und nicht „die Geschichte des Rechts“ selbst. Als traditio „stellt sie die tiefe, lebendige Erfahrung dar und drückt sie aus“, „welche alles Zeitliche überdauert, und dem Wechsel der historischen Formen zugrunde liegt.“315 Ihr geht es somit nicht darum, „das lebendige Recht in seiner Gesamtheit darzustellen.“ Die Rechtswissenschaft befasst sich mit jenen historischen Elementen des Rechts, „die in der Gegenwart noch lebendig und aktuell sind.“316 Der Rechtshistoriker, „welcher über reichliche Kenntnisse vergangener Prozesse verfügt“, kann daraus „jenes System abstrahieren und darstellen, welches die juridischen Erfahrungen der Vergangenheit in sich trugen.“317 „Der

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giuridico italiano, Ebenda, S. 1-32. Frosini meinte, dass Croce „Anstand gelehrt habe.“. Er reiht „Croces Rechtsphilosophie“ in den Kontext des „ethischen, politischen und juridischen Lebens des Italiens der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts“ ein (S. 11). G. CAPOGRASSI, Il problema della scienza giuridica, Ebenda, S. 431 und 590. Es sei hier an den Essay von G. CAPOGRASSI, Lo Stato e la storia. Saggio sul realismo nel diritto pubblico erinnert. Man lese vor allem den incipit dieser Schrift, wo Capograssi klar darstellte, was er dem Historizismus Croces verdankt: „Es ist eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass dieses Werk völlig unter dem Einfluss des Denkens und des (philosophischen) Systems von Benedetto Croce zustandegekommen ist“, schreibt er etwa auf Seite fünf. In diesem Essay wird die tesi di laurea des jungen Capograssi wiedergegeben, welche dieser in Rom im Jahre 1911 verteidigt hatte. Sie wurde im Anhang (S. 233-283) seines Werkes Riflessioni sull’ autorità e la sua crisi veröffentlicht, welches 1977 in Mailand bei Giuffrè von M. D’ Addio herausgegeben wurde. Hier wurde dieses Werk den Opere, Band VII, Hrsg. von F. Mercadante, Mailand, Giuffrè, 1990, S. 3-54, entnommen. Ebenda, S. 596-597. B. CROCE, La storia come pensiero e come azione, Bari, Laterza, 19657, S. 51-64. G. CAPOGRASSI, Il problema della scienza giuridica, Ebenda, S. 604. Nicht ohne Bedeutung ist hier der Verweis auf das jus commune und auf seine „tausend Quellen und Formen“, welche „Reichtum und Verschiedenartigkeit des Lebens ausmachen“ (S. 599-600).

Rechtshistoriker zeigt den ständig gegenwärtigen Anteil des vergangenen juridischen Lebens auf. Er zeigt auf, dass das vergangene juridische Leben niemals vergeht.“318 Die wahre Gefahr liegt im Vergessen, und zwar in der Überzeugung, dass die „oberste Schicht“ der Rechtswissenschaften „den Endpunkt der Rechtswissenschaften der Vergangenheit darstellt“, was zur Folge hätte, dass man „nur jene juridischen Erfahrungen der Vergangenheit sehen würde, die mit den juridischen Erfahrungen der Gegenwart übereinstimmen.“ 319 Der Rechtshistoriker sieht „die lebendige Vergangenheit“, aber auch „die tote Vergangenheit“ des Rechts, nämlich jenen Teil der Vergangenheit des Rechts, „welcher zu einer bestimmten Zeit in der Geschichte lebendiger, vollständiger und grundlegender Bestandteil des Rechts war.“ Er identifiziert sich nicht vollständig mit dem Historiker: für diesen ist die ganze Geschichte zeitgenössisch, und somit „besteht für ihn kein anderes Problem außer der Gegenwart.“320 Der Rechtshistoriker ist ein wahrer Historiker, ein wahrer Jurist und ein wahrer Philosoph. Er wurde um der Gerechtigkeit Willen geboren: er glaubt somit an diese déesse inconnue, an dieses irrationale Ideal, welches wahnsinnig ist. Capograssi versteht unter „Krise” „die Bedrohung des menschlichen Lebens”: „diese Krise besteht nicht etwa ‚hier schon’ und ‚dort nicht’, sondern sie betrifft jedes Individuum in der Geschichte der Menschheit, immer und überall.“ Dies ist „der einzige Trost den wir haben. Es ist ein Trost, dass die Krise in uns ist, weil wir sie somit in unserem Inneren überwinden müssen. Wenn wir und dieser Sache klar bewusst werden, erkennen wir, dass wir Menschen die Tendenz in uns haben, das Leben zu zerstören; aber wir haben auch die Tendenz, nach der Wahrheit zu streben. Wenn letztere Tendenz im Rahmen unserer inneren Freiheit die Oberhand gewinnt, so besteht die Warscheinlichkeit, dass sich diese Wahrheit auch in unserer Gesellschaft und in unser Rechtssystem niederschlägt. Dies kann geschehen, wenn wir uns davon überzeugen, dass es unsere Pflicht ist zu helfen und der Wahrheit zu folgen, die wir in unserem Inneren spüren. Diese Wahrheit müssen wir dann in uns herrschen lassen. Wenn wir dann auch unsere Einfachheit wiedererlangen, dessen Mangel unser wahres Elend ist, und wenn wir zudem wirklich gemäß dem höchst bedeutenden antiken Wort (dessen unendliche Tragweite vom Christentum aufgezeigt wurde) beginnen zu glauben, dass wir für die 318 Ebenda, S.603-604. 319 Ebenda, S. 606. 320 Ebenda, S. 607. 99

Gerechtigkeit geboren worden sind, dann wird die Krise in uns mit Sicherheit überwunden werden. Und wenn wir dann alle unser Leben de facto ändern, dann wird die Krise auch in der Menschheitsgeschichte überwunden werden. Die Geschichte ist nichts als ein genaues Spiegelbild von uns selbst: die schrecklichen imperialistischen Strömungen, welche auf der Bühne der Weltpolitik aufeinanderklatschen, sind nichts anderes als ein Reflex des tödlichen Imperialismusses der in jedem von uns ist, der Ausdruck unseres gnadenlosen und gierigen Hochmutes ist. Wenn wir es schaffen, bis hin zur Selbstaufopferung Loyalität, Ehrlichkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit, das Gute, mit einem Wort:Gott zu lieben, dann werden wir dadurch unseren ganz persönlichen Imperialismus besiegen, was zur Folge haben wird, dass der Imperialismus auch von der Bühne der Weltpolitik verschwinden wird. Es ist unbedingt notwendig, dass man davon überzeugt ist. Man muss so wahnsinnig sein zu glauben, dass jeder Mensch die Welt verändern kann und muss; dass jeder, der die Menschlichkeit in sich selbst retten und voll verwirklichen kann, der das Böse wirklich besiegen kann, der wirklich an Gott glauben kann, den Fortgang der Geschichte vor dem Bösen retten kann. Das donquichotteskische Gesicht des alten Europas, welches seine wahre Größe darstellt, entsprach diesem Wahnsinn. Dieselben Worte vernahm der Heilige Paulus von Gott. Bleiben wir ihnen treu.”321

321 G. CAPOGRASSI, L'ambiguità del diritto contemporaneo, in La crisi del diritto, Padua, Cedam, S. 13-47, hier aus Opere, Band V, S. 385-427. Das Zitat stammt aus den Seiten 425 und 426. Man siehe M. BUBER, Ich und Du, Leipzig, Im Insel Verlag, 1923, S. 97. So Buber: „Die Welt ist nicht göttliches Spiel, sie ist göttliches Schicksal. Daß es die Welt, daß es den Menschen, daß es die menschliche Person, dich und mich gibt, hat göttlichen Sinn“. 100

III. EIN TRADITIONELLES IDEAL INHALTSVERZEICHNIS: 3.1. Erste Spuren von Kelsen in Italien: Die Staatslehre des Dante Alighieri. Geschichte der Rezeption dieses Werkes und dessen Interpretation durch Vittorio Frosini. 3.2. Kelsen und L'ordinamento giuridico von Santi Romano. 3.3. Giuristi: Die Erwähnung Kelsens in den Frammenti di un dizionario giuridico (1947). 3.4. Anmerkungen zum juridischen Realismus von Santi Romano. 3.5. Der Eintrag Autonomia in den Frammenti di un dizionario giuridico. 3.6. Kurze Darstellung der Hauptmomente der italienischen Kritik an Kelsen. 3.7. Vittorio Frosini und Kelsens Einfluss in Italien.

3.1. Erste Spuren von Kelsen in Italien: Die Staatslehre des Dante Alighieri. Geschichte der Rezeption dieses Werkes und dessen Interpretation durch Vittorio Frosini. Die Geschichte der Rezeption Kelsens in Italien beginnt auf eher überraschende Art und Weise. Auch das Erstlingswerk dieses großen österreichischen Juristen stellt eine Überraschung dar. Es trägt den Titel Die Staatslehre des Dante Alighieri, und erschien im Jahr 1905 in der Reihe „Wiener Staatswissenschaftliche Studien“ sowie in Folge auch als Monographie beim Wiener Verleger Deuticke. 322 Im Jahr der ersten Veröffentlichung dieses Werkes ist Kelsen 24 Jahre alt und noch nicht der im 20. Jahrhundert so einflussreiche juristische Autor. Es überrascht, dass Kelsen, Verfechter einer Reinen Rechtslehre, in der Geschichte und Ethik keinen Platz haben, seine Kräfte in jungen Jahren zur Verfassung eines historischen Werkes einsetzte. Diese Schrift wurde, sei es vom Fachkreis der kritischen Studien zu Dante, als auch von der juridischen Fachpublizistik weitgehend ignoriert. Mit einer Ausnahme: Arrigo Solmi verfasste dazu 1907 eine ausführliche Kritik im Bullettino della Società dantesca italiana323 – hier wurde Kelsen zum ersten Mal in einer italienischen 322 H. KELSEN, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Wien und Leipzig, Deuticke, 1905. Italienische Übersetzung: La teoria dello Stato in Dante, W. Sangiorgi und G. Meyer vom Bruck, mit einer Einleitung von V. Frosini, Bologna, Boni, 1974, S. 1-207. 323 A. SOLMI, H. Kelsen: Die Staatslehre des Dante Alighieri, aus „Bullettino della Società Dantesca Italiana“, vol XIII, 1907, S. 98-111. Dieser Beitrag wurde später in A. SOLMI, 101

Zeitschrift zitiert. Mit Ausnahme von Solmi befasste sich vorerst niemand mit Kelsens Erstlingswerk – erst 70 Jahre später begann man, sich ernsthaft damit außeinanderzusetzen. Vittorio Frosini kam im Rahmen seiner Historisierung des Denkens dieses einflussreichen österreichischen Juristen auf dessen Erstlingswerk zurück.324 Kelsen folgte einer sehr klaren Intuition, als er die De Monarchia bzw. die genannte Staatslehre von Dante als juridisches Werk aus dem Bereich des öffentlichen Rechts bezeichnete. Seine korrekte Intuition wurde jedoch durch die Brille verzerrt, durch die er blickte – sie zeigte ihm Dante nämlich aus dem Blickwinkel eines juridischen Autors der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Für Kelsen war Dante ein Gelehrter, der das öffentliche Recht studiert und dazu ein wissenschaftliches, neutrales Werk verfasst hatte: Dante, der ein sogenannter weißer Welfe war, stand für Kelsen über den Parteien. „In Wirklichkeit stand er hoch über allem Parteigetriebe; er hat sich – nach seinen eigenen schönen Worten – ‚selbst zur Partei gemacht’. Sein Kaiserideal entspringt nicht einer bestimmten Parteizugehörigkeit; es ist der Ausdruck einer wissenschaftlichen Überzeugung, die in einem monarchischen Weltstaate das Heil der Menschheit erblickte. In dieser Umgebung hat Dante seine großen Gedanken über Staat und Menschheit gedacht.“ 325

Il pensiero politico in Dante, Florenz, La Voce, 1922, S. 107-134, wieder veröffentlicht. Solmi befasste sich 1908 wieder mit Kelsen. Seine diesbezügliche Schrift wurde im „Bullettino“ mit dem Titel Il pensiero politico di Dante, Ebenda, S. 135-155, veröffentlicht. 324 V. FROSINI, Kelsen und Dante, aus Scritti in memoria di Antonino Giuffrè, Band I, Mailand, Giuffrè, 1967, S. 519-522. Wieder gedruckt wurde dieser Beitrag als Einleitung zu genanntem Erstlingswerk von Kelsen, Ebenda, S. IX-XXIX, und hier zitiert aus V. FROSINI, Saggi su Kelsen e Capograssi. Due interpretazioni del diritto. Ebenda, S. 9-19. Frosinis Interesse für Kelsens Sichtweise von Dante entwickelte sich aus den ersten Essays, die Frosini zum Denken Kelsens Anfang der sechziger Jahre schrieb und erreichte seinen Höhepunkt in der Übersetzung Frosinis von Kelsens Erstlingswerk 1974. Man siehe auch V. FROSINI, La critica italiana a Kelsen, Ebenda, S. 36-39, wo Kelsens Sichtweise von Dante bereits angedeutet wird. Bezüglich Frosini und Kelsen siehe man den letzten Abschnitt dieses Kapitels. Zu Kelsens Erstlingswerk siehe man zudem F. RICCOBONO, Interpretazioni kelseniane, Mailand, Giuffrè, 1989, S. 1-32 und M. CAU, Hans Kelsen et la théorie de l’ État chez Dante, „Laboratoir italien“, V, 2001, S. 125-150. 325 H. KELSEN, Die Staatslehre des Dante Alighieri, aus Werke, Band I, Veröffentlichte Schriften 1905-1910 und Selbstzeugnisse, Hrsg. von Matthias Jestaedt, Mohr Siebeck, Tübingen, 2007, S. 156f. 102

Kelsen begreift den juridischen Wert von Dantes Monarchiekonzeption, jedoch sieht er nicht, dass diese nicht das Ergebnis einer „freien und leidenschaftslosen philosophischen Untersuchung“ ist und auch nicht auf rein theoretischen Annahmen gründet. 326 Die Monarchia „stellt einen der Höhepunkte des politischen Denkens des vierzehnten Jahrhunderts, sowie des ganzen lateinischen Mittelalters, dar.“ „Sie vermittelt einem ein grundsätzlich universalistisches Ideal, welches Dante zum wichtigsten Verkünder politischer Ideale des gesamten Mittelalters machte und ihn im Gegensatz zur hierokratischen These stellt, welche die Unterwerfung der weltlichen unter die geistliche Macht und die Aufweichung der Grenzen zwischen beiden Mächten forderte.“ In dieser Hinsicht ist Dantes Monarchia ein in Form einer Monographie verfasstes Werk über das öffentliche Recht.327 Laut Kelsen arbeitete „der Staatsgelehrter Dante“ eine dementsprechende Theorie aus, auch wenn er „viel zu sehr vom Geiste der Scholastik und vom christlichen Glabuen durchdrungen“ war „um nicht an einem selbständigen, außer und über allem staatlichen Gemeinleben gegebenen, göttlichen Zweck des Individuums festzuhalten. Das Recht der Persönlichkeit galt auch für Dante, nicht als der Ausfluß eines omnipotenten Staates, sondern beruhte auf dem Willen Gottes, einer außerhalb des Staates, ja hoch über dem Staate stehenden Autorität. Daher ist es selbstverständlich, daß die Kompetenz des Staates eine Verengung erfahren mußte.“328 Die Einschränkung der säkulären Gewalt wird am Ende des dritten Buches der De Monarchia thematisiert, wo der letzte der tria dubitata behandelt wird, nämlich die Frage, ob das Reich immediate a deo ist, oder ob es vom Stellvertreter Gottes auf Erden – also vom Papst – abhängt.329 326 V. FROSINI, Kelsen e il pensiero giuridico italiano, Ebenda, S. 35-44, vor allem S. 39. Für Frosini ist Dantes Monarchia nicht „eine rechtswissenschaftliche Monographie”, sondern „ein großes Werk der höfischen Literatur“, welches durch „eine starke politische Überzeugungen“ und „dem Wunsch, die Öffentlichkeit für die eigene Sache zu gewinnen“ inspiriert wurde. Dem kann man nur zustimmen wenn man von der wechselseitigen Verflochtenheit von politischem und juridischem Denken ausgeht. Auch wenn Frosini sich in seiner Interpretation von jener Croces distanziert, erfasst er nicht den grundsätzlichen juridischen Gehalt von Dantes Werk, das eine rechtswissenschaftliche Monographie ist (auch wenn Dante in dessen drittem Buch schreibt, dass seine Lehre „causa litigii“ ist). 327 D. QUAGLIONI, Alighieri Dante, aus Enciclopedia del pensiero politico. Autori, concetti, dottrine. Hrsg. von C. Galli und R. Esposito, Bari-Rom, Laterza, 2000, S. 13. 328 H. KELSEN, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Ebenda, S. 214. 329 Ich zitiere hier aus der von der „Società Dantesca Italiana“ verfassten Ausgabe der Monarchia, Hrsg. von P.G. Ricci, Mailand, Mondadori, 1965, III, I, 5 (S. 221): 103

Der Abschluss der Monarchia bezieht sich auf die aus der Ekklesiologie stammenden Metapher der duo magna luminaria:330 Que quidem veritas ultime questionis non sic stricte recipienda est, ut romanus Princeps in aliquo romano Pontifici non subiaceat, cum mortalis ista felicitas quodammodo ad immortalem felicitatem ordinetur. Illa igitur reverentia Cesar utatur ad Petrum qua primogenitus filius debet uti ad patrem: ut luce paterne gratie illustratus virtuosius orbem terre irradiet, cui ab Illo solo perfectus est, qui est omnium spiritualium et temporalium gubernator.

Für Kelsen stellt diese Passage einen unauflösbaren Widerspruch in Dantes Denken dar: dieser habe nämlich in seinem gesamten Werk die Unabhängigkeit der weltlichen von der geistlichen Macht gefordert, verfalle durch obengenannte Passage jedoch in einen Widerspruch, aufgrund dessen er das von ihm vertretene Prinzip der Unabhängigkeit Cäesars von Petrus nicht folgerichtig durchziehen könne. Dazu schrieb Kelsen Folgendes:331 Niemandem kann der Widerspruch entgehen, in welchem der Schluß des dritten Buches zum ganzen Werke steht. Fast scheint es, als zöge jetzt Dante jenes stolze Banner ein, auf das er die „Unabhängigkeit des Kaisers vom Papste“, die „Freiheit des Staates von der Kirche“ geschrieben. Mit allem Mitteln einer scharfen Dialektik, einer begeisterten Überzeugung hat er sich bemüht, die Voraussetzungen für eine selbständige Staatsgewalt zusammenzutragen – und jetzt, da es gilt, die Konsequenzen zu ziehen, spricht er mit vagen und unbestimmten Worten von einer „reverentia des Caesars für Petrus“ und „daß das irdische Glück doch eigentlich irgendwie vom Himmel abhängig sei.“ Damit hat Dante im Grunde seiner ganzen kühnen Beweisführung selbst die Spitze abgebrochen! „Questio igitur presens, de qua inquisitio futura est, inter duo luminaria magna versatur: romanum scilicet Pontificem et romanum Principem; et queritur utrum auctoritas Monarche romani, qui de iure Monarcha mundi est, ut in secundo libro probatum est, immediate a deo dependeat an ab aliquo Dei vicario vel ministro, quem Petri sucessorem intelligo, qui vere claviger est regni celorum.“ 330 D. ALIGHIERI, Monarchia, III, XV, 16-18 (Ebenda, S. 275). 331 H. KELSEN, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Ebenda, S. 264. Bruno Nardi schrieb, dass der Abschluß der Monographie von Dante von einem Menschen verfasst zu sein scheint, der nach Jahren, die Veränderungen in seiner Mentalität mit sich gebracht haben, zu einem alten Text aus eigener Feder einen Zusatz schreibt. Oder er erweckt den Eindruck, von einen Menschen geschrieben worden zu sein, der einsieht dass er zu scharfe Töne von sich gegeben hat und nun versucht etwas leiser zu treten. Dantes Darstellung, dass die „reverentia“ von Cäesar für Petrus die Unabhängigkeit des Staates unberührt läßt, sowie die Art der von ihm geschilderten Unterordnung des weltlichen Glücks unter die ewige Seligkeit zeigen seine Unsicherheit und Unentschlossenheit. (Man siehe B. NARDI, Il concetto dell’ impero nello svolgimento del pensiero dantesco, aus Saggi di filosofia dantesca, Florenz, La Nuova Italia, 19672, S. 257). 104

Für Dante ist der Kaiser deus in terris: in seiner Monarchia, III, IV wiederlegt er die Theorie der zwei Sonnen, indem er sich auf Aristoteles und Augustinus bezieht, das Buch Genesis der Bibel interpretiert und den Fehler im Syllogismus, der der Theorie zugrundeliegt, ausfindig macht. Für Dante besteht zwischen Papst und Kaiser nicht der gleiche Unterschied wie zwischen Sonne und Mond. Der Kaiser ist nicht der artifex inferior welcher ab architecto abhängt.332 Dante erlebt den dramatischen Bruch des „gelasianischen Prinzips“, der bereits während des Pontifikates von Papst Innozenz III stattgefunden hat, der die Metapher der zwei Sonnen erfunden hat: eine davon ist maior (pontificalis auctoritas), die andere minor (regalis potestas). Dante sieht, wie „la spada“ (das Schwert) gemeinsam mit „il pasturale“ (dem Hirtenstab) kommt, sodass „l'un l'altro non teme.“333 Diego Quaglioni erinnert daran, dass „das sogenannte gelasianische Prinzip, welches durch die Methapher der zwei Sonnen ausgedrückt wird, nicht nur eine funktionelle Unterscheidung, sondern auch die gegenseitige Begrenzung der geistigen und der weltlichen Macht beinhaltet.“334 Auch Bruno Nardi hatte das Problem der Begrenzungen als „zentraler Punkt aller politischen Bestrebungen von Dante“ bezeichnet, bei dem sein Denken „wirklich gewagt und originell wird.“335 Dante sprach sich somit letztlich für eine doppelte Organisation der Welt bzw. der Gesellschaft aus – durch die weltliche und durch die geistliche Macht. Kelsen sah dies als einen Mangel an Kohärenz, weil „die Annahme einer zweifachen Organisation der einheitlich gedachten Menschheit – unter dem Papste einerseits, unter dem Kaiser andererseits – eigentlich in Widerspruch zum principium unitatis“ steht. „Wollte man diesem obersten Grundsatz in konsequenter Weise gerecht werden, dann 332 D. ALIGHIERI, Monarchia, III, IV, 1-22 (Ebenda, S. 231-240). Man siehe D. QUAGLIONI, Quanta est differentia inter solem et lunam. Tolomeo e la dottrina canonistica dei duo luminaria, aus „Micrologus“, XII, 2004, S. 395-406. 333 Die hier folgenden Verse aus Purgatorio, XVI, 109, legt Dante in den Mund von Marco Lombardo. Ich zitiere hier aus der nationalen Ausgabe der „Società Dantesca Italiana“, Hrsg. von G. Petrocchi, Mailand, Mondadori, 1967, S. 272-273. Kelsen widmete diesen Versen eine ganze Seite, um zu unterstreichen dass für Dante der Kaiser nicht den Mond, sondern die Sonne symbolisierte. Der italienische Dichterfürst schrieb nämlich: „Soleva Roma, che ’l buon mondo feo, /due soli aver, che l’una e l’altra strada/facean veder, e del mondo e di Deo”. Man siehe H. KELSEN, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Ebenda, S. 249. Man siehe auch F. RUFFINI, La libertà religiosa come diritto pubblico subiettivo, Bologna, Il Mulino, 1992, S. 139-145. 334 D. QUAGLIONI, Quanta est differentia inter solem et lunam. Tolomeo e la dottrina canonistica dei duo luminaria, Ebenda. 335 B. NARDI, Il concetto dell’ impero nello svolgimento del pensiero dantesco, aus Saggi di filosofia dantesca, Ebenda, S. 246. 105

mußte man notgedrungen die eine Organisation der anderen unterordnen, d.h. die Kirche im Staate oder den Staat in der Kirche aufgehen lassen.“336 Da Dante es laut Kelsen nicht gewagt hatte, die Unterordnung der Kirche unter den Staat zu fordern, sei er mit dem principium unitatis in Konflikt geraten. Hier wird ein Aspekt von Kelsens Denken ansatzweise klar, der es ihm später ermöglichte, die Stufenbautheorie von Adolf Merkel zu übernehmen. Kelsen schrieb 1905:337 Nicht in eine, sondern in zwei Spitzen gipfelte demzufolge die große Menschheitspyramide, in den Papst und in den Kaiser, die beide – wollte man dem Einheitsprinzip überhaupt gerecht werden – nur schwer unter einen Hut zu bringen waren! Wie Dante diesen Widerspruch seines Systems zu lösen versuchte, haben wir gesehen: Er unterstellt beide, Papst und Kaiser, der gemeinsamen Einheit der göttlichen Oberleitung, freilich aber ohne die völlige und konsequente Unabhängigkeit beider voneinander klar auszusprechen.

Dante habe diesen Fehler wegen der „ungeheuren Wertschätzung des religiösen Momentes im Mittelalter“ begangen – er hätte gar nicht anders vorgehen können, da er „ein Mensch des dreizehnten Jahrhunderts“ war: „Von den Wahrheiten, die eine mehr als tausendjährige Entwicklung geschmiedet, kann sich auch das Genie nicht ganz emanzipieren.“338 Es verwundert also nicht, dass Dante für Kelsen „auf dem Gebiete der Staatslehre“ „nur das Frührot der Renaissance“ darstellte, „die in ihrer Mittagshöhe einen Macchiavelli, einen Bodin gereift hat.“339 Kelsens Staatslehre des Dante Alighieri wurde 1974 mit einer Einleitung von Vittorio Frosini in die italienische Sprache übersetzt. In seiner Einführung bringt Frosini seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass die italienische Kritik sich mit einer einzigen Ausnahme nie mit diesem Werk Kelsens auseinandergesetzt hat. Frosinis Absicht war, sowohl Dante als auch Kelsen zu historisieren. Laut ihm war Dante für Kelsen ein „Fürsprecher für die Staatsform des Reiches, worin der Kaiser höchster Staatsdiener ist.“340 Wie bereits erwähnt, wird Dante hier als ein Gelehrter angesehen, dessen Denken „frei von politischen Einflüssen“ ist. Laut Frosini „kann man aus dieser Interpretation bereits die Mentalität Kelsens herauslesen, welche ihm später zum Theoretiker einer reinen Rechtslehre und einer auf die Rechtsordnung reduzierten Staatsauffassung machte. Seine Lehre wird als „rein“ definiert, weil sie (angeblich) nicht von politischen Einflüssen berührt wurde.“ 336 337 338 339 340 106

H. KELSEN, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Ebenda, S. 265. Ebenda, S. 266. Ebenda, S. 265. Ebenda, S. 296. H. KELSEN, La teoria dello Stato in Dante, Ebenda, S. XVIII.

Laut Frosini war Dantes Staatskonzeption die eines „Staates der Gerechtigkeit“, also „nicht jene der liberalen Theoretiker, welche den Staat als einen einheitlichen juridischen Rahmen der Gesellschaft ansahen, innerhalb der unterschiedliche und antagonistische (politische) Konzeptionen existierten.“ Das von Dante als universalis pax bezeichnete Gemeinwohl entspricht laut Frosini der öffentlichen Ordnung, welche der Grundstein des zivilen Zusammenlebens ist.341 Für Frosini hat Kelsen bei der Lektüre von Dante „in diesem ein Spiegelbild seiner selbst gefunden“. „Man kann dieses intellektuelle Frühwerk von Kelsen heutzutage aus einer anderen Warte betrachten als man es in Vergangenheit getan hat. Man kann in ihm nämlich den Keim jener Denkweise erkennen, welche sich dann in späteren Werken voll entfalten sollte.“342 Die Geschichte von Kelsens Rezeption in Italien beginnt und endet gewissermaßen bei Dante: Der Herausgeber der italienischen Ausgabe der Staatslehre, Boni, veröffentlichte das Werk 1974 mit einer sechs Jahre zurückliegenden Anmerkung von Kelsen. Boni hatte 1968 vom damals fast neunzigjährigen Kelsen die Erlaubnis zur Veröffentlichung unter der Bedingung erhalten, den Leser durch eine Anmerkung darüber zu informieren, dass dieses Werk 1905 geschrieben und seitdem nicht mehr ergänzt worden war. Hier eine Widergabe des Briefinhalts von Kelsen an Boni, den dieser unverändert in der italienischen Ausgabe des Buches gedruckt hat: Egregio dott. Boni, rispondendo alla Sua gentile lettera dell'1 agosto 1968, Le do il mio permesso di pubblicare il mio saggio «DIE STAATSLEHRE DES DANTE ALIGHIERI», però a condizione che venga esplicitamente dichiarato come pura e semplice ristampa della monografia pubblicata nel 1905 – quindi più di 60 anni fa. Ci vuole questa specificazione perché solo così si spiega perché tutta la letteratura su questo tema, pubblicata dopo il 1905, non è stata presa in considerazione.

Viele Jahre liegen zwischen 1905, als Kelsen sich für Dante interessierte und den juridischen Gehalt von dessen Werken bemerkte, und der Zeit, in der er als reiner Jurist bekannt war. Der greise Kelsen, der obigen Brief an Boni geschrieben hatte, unterschied sich stark vom jungen Gelehrten Kelsen– auch wenn er gewissermaßen doch immer der Gleiche geblieben war.

341 Ebenda, S. XXI. 342 V. FROSINI, La critica italiana a Kelsen, Ebenda, S. 39. 107

3.2. Kelsen und L'ordinamento giuridico von Santi Romano. 1988 fügte Vittorio Frosini in seinen Saggi su Kelsen e Capograssi einen Abschnitt mit dem Titel Kelsen e Romano ein.343 Laut Frosini stellte das juridische Denken des Santi Romano gemeinsam mit dem von Giuseppe Capograssi „die große Alternative“ zu Kelsen in Italien dar. In seiner Scienza giuridica italiana stellt Paolo Grossi das Denken von Romano neben jenes von Capograssi, da sich beide „der verlorenen Einfachheit“ bewusst sind, zu einer „Rückkehr zu den Tatsachen“ drängen, und den Rechtsgelehrten dazu aufrufen, nicht in der Bequemlichkeit der positivistischen juridischen Abstraktionen zu verweilen. 1918 veröffentlichte Capograssi Saggio sullo Stato, Santi Romano hingegen L’ordinamento giuridico.344 Romanos Werk wurzelt stark in der Geschichte. Nur wer sich damit begnügt, es der allgemeinen Rechtslehre zuzuordnen, kann es als ein zeit- und ortloses Werk ansehen.345 Grossi schrieb, dass Romanos Büchlein „das synthetisch dargestellte Ergebnis zwanzigjähriger Forschung und Analyse sei, welche in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts begann und im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges endete.“346 Romano war „aufmerksamer Beobachter der tiefen Krise der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Überzeugungen. Er registrierte mit gnadenloser Genauigkeit alle Angriffe, welche die von dieser Gesellschaftsschicht in Kontinentaleuropa nach dem gewaltigen Beben der Französischen Revolution (nicht ohne Gegenschläge) errichtete Rechtsordnung mitten ins Gesicht 343 V. FROSINI, Kelsen e Romano, aus H. Kelsen nella cultura filosofico-giuridica del Novecento, Hrsg. von C. Röhrssen, Rom, Istituto della Enciclopedia Italiana, 1983, S. 161168, hier aus Saggi su Kelsen e Capograssi. Due interpretazioni del diritto, Ebenda, S. 45-46. 344 Man siehe S. CASSESE, Ipotesi sulla formazione de „L’ordinamento giuridico“ di Santi Romano, aus den „Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno“, I, 1972, S. 243-283. Fast ein Jahrhundert nach Romano hat Cassese sein Oltre lo Stato veröffentlicht, Rom-Bari, Laterza, 2006, S. 1-189. Auf dieses Werk möchte ich verweisen. 345 So hat es zum Beispiel Norberto Bobbio gemacht. Für ihn ist dieses Werk „rein theoretisch und zeitlos“. Man siehe N. BOBBIO, Teoria e ideologia nella dottrina di Santi Romano, aus Le dottrine giuridiche di oggi e l’insegnamento di Santi Romano, Mailand, Giuffrè, 1977, S. 36. Grossi hat in Scienza giuridica italiana. Un profilo storico 1860-1950, Ebenda, S.111, die Sichtweise von Bobbio kritisiert. 346 P. GROSSI, Santi Romano: un messaggio da ripensare nella odierna crisi delle fonti. Aus: Nobiltà del diritto. Profili di giuristi, Ebenda, S. 670. Vom selben Autor siehe man auch Il diritto tra potere e ordinamento, Neapel, Editoriale Scientifica, 2005. 108

trafen.“347 Romanos Buch steht für eine „Rückkehr zu den Tatsachen“. Er beschreibt die Krise von Capograssis „Riese ohne Krone“, sowie seinen „in seiner geometrischen Linearität so verführerischen Plan“, durch welchen er die Vielfalt der juridischen Dimension auf die Binomien Staat– Individuum und Staat-Einheitsklasse reduzieren wollte.“348 Das Modell des „juridischen Absolutismus“, also der „Monopolisierung des Rechts durch den Staat“ bekommt immer größere Sprünge.349 Der Kampf der Mittellosen um einen Platz in der Öffentlichkeit und politische Mitsprache, die Verbreitung und Dynamik sozialer, politischer, gewerkschaftlicher und religiöser Vereinigungen, die ökonomische und technische Weiterentwicklung der kapitalistischen Struktur, die sich mittlerweile in Form von großen Unternehmen konsolidiert hatte, innerhalb derer sich die Konfrontation zwischen den beiden beteiligten Seiten –Unternehmer und Arbeiter– sich zu einer Konstante entwickelt hat – all dies berücksichtigte Romano in seinem L'ordinamento giuridico.350 Dieses Werk beinhaltet eine Kritik an der Lehre von Hans Kelsen, die bereits mit der ersten Anmerkung im Text beginnt, welche die Hauptprobleme betrifft. Romanos Kritik an Kelsens Formalismus lässt den österreichischen Gelehrten, Vertreter eines strengstmöglichen juridischen Positivismus, zum ersten Mal auf breiterer Ebene bekannt werden. Romano wird Kelsen aufgrund dessen „extremen“ Standpunkten wohl als einen idealen Widerpart angesehen haben, durch den er die dringlichsten Probleme der italienischen Rechtwissenschaft angehen konnte. Laut Frosini wurde Kelsens Lehre durch die Aufmerksamkeit Romanos dem „Fachkreise der italienischen Rechtskultur bzw. Rechtswissenschaft“ bekannt.351 In L'ordinamento giuridico ist Kelsen allgegenwärtig. Romano kritisierte die das Recht auf eine „Verhaltensnorm“ reduzierenden Sichtweisen. Dazu schrieb 347 P. GROSSI, Santi Romano: un messaggio da ripensare nella odierna crisi delle fonti. Aus Nobiltà del diritto. Profili di giuristi, Ebenda, S.670-671. 348 Ebenda, S. 671. 349 Man siehe P. GROSSI, Ancora sull’ assolutismo giuridico (ossia: della ricchezza e della libertà dello storico del diritto) aus Studi in onore di Giorgio Berti, Band II, Neapel, Jovene, 2005. 350 P. GROSSI, Santi Romano: un messaggio da ripensare nella odierna crisi delle fonti. Aus: Nobiltà del diritto. Profili di giuristi, Ebenda, S. 671. Man vergleiche mit P. GROSSI, Ordinamento, aus Filosofia del diritto. Concetti fondamentali, Hrsg. von U. Pomarici, Turin, Giappichelli, 2007, S. 439-449. 351 V. FROSINI, Kelsen e Romano, Ebenda, S. 45. Kelsen hatte bereits durch die Kritik von Arrigo Solmi an seinem Erstlingswerk über die Staatstheorie von Dante eine gewisse Bekanntheit in Italien erreicht. 109

er: „In letzter Zeit ist dieser Gesichtspunkt bis in seine äußersten Konsequenzen überdehnt worden, und zwar in verschiedene Richtungen und von Seiten verschiedener Autoren.“ Romano zitiert hierzu Duguit und die Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre der Rechtssätze von Kelsen. Die Absichten, die Kelsen mit diesem Buch hatte, sind laut Romano „bereits aus dem Titel“ „deutlich erkennbar.“352 Die Art, wie der österreichische Jurist das Recht darstellte, wurde von Romano als unzureichend bezeichnet: Man müsse die Rechtsdarstellung von Kelsen durch weitere Elemente, welche sich als „bedeutsamer und charakteristischer erweisen“ ergänzen – also über den „Normbegriff.“ Diese Elemente „dürften sich nicht nur als grundlegender, sondern vor allem vom logischen Standpunkt aus, sowie zur zutreffenden Beurteilung der Umwelt, in der das Recht sich verwirklicht, als vorgängig erweisen.“353 Laut Romano liegt der Ursprung der gängigen Rechtsdefinitionen im Privatrecht, aus welchem sie den anderen Bereichen des Rechts „aufgezwungen“ wurden. Diese Definitionen seien für das Privatrecht allgemeingesprochen befriedigend, „für einige Teile des öffentlichen Rechts gilt dies jedoch nicht.“354 So Romano: „Hier handelt es sich um ein weiteres negatives Beispiel für die notwendigerweise unbesehene Űbernahme von ursprünglich ausschließlich nur im Privatrecht erarbeiteten allgemeinen oder beiden Rechtsgebieten gemeinsamen Begriffen, zu einer Zeit, als es eine Wissenschaft vom öffentlichen Recht noch nicht oder erst in Ansätzen gab. Die Folge davon war, daß sich die Wissenschaft dann später gezwungen sah, Ergänzungen und Verbesserungen vorzunehmen, um neu aufgetretene Elemente zu integrieren.“ Genauso drängt es laut Romano dies auch für die Rechtsdefinition zu tun, welche „vom öffentlichen Recht und von der Rechtsphilosophie geschlossenen Auges aus dem Privatrecht übernommen wurde.“ Für diese Definition muss man „von der zutreffenden – und auch schon von anderen gemachten – Feststellung ausgehen, daß das Recht in seiner entscheidenden und grundsätzlichsten Ausprägung öffentlichrechtlich ist.“ 355 Romano hatte dabei aber nicht den Unterschied zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht abgestritten, wie es Weyr und Kelsen taten. Diesen Unterschied kann man nur beiseite schieben, wenn man bereit ist, eine historisch gewachsene

352 S. ROMANO, Die Rechtsordnung, Hrsg. von Roman Schnur, Berlin, Duncker & Humblot, 1975, S. 15. Fortan wird hier aus dieser Ausgabe der Rechtsordnung Romanos zitiert. 353 Ebenda, S. 16. 354 Ebenda, S. 17. 355 Ebenda, S. 17-18. 110

Dialektik zu verleugnen, die aus dem wechselseitigen Bezug dieser beiden Rechtsbereiche entstanden ist. 356 Der eine Bereich verliert ohne den anderen seinen Sinn. Für Romano ist das Privat-recht eine „Spezifizierung“ des öffentlichen Rechts, „in dem es seine Grundlage, seine Wurzel und seine Geltung findet.“ Das Privatrecht wird vom öffentlichen Recht „beherrscht“. „Wenn dieser Ausgangspunkt richtig ist, dann muß man die Elemente des allgemeinen Rechtsbegriffs eher aus dem Öffentlichen, als aus dem Privatrecht abzuleiten versuchen.“ Für Romano muss eine „vollständige Definition“ des Rechts „für jedes Rechtsgebiet“ gelten.357 Das normative Konzept des Rechts muss überarbeitet werden, da aus der Ungenauigkeit der Worte ungenaue Definitionen entstehen. Das Wort „Recht“ kann viele Bedeutungen annehmen. „Vielleicht ist es darauf zurückzuführen, daß man bei der Behauptung, das Recht sei eine Verhaltensnorm, nicht berücksichtigt, welche unterschiedlichen Bedeutungen das Wort 'Recht' annehmen kann; anstatt diese Unterschiede zu klären, ahnt man noch nicht einmal etwas von ihrem Bestehen“, so Romano.358 Unter „Recht“ versteht man also nicht nur ein Gesetz, eine Gewohnheit, die Dokumente, in denen Rechtsbestimmungen verzeichnet sind, oder die Rechtsquellen, von denen sie abstammen. „Häufig versteht man jedoch unter Recht etwas Umfassenderes und auch inhaltlich Unterschiedliches, dann nämlich, wenn man von einer Rechtsordnung insgesamt spricht, beispielsweise vom italienischen, vom französischen Recht oder vom Kirchenrecht. In diesen Fällen muß man sich, um die herrschende Definition des Rechts auch auf das Recht im Sinne von Rechtsordnung anwenden zu können, eines Hilfsmittels bedienen, indem man jede dieser Rechtsordnungen als eine Gesamtheit von Normen ansieht. Eine solche Umschreibung widerspricht den Gesetzen der Logik, die bei einer Definition zu beachten sind; und deshalb kann sie auch die Wirklichkeit nicht 356 Kelsens erster in italienischer Sprache erschienener Beitrag ist H. KELSEN, Diritto pubblico e privato, „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, IV, 1924, S. 340357. Für Kelsen gibt es keine Unterscheidung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht – das gesamte Recht ist für ihn öffentlich, da es aus staatlichen Normen besteht. Das Privatrecht ist bloß ein matter Abglanz des öffentlichen Rechts und kann nur existieren, wenn es von einer spezifischen Norm vorgesehen wird. Diese Unterscheidung wurde auch von F. WEYR abgestritten: man siehe Zum Unterschiede zwischen öffentlichem und privatem Recht, „Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht“, I, 1914, S. 439-441. Der Fachkreis der italienischen Gelehrten protestierte vehement gegen diese Negation und erinnerte daran, dass huius studii duae sunt positiones. 357 S. ROMANO, Die Rechtsordnung, Ebenda, S. 18-19. 358 Ebenda, S. 19-20. 111

wahrheitsgetreu wiedergeben. Man darf für die Definition einer ganzen Rechtsordnung eben nicht nur deren einzelne Teile – oder diejenigen, die man dafür hält, nämlich die Einzelnormen – heranziehen, um dann zu sagen, die Rechtsordnung selbst sei die Gesamtheit ihrer Teile; man muß vielmehr das Charakteristische, das Wesentliche dieser Gesamtheit selbst zu erfassen versuchen.“359 Eine Rechtsordnung kann nicht als „die bloße Summe verschiedener Normen“ bezeichnet werden. Auch darf eine Rechtsordnung nicht auf ihre normative Dimension reduziert werden, denn man kann die Normen einer Rechtsordnung nicht richtig verstehen, ohne eine klare Vorstellung vom Wesen dieser Ordnung zu haben. „Genausowenig kann man sich eine zutreffende Vorstellung von der Funktion der menschlichen Glieder oder von den Einzelteilen einer bestimmten Maschine machen, wenn man nicht vorher eine Vorstellung vom Menschen oder jener bestimmten Maschine hat.“360 In L’ordinamento giuridico fordert Romano die Rechtswissenschaft dazu auf, sich der Wirklichkeit anzupassen. Der Normativismus sei eine „der Wirklichkeit widersprechende“ Hypothese, die nicht nur falsche Definitionen hervorbringe, sondern auch Definitionen, die „von einem völlig irrigen Postulat“ ausgehen.“ 361 Romano ist kein Rechtsphilosoph, sondern ein Jurist, der sozusagen eine „interne“ Untersuchung auf seinem Fachgebiet durchgeführt hat. Deshalb ist es kein Zufall, wenn er zur Besinnung über die „allgemeine Erfahrung“ und über „die Bedeutung, die man ganz spontan dem Ausdruck ‚Rechtsordnung’ geben würde“362 aufruft. „Wenn man“, so Romano, „vom italienischen Recht oder vom französischen Recht spricht, dann denkt man doch nicht nur an eine Serie von Regeln, oder stellt sich jene zahlreichen Bände vor, die die offizielle Sammlung der Gesetze und Verordnungen bilden.“ Woran der Jurist und vor allem der Nicht-Jurist denkt, ist hingegen „etwas wesentlich Lebendigeres: es ist in erster Linie die komplexe und vielfältige Organisation des italienischen oder französischen Staates; es sind die zahlreichen Mechanismen und Beziehungen in ihrer Verbindung von Überordnung und Gewalt, die die Rechtsnormen schaffen, ändern, anwenden und sichern, die sich aber nicht mit ihnen identifizieren. Mit anderen Worten: die Rechtsordnung, so umfassend verstanden, ist ein Ganzes, 359 360 361 362

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Ebenda, S. 20. Ebenda. Ebenda, S. 22. Ebenda, S. 23. Romano beteuerte, dass er „strikt auf dem Boden des positiven Rechts“ geblieben sei und sich dabei nicht von „naturrechtlichen Vorstellungenˮ hatte beeinflussen lassen. So Romano „Natürlich mußten wir uns bis hart an die Grenze jener Gegenden begeben, in denen man noch juristische Luft einatmen kann - doch überschritten haben wir sie niemals.“ (S. 82 und 83).

das sich teilweise nach den Normen bewegt, das aber vor allem die Normen selbst bewegt, ähnlich wie Figuren auf einem Schachbrett. So sind diese Normen eher Objekt und Mittel der Tätigkeit der Rechtsordnung, anstatt Element ihrer Struktur zu sein.“363 Jene Lehre, welche verkündet, dass das Recht der Norm gleichzustellen sei, versucht die Unterschiede zwischen den Rechtsnormen und anderen Normen zu ergründen. Diese Untersuchung ist aber fruchtlos, da das Recht „sich nicht vollständig und stets auf Normen zurückführen läßt“ Laut dieser Lehre unterscheidet sich das Recht von anderen Normen durch seine „formalen Eigenschaften.“ Mit „Form“ ist hier etwas gemeint, „das außerhalb der Rechtsnorm selbst steht und nur einen äußerlichen Aspekt bildet.“364 Zwei dieser „formalen Eigenschaften“ werden durch diese Lehre unbestritten anerkannt – es handelt sich um jene, die man gewöhnlich als „Objektivität der Norm“ und „rechtliche Sanktion“ bezeichnet.365 Romano fragt sich, warum das Recht „durch diesen äußeren Aspekt statt durch die Substanz der Normen“ definiert werden soll. Er warnte den Leser davor, dass „der Ausdruck ‚Form’ zu jenen gehört, die man mit allen möglichen Bedeutungsinhalten füllen kann.“366 „Was die erste der beiden Eigenschaften anbelangt, so heißt es, das Recht bestehe aus Normen, die sich von dem Bewußtsein des Rechtsunterworfenen vollständig gelöst und eine eigene und autonome Existenz angenommen hätten.“367 In einer Gesellschaft sehen die einzelnen Personen in ihrem jeweiligen Mitmenschen einen „Genossen“. Zwischen ihnen können aber Konflikte entstehen (laut Kelsen ist die Menschheit in zu vielen Klassen, Nationen, Rassen usw. aufgeteilt, aufdass man von Gerechtigkeit sprechen könnte). Zur Schlichtung dieser Konflikte „ist das Eingreifen eines höheren Bewußtseins erforderlich“, welches „aus jenen Individuen gemeinsam erwächst.“ „Dieses Bewußtsein, Ausdruck sowohl der Koexistenz der Individuen als auch des Systems, in dem sie ihre Einheit finden, Mittler und Bezugspunkt zwischen den Teilen und mit dem Ganzen, sozusagen die Inkarnation des sozialen Ichs, des typischen, abstrakten, objektiven Socius: dieses Bewußtsein wird eben vom Recht gebildet. Von daher rührt jene sogenannte formale Bedeutung des Rechts, die man als Herrschaft der Objektivität definiert.“368 Diese konsequent 363 364 365 366 367 368

Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 24. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 24. Ebenda, S. 25. Ebenda. 113

erscheinende Auffassung geht von einer inkohärenten normativistischen Sichtweise aus – denn vom einem logischen Standpunkt aus kann man erkennen, dass unter Recht nicht nur die auf diese Weise gesetzte Norm zu verstehen ist, sondern das Ganze, das solche Normen setzt.369 Der Prozess der Objektivierung „beginnt nicht erst mit der Schaffung einer Regel, sondern bereits zu einem früheren Zeitpunkt: die Normen selbst sind nur eine Ausprägung, eine seiner verschiedenen Ausprägungen, ein Mittel, durch das sich jenes oben erwähnte soziale Ich verwirklicht.“370 Die Objektivität der Normen ist ihrerseits nur ein Reflex – wesentlich schwächer und manchmal nur ein bleicher Abglanz – der Objektivität dieses Ganzen, und man könnte sie ohne Bezugnahme auf jenes Ganze nicht einmal definieren. Die Rechtsnorm ist nicht deshalb objektiv, weil sie niedergeschrieben oder auf andere Weise genau formuliert ist: wenn dem so wäre, dann unterschiede sie sich nicht von zahlreichen anderen Normen, die auch auf diese äußerliche Weise formuliert werden können; und schließlich gibt es bekanntlich auch noch einige Rechtsnormen – zum Beispiel das Gewohnheitsrecht –, die keine solche Genauigkeit erreichen. Die Objektivität ist die an die Unpersönlichkeit der rechtssetzenden Macht gebundene Eigenschaft; sie beruht darauf, daß diese Macht etwas ist, was über die einzelnen Individuen hinausgeht und sich über sie erhebt, darauf, daß diese „Macht“ selbst „Recht“ ist. Mit jeder anderen Erklärung würde die sogenannte Eigenschaft der Objektivität entweder überhaupt nichts mehr aussagen oder – noch schlimmer – Anlaß zu Irrtümern bilden.371

In der Menschheitsgeschichte gab es laut Romano Rechtsordnungen, „in denen geschriebene oder ungeschriebene echte 'Normen' fehlen. Schon andere haben dargelegt, dass man sich eine Ordnung vorstellen kann, in der es keinen Gesetzgeber, sondern nur einen Richter gibt. Ein bloßer Ausweg aus diesem logischen Dilemma wäre die Annahme, daß der Richter in einem solchen Fall gleichzeitig mit der Entscheidung des konkreten Falles auch die Norm setze, an der er sein Urteil ausgerichte. Diese Annahme wäre jedoch nur eine Frucht 369 Romano präzisiert, daß diese seine Kritik von anderen Grundlagen ausgeht als jene von Croce, welcher diese Rechtsauffassung auch kritisiert hatte (man siehe diesbezüglich B. CROCE, Riduzione della Filosofia del diritto alla Filosofia dell'economia, Ebenda, S. 14f) Croce, dessen Standpunkte Romano oft mit den seinen verglich, hatte die Sanktion und die Objektivität kritisiert, weil er die Autonomie des juridischen vom ökonomischen Sektor negiert hatte. Romano war hingegen von dessen Autonomie überzeugt. Romano ging auch zur Auffassung Giovanni Gentiles auf Distanz. Dieser hatte von der „Intimität der Gesetze“ gesprochen, da diese „das Gewissen der Menschen beherrschen.“ Man siehe G. GENTILE, I fondamenti della filosofia del diritto, aus den „Annali delle università toscane”, Pisa, 1916, S. 47ff. 370 S. ROMANO, Die Rechtsordnung, S. 26. 371 Ebenda, S. 26. 114

unserer heutigen Vorstellungsweise und stünde im Gegensatz zur Wirklichkeit. Es ist vielmehr so, daß ein Urteil von der sogenannten Einzelfallgerechtigkeit bestimmt sein kann, von der Billigkeit oder von anderen Elementen, die etwas ganz anderes sind als eine echte Rechtsnorm, die sich ihrerseits ihrer Natur nach auf eine Reihe oder Gruppe von Handlungen bezieht und daher abstrakt und allgemein ist. Wenn dem aber so ist, dann muß man in dieser dargestellten Situation das rechtliche Element nicht in einer Norm suchen – an einer solchen fehlt es –, sondern in der Gewalt des Richters, der das objektive soziale Bewußtsein ausdrückt, und zwar mit anderen Mitteln als jenen, die für komplexere und stärker entwickelte Ordnungen charakteristisch sind.“372 Romano erinnert daran, dass „das Recht nicht nur aus Normen, sondern auch aus anderen Elementen besteht.“373 Die zweite formelle Eigenschaft des Rechts ist die Sanktion. Für Kelsen ist das Recht eine Norm zusätzlich einer Sanktion. Für ihn ist eine primäre, echte Norm eine solche, die eine bestimmte Sanktion vorschreibt. Für Romano kann letztgenannte Art von Norm nicht mehr wert sein als eine andere, die etwa nur eine Sanktion androht. Für Romano liegt der Fehler bei dieser Herangehensweise an die Problematik in einer unbegründeten Vorraussetzung: Nach dieser Vorgehensweise wäre ein Gebot nur dann rechtlicher Art, wenn ihm ein anderes beigefügt wird, dass ein Zwangsrecht bildet und auf diese Weise dem vom ersteren geschaffenen Recht Wirksamkeit verleiht. Damit dieses zweite Gebot nun aber wiederum als rechtliches bezeichnet werden kann, müsste es seinerseits von einem weiteren -dritten- begleitet werden – und so weiter. Man müsste also einen Normenkomplex ad infinitum errichten. In Wirklichkeit muss man aber notwendigerweise irgendwann zu einer Schlussnorm kommen. Zudem schrieb Romano: „Die Sanktion kann sich unserer Auffassung nach nämlich in der Tat nicht aus irgendeiner speziellen Norm ergeben, sie kann vielmehr nur ein immanenter Bestandteil innerhalb des organischen Mechanismus der Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit sein. Die Sanktion kann somit auch etwa auf bloß indirekte Weise wirken, als schlichte praktische Garantie, ohne dabei irgendein subjektives Recht zu schaffen. Das Fehlen eines subjektiven Rechts bei einer solchen schlichten praktischen Garantie zeigt, daß es auch insoweit keine Norm gibt, aus der sich ein solches Recht – als das notwendige einschränkende Korrelat der sozialen Macht – ableiten ließe. Wenn man demnach behauptet, die Sanktion sei ein Element des Rechts, dann behauptet man damit ebenso – freilich ohne es zu wollen –, daß das Recht nicht 372 Ebenda, S. 27. 373 Ebenda, S. 27f. 115

nur aus 'rechtlichen' Normen besteht, und daß diese mit anderen Elementen verbunden und von ihnen in ihrer Wirksamkeit abhängig sind. Man kann also sagen, daß die Sanktion (also jene anderen Elemente) nicht nur nicht bloß irgendeine Ergänzung, etwas neben den Normen stehendes Zusätzliches ist, sondern ein ihnen vorgängiges Moment, die Basis und Wurzel auf die jene sich gründen. Daher ist es für die Definition des Rechts notwendig, den Begriff der Sanktion zu untersuchen, noch bevor man dies für die Normen selbst unternimmt.“ Wenn der Normativismus seine Prämissen auf kohärente Art und Weise durchführen würde, so müsste er die Sanktionen aus dem Recht ausschließen und könnte sie nicht mal als außerrechtliches Element ansehen. „Irgendeinen Platz“, so Romano, muss man ihnen aber wohl doch zuweisen.374 Das Recht ist somit keine formelle Objektivität und auch keine Sanktion. Die Rechtsordnung wurde wegen „der Unbestimmtheit“ und „der Unzulänglichkeit des Sprachgebrauches“ als normativ konzipiert, wenngleich sie ja kein Normensystem ist. Nachdem er also eine kritische Analyse von Konzepten und Begriffen durchgeführt hat, zählt Romano „die wesentlichen Elemente des Rechtsbegriffes“ auf und behauptet, dass dieser sich vor allem anderen auf das Konzept der Gesellschaft beziehen muss. Dann fährt er folgendermaßen fort:375 Was die rein individuelle Sphäre nicht verläßt, was über das Leben des einzelnen nicht hinausgeht, das ist nicht Recht (ubi ius ibi societas); zum andern gibt es keine Gesellschaft im echten Sinn, ohne daß sich in ihr das Phänomen Recht manifestierte (ubi societas ibi ius).

Unter Gesellschaft versteht Romano „ein Ganzes, das vor allem auch formal und vom äußeren Erscheinungsbild her eine eigene konkrete Einheit bildet, die sich von den von ihr umfaßten Individuen unterscheidet.“ Das Recht ist ein soziales Phänomen. Zweites grundlegendes Element des Rechtsbegriffs von Romano ist „die Idee der sozialen Ordnung.“ Es ist als Zusatz zum vorigen Element zu verstehen und schließt alle Elemente aus, die sich auf reine Willkür oder auf eine bloß tatsächliche – also ungeordnete – Gewalt zurückführen lassen: „Jede soziale Erscheinung ist allein dadurch, daß es sich um eine 'soziale' handelt, auch eine geordnete, jedenfalls im Hinblick auf die Angehörigen der sozialen Gruppe.“376

374 Ebenda, S. 29 und 30. 375 Ebenda, S. 30 und 31. 376 Ebenda, S. 31. 116

Das dritte grundlegende Element ist die Vorstellung des Rechts als Institution (Istituzione). Man kann es dem Normativismus als Gegensatz gegenüberstellen. Romano schrieb zu diesem Element Folgendes:377 Die vom Recht geschaffene soziale Ordnung hat nichts mit derjenigen „Ordnung“ zu tun, die sich aus der Existenz der Normen ergibt, die die sozialen Beziehungen regeln: diese Normen können durchaus neben der sozialen Ordnung bestehen, im Regelfall bedient sie sich ihrer vielmehr und gliedert sie in den von ihr geschaffenen Rahmen ein. Daraus ergibt sich für das Recht folgendes: noch bevor es Norm wird, noch bevor es sich auf ein einzelnes oder eine Reihe von Lebensverhältnissen bezieht, ist es Organisation, Struktur und Grundlage eben jener Gesellschaft, in der es sich verwirklicht und die es seinerseits als ein autonomes Gebilde, als Einheit konstituiert. Auch dies folgt aus dem, was oben zur genaueren Abgrenzung und Bestimmung des Typs von Gesellschaft, in dem sich Recht bildet, gesagt wurde.

Der Begriff der Institution scheint uns hier „notwendig und ausreichend zu sein“ um wiederzugeben, was das Recht hier ist, nämlich „die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit und unter dem Blickwinkel auf ihre Einheit“. „Jede Rechtsordnung ist Institution, und, umgekehrt, jede Institution ist Rechtsordnung: die Gleichung zwischen beiden Begriffen ist notwendig und absolut.“378 Romano verwendet hier nicht das im privatrechtlichen Sinne als „juridische Person“ verstandene Konzept von Institution. Er verwendet dieses Konzept hier vom Standpunkt des öffentlichen Rechts ausgehend. 379 Romano geht von der Rechtslehre des Franzosen Hauriou aus, um diese dann hinter sich zu lassen. Hauriou hat laut Romano einen Fehler gemacht. So Romano: „Ganz offensichtlich hat sich Hauriou von der Idee mitreißen lassen, seine Institutionen nach Bild und Ebenbild der wichtigsten Institution zu formen, nämlich des Staates, genauer gesagt: des modernen Staates, während es in Wahrheit um den Entwurf einer ganz allgemeinen Figur ging, deren konkretes Erscheinungsbild in der Wirklichkeit unendlich viele Formen annehmen kann.“380 Um als Rechtsordnung angesehen zu werden, muss die Institution für Romano nicht unbedingt einen gewissen Grad der Entwicklung und der Perfektion erreicht haben, noch muss sie als Grundlage eine Verfassung haben und repräsentative Eigenschaften besitzen. Weiters hält er die Institution nicht für eine Rechtsquelle, sondern ist stattdessen der Auffassung dass „zwischen den Begriffen der Institution und einer als Einheit gesehenen Rechtsordnung vollständige Identität“ besteht. „Zu diesem Ergebnis kann man jedoch nur gelangen, wenn man die herkömmliche

377 378 379 380

Ebenda, S. 31 und 32. Ebenda, S. 32. Ebenda, S. 33. Ebenda, 36 und 37. 117

Lehre aufgibt, wonach das Recht nur Norm oder ein Komplex von Normen sein könne.“381 Hauriou hat den objektiven Charakter der Institution herausgestrichen. Laut Romano ist die Institution nicht ein Objekt, eine res. Vielmehr ist sie in Wirklichkeit eine objektive Rechtsordnung.382 Romano versteht unter Institution „jedes konkrete soziale Etwas, jede reale soziale Erscheinung“, die „objektiv ist und tatsächlich“ existiert. Obwohl sie immateriell ist, muss sie nach außen hin als „eigenständig erkennbar sein.“ – Romano sprach hier nicht zufällig von einem „sozialen Körper.“ (corpo sociale)383 Die Institution ist somit ein Ausdruck „der sozialen, und nicht bloß der individuellen Natur des Menschen.“384 Sie ist als ein „geschlossenes Etwas“ zu verstehen.385 Nichtsdestotrotz kann es aber auch „Institutionen von Instititutionen“, also verschiedene Ebenen einer Instititution geben (zum Beispiel eine bestimmte Sonderabteilung als Unterinstitution eines Ministeriums).386 „So ist beispielsweise der Staat, der für sich selbst genommen Institution ist, auch Teil einer umfassenden Institution, nämlich der internationalen Gemeinschaft; aber auch innerhalb seiner selbst lassen sich wiederum andere Institutionen erkennen. Dabei handelt es sich um die dem Staat untergeordneten Behörden, um Gemeinden, Provinzen, um seine als Ämter auftretenden Organe. Im modernen Staat gehören dazu ferner die drei Gewalten der Legislative, der Rechtsprechung und der Exekutive, insofern als es sich hierbei um jeweils einheitliche Bereiche mit bestimmten, genau abgegrenzten 'Ämtern' handelt. Ferner sind neben 381 382 383 384 385 386

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Ebenda, S. 37. Ebenda, S. 37f. Ebenda, S. 38. Ebenda, S. 39. Ebenda, S. 40. Grossi sah in der Definition des Staates als „Ordnung der Ordnungen“ oder als „Institution der Institutionen“ ein Überbleibsel von Etatismus. Somit übte er an Romano die gleiche Kritik, die er auch an Hauriou ausgeübt hatte: dass dieser nämlich, in diesem Aspekt seines Denkens, Opfer eines „unbewussten Etatismus“ geblieben sei. Auch Capograssi kritisierte er in diesem Aspekt und warf ihm vor, „Geisel eines nicht klein zu kriegenden psychischen Etatismus“ zu sein. Grossi urteilte folgendermaßen: „Das schlimmste ist dass gerade jene Rechtsphilosophen wie Capograssi und Cesarini Sforza, welche den Vorschlag von Romano mit Enthusiasmus aufgenommen und ihn philosophisch angemessen dargestellt hatten, voll und ganz diesen psychologischen Etatismus ausdrücken. Dies tat auch Romano, der große Vertreter des positiven öffentlichen Rechts, wenn er im Gewand eines juridischen Publizisten auftrat.“ Man siehe P. GROSSI, L’ordine giuridico medievale, Laterza, Bari-Rom, 20032, S. 32-35. G. CAPOGRASSI definierte in Incompiutezza dell’ esperienza giuridica (aus Opere, Band III, Ebenda, S. 301) den Staat als „Ordnung der Ordnungen.“

zahlreichen weiteren Beispielen noch die sogenannten „Anstalten“ zu nennen, wie beispielsweise Schulen oder Akademien. Die zu einer Institution gehörende Autonomie braucht nicht absolut zu sein, sondern kann, je nach dem Blickwinkel, von dem aus man sie betrachtet, variieren.“ 387 Die Institution ist eine „feste, auf Dauer angelegte Einheit, die ihre Identität grundsätzlich auch dann nicht verliert, wenn sich ihre einzelnen Elemente ändern – ihre Mitglieder beispielsweise, ihr Vermögen, ihre Mittel, ihre Ziele, die von ihr Begünstigten, ihre Normen, usw.“388 Santi Romano polemisierte gegen die Auffassung der Institution als „soziale Organisation“. Diese Polemik ist eine Konstante in seinem Denken. Er kritisierte hierbei die „nicht juridische“ Terminologie der Soziologie. Das Konzept der Organisation sei zu oft verwendet worden, „um einen Schleier über Dinge“ zu legen, „die man sich nicht erklären konnte.“ Man müsse es „auf einen juristischen Inhalt“ zurückführen, bzw. es in Form und Substanz in die rechtliche Begriffswelt einordnen und nicht in seiner soziologischen Fassung verwenden.389 Folgende Passage von Romano klingt wie die „social catena“ von Leopardi, aber sub specie juris:390 Die Institution ist eine Rechtsordnung, eine eigenständige, mehr oder weniger weitgehende Sphäre objektiven Rechts. Die wesentlichen Eigenschaften des Rechts – die wir oben dargestellt haben – stimmen mit jenen der Institution überein. Bei ihr handelt es sich um eine Ordnung: die Worte Organisation, System, Struktur, Gebäude, usw., mit denen man sie kennzeichnet, laufen auf eben diese Eigenschaft hinaus; dies ist ebenfalls die ethymologische Bedeutung des Wortes „Staat“, mit dem man heute die wichtigste unter den Institutionen bezeichnet, während man es früher auch für andere Körperschaften – so insbesondere die Kommunen – benutzte. Diese Ordnung ist sodann stets und notwendigerweise eine „rechtliche“; das ergibt sich aus der Beobachtung der Tatsache, daß das kennzeichnende Ziel des Rechts gerade in der Organisation der sozialen Umwelt besteht. Das Recht erschöpft sich nämlich nicht in der Garantie des friedlichen Zusammenlebens der Individuen, sondern setzt sich vor allem zum Ziel, die Schwäche, die Begrenztheit und die Hinfälligkeit der Kräfte des Individuums zu überwinden, bestimmte Ziele auch über den Rahmen eines Einzellebens hinauszuführen und dies durch die Schaffung sozialer Formen zu verwirklichen, die an Stärke und Dauerhaftigkeit weiter als ein gewöhnliches Individuum reichen. So wird die Stellung des Individuums in der sozialen Umwelt stabilisiert; nicht nur das, was es tut, sondern vor allem seine Stellung innerhalb dieser sozialen Umwelt wird bestimmt; Sachen und Kräfte werden allgemeinen und dauernden Zielen zugeführt. Dies alles geschieht in einem 387 S. ROMANO, Die Rechtsordnung, Ebenda, S. 40. 388 Ebenda, S. 41. 389 Ebenda, S. 42. Man siehe V. E. ORLANDO, Ancora del metodo in diritto pubblico con particolare riguardo all’ opera di Santi Romano, aus Scritti in onore di Santi Romano, Band I, Cedam, 1940, S. 1-23. 390 S. ROMANO, Die Rechtsordnung, Ebenda, S. 43 und 44. 119

Zusammenwirken von Garantien, Gewalten, Über- und Unterordnungen, Freiheiten und Einschränkungen, die die verschiedensten disparaten Elemente zu System und Einheit zusammenfassen. Die Institution – in unserem Sinne aufgefaßt – ist somit die erste, ursprüngliche und wesentliche Manifestation des Rechts. Dieses kann sich nur in Form einer Institution nach außen hin realisieren, und die Institution ihrerseits existiert als solche nur insoweit, als sie vom Recht geschaffen und von ihm im Leben gehalten wird.

Weil: Jede wirkliche soziale Kraft steht, weil sie „soziale“ Kraft ist, in einem Organisationsprozeß und wird dadurch zu Recht.

Jede Rechtsordnung kann mit einer anderen in Kontrast und Widerstreit geraten. So kann zum Beispiel eine revolutionäre Gruppe oder eine kriminelle Bande mit dem Staat in Konflikt treten, oder eine abtrünnige religiöse Gruppierung mit der Kirche. „Das hindert jedoch nicht, daß es sich auch in diesen Fällen um Institutionen handelt, um Organisationen, um Ordnungen, die – wenn man nur sie selbst betrachtet – 'Rechtsordnungen' sind.“ Für Romano ist nur das nicht Recht, was keine soziale Organisation aufweist. 391 Laut Romano besteht der juridische Formalismus aus einer verwirrenden Mischung von Wahrheit und Verrenkungen, da für dessen Rechtsauffassung der materielle Inhalt (etwa einer Norm) gleichgültig ist. „Es gibt kein soziales Element, keine soziale Kraft und keine soziale Norm, die dem Recht notwendig und absolut antithetisch oder auch nur von ihm verschieden sein müßte“. Im Gegensatz zum Recht steht nur das, was von Natur aus unerbitterlich antisozial ist. ‚Antisozial’ bedeutet hier „rein individuell.“ So Romano:392 Es ist deshalb vergeblich, wenn man sich wie dies häufig geschieht, vornimmt, die Unterschiede des Phänomens Recht von der Religion, von der Moral, von der Sitte, von den sogenannten Konventionen, von der Wirtschaft, von den Regeln der Technik, usw., bestimmen zu wollen. Jede dieser Schöpfungen des menschlichen Geistes kann nämlich ganz oder teilweise in die juristische Welt integriert werden und sie ausfüllen – und zwar stets, wenn sie in den Anziehungsbereich einer Institution eintritt.

Romano befasst sich auch mit dem Kirchenrecht und wendet sich dabei wieder gegen Hans Kelsen:393 391 Ebenda, S. 44 und 45. 392 Ebenda, S. 45. Romano nähert sie dem Problem der illegalen Gesellschaften an. Um seine diesbezüglichen Gedanken voll zu verstehen, muss man die dazu von Capograssi verfassten Anmerkungen lesen und verstehen. Ich werde mich hier bald ausführlich damit beschäftigen. 393 Ebenda, S. 46. 120

All dies ist sicherlich schwer verständlich für den, der sich seine Vorstellungen vom Recht lediglich nach dem Modell des staatlichen Rechts gebildet hat, doch handelt es sich hier um Realitäten, die man erklären muß, wenn man von unseren Eingangs gesetzten Prinzipien ausgeht. Ebenso ungenau ist jene von vielen vertretene Auffassung, wonach in primitiven Gesellschaften Recht, Sitte und Religion miteinander vermengt seien. Es handelt sich dabei aber nicht um Vermengung oder fehlende Unterscheidung von Elementen, die an sich von Natur aus voneinander getrennt bleiben müßten; vielmehr ist das Recht selbst in jenen Gesellschaften stark angereichert mit Prinzipien aus Sitte und religiösen Vorstellungen, ohne dabei etwa weniger „rein“ zu sein als in entwickelten Gesellschaften. So gilt bespielsweise auch im heutigen englischen Recht, das wohl niemand als wenig entwickelt bezeichnen würde, als „law“ nicht nur das vom Parlament erlassene Gesetzesrecht, sondern jede sonstige von den Gerichten angewandte und für verbindlich erachtete Regel, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Inhalt.

Kelsens Theorie über das Recht der primitiven Gemeinschaften, welche zwischen Recht und Religion und zwischen Recht und Sitte unterscheidet, ist demnach mit schweren Fehlern behaftet. Die Institution ist immer „eine juridische Ordnung.“ „Auch wenn man sich die Institution mit einer gewissen Berechtigung als den Körper, das Knochengerüst, als die Gliederung des Rechts vorstellen kann, so erlaubt dies doch nicht, es tatsächlich oder begrifflich von der Institution zu trennen. Genausowenig könnte man das Leben vom lebendigen Körper trennen. Es sind nicht zwei Phänomene, die zueinander in einer gewissen Folgebeziehung stehen; vielmehr handelt es sich um ein und dasselbe Phänomen.“394 Es ist also offensichtlich, dass der Kelsenismus Hauptangriffsziel Romanos Kritik ist. Man siehe dazu folgendes Beispiel:395 Bei dieser Betrachtung erweisen sich einige häufig erörterte Fragen als unproblematisch. So etwa der Streit darüber, ob das Recht früher als der Staat sei oder umgekehrt. Dabei handelt es sich nämlich um ein anderes Problem als jenes, ob es Recht außerhalb des Staates geben könne, ob also nur das staatliche Recht wahres Recht sein könne. Von unserer Auffassung aus fällt die Antwort leicht: hat man einen Staat, dann kann es gar nicht anders sein, als daß man zu gleicher Zeit auch eine Rechtsordnung hat – eben das Regime dieses Staates – genauso wie man dann, wenn dieses Regime existiert, auch den Staat hat.

Zu dieser Äußerung wurde eine Fußnote verfasst, um sie nicht nur in einer allgemein-theoretischen, sondern auch in einer historischen Perspektive zu verstehen. Diese Fußnote bezieht sich auf die Lehre Kelsens in der Form seiner

394 Ebenda, S. 46 und 47. 395 Ebenda, S. 47. 121

1913 veröffentlichten Schrift Über Staatsunrecht, worin Kelsen einige bereits in den Hauptproblemen behandelte Argumente weiter vertieft:396 Es ist seltsam, daß hinsichtlich des Staates die Behauptung, daß er und das Recht ein und dasselbe seien, bzw. zwei Aspekte ein und derselben Sache recht häufig aufgestellt wird, freilich ohne daß daraus die zutreffenden Schlußfolgerungen gezogen würden. So hat beispielsweise kürzlich Kelsen, Hauptprobleme, S. 245ff; Über Staatsunrecht, Zeitschrift für das private und öffentliche Recht, XL, 1913, S. 44ff, 114, eine alte Theorie wiederbelebt, wonach ein Staatsunrecht nicht vorstellbar sei, weil der Staat ausschließlich als Rechtsordnung anzusehen sei. Diese These verwechselt das, was der Staat ist, mit dem, was der Staat tut: insofern er ist, kann der Staat niemals dem Recht entgegengesetzt sein, seinem Recht entgegengesetzt sein – insofern er handelt, indes sehr wohl.

Hier sei daran erinnert, daß der Philosoph Giovanni Gentile 1916 in Pisa eine ähnliche Theorie in seiner Schrift I fondamenti della filosofia del diritto präsentierte. Laut Gentiles Vorstellung sollte der Staat Hüter des spirituellen Lebens des Einzelnen sein. Darüberhinaus bestehe eine Einheit zwischen Gesellschaft und Staat und zwischen Staat und Individuum. Der Staat könne keine grundsätzlich ungerechten Gesetze verabschieden und somit kein Staatsunrecht begehen.397 Für Romano ist das Recht unabdingbares „Lebensprinzip“, „organische Struktur“ und „Essenz“ des Staates.“398 Sich zu fragen, ob der Staat eine rechtliche oder nicht vielmehr eine ethische Anstalt sei, „gibt (...) mehr oder weniger den gleichen Sinn, wie wenn man sich fragen würde, ob der Mensch ein 396 Ebenda, S. 47 und 48. Man siehe H. KELSEN, Über Staatsunrecht, aus „Zeitschrift für das privat- und öffentliche Recht“, XL, 1913, S. 1-114. 397 G. GENTILE, I fondamenti della filosofia del diritto, Ebenda, S. 71. Für Gentile behält ein ungerechtes Gesetz seinen vollen juridischen Wert bis es abgeschafft wird. „Das ungerechte Gesetz stellt bis zu seiner Abschaffung den Wille des Staates dar, der seinen Bürgern immanent ist. Dessen Ungerechtigkeit ist keine vollständige Ungerechtigkeit, sondern eine Gerechtigkeit in fieri, welche bis zum Zeitpunkt der Abschaffung des Gesetzes langsam anreift. Der Bürger, der ein ungerechtes Gesetz befolgt, befolgt in Wirklichkeit nicht dieses Gesetz, sondern ein höheres, gerechtes Gesetz, von dem das ungerechte Gesetz nur einen Teilbereich darstellt, auch wenn er die Befolgung dieses Gesetzes als Ungerechtigkeit empfindet.“ Demzufolge „wird eine wirklich ungerechtes Gesetz abgeschafft.“ Die Lehre Kelsens mag traurig sein, diese Lehre hier (die von den Gelehrten nur schwach hervorgehoben wurde) ist hingegen sehr traurig. Die Gemeinsamkeiten zwischen Gentile und Kelsen wurden vernachlässigt, mit Ausnahme von V. FROSINI, Dualismo tra società e Stato nell’Italia contemporanea, aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, LII, 1975, S. 85-95. Vom selben Autor siehe man auch L’attualità di Santi Romano, aus La coscienza giuridica. Ritratti e ricordi, Turin, Giappichelli, 2001, S. 119. 398 S. ROMANO, Die Rechtsordnung, Ebenda, S. 48. 122

lebendes Wesen oder nicht vielmehr ein moralisches sei.“ „Und so kann man beispielsweise religiöse, ethische, wirtschaftliche, künstlerische und pädagogische Institutionen unterscheiden – alle jedoch sind, weil es sich um Institutionen handelt, rechtliche Einheiten.“ Das Recht ist nicht ein „Ziel des Staates.“ Dieser existiert, „und wenn er das Recht wahrt, was durchaus einen wesentlichen Teil der Staatstätigkeit ausmachen kann, dann wahrt er sich damit selbst, seine Struktur, sein eigenes Leben.“ Das Recht ist „Vorraussetzung“ und „notwendige Bedingung“ für die dauerhafte Verfolgung der staatlichen Ziele wie zum Beispiel der Friede oder die öffentliche Sicherheit.399 „Grundlegender und ursprünglicher Aspekt des Rechts ist die Institution, in der es sich konkretisiert; nicht aber sind es die Normen oder, allgemeiner ausgedrückt, die Vorschriften, mit denen es tätig wird. Letztere sind lediglich ein von ihm abgeleiteter und zweitrangiger Aspekt.“400 „Das erste Auftreten des Rechts ist daher nicht von den Normen bestimmt, sie sind nur seine spätere und hilfsweise Manifestation.“ „Richtigerweise ist daher das Recht in erster Linie zu bezeichnen als die Organisation eines sozialen Gebildes.“401 Aufgrund dieser Annahme kann sich Romano eine metajuridische Erklärung der „Grundlage“ des Rechts ersparen. Seine Überlegungen sind rein juridisch. Nach eigener Aussage ist er „bis hart an die Grenze jener Gegenden“ vorgedrungen, „in denen man noch juridische Luft einatmen kann“, ohne diese aber jemals zu überschreiten.402 Romano wiederholt immer wieder, dass das Recht keine Ansammlung, kein „Komplex von Normen“ ist.403 „Die Definition des Rechts muß vielmehr in der Weise erfolgen, daß man mit ihr all das erfassen kann, was nicht nur nach wissenschaftlicher Tradition, sondern auch nach allgemeiner Überzeugung und vor allem nach ständiger unbestrittener Praxis als Recht angesehen wird. Jede andere Art von Definition wäre willkürlich: der Jurist hat nicht die Wirklichkeit seinen Begriffen unterzuordnen, sondern diese der Wirklichkeit.“404 Der Verweis auf die allgemeine Überzeugung ist nicht zufällig. 405 Ihm liegen dieselben philosophischen Wurzeln zugrunde wie dem allgemeinen Sinn von Capograssi – es sind die Gedanken Vicos, wie Frosini trefflich bemerkt hat. Romano hatte Vico ausdrücklich in Il diritto pubblico italiano zitiert, einem für 399 Ebenda, S. 48. Auch hier werden Kelsen und seine Definition des Rechts als „Sozialtechnik, die den Frieden gewährleisten soll“ implizit kritisiert. 400 Ebenda, S. 49. 401 Ebenda, S. 50. 402 Ebenda, S. 83. 403 Ebenda, S. 49. 404 Ebenda, S. 51. 405 Man siehe den Schlussbeitrag „Uomo della strada. Uomo qualunque.“ aus S. ROMANO, Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 234f. 123

Ausländer bzw. Nicht-Italiener geschriebenem, bis 1988 unveröffentlicht gebliebenem Werk.406 Wie für Capograssi verwandelt sich auch für Romano das Wahre in die Tatsache. „Das bedeutete, dass das Recht nicht nur aus Normen, Wörtern und juridischen Konzepten besteht, sondern auch aus Tatsachen, also Handlungen.“407 Romanos Vorstellung der juridischen Institution beinhaltet keine abstrakten Ideen. So Romano: Die juridische Institution ist „objektives Recht, weil sie selbst ein eigenes festes Gebilde, ein reales soziales Etwas ist, das in der Welt des Rechts effektiv, konkret, objektiv existiert. Rechtsverhältnisse gehören zu ihr, erschöpfen sie aber nicht, im Gegenteil: die Institution ist ihnen vorgeordnet, in dem Sinne, daß die Institution diejenige Organisation oder Struktur ist, ohne die die Rechtsverhältnisse selbst – wenn sie sich in ihr entfalten – nicht als rechtliche qualifiziert werden können.“408 Die Institution ist eine „Einheit“, das juridische Verhältnis hingegen postuliert eine Pluralität. Deshalb ist die Auffassung des Staates als „Rechtverhältnis“ falsch. Für Romano reichen juridische Verhältnisse zwischen Individuen nicht aus um eine Institution zu begründen: es bedarf hingegen einer „sozialen Superstruktur, von welcher nicht nur ihre Verhältnisse untereinander, sondern auch ihre allgemeine, individuelle Position abhängt.“ Für Romano stellen die Kirche, die internationale Staatengemeinschaft, jeder juridische Mikrokosmos (wie etwa die Familie), ein Handelsgeschäft oder eine Schule juridische Ordnungen, also Institutionen, dar: ubi jus ibi societas, ubi societas ibi jus.409 Romano hält das Kirchenrecht für sehr aussagekräftig, da in dessen Bereich ethische, religiöse, sowie rein liturgische Prinzipien einen juridischen Status 406 Der Einfluss von Vico auf Romano (der auch aus Vicos De uno universi juris principio et fine uno zitiert hatte) wurde von Vittorio Frosini erfasst..“ Man siehe V. FROSINI, Kelsen e Romano, Ebenda, S. 52). Auch S. ROMANO, Il diritto pubblico italiano, Mailand, Giuffrè, 1988, S. 3. Der Verlag Mohr hatte um die Herausgabemöglichkeit dieses Werkes gebeten, dass Romano auf Bitte von Orlando geschrieben hatte. Dessen Manuskript blieb jedoch bis zum Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts verschollen. Der Neffe von Santi Romano, Alberto, hat es wiederentdeckt und dazu eine Einleitung verfasst. 407 V. FROSINI, Santi Romano e l’interpretazione giuridica della realtà sociale, aus La coscienza giuridica. Ritratti e ricordi, Ebenda, S. 121-130. Bereits Capograssi hatte im Werk Romanos „eine der lebendigsten Darstellungen von Vicos Sichtweise der Welt des Rechts” gesehen, wobei er aber annahm, das Vicos Denken einen unwillkürlichen Einfluss auf Romano ausgeübt hatte. Man siehe G. CAPOGRASSI, Note sulla molteplicità degli ordinamenti giuridici, aus Opere, Band IV, Ebenda, S. 181-221. Die Zitierung entstammt Seite 188. 408 S. ROMANO, Die Rechtsordnung, Ebenda, S. 61. 409 Ebenda, S. 61-68. 124

gewonnen haben. Teil des Kirchenrechts sind sogar Vorschriften bezüglich der Akten der internen kirchlichen Gerichtsbarkeit, weil es innerhalb der Kirche Behörden gibt, welche diese Vorschriften überwachen. Romano stellt das Kirchenrecht mit dem staatlichen Recht gleich. Kelsen hingegen sah die Kirche nicht als eine Rechtsordnung an; er hatte gesagt dass „wenn die Kirche eine Rechtsordnung ist, dann ist sie Staat.“410 Laut Frosini geht Romanos Kritik über „die technische Frage des Beanspruchungs- und Einsatzrechtes der juridischen Sprache“ und über „den Protest eines Kirchenrechtsgelehrten, der sein methodologisches Arbeitsinstrumentarium zerstört sieht“ hinaus. Es handelt sich hier hingegen im Grunde um einen „Widerstreit zwischen zwei verschiedenen Denkschulen.“ Die Behauptung von Romano, dass es sich hierbei um zwei von Beginn an voneinander getrennte Rechtsordnungen handelt, stützt sich auf eine Jahrhunderte alte Dialektik, die Kelsen nicht ignorierte, sondern vernachlässigte.411 Romano weist darauf hin, dass all das „sicherlich schwer verständlich für den“ ist, „der sich seine Vorstellungen vom Recht lediglich nach dem Modell des staatlichen Rechts gebildet hat“.412 Für Romano, der 1947 die Frammenti di un dizionario giuridico veröffentlichte, gehörte selbst die Revolution zum 410 Ebenda, S. 110. Man siehe H. KELSEN, Allgemeine Staatslehre, Ebenda, S. 133. Für Romano weist Kelsen auf willkürliche Art und Weise dem Begriff Staat eine andere Bedeutung zu, als jene die ihm normalerweise zukommt. Harold J. Berman sieht die Kirche des XI Jahrhunderts als erstes historisches Beispiel eines modernen Staates an. Man siehe H. J. BERMAN, Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, Cambridge, Mass., Harvard University Press, 1983. Kelsen streitet jedoch den juridischen Charakter der Rechtsordnung der Kirche ab. Man siehe in diesem Zusammenhang seine Interpretation der Lehre des Dante Alighieri. Die Kirche ist für Kelsen kein Staat und kann deshalb keine Rechtsordnung im eigentlichen Sinne haben. Man vergleiche mit C. A. JEMOLO, Il valore del diritto della Chiesa nell’ ordinamento giuridico italiano, „Archivio giuridico Filippo Serafini”, Modena, 1923, S. 3-51. 411 V. FROSINI, Kelsen e Romano, Ebenda, S. 48f. Diese „jahrhundertelange Dialektik” zwischen den beiden genannten Rechtsordnungen wurde für Frosini durch Artikel 7 der italienischen Verfassung endgültig anerkannt, auf dessen Ausarbeitung die Lehre Romanos einen spezifischen Einfluss ausgeübt hatte. Man siehe F. FINOCCHIARO, Il diritto ecclesiastico. Aus Le dottrine giuridiche di oggi e l’insegnamento di Santi Romano, hrsg. von P. Biscaretti di Ruffia, Mailand, Giuffrè, 1977, S. 174. Romano hebt die „jahrhunderte alte Dialektik“ und die Vielfältigkeit der Rechtsordnungen hervor, welche charakteristische Eigenschaften des Rechts im Mittelalter waren. Es ist kein Zufall, dass sich P. GROSSI in den ersten Seiten seines Ordine giuridico medievale mit besonderer Aufmerksamkeit mit der Lehre von Santi Romano beschäftigte. 412 S. ROMANO, Die Rechtsordnung, Ebenda, S. 46. 125

Recht. Er bezeichnete sie als einen staatsinternen Krieg, der mit einem zwischenstaatlichen Krieg verglichen werden kann. Ziel der Revolution ist es, mit Gewalt eine juridische Ordnung zu stürzen; hierbei hat sie einen antijuridischen Charakter. Falls sie mit ihrem Vorhaben erfolgreich ist, errichtet sie selbst eine neue juridische Ordnung. Die Revolution bzw. die revolutionären Kräfte erlangen „gewisse juridische Eigenschaften“, „welche sie sich selbst zuweisen, die also unabhängig von der staatlichen Ordnung sind, gegen die sie kämpfen, sowie auch unabhängig vom neuen Recht, welches sie noch nicht festgelegt haben.“ Der Unterschied zwischen einer Revolution und einer „gelegentlichen Revolte“ ist, dass erstere immer „eine organisierte Bewegung“ ist, die an die Stelle der staatlichen Organisation bzw. Institutionen treten will und genau wie diese über „Autorität, Macht oder verschiedene Machtpole und funktionale Differenzierungen in ihrer Struktur“ verfügt. Die Revolution ist „eine staatliche Organisation auf embrionaler Entwicklungsstufe.“ Sie hat „voll und ganz den Charakter einer Ordnung“, auch wenn sie „unvollständig, instabil und provisorisch ist.“ Jede Revolution besteht aus „verschiedenen Institutionen“, welche zu einer „einheitlichen Organisation“ verbunden sind, die, wenn man sie unabhängig von der herrschenden staatlichen Ordnung betrachtet, alle Eigenschaften einer juridischen Ordnung aufweist.“413 Das Faktum birgt eine Fülle von Juridischem in sich. In Romanos Vorstellung wird laut Frosini „das Recht zerbrochen und unter die sozialen Gruppierungen bzw. Körperschaften aufgeteilt, auch unter jenen, welche der zivilen Ordnung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens mit subversiver Haltung gegenüberstehen.“414 Dies nicht nur im Fall der Revolution, sondern auch der illegalen Gesellschaften. Der Jurist Romano machte sich Gedanken nach dem Muster Croces über die „Rechtlichkeit“ der illegalen Gesellschaften. 415 Frosini vergleicht die Gewagheit von Romanos bekanntem „Lebensparadox“ der illegalen Gesellschaften mit den Exzessen, durch die Kelsen seine normativistische Theorie bis an ihre „äußersten Grenzen“ gebracht hat. 416 Die Theorie von Romano ist wirklich mit einem Paradoxon zu vergleichen, das dazu verwendet werden kann, die Tore des kelsenschen Gedankengebäudes aufzubrechen. Dies hatte Capograssi gemerkt. In einer seiner Schriften aus dem 413 S. ROMANO, Rivoluzione e diritto, aus Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 220-233, vor allem S. 223f. 414 V. FROSINI, Kelsen e Romano, Ebenda, S. 48. 415 S. ROMANO, Die Rechtsordnung, S.152ff. Hier behauptet Romano die Rechtlichkeit der illegalen Gesellschaften. Gleiches tat B. CROCE, in Riduzione della Filosofia del diritto alla Filosofia dell'economia, Ebenda, S. 38. 416 V. FROSINI, Kelsen e Romano, S. 46f. 126

Jahr 1936 ging er auf diesen Aspekt von Romanos Denken ein, und schrieb über „dieses angeblich wenig bedeutende, kleine Problem, inwieweit eine Diebesbande eine Ordnung darstelle.“ Dahinter verstecke sich aber „das gesamte Problem des Bösen“, das sich nicht in seiner ganzen Tragweite konkret manifestieren kann.“417 Das Böse besteht in der Aberkennung der Bedürfnisse anderer bei gleichzeitiger Anerkennung der eigenen Bedürfnisse. Durch diese Nichtanerkennung der Universalität der Bedürfnisse kann kein Frieden innerhalb eines sozialen Gefüges bestehen. Man erkennt sich selbst bzw. sein eigenes Prinzip an und negiert die anderen bzw. ihre Prinzipien.418

Die illegale Gesellschaft verleugnet das Prinzip, das ihrer eigenen Ordnung Leben einhaucht und ihren Handlungen zugrundeliegt. Sie bekräftigt es nur innerhalb ihrer eigenen Grenzen und streitet dessen Vorhandensein in anderen Ordnungen ab. Der Widerspruch innerhalb der illegalen Gesellschaft zwischen bekräftigen und negieren (desselben Prinzips) führt zu einem unerbittlichen Kontrast mit der „juridischen Ordnung der Erfahrung.“ 419 Die illegalen Gesellschaften streiten durch ihr wiedersprüchliches Verhalten die Würde ihrer eigenen Ordnung ab, noch bevor der Staat gegen sie vorgeht. Diese Verleugnung liegt in ihnen selbst, und so verleugnen sie auch sich selbst. 420

417 G. CAPOGRASSI, Note sulla pluralità degli ordinamenti giuridici, aus Opere, Band IV, Ebenda, S. 202f. 418 Ebenda, S. 203. 419 Ebenda, S.204. 420 Gegen Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts behauptete Antonio Pigliaru die Rechtlichkeit der sogenannten „barbarizinischen Rache.“ Dabei handelt es sich um ein altes, mündlich überliefertes Verhaltensregelwerk, welches in bestimmten Zonen von Sardinien in der dortigen agrarischen und kriminellen (Banditentum) Gesellschaft angewandt wurde, auch weil die Staatsgewalt dort wenig präsent war und / oder als etwas Fremdes abgelehnt wurde. Der Fall der barbarizinischen Rache (der seinen Namen von einem Gebiet in Sardinien hat, der Barbagia) ist von jenem der illegalen Vereinigungen denkbar verschieden, da es sich bei Ersteren um Regelwerke bzw. Verhaltensmuster handelt, die tief in der Geschichte und im kollektiven Bewusstsein der infragekommenden Gesellschaften verwurzelt sind. Man siehe A. PIAGLIARU, La vendetta barbaricina come ordinamento giuridico, Mailand, Giuffrè, 1959. Pigliaru schreibt in der Einführung zu diesem Werk, dass er es auf Anregung von Giuseppe Capograssi verfasst hat. Frosini hat eine beachtete Rezension dieses Buches durchgeführt: V. FROSINI, Un codice per la vendetta, „Corriere della sera“, 17. Januar 1971, S. 13. Man siehe auch P. CARTA, Dottrina dello Stato e pensiero politico nell’ opera di Antonio Pigliaru, aus Studi in memoria di Enzo Sciacca, Band I, Hrsg. von F. Biondi Nalis, Mailand, Giuffrè, 2008, S. 269-279. 127

Frosinis spekulative Interessen kommen oft auf die „kleine Frage“ der kriminellen Gesellschaften zurück: er bezeichnet sie als „pseudojuridische Gesell-schaften“, weil sie „aus Überlebensnotwendigkeit die authentisch juridischen Strukturen einer Ordnung imitieren, ohne dabei aber an deren Strukturierungsprozessen teilzunehmen.“ Die illegale Gesellschaft, beispielsweise die Mafia, „ist wie ein Tumor, der den Zellbildungsprozess eines Organismus imitiert“, oder wie eine falsche Münze, die in ihrer Beschaffenheit einer echten Münze ähnlich sein muss, um im Wirtschaftssystem zirkulieren zu können, jedoch bleibt sie immer falsch.421 Capograssi schreibt Romano den Verdienst zu, die „tiefe Intuition“ gehabt zu haben, dass das Recht „grundsätzlich Wirklichkeit ist, dass es nur existiert, wenn es sich in einer menschlichen Gemeinschaft ausdrückt und entwickelt. Somit fällt es mit der gesamten menschlichen Erfahrung zusammen.“ 422 Für Capograssi war diese Intuition von Romano aber in einem Punkt nicht korrekt: Romano berücksichtigte nicht „den Willen des Subjekts, das an allen Aspekten des gemeinschaftlichen Leben teilhat und sich mit diesem identifiziert.“ 423 „Die Auffassung bzw. Rechtsordnung von Romano nimmt dem einzelnen Individuum jegliche Autonomie und jegliche Funktion“, urteilte Capograssi kritisch 1936. Allein auf Grund der Existenz einer Gruppe könne man laut Capograssi nicht auf die Existenz einer juridischen Ordnung schließen. Eine solche Ordnung müsse durch einen Willensakt der Individuen erschaffen werden. „Bei der institutionellen Theorie“, die unter anderem auch Romano vertritt, „riskiert das Individuum, sein Wille und seine Äußerungen, zu etwas Zweitrangigem zu werden.“424

421 V. FROSINI, F. RENDA, L. SCIASCIA, La mafia. Quattro studi, Bologna, Boni, 1970, S.132. Frosini behandelt den operativen, objektiv nachvollziehbaren Aspekt (im Handeln) der Mafia (S.29). Die Mafia war und ist „eine parasitäre Pseudostruktur im wirtschaftlichen und politischen Leben der sizilianischen Gesellschaft“ (S.30). Man siehe zudem V. FROSINI, L’attualità di Santi Romano, aus La coscienza giuridica. Ritratti e ricordi, Ebenda, S. 120. 422 G. CAPOGRASSI, Note sulla molteplicità degli ordinamenti giuridici, aus Opere, IV, Ebenda, S. 188. 423 Ebenda, S. 189. 424 Ebenda, S. 200. 1947 kam Romano auf die Frage des Voluntarismus zurück. Laut ihm „kann sich eine Ordnung auch auf unwillkürliche, anonyme Art und Weise entwickeln.“ Zu einer voluntaristischen Sichtweise der Rechtsordnung bekennt sich etwa W. CESARINI SFORZA, Ex facto oritur jus, aus Vecchie e nuove pagine di filosofia, storia e diritto, Band I, Mailand, Giuffrè, 1967, S. 159. 128

Romano war darum bemüht, die im Schatten des modernen Staates entstandenen Mythologien zu überwinden. 425 Etatismus, Normativismus, Exklusivitätsprinzip und die fiktive Repräsentanz standen ständig im Mittelpunkt seiner Kritik – und damit auch Kelsen. Romanos Kritik am Etatismus erfolgte, chronologisch gesehen, vor Kelsens Gedanken. Romano hatte anlässlich des Beginns des akademischen Jahres 190910 an der Universität von Pisa eine Eröffnungsrede mit dem Titel Lo stato moderno e la sua crisi abgehalten.426 Der Schlüssel zum Verständnis des Werdeganges von Romanos Reflexionen liegt laut Grossi „in der Wiederentdeckung der Komplexität der juridischen Dimension. Dies ist auch der Schlüssel zum Verständnis aller neuen Wege, welche die nunmehr sensibler gewordene Rechtswissenschaft eingeschlagen hat, vor allem jene Strömung innerhalb ihr, welche ihren Höhepunkt zwischen den beiden Weltkriegen erreicht hatte. Es sieht beinahe so aus, als ob der Jurist sich zu jener Zeit endlich ein Paar scharfe Brillen auf die Nase gesetzt hätte – denn davor erschien ihm alles einfach, aus wenigen grundsätzlichen Elementen zusammengebaut, durch wenige Stützen aufrechterhalten. Kurzum schien er ein klares, eindeutiges und nüchternes Bild von seiner Materie vor sich gehabt zu haben. Durch die scharfen Linsen seiner neuen Brillen erschienen ihm plötzlich völlig neue, davor verborgene oder nicht erkannte Aspekte vor Augen. Damit hat er seinen Sinn für Komplexität wiedergewonnen, sowie das Bewusstsein, dass sein voriges Bild reduktionistisch, verfälscht und damit ungeeignet für seine Absichten war.427 Mit geradezu prophetisch anmutender Weitsicht und Klarheit begann Romano seine kritische Reflexion also mit jener Rede aus dem Jahr 1909, in welcher sich „dass in der Schule von Orlando erlernte strenge technische 425 Man siehe S. ROMANO, Mitologia giuridica, aus Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 126-134. 426 S. ROMANO, Lo stato moderno e la sua crisi, mit einer Einleitung von A. E. Cammarata, Mailand, Giuffrè, 1969, S. 3-26. Die in dieser Schrift ausgedrückten Sorgen finden sich auch in einer Schrift von Gino Dallari aus dem Jahre 1912. Man siehe G. DALLARI, La ricerca storica e sociologica nella concezione filosofica del diritto e dello Stato, aus „Rivista italiana di sociologia“, 1912, S. 25-42. Dallari fordert die Rechtsphilosophen dazu auf, die Aufgabe zu übernehmen „den konkreten und komplexen Sinn des Lebens wiederaufzufinden.“ Die „dringlichste Aufgabe“ des Philosophen sei es, „die historische Entwicklung der Zivilisierungsgesetzmäßigkeiten“ aufzuspüren ( S. 41). Laut Dallari habe der Staat seine späte Intervention gegenüber der komplexen Realität des Lebens dadurch versucht wettzumachen, indem er versuchte das Gewohnheitsrecht durch seine gesetzgeberische Tätigkeit zu regeln. Die sei auch ein Zeichen für die einheitliche Richtung gewesen, welche er zu einem gewissen Zeitpunkt seiner Regelungstätigkeit des sozialen Lebens verliehen hat. (S. 40). 427 P. GROSSI, Scienza giuridica italiana. Un profilo storico 1860-1950, Ebenda, S. 109. 129

Können“ mit einer „präzisen und konstanten historischen Sensibilität“ vermischte.428 Somit begann das große Abenteuer dieses Forschers, der immer tiefer in die Komplexität des juridischen Universums vorstieß. Durch die Brillen des Juristen gesehen offenbaren alle Dinge ihr wahres Wesen: Der Staat (der von Capograssi in Folge als „Riese ohne Krone“ bezeichnet wurde) erschien nicht als absoluter Wert, sondern als „historische Konstruktion, die in einer bestimmen Epoche, aus einer bestimmten Mentalität und politischen Ideologie heraus entstanden ist.“429 Romanos Eröffnungsrede von 1909 ist als Etappe auf dem Weg zu seiner „reifen Synthese“ der Jahre 1917-18 zu verstehen. Romano beklagte sich in dieser Rede über die „zahlreichen und scheinbar ewig sprudelnden Illusionsquellen“, die sich auf dem Terrain jener Wissenschaft befänden, welche sich dem Studium der politischen Institutionen verschrieben hat. Für ihn enstünden diese Phänomene bzw. Institutionen aus bestimmten Gesetzen, deren Wichtigstes besagt, „dass das Recht und die Verfassung eines Volkes immer das unverfälschte Ergebnis seines Lebens und seiner inneren Natur sind.“ Romano zitierte Savigny und erinnerte daran, wie dieser diese Theorie verkündete, während die ganze Welt zu Trümmern zerfiel, also zur Zeit der „plötzlichen Umkehrung aller politischen Verhältnisse“, die „nach der gewaltigen Explosion der französischen Revolution“ eintrat, welche Institutionen zerstört hatte, die „vom jahrhundertealten Geist der verschiedenen Nationen errichtet worden waren.“430 „Auf den Trümmerfeldern dieser Nationen wurden von nach den Vorschriften und unter der Schirmherrschaft der Göttin Vernunft agierenden, launenhaften neuen Gesetzgebern wie durch einen Zauberstab neue Institutionen erschaffen.“431 Zu den Zeiten von Savigny feierte „die Kontingenz und die Kausalität“ durch eine Reihe von Ereignissen „ihre typischsten Triumphe.“ 432 Die französische Revolution war für Romano „der Höhepunkt eines langsamen, Jahrhunderte dauernden Prozesses. Bei ihrem Ausbruch gehörten der mittelalterliche Staat bereits der entfernten Vergangenheit an.“433 Das dem 428 429 430 431 432 433

130

Ebenda, S. 80. Ebenda, S. 111. S. ROMANO, Lo stato moderno e la sua crisi, Ebenda, S. 5. Ebenda, S.5f. Ebenda, S.6. Die gesamte Passage von Romano lautet: „Der mittelalterliche Staat gehörte bereits der entfernten Vergangenheit an. Die verschiedenen Komponenten dieses Staates, welche wie man weiß oft miteinander in Konflikt standen, hatten sich nie zu einer völligen Einheit zusammenschließen können, aufdass jede von ihnen aufgrund eigenem Verdienst und aufgrund Abstammungs- bzw. Geburtsrecht Trägerin eines Teiles der

modernen Recht zugrundeliegende Prinzip hat sich langsam entwickelt, bis es in den modernen Staat übergegangen ist: „Dieses Prinzip besagt, dass der Staat gegenüber den Individuen und den Gemeinschaften, die auf seinem Hoheitsgebiet angesiedelt sind, ein eigenständiges Gebilde ist, das seine verschiedenen Elemente zu einer Einheit zusammenfasst. Dabei übernimmt es aber von keinem dieser Elemente die Identität, sondern hat ihnen gegenüber eine eigenständige Rechtspersönlichkeit. Der Staat holt seine Macht aus seiner Gesetzeskraft.“434 Der mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattete Staat ist „eine wunderbare Schöpfung des Rechts“ und „das Grundprinzip des modernen öffentlichen Rechts.“ „Er ist ein immaterielles, aber trotzdem reel existierendes Wesen, dass, wenngleich körperlos, sich mittels eigener delikater und wunderbarer juridischer Vorrichtungen entwickeln, ausdrücken und seinen Willen durchsetzen kann.“ Der Staat will nicht „Ausdruck einer Partei“ oder einer „dominanten Strömung“ sein, sondern „eine vollständige Synthese der verschiedenen sozialen Kräfte“, „höchste Regulierungsinstanz“ und „mächtiger Gleichgewichtssetzer“.435 Romano spricht von einer „Sonnenfinsternis, welche diese strahlende Vorstellung über den Staat verdunkelt“ und „Tag für Tag heftiger wird“, sodass es „nicht allzu abergläubisch erscheinen könnte, wenn man daraus kein gutes Omen ziehen würde.“ Die Organisationen vermehren sich, die sozialen Klassen organisieren sich, inmitten der Gesellschaft enstehen Kontraste und Antagonismen.436 Aus diesen Kontrasten gewinnt jene Bewegung ihre größte Kraft, welche „eine Art Krise im modernen Staat auslöst“: „inmitten der Gesellschaft enstehen und erblühen eine Vielzahl mit effektiver Kraft ausgestattete Organisationen und Vereinigungen, welche dazu neigen, sich untereinander zu verbinden. Sie sind oft auch gegen den Staat gerichtet.“437 Die Körperschaften haben die Gemeinsamkeit, dass sie die Individuen zusammenbringen. Die Gründe dafür seitens der Individuen sind ökonomische oder berufsständische Interessen – somit erwachen „berufskorporativistische Tendenzen“ wieder zum Leben, die bereits vor dem modernen Staat bestanden und ein wesentliches Charakteristikum des ancien regimes waren. Es handelt

434 435 436 437

öffentlichen Herrschaft hätte sein können.“ (Ebenda, S.7) Man vergleiche mit S. ROMANO, Autonomia, aus Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 14-30. Ich verweise hier auf D. QUAGLIONI, La sovranità, Ebenda, S. 116-120, und hier vor allem auf „Souveränität“ und „Autonomie“, verstanden als untrennbar miteinander verbundene Konzepte. S. ROMANO, Lo Stato moderno e la sua crisi, Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 12. 131

sich hierbei nicht um eine künstliche Bewegung – sie gründet stattdessen „auf dem Bedürfnis einer kompakteren und stärkeren sozialen Substruktur.“438 Diese Tendenzen – konkret gesprochen also die Gewerkschaftsbewegungen – werden von allen Seiten, von allen Parteien, gefördert, von jenen, die umstürzlerische Pläne haben, aber auch etwa von der katholischen Kirche durch ihre Enzyklika Rerum novarum. Der Ausdruck „Gewerkschaftsbewegungen“ wird, wie man aus dem vorigen Satz vielleicht schon verstanden hat, von Romano in einem weiten Sinne aufgefasst. Der Staat ist nicht in der Lage, diese aufkommenden neuen Aspekte der Realität zu verstehen, weil „die nach der Französischen Revolution aufgekommene neue politische Ordnung noch immer mit einer Erbsünde befleckt ist, dieselbe jeder anderen Ordnung, die aus einer kolossalen Umwälzung entstanden ist: sie ist nämlich zu einfach aufgebaut.“439 Etatismus, Normativismus und Individualismus sind für Romano drei Seiten desselben Problems. Die aus der Französischen Revolution entstandene politische Ordnung, „Ergebnis einer bis zu ihren Grenzen durchgezogenen Ideologie“, „glaubte auf bestimmte soziale Kräfte verzichten zu können, die sie ausschließlich als historische Übrigbleibsel ansah, die sich in kürzester Zeit auflösen würden.“ Oft wollte sie auf Angst, dadurch die Wiederherstellung der vergangenen Ordnung anzuspornen, soziale Kräfte nicht anerkennen, die noch sehr vital waren.“440 Bereits 1909 erkannte Romano im Individualismus den unersetzlichen Verbündeten des Positivismus und des Etatismus:441 Nachdem Stände und Korporationen sich aufgelöst, und sogar die Stimme der Gemeinden viel leiser geworden war, wollte der Staat im Grunde nur noch mit dem Individuum zu tun haben, welches angeblich über eine schier grenzenlose Menge von Rechten verfügte (wobei ihm diese aber nicht mit der selben Großzügigkeit anerkannt wurden, wie sie ihm versprochen worden waren), dessen grundsätzliche Interessen aber nicht immer geschützt wurden.

Romano erkennt die Wirklichkeit, er sieht, dass die konkrete Revolte nicht aufzuhalten ist, er sieht dass „die verschiedenen sozialen Klassen sich in großartiger Art und Weise organisieren“ und viele von ihnen „eine antagonistische Haltung gegenüber dem Staat einnehmen.“ 442 Romano glaubt dass „die sozialen Beziehungen, welche in den Kompetenzbereich des öffentlichen Rechts fallen, sich nicht im Binomium Individuum einerseits und Staat und ihm untergeordnete territoriale Körperschaften andrerseits 438 439 440 441 442 132

Ebenda. Ebenda, S. 13. Ebenda. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 15.

erschöpfen.“ „Man muss auch unbedingt jene anderen sozialen Organisationen berücksichtigen.“443 Auch wenn das „korporativistische System“ zu Zeiten Romanos nur an ökonomische Interessen gebunden zu sein scheint, geht es doch über diese hinaus. Es ist hingegen Ausdruck eines „althergebrachten, ständig bestehenden sozialen Bedürfnisses“ und kann, wenn es nicht entartet wird, dazu dienen, die schädlichen Konsequenzen eines übertriebenen Individualismus abzumildern, aus welchem Kontraste und Auseinandersetzungen entstehen können. Zudem kann es dazu beitragen, ein Solidaritätsgefühl zwischen den einzelnen Menschen und ein Gefühl des gegenseitigen Respekts zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen zu entwickeln, was zu einer vollständigeren und kompakteren Organisation der Gesellschaft beiträgt.“ Der Korporativismus will nicht an die Stelle des Staates treten, sondern „dessen Mängel und Schwächen“ ausgleichen, die dieser „notwendigerweise aufgrund seines Ursprungs mit sich bringt.“444 Romano setzt hier seine harte Kritik gegen die Verfassung fort, mit der er bereits anlässlich einer Eröffnungsrede zum Beginn des akademischen Jahres an der Universität von Modena 1906-1907 begonnen hatte. Die modernen Verfassungen haben den Anspruch erhoben, alle grundsätzlichen Prinzipien des öffentlichen Rechts zu regeln. In den meisten Fällen wurden in ihnen aber Körperschaften erwähnt, welche dann nicht von ihnen reglementiert wurden, sowie Kapitelüberschriften verfasst, von denen man dann nicht mal einen Entwurf verfasst hat. Demzufolge beinhalten die modernen Verfassungen viel größere Mängel, als man gewöhnlich annimmt.445

Auch wenn diese harte Kritik „konstruktiv und nicht destruktiv“ sein soll, geht sie jedoch zu einem kraftvollen Angriff gegen „den Mythos par excellence“ über, „eine Institution, die man mit neugierigem Blick und im Glauben betrachtet, dass sie notwendig und essentiell sei.“ „Fast keine Partei würde darauf verzichten, aber alle sind darüber unzufrieden.“ Es handelt sich hierbei um die Institution bzw. Einrichtung der politischen Vertretung, die „in mehrerer Hinsicht unabstreitbare Verbindungen zu unserem Thema“ hat. Sie ist darum bemüht, „Staat und Gesellschaft in eine unmittelbare Verbindung zueinander zu bringen.“ „Sie ist das Ergebnis eines richtigen Prinzips. Ihre Funktionsweise ist aber weder praktisch noch effizient.“446

443 Ebenda, S. 18f. 444 Ebenda, S. 19. 445 Ebenda, S. 20. Man vergleiche mit S. ROMANO, Le prime carte costituzionali, aus Lo Stato moderno e la sua crisi, Ebenda, S. 151-170. 446 S. ROMANO, Lo Stato moderno e la sua crisi, Ebenda, S. 20f. 133

Obwohl Romano die Kritik, dass das repräsentative System „zu keinem echten repräsentativen Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten führt“ für ungenau hält, sieht er darin auch etwas Wahres. Laut Romano habe man sich darauf beschränkt, dem „demokratisch-repräsentativen Prinzip“ einen „negativen Bedeutungsgehalt“ zuzuweisen. Man hat es mit dem „königlicharistokratischen Prinzip“ verglichen und dann abgestritten, dass „das Volk nur einem oder wenigen unterstellt werden kann.“447 Die positive Seite des demokratisch-repräsentativen Systems sei laut Romano immer „unberücksichtigt“ geblieben. Jedoch muss man anmerken, dass die aktuell bestehenden Systeme nicht sehr gut entwickelt sind. Sie wurden nach dem Vorbild gewisser antiker demokratischer Ordnungen, zum Beispiel jener des alten Athens, errichtet. Obwohl sie dem System der Zufallsauswahl vorzuziehen sind, bleiben sie doch weit hinter ihrem selbstdefinierten Ziel zurück.“ Der sogenannte Volkswille hat wenig Chancen durch Parlamente in die Tat umgesetzt zu werden, wenn der Gewählte in der Zeitspanne zwischen zwei Wahlen unabhängig von seinen Wählern agieren kann. Bezüglich dem Problem einer hinreichenden Vertretung der Minderheit waren weder die verschiedenen ad hoc errichteten Mechanismen erfolgreich, noch konnte eine angemessene Berücksichtigung dieses Systems bei der Erstellung der Wahlkreise erreicht werden. Schließlich besteht bei der Vertretung noch das Problem, dass es ja insgesamt gesehen Tausende von Volksvertretern gibt, die durch den Zufall jeweils bunt zusammengemischt werden, und verschiedene Denkweisen, Interessen, kulturelle Hintergründe haben, und somit verschiedene Absichten verfolgen448

Die Zusammensetzung der gewählten Kammern birgt für Romano etwas „extrem Künstliches und Fiktives“ in sich. Jedoch „nimmt die politische Kraft des Volkes immer weiter zu.“ Die Ursachen dafür sind die größere Verbreitung der sogenannten öffentlichen Meinung und der Presse, die verbesserten ökonomischen Bedingungen und vor allem „die Einfachheit sich zu versammeln und zu organisieren, dank der durch die moderne Industriearbeit ermöglichten neuen Kontaktmöglichkeiten.“449 Den Hauptpunkt der Krise des modernen Staates kann man folgendermaßen erklären: einerseits wird die Gesellschaft immer komplexer und verliert somit ihren „atomistischen Charakter“ immer mehr. Andrerseits bestehen „Mängel in der juridischen und institutionellen Ausstattung“ der Gesellschaft, mittels denen diese „ihre Struktur innerhalb des Staates ausdrücken und bewähren kann.“ Für Romano wird ein Prinzip immer „dringlicher und notwendiger“: „Es bedarf nämlich einer höheren Organisation, welche die kleineren Organisationen 447 Ebenda, S. 21. 448 Ebenda, S. 22. 449 Ebenda. 134

(jeweils) vereint und miteinander in Einklang bringt. Diese höhere Organisation kann und wird noch für lange Zeit der moderne Staat sein, welcher seine aktuelle Gestalt beinahe unverändert beibehalten können wird.“ Wenn man die formellen Ehrdarbietungen gegenüber dem Etatismus beiseite lässt, die nur eine Fassade darstellen, so sieht man, dass Romano ein Souveränitätskonzept im Sinne hatte, das mit Autonomiekonzeptionen verbunden ist. Auch hatte er die Vorstellung eines Staates, für welchen der Pluralismus ein Ordnungsprinzip der Gesellschaft darstellen würde und der somit keine „sich in den Händen einer einzigen Klasse befindliche Maschinerie“ wäre.450 In der 1909 erschienenen Schrift Lo stato moderno e la sua crisi äußerte Romano, wie bereits erwähnt, sein Misstrauen gegenüber dem repräsentativen System, das den Anforderungen der Wirklichkeit nicht genügen könne. Zudem kritisierte das der Rückkehr zu einer „korporativistischen Gesellschaft“ im Wege stehende „Prinzip des allgemeinen Willens“ und bekannte sein Vertrauen zu einem Etatismus, der die Vielfalt des sozialen auf angemessene Art und Weise verstehen würde.451 In den letzten Seiten dieses Essays scheint sein Idealismus explizit durch: Romano fordert die Menschheit dazu auf, sich nicht „von trügerischen Illusionen oder von egoistischen Interessen beirren zu lassen, sondern ein Bewusstsein der hohen und reinen Ideale zu entwickeln, zu deren Verwirklichung sie berufen worden ist.“ Dabei vertraut er auf „die geduldige menschliche Arbeit.“452 Ungefähr zehn Jahre später hielt Romano eine weitere Eröffnungsrede für das akademisches Jahr 1917-18 mit dem Titel Oltre lo stato.453 1918 veröffentlichte er das Ordinamento giuridico und Capograssi den Saggio sullo Stato. Es ist nicht Romanos Absicht, das „Geheimnis der Verknüpfung der historischen Ereignisse zu ergründen. Wenn man dies von einer deterministischen Geschichtsauffassung ausgehend machen würde, so würde man meinen, dass der rote Faden der untereinander verbundenen Ereignisse von der Natur festgelegt worden ist.“454 Er begnügt sich damit eine Tendenz zu ergründen, die sich bereits vor 1914 manifestiert hatte, aber „höchstwarscheinlich in gewisser Hinsicht“ den Ersten Weltkrieg beeinflusste. Diese Schrift Romanos ist mit direktem Bezug auf die Geschichte verfasst 450 451 452 453

Ebenda, S. 24. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 26. Romano hielt diese Rede anlässlich der Eröffnung des akademischen Jahres 1917-18 des königlichen Institutes für Sozialwissenschaften „C. Alfieri“. Die Rede wurde in der „Rivista di diritto pubblico“ 1918 herausgegeben. Ich zitiere hier aus S. ROMANO, Oltre lo Stato, aus Scritti minori, Band I, Mailand, Giuffrè, 1990, S. 419-432. 454 Ebenda, S. 420. 135

worden, dieses „Schauspiel, welches unsere Aufmerksamkeit dermaßen stark in ihren Bann zieht: Man stelle sich all die Geschichte vor, welche unter unseren bestürzten Blicken abläuft.“455 Die absolutistische Staatsauffassung neigt sich ihrem Ende zu während der moderne Staat über eine Generation trauert, die in seinem Namen vom Gemetzel dahingerafft wurde. Und während einerseits die Idee des Staates in eine Krise geriet, gab es andererseits keine Anzeichen für einen Zusammenbruch des tatsächlich existierenden Staates. Romano erkennt mit Hilfe seines scharfen historischen Sinnes eine ideale Linie oder Marschrichtung, durch die man über den Staat hinauskommen kann. Er prophezeit die Notwendigkeit, die Schematas zu überwinden, „an die wir uns gewöhnt haben“, also die Vorstellung aufzugeben, dass der Staat der „höchste und endgültige Bezugspunkt von all dem ist, was mit der Entwicklung der Menschheit zu tun hat“, dass er also keine „Art Herkulessäule ist, die zu vielen Exemplaren vermehrt die Gewässer eingrenzt, auf denen die Geschichte treibt.“ Romano sieht den Einfluss Kants und des „absoluten Idealismus“ von Schelling und Hegel auf diese Verabsolutierung des Staates (für Schelling war der Staat „eine mysteriöse Emanation und Offenbarung Gottes“, für Hegel hingegen „der Eintritt Gottes in die Welt.“ „Gemäß dieser Konzepte gibt es nichts, was außerhalb dem Staate liegt und über ihm steht“). Gegen diese „Staatstheorien“ hat sich nur Nietzsches übertriebener Individualismus gewandt, für welchen der Staat ein „höllischer Götze“ war.456 So Romano: Ob Gott oder Teufel, wahrhaftige Wirklichkeit oder falscher Götze, Rettung oder Verderben – eine Sache ist klar: der Staat ist zur wichtigsten, wenn nicht gar zur einzigsten Figur auf dem Schachbrett der Weltpolitik geworden. Vielleicht ist seine Stellung sowohl in der philosophischen Spekulation als auch in der tatsächlichen Wirklichkeit nichts weiter als ein zeitweiliges Ergebnis des ständigen Kontrastes zwischen zwei Weltanschauungen, nämlich des Individualismus und des Kosmopolitanismus. Womöglicht stellt die gegenwärtige Staatsordnung den momentanen Bezugs- und Gleichgewichtspunkt zwischen diesen beiden Weltanschauungen dar.457

„Zwischenstaatliche Probleme“ und „innere zerstörerische Kräfte“ führen zur Krise des modernen Staates. Romano befasste sich mit jenen Staaten, welche „gewissermaßen Antriebsmotoren oder Zentren von weit über ihre Grenzen hinauslaufenden politischen Systemen oder gar Welten geworden sind,“ wie etwa die Vereinigten Staaten von Amerika oder das britische Empire und sein Kolonialreich (welches zu jener Zeit bereits im Begriff war sich zu einer 455 Ebenda. 456 Ebenda. 457 Ebenda, S. 421. 136

Konföderation umzuwandeln). Es handelt sich hierbei zwar nicht um „juridisch verregelte Institutionen“, aber auch nicht um „Chimären“, weil ihre „ersten, unsicheren Entwicklungslinien“ klar sichtbar sind. 458 Romano weist darauf hin, dass das britische Empire für den Politikwissenschaftler „eine politische Institution darstellt, die über den in ihrem Zentrum stehenden Staat hinausgewachsen ist, aber kein Staatenverbund oder Föderalstaat geworden ist.“459 Er vergleicht das britische Empire und andere Staaten, wie etwa Russland, mit der Außenpolitik des zeitgenössischen Deutschlands, das mit der Idee eines „Mitteleuropas“ spielt, wenngleich diese ökonomisch zu verstehen ist (wie weit sind wir hier von jener „großzügigen, wenngleich utopischen Idee des ewigen Friedens und des Universalrechts“ entfernt. Es war kein Zufall, dass die Philosophie von Kant und Hegel „von übertriebenem Naturalismus und von historischem Materialismus durchtränkt ist!“)460 Romano:461 Auch wir haben bereits erkannt, dass es eine gewisse Tendenz zur Bildung großer überstaatlicher Strukturen gibt. Wir haben auch auf den Beginn der praktischen Umsetzung dieser Tendenz, die sich zur Zeit in einer sehr frühen, quasi noch embrionalen Phase befindet, aufgrund von mehr oder weniger klar sichtbaren Zeichen hingewiesen. Es scheint uns aber überhaupt nicht bewiesen zu sein, dass diese Tendenz derart allgemeiner Natur ist und eine solche Kraft hat, dass sich ihr kein Staat auf Dauer entziehen kann.

Laut dem „vorsichtigen Beobachter der Geschichte“ Romano ist es unwahrscheinlich, dass eine im Entstehen begriffene überstaatliche Organisation auf „wirtschaftliche Interessen“ oder, was noch schlimmer wäre, „auf das Recht des Stärkeren“ gründet. Organisationen, die nicht auf diese Prinzipien gründeten, würden deswegen nicht automatisch „leere Nachahmungen von politischen Organisationen“ oder „Riesen mit tönernen Füßen“ sein. „Die Ereignisse, welche sich zur Zeit abspielen, müssten daran erinnern, wie kurzsichtig jene Menschen sind, welche eine einfache Wahrheit vergessen: dass nämlich jeder Staat sich täglich unermüdlich darum bemühen muss, den von ihm eingenommenen Platz nicht nur zu verdienen, sondern, ich würde fast sagen, quasi ex novo zurückzuerobern.“ Der vorsichtige Beobachter der Geschichte erinnert daran, dass „jeder Staat, der im Laufe der Geschichte darauf verzichtet 458 Ebenda, S. 423. 459 Ebenda, S. 424. 460 Ebenda, S. 426f. Für Romano verbirgt sich hinter dem wirtschaftlichem Ziel ein politisches Ziel, welches das wahre Ziel ist. Auch wenn dieses Ziel nur wirtschaftlich wäre, so würde es sich doch unvermeidlich in ein politisches Ziel verwandeln (S. 429f). 461 Ebenda, S. 430. 137

hat sich weiterzuentwickeln und der nur seinen status quo erhalten wollte, unweigerlich weggestorben ist.“462 „Jeder Staat der sich nicht selbst verurteilen will“, so Romano weiter, „muss sich bewusst sein, dass er neben dem Nachgehen von materiellen Zielen auch eine historische Mission zu erfüllen hat – und zwar nicht nur um dadurch eigene Interessen zu befriedigen, sondern auch zugunsten der gesamten Menschheit. Für diese Mission muss der Staat beharrlich und offensichtlich seine Energien einsetzen, vor allem seine moralische Energie, die für uns noch nie von so hoher Bedeutung war wie heutzutage. Wir brauchen sie, um zu uns selbst zurückzufinden und dann auf dem Weg unseres Schicksals voranzuschreiten. Falls wir dies schaffen, so können auch wir uns das Motto ‚Über den Staat hinaus’ zu Herzen nehmen, jedoch auf eine zivilere und menschlichere Art und Weise.“463

3.3. Giuristi: Die Erwähnung Kelsens in den Frammenti di un dizionario giuridico (1947). 1947, ein Jahr nach der zweiten Ausgabe des Ordinamento giuridico veröffentlichte Romano seine Frammenti di un dizionario giuridico. Wer hofft, in diesem Buch auch nur eine einzige Definitionen zu finden, wird enttäuscht: es beinhaltet nämlich Stichwörter, die Romano Kraft seiner hohen juridischen Fähigkeiten und all seiner Lebenserfahrung erstellt hat. Die Frammenti sind auch sein Vermächtnis – Romano starb noch im selben Jahr. 1947 hatte Kelsen, wie bereits erwähnt, die Metamorphoses of the idea of justice veröffentlicht, in denen er auf energische Art und Weise seinen extremen Positivismus bekräftigt hatte, als ob er und seine Theorie gegenüber den letzten, so bedeutenden historischen Ereignissen völlig abgeschottet geblieben wären. Kelsen stellte für Romano bis zuletzt ein Problem dar, was nicht verwunderlich ist. Wie aus den vorigen Seiten klar hervorgeht, war Romano kein Naturrechtler. Er kritisierte das Naturrecht als „Ausgeburt der Traumwelt“. Stattdessen war er ein Jurist, der sich mit dem Recht aus einer historischen Perspektive auseinandergesetzt hatte. Er hatte er den juridischen Positivismus und dessen Hauptvertreter Kelsen so vehement kritisiert, weil er ein Jurist im wahren Sinne des Wortes war. Zu einer Zeit, in der der Sinn des Rechts abhanden gekommen schien, schrieb er einen der bedeutendsten Einträge seiner Frammenti: er behandelte hierbei auf nur etwa vier Seiten den Begriff Giuristi und platzierte diesen Beitrag dann in das Herzstück diesen seinen bedeutendsten Werkes, das sein bedeutendstes ist. Demnach müsse der wahre Jurist „ein Auge haben, 462 Ebenda. 463 Ebenda, S. 431. 138

welches es ihm erlaubt einen fast unendlich großen Horizont bis in seine kleinsten Details hin zu überblicken. Dieser Horizont ist größer und wechselhafter als jener, der sich den Forschern vieler anderer Wissensgebiete bietet: er besteht aus dem gesamten sozialen Leben, das ja sehr verschiedenartig und vielfältig ist. Der wahre Jurist darf kein soziales Phänomen a priori von seinen Untersuchungen ausschließen, da die für das Recht relevanten Phänomene mit anderen für diesen Belang uninteressanten Elementen vermischt und verschmolzen sind. Erste, heikle Aufgabe eines wahren Juristen ist es demnach, die für ihn relevanten sozialen Phänomene zu ermitteln und sie aus ihrem Zusammenhang mit den anderen Elementen herauszulösen.“464 Die Welt des wahren Juristen ist unsere „vergängliche, in das Zeit-Raum Kontinuum eingebettete Menschenwelt“, und nicht die zeit- und raumlose abstrakte Welt der „reinen Geisteswissenschaft, also der Philosophie.“ Diese Welt „wirkt sich tief auf die materielle Wirklichkeit aus, auch wenn sie ein geistiges Fundament hat.“ Der wahre Jurist muss eine „scharfe analytische Beobachtungsgabe“ mit „einer ausgeprägten Fähigkeit zum Synthetisieren“ verbinden. Er muss auch einen scharfen „juridischen Sinn“ haben. Diesen kann man entwickeln und verfeinern, „zu einem großen Teil ist er aber angeboren und somit nicht erlernbar.“ Die Logik ist ein Werkzeug in der Hand des wahren Juristen, „dessen Ziele praktischer Natur sein müssen.“ 465 Cave a consequentariis: er muss sich davor hüten „aus Prämissen Folgerungen zu ziehen, die zwar logisch richtig, aber gegenüber den in den Prämissen formulierten Zielsetzungen gegensätzlich oder gleichgültig sind.“466 Als Jurist muss man einen „ausgeglichenen und vorsichtigen“ Geist haben.“ 467 Diese Eigenschaften unterscheiden den wahren vom falschen Juristen, also von „Opportunisten“, „Dilettanten“, „Journalisten“ und von Personen, die nur ihre Karriere im Lehrbetrieb im Auge haben. 468 Der „halbe Jurist“ hingegen gleicht einer gezüchteten Perle – es ist „viel schwerer ihn als solchen zu erkennen als den falschen Juristen. Auch ist es schlimmer, wenn man ihn für einen wahren Juristen hält.“ Der fehlende juridische Sinn des halben Juristen wird durch „Wissen über Politik, Soziologie, Philosophie oder Pseudo-Philosophie überdeckt, sowie durch historische Kenntnisse, die aber sehr beschränkt und nicht klar sind.“

464 S. ROMANO, Giuristi, aus Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 115. 465 Ebenda. 466 Man vergleiche mit S. ROMANO, Glissez, mortels, n’ appuyez pas, aus Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 117f. 467 S. ROMANO, Giuristi, Ebenda, S. 116. 468 Ebenda, S. 113. 139

Hier bezieht sich Romano nun auf Kelsen: „In letzter Zeit haben nicht wenige Juristen der genannten Art in Kelsen ihr Vorbild gefunden. Sie bleiben jedoch weit hinter ihm zurück.“469 Jeder Mensch kann ein wahrer Jurist sein, wenn er mit „juridischem Sinn“ nachdenkt – man kann somit auch gar nicht merken, dass man ein wahrer Jurist ist. Ein solcher Mensch kann sich auch ganz dem Handeln verschreiben, ohne ein hohes Niveau im abstrakten Denken zu erreichen.470 Die soziale Kritik, welche den falschen Juristen fertigmacht, wendet sich manchmal auch gegen den wahren Juristen. „Die Erfahrung hat uns aber gezeigt, dass ein wahrer Jurist sich normalerweise gegen diese Kritik erfolgreich zur Wehr setzen kann und den ihm angestammten privilegierten Platz in der Gesellschaft einnehmen kann, welcher ihm anerkannt werden muss, damit er seine hohe Mission zum Wohl der Allgemeinheit vollbringen kann.“ Eine Gesellschaft, die ihm einen solchen Platz versagt, ist „primitiv oder degeneriert.“ Oder sie macht gerade „eine mehr oder weniger schlimme Krise durch, wie man sie in gewissen Revolutionen beobachten konnte“, die, falls sie noch latent in ihr liegt, „früher oder später zu schlimmen Umwälzungen führen wird.“.471

3.4. Anmerkungen zum juridischen Realismus von Santi Romano. Romano greift in Momenten des Zweifels auf zu Zeiten der französischen Revolution entstandenen Mythologien zurück.472 Die juridische Mythologie „ist der juridischen Realität entgegenzusetzen.“ Der Mythos ist eine „Nichtwahrheit, ein Fehler“473 Er ist ein „verbreiteter, religionsähnlicher Glaube, der immer einen gewissen religiösen Ton annimmt, auch wenn er sich nicht explizit auf die Religion bezieht.“ „Politik und Philosophie“ sind fruchtbare Böden für die Mythopoiesis.474 Zum Bereich der Mythologie zählt Romano den sogenannten „Naturzustand“, der mit dem „Mythos des Sozialvertrages“ verbunden ist. Darauf aufbauend entstand schließlich ein dritter verderblicher Mythos, jener

469 470 471 472

Ebenda. Ebenda, S. 114. Ebenda, S. 116. Man siehe P. GROSSI, Mitologie giuridiche della modernità, dritte erweiterte Auflage, Mailand, Giuffrè, 20073, S. 1-234. 473 S. ROMANO, Mitologia giuridica, aus Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 127. 474 Ebenda, S. 128. 140

des „allgemeinen Willens“.475 Romano gab 1947 seine Ablehnung der Vertragstheorie (die aus dem Mythos des Sozialvertrages entstand) bekannt, die Befürworter wie der Philosoph Rousseau und viele Juristen „auf eine beharrliche, dermaßen künstlich-logische Art formuliert haben, dass sie ihren phantasiereichen Charakter, der Mythen eigen ist, verloren hat“ und in jenes gefährliche Terrain geraten ist, welches sich zwischen Legende und „theoretischer Spekulation“ befindet. Auch die „Personalisierung des Staates“ ist für Romano ein Mythos. Kohärent zu einem Teil seines Denkens, das er sein Leben lang beibehalten hat, zählte Romano auch „das Konzept der politischen Vertretung“ zu den Mythen, in der Form in welcher es „von den sogenannten volksvertretenden Kammern (des Parlaments), sowie von bestimmten anderen Organen und bestimmten Einzelpersonen verstanden wird. Diese Institutionen und Personen fassen die Vertretung als Willensvertretung auf, obwohl es sich um die Vertretung von (jeweils bestimmten) Interessen handelt.“476 Wer Mythen in die Welt setzt, benimmt sich wie jene gläubigen Menschen, „die die religiösen Wahrheiten nicht von den damit verbundenen Mythen unterscheiden können.“477 Romano setzte die juridische Realität der Mythologie entgegen – dies ist die reinste Botschaft seiner Schriften, die ihn auch im Gegensatz zum Formalismus stellte. Unter dem Stichwort Juridische Realität übt Romano seine tiefste Kritik am kelsenschen Exklusivitätsprinzip aus: er bezeichnet es als eine „willkürlich festgelegte, entsetzliche Meinung, welche von Kelsen in die Welt gesetzt und in Folge von vielen Personen, auf verschiedene Art und in verschiedenem Ausmaß, aufgenommen wurde.“ Das Exklusivitätsprinzip „sei hingegen so zu verstehen, dass eine juridische Ordnung den juridischen Charakter jeder anderen juridischen Ordnung nicht notwendigerweise negieren muss, sondern dies tun kann.“478 Das Recht presst die Realität nicht in seine phantasievollen Formen hinein, sondern nimmt sie stattdessen so auf, wie sie diese vorfindet. Die Realität ist nicht „aufgrund Tugend und Kraft des Rechts“ juridisch, sondern nur, weil das Recht sich mit ihr befasst und sie dabei als das erkennt was sie ist. 479 In seinem kleinen (aufgrund der Seitenzahl) Meisterwerk Rivoluzione e diritto, „verrechtlicht“ Romano den Krieg und die Revolution, wodurch er sich an eine alte Lehre anschließt und diese wiederbelebt. „Weil diese Phänomene existieren, müssen sie auch vom Recht angemessen berücksichtigt werden“, so 475 476 477 478

Ebenda, S. 131f. Ebenda, S. 133. Ebenda, S. 132. S. ROMANO, Realtà giuridica, aus Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 213. 479 Ebenda, S. 212. 141

Romano.480 Für ihn sind Krieg und Revolution „Symptome analoger Krankheiten“: der auf zwischenstaatlicher Ebene stattfindende Krieg entspricht der innerhalb eines Staates stattfindenden Revolution. „Auf beide greifen vor allem jene Völker zurück welche nicht die Kraft haben ihre Zukunft mit jener ruhigen Sicherheit aufzubauen, welche nur jene haben die an ihre Ewigkeit und an ihr Schicksal glauben. Sie haben hingegen die illusorische Überzeugung dass der (meist letztlich fruchtlose) Überraschungseffekt einer gewalttätigen Eruption eine allmähliche, natürliche Evolution ersetzen kann. 481 Für Romano wird der Krieg durch das internationale Recht geregelt. „Man kann nicht abstreiten, dass es ein großer Erfolg der juridischen Idee war, solche gewaltige Manifestationen von Kraft und Gewalt, wie Kriege es sind, im Netz des Rechts gefangen zu haben.“ Die Revolution ist, anders als Krieg, „mit Bezug auf das Recht, dass sie zerstören will (und nicht mit Bezug auf das Recht, welches sie in der Lage sein kann durchzusetzen), juridisch gesehen illegitim. 482 Das staatliche Recht kann nämlich die Revolution nicht als eine „Rechtskörperschaft“ ansehen, „da sie nicht von jenen Staatsmächten reglementiert werden kann, die sie auflösen und zerstören will.“483 Die Revolution will eine bestimmte juridische Ordnung mit Gewalt zerschlagen. „Sie kann somit per definitionem nicht anderes als eine rechtswidrige Tatsache sein, auch wenn sie gerecht ist. Man muss jedoch den immer relativ anzusehenden, spezifischen Sinn ihrer Rechtswidrigkeit angeben.“484 Die Rechtswidrigkeit wird zu einer solchen aufgrund des staatlichen Rechts und wird es so lange so bleiben, wie dieses staatliche Recht existiert. Die Revolution kann bei Erfolg eine neue Rechtsordung errichten. „Sie besitzt aber in vivo gewisse Elemente einer Rechtsordnung, welche sie sich selbst zuweist, die also unabhängig von der bestehenden staatlichen Ordnung und der möglichen neuen staatlichen Ordnung bestehen, welche ja noch nicht errichtet worden ist.“485 Bei jeder Revolution „werden von den revolutionären Kräften verschiedene Institutionen bzw. Organe errichtet und zu einer einheitlichen Organisation verbunden, welche, wenn sie nicht aus dem Standpunkt der gültigen staatlichen Ordnung betrachtet wird, alle Eigenschaften einer juridischen Ordnung hat.“ Die Revolution ist „eine staatliche Ordnung auf embryonalem Niveau“, also eine eigenständige juridische Ordnung. Im Gegensatz zur kriminellen Vereinigung, in der die Verhältnisse zwischen den 480 481 482 483 484 485 142

A. ROMANO, Einleitung zu den Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. IV. S. ROMANO, Realtà giuridica, Ebenda, S. 220f. Ebenda, S. 221f. Ebenda, S. 222. Ebenda, S. 222f. Ebenda, S. 224.

Mitgliedern durch „eine gewisse Gerechtigkeit“ geregelt werden, beinhaltet die Revolution überhaupt keine Gerechtigkeit: denn auch wenn ihre Ziele und die Bestrebungen ihrer Anführer gerecht sein mögen, bedarf sie nämlich der Gewalt, „Brutalität und Ungerechtigkeit“, welche durch „blinde Leidenschaften“ entstehen, die sich hinter einer Fassade von angeblicher Gerechtigkeit verstecken.486 „Keine Revolution kann sich solchen Entartungen entziehen, nur wenigen gelingt es diese gering zu halten.“ Romano schrieb diese Seiten im November 1944. Es ist schmerzhaft, sie zu lesen und wahrscheinlich war es auch schmerzhaft, sie zu schreiben. Romano beklagte sich darüber, dass es allen Revolutionen eigen ist, nicht nur Menschen sondern auch Institutionen inklusive ihren historischen bzw. rationellen Grundlagen aus dem Wege zu schaffen, ohne jene Teile davon zu retten, „welche man retten sollte.“ Dies sind „Akte grundsätzlicher Ungerechtigkeit“ welche man „im Namen der Gerechtigkeit“ begeht. Manchmal entstehen aus einer revolutionären Umwälzung auch gute Institutionen – aber keine von ihnen kann „in ihrer Kindheit“ „ausreichend gut funktionieren.“487 Falls die im Zuge einer Revolution entstandenen Institutionen sich konsolidieren, ist dies nicht der Verdienst der Revolution, „sondern der Zeit welche nach dieser kommt, wenn das revolutionäre Gewaltregime von einem normalen, gemässigten Regime ersetzt worden ist.“ Manchmal können aus der ungerechten und gewalttätigen Umstürzung einer herrschenden Ordnung gute Institutionen entstehen. Hierbei muss man aber bedenken, dass „ein Sturm notwendig sein kann, damit sich wieder gutes Wetter einstellt. Während dieses Sturmes kann es aber kein gutes Wetter geben. Und Gerechtigkeit bedeutet vor allem gutes Wetter.“488 In dieser im November 1944 verfassten Schrift wiederholte Romano seine Kritik an den modernen Verfassungen, welche er bereits am Anfang des Jahrhunderts zum ersten Mal geäußert hatte. Diese Verfassungspapiere bzw. Verfassungen entstünden in „chaotischen Volksversammlungen“ und würden von einem „fraglichen Rationalismus“ inspiriert werden, von dem sich bestimmte Völker jene Autorität und jenes Prestige erhofften, welche ihnen in Wirklichkeit nur ihre „Traditionen“ und „das heilige Vermächtnis ihrer Geschichte“ geben können.“ 489 Romano kritisierte auch, dass die Verfassung „einer Masse von Stammtischpolitikern und Dilettanten“ als „Ziel“ zur Verfügung gestellt wurde. Diese würden es vorziehen sie völlig neu zu schreiben, anstatt sie nur teilweise zu modifizieren. Eine revolutionäre 486 487 488 489

Ebenda, S. 227f. Ebenda, S. 228. Ebenda. Ebenda, S. 229. 143

Bewegung lässt sich nur schwer durch ihre eigene Ordnung im Zaum halten – man riskiert also in einen „Teufelskreis“ zu geraten, bei dem aus schwachen revolutionären Verfassungen neue revolutionäre Umwälzungen entstehen.490 Die Revolution trägt im Unterschied zum Kriegsrecht eine unauslöschbare Ungerechtigkeit in sich, welche durch die notwendig begleitende Demagogie und durch die „Liebe für die Neuigkeit“ verschlimmert wird.491 Romanos historische Sensibilität musste ihn einfach zu einer konstanten Kritik des Kelsenismus und dessen „mythenstiftenden Tätigkeit“ bewegen, allen voran zu einer Kritik am Mythos des Gesetzes. Romano war weder Naturrechtler noch Moralphilosoph. 492 Er führte seine Kritik im Namen der Realität und der in ihr intrinsisch vorhandenen Rationalität durch, die nach seinen Worten die Historizität darstellt.

3.5. Der Eintrag Autonomia in den Frammenti di un dizionario giuridico. In seinem Eintrag zum Stichwort „Autonomia” schrieb Romano, dass gemäß der sogenannten institutionellen Theorie „ein objektives Recht nicht völlig auf einen Normenkomplex reduzieren werden kann.“ Das Konzept der Autonomie sei nur verständlich, „wenn man es mit der gesamten Struktur einer Rechtsordnung in Beziehung setzt.“493 Indem er verkündet hatte, dass nur ursprüngliche Rechtsordnungen autonom sein können, sei der normativistische Positivismus laut Romano in ein sehr großes Missverständnis geraten. Diese für Romano unbegründete Meinung basiert auf der Vorstellung, dass eine „abgeleitete“ Rechtsordnung nicht autonom sein kann weil sie ein Bestandteil jener Rechtsordnung ist, von der sie abgeleitet wurde. Laut dieser Vorstellung kann eine ursprüngliche – also autonome – Ordnung, auf die sich keine andere Ordnung bezieht, eine andere Ordnung nicht einmal als juridisch einstufen. Die Beschränkung der Autonomie auf die sogenannten ursprünglichen Ordnungen entstammt laut Romano dem kelsenschen Prinzip der Exklusivität oder Einmaligkeit jeder ursprünglichen Ordnung. „Es muss nicht sein, dass eine Rechtsordnung, welche auf einer anderen, höherstehenden Rechtsordnung gründet, sich mit dieser vermischt oder mit dieser verwechselt werden muss.“ 490 Ebenda. 491 Ebenda, S. 230f. 492 Man lese hierzu exemplarisch den Eintrag Diritto e morale aus Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 64-75. 493 S. ROMANO, Autonomia, aus Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 14f. 144

Stattdessen können diese beiden Ordnungen „sauber voneinander getrennt“ bleiben.494 Die Unterscheidbarkeit ist Voraussetzung für die Verbindung, die mehr oder weniger eng sein kann, aber niemals zu einer Verschmelzung der beiden Elemente führen wird. Autonomie setzt Unabhängigkeit voraus. Sie kann sich in „verschiedenen Abstufungen“ manifestieren: die Autonomie staatlicher „Verordnungen“ ist etwa sehr klein, jene des internationalen Privatrechts hingegen sehr groß. Für Romano kann sich das Konzept der Autonomie nur auf nichtursprüngliche Rechtsordnungen beziehen. 495 Diesen Ordnungen muß ihre Autonomie nicht durch eine Norm zugewiesen werden – sie tun dies selbst. Die hier so verstandene Autonomie wird auch im Eintrag über die „juridische Realität“ erwähnt, worauf Romano nicht zufällig verweist. 496 Romanos Aufmerksamkeit gilt der Autonomie des Privatrechts (welches laut Widar Cesarini Sforza vom „Recht der Privaten“ (il diritto dei privati) zu unterscheiden ist).497 Wenn sich das „Recht der Privaten“ in einer Institution konkretisiert, so ist es als ursprüngliche Rechtsordnung anzusehen, die nicht mit der staatlichen Ordnung verbunden ist und somit auch nicht autonom ist. Im Rahmen der privaten Autonomie, mit der sich Romano hier befasst, werden private Rechtsgeschäfte geregelt.498 1924 erschien erstmals ein Artikel von Kelsen in italienischer Sprache, nämlich Diritto pubblico e diritto privato. In diesem Artikel stritt Kelsen den Dualismus zwischen den beiden genannten Rechtsbereichen ab und führte das Privatrecht auf undifferenzierte Art und Weise auf das öffentliche Recht zurück: für ihn war alles Recht öffentlich, da es aus staatlichen Normen bestand. Er stellte dies in seiner sogenannten Stufenbautheorie dar.499 Huius studii duae sunt positiones: Romano erinnert daran, dass die Aufhebung der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht im römischen Recht und im Recht des Mittelalters nicht bekannt war und von den englischen Juristen abgelehnt wurde. Der Ursprung dieser Idee von Kelsen liegt im System von Savigny. 500 Romano bekräftigt die Rechtmäßigkeit des privaten Rechtsgeschäftes. Es sei historisch falsch, das Gesetz willkürlich auf die kelsensche Norm zurückzuführen. Wenn man die Negierung der Geschäftsautonomie konsequent durchziehen würde, so müsste man behaupten, dass Privatpersonen bei 494 495 496 497

Ebenda, S. 16. Ebenda, 17f. Ebenda, S. 19f. Ebenda, S. 24f; W. CESARINI SFORZA, Il diritto dei privati, aus „Rivista italiana per le scienze giuridiche“, 1929, S. 43f. 498 S. ROMANO, Autonomia, aus Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 25. 499 H. KELSEN, Diritto pubblico e privato, Ebenda. 500 S. ROMANO, Autonomia, aus Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda, S. 26f. 145

Abschluss eines Vertrages den Rang von Staatsorganen einnehmen. Auch wenn man private Rechtsgeschäfte auf Handlungen reduzieren wollte, so müsste man diese als Rechtshandlungen ansehen. (einige Kritiker Kelsens aus den zwanziger Jahren hatten an ex facto oritur jus erinnert).501 Diese Schrift Romanos schließt mit der Behauptung, dass autonome Rechtsordnungen nicht nur durch bewusste Willensakte gesetzt werden können, sondern dass dies auch unwillkürlich oder spontan geschehen kann. 502

3.6. Kurze Darstellung der Hauptmomente der italienischen Kritik an Kelsen. Der Rechtshistoriker Arrigo Solmi rezensiert 1905 das Jugendwerk Kelsens, La teoria dello Stato in Dante, wodurch Kelsen erstmals in Italien bekannt wird.503 70 Jahre lang wird diesem Werk jedoch kaum Aufmerksamkeit zuteil – weder die juridischen Kritiker noch jene Dantes interessieren sich für diese Arbeit Kelsens. Diese Situation ändert sich erst 1974, als Vittorio Frosini, mit dem Ziel die Gedanken Kelsens zu historisieren, auch eine Übersetzung von dessen Jugendwerk veröffentlicht.504 Kelsen hat den Verdienst die Monarchia Dantes als Werk aus dem Bereich des öffentlichen Rechts anzusehen. Kelsens Kritik ist aber anachronistisch, da er Dante vorgeworfen hat, die geistige Ordnung nicht auf die temporale Ordnung zurückgeführt zu haben. Die Tendenz zum Monisums, die den reiferen Kelsen kennzeichnet, ist bereits in diesem Werk ersichtlich. 1917-18 publiziert der aus Palermo stammende Jurist Santi Romano sein Werk L'ordinamento giuridico in Pisa. Er kritisiert hierin vielleicht vor allem Kelsens Lehre. Romano verkündet eine Theorie von der Pluralität der juridischen Ordnungen. Er kritisiert Kelsen vor allem aus folgenden Gründen: 1. Der Reduktion des Staates auf die juridische Ordnung.

501 Ebenda, S. 29. 502 A. MERLINO, La recezione di Kelsen in Italia: Santi Romano e Giuseppe Capograssi, aus Challenging Centralism. Decentramento e autonomia nel pensiero politico europeo, hrsg. von L. Campos Boralevi, Florenz, Firenze University Press, 2011, S. 215-224. Man siehe A. MERLINO, L'autonomia in cerca di libertà, aus „Alto Adige“, 15. September 2012, S. 1. 503 A. SOLMI, Die Staatslehre des Dante Alighieri, aus „Bullettino della Società Dantesca Italiana“, Band XIII, 1907, S. 98-111. 504 H. KELSEN, La teoria dello Stato in Dante, Ebenda. 146

2. Dem Abstreiten der Möglichkeit, dass der Staat Rechtsverstöße begehen kann (Kelsen soll diesbezüglich eine alte Theorie wieder im Umlauf gebracht haben). 3. Seiner panlegalistischen Auffassung. 4. Seinem Monismus, der auf dem Prinzip der Exklusivität und der Einzigartigkeit der juridischen Ordnung fußt. Für Romano stellt jede Gesellschaft, die sich selbst Regeln auferlegt, wie zum Beispiel die Kirche, eine Fabrik oder irgendeine andere Gemeinschaft, eine juridische Ordnung dar. Daraus definiert er sein Konzept der istituzione (Institution). Romanos Theorie wird deshalb auch als istituzionalismo bezeichnet. Sie entsteht zu einer Zeit, in der der Staat die Selbstorganisation der Gesellschaft anerkennen muss. In seinem spirituellen Testament, welches auch sein Meisterwerk ist, den Frammenti di un dizionario giuridico (1947), kritisiert Romano Kelsen nochmals.505 1918 schreibt Giuseppe Capograssi den Saggio sullo Stato. Der Staat wird hier als „armer entthronter Riese“ definiert. In der Gesellschaft gärt es, sie entreißt dem Staat die Krone – dieser erscheint den Menschen dann „wie ein Gigant auf tönernen Füßen.“ Orazio Condorelli, Jurist aus Catania, schreibt 1923 sein Werk Il rapporto tra Stato e diritto secondo il Kelsen. Er die übt Kritik an Kelsen, eine rein abstrakte Rechtstheorie entworfen zu haben, die die juridische Realität nicht berücksichtigt.506 Es ist kein Zufall, dass Condorelli Kelsen im Jahr 1930 in einem sehr bekannten Artikel mit dem Titel Ex facto oritur jus erneut kritisiert.507 Condorelli thematisiert auch das Problem der Billigkeit und verteidigt den Bezug des Richters auf die Billigkeit während des Prozesses. Die Billigkeit erscheint ihm als ein notwendiges Korrektiv zur Anwendung des positiven Rechts.508 Condorelli kritisiert Kelsen sowohl vom Standpunkt einer traditionellen Rechtsauffassung her (Fakten, Billigkeit…), als auch von jenem eines 505 S. ROMANO, Frammenti di un dizionario giuridico, Ebenda. 506 O. CONDORELLI, Il rapporto tra Stato e diritto secondo il Kelsen, aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, 1923, S. 307-315. 507 O. CONDORELLI, Ex facto oritur jus, aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, VI, 1931, S. 585-603. 508 O. CONDORELLI, Il «diritto fondamentale» (Contributo all'intendimento del concetto filosofico del diritto), aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, XII, 1932, S. 713-715; L'equità, aus „Rassegna giudiziaria“, Catania, S. a. Editoriale Siciliana Tipografica, I, 1930, S. 73-79. 147

ausgeprägten Etatismus. Er beschuldigt Kelsen, die „erhabene Realität des Staates“ auf einen „Normenkomplex“ reduziert zu haben, während der Staat für ihn ein „Fühlen und ein Wollen“ darstellt. 509 1924 erscheint der erste Artikel Kelsens in italienischer Sprache mit dem Titel Diritto pubblico e diritto privato. Kelsen löst darin das Privatrecht in das Öffentliche Recht auf. Für ihn ist das gesamte Recht öffentlich, weil es aus vom Staat erlassenen Normen besteht. Einige italienische Juristen erinnern Kelsen an das römische Prinzip huis studii duae sunt positiones. Im Jahr 1924 kritisiert Antonio Pagano Kelsen im Namen des Rechtslebens heftig. 510 1926 publiziert Carmelo Caristia sein Werk Per una dottrina generale dello Stato in Sassari.511 Er kritisiert Kelsen vor allem deswegen, weil dieser laut ihm nicht berücksichtigt, dass das Recht mit dem Leben und mit der Geschichte zusammenhängt. Die Hauptpunkte der Kritik von Caristia sind: 1. Die Gleichsetzung des Staates mit der juridischen Ordnung. 2. Die fehlende Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht. 3. Die Widersprüche von Kelsen (wie wenn er sich etwa, entgegen seines Postulates einer Reinen Rechtslehre, auf nicht juridische Disziplinen wie auf die Theologie bezieht (so in seinem Werk Gott und Staat). 4. Die Grundnorm, aufgrund der Fakten in Recht konvertiert werden können. 5. Kelsens widersprüchliches Schwanken zwischen juridischem Formalismus und demokratischen Sympathien. Im selben Jahr veröffentlicht Giuseppe Maggiore den Artikel La giurisprudenza pura e i suoi limiti in der Revue internationale de la théorie du droit. Für Maggiore ist das Recht keine Norm sondern eine ars aequi et boni.512 Maggiore setzt sich mit der Billigkeit und der Interpretation des Rechts auseinander und befürwortet, dass die Schaffung des Rechtes nicht nur das Vorrecht des Gesetzgebers, sondern auch des Richters sein sollte, da dieser „das urteilende Gewissen im konkreten Fall“ darstellt. 1940 greift Maggiore seine Kritik an Kelsen in seinem Werk Quel che resta del kelsenismo noch einmal auf: Dieses Mal mischt sich seine Verteidigung der

509 O. CONDORELLI, Il rapporto tra Stato e diritto secondo il Kelsen, Ebenda. 510 A. PAGANO, Per la critica di alcuni concetti fondamentali della «reine Rechtslehre» del Kelsen, aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, IV, 1924, S. 80-81. 511 C. CARISTIA, Per una dottrina generale dello Stato, aus „Studi Sassaresi“, Band V, Gallizzi, 1926, S. 147-198. 512 G. MAGGIORE, La giurisprudenza pura e i suoi limiti, aus „Revue internationale de la théorie du droit“, 1926-1927, S. 41-46. 148

traditionellen Rechtsauffassung mit düsteren etatistischen Vorstellungen. Maggiore bezichtigt Kelsen des „Antistatalismus und Staatsatheismus.“513 In der Revue kritisiert der Philosoph Benvenuto Donati Kelsen, weil dieser nicht zwischen öffentlichem und privatem Recht unterschieden hatte.514 1926 zitiert Antonio Banfi Kelsen in seinem Artikel über Il problema epistemologico della filosofia del diritto. Dabei kritisiert Banfi die kelsensche Doktrin weil sie „außerhalb des kulturellen Geflechts und der Geschichte“ konzipiert wurde.515 Arnaldo Volpicelli übersetzt zwischen 1929 und 1933 einige Beiträge Kelsens über die Demokratie und den Parlamentarismus und veröffentlicht sie in seiner Revue. 516 Kelsen ist mittlerweile so angesehen, dass er nicht mehr ignoriert werden kann. Volpicelli übersetzt und veröffentlicht diese Schriften Kelsens nur, um sie dann effizienter kritisieren zu können. In Dal parlamentarismo al corporativismo. Polemizzando con H. Kelsen kritisiert er Kelsens Parlamentarismuskonzept, der seiner Meinung nach mit der Theorie des Gesellschaftsvertrages von Rousseau und der Vortäuschung einer Vertretung in Verbindung steht. Volpicelli spricht sich für eine korporativistische Politiktheorie aus.517 513 G. MAGGIORE, Quel che resta del kelsenismo, Ebenda, S. 55-64. 514 B. DONATI, L'unità del diritto e l'unità della scienza del diritto a proposito della distinzione del diritto in pubblico e privato, aus „Révue internationale de la théorie du droit“, 1926-1927, S. 129-133. 515 A. BANFI, Il problema epistemologico della filosofia del diritto e le teorie neo-kantiane, aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, VI, 1926, S. 194-251. 516 Man siehe H. KELSEN, Il problema del parlamentarismo, aus „Nuovi studi di diritto, economia e politica“, 1929, S. 182-204; Lineamenti di una teoria generale dello Stato, aus „Nuovi studi di diritto, economia e politica“ (dieser Essay wurde in drei Teilen in den Jahren 1929 und 1930 veröffentlicht); Concetto di diritto naturale, aus „Nuovi studi di diritto, economia e politica“, 1930, S. 392-421; Formalismo giuridico e dottrina pura del diritto, aus „Nuovi studi di diritto, economia e politica“, 1931, S. 125-135. Die von der Zeitschrift herausgegebenen kelsenschen Essays wurden dann 1932 von Volpicelli in H. KELSEN, Lineamenti di una teoria generale dello Stato e altri scritti, Hrsg. von A. Volpicelli, Rom, Anonima Romana Editrice, wiederveröffentlicht (Das Band umfasst auch die Übersetzung der ersten Ausgabe von Vom Wesen und Wert der Demokratie). 1930 wurde H. KELSEN, Parlamentarismo, democrazia, corporativismo, Stabilimento Tipografico Garroni, Rom, 1930, veröffentlicht. Dieses Band beinhaltete Essays von Kelsen und Volpicelli. Während ich die Druckfahnen korrigierte erfuhr ich von der bedeutenden Wiederauflage dieses Werkes durch M.G. Losano. Ich verweise auf dessen Einleitung zu H. KELSEN-A. VOLPICELLI, Parlamentarismo, democrazia, corporativismo, Turin, Nino Aragno Editore, 2012, S.7-94. 517 A. VOLPICELLI, Dal parlamentarismo al corporativismo. Polemizzando con H. Kelsen, aus „Nuovi studi di diritto, economia e politica“, 1929, S. 253-265. Man vergleiche mit 149

Renato Treves betrachtet Kelsens Werk 1934 in seiner Schrift Il fondamento filosofico della dottrina pura del diritto di Hans Kelsen von einem streng philosophischen Gesichtspunkt aus.518 Seiner Meinung nach liegt das Fundament der Reinen Rechtstheorie in der neokantianischen Philosophie Hermann Cohens und der von ihm erarbeiteten Reduktion von Ethik und Ästhetik auf das Gebiet der Logik. Treves beteuert, dass es erforderlich ist Kelsens philosophische Wurzeln zu verstehen bevor man ihn kritisiert. Im Jahr 1952 befasst er sich nochmals mit Kelsen, ändert hierbei aber seine Meinung.519 Er meint nun, dass er das Fundament der Reinen Rechtslehre in seinem früheren Werk zu einseitig definiert hatte, und dass die Theorie Kelsens nicht so extrem formalistisch ist wie sie erscheint. Dafür gibt er mehrere Gründe an: 1. Kelsen hat in seinem System stufenweise dynamische Anteile zu den vorhandenen statischen Anteilen hinzugefügt. 2. Kelsen hat sich der Soziologie geöffnet und sich mit Soziologie und Anthropologie auseinandergesetzt. 3. Die Grundnorm ist kein logisch-formales Prinzip, sondern ein faktisches. Kurzum: Kelsen war für Treves kein Formalist. 1940 publiziert Costantino Mortati die Costituzione in senso materiale,520 wobei er Kelsen auf kritische Art und Weise zitiert: Für Mortati ist das Recht Form weil es Materie ist. Kelsens leerer Formalismus ist seiner Meinung nach nicht ausreichend, um das Fundament einer Verfassung und deren Grenzen zu erklären. 1947 macht Vittorio Emanuele Orlando in seiner Antrittsrede an der Universität Rom La rivoluzione mondiale e il diritto eine „epochale Verleugnung der öffentlich-rechtlichen Kategorien des 19. Jahrhunderts, wie etwa des Konzeptes der Selbstbeschränkung von Jellinek. Hierbei zitiert und A. VOLPICELLI, Dalla democrazia al corporativismo, aus „Nuovi studi di diritto, economia e politica“, 1930, S. 1-20. 518 R. TREVES, Il fondamento filosofico della dottrina pura del diritto di Hans Kelsen, Ebenda; man siehe auch G. SOLARI, L'indirizzo neo-kantiano nella filosofia del diritto, aus „Rivista di Filosofia“, XXIII, 1932, S. 319-355. 519 R. TREVES, Intorno alla concezione del diritto di Hans Kelsen, aus „Rivista internazionale di filosofia del diritto“, XXIX, 1952, S. 178-197. 520 C. MORTATI, La costituzione in senso materiale, mit einer Einlatung von G. Zagrebelsky, Milano, Giuffrè, 1998. Man siehe auch V. PALAZZOLO, Osservazioni sulla teoria pura del diritto di Hans Kelsen, aus „Archivio di studi corporativi“, XX, 1941, S. 89-124. 150

kritisiert er Kelsen, indem er dessen Theorie jener von Santi Romano entgegenhält. Im selben Jahr veröffentlicht Kelsen die Metamorphoses of the idea of justice und unterstreicht darin, dass die Gerechtigkeit nicht erkennbar ist. 1952 erscheinen die italienischen Übersetzungen der General theory of law and state und der Reinen Rechtslehre aus dem Jahr 1934.521 Giuseppe Capograssi veröffentlicht die Impressioni su Kelsen tradotto: darin behauptet er, dass die reine Theorie eine geisterhafte bzw. tote Lehre ist, die ihn an die Skelette gewisser von den Bomben des Zweiten Weltkrieges zerstörter Dörfer erinnert: Die kelsensche Form erzeugt die Illusion, dass das Recht (in seiner Theorie) immer noch besteht, wenngleich dem in Wirklichkeit nicht so ist, genauso wie man bei einem flüchtigen Blick auf eine bombardierte Stadt den Eindruck erhalten kann, dass diese noch voll Leben ist. 522 1954 verteidigt Norberto Bobbio Kelsen in seinem Artikel La teoria pura del diritto e i suoi critici und greift Capograssi an. 523 1962 versuchte der Rechtshistoriker Vittorio Frosini durch sein Werk La critica italiana a Kelsen eine erste Bilanz zur Rezeption Kelsens in Italien zu ziehen. In seinem Buch La struttura del diritto behauptet er, dass das Recht nicht Form, sondern Struktur ist.

3.7. Vittorio Frosini und Kelsens Einfluss in Italien.524 Im Sommer 1961 schreibt Vittorio Frosini in Verzella, Sizilien, an den Hängen des Vulkans Etna, La struttura del diritto.525 In diesem Werk behauptet Frosini, dass das Recht Handlung und Praxis ist und im Laufe der Geschichte und der praktischen Erfahrungen eine bestimmte Form annimmt. Vittorio Frosini lehnt die Rückführung des Rechtlichen auf das Normative ab und erklärt das Recht zu einer „Morphologie der Praxis.“ Dadurch distanziert er sich von Hans Kelsen. Um seine Rechtsauffassung von Kelsens Formalismus zu unterscheiden bezieht 521 H. KELSEN, La teoria pura del diritto, Ebenda; Teoria generale del diritto e dello Stato, Ebenda. 522 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda: Ma siehe auch A. PASTORE, Critica del fondamento logico della dottrina pura del diritto di Kelsen, «Rivista internazionale di filosofia del diritto», XXXIX, 1952, pp. 198-212. 523 N. BOBBIO, La teoria pura del diritto e i suoi critici, Ebenda. 524 Man siehe A. MERLINO, Vittorio Frosini e l'eredità di Kelsen in Italia, aus „Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient“, XXXV, 2009, S. 39-73. 525 V. FROSINI, La struttura del diritto, Mailand, Giuffrè, 1962. 151

er sich auf die Idee der Struktur: Demnach ist das Recht nicht Form, sondern Struktur. Es ist kein Zufall, dass Frosini zeitgleich mit seinem Werk La struttura del diritto in der „Rivista internazionale di filosofia del diritto“ ein Essay über die Rezeption der Ideen Kelsens in Italien veröffentlicht, der bis heute als bedeutsamster Beitrag zur Historisierung Kelsens in Italien gilt. 526 In seiner Abhandlung kommt Frosini zu folgendem Ergebnis: Um philosophieren zu können sollte man „kelsenisieren“ können, was bedeutet, dass man als Rechtsgelehrter von der Reinen Rechtslehre nicht absehen kann. Die extremen Ergebnisse, zu denen Kelsen in seiner Theorie gekommen ist, zwingen sogar zu einer tiefgreifenden Reflexion. 527 Einerseits beschränkt Hans Kelsen die Vielfältigkeit der rechtlichen Erfahrung auf den normativen Aspekt des Rechts, andererseits versucht Vittorio Frosini eine Dialektik zwischen geschriebenem und ungeschriebenem Recht, gesetzeskonformen und billigem Urteil, Wortlaut und Sinn des Gesetzes, Handlung und Handlungsform wiederherzustellen. In diesem Sinne ist Frosinis Denken Teil jener rechtlichen Tradition Italiens, die im 20. Jahrhundert die „Komplexität des Rechtspanoramas“ (nach einem Ausdruck von Paolo Grossi) wieder entdeckt hat, die nicht auf den Doppelbegriff StaatIndividuum reduziert werden kann.528 Während das Recht für Hans Kelsen Norm ist, ist es nach Vittorio Frosinis Auffassung Praxis, also eine in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation stattfindende Handlung. Für Kelsen ist das Recht Form – die reine Form im kantischen Sinne – die jeden Inhalt aufnehmen kann, auch den schrecklichsten, da sie vom Inhalt getrennt bleibt. Für Frosini hingegen kann das Recht nur im Hinblick auf seine Struktur, die konkrete Handlungen begleitet, als Form bezeichnet werden. Die „Form“ befindet sich für Vittorio Frosini „innerhalb der Handlung“.529 526 V. FROSINI, La critica italiana a Kelsen, Ebenda, S. 21-34. Man beachte auch folgende Beiträge: F. RICCOBONO, Kelsen in Italia. Bibliografia, aus „Il Veltro“, 1977, S. 761768. M. G. LOSANO, M. MARCHETTI, R. ORSINI, D. SORIA, La fortuna di Kelsen in Italia, im Anhang von M. G. LOSANO, Forma e realtà in Kelsen, Mailand, Comunità, 1981. Dieser Artikel wurde 1979 in den „Quaderni fiorentini“, VIII, S. 465-500, veröffentlicht. Man siehe auch M.G. LOSANO, Reine Rechtslehre in Italien, in Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, Wien, Manz, 1978, S. 151f. Man siehe schließlich G. BONGIOVANNI, Kelsen e la Reine Rechtslehre in Italia (1983-1997), Anhang zu Reine Rechtslehre e dottrina giuridica dello Stato. H. Kelsen e la costituzione austriaca del 1920, Mailand, Giuffrè, 1998, S. 269f. 527 V. FROSINI, La critica italiana a Kelsen, Ebenda, S. 33. 528 P. GROSSI, Scienza giuridica italiana. Un profilo storico 1860-1950, Ebenda, S. 119214. 529 V. FROSINI, La struttura del diritto, Ebenda, S. 12-13. 152

Der Begriff der Handlung weist bei Frosini große Ähnlichkeit mit der des 1956 verstorbenen Rechtsgelehrten Giuseppe Capograssi auf. Das Handeln findet nicht mehr indirekt und spontan statt, sondern direkt und überlegt; im Laufe der Geschichte wird sich die Handlung ihrer selbst bewusst. Galt sie einst als „Schwester des Traumes“, so ist sie nun mehr rationaler Natur. Giuseppe Capograssi übt in seinem 1952 erschienenen Werk Impressioni su Kelsen tradotto scharfsinnig Kritik an Kelsens Doktrin. (Obwohl Kelsens Reine Rechtslehre und seine General Theory of Law and State in Italien erst 1952 veröffentlicht wurden, war Kelsens Denken zu dieser Zeit dort bereits recht bekannt). Capograssi beschrieb die reine Rechtslehre als „traurige“ und „düstere“ Doktrin, die ihn an „das tragische Skelett aus halbzerstörten und leeren Häuser“ erinnerte, welche „schrecklich unter dem Mond aussahen und einem den Eindruck gaben, dass sich in ihnen noch Leben befand, obwohl dem nicht so war.“ Auf analoge Art und Weise beschreibt Kelsen das Recht als existent, obwohl es in Wirklichkeit gemäß seiner Auffassung nicht mehr existieren kann.530 Capograssis Kritik zufolge existiert das Recht nicht mehr, weil die reine Doktrin eine formalen Fassade ist, hinter der sich die Macht befindet: diese will die Umwandlung von injuria in jus bewerkstelligen, und über eine als ad libitum gestaltbare, bedeutungs- und wahrheitslos angesehene Menschheit herrschen. In Anbetracht dieser Umstände und der Beschränkung des Rechts auf eine Zwangseinrichtung verlieren, vom Menschen geschaffene und täglich benützte Begriffe, wie jus und injuria, ihre Bedeutung. Nach der „Katastrophe“, d.h. nach dem Zweiten Weltkrieg (Il diritto dopo la catastrofe ist der Titel eines Werks von Giuseppe Capograssi), kann der Rechtsgelehrte nicht länger „ruhig schlafen“ und sich hinter Kelsens Doktrin verstecken, laut der alles „zu gut läuft“.531 Capograssi fordert die Rechtsgelehrten vielmehr dazu auf, „sich im Rahmen der menschlichen Erfahrung zu bewegen“. Hans Kelsen zufolge ist die Gerechtigkeit ein „irrationales Ideal“, ein Geheimnis Gottes, in das der Mensch nicht eingeweiht werden kann. Mario G. Losano evozierte ein einprägsames Bild, durch dass er die Gerechtigkeitsvorstellung Kelsens mit einem unerwünschten Gast vergleicht, der zu einem Festmahl eingeladen wurde, dann aber nicht in den Festsaal gelassen wird und ohne Unterlass an die Türe klopft. Das Recht ist für Kelsen „eine bestimmte Sozialtechnik“, „eine bestimmte Ordnung der Macht“, ein auf Zwang gestütztes Normengefüge. In Anlehnung an Giuseppe Capograssi bekräftigt Vittorio Frosini, dass „für den Wiederaufbau des Rechts nach der 530 G. CAPOGRASSI, Impressioni su Kelsen tradotto, Ebenda. 531 G. CAPOGRASSI, Il diritto dopo la catastrofe, Ebenda. 153

Katastrophe ein stärkeres Ausmaß an Realismus und an historischer Anpassung als in Vergangenheit nötig ist,“ und dass die juridische Tradition sowie das Recht in seiner historischen Dimension gerettet werden sollen (Croces Historismus hallt in diesen Worten wider. Für diesen „war alles Geschichte und nichts als Geschichte.“).532 In La struttura del diritto lehnt Frosini sich an Goethes Begriff der Gestalt bzw. an dessen Schriften über die Morphologie der Pflanzen an und stellt ihm Kelsens Begriff der Form entgegen. Vittorio Frosinis Gestalt bzw. Struktur wurde durch die Lehren bereichert, die dieser aus Capograssis und Frosinis Schriften gezogen hatte: Für Giuseppe Capograssi ist das Recht Leben und der Rechtsgelehrte dessen Katalysator, der sich dafür einsetzen muss, „aufdass das Leben für alle da ist.“ Für Santi Romano, wie auch für Maurice Hauriou in Frankreich, existiert das Recht überall wo eine Gesellschaft vorhanden ist (ubi jus ibi societas, ubi societas ibi jus). Im Jahr 1918 erläutert Santi Romano in L’ordinamento giuridico die Theorie der Vielfältigkeit der Rechtsordnungen. In diesem Werk übt er ständig Kritik an Kelsen und an dessen Gleichstellung von Staat und Rechtsordnung bzw. am Prinzip der Exklusivität. Er behauptet sogar – wie bereits Benedetto Croce vor ihm – dass auch gesetzeswidrige Gesellschaften (wie beispielsweise die Mafia) Rechtsordnungen darstellen. (Vittorio Frosini ist aber der Meinung, dass diese Theorie durch folgende Anmerkung von Giuseppe Capograssi ergänzt werden sollte: Gesetzeswidrige Gesellschaften leugnen sich selbst dadurch, dass sie sich als Rechtsordnungen bezeichnen und gleichzeitig das Existenzrecht anderer Rechtsordnungen abstreiten. Die Mafia etwa sei wie eine gefälschte Münze, welche das richtige Geld nachahmen muss, um ihren eigenen Umlauf zu sichern).533 Vittorio Frosini betrachtet Giuseppe Capograssi und Santi Romano als echte Alternativen zu Kelsen in Italien. In Vittorio Frosinis Schriften wird das Recht als „soziales Faktum“, als „Sprache der Fakten“ dargestellt. 534 Gedanken verwandeln sich in Worte, genauso wie das Handeln Form annimmt. Die Sprache ermöglicht die Übertragung von Gedanken, Gefühlen und Absichten genauso, wie die Form das Bestehen der Handlung gewährleistet. Vittorio Frosini erinnert daran, dass die Sprache keineswegs rein persönlicher Natur ist (Paolo Grossi hat dazu gemeint, dass „nur Irre mit sich selbst reden“), sondern eine soziale Angelegenheit darstellt. Gleichsam ist auch das Recht eine gesellschaftliche 532 V. FROSINI, La struttura del diritto, Ebenda, S. 15. 533 G. CAPOGRASSI, Note sulla pluralità degli ordinamenti giuridici, Ebenda, S. 202f; V. FROSINI-F. RENDA- L. SCIASCIA, La mafia. Quattro studi, Ebenda, S. 1-32. 534 V. FROSINI, La struttura del diritto, Ebenda, S. 24. 154

Allgemeinerfahrung. Provokatorisch vergleicht Frosini das Recht mit einem Verb, „das regelmäßig oder unregelmäßig konjugiert wird, auch ohne dass man sich der morphologischen Regeln bewusst ist.“ Frosini kontert gegen Kelsens „Geometrien“ durch die Behauptung, dass „die praktische Logik, d. h. der Handlungsprozess, der Sprache der Logik vorausgeht, sie regelt und einschränkt“.535 Um es mit den Worten des Rechtsgelehrten Orazio Condorelli aus Catania auszudrücken: Ex facto jus oritur. (Orazio Condorelli war Vittorio Frosinis Referent, als dieser 1947 sein Jurastudium abschloss. Davor hatte Frosini in Pisa Philosophie studiert). Frosinis Kritik richtet sich nicht nur gegen Kelsen, sondern auch gegen Benedetto Croces und Giovanni Gentiles Reflexionen über das Recht. In einer Schrift von 1907 stellte Benedetto Croce, von einem marxistischen Standpunkt ausgehend, das Recht als „Maske der Wirtschaft“ dar. Für Croce ist das Recht abstrakter Wille. (Ich möchte hier daran erinnern, dass Vittorio Frosini diese Auffassung kritisiert, obwohl er Croces Historismus Dank schuldig ist). 536 Dagegen sieht Giovanni Gentile den Staat und die Gesellschaft als eine substantielle Einheit an: Seiner tristen Theorie zufolge leben Staat und Gesellschaft in interiore hominis, daher muss das Gesetz immer mit dem tiefen Inneren der Menschen im Gleichklang stehen. Ein ungerechtes Gesetz ist demnach etwas absolut Undenkbares. Nach Giovanni Gentiles Auffassung ist das Recht beabsichtigter Wille.537 Hans Kelsen und Giovanni Gentile, aber auch Benedetto Croce, bestreiten laut Frosini Wahrheit und Wert des Rechts: Die Letzteren bedienen sich einer gefährlichen Abstraktion, Croce streitet die Unabhängigkeit des Rechts mit Verweis auf die Wirtschaft ab. Das Recht als Morphologie der Praxis ist weder „Abstraktion“ noch „reine Zweckmäßigkeit“, sondern Umwandlung von Theorie in Praxis – hier sei an die Worte verum factum convertuntur des neapolitanischen Denkers Giambattista Vico erinnert, den Vittorio Frosini sehr schätzte. Vittorio Frosini nimmt durch seine Rechtskonzeption Kelsens abstraktes Gedankengebilde auseinander und gefährdet dessen vermeintliche Reinheit durch die Wiedereingliederung der ethischen Erfahrung, die von Kelsen ausgeschlossen wurde, in das juridische Denken. Giuseppe Capograssi schreibt, dass sich das einzige ethische Gesetz „im notwendigen Kampf gegen das Böse“ in Rechtsgesetz und Moralgesetz gliedert: „Das Böse bedroht die Handlung und 535 Ebenda, S. 14, 29, 31. 536 B. CROCE, Riduzione della Filosofia del diritto alla Filosofia dell'economia, Ebenda. Dieser Beitrag wurde in Folge zum dritten Teil seiner Filosofia della pratica. Economia ed etica umgeschrieben; Bari, Laterza, 19577 (1908), S. 317-402. 537 G. GENTILE, I fondamenti della filosofia del diritto, Ebenda, S. 71. 155

den Handelnden. Der rechtliche Imperativ schreibt vor die Handlung zu retten, der moralische Imperativ hingegen den Handelnden.“ Vittorio Frosini spricht mit Bezug auf das Denken Capograssis von der „Ambiguität“ der ethischen Erfahrung, „da hierin die rechtliche und die moralische Erfahrung nebeneinander bestehen“. Capograssi zufolge „ist der Imperativ zwar zweigeteilt, die Wahrheit und die Erfahrung jedoch nicht.“ Laut Frosini beschreibt Capograssi „aufgrund einer genialen Intuition die Ambiguität der ethischen Erfahrung, welche der Keim der allgemeinen Erfahrung der Menschheit ist, durch das Verhältnis zwischen dem Handelnden und der Handlung. Die Ambiguität ist diesem Verhältnis innewohnend und unvermeidlich, weil jeder dieser beiden Begriffe sich auf den anderen bezieht, jeder ständig zum anderen übergeht und sich dann wieder von ihm löst, jeder zugleich sich selbst und der andere ist: Der Handelnde verwirklicht sich nur durch die Handlung, die Handlung offenbart sich nur durch den Handelnden. Auf diese Weise hat Capograssi die vexata quaestio der Unterscheidung zwischen Recht und Moral endgültig zum Ausdruck gebracht“.538 Begriffe wie ethische Erfahrung, Handlung, Praxis und Faktum sind für den reinen Rechtsgelehrten schier unerträglich, weil er das Recht als niedergeschriebenes Normengefüge versteht. Vittorio Frosini bezeichnet Kelsens Theorie als „totalitäre Rechtsauffassung“, die einen „neuen Leviathan“ erschafft „und die begrifflichen Mittel geliefert hat, um dem Individuum sein Bewusstsein zu enteignen. 539 In Kelsens Theorie ist kein Dualismus vorhanden, weder zwischen Recht und Staat, noch zwischen subjektivem und objektivem Recht, öffentlichem und privatem Recht, Naturrecht und positivem Recht, Gewissen und Gesetz. Das Gewissen, die „Erfahrung“, die Ethik einer bestimmten Gesellschaft, das Faktum und die Gewohnheiten sind genauso Teile des Rechts wie die Norm. Sie sind sogar Bedingungen der Norm. Sie manifestieren sich in der Hermeneutik und im Billigkeitsurteil.540 Hermeneutik und Billigkeit sind Schlüsselbegriffe in Vittorio Frosinis Denken. Mit der Billigkeitsfrage haben sich Orazio Condorelli sowie der Rechtsgelehrte Giuseppe Maggiore intensiv beschäftigt, der ebenfalls sehr kritisch Stellung gegen Kelsens Ansichten bezog. Emilio Betti geht hingegen auf das Auslegungsproblem ein. (In den 80er Jahren

538 V. FROSINI, Capograssi e l’ambiguità dell’esperienza etica, aus La filosofia dell’esperienza comune di G. Capograssi, Ebenda, S. 137. 539 V. FROSINI, Diritto e Stato nel pensiero di G. Capograssi, Ebenda, S. 96. 540 V. FROSINI, Equità, aus Enciclopedia del diritto, Band XV, Mailand, Giuffrè, 1966, S. 69-82; V. FROSINI, La struttura del giudizio di equità, aus Teoremi e problemi di scienza giuridica, Mailand, Giuffrè, 1971, S. 197-212. 156

übernahm Vittorio Frosini von Emilio Betti den Lehrstuhl in Auslegungstheorie in Rom.) Vittorio Frosini befasst sich seit seinem Werk La struttura del diritto bis zu einem seiner letzten Werke, La lettera e lo spirito della legge (1993 erschienen), mit der Auslegungsfrage.541 Für Frosini ist diese Frage eng mit dem Normativismus verbunden: Die Norm ist für den Interpreten nämlich ein per quem – also ein Übergangs-, aber kein Ausgangspunkt. Vittorio Frosini verweist auf Emilio Bettis Ironie gegenüber den Normativisten, die das Recht unter dem gleichen Gesichtspunkt wie diejenigen betrachten, die ein Empfangsgerät für den Erzeuger eines Signals halten, also das Übertragungsgerät mit dem Ausgangspunkt der Kommunikation verwechseln.542 Vittorio Frosini äußert sich sehr kritisch gegenüber der sich mit Sprache befassenden analytischen Schule, die nicht zufällig den kelsenianischen Norberto Bobbio unter ihren Vertretern zählt. Frosini zufolge soll der Interpret die Semantik der Norm nicht mechanisch wiederherstellen, mit der Absicht, sie dann mit mathematischer Genauigkeit anzuwenden.543 Die Vorgehensweise der analytischen Schule gleicht der Zerlegung eines Musikstücks in seine Bestandteile, in einzelne Gefühle und Techniken (Ton, Intervall, Akkord, rhythmische Einheit usw.), bei der das Gesamtbild verloren geht. Die analytische Methode ist also sinnlos, um die „innere Musik“ eines Stückes wahrnehmen zu können. 544 Frosini zitiert das letzte Werk Santi Romanos, Frammenti di un dizionario giuridico, um zu betonen, dass der Richter nicht zur Normenanalyse aufgerufen ist, sondern zur Entscheidung. Er interpretiere auch nicht, quasi wie eine bouche de la loi, nur die einzelne Norm, sondern die „gesamte Rechtsordnung“. Lettera enim occidit, spiritus autem vivificat: „Interpretieren“ bedeutet für Frosini weniger den Wortlaut eines Gesetzes, sondern vielmehr den Geist der Rechtsordnung zu beachten. Der Geist bzw. Sinn eines Gesetzes ermöglicht es dem Richter auf den Sinn einer Rechtsordnung zurückzukommen. Das einzelne Gesetz ist ein „Teil des lebendigen Gefüges“ der Rechtsordnung. Ein Gesetz wurde geschrieben, um gelesen zu werden. Es trennt und verbindet gleichzeitig die Welten der Gesetzgeber und der Gesetzesinterpreten. 545 Adolf Merkl schrieb über das doppelte Gesicht des Rechts, welches er mit einem doppelgesichtigen Janus verglichen hat: Auf einer Seite steht der Interpret, auf der anderen der 541 542 543 544 545

V. FROSINI, La lettera e lo spirito della legge, Mailand, Giuffrè, 19983, S. 98-103. V. FROSINI, La struttura del diritto, Ebenda, S. 85 und 87f. V. FROSINI, La lettera e lo spirito della legge, Ebenda, S. 1-14. Ebenda, S. 170-171. Ebenda, S. 48-49. 157

Gesetzgeber. Für Vittorio Frosini bilden Interpretation und Recht ein Kontinuum, einen hermeneutischen Zirkel.546 Ein zentrales Anliegen Vittorio Frosinis war die Billigkeitsfrage: Man siehe den „Skandal der Billigkeit“ („Lo scandalo dell’ equità“).547 Wie bereits Pietro Piovani gliedert Frosini die Ethik in Ethik der Verpflichtung und Ethik der Umstände.548 Erstere bezieht sich auf die Beachtung der Vorschriften eines positiven Moralkodexes, Zweitere hingegen geht unmittelbar aus den jeweiligen Umständen hervor und macht die Erfindung von Moralgesetzen erforderlich. Die Ethik der Verpflichtung spiegelt sich im Legalitätsurteil wider, jene der Umstände hingegen im Billigkeitsurteil. Frosini ist ein Verfechter der Ethik der Umstände. Wie in Aristoteles Nicomakische Ethik, ist Billigkeit als Gerechtigkeit im Einzelfall anzusehen und steht im Gegensatz zur regula juris. Sie ist aber gleichzeitig auch ein Maßstab für die Interpretation der Rechtsnorm. 549 Beim Billigkeitsurteil ist der Richter aufgrund der Ethik der Umstände für das Urteil verantwortlich – Es obliegt ihm, die im konkreten Tatbestand enthaltene Norm aufzufinden, aus diesem herauszulösen und ex facto zu erschaffen.550 Das geschriebene Gesetz und die Billigkeit sind nicht voneinander getrennt und stehen einander auch nicht gegenüber. Sie sind vielmehr Bestandteile derselben Rechtsordnung, obwohl der Gesetzgeber die Billigkeit an den Rand des positiven Rechts gestellt hat. Parallel zu seinen Erwägungen zum „Billigkeitsskandal“, widmet sich Vittorio Frosini auch der Frage der Gewohnheiten, die er mit einem „vielbegangenen Pfad“ vergleicht. Das Verhältnis zwischen juridischer Praxis und juridischer Form entspricht der Beziehung zwischen einem Reisenden und einer Reisekarte: Die einzelne Norm kann man mit einem Zeichen auf einer Reisekarte vergleichen. Wer würde schon ein Zeichen, etwa für eine Kurve, für die Kurve selbst halten? Deshalb „entspricht die Lektüre eines Gesetzbuches dem Studium einer 546 Ebenda, S. 9-11. 547 Frosini hat diesen Begriff von F. CALASSO übernommen. Man siehe F. CALASSO, Equità. Premessa storica, aus Enciclopedia del diritto, Band XV, Mailand, Giuffrè, 1996, S. 65-69. Erneut gedruckt in F. CALASSO, Storicità del diritto, Mailand, Giuffrè, 1966, S. 365-376. 548 Man beachte die letzten Seiten von V. FROSINI, L'uomo artificiale. Etica e diritto nell'età planetaria, Mailand, Spirali, 1986. Man siehe zudem P. PIOVANI, Giusnaturalismo ed etica moderna, Ebenda, S. 5-39. 549 V. FROSINI, La struttura del diritto, Ebenda, S. 197. 550 Man siehe V. FROSINI, Equità, aus Enciclopedia del diritto, Ebenda, 1966, S. 69-82; V. FROSINI, La struttura del giudizio di equità, aus Teoremi e problemi di scienza giuridica, Ebenda, S. 197-212; V. FROSINI, L'equità nella teoria generale del diritto, aus „Rivista trimestrale di diritto e procedura civile“, I, 1974, S. 1-18. 158

Landkarte, bevor man auf Reisen geht. Es kann auch vonnöten sein, dass man umgekehrt vorgehen muss: also erst das Umfeld vor Ort erkunden, damit man dann eine begehbare Route auf einer Karte einzeichnen kann“.551 Vor dem Hintergrund der wandelbaren, jeweiligen historischen Kontexte bleibt die durch die Billigkeit verkörperte Idee der Gerechtigkeit „eine Zeit- und Raumkonstante“. Vittorio Frosini ist der Anssicht, dass die Billigkeit mit der menschlichen Erfahrung des Alltagslebens verbunden ist, und zwar auf eine natürliche Art und Weise. Das Gleiche gilt für die Interpretation: Billigkeit und Interpretation sind Teil der juridischen Erfahrung und stellen in dieser ein unabdingbares quid dar. Im Billigkeitsurteil und in der Hermeneutik offenbart sich die juridische Erfahrung, in der die im praktischen Menschenverstand enthaltenen Werte einer Gesellschaft Gestalt annehmen. Diese Werte sind mit dem Prinzip der Gerechtigkeit verbunden, welches seinerseits eine Inspirationsquelle des Naturrechts ist. Vittorio Frosinis Naturrecht ist nicht in Platons transzendenter Dimension zu finden. Vielmehr ist es „im Unterboden der juristischen Realität verwurzelt“. Es ist kein „Überbau des Überbaus“ (wie Benedetto Croce behauptete), sondern ein „Unterbau.“552 Das Recht ist eine verwurzelte Realität. Das Recht als Morphologie der Praxis ist in den durch die juridische Kultur zum Ausdruck gebrachten Werten verwurzelt. Diese Werte wurden durch die Geschichte festgelegt. Sie gründen auf dem gesunden Menschenverstand, von dem die Zustimmung und die Treue gegenüber dem Recht ausgehen. Vittorio Frosini schreibt, dass ohne diese „Wurzeln“ „keine Rechtsordung weiter bestehen könnte.“553 Bezüglich des Naturrechts übt Vittorio Frosini Kritik an Hans Kelsen, der die Dialektik zwischen Naturrecht und positivem Recht zu einer Scheindialektik reduziert hat, und nur für das positive Recht Partei ergriff. Hans Kelsen hat die Idee der Gerechtigkeit gestrichen, da er sie als irrational einstufte. Vittorio Frosini hingegen erhebt sie, traditionsgemäß, zur Grundlage seiner juristischen Auffassung. Wie Aristoteles Stern ist auch die Gerechtigkeit schöner und strahlender als der Abendstern, wenn sich die Frage nach dem „quid iuris?“ mit der Frage des „quid jus?“ im Prozess überschneidet, weit entfernt von einem „legalistischen Fetischismus“. Vittorio Frosinis Ethik ist eine Ethik der Umstände. Die Idee der natürlichen Gerechtigkeit ist für ihn seit La

551 V. FROSINI, La struttura del diritto, Ebenda, S. 102f. 552 Ebenda, S. 123f. 553 Ebenda, S. 125f 159

struttura del diritto (1962) zentral.554 Sie klärt den Entscheidungsprozess des Richters auf und kommt, vor dem Hintergrund der Rechtsordnung und ihrer Struktur, durch die Billigkeit, die Interpretation und das juristische Bewusstsein zum Ausdruck. Durch einen Erhebungsprozess steigt das juristische Bewusstsein in einem harmonischen Aufstieg des menschlichen Geistes vom Untergrund bis zu den konkreten Höhen der wissenschaftlichen Reflexion auf. Das Recht ist Seele und Struktur, prälogisches, emotionales Stadium und zugleich positives Element. Die natürliche Gerechtigkeit ist das Fundament der positiven Gerechtigkeit. Sie ist im praktischen Menschenverstand enthalten. Bei der positiven Gerechtigkeit handelt es sich um ein „unreflektiertes Urteil“, welches mittels „rationalisierbaren“ Kriterien der Urteilsfähigkeit Orientierung verleiht. (Hinsichtlich des Begriffs der „Seele“, der von Vittorio Frosini sehr geschätzt wurde, sei an dieser Stelle auf Hans Kelsens Werk L´âme et le droit verwiesen). Recht und Moral, Norm und urteilendes Gewissen fallen im Urteil zusammen. Die zwei Dimensionen des „Allgemeinbewusstseins der Menschheit“ vermischen sich mit dem Ziel, eine Lösung „von Fall zu Fall zu finden, im Wechselspiel zwischen Urteilendem, Gesetzesnorm und dem jeweiligen Sachverhalt.“ Der Richter darf nicht darauf verzichten „auf seine innere Stimme zu hören, die ihm Menschlichkeit und Solidarität gegenüber dem Hilfsbedürftigen nahelegt.“ Aus dem Gleichgewicht eines wachsamen Bewusstseins, den Normen und den Umständen entsteht die Gerechtigkeit als moralische Kraft, die sich dann als Politik äußert, also als „soziale Interaktion innerhalb eines Gerichtsverfahrens.“ Nach Vittorio Frosinis Auffassung fordert die Gerechtigkeit die Menschen dazu auf, Entscheidungen bezüglich ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens und der ungewissen Umstände ihres täglichen Lebens zu treffen. Der Mensch soll in der Gerechtigkeit Trost und moralische Kraft finden. 555 Der Richter steht zwischen Himmel und Erde. Er ist wie Hermes, der Vermittler zwischen Menschen und Göttern. Giuseppe Capograssi meinte, jeder Mensch versuche seiner Zeit so gut wie möglich zu dienen. In den letzten Seiten seiner Schrift La democrazia nel XXI secolo (1997 erschienen, bevor er sich von „seiner Zeit“ verabschiedete), greift Vittorio Frosini zur Ethik der Umstände zurück, eine Ethik der Freiheit und der 554 Man siehe die der Gerechtigkeit gewidmeten Seiten in V. FROSINI, La democrazia nel XXI secolo, Rom, Ideazione, 1997, S. 90-93. Man siehe A. MERLINO, Recensione von V. FROSINI La democrazia nel XXI secolo, Macerata, Liberilibri, 2010, „Il diritto dell’informazione e dell’informatica“, XXVII, Mailand, Giuffrè, 2011, S. 371-372. 555 Ebenda, S. 94. 160

Verantwortung, die von Anfang an sein Denken gekennzeichnet hat. Es handelt sich um eine Ethik, die einem Indivivuum angemessen ist, das in einer technisierten Welt lebt und sein Schicksal mit dem Allgemeinwohl seiner Gesellschaft vereinen muss. Das Gefühl, das innere Leben des Menschen, nimmt durch die Poesie Form an. Die Dichtung rettet die Wahrheit und wandelt sie in eine greifbare Tatsache um. Hingegen bildet der künstliche Mensch, Demiurg seines eigenen Kosmos und der darin enthaltenen Formen, seine zweite Natur, welche eine Natur innerhalb der Natur ist, weil jede hierin enthaltene Form und Struktur seinen Ursprung im menschlichen Geiste hat. Die morphologische Lehre strebt nach der Enthüllung der Wahrheit über die menschliche Natur, und will den Wert der Gesellschaft aufzeigen, welche den Sinn des Menschenlebens darstellt. An der „Schwelle zur Seele“ befindet sich ein Punkt, „in dem sich Handlung und Dichtung überschneiden“: „hierin sind beide von der Lüge befreit und sagen gemeinsam die Wahrheit aus. Über die Handlungen kann man urteilen, wenn die Dämmerung eines Menschenlebens gekommen ist. Die Dichtung offenbart hingegen die Wahrheit der Dinge und beurteilt sie richtig. In Dichtung und Handlung offenbart sich der intimste Wert einer Gemeinschaft.“556

556 V. FROSINI, La struttura del diritto, Ebenda, S. 206. 161

Salzburger Studien zum Europäischen Privatrecht Herausgegeben von J. Michael Rainer

Band 1

Marc Herzog: Die Haftung des Gastwirts für eingebrachte Sachen des Gasts nach §§ 701 703 des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs. 1999.

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Andreas Reinhart: Familienplanungsschaden. Wrongful birth, wrongful life, wrongful conception, wrongful pregnancy. Eine rechtsvergleichende Untersuchung anhand des deutschen und des anglo-amerikanischen Rechts. 1999.

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Band 15

Peter Unterkofler: Die rechtliche Stellung des Pflichtteilsberechtigten im Spannungsverhältnis zwischen Erbrecht und Privatstiftungsrecht. 2003.

Band 16

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len, Portugal, Schottland, Slowenien, Spanien. Edited by Johannes Michael Rainer – Herausgegeben von Johannes Michael Rainer. 2006. Band 19

Mary-Rose McGuire: Transfer of Title Concerning Movables Part II – Eigentumsübertragung an beweglichen Sachen in Europa Teil II. National Report: Germany. Edited by Johannes Michael Rainer – Herausgegeben von Johannes Michael Rainer. 2006.

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Arthur Salomons: Transfer of Title Concerning Movables Part IV – Eigentumsübertragung an beweglichen Sachen in Europa Teil IV. National Report: The Netherlands. Edited by Johannes Michael Rainer – Herausgegeben von Johannes Michael Rainer. 2006.

Band 22

Viola Heutger: Ein gemeineuropäisches Kaufrecht. Vision oder nahe Zukunft? 2007.

Band 23

Thomas Käferböck: Erleichterungen und Erschwernisse zur Realisierung des Erblasserwillens im internationalen Erbrecht. Das Haager Testamentsübereinkommen einerseits und die Problematik der Pflichtteilsermittlung bei Nachlassspaltung andererseits. 2008.

Band 24

Astrid Hauser: Der Europäische Gerichtshof und der U.S. Supreme Court. Eine vergleichende Analyse ausgewählter Aspekte. 2008.

Band 25

Philipp Riesenkampff: Die Beweisbarkeit der Übermittlung unverkörperter Willenserklärungen unter Abwesenden in Deutschland, Österreich und England. 2009.

Band 26

Daniele Mattiangeli: Vorteile der Romanitas im Bereich des Vertragsrechts aus einer historisch-vergleichenden Perspektive. 2009.

Band 27

Johannes Michael Rainer (Hrsg.): Vis a potestas legum. Liber amicorum Zoltán Végh. Herausgegeben von Michael Rainer. 2010.

Band 28

Lorenz Wolff: Pflichtteilsrecht – Forced Heirship – Family Provision. Österreich – Louisiana – Schweiz – England und Wales. Ein Rechtsvergleich. 2011.

Band 29

Karin Schwarz: Mediation und Collaborative Law unter besonderer Berücksichtigung relevanter Rechtsbereiche im österreichischen Zivilrecht. 2011.

Band 30

Daniele Mattiangeli: Die Anwendung des ABGB in Italien im 19. Jahrhundert und seine historischen Aspekte. 2012.

Band 31

Susanne Markmiller: Die Stellung des Ehegatten im nordischen Erbrecht. 2013.

Band 32

Antonio Merlino: Kelsen im Spiegel der italienischen Rechtslehre. 2013.

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