Kanzler und Kirche: Bismarcks grundsätzliche Einstellung zu den Kirchen während des Kulturkampfes [Reprint 2019 ed.] 9783111719986, 9783111217680

De Gruyter Book Archive (1933-1945) This title from the De Gruyter Book Archive has been digitized in order to make it

145 27 6MB

German Pages 85 [88] Year 1934

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Kanzler und Kirche: Bismarcks grundsätzliche Einstellung zu den Kirchen während des Kulturkampfes [Reprint 2019 ed.]
 9783111719986, 9783111217680

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
I. Einleitung
II. Die Mächte bis zum Eintritt in den Kulturkampf
III. Die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen im Kulturkampf
IV. Bismarcks grundsätzliche Haltung zu den Kirchen während der Kulturkampfes
Literaturverzeichnis

Citation preview

Kanzler und Kirche Bismarcks grundsätzliche Einstellung zu den Kirchen während des Kulturkampfes

von

Hans Kars £ic. Heol., Dr. phil., in Jena

1934 Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen

Hus der Welt der Religion Forschungen und Berichte, unter Mitwirkung von

Heinrich Frick und Rudolf (Otto herausgegeben von

Erich Fascher und Gustav Rlensching Religionswissenschaftliche Reihe. Heft22

printed in Germany

von Münchowsche Universitäts-Druckerei Gtto Kinöt, G. m. b. H., Gictzen

Dem Andenken meiner Mutter

Vorwort. Vie vorliegende Untersuchung über Bismarcks Kirchenpolitik geht zurück auf die Bearbeitung einer Preisaufgabe, die der Evangelische Bund durch die Theologische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle gestellt hatte. 3tt der jetzigen ausgearbeiteten Form lag sie der gleichen Fakultät als Dissertation vor, die mir daraufhin den Grad eines Lizentiaten der Theologie verlieh. Gerade heute, wo die Diskussion über das Verhältnis von Evan­ gelium, Kirche und Staat neu in Fluß gekommen ist, kann und mutz eine historische Besinnung der grundsätzlichen Bewertung der einzel­ nen Faktoren neue Ansatzpunkte und Wege weisen. Erleben wir doch in der Auseinandersetzung im Kulturkampf den „uralten Kampf zwi­ schen Priestern und Königen" übertragen in die Verhältnisse der Neu­ zeit. Und unsere Gegenwart, der die Idee vom Reiche mehr bedeutet als ein abstrakter Begriff, hat für den Bismarckschen Reichsgedanken mehr Verständnis als die Zeitgenossen des Reichsgründers, die, be­ fangen in konservativen oder liberalen Ideologien, nie bis zu diesem Zentrum des politischen Denkens Bismarcks vordringen konnten, von dem aus Bismarck letztlich alle staatsmännischen Fragen löste. Es bleibt mir nun noch übrig zu danken für die mannigfaltig« Anregung und Anteilnahme, die mir bei der Bearbeitung entgegen­ gebracht wurden. Besonderen Dank schulde ich Herrn Prof. D. Dr. E. Barnikol als Referenten und Herrn Prof. D. E. Kohlmeyer als Korreferenten der Arbeit, die das Werden der Arbeit mit Interesse verfolgten und denen ich manchen Hinweis verdanke. Dank gebührt außerdem den Herausgebern der Sammlung, die dieses Werk in ihre Reihe aufnahmen. Mochten die Ergebnisse und Folgerungen dieser Untersuchung dazu beitragen, die heutige kirchenpolitische Lage zu beleuchten und etwas zu entwirren und den Blick vom kirchenpolitischen MachtKampf auf die grundsätzlichen Fragen des bis heute noch ungelösten Verhältnisses von Kirche und Staat lenken! Dann hat diese geschicht­ liche Betrachtung auch für die Gegenwart ihren Wert. Jena, im August 1934.

Hans Kars.

Inhalt. Seite

I. Einleitung..................................................................................................1 Thema und Fragestellung, Aufbau, (Quellen und Literatur.

II. Die Machte dir zum Eintritt in den Kulturkampf................................... 5 A. Die Kirchen im 19. Jahrhundert. 1. Die evangelische Kirche....................................................................... 5 Die Richtungen: Pietismus — Konfessionalismus, Neuorthodoxie (Friedr. Wilhelm IV., Hengstenberg) — Lichtfreunde — Schleiermacherianer. Die Unionsbestrebungen — Agendenstreit — die Landeskirchen. 2. Die katholische Kirche......................................................................... 10 Der Ultramontanismus — Ercole Consalvi — Zyllabus und Vatikanum — politischer Katholizismus — die katholische Staats­ idee. Die Entwicklung der katholischen Kirche in Deutschland — der Sieg des zentralistischen Papalismus über den nationalen Episkopalismus. 3. Die altkatholische Kirche..................................................................... 14 Entstehung — Döllinger — Friedrich von Schulte — Stellung zum Staat. L.Vismarck in seiner religiösen Entwicklung. 1. Bis zur Bekehrung (1846)............................................................... 15 Elternhaus — Schule — Universität — Deismus —Pantheismus — Strauß, Feuerbach, Bruno Bauer, Spinoza — Pessimismus — Byron. 2. Die Bekehrung im christlich-germanischen Kreis........................... 20 Der Thadden - Trieglafssche Kreis — Blanckenburgs in Cardemin — das erste Gebet — neue Einstellung zur Welt — die Gattin — der independentistische Charakter seines Christentums. 3. vom Jahre 1846 bis zum Jahre 1871............................................ 23 Tatchristentum — das konservative Ideal des christlichen Staates — die Brüder Gerlach — die Revolution vor 1848 — Real­ politik und Machtprinzip — Vorsehungsglaube — die Trennung von den Konservativen im badischen Kirchenstreit — Bismarcks Staatsidee.

III. Die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen im Kulturkampf

... 32

Die Gegensätze: protestantisch — katholisch, kleindeutsch — großdeutsch — das Schicksalsmäßige des Kampfes — die Entstehung des Zentrums — die Lrgebenheitsadresse — Aufhebung der katholischen Abteilung (8. Juli 1871) — Kanzelparagraph (10. Dezember 1871) — Schul­ gesetz (Februar 1872) — Jesuitengesetz (4. Juli 1872) — Expatri­ ierungsgesetz (4. INai 1874) — Zivilstandsgesetz (6. Februar 1875) —

VIII Seite die preußischen Maigesetze von 1873 — Sperrgesetz (22. April 1875) — Aufhebung der Artikel 15.16.18 der Verfassung (18. Juni 1875) — Falks Rücktritt (1879) — Abänderung der kirchenpolitischen Gesetze (1880,1882,1883,1886,1887) — der Friedensschluß. A. Bismarcks prinzipielle Gegnerschaft gegen die katho­ lische Rirche.......................................................................................... 38 Vie katholische Staatsanschauung — Pflichten des gläubigen Katholiken gegen Rirche und Staat — die Bedeutung des Vatika­ nums — Vismarcks politische Bewertung der katholischen Rirche — Bismarcks Staatsideal — Papst und Kaiser — der Papst als Feind des Evangeliums — die Staatskatholiken — Verkennung des Katholizismus. polengefaht — das Zentrum als Sammelbecken der Minderheiten — windthorst — die Hofkamarilla um die Kaiserin — das par­ teipolitische Moment des Kulturkampfes — Konservative — Natio­ nalliberale — Zentrum. Vie katholische Koalition gegen das Deutsche Reich — Italien — Rußland — Frankreich. Rückblick: der prinzipielle Gegensatz.

8. Bismarcks politische Benutzung der altkatholischen Kirche.......................................................................................................55 Vie altkatholische Kirche als politischer Bundesgenosse — Friedrich von Schulte — schon 1874 als bedeutungslos fallen gelassen — Bismarcks einseitiger Kirchenbegriff.

d.vismarcks innere Fremdheit und Kühle gegenüber der protestantischen Kirche.................................................... 57 Bismarcks Independentismus — Unkirchlichkeit gegenüber der Kirche als Organisation — die Gespaltenhett und Kraftlosigkeit int evangelischen Lager — die konservativen Kirchenpolitiker — veklarantenerklärung. „Erweckung" im pietistischen Kreise — Ablehnung der hochkirch­ lichen Bestrebungen. Die Staatsidee bestimmt auch Vismarcks Verhältnis zur evange­ lischen Kirche — Vismarcks Protestantismus — das Wesen der evangelischen Kirche: ecclesia — Gemeinde — Verfälschung dieses Wesens durch den politisierenden evangelischen Pfarrer.

IV. vismarcks grundsätzliche Haltung zu den Kirchen während der Kultur­ kampfes .................................................................................... 67 Vie Identifikation von Reich und Kanzler im Bewußtsein Vismarcks — homme d’etat — „Moi, je suis Fetat“ — Machtwille aus Pflicht — die Religion als Überwindung des egoistischen Machttriebes — der Kulturkampf als versuch der Grenzziehung zwischen den Ansprüchen des Staates und der katholischen Kirche — Erweiterung des Staats­ begriffes und damit der Staatsaufgaben auf die Aufgaben der evan­ gelischen Kirche — Religion und Politik bei Bismarck und bei den Konservativen — das versagen der evangelischen Kirche — die Auf­ gabe der Kirchen — das Ideal der Volkskirche.

Literaturverzeichnis.......................................................................... 72

I. Einleitung. Thema und Zragestellung, Aufbau, Quellen und Literatur. Immer hat man bisher Bismarcks Stellung zu der evangelischen und katholischen Kirche von rein politischen Motiven abhängig machen wollen. Gewiß ist zuzugeben, daß äußerliche, historisch bedingte Motive den Anstoß gaben, in den Kulturkampf einzutreten, und Bismarck selbst ist in fast allen Eigenzeugnissen über den Kulturkampf ein klassischer Zeuge für die Bewertung des Kulturkampfes als einer politischen Auseinandersetzung — die letzten Gründe aber sind diese Motive noch nicht, die letzten Gründe für diesen „Kampf zwischen Priestern und Königen" liegen tiefer, sind grundsätzlicher Natur. „Bismarck repräsentiert das Ideal eines Staatsmannes auch in­ sofern, als er alle großen politischen Fragen von großartigen Gesichts­ punkten aus behandelte, er löste sie aus seiner Weltanschauung heraus, und die seinige war breit fundiert. (Es wäre eine interessante Auf­ gabe, einerseits die Wurzel dieser Weltanschauung und andererseits ihren Zusammenhang mit seiner Politik klarzustellen"1). An dieser mehr intuitiv als rational erfaßten Fragestellung setzt die vorliegende Arbeit ein. (Es geht um eine bewußte Herausstellung von Bismarcks grundsätzlicher Haltung zu den christlichen Kirchen Deutschlands in den Jahren des Kulturkampfes von 1871—1887. Scheinbar wird mit dieser zeitlichen Begrenzung das Problem verengert, aber auch nur scheinbar. Venn wenn wir von grundsätz­ licher Stellung reden, dann bedeutet das, daß diese durch Anlage vor­ bereitet, durch die Umwelt genährt und durch Angriffe geläutert sein muß. (Es erweitert sich damit die Aufgabe zu einer Durchleuchtung von Bismarcks ganzem Leben, vor allem seit seinem Eintritt in den christlich-germanischen Kreis mit der Frage: wie steht Bismarck zu den Kirchen? Diese Frage, die auf ein Eingehen auf Bismarcks Reli­ gion nicht verzichten kann, greift an die wurzeln Lismarckscher Per­ sönlichkeit und Weltanschauung und ist vielleicht die wichtigste der öismarckschen Innenpolitik, da von ihr aus die soziale und partei­ politische Einstellung Bismarcks sich ableiten läßt. Erst auf Grund dieses Guellenmaterials, das seine Krönung finden wird in den zahl1) Rottenburg: Deutsche Revue 1905. 4. S. 138 f. Kars, Kanzler und Kirche.

2 reichen Zeugnissen währen- -es Kulturkampfes, wir- man zu einer gerechten Würdigung des grundsätzlichen Verhältnisses kommen können. Diese Erweiterung -er Aufgabe in -er Lharakteristik Bismarcks erfordert aber auf -er anderen Seite ein entwicklungsgeschichtliches Bild -er protestantischen und katholischen Kirche währen- des 19. Jahr­ hunderts. Gerade unsere grundsätzliche Betrachtung mutz hier auf eine Herausarbeitung -er wesenhaften Züge beider Kirchen wert legen, um zeigen zu können, weshalb -er Kulturkampf ein Streit von Welt­ anschauungen wurde. Das 19. Jahrhundert ist für beide Kirchen ein Jahrhundert der Gärung, eines gesteigerten Gestaltungswillens und des Strebens nach Konsolidierung, das sich so scharf ausprägte, datz in seinen Konsequenzen die Auseinandersetzung mit dem modernen Staat notwendigerweise liegen mutzte. haben wir uns auf diese Weise Klarheit verschafft über die Motive, Kräfte und weltanschaulichen Grundlagen der streitenden Parteien, dann mutz sich daran anschlietzen eine Darstellung ihres Kampfes in den Jahren der kirchlichen Gesetzgebung durch das ge­ einte Deutsche Reich. Ein geschlossenes Bild vom Kulturkampf ist dabei nicht das Ziel. Ein solches zu zeichnen ist heute wohl auch noch gar nicht möglich, da wertvollste Akten der deutschen Innenpolitik dieser Jahre noch ihrer Veröffentlichung harren. Dabei werden wir futzen können auf der historischen Fundierung des vorhergehenden Teiles. Denn der Politiker Bismarck setzte sich in seinen politischen Entscheidungen mit historischen Größen auseinander, und unsere Auf­ gabe ist es, erst aus diesen Entscheidungen und Äußerungen heraus seine grundsätzliche Stellungnahme in den kritischen zwei Jahrzehnten des Kulturkampfes abzuleiten. Und das ist der Inhalt -es dritten Teiles der Untersuchung. Die grundsätzliche Einstellung, die sich gebildet hat in eigener Glau­ bensüberzeugung, die auf die Probe gestellt ist in den harten Kampf­ jahren, diese grundsätzliche Einstellung soll jetzt, nachdem das histo­ rische Material festliegt, systematisch üargestellt werden. Dabei wird sich herausstellen, wie genial einseitig und deshalb grotz Bismarcks politische Grundanschauungen waren, wie einsam er in seinem Zeit­ alter stand, wie ein einziger metaphysischer Begriff in totalem vurchsetzungsstreben seine Politik beherrscht: der Gedanke des Reiches. vorher gilt es aber noch einen Einwand abzuweisen, den man neuerdings in der Geschichtswissenschaft überhaupt und so auch inner­ halb der Bismarckliteratur erhoben hat. war Bismarck überhaupt der Selbstdarstellung, die er mündlich wie schriftlich, privat wie öffent­ lich immer wieder geübt hat, auch wirklich fähig? Gern weist man in diesem Zusammenhänge auf Bismarcks eigene Beurteilung der Schwie-

rigkeit -er (Quellenverwertung und -Bewertung hin: „Wenn sie ein­ mal Geschichte schreiben danach, so ist nichts Ordentliches zu ersehen... Die Depeschen und Berichte sind, auch nro sie einmal was enthalten, solchen, welche die Personen und Verhältnisse nicht kennen, nicht ver­ ständlich. Wer weiß da nach dreißig Jahren, was der Schreiber selbst für ein Wann war, wie er die Dinge ansah, wie er sie seiner Indivi­ dualität nach darstellte? Und wer kennt die Personen allemal näher, von denen er berichtet? Ulan muß wissen, was hat Gortschakoff oder Gladstone oder Granville mit dem gemeint, was der Gesandte be­ richtet? Eher sieht man noch was aus den Zeitungen, deren sich ja Regierungen auch bedienen, und wo man häufig deutlicher sagt, was man will. Doch gehört auch dazu die Kenntnis der Verhältnisse. Die Hauptsache aber liegt immer in Privatbriefen und konfidentiellen Mitteilungen, auch mündlichen, was alles nicht zu den Akten kommt. Das erfährt man nur auf vertraulichem Wege, nicht auf amtlichem"1). Kun, zugegeben — dann besteht wohl die Schwierigkeit, aber nicht die Unmöglichkeit historischer Arbeit. Und gerade die letzten drei Jahr­ zehnte haben uns ja eine Memoirenliteratur gebracht, die fast un­ übersehbar ist. Und mehr noch: die Bismarckforschung hat uns eine Fülle von „konfidentiellen Mitteilungen" erschlossen, wie die dicken Bände „Briefe" und „Gespräche" der neuesten sogenannten, Friedrichsruher Bismarckausgabe zeigen. Und endlich hat auch die Fachpsqchologie zu dieser Kernfrage der Richtigkeit und Zuverlässigkeit der Bismarckschen Selbstdarstellung ihren Beitrag geliefert und nachgewiesen, daß Bismarck durch hohes verantwortungs- und Pflichtbewußtsein, durch persönlichen Mut und Ehrgefühl begründete Neigung zur Re­ flexion ohne Eitelkeit geschah. Karl Groos hat mit seiner Formu­ lierung „Tatmensch und Selbstbetrachter" den offenbaren Gegensatz zwischen Instinkt und Überlegung, haß und Liebe, Triebhaftem und verstandesmäßigem, das problematische in Bismarcks eigener Eharakteristik überbrückt2).3 So als Deutung wollen auch Bismarcks klassische „Gedanken und Erinnerungen", sein politisches Testament, verstanden werden2). Für unsere Arbeit sind sie allerdings nur eine (Quelle zweiten Grades, hat doch Bismarck gerade in den Fragen des Kulturkampfes sich bei dieser deutenden Rückschau gewandelt. Wir folgen also im Verlauf der Untersuchung der Bismarckschen Einteilung der (Quellen und lassen vor allem die „Gespräche", „Privatbriefe und konfiden­ tiellen Mitteilungen" und dann erst die „Reden", „Depeschen", amt­ lichen Berichte und Aktenstücke zu Wort kommen. 1) ww. VII. S. 505. 2) Karl Groos: Bismarck im eigenen Urteil. Stuttgart 1920. 3) Erich Marcks: Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen. Berlin 1899. 5.138.

4 hinzu kommen dann die Zeugnisse der Zeitgenossen Bismarcks, seien es Stimmen aus dem eigenen oder gegnerischen Lager. Bismarcks Mitarbeiter $aI6, Rbeken, Wilmowski, Schweinitz, Keudell, seine Ver­ ehrer Busch, Braune, auch Pank und vrqander, seine Kritiker Bamber­ ger, Bruno Bauer, seine Gegner Gerlach, windthorst, Ketteler, Stoecker — sie alle bemühen sich, den Riesen in ihrer Mitte zu verstehen und beleuchten oft schlaglichtartig einen Entschluß, über dessen Beweg­ gründe Bismarck selbst wohl schweigt. Über die Notwendigkeit dieser Stimmen bei der Beurteilung Bismarcks braucht nach dem Rusgeführten nichts mehr gesagt zu werden. Bismarck ist als Politiker bei aller gleichbleibenden Verfolgung des einen Zieles doch so von „oppor­ tunistischen" Erwägungen und „Imponderabilien" abhängig, daß eine Ergänzung und Kritik immer nur die Rufzeigung des grundsätzlichen Weges befruchten kann. Gewiß ist auch kritische Besinnung bei der Benutzung dieser sekundären Quellen vonnöten, aber auch noch heute gilt das Urteil Erich Marcks', das er über Busch und Rbeken fällt: „Denjenigen, der historisch zu sehen bestrebt ist, wird dieser stille Be­ obachter aufklären und bestärken (flbefcen); neben dem inhaltlich zweifellos bedeutenderen Tagebuche und der kräftigen Einseitigkeit Buschs ist sein Werth groß: erst beide zusammen geben das volle Bild"!). ctn Zeitungen sind vor allem die „Grenzboten" berücksich­ tigt, deren Artikel, meist von Constantin Rößler und Moritz Busch, wertvolle Durchblicke geben. Einen Zorschungsbericht über die neuere öismarckliteratur kann ich mir ersparen, wie reichhaltig sie ist, zeigt ein Blick auf das Literaturverzeichnis. Rufs Ganze gesehen lassen sich zwei Gruppen unterscheiden, eine ältere, psychologisch-kritisch-atomistische und eine neuere synthetische. Zur ersteren würden Forscher wie Klein-Hattingen, Egelhaaf, auf höherer Stufe Valentin und Lenz, vielleicht auch Erich Marcks gehören. Sie brachten wertvolle Einzelerkenntnisse, scheiter­ ten aber, als es daran ging, die Geschichte Bismarcks, ein Bild seiner Persönlichkeit zu geben, blieb doch das größte Werk dieser „liberalen" Historiker, die Bismarck-Biographie von Erich Marcks, unvollendet. Die zweite Gruppe strebt nach einer Zeichnung von Bismarcks Per­ sönlichkeit und nach einer Deutung, wie sie Westphal, Michael, Zechlin, Craemer und Schweitzer unternahmen. Eine Einseitigkeit nimmt man dabei zugunsten einer abgerundeten Darstellung in Kauf. 3n Wirk­ lichkeit sind diese Deutungen aber eine Ruflösung der vielgestaltigen Bismarckschen Persönlichkeit, und die Einheitlichkeit des gezeichneten Bildes ist meist nur eine eigene Einseitigkeit in der Betrachtung. Solche Deutungen sind sicher anregend — für den Historiker sind sie in x) Erich Marcks: ebenda S. 22.

allererster Linie eine Mahnung zur Besinnung. Man muß sich schon bemühen, ttecomplexiooppositorum bei Bismarck zu erfassen und darf nicht gleich von der Überbetonung eines Prinzips ein neues Bismarckbild konstruieren wollen. Denn man verwechselt in diesem Falle die Ursache mit der Wirkung, hinter der Fülle der Motive Bis» marckschen handelns steht «in Zentrum, das sie speist, — das ver­ trauen auf den lebendigen Gott, und erst von diesem Zentrum her werden Staatsidee, Amt, Berufung, Machtstaatsideal und andere Triebkräfte verständlich. Man hüte sich hier vor jeder Dogmatik! wer glaubt, Bismarck konstruieren zu können, der prüfe sich und die (Quellen. Bismarck in seiner titanenhaften Persönlichkeit spottet jedes Schemas, und gar zu leicht wird aus dem historischen Bismarck ein Wunschbild des Verfassers und seiner Zeit. (Eine einfache Feststellung möge diese (Einleitung abschließen. Der ganze Komplex des Kulturkampfes ist weder von protestantisch-kirchengeschichtlicher noch von profanhistorischer Seite genügend bearbeitet. Der Falkbiographie von Erich Foerster, die aber den Kampf nur bis zu Falks Rücktritt von der Leitung des Kultusministeriums führt (1879), stehen zwei große mehrbändige katholische Darstellungen (Georges Goyau und I. B. Kißling) gegenüber. Außerdem ist für jede preußische Provinz, beziehungsweise für jeden deutschen Staat von katholischer Seite eine Monographie der Kampfjahre entweder schon erschienen oder im Erscheinen begriffen. Diese Darstellungen sind durchweg einseitig, nicht zuletzt in der Beurteilung von Bismarcks Motiven, und ich werde im Laufe der Untersuchung oft Gelegenheit haben, mich mit diesen Veröffentlichungen auseinanderzusetzen.

II. Die Mächte bis zum (Eintritt in den Kulturkampf. A. Die Kirchen im 19. Jahrhundert. 1. Die evangelische Kirche. Das 19. Jahrhundert ist für den Protestantismus ein Jahr­ hundert ungeklärten Suchens und Ringens um neuen Inhalt und neue Formgebung. Die Freiheitskriege stellen den großen Einschnitt in der neueren Kirchengeschichte dar. hatte Schleiermacher noch 1799 seine „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Ver­ ächtern" geschrieben, so änderte er in der dritten Auflage dieses Wer­ kes vom Jahre 1821 in der Vorrede diesen Titel, indem er ausführte: „... Die Zeiten haben sich so auffallend geändert, daß ... man es eher nötig finden sollte, Reden zu schreiben an Frömmelnd« und

6 Buchstabenknechte, an unwissend und lieblos verdammende Aber- und Übergläubige." Vieser Umschwung hatte verschiedene Ursachen. Einmal die Ro­ mantik. Sie hatte den Terrorismus der Verstandesherrschaft gebrochen, hatte dem fühlenden Herzen wieder zu seinem Rechte verholfen. Sie hatte die Philosophie des aufgeklärten Individuums gedemütigt und den Blick erschlossen für die Vernunft der Geschichte, für das wahre und Schöne in Glaube und Sitte der Väter, für die Eigenart der volkstümlichen Rirche und des nationalen Lebens. Dazu kam noch der Ernst der Seit, das Unglück des Vaterlandes unter dem napoleonischen Druck, und dann weiterhin die Begeisterung der Volkserhebung und die dankbare Freude über die gelungene Befreiung von der Fremd­ herrschaft, in der der fromme Sinn eine göttliche Fügung sah. So erwachte in weiten Kreisen ein neues religiöses Leben, das, unbe­ friedigt von der dürftigen und Kühlen Vernunftreligion der Auf­ klärung, sich zunächst an die Herzensreligion des volkstümlichen Pietis­ mus und an feine biblische Glaubensweise hielt, ohne sonderlich Ge­ wicht zu legen auf die spezifisch kirchlich-konfessionellen Dogmen. So können auch wertvollste Bestandteile des deutschen Idealismus mit ausgenommen werden. Vie Regierungen, befangen in der konsequenten Durchführung des Staatskirchentums, standen dieser Erweckungsbe­ wegung in ihren Anfängen feindlich gegenüber, ja gingen wohl auch gar mit Polizeigewalt dagegen vor, wie etwa gegen den von Belowschen Kreis in Pommern, ohne etwas anderes zu erreichen, als daß die Kraft dieser Bewegung wuchs. Reben dieser Richtung im Pietismus, die sich zu kleinen Gemein­ schaften Auserwählter zusammenzuschließen suchte, läuft eine andere her, die zuletzt den Sieg behält. Man kann sie die konfessionelle nennen. Venn ein Besinnen auf die Lehrgrundlagen, veranlaßt durch die Reformationsfeier von 1817 mit ihrem Hinweis auf Luthers Schriften und wachgehalten durch die Lutherthesen von Klaus Harms, läßt sich um die Mitte des Jahrhunderts als in der Theologie herr­ schendes Moment feststellen und findet ihren theologischen Ausläufer in der Erlanger Schule eines Hofmann und Thomasius. verstärkt werden die Bestrebungen, die zu dieser Richtung drängen, durch die religiös indifferente, beziehungsweise kritische Wissenschaft (Linkshegelianismus), durch die Entchristlichung, besser Entkirchlichung eines gwßen Volksteiles in den Großstädten und durch die Ergebnisse der radikalen Religionskritik, hiergegen anzukämpfen schien nur möglich auf der Grundlage eines festen Lehrsqstems. So entsteht der offizielle Restaurationspietismus, eine Neuorthodoxie, die vor allem im Luther­ tum zu bedeutender Macht gelangt. Bei der Konsequenz, mit der man diesen betonten Konfessionalismus durchführte, lassen sich katholische

Tendenzen nicht vermeiden. Sie zeigen sich in der großen Wertschätzung der sichtbaren Kirche, in der starken Betonung von kirchlicher Ver­ fassung und gottesdienstlichem Ritus, von den Regierungen wird diese Richtung, vor allem nach den Revolutionsjahren, reich unterstützt und entwickelt eine eifrige theologische und kirchliche Arbeit, die sich er­ folgreich und in gesunden Bahnen hätte auswirken können, wenn sie ein Betätigungsfeld für ihren Tatendrang, für ihre sittlichen Kräfte im politischen Leben, im Aufbau eines volksgemeinschaftlichen Staats­ und Gesellschaftslebens gefunden Hätte. Aber dieses war ihr versagt, da die schönen patriotischen Hoffnungen der Freiheitskriege unter der schnöden politischen Restauration zur Resignation verurteilt waren. Daher erschöpfte sich der religiöse Tatendrang nun naturgemäß in der Propaganda für den pietistisch-kirchlichen Glauben, in der Be­ kämpfung der Rationalisten, die im liberalen Bürgertum noch eine große Schar von Anhängern hatten, und so kam es endlich zu den kirchlich-politischen Machtkämpfen einer Reaktion, die in der Wahl ihrer Mittel für ihre „heiligen" Zwecke vor nichts zurückschreckte. Seit 1840, seitdem Friedrich Wilhelm IV., der Romantiker, den Thron der Hohenzollern bestiegen hatte, kam diese orthodox pietistische Partei zur unumschränkten Herrschaft in Preußen. Ihr theologischer Führer war der Berliner Professor Hengstenberg, der als Redakteur der „Evangelischen Kirchenzeitung" und durch seine Verbindungen zu der einflußreichen Hofkamarilla, auch die weltlichen Machtmittel in den Dienst der Reaktion zu stellen verstand. Aber Druck ruft nur Gegendruck hervor. Waren dem gewaltfönten Eifer, mit dem die Regierungen die Unionsache betrieben, die Altlutheraner entgegengetreten, so trat jetzt gegen die Reaktion der Orthodoxie die rationalistische Bewegung der sogenannten „Licht­ freunde" auf. Ls werden im Grunde ganz harmlose und zum Teil auch unanfechtbare Gedanken vertreten, die meist aus Lessingschen Schriften entnommen sind. Vie Schrift wird zwar als ein herrliches Zeugnis vom Glauben der ersten Zeiten bezeichnet, aber nicht an­ erkannt als ein fesselndes Gesetz für die geistige Freiheit der Kinder Gottes, auf der die evangelische Kirche beruhe. Aber die Hengstenbergsche Kirchenzeitung verurteilte das als Leugnung des protestan­ tischen Schriftprinzips und als Lossagung vom Thristentum und schritt mit Polizeigewalt gegen die Versammlungen der Lichtfreunde ein. Dazwischen kristallisierte sich endlich noch eine vierte Richtung heraus, die bewußt Schleiermachersche Gedanken vertrat. Sie stand ganz natürlich gegen die Kreise um Hengstenberg und forderte eine freie kirchliche Verfassung auf Grund des Gemeindeprinzips. Diese öffentliche Erklärung gab Hengstenberg Anlaß, die ihm längst ver­ haßte Schleiermachersche Theologie noch einem posthumen Ketzergericht

8 zu unterziehen. Sogar die Magistrate der preußischen Großstädte mischten sich in diesen Streit und richteten eine Adresse an Friedrich Wilhelm IV. mit der Bitte um Schutz der protestantischen Lehrfreiheit. Der König aber sah in der orthodoxen Partei die einzige wahre Stütze von Thron und Altar, und Hengstenberg blieb Sieger. hören wir das Wort eines urteilsfähigen, unvoreingenommenen Zeitgenossen zu diesen Zuständen. Bunsen, der trotz seiner roman­ tischen Liebhabereien protestantischer Christ und deutscher Protestant geblieben war, charakterisierte diese Zeit in seinem bedeutsamen Buche „Die Zeichen der Zeit" also: „Mißtrauen ist geboren, Bangigkeit er­ füllt treue Gemüter, die Behörden sind geteilt und verwirrt, die Fakultäten gelähmt, und die theologischen Kandidaten sinken auf eine immer tiefere Stufe der Bildung herab, selbst den katholischen gegenüber. Das Ziel des Stahlschen Programms kann nicht zweifel­ haft fein: Knechtschaft unter dem lügenhaften Schein der Freiheit"1). 3ft so das innere Bild des Protestantismus schon nicht ohne Zwie­ spältigkeit und Schwachheit, trotz mancher Ansätze zur Neugestaltung und trotz manches hervorragenden Vertreters evangelischen Christen­ tums, so ist das äußere Bild in noch viel stärkerem Maße zerrissen. König Friedrich Wilhelm III. hatte von Anfang seiner Regierung an die Union der lutherischen und reformierten Kirche im Auge. Vas Re­ formationsjubiläum des Jahres 1817 gab den Anlaß zu einem Aufruf, der die praktische Vereinigung der lutherischen und reformierten Kon­ fession zu einer evangelischen Kirche empfahl, ohne sie übrigens auf­ dringen zu wollen. Der Gedanke fand allgemeinen Beifall und kam auch in Preußen und einigen anderen protestantischen Ländern zur Durch­ führung. Bald darauf wollte der König aber sein Unionswerk krönen durch die Einführung einer von ihm selbstverfaßten kirchlichen Agende. Dagegen erhob sich ein allgemeiner Widerspruch, der in den Kreisen des neu erwachten Luthertums zum widerstand gegen die Union überhaupt wurde. Mit den lutherischen Dogmen erwachte eben auch der schroffe, intolerante, spätlutherische Dogmatismus der lutherischen Theologen. Vie Gemeinden, die hinter ihm standen, wollten sich ihren Luther gleichfalls nicht nehmen lassen. Eine königliche Kabinetts­ order von 1834 suchte zwar zu beschwichtigen durch die Erklärung, daß durch die Union die Geltung der beiderseitigen Bekenntnisschriften nicht aufgehoben werden solle. Der Erfolg war aber nur der, daß durch diese Halbheit Verwirrung in den Reihen der Freunde der Union an­ gestiftet und -er widerstand der Gegner doch nicht gebrochen, sondern eher verstärkt wurde. Und die Gewaltmaßregeln, die die Regierung nun gegen die widerstrebenden Gemeinden und Geistlichen anwandte, x) Christ. K. Jos. von Lunsen: Zeichen der Zeit. 1. Rufi. 1855.

reizten diese natürlich nur noch mehr und trieben sie schließlich zur Lossagung von der unionistischen Landeskirche und zur Bildung einer eigenen altlutherischen Kirche. Andere Landeskirchen hatten die Union überhaupt nicht eingeführt und standen nun wieder gegen die Unierten Preußens. (Es war nicht möglich, daß der Protestantismus nach außen hin als Gesamterscheinung auftrat und so eine der imponierenden Ge­ schlossenheit des Katholizismus gleichberechtigte Größe verkörperte. Die landeskirchlichen Tendenzen erweisen sich als zu stark,' es kommt nur zu einem Zusammenschluß der kirchlichen Parteien, zwischen denen aber die Feindschaft weitergeht. Stärkstes Mißtrauen gegeneinander läßt nicht einmal eine Einigung auf praktischem Gebiete, wie in der inneren und äußeren Mission, zu. So etwa ist die Situation der protestantischen Kirche bis zum Jahre 1871. Trotz der radikalen Religionskritiker Strauß, Feuer­ bach und Bruno Bauer, trotz der beträchtlichen Zahl der nur geistes­ gläubigen Hegelianer aus den gebildeten Ständen, trotz der soziali­ stischen Bestrebungen — die aber im Anfang (Weitling u. a.) religiös waren — war eine Tntchristlichung des Volkes nicht eingetreten. Hur die Kirche hatte vielfach versagt und die Bildung von Kreisen von Stillen im Lande begünstigt, was in diesen Konventikeln aber an wertvollem verborgen lag, das hatte sie nicht für sich auszuwerten verstanden. Politisch repräsentierte sie der summus episcopus in der Gestalt des jeweiligen Landesherren, soweit dieser protestantisch war. Vie innere kirchliche Leitung hatte unter seinen Augen eine Ver­ waltungsbehörde, wie z. B. in Preußen der tvberkirchenrat, dessen Zusammensetzung von der Stimmung der Hofprediger abhängig war und der stark unter den Einflüssen der Hofkamarilla stand. Vie konsistoriale Verwaltung der Kirche blieb also durchaus unselbständig. Daß dadurch in der kirchlichen Politik ein Zickzackkurs eingeschlagen wurde, der jedem Verhandlungspartner das Zustandekommen eines Abschlusses erschwerte, ist leicht einzusehen. Die Folge aber war, da dieser Partner, der Minister für geistliche Angelegenheiten, meist sehr stark war, daß eine Kühlheit und leise Gereiztheit an die Stelle der Einigkeit und des vertrauens trat, eine Kühlheit und leise Gereizt­ heit, die uns bei der Darstellung des Kulturkampfes ganz klar ent­ gegentritt. Sehr treffend charakterisiert der Theologe Friedrich Fabri bei seiner kritischen Beleuchtung des Kulturkampfes diesen Mangel an kirchenpolitischem Blick im evangelischen Lager: „(Es begegnet uns hier die umgekehrte Erscheinung wie auf Seite der katholischen Kirche, während in dieser die Freiheit und Selbständigkeit des religiösen Ge­ wissens in Glaubenssachen völlig gebunden und unterdrückt, dagegen der Selbständigkeitstrieb im Verhältnis zum Staate, also in Kirchen-

10

politischen Dingen äußerst entwickelt ist, ist im Protestantismus, we­ nigstens in Deutschland und im Umfange der Reformation Luthers, der persönliche Zreiheitstrieb ganz auf das Gebiet der Lehre und der Disziplin gerichtet. Lehrstreitigkeiten und der Kampf für und wider kirchliche Disziplin durchtönen bis heute das Heerlager des deutschen Protestantismus. Dagegen ist kirchenpolitisches Verständnis und der Trieb nach kirchlicher Selbständigkeit in ihm bis jetzt äußerst un­ entwickelt geblieben" *). 2. Die katholische Kirche. Gegenüber der ungeklärten und aufs Große gesehen ziellosen, ja zum Teil widerspruchsvollen Entwicklung der protestantischen Kirche, zeigt die katholische Kirche des 19. Jahrhunderts, abgesehen von einigen Rückschlägen, ein einheitliches Bild. Das religiöse Leben in der katholischen Kirche hatte sich im ersten Drittel des 19. Jahr­ hunderts wesentlich vertieft. Zweifach sind die Bewegungen: die kirch­ liche Neuorganisation, auf die wir gleich zu sprechen kommen, trug den Kirchengedanken in die Massen, und die Vertiefung kirchlicher Ruffassung in der Romantik zeitigte jetzt ihre Früchte, vor allem in den Reihen der Gebildeten. Beides ist bedeutsam. Denn die Massen erhielten so ihre Führer. Rlle führenden Männer der katholisch-poli­ tischen Bewegung gehören den oberen Schichten an, wie überhaupt in dieser Zeit der Parteienbildung die Rusbildung der Parteitheorien und die Durchführung -er Parteipolitik auf die Gebildeten beschränkt war. Das eindeutige Ziel, das diese Kirche seit der politischen Kon­ solidierung auf dem Wiener Kongreß beherrscht, heißt Durchführung des Ultramontanismus bis in die letzten Konsequenzen. Die politische Reaktion, die die für den Protestantismus so fruchtbare Zeit der Gärung und der Begeisterung ablöste, leistet der zentralistischen Wie­ derherstellung -es katholischen Kirchentums Vorschub. Das klingt para­ dox, denn eigentlich hätte nach der Zertrümmerung der napoleonischen Herrschaft ein starker Rufschwung der nationalen Idee Platz greifen müssen, in deren Konsequenz ein nationales Kirchentum gelegen hätte. 3n dieser gefährlichen Situation war es für die Kurie von größtem Vorteil, daß sie in Ercole Tonsalvi einen Politiker zur Hand hatte und einsetzen konnte, der alle politischen Köpfe seiner Zeit überragte. Kluge Mäßigung, die doch das Ziel nie aus den Rügen verlor, leitete ihn und läßt ihn zu Verträgen und Konkordaten kommen, die die Position der Kirche als politischer Macht in ungeahnter Weise stärkten. 1) Friedrich Sabri: Me weiter? S. 56—57.

n Gleichwohl wurde die Abhängigkeit von der politischen Restauration in mehrfacher Einsicht verhängnisvoll. Vie bürokratische Verwaltung des aufgeklärten Absolutismus mußte ihre Allmacht auch auf die Kirche ausdehnen, nicht aus Kirchenfeindschaft, sondern weil sie über­ zeugt ist, das Reste zu wollen, das Gleiche, was die Rirche zu erreichen bestrebt ist. Dagegen wehrte sich die Geistlichkeit, ja mußte sich wehren, weil die Volkswut über Eingriffe in den Kultus sich zuerst gegen sie richtet. Aber die Geistlichen und ebenso die kirchlichen Oberen sind zugleich Untertanen der allmächtigen Staatsregierung. Sie sind aller äußerlichen Machtmittel beraubt — die Rirchenfürsten haben ihre Territorien verloren — und ersetzen das durch ein enges geistiges Band mit der Kurie. So entsteht eine geistige Wandlung, nachdem die Praxis ihre Vorarbeit und Vorbereitung geleistet hatte. Vie Säku­ larisation wird damit zur Triebfeder und zum Anlaß zu einem Pro­ zeß, den man die Ultramontanisierung -er katholischen Kirche nennt. 6n die Stelle des landesherrlichen Kirchenfürsten tritt die geistliche Zentralgewalt des Papstes. Gewann die Kirche dadurch auch an Ein­ heitlichkeit und Geschlossenheit, so ließ sich doch ein Überspitzen dieser ultramontanen Forderungen nicht vermeiden, zumal da der seit 1814 wiederhergestellte Jesuitenorden sich -er Herrschaft der Kirche bemäch­ tigte. Auf seinen Einfluß ist Indexkongregation, neues Aufleben der Inquisition, Restauration der Grden und dergleichen mehr zurück­ zuführen, — alles Momente, die der zentralistischen Ausgestaltung der Papalgewalt dienten, vaß in deren Konsequenz ein Zusammenstoß mit der weltlichen Macht liegen mußte, war nur eine Frage der Zeit. Er erfolgte zum ersten Mal im Stammlande des Papsttums, in Italien, wo sich die Hierarchie dem nationalen und kulturellen Fortschritts­ willen widersetzte und dadurch die Bevölkerung gegen sich aufbrachte. Äußerlich wurde dieser Zusammenstoß sichtbar im Verlust des Kirchen­ staates an Italien im Jahre 1870. So hatte politisch der moderne Geist und das moderne Nationalbewußtsein gesiegt. Trotz großer Hemmungen, die die Kurie dem Entstehen eines geeinten Italien ge­ macht hatte, hatte dieses seinen nationalen willen durchgesetzt, was der Papst dadurch an politischer Macht verloren hatte, suchte' er auf kulturellem Loden zurückzuerlangen. Seit den Revo­ lutionsjahren von 1848 und 1849, die eine Umwälzung zu bringen drohten, suchte die Kurie die Mächte dieser Bewegung durch Bullen und Erlasse zu beschwören. Wegsteine, wie die Verkündigung der „immaculata conceptio" (8. Dezember 1854), wie die Encqclica „Quanta cura" und der Sqllabus (8. Dezember 1864) zeigen eine Entwicklungstendenz, die im bewußten Gegensatz zu den herrschenden Ideen des modernen Kulturlebens, der modernen Politik und Wirt­ schaft stand. Den Schlußstein stellt das vatikanische Konzil dar (1869

12 bis 1870), das in der Unfehlbarkeitserklärung des Papstes die papalistische Strömung zur Herrschaft führt, aber auch die Konsequenz eines latenten Gegensatzes zu der jeweiligen nationalen Staatsgewalt in sich birgt. Denn der ultramontane Katholizismus ist nie nur geistlich, ist vielmehr immer zugleich politisch. Der Zusammenhang zwischen Reli­ gion und Politik ist in der katholischen Weltanschauung niemals be­ stritten, sondern immer gefordert worden. Die katholische Moral­ theologie berücksichtigt die Einstellung ihrer Gläubigen zu jeder Staatsform, indem sie auf die Pflichten, die dem Staatsbürger aus einem konstitutionellen oder parlamentarischen System erwachsen, ein­ gehend hinweist. Das geschah natürlich im Rnfange sehr vorsichtig, weil sich die konservative katholische Kirche nicht festlegen wollte. Erst ganz allmählich drang hier im Laufe des 19. Jahrhunderts eine positive Ruffassung durch. Klassisch hat der württembergische Staats­ präsident hieber dieser Einstellung Rusdruck verliehen: „Es ergeben sich aus den Grundsätzen des katholischen Dogmas ganz bestimmte weitgehende Konsequenzen für die Regelung der weltlichen, bürger­ lichen und staatsbürgerlichen Rngelegenheiten. Insofern fallen für den gläubigen katholischen Christen eine Menge rein bürgerlicher, staats­ rechtlicher, gesellschaftlicher Rngelegenheiten unter das weite Gebiet der Religion, die für den Protestanten nicht zur Religion gehören, sondern zu einem vollständig freien Gebiet. Und das ist der große Unterschied zwischen katholischer und protestantischer Ruffassung dieser Dinge"x). Die katholische Kirche erweitert damit den Kreis der sitt­ lichen Verpflichtungen, deren Hüterin sie ist, und kommt damit zu einem bestimmten Verhältnis zum Staat. „Der Staat ist Drganisation nur für das zeitliche Leben, die Kirche für das ewige. Sie dient dem­ nach höheren Zwecken als der Staat; darum steht sie über dem Staate; er hat ihr zu dienen oder ihr wenigstens für ihre Rrbeit alle und volle Freiheit zu gewähren — mittelalterliche und neuzeitliche Formu­ lierung für dieselbe Sache. Innerhalb des Staates gilt sowohl für die Betätigung des einzelnen im Staate als für die Politik des Staates selbst das Gebot der Moral, wie die Kirche sie lehrt"*2). Daraus ent­ springt die praktische Forderung: Souveränität neben Souveränität, die Souveränität des Staates auf weltlichem neben der Souveränität der Kirche auf geistlichem Gebiet, statt der Kirchenhoheitsrechte des Staates volle Unabhängigkeit der Kirche. Das bedeutet nach katho­ lischer Meinung aber nicht grundsätzliche Trennung von Kirche und Staat, sondern vielmehr: Freiheit und Rnerkennung der Kirche durch x) Zitiert bei Ludwig Bergsträßer: politischer Katholizismus. S. 20. 2) Ebenda S. 20—21.

den Staat; aber Einspruchsrecht der Kirche in Staatsangelegenheiten, wenn ein Staatsgesetz sich mit dem natürlichen Sittengesetz oder mit dem Gffenbarungsrecht in Widerspruch setzt. Diese Erörterung über die Staatsidee des Katholizismus war hier nötig, weil in ihr späterhin die Keime zum Ausbruch des Kultur­ kampfes stecken. Denn ein wirklicher Staat kann dieses Nebeneinander zweier Autoritäten nicht dulden. Leider sah der romantische Friedrich Wilhelm IV. diesen Gegensatz nicht in dieser Schärfe, konnte ihn wohl auch nicht sehen, da er sich ja vor seinen Augen erst vollzog. Das Papsttum ging ungehindert seinen weg und holte auf diese Weise auf geistigem Gebiet überraschend ein, was es an politischem Ein­ fluß verloren hatte, und man kann den paradoxen Satz wagen, daß das Papsttum an Territorium und Macht verlieren mußte, um kultur­ politisch zu gewinnen. Besonders verwickelt und deshalb noch gesondert und ausführ­ licher zu behandeln ist die Entwicklung der katholischen Kirche in Deutschland vom wiener Kongreß bis zum deutsch-französischen Kriege, wir sahen bereits die Aufrichtung der Reaktion auf dem wiener Kongreß, wir erkannten weiterhin, daß die Bildung der neuen Na­ tionalstaaten, bzw. ihre Wiederherstellung für die katholische Kirche nicht günstig war. Das alte heilige Römische Reich war endgültig da­ hin. Es kam deshalb auch mit Deutschland in seiner Gesamtheit zu keinem Konkordatsabschluß, und der Vatikan mußte mit den Einzel­ staaten in Verhandlungen treten, erreichte aber ein Konkordat nur mit Bayern (1817, bzw. 1818), wo die kurialistische Idee vom Ver­ hältnis von Staat und Kirche noch ant lebendigsten war. 3n den übrigen Staaten begnügte man sich unter voller Wahrung des staatskirchlichen Gedankens mit einer Neuordnung der Diözesanverwaltung und mit reicher Dotation; sah man doch in der Kirche einen hort gegen alle revolutionären Einflüsse. Diese politische Erwägung war richtig, so­ lange der Klerus noch von aufklärerischen antizentralistischen Ten­ denzen beherrscht war. Daß hier durch den Einfluß der Jesuiten und durch konsequente papalistische Politik, besonders unter der späteren Regierungszeit Pius' IX., ein grundlegender wandel auftrat, glaube ich in der Darstellung der inneren Geschichte des Katholizismus klar zum Ausdruck gebracht zu haben. Die ultramontanistische Richtung führte notwendig zu dem Gegensatz: kanonisches Recht auf der einen und Staatskirchentum auf der anderen Seite. Da beide Richtungen konsequente Führer fanden, ist ein Zusammen­ stoß unvermeidlich, unvermeidlich erst recht, wenn wie in Preu­ ßen die Spitze des Landes protestantisch war, und diese Spitze nach Aufrichtung des Reiches auf kleindeutscher Grundlage noch grö­ ßeren Einfluß zu erringen drohte, hier liegen die wurzeln zu den

14 Auseinandersetzungen in der Frage -er katholischen Universitäten und Fakultäten, zu dem Kölner Kirchenstreit und Mischehenstreit,- hier liegen auch die Grundlagen zum Ausbruch des Kulturkampfes, und es fehlte jetzt nur noch der Unlaß, der diesen glimmenden Konflikt zum Hellen Brande bringen mußte. Als geschlossene Macht unter einem zielbewußten Führer, dem

seine Soldaten in unbedingter Disziplin gehorchen, kann die katho­ lische Kirche in den Kampf ziehen und ist dadurch jedem Gegner über­ legen, und besonders dann, wenn der Kampfplatz die Rednertribüne des Parlaments ist.

3. Vie altkatholische Kirche. Mit der kurzen Kennzeichnung der dritten kirchlichen Macht, der altkatholischen Kirche, gehen wir schon chronologisch über die Grenze hinaus, bis zu -er wir die einzelnen Mächte darstellen wollten. Da sie aber in der Geschichte des Kulturkampfes eine nicht unbedeutende Rolle spielt, kann auf eine Charakteristik nicht verzichtet werden, die ich hier parallel zu den anderen Kirchen vorweg nehme, um die Darstellung des nächsten Teiles nicht zu zerreißen. Die Verkündigung der päpstlichen Infallibilität von 1870 erfuhr neben begeisterter Annahme auch stürmische Proteste, besonders in Deutschland, wo die kirchengeschichtliche Bildung besser war als in irgendeinem anderen katholischen Lande. Die Träger dieses (Ent» rüstungssturmes sind zumeist katholische Hochschulprofessoren, deren Einspruch um so wirksamer ist, weil sie ihn rein religiös und nicht politisch begründen. Sgnaz Döllinger, Professor für Kirchenrecht und Kirchengeschichte an der Münchener Universität, ist der Führer in der ersten Seit des Kampfes, während aber die meisten seiner Kollegen, vor allem soweit sie in seelsorgerlicher Tätigkeit stehen, nach hartem Kampfe die vatikanischen Beschlüsse annehmen, bleibt er fest und verweigert „als Christ, Theologe, Geschichtskundiger und Staats­ bürger" die von seinem Münchener Erzbischof geforderte Erklärung der Unterwerfung. Er wird exkommuniziert und mit ihm alle, die sich für ihn in Adressen und Kundgebungen an den König eingesetzt hatten. Diese rigorose katholische Maßnahme zwang aber dazu, sich jetzt selbst kirchlich zu versorgen, uitd auf Betreiben des ebenso tat­ kräftigen wie ehrgeizigen Prager Juristen Friedrich Ritter von Schulte wurde die altkatholische Kirche gegründet. Man wählt diesen Namen, um zum Ausdruck zu bringen, daß man katholisch bleiben will, was Wertvolles an katholischer Frömmigkeit vorhanden ist, nimmt man gern an, doch lehnt man den ultramontanen Papalismus ab, ohne dabei gegen den primatus Petri vorgehen zu wollen. Die Altkatho-

liken wollten also zwischen Öen prinzipiellen Gegensätzen des Hetero­ nomen Katholizismus und des autonomen Protestantismus eine Mit­ telstellung einnehmen, die aber in Wirklichkeit unklar und innerlich unmöglich war. wo einmal eine höhere Entwicklungsstufe schon vor­ handen ist, haben Neubildungen, die hinter ihr zurück bleiben, keine innere Berechtigung und daher auch keine geschichtliche Lxistenzsähigkeit mehr. Und so hat sich in der Folgezeit der Altkatholizismus auch immer weiter zum Protestantismus hin entwickelt. Wertvoll war seine gänzlich vom Katholizismus verschiedene Einstellung zum modernen Staat, den er grundsätzlich bejaht, wie in der Vereidigung des ersten altkatholischen Bischofs, Hubert Reinkens', zum Ausdruck kam. Den­ noch war die Stellung der Staaten zu dieser neuen Kirche durchaus nicht einheitlich bejahend, während sie in Preußen und Hessen, zu­ mindest für die Dauer des Kulturkampfes, Förderung und Unter­ stützung fand, erkannte sie Bayern nur als Privatkirchengesellschaft an. Die staatliche Dotation war nicht übermäßig reichlich, regte aber dadurch die Gpferwilligkeit der einzelnen Glieder an. 3u irgendwelcher größeren Bedeutung vermochte es die Kirche nicht zu bringen. Nach Beilegung des Kulturkampfes erlahmte jedes größere Interesse an ihr. Man unterschätzte sie, wie man sie während des Kampfes als deutsch-katholische Volkskirche überschätzt hatte.

Damit haben wir die Mächte der einen Seite gekennzeichnet in der Verschiedenheit ihrer Stärke, ihrer Tendenzen und ihrer voraus­ sichtlichen Entwicklung. Klar ist auch geworden, daß ungeheuer viel Zündstoff bereit lag, und daß es nur eines Funkens bedurfte, um die latenten Gegensätze anzufachen. Ehe wir aber daran gehen, diesen Streit, wenn auch nur in seinen charakteristischen Höhepunkten dar­ zustellen, müssen wir erst einen Blick werfen auf den großen Gegen­ spieler. Die Geschichte und Lntwicklungsmöglichkeiten der Kirchen haben wir bis 1871 geführt' wir wenden uns jetzt Bismarck und dem werden der Bismarckschen Religion und Weltanschauung, das heißt seiner Staatsidee, zu, rückschauend wie weiterleitend, um mög­ lichst von der Eigenart seiner religiösen Haltung aus seine Kirchen­ politik verständlich zu machen.

B. Bismarck in feiner religiösen Entwicklung. 1. Bis zur Bekehrung (1846). Die Überschrift über dieses Kapitel könnte zu weit gefaßt er­ scheinen. Man könnte glauben, daß dreißig Jasste, die zugleich die entwicklungsfähigsten im Menschenleben darstellen, in kleineren R6=

16 schnitten behandelt werden müßten. Dieser Einwand, der an sich viel Berechtigtes hat, trifft für unseren Sonderfall nicht zu. Gb wir Bis­ marcks Kindheit im Elternhause, ob wir seine Schulzeit auf der plamannschen Anstalt, ob wir seinen Konfirmandenunterricht durch Schleiermacher, ob wir seine Studenten- und Referendarzeit näher an­ sehen unter dem Gesichtspunkt der religiösen Entwicklung — immer tritt uns der gleiche, der christlichen Religion gegenüber indifferente, einem feinen Pantheismus huldigende Bismarck entgegen. was ihm das Elternhaus an religiösen Werten mitgegeben hatte, war wenig und nicht tief. Die Religion des Vaters war ein optimi­ stischer Vorsehungsglaube. Die Mutter hielt sich von der Kirche fern, erbaute sich an Zschokkes „Stunden der Andacht" und suchte die Flach­ heit ihres religiösen Empfindens durch einen mystischen Okkultismus zu vertiefen. Schleiermacher wurde zwar Bismarcks Lehrer, aber Bis­ marck wurde nicht sein Schüler. Der große Theologe hat auf Bismarck keinen erkennbaren Eindruck hinterlassen. 3m Gegenteil: radikal brach Bismarck unmittelbar nach seiner Konfirmation mit allem, was ihm die christliche Erziehung noch mitgegeben hatte, mit Kirchenbesuch und Gebet. Die Schule beeindruckte ihn weder christlich noch huma­ nistisch. „Als normales Produkt staatlichen Unterrichts verließ ich Ostern 1832 die Schule als Pantheist..J'1) lauten die Eingangs­ worte zu seinen „Gedanken und Erinnerungen". Bismarcks Univer­ sitätsleben unterschied sich in nichts von dem der anderen adligen Jugend. Seinen geistigen Besitz verdankt er der deutschen Universität nicht. Kein Philosoph, kein Historiker, kein Staatsrechtslehrer darf ihn zu seinen Schülern zählen. Und dabei blühte in seiner Studien­ zeit die deutsche politische und Rechtsgeschichte, vertreten durch Dahl­ mann und Savigny und systematisch gedeutet von Hegel. Der Literatur seiner Zeit ging er aus dem Wege. Er kannte unsere Klassiker — oft zitiert er sie geistvoll und originell —, Führer zu einer Welt­ anschauung wurde ihm weder Goethe noch Schiller. Nur zwei Zeugnisse aus der entgegentretenden Fülle. Der Braut­ werbungsbrief vom Dezember 1846 gibt uns ein klares Bild von seiner gegenwärtigen religiösen Haltung wie von seiner Entwicklung bis 1846, wenn diese auch auf Grund seiner eben erlebten — nennen wir es ruhig „Erweckung" — vielleicht mit einem zu düsteren Hinter­ grund gesehen ist. Über seine Studenten- und Referendarzeit, das heißt über die Jahre 1832—1839, kann er mit folgenden wenigen Worten alles wichtige sagen: ,,... Nach einem unregelmäßig besuchten und unverstandenen Religionsunterricht hatte ich bei meiner Einsegnung durch Schleiermacher, an meinem löten Geburtstage keinen anderen x) Gedanken und Erinnerungen. S. 1.

Glauben, als einen nackten Deismus, der nicht lange ohne panthei­ stische Beimischung blieb. (Es war ungefähr um diese Seit, daß ich, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern infolge reiflicher Überlegung, aufhörte, jeden Übend, wie ich von Kindheit her gewohnt gewesen war, zu beten, weil mir das Gebet mit meiner Ansicht von dem Wesen Gottes im Widerspruch zu stehen schien, indem ich mir sagte, daß entweder Gott selbst, nach seiner Allgegenwart, Alles, also auch jeden meiner Ge­ danken und willen, hervorbringe, und so gewissermaßen durch mich zu Sich Selbst bete, oder daß, wenn mein Wille ein von dem Gottes unabhängiger sei, es eine Vermessenheit enthalte, und einen Zweifel an der Unwandelbarkeit, also auch an der Vollkommenheit des gött­ lichen Rathschlusses, wenn man glaube, durch menschlichen willen dar­ auf Einfluß zu üben. Noch nicht voll 17 Jahre alt ging ich zur Univer­ sität nach Göttingen. 3n den nächsten acht Jahren sah ich mein elter­ liches Haus selten; mein Vater ließ mich nachsichtig gewähren, meine Mutter tadelte mich aus der Ferne, wenn ich meine Studien und Berufsarbeiten vernachlässigte, wohl in der Meinung, daß sie das Übrige höherer Führung überlassen müsse. Sonst blieben mir Rath und Lehre Anderer buchstäblich fern; der Swang der Schule war ge­ fallen, und die Stimme meines Gewissens von keinem Glauben ge­ tragen, verhallte im Sturm ungezähmter Leidenschaften. So, mit kei­ nem anderen Zügel, als etwa dem der gesellschaftlich-conventionellen Rücksichten stürzte ich mich blind in das Leben hinein, gerieth, bald verführt, bald Verführer in schlechte Gesellschaften jeder Art und hielt, auch in den bewußtesten Augenblicken alle Sünden für erlaubt, sobald sie mir die Rechte Anderer, nach ihrer laxesten Auslegung nicht zu beeinträchtigen schienen, wenn mich in dieser Periode Studien, die mich der Ehrgeiz zu Seiten mit Eifer treiben ließ, oder Leere und Überdruß, die unvermeidlichen Begleiter meines Treibens, dem Ernst des Lebens und der Ewigkeit näherten, so waren es Philosophen des Alterthums, unverstandene hegelfche Schriften, und vor Allem Spinoza's anscheinend mathematische Klarheit, in denen ich Beruhi­ gung über das suchte, was menschlichem verstände nicht faßlich ist. Zu anhaltendem Nachdenken hierüber wurde ich aber erst durch die Einsamkeit gebracht, als ich nach dem Tode meiner Mutter vor sechs bis sieben Jahren nach Kniephof zog. wenn hier anfangs meine An­ sichten, über das, was sündlich sei, und in Folge dessen meine Hand­ lungsweise, sich nicht erheblich änderten, so fing doch bald die innre Stimme an, in der Einsamkeit hörbarer zu werden, und mir manches als Unrecht darzustellen, was ich früher für erlaubt gehalten hatte. Immer indeß blieb mein Streben nach Erkenntniß in den Tirkel des Verstandes gebannt, und führte mich, unter Lesung von Schriftm rote die von Strauß, Feuerbach, Bruno Bauer, nur tiefer in die Sackgasse Kars, Kanzler und Kirche.

2

18 des Zweifels. (Es stellte sich bei mir fest, baß Gott dem Menschen die Möglichkeit der (Erkenntniß versagt habe, daß es Anmaßung sei, wenn man den willen und die Pläne des Herrn der Welt zu kennen be­ haupte, daß der Mensch in Ergebenheit erwarten müsse, wie sein Schöpfer im Tode über ihn bestimmen werde, und daß uns auf Erden der Wille Gottes nicht anders kund werde, als durch das Gewissen, welches er uns als Fühlhorn durch das Dunkel der Welt mitgegeben habe, fln eine geoffenbarte Religion schien es mir unmöglich jemals Glauben zu gewinnen,' der Bibel legte ich keine beweisende Kraft bei, sie war für mich ein Buch aus Menschenhänden, dessen Lesung mir nur stets neuen Stoff zu Kritik und Zweifel gab. Zu Gott zu beten schien mir noch aus denselben Gründen widersinnig, aus denen ich es früher aufgegeben hatte. Daß ich bei diesem Glauben nicht Frieden fand, brauche ich nicht zu sagen; ich habe manche Stunde trostloser Niedergeschlagenheit mit dem Gedanken zugebracht, daß mein und anderer Menschen-asein zwecklos und unersprießlich sei, vielleicht nur ein beiläufiger Ausfluß der Schöpfung, der entsteht und vergeht, wie Staub vom Rollen der Räder; die Ewigkeit, die Auferstehung, war mir ungewiß, und doch sah ich in diesem Leben nichts, was mir der Mühe werth schien, es mit Ernst und Kraft zu erstreben ..."x).

wer auch nur ein geringes Gefühl für Bismarcks Gesamtpersön­ lichkeit hat, wird sofort einsehen, daß diese philosophischen Studien wirklich nur aus dem Augenblick für den Augenblick geboren waren und ihn für die Dauer nicht befriedigen konnten. Sein Wirklichkeits­ sinn, seine Abneigung gegen die Überschätzung des Intellekts, sein Widerwille gegen jedes Spekulieren müssen sich schon damals geregt haben. Rur so ist es zu verstehen, daß ihn die Lektüre Spinozas zwar ergriff, daß ihn die kritischen Bedenken eines Strauß, Feuerbach und Bruno Bauer zwar mitrissen, daß er aber von dem positiven, das sie boten, gänzlich unberührt blieb. (Es war dieses Philosophieren mehr ein Suchen, ein Gären und Unbefriedigtsein, ein Streben, um über sich und seine Stellung zu Gott und Welt ins Klare zu kommen. Sein Wirklichkeitssinn ist ursprünglicher und tiefer und deshalb auch kritischer. (Er sieht ein, daß er Gott nicht auf spekulativem Wege finden kann, er sucht auch im Religiösen die Erfahrung. So be­ schreibt uns der Werbebrief eine religiöse Krisis, die sich aber, weil sie so stark literarisch bedingt ist, in nichts von der damals in vielen Kreisen junger Adliger üblichen antireligiösen und antikirchlichen Stimmung unterscheidet. (Ein starker Pessimismus macht sich geltend. Byron, der Dichter des Weltschmerzes, in dessen Werken alle höhen x) Der „Werbebrief“ vom Dezember 1846 in der ursprünglichen Form, ww. XIV. 1. S. 46-47.

und Tiefen dieser Verzweiflung zum Ausdruck kommen, wird sein ständiger Begleiter. Nicht wert zu leben, sinnlos, erscheint ihm das Dasein, jede Freude endet mit einer schalen Neige. Und so rettet er sich in die weltmännische Blasiertheit -es nil admirari, zerfällt aber damit nur umsomehr mit sich und der Welt. „Ich war in der Tat schon sehr gealtert, als ich 23 Jahre zählte, jedenfalls unendlich blasierter als jetzt, und fühlte mich recht unglücklich, fand Welt und Leben schal und unersprießlich." So die Stimmung, die er im Jahre 1851, angeregt durch das Wiedersehen der Stätten, an denen er seine Jugend verlebte, seiner jungen Frau folgendermaßen beschreibt: „Nlöchte es doch Gott gefallen, mit seinem klaren und starken weine dies Gefäß zu füllen, in -em damals der Thampagner 22 jähriger Jugend nutzlos verbrauste und schale Neigen zurückließ, wo und wie mögen Isabella Loraine und Miß Rüssel jetzt leben; wie viele sind begraben, mit denen ich damals liebelte, becherte und würfelte, wie hat meine Weltanschauung doch in den 14 Jahren seitdem so viele Verwandlungen durchgemacht, von denen ich immer die gerade gegen­ wärtige für die rechte Gestaltung hielt, und wie vieles ist mir jetzt klein, was damals groß erschien, wie vieles jetzt ehrwürdig, was ich damals verspottete ... Ich begreife nicht, wie ein Mensch, der über sich nachdenkt und doch von Gott nichts weiß oder wissen will, sein Leben vor Verachtung und Langeweile tragen kann, ein Leben, das dahinfährt wie ein Strom, wie ein Schlaf, gleich wie ein Gras, das bald welk wird; wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz..." *). Studentenleben, Referendarzeit, Landjunkertätigkeit werden in diesem Zeugnis zusammengefaßt, alle verbunden durch das Wort „nutzlos". Zweifellos ist dieses Urteil zu hart; denn gerade von Bismarcks land­ wirtschaftlicher Tätigkeit wissen wir, daß er sie sehr ernst genommen hat, und daß der wirtschaftliche Aufstieg des Rniephofes sein Werk war. Aber sie war keine Tätigkeit, die ihn ausfüllte, sein ungeheurer Lebens- und Tatendrang verlangt nach einem größeren Betätigungs­ felde. Sein Leben suchte nach einer Sinngebung und Sinnerfüllung, suchte nach einer Aufgabe, die ihn ganz ausfüllte, suchte nach einem Halt, um die Tätigkeit im Kleinen sinnvoll zu machen, um an die Stelle des „nutzlos" ein wertvoll zu setzen, was er selbst zu seiner Be­ ruhigung tun Konnte, hatte er getan, — er war gescheitert. Und damit ist er reif für das Erlebnis, das seinem Leben ein neues Ziel gibt, ist reif für die gewaltige innere Umkehr, für die Erweckung, die er im Jahre 1846 im Thadden-Trieglaffschen Kreise erlebte. i) Brief vom 3. Juli 1851. ww. XIV. I. S. 229—230.

20 2. Vie Bekehrung im christlich-germanischen Ureis. AIs wir die evangelische Kirche bis 1871 behandelten, waren wir bei der Darstellung ihrer divergierenden Tendenzen schon auf die starke Bewegung des Pietismus gestoßen, hier, im christlich-germani­ schen Ureise eines Thadden-Trieglaff, von Blanckenburg u. a. tritt uns ein bezeichnendes Beispiel zu den obigen Ausführungen entgegen. Um die Ziele und Ideale dieses Zusammenschlusses, aus dem Bismarck das wertvollste für fein Leben mitnahm, in möglichster Schärfe her­ austreten zu lassen, wollen wir versuchen, ihn schon bei seinen An­ fängen aufzusuchen und seine Entstehung ganz kurz zu charakterisieren. 3m Jahre 1811 traten in Berlin Männer mit romantischer Welt­ anschauung zu einer christlich-deutschen Tischgesellschaft zusammen. Kein Franzose und kein Jude sollte Zutritt zu ihr haben. Bedeutende Männer wie Achim von Arnim, Siemens Brentano, Adam Müller, Heinrich von Kleist, Fichte, Savignp, Eichhorn, gehören diesem Kreise an. Schon diese Namen zeigen, daß die Interessen vorwiegend auf weltanschaulich-literarischem Gebiete lagen. Vas Erlebnis der Be­ freiungskriege bringt hier eine Wendung. Philosophie oder Glauben — das wird mit einem Male das große Thema, das die heimgekehrten beschäftigt, viele Überzeugte, an ihrer Spitze Thadden-Trieglaff, lesen regelmäßig im Neuen Testament, und ihr entschiedenes Sicheinsetzen für das Thristentum läßt den Glauben siegen, gibt dem Kreis ein pietistisches Aussehen. An diesen glaubensstarken jungen Leuten lassen sich aber auch die Ideale des Kreises am besten aufzeigen: keine Aus­ bildung der Individualität, sondern „Verwischung derselben zu einer engelhaften Idealität" h, Ablehnung der Philosophie und Hinwendung zur Heilsbotschaft des Evangeliums. Ihre felsenfeste Überzeugung und ihr sicherer halt war ihr Glaube, durch Christi Blut und Tod ge­ rettet zu sein. Alle anderen Dogmen treten dieser Grundüberzeugung gegenüber zurück. AIs das Leben, etwa in den Jahren 1818—1819 diese wenigen, aber mit gläubigem Enthusiasmus erfüllten Jünglinge auseinander­ treibt, da bleiben sie oder werden sie jeweilig an ihren Wirkungs­ stätten Prediger des Evangeliums. Sie machen Front gegen den herr­ schenden Rationalismus, überall in ihren Dörfern entstehen Kon« ventikel mit schwärmerischen Erweckungen auf der einen und gläu­ bigem (Quietismus auf der anderen Seite. Tiefe, ernste Frömmigkeit zeichnet sie aus und macht ihre Wirkung so intensiv. Mit einem solchen Kreise kommt Bismarck, seit 1839 Gutsherr von Kniephos, in Berührung, und dieses Zusammentreffen ist schlecht*) Friedrich Meinecke: Bismarcks Eintritt in den christlich-germanischen «reis. S. 77.

hin das entscheidende Ereignis in Bismarcks religiöser Entwicklung. 3m Jahre 1844 lernt er Moritz van Blanckenburg kennen und ist sogleich von glühender Verehrung für dessen Frau entflammt. Bei diesen beiden Menschen, ja im ganzen Thaddenschen Ureise tritt ihn« zum ersten Male etwas entgegen, was ihm bisher unbewußt schon immer gefehlt hatte, was er jetzt aber schmerzlich vermißt: ein wirk­ lich harmonisches Familienleben, das auf einen starken Glauben ge­ gründet ist. Noch macht er sich zwar lustig über die geselligen Abende, über den „aesthetischen Thee in Lardemin mit Lektüre, Gebet und Ananasbowle" *), aber er geht doch hin, er disputiert mit diesen ein­ fach gläubigen Menschen, er fordert Unterredungen über letzte Fragen von Gott und Welt geradezu heraus und mutz, wenn auch widerwillig und nie eingestanden, ihre Überlegenheit anerkennen. Und da werden neue Grundlagen gelegt für ein neues1 Leben, und es zwingt ihm das Schicksal eine Entscheidung auf, in der er, der seiner Stärke sich be­ wußte Titan, von Zweifeln, Angst und liebender Sorge gepackt und durchschüttelt wird. Vie junge Frau Blanckenburg liegt zu Tode dar­ nieder, o, wenn er ihr helfen könnte, und da ringt sich aus seinem langsam gelockerten herzen ein Stoßgebet zu Gott heraus. Bismarck lernt wieder beten! Vas Gebet bleibt zwar unerhört, aber Bismarck hat seinen persönlichen Gott wieder. Selbstherrlich wie er war, hatte er sich dem Stärkeren unterworfen in freiwilliger Ergebung. Was ihn an Byron angezogen hatte, dieses dualistisch-tragische Grundgefühl der radikalen Scheidung von Mensch und Gott, — das wird jetzt überwunden, ver Starke gab sich dem Stärkeren, dem Stärksten in gläubiger Ergebung. Germanisches Reckentum ordnet sich so dem Christentum ein und unter, und diese eigenartige Mischung ist in sei­ nem ganzen Leben lebendig geblieben, und man verschiebt das Histo­ rische Bild der Persönlichkeit Bismarcks, wenn man immer nur den einen.oder den anderen Faktor als den alle Entschlüsse tragenden anerkennen will, hier hatte Bismarck erfahren, was er mit seinem scharfen Wirklichkeitssinne schon immer geahnt hatte: die religiöse Spekulation ist nicht das Letzte, sie wird überwunden durch das große religiöse Erlebnis. Nicht durch Disputieren, so schrieb Moritz von Blanckenburg an Roon über diese ereignisreichen Tage, hat Bismarck den Weg zu seinem neuen Glauben gefunden, sondern Gott hatte ihn „geschüttelt und auf den Rücken geworfen". „3n der Hauptschlacht seines Lebens im Kampfe des Spinozismus gegen den lebendigen Glauben habe ich ihn vollständig besiegt — d. h. Gott hat sich meiner damals bedient 1843—1846 — aber erst dann kam die Sache zum Durchbruch, als ich das eigentliche Disputieren ganz aufgegeben hatte. x) Brief an feine Schwester vom 27. April 1845. WW. XIV. I. S. 34.

22 Ich bezeugte nur noch dies und das, wenn er mich dazu veranlaßte! Und wie schwer seine Natur ist, das kannst Du aus folgendem ganz charakteristischem Zuge abnehmen: Er war besiegt — er hatte sich bekehrt — er konnte es mir nicht sagen — ja, er Konnte es selbst nicht, als das Trieglaff-Lardeminer-Sterben (Tod der Frau Hen­ riette von Thadden, geb. von Gertzen am 4. Oktober 1846 in Trieglaff. Tod der Tochter Frau Marie von Blanckenburg, geb. von Thadden am 11. November 1846 in Lardemin) darüber hinging. Ja, noch mehr, er saß einen ganzen Tag bis spät abends nach dem Begräbnis bei mir allein in Lardemin mit der Absicht, es mir zu sagen und mich in meiner Trauer damit zu erfreuen. Er konnte es nicht über sich gewinnen, er ließ das Pferd satteln, ritt nach Rniephof zurück in dunkler Novembernacht und am anderen Morgen kam ein expresser (Bote) und brachte mir sein schriftliches Bekenntnis auf vielen Bogen — aber — als wenn es ihm auch jetzt noch unmöglich war, in seiner Muttersprache einfach zu sagen: „Ich bin besiegt, Lhristus ist mir zu mächtig geworden" — er schrieb einen ganz lateinischen Brief"x). Und in diesem im Erlebnis erfahrenen, persönlichen Gott sand sein herz Ruhe. Sein Leben war nun nicht mehr sinnlos, es war sinn­ voll in ein Ganzes eingegliedert. Es war auch nicht mehr einsam und liebeleer. Venn aus der Reihe dieser gläubigen Pietisten wählt er seine Frau, die ihm für seine persönliche Entwicklung und für sein religiöses Leben unendlich viel bedeutet hat. hier findet er endlich auch das Dritte, eine politische Rampfgenossenschaft, in deren Mitte sein Aufstieg als Staatsmann begann. Mas an Resten christlicher Erziehung von Elternhaus und Schule noch vorhanden war, das lodert jetzt unter der Asche wieder auf. Bis­ marck versenkt sich tief in die Bibel, die jetzt sein täglicher Begleiter wird, um gegen auftauchende Zweifel gewappnet zu sein. Der heim­ liche Streit in seiner Brust zwischen Liberalismus und Ronservativismus findet sein Ende. Vie christliche Lebenshaltung siegte, während die liberale Weltanschauung, die sich in der Lektüre der Schriften Feuerbachs, Strauß' und Bruno Bauers gezeigt hatte, entleert wurde. Seit 1846 besitzt Bismarck ein einheitliches Weltbild. Der per­ sönliche Gott ist der Angelpunkt, dem er sich völlig unterwirft. Ihm vertraut er sich an, restlos und freiwillig. Aber daneben bewahrt er sich eine ungeschmälerte Herrscherkraft und einen nie gesättigten Tatendrang, nur daß ihm jetzt alles von oben geheiligt erscheint. Ein­ fügung und Ligengewalt sind die beiden Pole, die überwölbt werden und ihre Einheit finden im lebendigen Gott. Und diese beiden Pole,

1) Brief von Moritz von Vlanckenburg-Zimmerhausen an Albrecht von Roon vom 30. August 1863 in: Die Furche. 1934. h. 1.

Einordnung und souveräne Kraft, werden zusammengehalten, finden in seinem Innern die Verbindung durch seinen unerschütterlichen Glau­ ben an die weise Leitung dieses persönlichen Gottes. Bismarck erlebte seine Erweckung in einem pietistischen Kreise, in einem abgeschlossenen und sich selbst abschließenden Konventikel, das alle rationalistischen Prediger als Baalspfaffen ablehnte, hier liegen, woraus wir noch später kommen, auch tiefe Gründe für seine Kühle gegenüber den kirchlichen Institutionen. Was machtvolle Ge­ meindeerbauung, die leider im damaligen Protestantismus selten war, ist und wie sie erheben kann, das ist ihm Zeit seines Lebens, trotz scheinbarer Annäherung an die hochkirchlichen Ideale seiner Freunde in dieser ersten Zeit, verschlossen geblieben. Bismarck hat viel und gern Luther gelesen — Luther kann man als einzigen nennen, von dessen kräftigem Stil er beeinflußt ist —, niemals findet man in seinen Äußerungen Worte aus Luthers Gemeindelied „Ein feste Burg .. Sein persönlicher Gott war ihm die Gewähr für seine eigene Un­ sterblichkeit,- vom Reich Gottes aller Gläubigen wußte er nichts. Sein stark ausgeprägtes Ichbewußtsein ließ ihn seinen Kreis sich selber suchen und konnte sich dieser selbstgewählten Gemeinschaft auch unter­ ordnen- aber nie ließ er sich zwangsmäßig, etwa durch Herkommen oder Geburt, in etwas hineinziehen. Nicht der altprotestantische Konservativismus dieser Männer, deren Weltanschauung seiner sehr ähnlich war, hatte ihn ihre Gemeinschaft suchen lassen, „sondern das Lebens- und Gottesideal dieses Kreises hatte ihn angezogen, Glaube, Liebe und Lebensdrang haben ihn hineingeführt" *). Er hatte gesucht und gefunden. Sein persönlichstes Gemütsbedürfnis nach Liebe und Hingabe und nach einem sinnvollen Einordnen in den Weltplan war befriedigt worden. Sein widerspenstiger Titanismus war niederge­ rungen und hatte dadurch halt gefunden an dem Einzigen, was stärker war. So führt seine Erweckung auch nicht zur Entpersön­ lichung, eine Gefahr, die in der quietistischen Haltung vieler seiner Standesgenossen in Erscheinung trat, sondern aus der Erweckung erst wird seine Persönlichkeit, deren Wurzeln jetzt in eine ganz andere Tiefe hineinragen und dadurch halt gewinnen für seine große Lebens­ aufgabe.

3. vom Jahre 1846 bis zum Jahre 1871. In einer gewaltigen Erschütterung hatte Bismarck seinen Gott gefunden. Seine religiöse Entwicklung war von einer gütigen Vor­ sehung bis zu diesem vamaskuserlebnis geführt worden. Wenn wir

h Friedrich Meinecke: Bismarcks Eintritt in den christlich-germanischen Kreis. S. 91.

24 jetzt seine Gesamtentwicklung noch bis zum Jahre 1871 führen, dann deshalb, weil in diesem Zeitraum nochmals ein entscheidender Wende­ punkt liegt: die Bekehrung von der Staatsideologie der Konservativen vom Schlage eines Stahl und Gerlach zur Realpolitik, die aber nicht kleinlich auf Erreichung des Nächstmöglichen eingestellt ist, sondern die ein metaphysischer Faktor beherrscht: der Gedanke vom Reich. Vieser Gedanke aber war wieder von seinem Christentum her unter­ baut und getragen, so daß wir in diesen andeuten-en Thesen wieder die schon genannte große Polarität haben, die für Bismarcks ge­ samtes Schaffen so charakteristisch ist.

Vas Ergebnis der religiösen Entwicklung Bismarcks ist, daß er sich durchgerungen hat zu dem Glauben an einen persönlichen väter­ lichen Gott und an die individuelle Unsterblichkeit und damit zu einem ewigen sinnvollen Zusammenhang, in dem die Einzelseele steht. Die Realitäten der Welt, mit denen der Mensch sich auseinan-erzusetzen hat, bleiben dieselben, erscheinen nur unter einem anderen Gesichts­ winkel. Und auch Bismarck bleibt in seinem starken Lebensgefühl der alte, sieht es als Geschenk Gottes an, als Pfund, mit dem er wuchern muß. Und so entspringt seiner neugefundenen religiösen Über­ zeugung nur ein gesteigerter Rktivismus im Kleinen, wie im Großen.

Vas zeigt sich in seinem Briefwechsel mit seiner Braut ganz deut­ lich. 3m Gegensatz zu ihr legt er großen wert auf den Jakobusbrief mit seiner Rechtfertigung auch durch Taten. Ganz klar gibt er seiner Braut zu erkennen, daß sie das Wesen des Christentums mit ihrem passiven Warten nicht erfaßt hat, wenn er schreibt: „... denn ich glaube, daß es in direktem Widerspruch mit demselben steht und letztres da verdunkelt ist, wo jener Russpruch wahr werden kann. Das kommt wieder auf den Streit über Glauben und Werke hinaus. Ein Glaube, der dem Gläubigen von seinen irdischen Brüdern sich abzusondern gestattet, so daß er sich mit einer vermeinten isolirten Beziehung zu dem Herrn allein in reiner Beschaulichkeit genügen läßt, ist ein todter Glaube, was ich, wenn ich nicht irre in einem früheren Briefe als (Quietismus (von quies, die Ruhe) bezeichnete, ein meines Erachtens irriger weg, auf den der Pietismus leicht und häufig führt, beson­ ders bei Frauen. Ich meine damit, mit dem Rbsondern durchaus nicht den geistigen Hochmuth, der sich heiliger dünkt als andere,- sondern ich möchte sagen: das stillsitzende harren auf den Tag des Herrn, in Glaube und Hoffnung, aber ohne das, was mir die rechte Liebe scheint" i). hier Klingen Gedanken an, die wir vierzig Jahre später wieder in Bismarcks Wunde, diesmal als Sprecher im Reichstage finden. Ich denke an die großzügige, stark angefeindete soziale Gesetz-

Brief vom 28. Februar 1847. ww. XIV. I. S. 70—71.

gebung. Alle seine hierher gehörigen Reden aus den achtziger Jahren bringen diesen Gedanken, daß der Christ unter seinen Mitchristen im Sinne des spezifisch christlichen „Liebe -einen Nächsten" sich betätigen müsse, klar und einfach zum Ausdruck. (Es ist nicht die Ideologie vom christlichen Staate, die aus Bismarck spricht, wenn er die soziale Ge­ setzgebung christlich begründet, sondern es ist dieses ganz selbstver­ ständliche Tatchristentum, das nicht untätig sein kann, sondern das in der Welt steht, um zu Kämpfen und um dem leidenden Bruder zu helfen. Wie leicht wäre für eine Persönlichkeit wie Bismarck von hier aus der Weg zur kirchlichen Gemeinschaft gewesen! Aber die damalige Rirche war nicht dazu angetan, Bismarck hier helfend weiter weisen zu können. Venn dogmatisch steht er in dieser Zeit ganz auf der Seite der orthodoxen Altlutheraner, der großen Wortverkünder. Die Berliner Prediger Goßner, Lüchsel und Rnak, welch letzterer auf der Ranzel sogar das ptolemäische Weltbild der Bibel wieder aufrichten wollte, sind ihm am liebsten, und wenn er ihnen auch nicht überall hin folgen kann, so schätzt er doch ihren Bekenntniseifer, fast möchte man sagen, ihren Fanatismus, hoch. (Er versucht, getrieben durch die Liebe zu seiner Frau und durch eigenen Drang, in diesen ersten Jahren nach seiner Erweckung ein innigeres Verhältnis zur Rirche und zu ihren Vertretern zu gewinnen, aber er scheitert, muß scheitern, weil ihm nur Prediger, nicht aber die Gemeinde, entgegentreten. So muß er seinen Kampf mit Gott allein Kämpfen, und wenn er zum Abend­ mahl geht nach langer Prüfung, dann vermag ihn nicht die mit­ genießende Gemeinde zu erheben, sondern er sucht seine Zuflucht zu einem stillen Gebet am Altar. Und wie er dogmatisch zu seinen Standesgenossen gehören wollte, so auch politisch. (Es war das konservative Ideal des christlichen Staates, das er im Anschluß an Stahl und Gerlach bei seinem ersten politischen Auftreten vertritt. Nach der Anschauung der Brüder Ger­ lach ist der Staat eine göttliche Einrichtung. Die Idee der „christlichen Dbrigkeit" ist das Fundament der gesamten konservativen Anschau­ ungen. In klassischer Form hat Ludwig von Gerlach diese Gedanken in der evangelischen Rirchenzeitung zum Ausdruck gebracht. (Es heißt hier in einem Aufsatz „Die Grundzüge der Lehre -er heiligen Schrift von der Dbrigkeit": „Die Gbrigkeiten sind Abgesandte Gottes, seine Beamte, sie haben das Schwert von ihm empfangen und sind von ihm beauftragt, sein heiliges Gesetz, soweit von Menschen überhaupt und von jeder Dbrigkeit nach dem besonderen Umfange ihrer Macht und ihres Rechts geschehen kann, zu vollstrecken. Durch diese Lehre wird zuerst der wahre Grund der obrigkeitlichen Gewalt nachgewiesen und festgestellt,' diese wird von dem hergeleitet, von dem sie allein

26 Herkommen kann, von Gott, dem alle Gewalt gehört im Himmel und auf Erden. ... Kein blotzer Menschenwille reicht aus, Menschen, die nach Gottes Ebenbild geschaffen sind, zu Untertanen anderer Men­ schen zu machen, und das was blotzer Menschenwille heute baut, darf und wird blotzer Menschenwille heute wieder zerstören.... Das Evan­ gelium lehrt uns in den Gbrigkeiten Gottes Diener erkennen, denen er einen Teil seiner Majestät und sein Schwert der Gerechtigkeit und des Geistes anvertraut, damit sie den schwachen in die Endlichkeit ver­ lorenen Menschen das Bild eines unsichtbaren Mesens, d. i. seiner einigenden Kraft und Gottheit vor Augen stellen und unter dem sündigen Geschlecht soweit es Menschen vermögen, handhaben sollen, zur Rache über die Ubelthäter und zum Lobe der Frommen"x). Fassen wir diese eben angeführten Sätze systematisch, so würde folgende Gliederung des Staates herauskommen: Vie Familie ist die Grundlage -es Staates. Neben ihr steht der ständische Aufbau, der mit dem Grundbesitz eng verknüpft ist. Auf beiden ruhend tritt der christliche Staat in Erscheinung in seiner christlichen Gbrigkeit. Sie verfügt über die richtende Gewalt und spricht im Namen Gottes Recht. Der Staat als historisch gegebene Größe ist aber — und hier erreichen wir den Gipfel des Gerlachschen Aufbaues — nur ein Teil des König­ reiches Gottes. Damit ist gefordert, -atz es nur eine Politik geben kann, die innere nämlich, die Solidarität der religiös und politisch antirevolutionären Interessen. Die Vorkämpferin dieser Politik ist die Kirche, die ebenso wie das eine Königreich Gottes auch nur eine sein kann. Gerlach nähert sich hier fast der Auffassung des Katho­ lizismus von der una sancta ecclesia und vom Verhältnis von Kirche und Staat. Ungehemmt, ja gefördert vom Staat mutz sie sich nach eigenen Gesetzen entfalten können- geschützt und gestützt vom Staate, aber frei vom Staat. Die Kirche mutz vielmehr dem Staate den Geist leihen, um das Endziel zu erreichen: Die Durchsetzung des Willens Gottes auf Erden, das Reich Gottes. Sobald sich in allen Staaten diese konservativ-patriarchalisch-christliche Grundlage durchgesetzt hat, ist an der Realisierung dieses Zieles kein Zweifel mehr. Aus dieser Stimmung entspringt Bismarcks große Rede im ver­ einigten Landtage vom 15. Juni 1847, in der er für die religiöse, spe­ zifisch christliche Grundlage des Staates eintritt: „... Als Gottes Willen kann ich aber nur erkennen, was in den christlichen Evange­ lien offenbart worden ist, und ich glaube in meinem Rechte zu sein, wenn ich einen solchen Staat einen christlichen nenne, welcher sich die Aufgabe gestellt hat, die Lehre des Ehristentums zu realisieren, zu

*) Evangelische Kirchenzeitung, Banb VHI. 1831. S. 1238. Zitiert nach £. v. Keyserling: Studien zu den Lntwicklungsiahren der Brüder Gerlach. S. 112—113.

27 verwirklichen. ... Erkennt man die religiöse Grundlage des Staates überhaupt an, so, glaube ich, kann diese Grundlage bei uns nur das Ehristentum sein. Entziehen wir diese Grundlage dem Staate, so be­ halten wir als Staat nichts als ein zufälliges Aggregat von Rechten, eine Rrt Bollwerk gegen den Krieg aller gegen alle, welchen die ältere Philosophie aufgestellt hat. Seine Gesetzgebung wird sich dann nicht mehr aus dem Urquell der ewigen Wahrheit regenerieren, sondern aus den vagen und wandelbaren Begriffen von Humanität, wie sie sich in den Köpfen derjenigen, die gerade an der Spitze stehen, ge­ stalten. Wie man in solchen Staaten den Ideen z. B. der Kommunisten über die Immoralität bes Eigentums, über den hohen sittlichen Werl des Diebstahls als eines Versuchs, die angeborenen Rechte der Men­ schen wiederherzustellen, das Recht sich geltend zu machen, bestreiten will, wenn sie dazu die Kraft in sich fühlen, ist mir nicht Mar; denn auch diese Ideen werden von den Trägern für human gehalten, und zwar als die rechte Blüte der Humanität angesehen. Deshalb, meine Herren, schmälern wir dem Volke nicht sein Ehristentum, indem wir ihm zeigen, daß es für seine Gesetzgeber nicht erforderlich sei; nehmen wir ihm nicht den Glauben, daß unsere Gesetzgebung aus der (Quelle des Christentums schöpfe und daß der Staat die Realisierung des Christentums bezwecke, wenn er auch diesen Zweck nicht immer er­ reicht!"^). Das sind Formulierungen, man ^ch aus Gerlachs Munde hören konnte. „Daß der Staat die Realisierung des Christentums be­ zwecke ..." ist die Grundthese, die ganz den Anschauungen seiner junkerlichen Parteigenossen entsprach. Und doch spürt man schon in dieser Rede die Pranke des Löwen. So deutlich sie gewiß Bismarcks Stellung wiedergibt, so darf sie doch nicht allzu wörtlich gepreßt und gedeutet werden. Das Temperament des Polemikers und die Wucht der Lekennerschaft hat die vielen scharfen Angriffe gegen die liberal-humanistischen Anschauungen hervorgerufen, die im ruhigen Gespräch wohl nicht so ausgefallen wären. Und wichtiger noch die Fortsetzung des oben zitierten Satzes: „... wenn er auch diesen Zweck nicht immer erreicht". Diese skeptische Betrachtung der doktrinären ersten Behauptung beweist, wie schon damals der Wirklichkeitssinn des großen Politikers wach war. Bismarck hatte sich wohl den Wort­ schatz seiner Freunde angeeignet, hatte ihn aber mit anderem Inhalt gefüllt, von vornherein steht er anders zu den innen- und außen­ politischen Problemen. Und diese Eigenentwicklung wird beschleunigt durch das Revolutionsjahr von 1848. hier zerbrachen die Ideale seiner h Rede im ersten vereinigten Landtag vom 15. Juni 1847. WID. X.

28

Freunde an der harten geschichtlichen Notwendigkeit,- Idee und Wirk­ lichkeit gerieten in ein Spannungsverhältnis, das zur Entscheidung zwang. Vie Krisis zeigt sich äußerlich in dem Weinkrampf, mit dem Bismarck seine Rede gegen die Dankadresse der Stände vom 2. April 1848 enden muß1). Und jetzt erwacht das politische Genie Bismarcks. Nicht wie seine Gesinnungsgenossen überlebten Ideen nachtrauernd, zieht er sich resigniert zurück, sondern jetzt wird Bismarck der große Realpolitiker. Sein Wirklichkeitssinn ringt sich durch und in tapferer Konsequenz schreibt er in einem Zeitungsartikel „Rus der Rltmark", der kurz nach diesem Erlebnis erschienen ist: „wir leben in der Zeit der materiellen Interessen"2). Damit hat Bismarck einen neuen Maß­ stab zur Beurteilung gefunden. Vas Machtprinzip nimmt jetzt die erste Stelle in seinem Denken ein. Ls ist selbstverständlich, daß mit der Anwendung dieses neuen Maßstabes bei der Beurteilung politischer Ereignisse, für deren Un­ abänderlichkeit und Notwendigkeit seine Freunde kein Verständnis hatten, die Bindung mit dem alten konservativen Kreise lockerer werden muß. Der Briefwechsel mit Leopold von Gerlach ist ein klares Zeugnis dafür, wie aus der Freundschaft langsam Spannungen sich ergeben, die zu Anfeindungen und endlich zum Abbruch des Brief­ wechsels führen. Sehen wir hier ab von dem Streit um die An­ erkennung des „revolutionären" Kaiserreiches Frankreich und be­ schränken wir uns auf die Differenzen, die anläßlich des badischen Kirchenkonfliktes zum Ausbruch kamen.

von seinem persönlichen Glaubensleben her betrachtet Bismarck seit Beginn seiner Tätigkeit als Bundesgesandter die Wirklichkeit und bemüht sich, Widerstände und Mittel und Wege, um sie zu über­ winden, als von Gott geschaffene Größen in seine religiöse Bejahung der Wirklichkeit einzubeziehen. Daraus ergibt sich ein bei Bismarck ganz stark ausgeprägter Vorsehungsglaube. Der neue Glaube durch­ flutet jetzt alle ihn umgebenden Verhältnisse und all sein Tun und Denken. So, wie die Verhältnisse jetzt liegen, hat Gott sie geordnet und gewollt. Und unsere Aufgabe ist es, damit fertig zu werden. Damit ist auch die Staatsgewalt von Gott geheiligt. Vie Aktivität des politisch verantwortlichen ist nicht gehemmt wie bei den roman­ tischen Konservativen — „Vas Deutsche Reich besteht! Wir werden es nicht ändern, niemand wird es so leicht ändern!" sagte resignierend der konservative Führer von Kleist-Retzow — sondern ist geheiligt, weil sie Schöpfung, weil sie Realität ist, auch wenn sie morsches Be­ stehendes zerbricht. 1) Gedanken und Erinnerungen. Bb. I. S. 50. 2) Ebenda Bb. I. S. 52. vgl. Bismarck-Zahrbuch VI. S. 10 ff.

von diesem realpolitischen Denken her mutzte Bismarck im ba­ dischen Kirchenkonflikt von 1854 eine Auflehnung gegen die Gott gesetzte Realität der Staatsautorität sehen, mutzte er zu einer anderen Beurteilung der Verhältnisse von Staat und Kirche kommen als der halbkatholische Ludwig von Gerlach. Grundsätzlich lätzt sich Bismarck darüber in einem Schreiben an Leopold von Gerlach vom 20. Januar 1854 aus: „Ich kann, um mit Freudigkeit dem Könige zu dienen, das Bewußtsein eines innigen und vertrauensvollen Zusammenhanges mit denen nicht entbehren, deren Kampfgenosse ich nicht nur in bösen Zeiten war, die mir abgesehen davon und außerhalb der politischen Bühne persönlich teuer sind, und von denen mich wohl eine Differenz über die Richtigkeit der Mittel in konkreten Fällen, aber niemals ein Zwiespalt über die gemeinsamen Grundlagen und Ziele des han­ delns trennen kann. Ich will nicht bestreiten, daß ich letztere in der Verdunklung der Leidenschaftlichkeit oft genug aus dem Rüge ver­ liere, wenn ich sie auch täglich mit den Hülfsmitteln des Gebetes und der Ergebung in die Führung des Herrn, der mich auf diese Stelle gesetzt hat, wieder zu gewinnen und zu bewahren suche, und eine Meinungsverschiedenheit mit Ihrem Bruder, auf den als sicheren Führer zu sehen die Erfahrung mich gelehrt hat, veranlaßt mich zu ernstester Prüfung, ob die Richtung, in der ich „meines Rmtes warte", Gott oder nur Menschen diene. 3u einer der schwierigsten Pflichten meines Rmtes rechne ich den unablässigen Kampf, der im Dienste des Königs gerade an dieser Stelle gegen die ecclesia militans der Katho­ liken zu führen ist. Ich wollte, daß solche geistige und christliche Streitkräfte, wie die Ihres Bruders, auf unserer Seite ständen, nicht im Kampf gegen das apostolische Fundament der katholischen Kirche, aber gegen die Befestigungen und Rngriffsmittel, mit welchen das Gebäude zum Dienste menschlichen Ehrgeizes und zur Verfolgung des reinen Evangeliums verunstaltet worden. Es ist nicht ein christliches Bekenntniß, sondern ein heuchlerischer, götzendienerischer Papismus voll Hatz und Hinterlist, der hier im practischen Leben von den Cabinetten der Fürsten und ihrer Minister bis in die bettfedrigen My­ sterien des Ehestandes hinab einen unversöhnlichen, mit den infamsten Waffen geführten Kampf gegen die protestantischen Regirungen und besonders Preußen, als die weltlichen Bollwerke des Evangeliums, unterhält. 3n der Stadt hier, in der Bundesversammlung, an den umliegenden Höfen ist Katholik und Feind Preußens gleichbedeutend, mögen sie ihren haß gegen uns schwarz-gelb, französisch oder demo­ kratisch anstreichen oder an einer Vereinigung der beiden ersten Elemente arbeiten. Und doch sind wir gerechter, d. h. nachgiebiger gegen die Römische Kirche gewesen als irgend ein katholischer Staat. Vie badische Regirung ist eine elende Bürokratie und hat die einzig

30 haltbare Position gegen den Bischof, die des ebenso exclusiven Pro­ testantismus, nicht einzunehmen gewagt, ist auch zu schwach dazu,aber so lange mir mein Bekenntnis höher steht, als meine politische Ansicht, glaube ich auch diese mattherzigen Bekenner des Evange­ liums gegen den gefährlichern Feind als Mitstreiter ansehen zu müssen, der mit seinen anmaßlichen Menschensatzungen die Offen­ barung Gottes fälscht und die Übgötterei als Grundlage weltlicher Herrschaft pflegt. Ich kann nicht läugnen, daß die erste Lesung der Rundschau vom 4.(1.1854) mich erbittert hat. Ist die Aufhetzung der Soldaten in den Kasernen durch Flugblätter, der Lauern von den Ränzeln herab wirklich die Sprache des Chrysostomus und Ambrosius oder gar der Apostel? haben diese je mit der weltlichen Obrigkeit in der weise gehadert, und gleich Hecker und Struve erklärt, daß Gesetze unverbindlich seien für den, welcher sie für ungerecht hält? heißen die apostolischen Worte: Gott mehr gehorchen als Menschen, ebenso viel wie: dem Bischof mehr gehorchen als dem Großherzog, und stehen die Rechte Gottes und die Freiheit seiner Rirche wirklich nothwendig in dem, was der Bischof unter Aufkündigung des Unter­ thanenverbandes dem Großherzog abtrotzen will? Das alles halte ich aus der innersten Überzeugung meines Glaubens für falsch, wie die Unterschiebung der hiesigen Bischöfe als „Gesalbte des Herrn" und „Nachfolger der Apostel" oder der ehrgeizigen Priester als „Schuh­ wächter der Ehre der unbefleckten Braut", oder die Affectation eines Eqprianischen Märtyrertums in dem erzbischöflichen Pallast von Frei­ bürg" 1). Der politische Katholizismus als Gegner Preußens, das ist das Neue, was er in Frankfurt zugelernt hat. Nicht „das apostolische Fundament der katholischen Rirche" ist der Feind, sondern die „ecclesia militans", der politische Katholizismus, dessen Fraktion ihm in Frankfurt entgegentrat. Die katholische Einheitsfront von Österreich, Frankreich und der Demokratie gegenüber dem protestan­ tischen Preußen beunruhigte ihn sehr, und wir spüren seine Erregung darüber, wenn er am 5. April 1856 schreibt: „Dazu kommt ferner der politische Ratholicismus, welcher überall auf protestantischem Ge­ biete die Entwicklung des vulgären Liberalismus in Staat und Rirche aus pessimistischer Berechnung mit günstigen Augen betrachtet,- die Demokratie ist ihm schon unbehaglicher als die liberale Jnanition, noch viel unlieber aber ist ihm der straffe Protestantismus mit seinem Inhalt an positivem Glauben und seiner konservativen, die evange­ lischen Regenten stützenden Kraft"2). Er selbst fühlt sich als Werkzeug Gottes, auf dessen Schritt in der Geschichte er lauscht und dessen Gewandsaum er zu erfassen *) rotö. XIV, I. S. 340—341.

8) roro.XIV,!. S. 438.

trachtet. Sui generis als Politiker muß er auch eigene, scheinbar seinem Christentum widersprechende Wege gehen. IHit protestantischem Freimut lehnt er jedes aus seiner Seele Knien ab, fühlt er sich nur seinem Gott zutiefst verantwortlich. Religion und Christentum wirken sich aus als sittliche Pflicht zu praktischer Tat und zu verantwor­ tungsfreudigem handeln, der überkommene romantisch-pietistische Glaube an das Gottesgnadentum als kampfbereites sich Einsetzen für seinen obersten Lehnsherren. Bismarcks Wirken in dieser Welt war immer geknüpft an seinen starken Gottesglauben, und dieses Inein­ ander, das den christlichen Staatsmann ausmacht, gibt ihm die Kraft zu seiner politischen Tätigkeit. Und so steht er beim Eintritt in den großen innerpolitischen Machtkampf zwischen „Priester und König" vor uns: einsam, gewaltig, von innerster Glaubenszuversicht, aber kühl gegen die Institutionen der Kirche, seinem ihm von Gottesgnaden gesetzten König getreu, groß im haß wie in der Liebe, kein anderes Urteil über sich anerkennend als das Wort Gottes und die darin verheißene Vergebung der Sünden durch Christus. Damit haben wir Bismarcks religiöse, kirchliche und politische Entwicklung bis etwa zum Jahre 1871 geführt, wobei zuzugeben ist. daß dieses Jahr für uns nur methodisch einen Einschnitt in Bismarcks Entwicklung bedeutet. Der Staat ist ihm zur Glaubenssache geworden, einmal, wie schon gezeigt, wegen seiner monarchischen Spitze, der Bis­ marck in Vasallentreue ergeben war, und die ihm die Einheit und Totalität des Staates gewährleistete. Dann aber mehr noch, weil er­ den Staatswillen in sich als Gottes Geschenk wertete und sich von Gott an diesen Posten berufen fühlte. Seine Person verwächst ganz mit dem Staate. Jede Schmach des Staates ist feine persönliche Schmach und jeder Erfolg des Staates ist fein Erfolg. Machtvoll bekennt er sich zur Reichseinheit, als er 1867 im Norddeutschen Bundestage aus­ führte: Woher kam die Zerrüttung des Deutschen Reiches? „vom Abfall der Welfen und dem Sieg der Ultramontanen!"x) Die Welfen, die großen Kolonisatoren des deutschen Dstens, sind ihm Verräter an der Staatsidee, die nur Totalität kennt, sind Verräter am Reichs­ gedanken. Weil aber Bismarcks Machtwille ganz vom Glauben an den Dienst am Staate getragen ist, weil er religiös begründet ist, ist er völlig frei von kleinlichem Ehrgeiz. Reformatorisch tätiges Chri­ stentum, das zur Verantwortung bereit ist, ist die Grundlage seines Wirkens. Die Einheit mit seinem Gott ist die Voraussetzung jedes Entschlusses. Damit verbindet sich eine gewisse Kühle gegenüber der weltlichen Erscheinungsform des Evangeliums, der Kirche, eine Kühle, x) Rede vom 12. März 1867 im Reichstag des Norddeutschen Bundes^ 1DW.X. S. 333.

32 die, wie die wenigen angeführten Zeugnisse schon zeigten, sich zum haß steigern konnte, wenn die kirchliche Situation sich seinem Staats­ ideal widersetzte. Wir trennen hierbei also sehr scharf Bismarcks Stel­ lung zur Religion und Bismarcks Stellung zur Kirche, wenn beides auch wieder eng auf einander bezogen ist. Bismarck war Christ, aber kein Kirchenchrist. Kirchliche Anschauung und Bismarcks Politik konn­ ten wohl Gegensätze sein, Bismarcks Christentum und Bismarcks Politik deckten sich fast immer. Und so halte ich diese Scheidung von Religion und Kirche bei Bismarck in der doppelten, positiven wie negativen Folgerung für notwendig, wie sich im folgenden Teil bei der Darstellung des Kulturkampfes noch genauer zeigen wird.

III. Die klrchenpolitischen Auseinandersetzungen im Kulturkampf. (1871-11879] 1887) Rlle die Mächte, die am Kampfe teilnahmen, haben wir damit in ihrer Entwicklung und ihren Zielen vor uns erstehen lassen. Und dabei ist deutlich geworden, daß der ganze Kampf eine innere Rot­ wendigkeit hatte, daß er im letzten weltanschaulich bedingt war. Ein doppelter Gegensatz scheidet die Parteien und treibt sie gegeneinander. Es ist dies einmal die weltanschauliche Kluft Protestantismus — Ka­ tholizismus, der Protestantismus als Verfechter des Fortschritts, der Katholizismus als Vertreter der Restauration. Und es ist zum anderen der politische Zwiespalt zwischen den preutzisch-kleindeutsch Gesonnenen und den österreichisch-großdeutsch Eingestellten. Vas Jahr 1866 hatte die Ideale der Großdeutschen wie die Ideale der Ultramontanen zerbrochen. Bekannt und kennzeichnend ist das Wort des Kardinalstaatssekretärs Antonelli: „Vie Welt stürzt zusammen", als er die Nachricht vom Ausgang der Schlacht bei König, grätz erhielt. Und selbst einer der besten Preußen unter den Katho­ liken hatte schon bei Beginn des preußisch-österreichischen Krieges sorgenvoll geschrieben: „Wird Oesterreich besiegt, so stürzt das noch aufrechtstehende Stück der historischen Welt zusammen", und resig­ nierend urteilte er nach dem preußischen Siege: „(Es kostet sehr viel Mühe, sich in solche Ratschlüsse Gottes zu fügen. Alles stürzt ein, was zu meinen Idealen gehört." Und so ist Königgrätz — zumindest ideell — die Grundlage der Zentrumspartei, wie es der spätere Zentrums­ führer windthorst einmal ausdrückte. Das Zentrum als Partei ist dir Gestalt geworden« „großdeutsch-katholische Reaktion gegen das Werk

33 Bismarcks, gegen die kleindeutsch-preußische Lösung der deutschen Frage"1). Schien jetzt doch mit dem neuen Reich das Erbe Luthers erfüllt, schien es doch, als ob der Schmalkaldener Bund über Karl V. gesiegt hätte. (Ein evangelisches Kaisertum bestand, mit allen Fasern ver­ wurzelt nach Kultur und Herkommen im protestantischen Nordosten, und dieses Reich war errichtet durch einen Sieg über die beiden katho­ lischen Vormächte Europas, über Österreich und Frankreich. Und weiter: Vie Katholiken Deutschlands, die sich im alten Deut­ schen Bunde in einer zahlenmäßigen Gleichheit mit dm Protestanten befunden hatten, waren int neuen Deutschen Reich zur Rolle einer NNnderheit herabgesunken — waren doch jetzt 62,5 Prozent aller Deutschen protestantisch. Venn nur katholische Gebietsteile waren durch das Ausscheiden Dsterreichs aus dem deutschen verbände abge­ trennt worden. So trat zu der dynastischen Verärgerung auch noch die RUnderheitenangst. Und endlich: Vie Rufrichtung des Deutschen Reiches beschleunigte und begünstigte die Bildung des italienischen Nationalstaates. Dieses neue Italien konnte sich aber nur durchsetzen auf Kosten der teuersten Institution der Katholiken, des unabhängigen Kirchenstaates. Wäh­ rend die nationale und liberale Mehrheit dem neuen Staate mit Sym­ pathie begegnet, wird er von den Katholiken Deutschlands verflucht als subapenniner Räuberstaat, und wurde so der Anlaß zur Scheidung der Geister. Ruf der anderen Seite stand die überwältigend große national­ liberale Partei, die begeistert, über manches Trennende hinweg, dem Manne, der ihre Träume erfüllt hatte, zujubelte. Vas Gebäude stand, jetzt sollte es auch mit neuem Geiste erfüllt werden. Und so forderte man die Nationalisierung des katholischen Klerus und des katholischen Volksteiles, so versuchte man, ihn von Rom, der auswärtigen Macht, auch geistig loszureißen und zum deutschen Staatsgedanken zu führen. Diesen Staatsgedanken verkörperte der Kanzler, ganz durchdrungen von seiner Reichsidee, beseelt vom Willen zum unabhängigen Macht­ staat und erfüllt von einem ganz ursprünglichen protestantentum. So erhält der ganze Kampf etwas Schicksalmäßiges. 3m gleichen Jahre, als die deutsche Einheit gegründet wurde, fand die Entwick­ lung der katholischen Kirche im Vatikanum ihren Abschluß. Beide Parteien haben damit ihr letztes Ziel erreicht und festgelegt und müssen es durchsetzen gegen die Widerstände des anderen. Mit der Not­ wendigkeit zweier entgegengesetzter Naturgewalten mußten Kirche und Staat aufeinanderprallen. x) Hermann Ducken: Rudolf von Bennigsen. Bb. I. S. 215. Kars, Kanzler und Xirche.

34 Dabei war der schnelle Ausbruch -es Kampfes überraschend. Vas Vatikanum an sich ist nicht ausschlaggebend. Nur in seinen negativen Folgen, in der flammenden Abwehr, die es durch die Liberalen erfuhr, und in der Bildung der altkatholischen Bewegung, beschleunigte es das Nusbrechen des Zwistes, -er, weil er auf einer verschiedenen Welt­ anschauung beruhte, doch einmal hätte ausbrechen müssen, wie uns viele Nussprüche Bismarcks zeigen, hütete er sich in „innerstaatliche" Verhältnisse der Kirche einzugreifen. Er beschränkte sich lediglich dar­ auf, den deutschen Bischöfen, ganz gleich wie sie sich bei der Nbstimmung über das Unsehlbarkeitsdogma verhielten, seinen Schutz zu­ zusichern. Nein, die Gegensätze waren ideell gegeben. Leide Wächte maßen einander. Vie feindselige Stimmung wurde verstärkt durch die Bil­ dung des Zentrums. Die katholische Kirche betrat damit die politische Arena, betrat sie mit einer Ergebenheitsadresse an den Kaiser, die die Politik des neuen Reiches einseitig festlegen wollte. Sie forderte eine Intervention in Italien und damit eine Erfüllung von inner­ politischen wünschen der katholischen Untertanen, die dem Verlangen und Drängen -er nationalen Mehrheit entgegengesetzt war. So war die Bildung -es Zentrums eine Kriegserklärung. Sie war es um so mehr, als diese neu gebildete Partei sich zur Opposition gegen die zentralistischen Tendenzen bekannte, als sie das Sammel­ becken aller partikularistischen Kräfte wurde und der welfenführer windthorst maßgebenden Einfluß in ihr gewann. Für Bismarck war das Zentrum das einzige Hemmnis im Parlament, das ihm beim Aus­ bau seines Werkes nur Schwierigkeiten zu machen schien. Vie Fort­ schrittspartei war seit 1866 erledigt. Vie Nationalliberalen waren seine Partei und durften auf Stärkung rechnen. Vie Freikonserva­ tiven hatten sich ihm untergeordnet, und mit den Konservativen ver­ band ihn doch eine alte Treue. So war tatsächlich der einzige Gegner das Zentrum, straff organisiert, gut geführt und ein Mittelpunkt aller partikularistischen Elemente. Aus dieser Fraktion der katho­ lischen Minderheit witterte er -en Zerfall der Reichseinheit und dar­ über hinaus die Gefahr einer außenpolitischen katholischen Koalition gegen Deutschland. Damit war die Bildung -es Zentrums der Anlaß zum Kampfe. 3m Parlament konnte Bismarck den Gegner nicht vernichten. So ließ er den „Leviathan aus seinem Element auf das Trockene kommen", und glaubte, diese neue Partei, -er er Internationalismus und Staatsfeindlichkeit vorwirft, auf dem Gebiete der Gesetzgebung treffen zu können. Der versuch, einen Konflikt zwischen dem Vatikan und dem Zentrum herbeizuführen und dadurch die Partei durch den Papst desavouieren zu lassen, mißlingt, und so erfolgt am 8. Juli

35 1871 die Aufhebung der katholischen Abteilung im preußischen Kul­ tusministerium, das erste große Flammenzeichen. Noch im gleichen Jahre, am 10. Dezember 1871, eröffnet der Kanzelparagraph die erste gesetzgeberische Handlung, den eigentlichen Kulturkampf. Der Paragraph soll jede kirchlich-politische Agitation verhindern und jeden Mißbrauch der Predigt für politische Zwecke streng ahnden. Und nun folgt ein Reichsgesetz dem anderen. Sollte man diejenigen Elemente, die ihre universalistischen Ideale höher stellten als ihre nationalen nicht nationalisieren können? War es nicht möglich, alle diejenigen Institutionen, die den Menschen bilden und die teilweise dem neuen Reich so kühl und ablehnend gegenüber standen, innerlich mit einem neuen Geiste zu füllen, der dem Bedürfnis und dem Willen der Nation mehr entsprach? Aus diesen Überlegungen entstand im Februar 1872 das neue Schulgesetz, das die geistliche Schulinspektion durch die staat­ liche ersetzte. Deutsch- oder regierungsfeindliche geistliche Schulinspek­ toren können jetzt jederzeit durch Laien ersetzt werden. Im innerkirch­ lichen Streit, der durch das Vatikanum hervorgerufen ist, und zur Ab­ splitterung der altkatholischen Kirche führte, stellt sich der Staat auf die Seite der letzteren und hofft durch diesen Druck schneller zum Ziele zu gelangen. Das Jesuitengesetz vom 4. Juli 1872 verwies den „Grden der Gesellschaft Jesu und die ihm verwandten Grden und ordensähnlichen Kongregationen" aus dem Gebiet des Deutschen Reiches. Dieses Gesetz erhielt noch eine Verschärfung durch das Ex­ patriierungsgesetz vom 4. Mai 1874, das die Befugnisse der Länder bei Widersetzlichkeit der Kirchendiener bis zur Verhängung des Ver­ lustes der Staatsangehörigkeit und zur Verweisung aus dem Reichs­ gebiet steigerte. Durch das von katholischer wie von konservativ-prote­ stantischer Seite bekämpfte Zivilstandsgesetz vom 6. Februar 1875 ver­ lor die Kirche ihre ausschlaggebende Rolle bei Eheschließung und Ge­ burt zugunsten der staatlichen Standesämter. Preußen ging in seinem Kampf noch weiter, hier hatte Bismarck seine Parlamentsmehrheit sicherer in der Hand. Tief einschneidend in das innerkirchliche Leben wirken die vier großen Maigesetze vom Jahre 1873, die die Vorbildung und Anstellung des Klerus regeln. Man hofft durch ein Zwangsstudium in Philosophie, Geschichte und deutscher Literatur die Kandidaten von Rom geistig ablösen zu können. Außerdem wird ein akademisches Triennium gefordert, das nur mit Erlaubnis des Kultusministers durch das Studium in einem staatlich beaufsichtigten Priesterseminar ersetzt werden kann. Das alles geschah unter der aufklärerischen Tendenz, damit die katholischen Kandidaten zur freieren Geistigkeit und zu stärkerem Nationalbewußtsein zu er­ ziehen. Um aber darüber hinaus noch eine Kontrolle und eine Mög­ lichkeit, unliebsame Stellenbewerber zurückzuweisen, zu haben, wird

3*

36 die Anzeigepflicht eines jeden Kandidaten beim Gberpräsidenten ein* geführt, der seinerseits nun sein Einspruchsrecht geltend machen darf. Die kirchliche Disziplinargewalt wird eingeschränkt und ein staat­ licher Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten wird eingerichtet. Der homagialeid der Bischöfe wurde eindeutig verschärft, so daß der Eides­ leister sich zum unbedingten Gehorsam gegen die Staatsgesetze ver­ pflichtete. Endlich griff man auch noch in die Gemeindeverwaltungen ein durch die Forderung der Besetzung der vakanten Stellen durch die vorgesetzte kirchliche Behörde binnen Jahresfrist. Anderenfalls sollte die Gemeinde das Recht zur Neuwahl haben. Waren die bisherigen Verfügungen schon scharf, so steigern sie sich im Verlauf des Streites — für Bismarck war der Kampf eine Sache des Hasses geworden — zu wirklichen einseitigen Kampfgesetzen. Kullmanns Attentat vom 13. Juli 1874 auf Bismarck bot den Anlaß. Am 22. April des folgenden Jahres werden das Sperrgesetz (Brotkorb­ gesetz) und am 31. Mai ein verschärftes Grdensgesetz erlassen. Außer­ dem werden am 18. Juni die wichtigen Artikel 15, 16 und 18 der Verfassung aufgehoben. Diese Kampfgesetze sind Bismarcks Reaktion auf das Verhalten der katholischen Kirche und vor allem des katho­ lischen Klerus. Alle staatlichen Leistungen an Bistümer und Pfarreien wurden eingestellt, bis ihre Träger sich zum Gehorsam gegen die Staatsgewalt bequemten. Sämtliche katholischen Orden und ordens­ ähnliche Kongregationen wurden aufgelöst mit Ausnahme derer, die ganz und ausschließlich im Dienste der Krankenpflege standen. Aber auch diese mußten sich der Staatsaufsicht unterstellen. Und endlich noch die Verfassungsänderung, an der das Prinzipielle des Kampfes am deutlichsten zum Ausdruck kommt: gegenüber dem Anspruch des kirch­ lichen Absolutismus der versuch der Aufrichtung eines absolutistischen Staatskirchenrechtes. Die leitende Idee des Kanzlers ist dabei: zurück zur Zeit vor 1848 oder besser vor 1850! Denn die preußische Ver­ fassungsurkunde vom 31. Januar 1850 schützte in diesen genannten Artikeln das Recht der Religionsgesellschaft als menschliches Grund­ recht. Sie bestimmte: die evangelische und die römisch-katholische Kirche sowie jede andere Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre An­ gelegenheiten selbständig und bleibt im Besitz und Genuß der für ihre Kultur-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten und Stiftungen. In diesen Artikeln sah Bismarck den Grund und überhaupt die Möglichkeit der katholischen Opposition, und daraus erklärt sich die ungeheure Schärfe seines Kampfes dagegen. Die katholische Kirche setzte sich energisch zur Wehr. Nie hatten Bismarck und mit ihm seine Anhänger die Imponderabilien, die bei einem solchen Kampfe ausschlaggebend waren, mehr unterschätzt. Der Erfolg aller Maßnahmen war überall ein rasches Wachsen der Seit*

trumsstimmen. Vie ultramontane Presse schürte den Kampf. Vie Er­ bitterung auf beiden Seiten wuchs und führte letzten Endes zum Attentat Kullmanns auf Bismarck. Vie Bischöfe reagierten auf kein Gesetz und leisteten konsequent passiven Widerstand. Geld- und Ge­ fängnisstrafen bleiben wirkungslos. Endlich stärkte ihnen auch noch der Papst ihren Widerstandsgeist, indem er in seiner Encqclica vom 5. Februar 1875 unter schärfsten Angriffen auf die Regierung die Maigesetze für ungültig erklärte. Vie höfische ultramontane Kamarilla in der Umgebung der Kaiserin machte Bismarck und vor allem Falk bei jedem neuen Schritt Schwierigkeiten. Der Kaiser und die Konserva­ tiven fürchteten eine Entchristlichung von Staat und Schule. Und über­ dies waren neue, vor allem sozial- und wirtschaftspolitische Probleme wichtiger geworden, zu deren Lösung der Kanzler, der sich von der libe­ ralen Wirtschaftsform jetzt der konservativen zuwandte, die Hilfe des Zentrums brauchte. Der alte haß ist nicht mehr in der alten Schärfe lebendig, sondern erschöpft sich nur im Wiederholen von längst er­ ledigten Schlagworten. Vie liberalen Schreier sind enttäuscht, von der protestantischen Kirche war ein energisches Sicheinsetzm für die Politik des Staates gegen den Ultramontanismus nicht zu erwarten. Die Frontstellung war gänzlich anders geworden, da das Anwachsen der Sozialdemokratie eine Sammlung aller nationalen Kräfte er­ forderte. 3n dieser Situation findet Bismarck den Mut, den Kampf ab­ zubrechen. 1878 werden in Kiffingen Verhandlungen ausgenommen, geführt von Bismarck und Nuntius Masella, die, wenn sie auch ohne greifbares Resultat bleiben, doch die ganze Lage entspannen. 1879 tritt Falk, der nächst Bismarck meist Gehaßte, zurück. 1880 folgt eine „Abänderung der kirchenpolitischen Gesetze", der sich vier weitere in den Jahren 1882, 1883, 1886 und 1887 anschließen, womit fast ganz der Status quo ante erreicht ist. Vie preußische Gesandtschaft am Vatikan wird wieder hergestellt, die Anzeigepflicht wird bei stell­

vertretenden Kirchendienern aufgehoben, die Zuständigkeit des Ge­ richtshofes für kirchliche Angelegenheiten wird stark eingeschränkt und zum Schluß sogar ganz aufgehoben. Kulturexamen und Staatsaufsicht über Predigerseminare und Konvikte werden abgeschafft, der homagialeid geändert und die Grden int großen Umfange wieder zugelassen. Nur die Anzeigepflicht bei der vauerbesetzung einer Pfarre oder eines Lischofsstuhles hat der Staat damit nicht preisgegeben. Vas wichtigste Datum beim Abbau der Kampfgesetze ist das Jahr 1885, in dem Bis­ marck dem Papst das Schiedsgericht über die Karolinen im Streit zwischen Deutschland und Spanien übertrug, womit er seine Friedens­ bereitschaft vor der ganzen Welt dokumentierte.

38 Damit haben wir einen kurzen chronologischen Abriß des Kultur­ kampfes, -en wir von 1871 bis 1887 sich erstrecken lassen, gegeben und kommen nunmehr -azu, Bismarcks Stellung zu -en Kirchen wäh­ rend des Kampfes -arzulegen.

A. Bismarcks prinzipielle Gegnerschaft gegen die katholische Kirche. Ketteier, der streitbare Bischof von Mainz, hatte am 16. Novem­ ber 1871 zwei Unterhaltungen mit Bismarck, in denen er Klarheit zu schaffen suchte über die Gründe, die den Kulturkampf hatten ent­ stehen lassen. Unmittelbar im Anschluß daran legte er seine Eindrücke von dieser Unterredung folgendermaßen nieder: „1. Feindliche Be­ strebungen gegen das Reich. Er glaubt an eine Loalition der Katho­ liken in den verschiedenen Ländern gegen das Reich. Ein Symptom derselben: die Centrumsfraction, die katholische Presse, die einheit­ lichen Wahlen. Sie für Preußen besonders gefährlich durch den wach­ senden Poionismus. 2. Aufhebung der katholischen Abtheilung. Ich

legte ihren Werth darein, daß dadurch die leitenden Stellen im Staat — von Schmedding an, sichere katholische Männer zu Rath hätten ziehen können. Jetzt fehlte das gänzlich. Er gab das zu, sagte aber, es sei nöthig gewesen, weil Krätzig unter Radziwil'scher Beeinflussung -en Staat -er Kirche überliefert habe, im Interesse des Polonismus. 3. Neuerung bezüglich des Dogmas. 4. Staatsgefährlichkeit des Dogmas. 5. Entscheidung bezüglich Braunsberg."1) fllie diese Gründe, so be­

urteilt Ketteier diese Aussprache, sind aber Vorwände, wenn das auch zu stark ist, so sieht Ketteier doch damit richtiger als die große 3ahi der katholischen Kulturkampfdarsteller, die sich gern auf ihn als Auto­ rität berufen, aber mit den genannten Gründen schon das Wesen der Auseinandersetzung erfaßt zu haben glauben. In einer gleichfalls in dieser Zeit angefangenen aber nicht vollendeten Schrift „Die wahre Bedeutung des Lulturkampfes" bemüht sich -er Mainzer Bischof, die letzten Triebfedern der Bismarckschen Politik zu beleuchten und die prinzipiellen Gegensätze klarzulegen. (Es heißt hier: „wir zweifeln nicht, daß das letzte Ziel des Fürsten Bismarck nur darauf gerichtet ist, die preußische Staatsverfassung und das innere preußische Staats­ recht wieder von allen freiheitlichen Elementen, welche sich seit den Jahren 1837 und 1848 eingeschlichen haben, vollständig zu säubern und das alte monarchisch-absolutistisch-militärische Preußenthum, wie es vor jener Periode bestand, in seiner ganzen Integrität wiederher­ zustellen. ... Dieses altpreußische monarchische System, wie es in seiner vollen Reinheit im „Allgemeinen Landrecht" durchgeführt ist, *) Gtto Pfülf: Bischof von Kettelet, Land HI. S. 162—163.

soll aber nicht nur in verbesserter Gestatt, namentlich bezüglich der militärischen Organisation wiederhergestellt, sondern auch auf ganz Deutschland ausgedehnt werden. Vas ist der Schlüssel zum Verständniß der Politik -es Reichskanzlers und zur Erklärung des Beifalls, welchen dieselbe an höchster Stelle trotz mancher wagehalsigkeiten findet. ... Viesen Reinigungsprozeß leitet nun der Kulturkampf ein. Vas ist seine wahre Bedeutung"*). Ketteier hat völlig richtig erkannt, daß hier zwei verschiedene Anschauungen vom Staate im Kampfe mit ein­ ander liegen, wenn er auch die Staatsidee Bismarcks ganz äußerlich erfaßt und dadurch völlig verkennt. Als wir die katholische Kirche des 19. Jahrhunderts nach ihrer Entwicklung und ihren Zielen zeichneten, ist uns die Eigenart der katholischen Auffassung vom Staate bereits klar geworden, eine Ligen­ art, die im Wesen des Katholizismus als der una sancta ecclesia liegt, die nicht erst durch das Vatikanum begründet ist, sondern der das Vatikanum erst seine dogmatische Form gegeben hat. Vie Kirche nimmt für sich die Gebiete des Glaubens und der Sitte in Anspruch. Zu dem letzteren gehören aber alle Beziehungen der Menschen zu­ einander, und so ist kaum ein Fall denkbar, den man ausschließlich als staatsangehorig bezeichnen kann, und den nicht auch die Kirche unter besonderen Umständen für sich in Anspruch nimmt. Die ideale Konsequenz der Kirche aus dieser Voraussetzung lautet: Unterwerfung der weltlichen Regierung unter die Kirche. Der moderne Staat kann diesen Anspruch der Kirche, der seinen klassischen Ausdruck in der mittelalterlichen Zweischwertertheorie findet, nicht anerkennen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erscheint die These Wilmowskis, eines der engsten Mitarbeiter Bismarcks, nicht unberechtigt, der den Kultur­ kampf als Ausfluß einer lange unterirdisch schwelenden Feindschaft und einer gewissen Voreingenommenheit Bismarcks gegen die katho­ lische Kirche betrachtet. Er zitiert als Beleg ein Gespräch mit Bismarck aus dem Sommer 1867, also noch lange vor dem Vatikanum, in dem Bismarck ausführte: „So gut wie wir gegen andere tolerant sein müssen, so müssen wir auch Toleranz von anderen erwarten,' wenn eine Sekte, wie die Ultramontanen, sich mit den Staatszwecken nicht vertragen kann und diese selbst angreift, so kann der Staat sie auch nicht dulden"*2). Vie vorher zitierte Rede vom 13. März 1867, die den Reichsgedanken Bismarcks so scharf zum Ausdruck bringt, könnte diese Auffassung Wilmowskis noch stützen. Und wirklich liegt hier das Entscheidende in der grundsätzlich verschiedenen Auffassung vom Staate. Der Ultramontanismus als *) Dtto psülf: Bischof von Kettelet, Banb III. S. 166. 2) von Wilmowski: Meine Erinnerungen an Bismarck. S. 188.

40

Staatsgefahr, das war eine Erkenntnis, die Bismarck in Frankfurt anläßlich des Badener Kirchenkonfliktes sich erworben hatte. Vas Vatikanum läßt ihn deshalb kühl, weil er nicht überrascht werden kann. Vie katholische Kirche ist ein politischer Gegner, den man nur mit seinen eigenen Fehlern zum Scheitern bringen kann. Deshalb schlägt er die Warnungen des preußischen Gesandten an der Kurte und seine Vorschläge, Gegenmaßregeln zu ergreifen, in den Wind und instruiert ihn am 5. Januar 1870 folgendermaßen: „was sich von wirklich lebenskräftiger Tätigkeit der freieren geistigen Elemente ent­ wickeln soll, muß sich aus sich selbst heraus entwickeln. ... Vie ab­ wartende Haltung wird uns umso leichter, weil gerade wir, was auch schließlich das Ergebnis (des vatikanischen Konzils) sein möge, keine Ursache zur Besorgnis vor wirklichen Gefahren haben, die unserem Staatsleben drohen möchten. ... Vir sind in Uorddeutschland des nationalen und des politischen Bewußtseins, auch der katholischen Be­ völkerung in ihrer Mehrheit sicher und haben in der überwiegenden Mehrheit der evangelischen Kirche einen Stützpunkt, welcher den Re­ gierungen rein oder wesentlich katholischer Länder fehlt. ... Im Interesse seiner katholischen Untertanen Sr. Majestät des Königs und einer friedlichen Weiterentwicklung des nationalen Lebens können wir wünschen, daß der Organismus der katholischen Kirche, auf dessen Grunde sich bisher gedeihliche Beziehungen zwischen Staat und Kirche gebildet haben, nicht gestört oder unterbrochen werde ..."1). Deut­ lich spricht sich aus diesen Worten die Bewertung der Kirche als nur politischer Macht aus: „ein Organismus ..., auf dessen Grunde sich bisher gedeihliche Beziehungen zwischen Staat und Kirche gebildet haben." Es sind also zwei politische Faktoren, deren Machtansprüche in letzter Konsequenz sich gegenseitig ausschlossen, und die deshalb zu einem modus vivendi zu kommen suchten, bei dem jeder möglichst gut abschloß. Das Vatikanum verstärkt für Bismarck lediglich den politischen Charakter der katholischen Kirche. (Es öffnete mit einem Male der ganzen modernen Welt die Rügen, daß im römischen Katho­ lizismus die plenitudo potestatis wenigstens theoretisch noch behaup­ tet wird. Für die katholische Kirche gibt es nur ein Schwert, und dieses Schwert führt sie selbst und sie führt es, wie -er Papst es durch seine Verordnungen bestimmt. Die katholische Kirche ruht nun einmal auf dem Glauben, daß ihr Recht göttlichen Ursprungs sei, und daß göttliches Recht durch menschliche Satzung nicht geändert oder gemindert werden könne. Sie allein fühlt sich berufen, die wandel, baren, das heißt die menschlichen Bestandteile ihrer Rechtsordnung abzuändern. Der Staat kann ihre Rechte wohl unterdrücken, nie aber *) Instruktion vom 5. Januar 1870 an den Gesandten bei der Kurie.

rechtsgültig ändern. Sie mutz anerkennen, daß Macht vor Recht geht, nie aber, datz Macht sich in Recht verwandelt. Für den Ratholiken ist der Papst die exterritoriale höhere Macht, die die Gesetze des Staates gutheißt oder verwirft. Diese katholische Grundüberzeugung fand nun im Vatikanum ihre dogmatische Formung, und die wirkte auf die moderne Welt, als sei sie neu geschaffen. Geschickt wird des­ halb im Rulturkampf auf diese neue Rechtslage angespielt, die durch das Vatikanum geschaffen sei und die ja auch innerkirchlich durch den Rbfall der Altkatholiken deutlich geworden sei. Bismarck stellt sich geschickt auf diesen Standpunkt, datz seit dem Vatikanum eine neue katholische Rirche bestände und datz damit alle bisherigen Verpflich­ tungen von feiten der katholischen Rirche aufgelöst seien. „Ich hul­ dige", so bekennt er am 30. Januar 1872 int Abgeordnetenhause, „von Hause aus dem Grundsatz, daß jede Konfession bei uns die volle Freiheit ihrer Bewegung, die volle Glaubensfreiheit haben mutz. ... Aber ich kann auch für die Regierung nur den Standpunkt wahren, daß man von der Regierung eines paritätischen Staats nicht ver­ lange, sie solle konfessionell auftreten nach irgendeiner Richtung hin" *). Jede Rirche und „Sekte" hat in Deutschland Lebensrecht, wenn sie den Staat anerkennt. Vas ist aber seit dem Vatikanum nicht mehr der Fall. Ein Katholik, so führt er am 17. Dezember 1873 aus, ist ein bedenkliches Glied für den staatlichen verband, wenn er seine Konsequenzen aus dem Glauben zieht. Sie müssen ihn dahin führen, „daß kein Gesetz in Preußen gegeben werden kann, welches nicht die Billigung des Papstes hätte, des seit dem vatikanischen Konzil, oder wenigstens, daß er die weltliche Gbrigkeit nicht berechtigt hält, ein Gesetz zu geben, welches vom Papste ausdrücklich verurteilt roirb; das, glaube ich, werden Sie weniger ungenau finden. Sie können aber diesen Grundsatz nicht anders durchführen als in einem Staate, wo die katholische Religion Staatsreligion ist, und selbst, wenn das ein weltlicher Staat wäre, kämen Sie damit auch nicht vollständig bis an die Grenzen der Logik, die Sie erstreben; Sie können das eigent­ lich nur im Kirchenstaate, der ein geistliches Oberhaupt hat. Sie kommen also notwendig darauf, nicht nur den Kirchenstaat in Italien zu erhalten — das ist ja eine sehr geringe Forderung im vergleich mit der, die Sie hier Ihren evangelischen Mitbürgern stellen — sondern den Kirchenstaat auf die Gesamtheit der Welt auszudehnen, überall, wo nur einige Katholiken darin wohnen ... In letzter Instanz sind Sie doch verpflichtet, sich dem entscheidenden Urteil des Papstes zu fügen. Vie Herren verlangen Ihrerseits Achtung vor Ihrer Über­ zeugung von uns, aber ich darf sagen, Sie zollen uns evangelischen l) Rede im Abgeordnetenhaus« vom 30. Januar 1872. KW. XI. S. 226.

42 Christen nicht die Achtung, die wir auch für unsere Überzeugung be­ anspruchen dürfen. Wir streben ja nach dem Frieden, in dem wir früher mit Ihnen gelebt haben, mehr als nach Ihrer Ansicht der Fall ist, aber Sie müssen nicht vergessen, daß wir in einem paritätischen Staate leben, wo die religiöse Überzeugung eines jeden einzelnen nur bis zu einem gewissen Grade ihren Ausdruck in den Gesetzen finden Kann, wo viele noli me tangere sind, die von Ihnen nie hätten be­ rührt werden sollen, und die nicht hätten in das weltliche Leben hin­ eingezogen werden sollen. Ich laufe da Gefahr, auf die Sache selbst zu kommen, was nicht in meiner Absicht gelegen hat,- ich wollte nur von meiner persönlichen Stellung zur Sache sprechen" *). Vas Prin­ zipielle des Kampfes, die entgegengesetzte Staatsanschauung kommt in dieser Rede ganz deutlich zum Ausdruck. (Es ist wirklich der „ur­ alte Machtstreit, der so alt ist wie das Menschengeschlecht", es handelt sich „um den Machtstreit, der viel älter ist als die Erscheinung unseres Erlösers in dieser Welt, den Machtstreit, in dem Agamemnon in Aulis mit seinen Sehern lag, der ihm dort die Tochter kostete und die Griechen am Auslaufen verhinderte, den Machtstreit, der die deutsche Geschichte des Mittelalters bis zur Zersetzung des Deutschen Reiches erfüllt hat unter dem Namen der Kämpfe der Päpste mit den Kai­ sern, der im Mittelalter seinen Abschluß damit fand, daß der letzte Vertreter des erlauchten schwäbischen Kaiserstammes unter dem Beile eines französischen Eroberers auf dem Schafott starb, und daß dieser französische Eroberer im Bündnis mit dem damaligen Papste stand"*2). Immer wieder findet sich in Bismarcks Reden dieser Gedanke, mit dem er mit vollem Rechte dem Kulturkampf seinen Platz anweist in der jahrtausendlangen Auseinandersetzung zwischen weltlichem und geistlichem Schwert. Und diese Darstellung Bismarcks entspringt nicht aus politischen Gründen und aus Rücksichten der Rechtfertigung, son­ dern sie trifft den Kern des ganzen Kampfes. Es ist nicht eine Macht­ probe zwischen einem herrischen Staatsmann und einem halsstarrigen Priester, sondern es ist die Auseinandersetzung zweier verschiedener Denkweisen über das Verhältnis von Staat und Kirche, der kanonischen und der protestantisch-naturgegebenen. Beide Denkweisen hatten in Pius IX. und Bismarck ihre genialen und konsequenten, ja auch neu­ schöpferischen Vertreter gefunden, und verlangten zwangsläufig nach einer neuen Grenzziehung. Bismarcks Staatsideal geht aus vom ge­ wordenen Staat, den er als Schöpfung anerkennt, ebenso wie die Kirche. Nur der Geltungsbereich beider ist verschieden. Der Staat ist durch sein Vorhandensein gerechtfertigt, ist natürlich, das heißt schöp*) Rede im Abgeordnetenhaus« vom 17. Dezember 1873. ID ID. XI. S. 304. 2) Rede im Herrenhaus vom 10. März 1873. WW. XI. S. 289.

fungsmäßig gewachsen, ist ein Organismus, der sich selbständig weiter entwickelt und als dessen Lenker man nur zuwarten darf. Bismarck glaubte an die göttliche Vorsehung und Führung in seinem Leben und übertrug sie auf das werden des Staates. Vie gewaltige nationale Welle nach 1870 bis 71 war ein Wink der Vorsehung an ihn, den Leiter und Lenker dieses Staates, sie zu realisieren. Venn als Or­ ganismus unterliegt auch der Staat dem großen Lebensgesetz: Kampf um seine Existenz und um seine Lebensbedürfnisse und Kampf um seine Höherentwicklung. Und Bismarck fühlte sich von Gott an den Platz gestellt, an dem er stand, und dazu berufen, dieses Wollen im Staate zu verwirklichen zu seinem im Metaphysischen verankerten letzten Ideal, zum deutschen Reich. Ruf diesem Wege stellte sich ihm nun ein Faktor entgegen, dessen Macht ihn überraschte. Die Aufgabe der Kirche ist die Wortverkündigung, hatte Bismarck gesagt. Jetzt im Vatikanum zeigte es sich, daß die Kirche als Vertreterin der geistigen Mächte auch Anspruch auf die irdisch-menschlichen erhob. Und dieser politische Anspruch der katholischen Kirche war derart, daß ein geordnetes weltliches Regiment nun nicht mehr möglich schien. Deshalb fährt Bismarck in der eben zitierten Rede, einer der grund­ legenden für alle Fragen des Kulturkampfes, unter den schärfsten Angriffen auf diesen politischen Anspruch des Ultramontanismus fort: „Vas Papsttum ist eine politische Macht jederzeit gewesen, die mit der größten Entschiedenheit und dem größten Erfolge in die Verhält­ nisse dieser Welt eingegriffen hat, die diese Eingriffe erstrebt und zu ihrem Programm gemacht hat. Vie Programme sind bekannt. Das Ziel, welches der päpstlichen Gewalt, wie den Franzosen die Rhein­ grenze, ununterbrochen vorschwebte, das Programm, das zur Zeit der mittelalterlichen Kaiser seiner Verwirklichung nahe war, ist die Unter­ werfung der weltlichen Gewalt unter die geistliche, ein eminent poli­ tischer Zweck, ein Streben, welches ebenso alt ist wie die Menschheit, denn solange hat es auch, seit es kluge Leute, seit es wirkliche Priester gegeben, die die Behauptung aufstellten, daß ihnen der Wille Gottes genauer bekannt sei, als ihren Mitmenschen, und daß sie auf Grund dieser Behauptung das Recht hätten, ihre Mitmenschen zu beherrschen; und daß dieser Satz das Fundament der päpstlichen Ansprüche aus Herrschaft ist, ist bekannt. Ich brauche hier an alle die hundertmal erwähnten und kritisierten Aktenstücke nicht zu erinnern: sie sind nicht nur publici Juris, sondern auch jedem, der einen oberflächlichen Einblick in die Weltgeschichte hat, bekannt. Der Kampf des Priester­ tums mit dem Königtum, der Kampf in diesem Falle des Papstes mit dem deutschen Kaiser, wie wir ihn schon int Mittelalter gesehen haben, ist zu beurteilen wie jeder andere Kampf: er hat seine Bünd­ nisse, er hat seine Friedensschlüsse, er hat seine Haltepunkte, er hat

44 seine Waffenstillstände. ... Also dieser Machtstreit unterliegt den­ selben Bedingungen wie jeder andere politische Kampf, und es ist eine Verschiebung der Frage, die auf den Eindruck auf urteilslose Leute berechnet ist, wenn man sie darstellt, als ob es sich um Bedrückung der Kirche handelte.