Joseph Roth: Europaisch-Judischer Schriftsteller Und Osterreichischer Universalist [Annotated] 3110265044, 9783110265040

Der 70. Todestag Joseph Roths ist Anlass, die aktuellen Bezüge seines Werkes zu beleuchten. SeineTexte und Ansichten gal

428 131 2MB

German Pages 368 Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Joseph Roth: Europaisch-Judischer Schriftsteller Und Osterreichischer Universalist [Annotated]
 3110265044, 9783110265040

Table of contents :
Vorwort
Die Flucht ohne Ende
Zum Judentum
Juden auf Wanderschaft – 2009 neu gelesen
Der Segen des ewigen Juden. Assimilation und Exil
Zur Dialektik des insistierenden Dementis: Joseph Roth und der Zionismus
Zwischen Kulturen und Orten
»Der Patriotismus beginnt erst bei den Aktionären des Hotels«. Die Hotelwelt Joseph Roths
Caféhäuser, Bahnhöfe und Hotels: Zur Bedeutung der halböffentlichen Räume im Werk Joseph Roths
Kosmopolitismus im Vergleich: Joseph Roth und Stefan Zweig
Joseph Roth – ein Schriftsteller der Hybridität oder der Reinheit von Kulturen?
Über das »Gleichgewicht zwischen der Tischplatte und ihrer künstlichen Verlängerung«. Zur kulturkritischen Antithese ›Amerika‹ und der Lebensbalance in Joseph Roths Hiob (1930)
»Der Heroismus der Intellektuellen – Der liquidierte Heroismus«. Fremd- und Selbstbilder in Joseph Roths und Stefan Zweigs Reisefeuilletons
Reiseliteratur am Beispiel Joseph Roths
Zwischen den Geschlechtern
Zur »Übersetzung des männlichen ernsten Militärexerzierens ins Weibliche« und zu anderen weiblichen Erscheinungen bei Joseph Roth
Joseph Roth und seine Muse(n)
Entgegengesetzte Fluchtbewegungen. Joseph Roth und Irmgard Keun schreiben im Exil
Sex und Behörde in Joseph Roths Reportagen der zwanziger Jahre
Soziales und Geschichtliches
»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre. Am Beispiel von Joseph Roths Roman Die Hundert Tage mit einem Blick auf Chantal Thomas Les adieuxs à la reine
Ein Roman aus der Perspektive des Journalisten. Joseph Roths Das Spinnennetz
Kritik des Journalismus in der Novelle »Das Kartell« von Joseph Roth (1923)
»Warenhäuser, Rummelplätze, Walkürenjungfrauen«. Zu Joseph Roths Berliner Bilderbuch-Feuilletons (1924)
Joseph Roths Kritik des homo academicus. Ein Beitrag zur Intellektuellendebatte der Zwischenkriegszeit
Ein »Staat, der gar nicht da war« – Joseph Roth und Deutschösterreich. In memoriam Günter Kalina
»Wir sind die Söhne«. Generationsdiskurse und Geschichte(n) im Werk Joseph Roths
Kaiser, Komponist und Regengott. Der Erzähler im Radetzkymarsch ...
Der unaufhaltsame Weg zur Katastrophe. Joseph Roth: Das falsche Gewicht
»Nationale und sprachliche Einheitlichkeit kann eine Stärke sein, nationale und sprachliche Vielfältigkeit ist es immer«. Joseph Roth zum Nationalismus und zum nationalen Gedanken anhand der Beispiele Polen und Palästina
Zur Rezeption und Forschung
Joseph Roth in den Augen der Nachwelt. Migration, Mythos, Melancholie
Zur Rezeption Joseph Roths in Slowenien. »Ein bei uns bisher unbekannter Autor, ein österreichischer Schriftsteller aus halbvergangener Zeit [...]«
Übersetzung als transkulturelle Begegnung – Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft in slowenischer Sprache
Quellen zu Leben und Werk von Joseph Roth. Interviews und andere Aussagen von Zeitzeugen
Die Autorinnen und Autoren
Personenregister

Citation preview

Conditio Judaica 82 Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte

Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing

Joseph Roth Europäisch-jüdischer Schriftsteller und österreichischer Universalist Herausgegeben von Johann Georg Lughofer XQG0LUD0LODGLQRYLü=DOD]QLN

De Gruyter

Mit freundlicher Unterstützung der Germanistikabteilung und des Wissenschaftlichen Verlags der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana (Oddelek za germanistiko z nederODQGLVWLNRLQVNDQGLQDYLVWLNR=QDQVWYHQD]DORåED)LOR]RIVNHIDNXOWHWH8QLYHU]HY/MXEOMDQL Slovenija – www.ff.uni-lj.si)

ISBN 978-3-11-026504-0 e-ISBN 978-3-11-026505-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Joseph Roth : europäisch-jüdischer Schriftsteller und österreichischer Universalist / edited by Mira Miladinovic Zalaznik, Johann Georg Lughofer. p. cm. -- (Conditio Judaica ; 82) Papers presented at an international conference held May 25-27, 2009. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-026504-0 (alk. paper) 1. Roth, Joseph, 1894-1939--Criticism and interpretation--Congresses. I. Zalaznik, Mira Miladinovic, 1952- II. Lughofer, Johann Georg, 1974PT2635.O84Z59432 2011 833‘.912--dc23 2011032020

%LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen NationalELEOLRJUD¿H GHWDLOOLHUWH ELEOLRJUD¿VFKH 'DWHQ VLQG LP ,QWHUQHW EHU KWWSGQEGQEGH abrufbar. ‹:DOWHUGH*UX\WHU*PE+ &R.*%HUOLQ%RVWRQ 'UXFN+XEHUW &R*PE+ &R.**|WWLQJHQ ’*HGUXFNWDXIVlXUHIUHLHP3DSLHU Printed in Germany www.degruyter.com

In memoriam David Horrocks (1943–2011)

Inhalt

Vorwort ........................................................................................................ Drago Janþar Die Flucht ohne Ende .............................................................................

1 3

Zum Judentum Sigurd Paul Scheichl Juden auf Wanderschaft – 2009 neu gelesen .......................................... 11 Victoria Lunzer-Talos Der Segen des ewigen Juden. Assimilation und Exil ............................. 23 Klaus Zelewitz Zur Dialektik des insistierenden Dementis: Joseph Roth und der Zionismus ......................................................................................... 39

Zwischen Kulturen und Orten Mira Miladinoviü Zalaznik »Der Patriotismus beginnt erst bei den Aktionären des Hotels«. Die Hotelwelt Joseph Roths ................................................................... 47 Ulrike Zitzlsperger Caféhäuser, Bahnhöfe und Hotels: Zur Bedeutung der halböffentlichen Räume im Werk Joseph Roths ............................................................... 55 David Horrocks Kosmopolitismus im Vergleich: Joseph Roth und Stefan Zweig ........... 69 Johann Georg Lughofer Joseph Roth – ein Schriftsteller der Hybridität oder der Reinheit von Kulturen? ......................................................................................... 79 Alexander Ritter Über das »Gleichgewicht zwischen der Tischplatte und ihrer künstlichen Verlängerung«. Zur kulturkritischen Antithese ›Amerika‹ und der Lebensbalance in Joseph Roths Hiob (1930) .......................................... 87

VIII

Inhalt

Matjaž Birk »Der Heroismus der Intellektuellen – Der liquidierte Heroismus«. Fremd- und Selbstbilder in Joseph Roths und Stefan Zweigs Reisefeuilletons ...................................................................................... 101 Fernando Magallanes Reiseliteratur am Beispiel Joseph Roths ................................................. 119

Zwischen den Geschlechtern Isabel dos Santos Zur »Übersetzung des männlichen ernsten Militärexerzierens ins Weibliche« und zu anderen weiblichen Erscheinungen bei Joseph Roth ...................................................................................... 129 Irena Samide Joseph Roth und seine Muse(n) .............................................................. 143 Neva Šlibar Entgegengesetzte Fluchtbewegungen. Joseph Roth und Irmgard Keun schreiben im Exil .................................................................................... 153 Helen Chambers Sex und Behörde in Joseph Roths Reportagen der zwanziger Jahre ...... 169

Soziales und Geschichtliches Hartmut Scheible »Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre. Am Beispiel von Joseph Roths Roman Die Hundert Tage mit einem Blick auf Chantal Thomas Les adieuxs à la reine .................................. 183 Klaus-Detlef Müller Ein Roman aus der Perspektive des Journalisten. Joseph Roths Das Spinnennetz ..................................................................................... 207 Véronique Uberall Kritik des Journalismus in der Novelle »Das Kartell« von Joseph Roth (1923) ..................................................................................................... 215 Primus-Heinz Kucher »Warenhäuser, Rummelplätze, Walkürenjungfrauen«. Zu Joseph Roths Berliner Bilderbuch-Feuilletons (1924) ....................................... 221 Karl Wagner Joseph Roths Kritik des homo academicus. Ein Beitrag zur Intellektuellendebatte der Zwischenkriegszeit ....................................... 231 Susanne Kalina-McMahon Ein »Staat, der gar nicht da war« – Joseph Roth und Deutschösterreich. In memoriam Günter Kalina ................................................................... 243

Inhalt

IX

Jon Hughes »Wir sind die Söhne«. Generationsdiskurse und Geschichte(n) im Werk Joseph Roths ................................................................................. 255 Sonja Osterwalder Kaiser, Komponist und Regengott. Der Erzähler im Radetzkymarsch ... 265 Zoltan Szendi Der unaufhaltsame Weg zur Katastrophe. Joseph Roth: Das falsche Gewicht ................................................................................................... 275 Maria KáaĔska »Nationale und sprachliche Einheitlichkeit kann eine Stärke sein, nationale und sprachliche Vielfältigkeit ist es immer«. Joseph Roth zum Nationalismus und zum nationalen Gedanken anhand der Beispiele Polen und Palästina ................................................................. 285

Zur Rezeption und Forschung Christoph Parry Joseph Roth in den Augen der Nachwelt. Migration, Mythos, Melancholie ............................................................................................ 303 Tanja Žigon Zur Rezeption Joseph Roths in Slowenien. »Ein bei uns bisher unbekannter Autor, ein österreichischer Schriftsteller aus halbvergangener Zeit […]« .................................................................... 315 Vesna Kondriþ Horvat Übersetzung als transkulturelle Begegnung – Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft in slowenischer Sprache ......................................... 331 Heinz Lunzer Quellen zu Leben und Werk von Joseph Roth. Interviews und andere Aussagen von Zeitzeugen ....................................................................... 343 Die Autorinnen und Autoren ........................................................................ 345 Personenregister ........................................................................................... 353

Vorwort

Der 70. Todestag Joseph Roths wurde zwischen dem 25. und 27. Mai 2009 zum Anlass genommen, während der Internationalen Konferenz zur Aktualität von Joseph Roth »Ein übernationaler Mensch und also ein Adeliger echter Art« die vielschichtigen Facetten und die Bezüge zur heutigen Zeit im Werk des großen Schriftstellers kritisch zu beleuchten. Joseph Roths Werke und Ansichten galten mitunter als allzu stark auf die Vergangenheit bezogen; sein Hang zur Monarchie wurde belacht, sein Aufruf zum übernationalen Denken als bloße Reaktion auf das Zeitgeschehen interpretiert. Er wurde fast ausschließlich als der Erzähler des Heimatverlusts, des untergegangenen Habsburgerreichs oder des untergegangenen Ostjudentums gelesen. Heute, in Zeiten des sich einigenden Europas, stellt sich das Bild anders dar: Es befremdet nicht mehr, dass ihm ideologische Bindungen ein zu enges Korsett waren und er sich selbst als Brücke zwischen Osten und Westen wahrnahm. Gerade diese Übernationalität und Interkulturalität, die Joseph Roth gleichsam selbstverständlich gelebt hat, sowie die engagierten Kommentare zu Gesellschaft und Geschichte in seinem Werk und Leben sollen in diesem Band untersucht werden, wobei sein Judentum keine unerhebliche Rolle spielt, wie manche Beiträge zeigen. Darüber hinaus wird die Aktualität Joseph Roths mit Untersuchungen zur Rezeption behandelt, wobei es sich herausstellt, dass sie gerade in den Ländern östlich des Westens keine ganz unbeschwerte war. Die hier behandelten, verschiedenen Aspekte sollen zu dem größeren Bild beitragen, das Joseph Roth mit seinem umfangreichen Werk der Leser- wie Wissenschaft offeriert. Johann Georg Lughofer und Mira Miladinoviü Zalaznik

Drago Janþar

Die Flucht ohne Ende

Franz Ritter Edler von Miklosich (Fran vitez pl. Miklošiþ), der berühmte Slawist und Rektor der Universität in Wien, konnte sich sein Leben lang gewiss nicht vorstellen, dass seine Büste eines Tages die Büste Seiner Apostolischen Majestät Kaisers Franz Joseph I., des Herrschers des großen ÖsterreichUngarn, würde ersetzen können. Er war sein treuer Untertan, er glaubte an das große Land und dessen Werte, er widersetzte sich einem jeden, der sie bedrohte. Deswegen hat er als Hofzensor zwei Jahre vor der Thronbesteigung durch Franz Joseph die Zdravljica, das Trinklied des slowenischen Dichters France Prešeren, zensuriert, das viel später die Nationalhymne der Slowenen werden sollte. Und doch ist gerade das eingetroffen, was Miklošiþ nicht einmal in seinen kühnsten Träumen widerfahren konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde vom Franz-Joseph-Denkmal, von den Bürgern Laibachs aus Dankbarkeit für die kaiserliche Sorge anlässlich des Erdbebens »zum ewigen Dank« errichtet, die Büste des Kaisers entfernt und in der Stadt Ljubljana mit jener von Miklošiþ ersetzt. »Die ewige Dankbarkeit« der Bürger währte kaum länger als ein Jahrzehnt. Da dieser Landstrich seit je von praktischen Menschen bewohnt wird, hat man das Denkmal zusammen mit der Jungfrau, die mit einem Lorbeerzweig Seine Apostolische Majestät ehrte, aufgehoben und, darauf die Büste von Miklošiþ aufgestellt, die sich heute noch an gleicher Stelle befindet. Franz Joseph dagegen wanderte in das Stadtmuseum. Dort leistet ihm sein Feldmarschall, Graf Johann Josef Wenzel Radetzky von Radetz Gesellschaft, der einige Jahre seines Lebens in Ljubljana verbrachte, da er zum Dank für seine Siege von seinem Kaiser das Schlossgut Podturn zur lebenslangen Nutzung erhielt. Anders als in Ljubljana erging es der Büste des Kaisers Franz Joseph nach dem Ersten Krieg in Galizien, aber auch das bloß in einer Geschichte des Dichters Joseph Roth. Dort kann sich Graf Franz Xaver Morstin nicht mit der Tatsache abfinden, dass es die Monarchie nicht mehr gibt. Als Galizien Polen einverleibt wird, stellt der Graf vor seiner Behausung des Kaisers Büste auf, derweil er immer noch in der Uniform des österreichischen k. u. k. Offiziers umher geht. Der Held der Geschichte Die Büste des Kaisers kann nicht verstehen, was geschehen war, dass auf einmal ein jedes Individuum einer Rasse oder einer Nation angehören muss. Er versteht es nicht, wieso alle diese Menschen, die doch nie etwas anderes als Österreicher waren, nun zu Polen, Tschechen, Ukrainern, Deutschen, Rumänen, Slowenen, Kroaten … wurden.

4

Drago Janþar

Ich weiß es nicht, ob Joseph Roth bekannt war, wie es der Büste des Kaisers in Ljubljana erging, doch finden sich ein reales Ereignis und die literarische Fiktion in der Koinzidenz wieder, die eine unübersehbare Grundlage der Welt eines Schriftstellers ist. Für ihn ist der wahre Geist des Kaisertums eher an dessen Rand zuhause als in seinem Zentrum, der Aufstieg der slowenischen Familie Trotta aus dem Radetkzykmarsch und Die Kapuzinergruft setzt in dem slowenischen Dorf Sipolje ein, in seinem patriarchalischen Frieden, das von den Werten der Monarchie getragen wird. Sein Ende erfährt der letzte Trotta in Galizien, das, wie Roth sagt, »die nördliche Schwester Sloweniens« sei. Zwischen der Schlacht bei Solferino, in der der einfache Infanterieleutnant Trotta seinem Kaiser das Leben rettet und somit zum Helden der Schulbücher avanciert, und dem unsinnigen Tod seines Enkels, der mit zwei Wassereimern in der Hand fällt, steht die Unbeweglichkeit der Zeit; begleitet von den Klängen des Radetzkymarsches, der von der Familie Trotta vor dem Mittagessen allsonntäglich angehört wird, erscheint alles ewig und unveränderlich: Alle Ordnung dieser Welt wird von der kaiserlichen und göttlichen Milde bestrahlt; und es ist die natürlichste Sache dieser Welt, dass zur Sonntagssuppe ein Kampfmarsch gehört wird. Heutzutage gehört dieser Marsch zum Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Ich muss gestehen, dass ich den Radetzkymarsch seit eh und je nicht mag. Aber nicht deswegen, weil ich etwas gegen den berühmten Feldmarschall hätte, dessen Büste heutzutage der Büste seines Kaisers im Stadtmuseum von Ljubljana Gesellschaft leistet, auch nicht deswegen, weil ich an der Musik von Johann Strauss dem Älteren keinen Gefallen fände. Das Problem liegt darin, dass ich in meinen studentischen Jahren, als ich nach Gelegenheitsjobs Ausschau hielt, eine Arbeit als Wächter einer Uniformen-Ausstellung im Mariborer Landesmuseum erhalten habe. Die Musik, es war die einzige Musik, die dort aus der Lautsprecheranlage dröhnte, war der Radetzkymarsch. Ich hörte mir ihn jeden Tag an, von früh bis spät – einen ganzen Monat lang. Deswegen flüchte ich mich auch heute noch weg vom Fernseher, der den Schlussakt des Wiener Neujahrskonzerts ausstrahlt, das sonst ein hervorragendes Mittel gegen den Kater nach der Silvesternacht ist. Es ist daher nicht sonderlich verwunderlich, dass ich einen kleinen Schock erlitt, als mir einige Jahre nach meinem Wachdienst ein Buch mit diesem schrecklichen Titel ausgehändigt wurde, der in meinen Ohren sofort zu klingen begann, samt dem Auftrag, über diesen Roman Joseph Roths eine Rezension für eine Zeitung zu schreiben. Über Joseph Roth wusste man im Jahr 1982, als das Buch in der ausgezeichneten Übersetzung von Mira Miladinoviü erschien, noch immer nicht sehr viel. Ebenso wenig übrigens wie auch heute noch, wenn ich daran denke, mit welcher begeisterten Überraschung sich 2002 Nadine Gordimer zu Roths Berliner Bilderbuch in der englischen Übersetzung von Michael Hofmann äußert. Auch meine einstige Überraschung, die Überra-

Die Flucht ohne Ende

5

schung eines damals immer noch jungen Autors und Rezensenten, der sich am Rande der Avantgarde und der Verneinung alles Traditionellen entwickelte, war nicht gerade klein. Den Dingen, die in die nostalgischen und musealen Bereiche des »sentimentalen Humanismus« gehörten, wie wir weiland alle Texte nannten, die sich wagten, eine Geschichte zu haben, dazu auch noch Punkte und Kommata, war eine vollblütige, luzide, ironische Literatur entwachsen, eine Literatur der De-Mythisierung und De-Mystifizierung, gleichzeitig aber auch eine menschliche Geschichte, umgeben von der ganzen Welt. Einer Welt entschwundener Leben und verschwundener Zivilisation. Ein Roman, dessen geschichtlichen, politischen, sozialen und kulturellen Kontext man weder kennen noch studieren muss, um ihn zu verstehen und ihm zu gestatten, in uns zu wohnen. Wie unwichtig ein kultureller oder historischer Kontext vom Standpunkt der Literatur werden kann, beweist auch der Umstand, wie völlig unwichtig mir später, nachdem ich Die Kapuzinergruft bereits gelesen hatte, jene Beschreibung erschien, in der in einem slowenischen Dorf Sipolje, der südlichen Schwester Galiziens, in den Abendstunden das wehmütige Singen des Muezzin von Minaretten der nahe liegenden Moschee zu vernehmen war. Vermutlich dachte der Autor in Paris, wo er den Roman schrieb, an eine noch südlichere Schwester, nämlich an das annektierte Bosnien. Damals gab es nicht sehr viele Moscheen mit Minaretten in Slowenien: um ehrlich zu sein, es gab keine einzige. Nicht einmal heute gibt es sie, obwohl eine bald in Ljubljana stehen wird. Ich verfasste also jene Rezension und begann hastig nach allem zu suchen, wessen ich von diesem Autor habhaft werden konnte, leider gab es wenig oder nichts in Slowenisch. Aber den Autor gewann ich lieb. Seine Sätze, seine Geschichten, seine ironischen Kommentare, alles befand sich in einem ungewöhnlichen Widerspruch zu literaturhistorischen Kommentaren, die von seiner monarchischen Nostalgie sprachen, seinem Konservativismus, sogar zu seinen eigenen Aussagen von der Anhänglichkeit an ein Land, das es nicht mehr gab. Zunächst wunderte ich mich, wie es denn möglich sei, dass ein solcher Autor so tief der konservativen, katholischen, monarchischen Konstitution der Welt verpflichtet ist. Aber angesichts der Rothschen Observationen zum auferstehenden Nationalsozialismus und dessen Schwachsinn, angesichts seiner Verspottung des bolschewistischen Illusionismus, wurde mir sein Standpunkt verständlicher. Denn Europa, das Roth in den zwanziger, vor allem aber in den dreißiger Jahren sah, fuhr geradewegs in die Katastrophe, die der Dichter erahnte, obwohl er nicht wissen konnte, dass sie viel schlimmer sein wird, als er sie sich je in seinen alkoholischen Träumen hätte vorstellen können. Angesichts der Welt, die der scharfsinnige Beobachter Joseph Roth in Berlin auferstehen sah, aber auch in den Resten seines Österreich, in den reliquiae reliquiarum des mächtigen Imperiums, war die alte Welt samt allen ihren Schwächen in der Tat ein veritables Arkadien. Anlässlich der historischen Romane schreiben Rezensenten oft das Klischee nieder, es handle sich dabei um eine

6

Drago Janþar

»Flucht in die Vergangenheit«. Auch mir wurde dieses schon zuteil. Doch, sollte es einen Autor geben, für den diese Bezeichnung kein Klischee ist, sondern die Wahrheit seines Lebens und seiner Literatur, so gilt das für Joseph Roth. Joseph Roth starb an den Folgen des Lebens in den Pariser Cafés, allein, verloren, ohne Hoffnung, es würde sich etwas ändern. Es hat den Anschein, dass dem so war auch deswegen, weil die neue Welt für ihn zu etwas völlig Unerträglichem wurde, sie wurde von politischen Rohlingen und Demagogen geordnet, die jegliche Idee, nationale, soziale, philosophische oder kulturelle, devalviert und zu Grunde devastiert haben. Das war eine Zeit, wenn ich hier einen eigenen Satz aus dem Roman Nordlicht zitieren dürfte, »in welcher die Welt im Morgengrauen lag und sich dem Engel des Bösen hingab …« Wenn ich am Anfang meiner Ausführungen behauptet habe, dass es vor Radetzkymarsch im Slowenischen wenig Joseph Roth gab oder überhaupt nicht, so muss ich mich an dieser Stelle korrigieren. Es gab ihn, aber er wurde versteckt gehalten. Vor einigen Tagen fand ich in einem Antiquariat von Ljubljana ein Buch mit dem Erscheinungsjahr 1966. Auf der Titelseite steht Die Flucht ohne Ende, als Autor wird ein Fritz Roth angegeben, folgerichtig liest man auch auf der Rückseite des Buches: »Fritz Roth, bei uns bisher unbekannt, ein österreichischer Autor der jüngsten Vergangenheit, gehört heute zu den ersten Namen vom Anfang des Jahrhunderts. Er wird an die Seite neben so berühmte Autoren wie Kafka und Musil gestellt«. Als ich das Buch öffnete, war darin er zu sehen, Joseph Roth, mit seinem extrem kurzen Werk über einen österreichischen Offizier, der sich infolge diverser Umstände den Bolschewiken in Russland anschließt, um dann von Wien bis nach Berlin und Paris herumzuirren. Jetzt will es mir scheinen, dass es seinem Buch ebenso ergangen ist wie jener Büste seines Kaisers in Ljubljana: Auf dem Sockel fand sich ein anderer wieder. Die Ausstellung, die heute eröffnet wird, soll als Bürge dafür dienen, dass Joseph Roth so etwas in Slowenien, dem einstigen Zuhause des Geschlechts Trotta, nie wieder widerfahren möge. So sollte es wenigstens postum sein. Denn im Leben verhielt es sich mit Roth nämlich so wie mit seinem Helden von Die Flucht ohne Ende, der am 27. August 1926 um vier Uhr nachmittags in Paris »auf dem Platz vor der Madelaine« stand, »inmitten der Hauptstadt der Welt« und nicht wusste, »was er machen sollte. Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt«. Wir wissen nicht, wie es dem Helden des Romans seitdem erging, denn das sind seine Schlusssätze. Dreizehn Jahre später starb in der gleichen Stadt der Autor, der diese Sätze festhielt. Vielleicht dachte er vor seinem Tode ebenfalls an etwas so Verzweifeltes wie sein Held, vielleicht taumelte er in die galizischen Traumlandschaften, nach Brody, nach Lemberg, vielleicht in die dörfli-

Die Flucht ohne Ende

7

che Ruhe des slowenischen Sipolje. In eine Zeit, als die Welt noch nicht »niedergesunken« war. Die Flucht Joseph Roths nahm somit ihr Ende, die Reise seiner Literatur aber nahm erst ihren Anfang. Aus dem Slowenischen von Mira Miladinoviü Zalaznik

Zum Judentum

Sigurd Paul Scheichl

Juden auf Wanderschaft – 2009 neu gelesen

Die Aussagekraft bibliografischer Informationen ist nicht zu unterschätzen. Soweit ich sehe, ist bisher kaum beachtet worden,1 dass Juden auf Wanderschaft zuerst in einer Buchreihe des von 1921 bis 1929 bestehenden Berliner Verlags Die Schmiede erschienen ist,2 der drei Jahre vor diesem Buch Hotel Savoy herausgebracht hatte. Diese »Berichte aus der Wirklichkeit« – so der Name der Reihe – stellen Roths Schrift in einen seltsamen Kontext: Unter den insgesamt sechs Broschüren, die, alle 1927, unter diesem Reihentitel erschienen und deren Autoren durchwegs der Linken zuzurechnen sind, befindet sich neben dem Kriminalistischen Reisebuch von Egon Erwin Kisch eine Schrift über Erfahrungen mit Kokain, eine über Homosexuelle und eine über Alkoholschmuggler. Und eben eine über Ostjuden, Juden auf Wanderschaft. Aus dieser Beobachtung möchte ich nicht ableiten, dass die Juden Ostmitteleuropas 1927 für einen progressiven Verlag in so hohem Maß eine Randgruppe der (damaligen) Gesellschaft gewesen wären wie Drogensüchtige und Homosexuelle. Merkwürdig mutet die Einordnung in diese Reihe gleichwohl an, unabhängig davon ob der Verlag ein fertiges Manuskript in sie aufgenommen hat oder ob das Buch als Auftragsarbeit für sie geschrieben worden ist; dass es sich um eine solche handelt, ist übrigens insofern wahrscheinlicher, als Roth offenbar für eine andere, bekanntere Reihe des Verlags, »Außenseiter der Gesellschaft«, einen dann doch nicht geschriebenen Band zugesagt hatte.3

1

2

3

Eva Raffel: Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig. Tübingen: Narr 2002 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft; 94), S. 109, erwähnt zwar das Erscheinen des Buchs in dieser Reihe, geht aber nicht auf deren Charakter ein. Über diesen vgl. Frank Hermann und Heinke Schmitz: Der Verlag Die Schmiede 1921–1929. Eine kommentierte Bibliographie. Morsum: Cicero 1996. Die Bibliografie war mir nicht zugänglich; ich stütze mich auf den elektronischen Katalog der Deutschen Bücherei Leipzig. In den »Außenseitern der Gesellschaft« sind Arbeiten u. a. von Döblin, Ungar, Ernst Weiß und Kisch über zumeist aktuelle Kriminalfälle sensationellen Charakters erschienen; eine Werbeeinschaltung im Band Die Ermordung des Hauptmanns Hanika von Hermann Ungar (1925) kündigt ohne Angabe von Titeln Bände von mehreren prominenten Autoren, darunter Roth, an; es muss also über die Möglichkeit eines solchen Auftrags mit ihm zumindest geredet worden sein. Von Eduard Trautner,

12

Sigurd Paul Scheichl

Jedenfalls mahnt Roths Vorwort Verständnis und Toleranz für eine auffällige Gruppe ein, sieht also zwar die jüdischen Einwanderer aus dem Osten vielleicht nicht selbst als ›Fremde‹ in der westlichen Gesellschaft, beobachtet aber, dass sie von anderen als solche eingeschätzt werden. Dass sie als ›deviant‹ galten, kann man aus dem Ort der Veröffentlichung jedenfalls schließen. Die Publikation in dieser Reihe überrascht umso mehr, wenn man aus dem sorgfältigen Verzeichnis aller Vorab-, Teil- und Nachdrucke von Juden auf Wanderschaft in Siegels monumentaler Roth-Bibliografie4 Schlüsse auf das intendierte Publikum der Schrift, auf die Leser zieht, bei denen man besonderes Interesse an ihr erwartete: Auszüge stehen vorwiegend in dezidiert jüdischen Zeitungen und Zeitschriften, so der Wiener Morgenzeitung, der Wahrheit und dem jüdischen Familienblatt Menorah,5 die ebenfalls in Wien erschienen, ferner der Berliner Jüdischen Rundschau;6 auch die Frankfurter Zeitung und einige sozialdemokratische Blätter, in denen Kapitel aus dem Buch veröffentlicht worden sind, hatten viele jüdische Leser. Für die Bestimmung der Leserschaft, die Roth vorschwebte, sind diese Publikationsorte aussagekräftiger als das Vorwort. Zwar wendet sich der Autor in diesem an »Leser […], vor denen man die Ostjuden nicht zu verteidigen braucht« (JaW, S. 9),7 an »Westeuropäer« – also nicht spezifisch an jüdische Leser; doch polemisiert er schon an dieser Stelle gegen »jene […], die ihre eigenen […] Väter oder Urväter verleugnen«, also eben gegen assimilierte Juden im Westen, die offenbar doch als Leser in Frage gekommen sind und in dem Werk Gegenstand von Roths Kritik werden. Anders als Katharina Ochse8 sehe ich in Juden auf Wanderschaft nicht so sehr eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus (die in dem Buch

4 5

6

7

8

dem Verfasser eines der »Berichte aus der Wirklichkeit«, stammt auch ein Band der »Außenseiter der Gesellschaft«. Rainer-Joachim Siegel: Joseph Roth-Bibliographie. Morsum: Cicero 1995, S. 59f. Zu diesem jetzt Isabella Gartner: Menorah. Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur (1923–1932). Materialien zur Geschichte einer Wiener zionistischen Zeitschrift. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. Zur Roth-Rezeption und zum Roth-Verständnis dieser Zeitschrift vgl. Mark H. Gelber: »Juden auf Wanderschaft« und die Rhetorik der Ost-West-Debatte im Werk Joseph Roths. In: Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions 1989, Akademie der Diözese RottenburgStuttgart. Hg. von Michael Kessler und Fritz Hackert. 2. Aufl. Tübingen: Stauffenburg 1994 (Stauffenburg Colloquium; 15), S. 127–135, hier S. 132. Zitiert wird mit Angabe der Seitenzahl nach: Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1985 (KiWi; 81). Die Zitate wurden mit der Gesamtausgabe kollationiert. Die Zitate werden paranthetisch im Text mit »JaW« abgekürzt, worauf Seitenangaben folgen. Katharina Ochse: Joseph Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999 (Epistemata Literaturwissenschaft; 273), S. 115. Ochse hat m. E. einen sehr wenig differenzierenden Begriff von ›Antisemitismus‹.

›Juden auf Wanderschaft‹ – 2009 neu gelesen

13

selbstverständlich nicht fehlt) als eine mit dem assimilierten mitteleuropäischen Judentum und dessen Abneigung gegenüber den Ostjuden.9 Auch Klaus Werner weist dem Buch einen Platz im Rahmen der »Ost-West-Auseinandersetzung« innerhalb des Judentums zu.10 Für diese Deutung spricht auch Roths 1929 in einem Brief geäußerter Plan, einer Überarbeitung von Juden auf Wanderschaft den Titel »Die Juden und ihre Antisemiten« zu geben,11 der sich ja nur auf (ost)judenfeindliche Äußerungen assimilierter Juden im Westen beziehen kann. (Dass besonders viele Vorab- und Teildrucke in Österreich erschienen sind, dürfte eher geringe Bedeutung haben.) Solche Beobachtungen machen bewusst, dass Juden auf Wanderschaft, im Jahr 2009 wieder gelesen, in doppelter Hinsicht historisch geworden ist, nicht nur in dem einfachen Sinn, dass in jedem Fall nach acht Jahrzehnten die Leser, an die sich ein Autor gerichtet hat, aus biologischen Gründen verschwunden sind. Aber Roths Buch spricht nicht nur wie jedes ältere Buch von Verhältnissen, die es nicht mehr gibt, sondern von den hier vorgestellten Tatsachen ist heute auch kaum noch eine Spur zu finden. Im deutschsprachigen Raum gibt es obendrein kaum noch Spuren des Publikums, an das jene Teildrucke und an welches wohl auch das Buch sich in besonderem Maß gewendet haben; anders ausgedrückt: Die Leserinnen von 2009 sind nicht die Kinder und Enkel der Leserinnen von 1927; das jüdische Umfeld, in das Roth und, will man den bibliografischen Angaben glauben, speziell dieses Buch eingebunden waren, ist vernichtet. Einem so radikalen Bruch in der Kontinuität der Rezeption unterliegen andere Bücher aus den 20er Jahren nicht – und unterliegt dieses umso mehr, als es von der Anlage her ein aktuelles Buch sein will. Völlig obsolet ist so heute selbstverständlich die Kritik an den Lebensformen der westlichen Juden, die wir allenfalls als Polemik gegen die westliche Zivilisation im Allgemeinen zur Kenntnis nehmen können.

9

10

11

Ochse, ebd., S. 116, bezeichnet westliche Juden wegen ihrer Vorbehalte gegenüber den Einwanderern aus dem Osten als »Antisemiten«; obwohl sie sich dabei auf eine frühere Fassung von Roth stützt, halte ich ein solches Pauschalurteil für problematisch. Klaus Werner: Die galizische Vertikale. Soma Morgenstern im Kontext eines spezifischen Kapitels deutsch-jüdischer Literaturgeschichte. Mit Exkursen zu Joseph Roth, Alexander Granach und Manès Sperber (2000). In: Ders.: Erfahrungsgeschichte und Zeugenschaft. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur aus Galizien und der Bukowina. München: IKGS 2003 (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas. Wissenschaftliche Reihe; 92), S. 161–191, hier S. 170. David Horrocks: The Construction of Eastern Jewry in Joseph Roth’s Juden auf Wanderschaft. In: Ghetto Writing. Ed. by Anne Fuchs and Florian Krobb. Columbia, SC: Camden House 1999 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), S. 126–139, hier S. 128, spricht von einer »sustained critique of Jewish assimilation«. Raffel, Vertraute Fremde (wie Anm. 1), S. 109.

14

Sigurd Paul Scheichl

Es ist somit die Lektüre von Juden auf Wanderschaft nicht nur schwierig geworden, weil viele Einzelheiten nicht mehr verständlich sind, es hat sich vor allem sein Charakter verändert. Auch ohne den mörderischen Bruch der HitlerZeit würde man Juden auf Wanderschaft als ein Werk über vergangene Verhältnisse lesen, aber doch im Wesentlichen als einen journalistischen Bericht über Zustände, von denen manche noch mittelbar betroffen gewesen wären; selbst wer – als Jude – im Westen nie ein jiddisches Wort gehört hatte, hätte gewusst, dass Jiddisch die Muttersprache der eigenen Vorfahren oder der Ahnen jüdischer Bekannter gewesen war, hätte vielleicht mit dem einen oder anderen Wort aus dieser Sprache gespielt (was Roth übrigens in seinen veröffentlichten Texten fast nie getan hat). Heute ist sie eine fremde tote Sprache, bei uns allenfalls von Nicht-Juden in der zeitweise populären Klesmer-Musik gebraucht, ist das Buch jetzt zu einem Werk der Nostalgie geworden, zu einem Werk über eine fast völlig verschwundene Kultur, zu der so gut wie keine deutschsprachige Leserin, kein deutschsprachiger Leser in einem Verhältnis der Kontinuität steht, an der sie vielmehr nur antiquarisch-archäologisch interessiert sein können, und das mit schlechtem Gewissen. Die Rezeptionsmöglichkeiten nach 1945 haben Juden auf Wanderschaft zu etwas gemacht, was es in den Absichten des Autors nicht gewesen ist. Eine naive Lektüre des Buchs ist somit ausgeschlossen. Ich fürchte, dass das auch für andere Werke Roths mit jüdischem Hintergrund gilt (freilich im Fall der Romane nicht im gleichen Ausmaß wie im Fall dieses ›Berichts aus der Wirklichkeit‹) und darüber hinaus für viele ältere Werke zumal in deutscher Sprache, in denen Juden verzerrt oder idealisiert vorkommen. Es hat keinen Sinn, so zu tun, als ob man diese uns durch die Geschichte aufgezwungene Distanz überwinden könnte; Juden auf Wanderschaft bleibt ein fremder Text, dessen Kontext wir mit einiger Mühe rekonstruieren können. Das will ich heute gar nicht versuchen, obwohl solches Wiederherstellen von Verstehenshorizonten der Vergangenheit, solches Kommentieren eine wichtige Aufgabe unseres Metiers ist – der in diesem Fall neben intellektuellen auch moralische Hindernisse im Weg stehen. Erläuterungen helfen dies oder jenes Detail zu verstehen; den Erwartungshorizont eines vertriebenen und ermordeten Publikums kann man mit ihrer Hilfe nicht wieder aufbauen; und könnte man es, bliebe er ein intellektuelles Konstrukt, lassen sich doch die Emotionen eines früheren Publikums auf keinen Fall wieder beleben. Nur ein Beispiel: Wo Roth von den »neuen Gästen« spricht, »die den Schikanen der Konzentrationslager halb lebendig entkommen sind« (JaW, S. 12), erkennen wir aus dem Zusammenhang, dass damit die Barackenlager gemeint sind, in denen (z. B. in Österreich-Ungarn 1914) nach Westen ziehende ostmitteleuropäische Juden aus Gründen der Quarantäne festgehalten worden sind. Doch können wir die Bedeutung, die das Wort ›Konzentrationslager‹ wenige Jahre nach dem Erscheinen von Roths Buch angenommen hat, nicht aus unseren Köpfen löschen. Das Wort wirkt heute entweder verharmlosend oder prophetisch – weder das Eine noch das Andere war es in dem Buch.

›Juden auf Wanderschaft‹ – 2009 neu gelesen

15

So viel zum grundsätzlich ›anderen‹ Charakter der Neulektüre eines Buchs, das in einem viel profunderen Sinn historisch geworden ist als die meisten Werke aus der Vergangenheit. Zur Neulektüre könnte das Thema der ›Wanderschaft‹ anregen. Unsere Zeit kennt große Migrationsbewegungen (tendenziell wieder von Osten nach Westen) und es scheint legitim zu fragen, ob man den Zug der Ostjuden nach Westen als eine Präfiguration der heutigen Zuwanderung aus Osteuropa, Asien und Afrika lesen kann. Eigentlich habe ich erwartet, Roth werde sich auf diesem Hintergrund aktualisieren lassen – doch genaue Lektüre schließt eine solche Aktualisierung aus. Zwar kritisiert Roth den Assimilationswillen der nach Westen fliehenden Juden; doch hat es ihn gegeben, schon wegen der kulturellen Orientierung vieler Juden Osteuropas, wo »jeder lernbegierige jüdische Jüngling« Goethe und Schiller »besser kennt als unser hakenkreuzlerischer Gymnasiast«. (JaW, S. 11) Zu diesem Assimilationswillen und dieser Assimilationsfähigkeit gehört die immer wieder betonte Zusammengehörigkeit der Immigranten mit solchen, die schon früher das Ghetto in Richtung Westen verlassen hatten, gehören Kontakte, die die Auswanderung und die Aufnahme in der neuen Umgebung erleichterten, Kontakte mit den »sagenhaften Vettern der Ostjuden«. (JaW, S. 62) Derartige Voraussetzungen für eine Integration im neuen Lebensumfeld, derartige Stützpunkte, solche »Vettern« haben die Migranten von heute (noch) nicht oder kaum. Allein in einem – wichtigen – Punkt lässt sich eine Parallele zwischen den auswandernden Juden und den Migranten von heute ziehen. Denn Roth beschränkt sich nicht darauf die Existenz der nach Westen ausgewanderten Juden zu beschreiben, sondern er unterstreicht immer wieder, welchen Preis sie für materielle Verbesserungen ihrer Existenz zahlen, was sie dafür aufgeben müssen – bis zum mehrfach erwähnten (JaW, S. 41f., 62, 65) Aufgeben ihrer Namen; Roths Erklärung dieses Verhaltens überzeugt, aber ändert nichts daran, dass die Mendel Krakauer, Rachel Zilberstein und Chana Rosenberg mit ihrem wenn auch amtlich ›falschen‹ Namen ein Stück ihrer Identität preisgegeben haben. In dem kleinen Buch werden nicht nur mehrfach die weiten Landschaften Osteuropas gepriesen und der »Enge des westlichen Horizonts« gegenüber gestellt, »den […] Fabrikschornsteine durchzacken« (JaW, S. 11), sondern es ist auch die Rede von authentischer jüdischer Religiosität, die sich im Westen gleichsam von selbst abflacht zum Synagogenbesuch der glattrasierten »Tempeljuden« (JaW, S. 21) – wobei hier beispielhaft noch einmal auf ein an sich schlichtes Verständnisproblem aufmerksam gemacht sei: Für das präzise Verstehen der Stelle müsste man wissen, ob Roth hier den Begriff »Tempeljude« zu satirischen Zwecken neu prägt oder einen schon geläufigen Kampfbegriff assimilationsfeindlicher Polemik übernimmt. Zum Rühmen der religiösen Praxis der Juden Ostmitteleuropas gehören die scheinbar mit dem Thema der

16

Sigurd Paul Scheichl

Wanderschaft nicht verbundenen ausführlichen Erzählungen vom Besuch beim Wunderrabbi, vom Freudenfest Simchat Thora und von Jom Kippur – in denen das erzählende Ich sich übrigens gerade nicht als eines einführt, das mit diesen Bräuchen und Zuständen von Jugend an vertraut ist.12 (Man vergleiche das Pronomen der 1. Person an der folgenden Stelle, JaW 31: »Es rührte mich tief, daß ein ganzes Volk seine Sinnenfreude seinem Gott opferte […].«)13 Diese Stellen bezeichnen den Unterschied zwischen authentischem östlichen14 und assimiliertem westlichen Judentum; Roth will mit ihnen die Klischees vom schwächlichen unvitalen ›Ostjuden‹ aufbrechen.15 Roth erweist sich in solchen Passagen als Zivilisationskritiker, dem ein Vergleich mit den ebenso zivilisationskritischen Heimatkünstlern und ihrem »völkischen Kulturpessimismus« nicht Unrecht tut,16 auch wenn deren ›Heimat‹ eine andere ist als die seine; Gelber spricht vor allem vom ersten Kapitel des Werks als »einem leidenschaftlichen und schonungslosen Fluch gegen die westliche Zivilisation«.17 Diese Gegenüberstellung der »schwanken Türme westlicher Zivilisation« (JaW, S. 9) und authentischen Lebens in einer unberührten Landschaft18 ist in Hinblick auf eine Frage aktualisierbar, die wir uns in Hinblick auf die Herkunft unserer Migranten so gut wie nie stellen: die Frage, was diese Menschen aufgeben, wenn sie, im schlimmsten Fall unter Lebensgefahr, ihre Heimat verlassen und sich damit aus vielen Traditionen lösen (müssen), in denen sie sozialisiert worden sind. Doch diese Frage stellt sich für uns ganz anders als für Roth: Bei ihm steht das Verhältnis zwischen assimilierten, längst im Westen ansässigen und neu zuwandernden, assimilationswilligen wo nicht assimilationsgierigen Juden im Mittelpunkt. Zwar ist gelegentlich von der Verachtung der Zuwanderer und vom Antisemitismus die Rede; doch diese damalige Form der ›Fremdenfeindlichkeit‹ ist nicht das Hauptthema dieses ›Berichts aus der Wirklichkeit‹. Wie anders sich die Probleme der Migration heute stellen, braucht nicht ausgeführt 12 13 14 15 16

17 18

Zu diesem scheinbar ›westlichen‹ Erzähler bzw. zur schwankenden Perspektive in Juden auf Wanderschaft vgl. Ochse, Auseinandersetzung (wie Anm. 8), S. 116. Anders als Gelber, »Juden auf Wanderschaft« (wie Anm. 6), S. 129, kann ich hier auch nicht das Stilmittel der erlebten Rede erkennen. Werner, Vertikale (wie Anm. 10), S. 169, weist auf vergleichbare Stellen über die Vitalität der östlichen Juden in einer Schrift von Nathan Birnbaum (1915) hin. Vgl. Horrocks, Construction (wie Anm. 10), S. 132–134. Hierzu Wolf R. Marchand: Joseph Roth und völkisch-nationalistische Wertbegriffe. Bonn: Bouvier 1974 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur; 23), S. 190f. Marchand behandelt Juden auf Wanderschaft nicht näher. Gelber, »Juden auf Wanderschaft« (wie Anm. 6), S. 128. Zu prä-ökologischen Gedanken bei Roth vgl. Karlheinz Rossbacher: »Der Merseburger Zauberspruch«. Joseph Roths apokalyptische Phantasie. In: Co-Existent Contradictions. Joseph Roth in Retrospect. Papers of the 1989 Joseph Roth Symposium at Leeds University. Ed. by Helen Chambers. Riverside, Cal.: Ariadne 1991, S. 78– 106.

›Juden auf Wanderschaft‹ – 2009 neu gelesen

17

werden; es ist evident. Allenfalls müsste man die Frage stellen, warum die Publizistik, die sich mit den heutigen Migrationsbewegungen beschäftigt, kaum je in einer Roth vergleichbaren Form von der Welt spricht, aus der die Migranten kommen und deren Tradition sie preisgeben müssen (was ihnen viel schwerer fällt als den seinerzeit nach Mittel- und Westeuropa kommenden Juden). Immerhin gestattet der hier skizzierte Vergleich, die Eigenart der damaligen und der heutigen Wanderungsbewegung besser zu bestimmen. Ein zweiter Gesichtspunkt, unter dem Juden auf Wanderschaft politischsozial aktualisierbar sein könnte, ergibt sich aus dem Schlusskapitel: »Die Lage der Juden in Sowjetrussland«, auf welches auch das Nachwort zur nicht zustande gekommenen österreichischen Ausgabe von 1937 (JaW, S. 74) Bezug nimmt. Die letzten Sätze des Kapitels und damit des Buchs lauten – gewiss nicht zufällig:19 Wenn diese Entwicklung dauert, ist die Zeit des Zionismus vorbei, die Zeit des Antisemitismus – und vielleicht auch die des Judentums. Man wird es hier begrüßen und dort bedauern. Aber jeder muß achtungsvoll zusehn, wie ein Volk befreit wird von der Schmach zu leiden und ein anderes von der Schmach zu mißhandeln; […]. Das ist ein großes Werk der russischen Revolution. (JaW, S. 73)

Dass diese Hoffnungen sich nicht bewahrheitet haben, steht auf einem anderen Blatt. Der Vorstellung, ein radikaler Wandel der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse könnte die durch die Migration entstehenden Probleme lösen, wird man Aktualität auch dann nicht absprechen können, wenn man die darin implizierte Hoffnung nicht teilt, unter anderem eben deshalb, weil es letztlich auch in der Sowjetunion Antisemitismus gegeben hat. Juden auf Wanderschaft lässt sich somit nur sehr eingeschränkt verallgemeinern und auf gegenwärtige Verhältnisse beziehen. Das gilt, aufgrund der völlig veränderten Verhältnisse, erst recht für Roths Gedanken zur jüdischen Nationsbildung, zum Zionismus und zur Einwanderung in Palästina, aus denen ich nur wenige, freilich in der Tat aktuelle Sätze zitiere: Leider ist der junge Chaluz nicht nur ein Heimkehrer in das Land seiner Väter […], sondern er ist auch ein »Kulturträger«. Er ist ebenso Jude wie Europäer. Er bringt den Arabern Elektrizität, Füllfedern, Ingenieure, Maschinengewehre, flache Philosophien und den ganzen Kram, den England liefert. Gewiß müßten sich die Araber über neue, schöne Straßen freuen. Aber der Instinkt des Naturmenschen empört sich 19

Nach Helmut Nürnberger: Joseph Roth. 6. Aufl. Reinbek: Rowohlt 1992 (rowohlts monographien; 301), S. 70, wurde dieser früher geschriebene und schon (am 9. November) 1926 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte Abschnitt »nachträglich angehängt«; von der Funktion der Überlegungen über die Sowjetunion her ist das unwahrscheinlich. Eher ließe sich spekulieren, dass die Erfahrungen in der Sowjetunion das Schreiben des Buchs von 1927 angeregt haben könnten und dieser Abschnitt deshalb, und selbstverständlich sehr bewusst, an das Ende von Juden auf Wanderschaft gestellt worden ist.

18

Sigurd Paul Scheichl mit Recht gegen den Einbruch einer angelsächsisch-amerikanischen Zivilisation, die den ehrlichen Namen der nationalen Wiedergeburt trägt. (JaW, S. 19)

Aktualisierbar bleibt Roths Kritik an den zweifelhaften Segnungen der materiell-technischen westlichen Zivilisation, ein zentraler, vielleicht, über die Kritik an den assimilierten westlichen Juden hinaus, der zentrale Aspekt der Schrift. Diese Kritik zieht sich leitmotivisch vom Anfang (JaW, S. 9) bis zum Schluss (JaW, S. 72) der Juden auf Wanderschaft so konsequent durch, dass man nicht ausschließen möchte, Roth habe sein Buch mindestens so sehr aus Ablehnung der westeuropäischen Welt (und insbesondere der Welt der assimilierten westlichen Juden) geschrieben20 wie als Dokument seiner Zuneigung zur osteuropäischen, für deren innere Größe er immer wieder liebevolle Worte findet: »[…] Westeuropäer, […] die fühlen, daß sie vom Osten viel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen, daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große Menschen und große Ideen kommen; […]« (JaW, S. 9); von »der wahren und warmen Tradition« (JaW, S. 13) ist die Rede; »Ein Verdienst um den Westen erwirbt sich jeder, der mit frischer Kraft gekommen ist, die tödliche, hygienische Langeweile dieser Zivilisation zu unterbrechen […]« (JaW, S. 14); »Die ›Produktivität‹ der Juden ist ja niemals eine grob sichtbare. Wenn zwanzig Generationen unproduktiver Grübler nur dazu gelebt haben, um einen einzigen Spinoza hervorzubringen […], so nehme ich diese ›Unproduktivität‹ in Kauf«. (JaW, S. 72) Seine Biografie als nach Westen gezogener Ostjude bringt Roth in diesem Essay allerdings nicht ins Spiel; er schreibt nicht als Betroffener, sondern aus der Distanz eines fiktiven Mitteleuropäers.21 Es bleibt ein dritter Aspekt, unter dem Juden auf Wanderschaft auf jeden Fall aktualisierbar und lesenswert geblieben ist: die ästhetische Qualität, zu der dieses Ausblenden der eigenen Biografie und der Aufbau einer nichtpersönlichen Perspektive gehören. Welcher Textsorte das Werk angehört, lässt sich nicht ganz leicht bestimmen. Zweifellos weist es Züge der Reportage auf, daneben in der Verbindung von Faktischem und Subjektivem, von Bericht und Deutung Merkmale des Essays; dazu kommen ausgedehnte erzählte Passagen. Nürnberger nennt das Buch ohne weitere Diskussion einen der »schönsten Essays« von Roth22 und macht es sich damit ein bisschen zu einfach, da er so die verschiedenen Darbietungsweisen von Juden auf Wanderschaft auf eine reduziert. Gerade der zumindest in einzelnen Passagen relativ große Abstand zwischen der Person 20 21

22

Vgl. zu diesem Affekt Gelber, »Juden auf Wanderschaft« (wie Anm. 6). Dass das »berichtende Ich« »dem westlichen Kulturkreis zugehörig ist«, stellt auch Gelber, »Juden auf Wanderschaft« (wie Anm. 6), S. 129, fest. Ein indirekter Beweis für diese Konstruktion des auktorialen Ich ist die Nicht-Behandlung von Juden auf Wanderschaft bei Maria Káanska: Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths. In: Kessler/Hackert (Hg.), Joseph Roth (wie Anm. 6), S. 143–156 – in diesem Buch ist Galizien eben nicht als Heimat des Ich erkennbar. Nürnberger, Roth (wie Anm. 19), S. 70.

›Juden auf Wanderschaft‹ – 2009 neu gelesen

19

Roth und dem Ich des Texts unterscheidet das Werk vom Genre Essay, in dem das Ich dem Verfasser prinzipiell sehr nahe steht. Die Frage, ob Juden auf Wanderschaft ein homogener Text ist23 – was eine Voraussetzung dafür wäre, das Werk als Essay zu bezeichnen – , kann ich hier nicht erörtern; Vorbedingung sinnvoller Überlegungen dazu wäre eine genaue Untersuchung der Entstehungsgeschichte24 und damit des Verhältnisses der erwähnten Vorabdrucke, die großenteils im Lauf des Jahres 1927, also im Jahr der Buchveröffentlichung, erschienen sind, zum Manuskript. Der etwas sprunghafte Aufbau könnte ein Indiz dafür sein, dass der kleine Band zunächst nicht als einheitliches Ganzes geplant gewesen ist. Roth beginnt mit ziemlich massiver Polemik gegen den Westen,25 während die »streitsüchtige Stimme des Verfassers [!]«26 in den späteren Teilen milder wird und zuletzt ganz verschwindet, auch von der Stimme eines Polemikers zu der eines Erzählers (und gelegentlich eines Erzählers von Kuriositäten) wird. Am Ende wandelt sich das aus den erwähnten Gründen nur partiell mit Roth identifizierbare Ich noch einmal in das eines (über die Sowjetunion) berichtenden und (die Verhältnisse dort) analysierenden Ich, das für die Zeitgenossinnen leichter als für uns mit dem Autor identifizierbar war, hatten sie doch seine 1926 erschienenen Berichte über das neue Russland (September 1926 bis Januar 1927)27 gelesen oder zumindest davon gehört und den einige Monate vor dem Buch in der Frankfurter Zeitung erschienenen Abschnitt »Die Lage der Juden in Sowjetrußland« (JaW, S. 67–73) vielleicht sogar wieder erkannt. Dieser (geplante?) Wandel der Stimme des Ich und die (kalkulierte?) wechselnde Ferne und Nähe der so entstehenden persona zur Person Joseph Roth könnte aber auch ein Beweis für die Einheit von Juden auf Wanderschaft und für seine Zugehörigkeit zum Genre Essay sein. Eine endgültige Entscheidung sollte nicht auf der Basis textimmanenter Kriterien allein getroffen werden; die Textgenese wäre einzubeziehen. Die ästhetische Qualität von Roths Bericht aus der Wirklichkeit beruht nicht nur auf dieser Vielfältigkeit des einen Ich und der damit verbundenen Vielfalt der Perspektiven. Roth zeigt sich wie stets auch im sprachlichen Detail als der Meister des Stils, der er immer gewesen ist. Ich greife fast beliebig einen Absatz (JaW, S. 30) heraus und zeige an ihm die Stilkunst des Autors: Ich sah, daß in dieser kleinen Stadt lauter rothaarige Juden wohnten. Einige Wochen später feierten sie das Fest der Thora, und ich sah, wie sie tanzten. Das war nicht der 23 24 25 26 27

Horrocks, Construction (wie Anm. 10), S. 127, spricht zu Recht von »a rather fragmented and impressionistic piece of writing«. Laut Siegel, Bibliographie (wie Anm. 4), S. 41, sind zwei Typoskripte und die Korrekturfahnen erhalten. Zum polemischen Aspekt von Juden auf Wanderschaft vgl. Gelber, »Juden auf Wanderschaft« (wie Anm. 6); Horrocks, Construction (wie Anm. 10), S. 127. Gelber, »Juden auf Wanderschaft« (wie Anm. 6), S. 129. Siegel, Bibliographie (wie Anm. 4), S. 273–279.

20

Sigurd Paul Scheichl Tanz eines degenerierten Geschlechts. Es war nicht nur die Kraft eines fanatischen Glaubens. Es war gewiß eine Gesundheit, die den Anlaß zu ihrem Ausbruch im Religiösen fand.

Zunächst doch eine Bemerkung zum Inhaltlichen: Dass Roth von Rothaarigen und von »Gesundheit« schreibt, ist selbstverständlich als Zurückweisung der (nicht nur antisemitischen) Klischees vom schwarzhaarigen und kränklichen Juden im Schtetl zu lesen. Roth setzt in dieser scheinbar an Einfachheit nicht zu überbietenden Passage mehrere – nicht aufdringliche – Mittel ein, um den Widerspruch gegen judenfeindliche Stereotype hervorzuheben. Das Auffälligste sind die Wiederholungen und Parallelismen (die übrigens das ganze Buch durchziehen): »Ich sah« und »und ich sah« – aber mit der Variation: »sah, daß« und »sah, wie«; fast eine Anapher: »Das war nicht […]« »Es war nicht nur […]« und »Es war gewiß […]«, wobei sich Parallelismus und Klimax miteinander verbinden, allerdings auf der Ebene der Sätze und nicht auf jener der lexikalischen Einheiten (an die bei rhetorischen Figuren zu denken man gewohnt ist). Eine Klimax ergibt sich auch aus der Abfolge »nicht der Tanz eines degenerierten Geschlechts«, »nicht nur die Kraft eines fanatischen Glaubens« und »gewiß eine Gesundheit« – womit klar wird, worauf es in der Passage eigentlich ankommt, nämlich auf den Gegensatz zwischen dem Stereotyp des »degenerierten Geschlechts« und der »Gesundheit«. Von der ist dann ein Relativsatz abhängig, der einen weiteren Kontrast markiert, den zwischen dem »fanatischen Glauben« des Stereotyps und dem »Religiösen«, das für die Vitalität der tanzenden Juden nur Anlass ist. Damit wird schließlich auch die Religion der Juden als definierendes Merkmal in Frage gestellt – so dass man zuletzt selbst die Passagen über den »leidenschaftlichen Kampf« der Ostjuden »mit einem Gott, der mehr straft, als er liebt« (JaW, S. 12), als Ausdruck des Respekts vor ihrer Vitalität mehr denn als Würdigung des Judentums als Religion zu lesen geneigt ist. Wenig später steht ja auch: »Ich hatte schon gesehen, wie [die Juden] die Besinnung verloren, weil sie beteten. Das war am Jom Kippur«. (JaW, S. 31) Doch zurück zum beispielhaft heraus gegriffenen Absatz. Ich habe seine Effekte mit dem Begriffsinventar der Rhetorik beschrieben; doch die erwähnten Mittel sind nur bei sehr genauem Hinsehen als (transformierte) rhetorische Figuren zu erkennen. Die Sätze, deren Bau und deren Abfolge sind nach rhetorischen Prinzipien genau kalkuliert, nicht nur der abschließende Relativsatz. Roth schreibt kurze, zudem sehr einfach gebaute Sätze. Der erste besteht aus einem (sehr kurzen) Haupt- und einem (relativ kurzen) Objektsatz, der zweite aus zwei Hauptsätzen, von deren zweitem wieder ein (dieses Mal sehr kurzer) Objektsatz abhängt. Es folgen zwei einfache Sätze, dann noch einmal ein (wenig komplexer) zusammengesetzter, der aus Haupt- und Relativsatz besteht. Die Einfachheit der Syntax unterstreicht die Einfachheit der Wertungen. Im Satzbau gibt es Parallelen auch dadurch, dass die letzten drei Haupt-

›Juden auf Wanderschaft‹ – 2009 neu gelesen

21

sätze das gleiche Subjekt (»Das«, »Es«, »Es«) und das gleiche Prädikat (»war«) haben – wie die beiden ersten »ich« und »sah« gemeinsam haben – , jeweils mit dem Subjekt beginnen und jeweils ein Substantiv (»Tanz«, »Kraft«, »Gesundheit«) die Position des Prädikatsnomens einnimmt. Aus diesem Schema brechen nur »Einige Woche später feierten sie das Fest der Thora« und der abschließende Relativsatz aus, die somit besonderes Gewicht bekommen. Juden auf Wanderschaft, 2009 gelesen – kein aktueller Text; aber einerseits eine Erinnerung an eine unwiederbringlich zerstörte Vergangenheit, an einen auf immer versiegten Quellgrund auch unserer westlichen Kultur, andererseits ein Buch, das unabhängig von Geschichtlichkeit und Aktualisierbarkeit jede faszinieren wird, die Sinn für Sprachkunst hat.

Victoria Lunzer-Talos

Der Segen des ewigen Juden Assimilation und Exil

I Der Titel von Joseph Roths Artikel Der Segen des Ewigen Juden1 scheint es zwar zu versprechen, der Artikel selbst aber bietet kaum etwas von einem Segen, von dem Trost und von der Ermutigung, die jüdische Leser im Jahr 1934, dem Jahr seiner Entstehung, erwarteten und gebraucht hätten. Die Phase der Verfolgung und der Vertreibung der deutschen Juden durch den Nationalsozialismus löste bei Roth selbst eine Phase neuerlicher Solidarisierung mit den Juden in Deutschland aus, wenn auch gewiss einer kritischen Solidarisierung. Jedenfalls verzichtete er weitgehend auf den schnoddrigen, antisemitische Floskeln ironisierend mittransportierenden Journalistenton, den auch er gelegentlich verwendete. Ein Ton, den Roth offenbar auch in der eigenen Familie gebrauchte, erwähnte doch Cousin Fritz Grübel, dass Roth, bereits vor der Machtübernahme Hitlers, seit langem wieder von uns Juden gesprochen habe).2 Fritz Grübel weiß auch zu bestätigen, wie alarmiert Roth sich privat ausdrückte: »Ihr wißt gar nicht, wie spät es ist. Diese Städte [gemeint waren Halberstadt und Goslar] stehen fünf Minuten vor dem Pogrom«3 – eine Warnung, die er öffentlich in dem eindringlichen Gleichnis der Geschichte von Kain und Abel in der Frankfurter Zeitung am 17. August 1932 zu vermitteln gesucht hatte.4 Mittlerweile war geschehen, wovor – nicht nur – Roth gewarnt hatte. Die Mörder mit ihren Kainszeichen am Arm waren an der Macht, und hatten wahr gemacht, was sie angekündigt hatten. Roth – seit Jahren aus freien Stücken nicht mehr vorwiegend in Deutschland lebend – wandte sich mit seinen Artikeln also an ein Publikum von Vertriebenen, in diesem Fall an die Leser der Prager Zeitschrift Die Wahrheit. 1

2

3 4

Zuerst in: Die Wahrheit, Prag, Jg 13, Nr 35, 30. August 1934, S. 4–5, jetzt in: Joseph Roth: Werke. Bd 3. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 527–532. Im Folgenden zitiert als W, 3, mit Seitenzahl. Interview David Bronsen mit Roths Cousin Fred Grubel (früher Fritz Grübel). In: David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 421. Ebd. W, 3, S. 452–453.

24

Victoria Lunzer-Talos

II Die Wahrheit. Unabhängiges Organ für öffentliche Fragen (Prag) war eine 1921 gegründete säkulare jüdische Zeitschrift in deutscher Sprache mit monatlichem, später zweiwöchigem und ab 1933 wöchentlichem Erscheinen. Die Auflage betrug angeblich 4.000 Exemplare.5 Vor einem jüdischliberalen Hintergrund vertrat die Zeitschrift pazifistische und auf Versöhnung ausgerichtete antinationale Tendenzen (was natürlich Zurückweisung des Antisemitismus einschloss). Die Tendenz des Blattes fasste eine programmatische Aussage in Heft 4, 1925 zusammen: Die Wahrheit vertritt, als einziges Blatt Mitteleuropas, einen weitzügigen, nicht an Programme gebundenen Pazifismus, der außenpolitische wie innenpolitische Befriedung zugleich erstrebt.6

Zudem gab das Blatt von Beginn an neueren literarischen und kulturellen Beiträgen Raum, vorwiegend der Prager deutschsprachigen Literatur. Es setzte sich aber auch für grenzüberschreitende wirtschaftliche Freizügigkeit ein (was sich ab 1928 im in Varianten gebrauchten zweiten Untertitel »offizielles Organ des Europäischen Zollvereines« ausdrückte). Nach der Machtübernahme in Deutschland durch die Nationalsozialisten 1933 wandelte sich der Einsatz gegen Nationalismus zu offensivem Antifaschismus. Exilierte Schriftsteller und politische Themen machten Die Wahrheit zu einem Blatt der Exilpresse. Zumindest für 1933 und 1935 stellte Die Wahrheit Rundfragen an respektierte Autoren, betreffend Ausblicke auf die jeweiligen Erwartungen für das folgende Jahr. Sie gab auch einer politisch hochbrisanten Serie von 28 Fortsetzungen über eine Vorbereitung zur Aufrüstung der Deutschen Armee mit biologischen Kampfstoffen Raum. Ebenfalls in der Zeitschrift (sowie in ihrem Verlag der Wahrheit) erschien 1934/1935 in 20 Folgen Magnus Hirschfelds Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr. Die Leitung des Blattes hatten Wilhelm Barba, Béla Rév und Andreas Lustig inne, maßgeblichen Einfluss auf den Inhalt übten Georg Mannheimer (auch Herausgeber der Bohemia) und Justin Steinfeld inne; Kulturbeiträge schrieben in den Anfangsjahren u. a. Gustav Flusser und Hans Klaus (von dem auch ein Fortsetzungsroman, Die Verklärung des Dr. Schourek, erschien). Weitere Beiträge stammten u. a. von Oskar Baum, Christian von Ehrenfels, Walter Hasenclever, Stefan Heym, Theodor Lessing, Heinrich Mann, Otto Pick, Emanuel Rádl, Joseph Roth, Johannes Urzidil. 5

6

Leitheft. Emigrantepresse und Schrifttum. März 1937. Hg.: Der Reichsführer-SS. Faksimile in: Herbert E. Tutas: NS-Propaganda und deutsches Exil. 1933–1939. Worms: Heintz 1973. Siehe: Thomas Dietzel/Hans-Otto Hügel: Deutsche literarische Zeitschriften 1880– 1945. Ein Repertorium. Bd 2. Hg.: Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar. München: Saur 1988, S. 1260–1261.

Der Segen des ewigen Juden

25

Roth wollte mit seinem Artikel in der Wahrheit allerdings auch nicht auf Trost hinaus, wohl aber auf Aufklärung für die Geflüchteten, die sich ihrer Situation bewusst werden sollten. Er selbst – oder vielleicht eher die Redaktion der Zeitschrift Die Wahrheit – hat jedenfalls mit gutem Grund dem Titel des Textes ein Zur Diskussion hinzugefügt. Kommen doch diese Texte Roths nicht ohne Polemik aus.7

III Zur Einleitung seines Artikels Der Segen des Ewigen Juden diente Roth ein – scheinbarer – fait divers aus den Tagesnachrichten: Vor einigen Tagen wurde ein jüdischer Friseur in Marseille wahnsinnig. Er begann, die Fensterscheiben eines unschuldigen Ladens zu zertrümmern, wurde überwältigt und in die Irrenanstalt gebracht. (W, 3, S. 527)8

Das klingt wie eine simple Agenturmeldung, würde nicht das Eigenschaftswort »unschuldig« für ein Geschäftslokal stutzig machen. Den Hintergrund erläutert Roth rasch: Der Mann stammte aus der algerischen Stadt Constantine, wo jüngst ein Pogrom Todesopfer und Verwüstungen hinterlassen hatte. Hervorzuheben war, dass dieser Mann einer der wenigen war, deren Familie und Laden ohne Schaden davongekommen waren. Auf der Heimreise, in Marseille, so berichtet Roth weiter, wurde er plötzlich verrückt, wie gesagt; man sollte meinen: grundlos. Denn wenn irgendein Jude in Constantine von Glück reden konnte, so war es dieser Friseur, dessen Laden und dessen Familie mitten im Pogrom unversehrt geblieben waren. Offenbar aber hatte er, wie es oft jüdische Art ist, das Unglück aller anderen Constantiner Juden als sein eigenes empfunden. Steht es nicht geschrieben, daß »alle Juden Brüder« sind? Die Art, in der sich sein Wahnsinn äußerte, ist bezeichnend: Er begann, im unschuldigen Marseille Rache zu nehmen für die unschuldig zertrümmerten Läden seiner Brüder in Constantine. (Ebd.)

Nicht ohne Ironie formuliert, nein, parodiert Roth in psychologisierender Diktion eine Diagnose: »Exzeptionell-pathologischer Fall jüdischen Verfolgungswahns, hervorgerufen durch eine tatsächliche Verfolgung der Juden«. (Ebd.) Nicht mehr nur Spott, sondern Sarkasmus diktierten ihm die Fortsetzung des Pseudo-›Gutachtens‹: »Auf die Haltung der jüdischen Gesamtheit sei daraus kein Schluß zu ziehen – sagen die Klugen, die sich mit Recht: gemäßigt nennen«. (Ebd.)

7

8

Die Zeitschrift veröffentlichte auch mehrere Zuschriften, die sich für einen eigenen jüdischen Staat aussprachen, und ein Schlusswort Roths, worin er im Wesentlichen seine Aussagen wiederholte, siehe W, 3, S. 533–562. Der Pogrom von Constantine fand in zwei Wellen Anfang August 1934 statt.

26

Victoria Lunzer-Talos

IV Um zu verstehen, worauf sich Roths Sarkasmus bezieht, und zur Einordnung von Roths Argumenten empfiehlt es sich, den zeitlichen Kontext anzusehen und auf vorangegangene Artikel des Autors zu verweisen. Und zwar auf Roths Texte seit Jänner 1933. Joseph Roth hatte in den letzten eineinhalb Jahren, 1933 und bis in den Sommer 1934, nahezu ausschließlich starke eindrückliche Artikel über die Zustände im nationalsozialistischen Deutschland geschrieben, mit der Absicht, die Welt aufzurütteln, jedem klar zu machen, dass es sich um Angriffe auf die europäische Kultur handelte. Er wollte auf die Unsicherheit, die Unentschlossenheit vieler Emigranten wirken; ihnen die Drastik und das Alarmierende der neuen Situation in Deutschland vor Augen führen, unterstreichen, dass man nicht verharmlosen dürfe. Roth wollte das Desinteresse der anderen Staaten an den Zivilisationsbrüchen anprangern und allen die Gefahr für ihre eigene Zukunft klar machen. Wenige Beobachter in aller Welt scheinen sich darüber Rechenschaft abzulegen, was die Bücherverbrennung, die Vertreibung der jüdischen Schriftsteller und all die anderen wahnwitzigen Versuche des Dritten Reiches, den Geist zu zerstören, bedeuten. Der blutige Einbruch der Barbaren in die perfektionierte Technik, der furchtbare Zug der mechanisierten Orang-Utans, bewaffnet mit Handgranaten, mit Giftgasen, Ammoniak, Nitroglyzerin, mit Gasmasken und Flugzeugen, der Aufstand der Nachkommen aus dem Geiste (wenn nicht aus dem Blute) der Kimbern und Teutonen, all dies bedeutet in weit größerem Ausmaße, als es die bedrohte und terrorisierte Welt glauben will: Man muß es erkennen und offen aussprechen: Das geistige Europa kapituliert. Es kapituliert aus Schwäche, aus Trägheit, aus Gleichgültigkeit, aus Gedankenlosigkeit, (es wird Aufgabe der Zukunft sein, die Gründe dieser schändlichen Kapitulation genau zu erforschen). (W, 3, S. 494)

Warnungen im großen epischen Atem sprach Roth also aus, ebenso auch Warnungen im Kleineren vor naivem politischem Entgegenkommen der anderen Länder, dort etwa, wo unter Vortäuschung von Völkerfreundschaft französische Schüler nach Deutschland eingeladen werden sollten, denn dort erwartete sie, so Roth, das Horst-Wessel-Lied, Handgranaten werfen und Juden anspucken zu erlernen.9 Roth schrieb nicht zuletzt in der Absicht, für die vertriebenen deutschen Juden zu sprechen und der Emigration, auch der literarischen Emigration, das Selbstbewusstsein zu stärken, ihr eine starke Stimme zu geben. Zum Beispiel: In dem großen Beitrag L’Autodafé de l’Esprit/Das Autodafé des Geistes, erschienen in der jüdischen französischen Zeitschrift Cahiers Juifs,10 zählte Roth Namen um Namen jüdischer Literaturschaffender auf, 9

10

Joseph Roth: »Man tauscht Kinder aus«. In: Das Neue Tage-Buch, Paris, 29.7.1933, jetzt in: W, 3, S. 488; auch auf Französisch erschienen in: Lu. Presse universelle. Paris, 4. August 1933 unter dem Titel Ecoliers de France. Nr 6, September/November 1933, jetzt in: W, 3, S. 494–503 (in Deutsch).

Der Segen des ewigen Juden

27

jeweils mit freundlichen würdigenden Charakterisierungen versehen. Gewiss um die französischen Leser zu informieren, aber gewiss auch, um die Bedeutung des jüdischen Beitrags zur Deutschen Kultur zu unterstreichen, um den verfolgten Autoren ihren Wert zu bestätigen. (Die doppelte Absicht wird nicht zuletzt daran erkennbar, dass Roth sowohl wirklich nicht sehr bedeutende Autoren nannte als auch solche, die zu loben er noch nie über sich gebracht hatte (z. B. bezeichnete er Lion Feuchtwanger als seinen Freund). Roth hatte – wie man weiß – mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten jeden Kontakt mit Deutschland abgebrochen, ebenso mit jeder Person, die dort weiterhin eine öffentliche Funktion einnahm. Die Distanzierung war absolut, er brach auch den Kontakt mit bisherigen Freunden ab, wenn diese weiterhin in deutschen Zeitungen und Zeitschriften publizierten. Die Gegnerschaft war ihm radikal und todernst. Und mit der gleichen Entschlossenheit setzte Roth auch all sein Können ein, die Gegner zu bekämpfen, natürlich auch mit Einsatz von Spott und Hohn. Dazu eigneten sich das Germanengetue und die Deutschtümelei der neuen Herrscher und ihrer Presse besonders. Reklamierten diese unter anderem das Erbe der Nibelungen für sich – nun, Roth gab einen kurzen Abriss der Nibelungensage, in dem jeder Satz eine vernichtende Beziehung zur geistigen und moralischen Minderwertigkeit dieser ›idealtypisch‹ verherrlichten Germanen herstellte. Aus dem im Juli 1934 erschienenen Beitrag Ring der Nibelungen nur diese paar Zeilen, um Tonfall und Stil zu zeigen: Immer und überall ist Kain der Bösewicht, Abel der Unschuldige schlechthin. Den Germanen allein ist es vorbehalten, einen heroischen Bösewicht zu haben [nämlich Hagen von Tronje, VLT] und einen tückischen Abel. (W, 3, S. 511)

Weiters: Was macht ein rechter germanischer Mann beim Anblick eines Christen? Herr von Tronje ergreift den Priester und wirft ihn in den Fluß! Ein Witz! Ein Kasinowitz! Alle Herren schauen dem Priester zu, der mit dem Wasser kämpft, und lachen sich krank (W, 3, S. 512–513).

Auch Lob, einem ins Exil vertriebenen Dichter gespendet, – Roth verwendete bewusst diese Formulierung (statt mit ›Emigration‹ Freiwilligkeit von Flucht oder Ausreise annehmen zu lassen) – gibt Gelegenheit zur Absage an Deutschland, zur Übertragung des Begriffes ›Heimat‹ weg von Deutschland, das dieser Bezeichnung nicht mehr wert sei. Dem Schriftsteller Walter Mehring bestätigte er: [Sie sind] heimgekehrt in Ihre wirkliche Heimat: in die Einsamkeit, die dem Dichter ziemt – und in das Exil, das jedem anständigen Deutschen ziemt, der nicht im Konzentrationslager gefangen ist. (W, 3, S. 517)

28

Victoria Lunzer-Talos

Roths Publikationen in den Monaten nach der Machtergreifung der Nazis könnten wir in heutiger Diktion eine ›positive‹ oder ›offensive‹ Pressekampagne nennen: Definition des Gegners, Motivation der eigenen Leute zu positiver Sicht auf ihre geistige und moralische Position. Seine Angriffe auf den deutschen Ungeist, sein Hohn auf die aktuelle Deutschtümelei, vor allem seine absolute Distanzierung von Deutschland in diesen Artikeln sind aber offenbar nicht auf ungeteiltes Verständnis oder gar Zustimmung vieler geflüchteter Deutscher bzw. deutscher Juden gestoßen. Roth sah die Protest-Stimmen, die ihn wegen seiner polemischen Artikel erreichten, die Äußerungen deutscher – nein, deutsch-jüdischer Vaterlandsliebe, Bedrohung hin, Vertreibung her, als Ergebnis der von ihm seit langem angegriffenen Assimilation. Lange und heftig erfolgte die Auseinandersetzung mit diesen Zuschriften, die unmittelbar, noch im August 1934, zwei Stellungnahmen Roths hervorriefen, die näher angesehen werden sollten. Die erste sagt es schon im Titel: Die Juden und die Nibelungen, die zweite, ein Korollar dazu, wenig später erschienen, ist der Artikel Der Segen des ewigen Juden. Mit zwei Stimmen der Vaterlandsliebe und dem Lob deutscher Kultur setzte sich Roth im ersten der beiden Artikel, in Die Juden und die Nibelungen heftig und polemisch auseinander. Jüdische Flüchtlinge insistierten in ihren Zuschriften auf ihrer Zugehörigkeit zu Deutschland, ihrem Land, das ihr Land bleibe, was immer es auch tue. Diesem Themenkomplex widmet Roth den ersten Teil des Artikels. Aus der Zuschrift einer »jüdische[n] Dame aus Deutschland, in Holland wohnhaft (und wahrscheinlich dorthin geflüchtet)« greift Roth ein Hauptargument auf: »Soll die Vaterlandsliebe nicht, wie jede Liebe, bedingungslos sein«?11 Die Briefschreiberin ergänzte ihre rhetorische Frage noch um das Argument, Mutterliebe verleugne schließlich auch ein irregeleitetes Kind nicht. Dagegen setzt Roth seine entschiedene Absage an fehlgeleitete Zugehörigkeitsgefühle, wiederholt den Satz aus seinem Artikel Fern von der Scholle, gegen den die Dame sich gewandt hatte: »Wohl aber kann ein Land, in dem Böses geschieht – nicht mehr unser Vaterland genannt werden«.12 Im Weiteren transzendierte Roth das individuelle und säkulare Problem der Vertriebenen und verwies hier schon auf das Thema, das ihn im Segen-Artikel 11 12

W, 3, S. 521–522. Joseph Roth: »Der Segen des ewigen Juden«. In: W, 3, S. 522, zuerst in: Das neue Tage-Buch, Paris, Jg 2, Nr 28, 14. Juli 1934, S. 667. Joseph Roth zitierte nun seinen eigenen Text, wenn auch gekürzt. Dort (»Fern von der Scholle«) hieß es: »Unser Vaterland ist zwar nicht jenes, in dem es uns gutgeht [sic]! Wohl aber kann ein Land, in dem Böses geschieht und in dem das Böse zubereitet wird wie in der Küche der Hölle, nicht mehr unser Vaterland genannt werden. Wir brauchen keine ›Scholle‹, auf der das Unkraut gedeiht«. (W, 3, S. 516).

Der Segen des ewigen Juden

29

hauptsächlich beschäftigen sollte, auf die ›ewige‹ Rolle des jüdischen Volkes, auf dessen Bindung an Gott: »Bedingungslos, wie die Schreiberin meint, ist nur eine Liebe: die zu Gott. (Für die Gläubigen; und für manche: die Liebe zur Wahrheit.)«13 Daraus leitete Roth die Aufforderung an die deutschen Juden ab, die eigene Geschichte ernster zu nehmen, sich mit ihr statt mit diesem Deutschland – oder einer sonstigen ›Heimat‹ zu identifizieren: Die Juden besonders hätten tausend Gründe, äußerst sparsam mit der Behauptung umzugehen, ihre Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Volke sei ehernes Schicksal. Die Vorfahren der Schreiberin waren zuerst in Palästina heimisch, dann in Spanien, dann in Deutschland, vielleicht auch in Polen, hierauf wieder in Deutschland. Als die Inquisition wütete, konnten die »Besten des Volkes« keineswegs »ihre Wurzeln im Erdreich des alten Vaterlandes lassen« […]. (W, 3, S. 523)

Um zuletzt in die ›Niederungen‹ der Tagespolitik – und der Polemik – zu kommen, ergänzte Roth süffisant: Nebenbei gesagt, es würde alle Juden und Jüdinnen in den Augen der sogenannten »arischen« Völker mehr ehren, wenn sie diese einzig bedingungslose Liebe [nämlich die zu Gott, VLT] bekennen würden, als wenn sie die Liebe zu ihren so oft wechselnden Vaterländern eine »bedingungslose« nennen wollten. (Ebd.)

Bemerkenswert ist, dass dieser Brief Roth offenbar wirklich exemplarisch erschien. Er hat ihn – mitsamt seiner privaten Antwort an die Schreiberin Ilse Blankenstein – aufgehoben, und beide sind erhalten.14 Roths privater Antwortbrief insistierte ebenfalls auf der Fehl-Orientierung durch Assimilation, ja Überassimilation. Diese verhindere richtige Reaktionen, z. B. dass auch ›echte[r]‹ Deutsche[r] aus den führenden Familien Preußens, Bayerns, des Rheinlands […] sich von Deutschland freigesagt haben, weil es das Dritte Reich geworden ist. Was einem Grafen K. und einem Baron M. und so vielen anderen recht ist, sollte den Juden billig sein.15

Im Übrigen seien Juden nicht nur ›moralisch‹ und politisch gefordert, wie die anderen Deutschen auch, sondern in ihrer eigentlichen Essenz attackiert. Mit ihrer jüdischen Identität hätten sie durch Überassimilation ihre Würde verloren, nun sei es angebracht, sich auf das Judentum zurückzubesinnen. Nicht nur Frau Blankenstein, das gesamte assimilierte deutsche Judentum ist mit Roths Schlussworten gemeint:

13 14 15

W, 3, S. 522. Leo Baeck Institute, New York, Bornstein Collection, AR 4082, Series V Joseph Roth, Subseries 4, A, Box 2, Folder 1. Joseph Roth an Ilse Blankenstein. Brief vom 11. August 1934. In: Heinz Lunzer/Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth. 1894–1939. Ein Katalog der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur zur Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien. Wien: Dokumentationsstelle 1994, S. 155.

30

Victoria Lunzer-Talos Wenn man Juden den blutigen Schimpf antut, der ihnen jetzt in Deutschland zugefügt wird, darf kein Jude »verzeihen«. Halten Sie sich lieber an Jehova, gnädige Frau, nicht an Martin Luther und an den aufgeklärten Rabbiner, der Ihnen wahrscheinlich Religions-Unterricht erteilt hat. Ich bin Ihr sehr ergebener Joseph Roth.16

Nein, Empathie zeigte Roth hier nicht. Hatte er das Thema der Abwendung von einem Vaterland, das sich einer verbrecherischen Politik zuwandte, noch auf argumentativer Ebene abgehandelt, geriet ihm die Aufforderung zu würdevollem Verhalten rasch zur Polemik.

V Und polemisch geht es im zweiten Teil des Artikels Die Juden und die Nibelungen auch weiter, mit zum Teil recht seichtem Spott über einen ›Nibelungennärrischen‹ Emigranten. (Wobei es auch dort nicht beim Spott allein blieb). Erstmals verließ Roth hier den hohen bzw. ernsthaften Ton, der bisher seine ersten Exilartikel (bis in die kleineren Themen) geprägt hatte. Roths satirische Bloßstellung ›germanischer Werte‹ in der Nibelungensage trug ihm u. a. den Vorwurf ein, offenbar ungebildet zu sein, »Kulturgut den Spöttern preisgegeben« statt sich an das »tiefe Schweigen echter Gläubigkeit« gehalten zu haben.17 Auf den Vorwurf der ›Unbildung‹ allerdings reagierte Roth überraschend heftig. Die Argumentationsebene ›Nibelungen‹ fertigte er mit einem weiteren Aufruf zur jüdischen Selbstbesinnung stimmig mit Teil 1 des Artikels ab: »Möchten die Juden doch endlich einsehen, dass es ihnen eher ansteht, Jehova zu verteidigen als etwa die Nibelungen«! (W, 3, S. 525) Der Vorwurf aber, ein implizit ungläubiger, ein aufgeklärter Spötter zu sein, motivierte Roth zu einer überraschend umfangreichen Selbstdarstellung. Dass jemand »nicht weiß, wer ich bin« (W, 3, S. 524), traf Roth so sehr, dass er seinen Rang als Autor und Literaturkenner betonte. Vor allem aber nahm Roth die Gelegenheit wahr, seinen aktuellen geistigen, religiösen und auch politischen Standort vorzutragen. Roth betont emphatisch, nicht heimatlos, also kein Emigrant zu sein, sondern noch ein Vaterland zu haben, das sich der Nazi-Aggression widersetze. Er brüstet sich geradezu mit Österreichs Standhaftigkeit, die einst die Tataren (eigentlich waren es osmanische Heere) aufgehalten habe, und heute die Deutschen, d. h. er setzt diese etwas aufgebauschten Siege in Bezug zur Gegenwart um, wo gerade ein Putsch der Nationalsozialisten gescheitert war (auch das 16 17

Ebd., S. 155–156. W, 3, S. 524.

Der Segen des ewigen Juden

31

geschah nicht ganz glorios durch österreichische Wehrhaftigkeit, schließlich wurde dabei der amtierende Bundeskanzler ermordet). Dieses Bekenntnis zu Österreich ist zugleich eine tagespolitische Verstärkung jedes Widerstandswillens Nazi-Deutschland gegenüber sowie eine Distanzierung von den Exilanten: Er, Roth, als Österreicher, sei eben keiner von ihnen. Vieldeutig nimmt sich aber die folgende Andeutung eines persönlichen konfessionellen Interesses am Konkordat der katholischen Kirche mit Hitler aus. Zu dieser Zeit war Roth bemüht, seine Präsenz im katholischen österreichischen Ständestaat zu verstärken. Sowohl aus der Notwendigkeit, Publikationsmöglichkeiten und Verdienstmöglichkeiten zu finden, als auch in der Absicht, sich in die publizistische Verteidigung des Landes gegen Hitler einzubringen. In seinem vor kurzem abgeschlossenen Buch Der Antichrist war Roth katholischer Apokalypsenrezeption nahe gekommen – auch darauf mag er sich hier beziehen. Jedenfalls führt schon die nächste Aussage, nämlich dass dieses Konkordat auch Juden angehe, zurück in die politisch relevanten Aussagen Roths. So berechtigt diese Bemerkung auch ist, bedenkt man die innenpolitischen Konsequenzen des Konkordats, so rasch ist auch dieser Aspekt vom Tisch, was von Roth nicht ausgearbeitet wird. Zuletzt fertigt Roth den Briefschreiber (dessen Namen er übrigens nannte, während er den Namen der Dame diskret verschwieg) im schnoddrigen Journalistenton von früher wie einen ›Judenbengel‹ ab: »Beinahe könnte man glauben, es gäbe eine Art jüdischer ›Chuzpe‹, die sich noch hinter germanischen ›Belangen‹ verbergen kann«. (W, 3, S. 525) Solche Textstellen mögen manchen der langjährigen Leser Roths ratlos gelassen haben, was seinen Standort betraf. Von Empathie konnte jedenfalls wirklich keine Rede sein.

VI Um zurück zu kommen auf jüdische Existenzfragen, auf den Beitrag: Der Segen des ewigen Juden – und somit auf den algerischen jüdischen Friseur. Roth nimmt ihn ernst: Der Mann steht für ungebrochenes Reagieren auf einen Angriff und für Solidarität, hatte er sich doch – sogar in Abwesenheit – mit den anderen Juden aus Constantine attackiert gefühlt. Seine Tat war daher auch in Roths Sicht exzeptionell, im landläufigen Sinn wohl pathologisch, da Gewalt gegen Dinge den Angreifer nicht treffe. Dennoch ist sein Auftritt exemplarisch, und ehrenhaft: in Constantine, so führt uns Roth vor, erlaubt man sich noch Wut und Gegenwehr, wenn man angegriffen wird, ist man noch ein ungebrochener Mensch. Zwar wurde der Mann in eine Anstalt eingewiesen, aber sozusagen aufrechten Hauptes.

32

Victoria Lunzer-Talos

Mit dieser Figur als Kontrast war Roth bei seinem eigentlichen Thema angelangt: der seiner Ansicht nach inadäquaten Reaktion eines großen Teils der deutschen Juden auf die Verfolgung durch den Nationalsozialismus. Nicht mehr nur die blinde ›Vaterlandsliebe‹, sondern auch die mangelnde Selbstbehauptung nahm Roth, und verstärkt, auch in diesem Artikel ins Visier. Und formulierte gleich anfangs, satirisch, einen fiktiven Kommentar zur Friseur-Geschichte, wie ihn die durchschnittliche Presse geschrieben hätte – beschwichtigend, ignorant, als wäre nicht Bedeutendes geschehen, und er liest sich auch wie eine Parodie: »Auf die Haltung der jüdischen Gesamtheit sei daraus kein Schluß zu ziehen – sagen die Klugen, die sich mit Recht: gemäßigt nennen«. (W, 3, S. 527) Dieses: gemäßigt – den Doppelpunkt hier muss man betonen, ja geradezu aussprechen – enthält die Kritik. Denn: das Wort gemäßigt lässt, von Roth durchaus beabsichtigt, weitere Begriffe der Unfreiheit assoziieren: wie etwa Mäßigung, gemaßregelt – bezeichnet also das Ergebnis eines Unterdrückungs-, Manipulations- und Selbstunterwerfungsprozesses. Roth mag u. a. auch an die Selbstzensur, an die Unterdrückung von Zorn und Abwehr anlässlich einer gegen ihn gerichteten Polizeiaktion bei seinem Freund Stefan Zweig – in dem Roth immer einen ›Parade-Angepassten‹, einen ›Erz-Assimilanten‹ sah – gedacht haben, von der Zweig ihm brieflich berichtet hatte: »man hatte bei uns […] eine Hausdurchsuchung gemacht […] bis in meinen Wäscheschrank und ich hatte die Kraft diese maßlose Beschimpfung und Missachtung […] vor Euch allen zu verschweigen«.18 Das heißt ja, Zweig war auch noch stolz darauf, nicht reagiert zu haben. Mit ätzender Polemik (und mit antifeministischen Ansätzen, die eine eigene nicht hier im Kontext des Exils zu führende Auseinandersetzung erforderten) setzte Roth nun mit seinen Attacken an (bzw. dort fort, wo er im Artikel Die Juden und die Nibelungen geendet hatte), indem er jene angriff, die noch an ›deutsche‹ Werte glaubten: Es sind immer wieder die »Gemäßigten«, die da sagen, der Nationalsozialismus »vergewaltige« das deutsche Volk. Ein Volk, das sich vergewaltigen läßt, ist (ebenso wie eine Frau) in den Vergewaltiger verliebt. Es ist sinnlos, das deutsche Volk gegen seinen Hitler in Schutz nehmen zu wollen. Der Nationalsozialismus hat recht, wenn er sagt, er allein sei der Vertreter des deutschen Volkes. In dieser Stunde hat er jedenfalls recht.

Und weiter: Deshalb erscheint es uns sinnlos, wenn die geschlagenen, ohnmächtigen, vertriebenen Deutschen sich und der Welt einzureden versuchen, das »Dritte Reich« sei gewissermaßen nur ein fataler Irrtum; es gebe das »andere Deutschland«; und derglei18

Stefan Zweig an Joseph Roth. Brief vermutlich vom Mai 1934, In: Joseph Roth. Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 334.

Der Segen des ewigen Juden

33

chen begreifliche, aber höchst nutzlose Tröstungen und Ausreden mehr. Zu den fanatischen Verbreitern dieser Versionen gehören die deutschen Juden. (W, 3, S. 528)

Dass sie – jedenfalls viele von ihnen – sich den Kriterien, dem Be- bzw. Verurteilungsschema der Nationalsozialisten unterwarfen, statt diese anzuprangern, offenbare, so Roth, den Grad der Fehlentwicklung: Sie reagieren anders als jener Friseur aus Constantine, aber gleichfalls pathologisch. Sie verraten eine Abart des Verfolgungswahns: Man könnte ihn einen stoischpatriotischen nennen. Sie betonen so sehr ihre Zugehörigkeit zum Deutschtum, daß man sie an dieser Überbetonung allein schon erkennen würde […]. (W, 3, S. 528– 529)

Und das alles für ihren fatalen Irrtum, an ein Deutschland mit Kultur geglaubt zu haben, statt ihren Stellenwert klar zu sehen. Roths polemische Abrechnung lautet: Die in Deutschland ansässigen Juden hatten den Deutschen zu viel moralischen Kredit gewährt. […] Sie sahen in den Deutschen die Nation Lessings, Herders, Goethes. Ist es nun im allgemeinen eine höchst strittige Frage, ob die Nationen ein Recht haben, auf »ihre« Genies stolz zu sein, so ist es doch in Deutschland sehr deutlich zu sehen, erschreckend deutlich, daß seine Genies und Talente wie arme Verirrte oder Verbannte aussehn, vom Vaterland mißachtet und das Vaterland geringschätzend. Das deutsche Genie fühlt sich keineswegs in Deutschland zu Hause. Beispiele sind bekannt. Die Genies spielen in Deutschland beinahe die gleiche Rolle wie die Juden. (W, 3, S. 529)

Langsam verschiebt Roth den Fokus seiner Argumentation weg von der Kritik am Verhalten der deutschen Juden und hin zur Tragik ihrer Situation. Alles staatsbürgerliche und individuelle konstruktive Verhalten, alles Wohlverhalten in den Zeiten der Assimilation ist an inhärenter Ablehnung gescheitert. Ach, die Armen! Sie haben Wohltaten, Aufklärungen, Demokratie, Sozialismus gesät, und sie ernten Hakenkreuze! Aber obstinat, wie sie nun schon seit 4000 Jahren sind, ein Volk mit geducktem, aber dennoch steifem Nacken, weigern sie sich, einen Irrtum zuzugeben. Sie sind die ewigen Patrioten. Würde ist selten in der Welt. (W, 3, S. 530)

Roth war es ein ernsthaftes Anliegen, mit diesem Beitrag den Exilierten nachdrücklich klar zu machen, dass ihre – alte – Sache verloren sei. Mit folgenden Worten leitete Roth den zweiten Teil des Artikels ein: Zum erstenmal seit der Emanzipation erleben die deutschen Juden eine mörderische Demütigung, mit der verglichen die Verfolgungen, denen sie im Mittelalter ausgesetzt waren, harmlos genannt werden können […] (W, 3, S. 529)

Der Tonfall wird schwerer, die Wortwahl Roths ist hier mehr als überraschend, sie schockiert – mörderisch ist unbestreitbar, aber das Wort »Demütigung« greift außerordentlich tief in die jüdische Befindlichkeit, ebenso die supponierte Steigerung gegenüber früheren Pogromen. Das war – und ist – eine Be-

34

Victoria Lunzer-Talos

schreibung der Sachlage mit extremen Dimensionen. Aufrütteln durch schockieren wird zum Stilmittel. Denn wenn auch die unmittelbare Reaktion auf das Wort »Demütigung« für uns Heutige, im Rückblick, unbestreitbar ist, es als ›Untertreibung‹ zu sehen, sollten die Zeitgenossen zusammenzucken. Die Adressaten jedenfalls werden es als gezielte Provokation empfunden haben – Roth übertreibe, bausche auf; dass Roth weissagt, wird man kaum gedacht haben. Und als Provokation war es gewiss auch gemeint. Verfolgungen aus Judenhass ziehen sich durch die Geschichte – hier aber legte Roth den Finger auf den Unterschied, auf die Wunde, darauf, dass der Schwerpunkt der Entwürdigung durch die Nationalsozialisten mit Abwertung, mit ›Unwert-Setzung‹ der Juden als Menschen, jedes einzelnen und korporativ, begründet wurde. Dass diese Minderbewertung der Juden in Deutschland längst schon gegolten habe, dass sie sich mit Illusionen und Lebenslügen seit Jahrzehnten darüber hinweggetäuscht hätten, darauf insistierte Roth nun schonungslos. Z. B. nennt er die im Allgemeinen deutschen Bewusstsein so wichtige Armee, wo der Aufstieg jüdischer Soldaten mit einer gläsernen Decke beschränkt war (übrigens im Gegensatz zur k. u. k. Armee). In der Erwartung weiteren Fortschritts sowie der Anerkennung ihrer Teilnahme an den deutschen Kriegszügen, so skizzierte Roth, hofften sie bestimmt, mit der Zeit aus Feldwebeln zu Unterleutnants werden zu können – lange konnte doch die noble germanische Seele nicht mit der Anerkennung zurückhalten! – Törichte Optimisten, diese deutschen Juden! Während sie auf die volle Gleichberechtigung warteten […]. (W, 3, S. 530)

Mit einem beleidigend-provozierenden Fazit schloss Roth den Punkt ab: »Würde ist selten in der Welt«. (Ebd.) Seit einigen Jahren distanziert vom Deutschen Milieu, zumeist in Frankreich lebend, als vergleichender Betrachter von außerhalb konnte Roth mit fremden Augen sehen und das nunmehr lebenswichtige Urteil des Auslands vorwegnehmen, konnte die Flüchtlinge vor der unmittelbaren Wirkung ihrer Haltung warnen: Es gibt einen Punkt, wo ihre lächerliche und obstinate Treue zu Mördern und Banditen in den Ländern, deren Gäste sie sind, Mißtrauen erwecken wird. […]. Aber ein Vaterland, in dem der Mord Gesetz ist, wird geächtet in der Welt – und wer ihm treu bleibt, verfällt ebenfalls der Acht. (W, 3, S. 530–531)

Als Gegenbeispiel verwies Roth auf anders sozialisierte Juden, deren Verhalten ihm achtenswerter, richtiger erschien: Wie aufrichtig waren die Juden des Zaren und die polnischen Juden, als sie flohen! Auch sie liebten die Länder, in denen sie geboren waren! Aber sie haben im allgemeinen eine präzisere Vorstellung von der Relativität der Beziehung des Individuums zum Staat, das heißt: zum »Vaterland«, und von der Würde des Geschlage-

Der Segen des ewigen Juden

35

nen. […] Sie verleugnen nicht ihre Herkunft, aber sie unterdrücken auch nicht berechtigte Gefühle – was uns noch schimpflicher erscheint als die Verleugnung der Heimat. (W, 3, S. 531, Hervorhebung im Original)

In diesen wenigen Zeilen tut Roth den deutschen Juden seinerseits einen weiteren ›Schimpf‹ – um in seiner hier gewählten Diktion zu bleiben – an: er verweigert ihnen das Wort ›Niederlage‹, das ja vorhergehenden Kampf impliziert. Dass das Anerkennen der Niederlage für Roth einen Angelpunkt in der differenzierenden Schau auf die Situation und für die Suche nach Wehrhaftigkeit bedeutete, belegt der Text Autodafé des Geistes. Als Roth ihn schrieb, war er – und das ist er auch bis an sein Lebensende geblieben – durchdrungen von der Funktion jüdischen Geistes für zumindest die europäische Kultur. In dem Panorama des neu-barbarischen Deutschland, hier im Artikel im Kontext internationalen Dialogs – nannte Roth die Entwicklung bzw. das Nicht-verhindert-haben-können eine Niederlage. Wir deutschen Schriftsteller jüdischer Abstammung müssen in diesen Tagen, da der Rauch unserer verbrannten Bücher zum Himmel steigt, vor allem erkennen, daß wir besiegt sind. Erfüllen wir, die wir die erste Welle der Soldaten bilden, die unter dem Banner des europäischen Geistes gekämpft haben, die edelste Pflicht der in Ehren besiegten Krieger: Erkennen wir unsere Niederlage. Ja, wir sind geschlagen. (W, 3, S. 494, die ersten beiden Hervorhebungen VLT, die letzte Hervorhebung im Original.)

In ein solches ›wir‹, das macht die Gegenüberstellung deutlich, in dieses ›wir‹ schloss Roth die deutschen Juden, die den Ungeist entschuldigten statt ihn abzulehnen oder gar zu bekämpfen, nicht ein.

VII Den abschließenden Teil seines Textes Der Segen des Ewigen Juden leitete Roth apodiktisch, mit einem als ›Tatsache‹ bezeichneten Axiom ein: »Die Juden sind älter als der Begriff der ›Nation‹« (W, 3, S. 531). Nach den bisher im Artikel auf Fakten und Beobachtungen getroffenen Feststellungen kommt diese Behauptung überraschend und unvermittelt, ein von Roth formulierter Glaubenssatz, dessen Ableitung aus der jüdischen Religion Roth in der Folge aufgriff. Die von Roth supponierte Tradition oder Identität der ›Nicht-Nationalität‹ hätten die Juden nun verleugnet, als sie – umgeben von Nationen und durch deren nationalistisches Agieren in ihrer Existenz bedroht – im Zionismus Eigenstaatlichkeit und damit gesicherte Lebensbedingungen anzustreben begannen. Wobei Roth dem Zionismus zwar die grundsätzliche Zustimmung versagte, ihn aber auf der praktisch-materialistischen Ebene sogar als »notwendig« und »gesund« (Ebd.) bezeichnete. Dass die ›jüdische Heimstätte in Palästina‹,

36

Victoria Lunzer-Talos

der strukturell schon gefestigte Jischuw, Flüchtlinge aufnehmen und Leben retten konnte, vermerkte Roth auch in den folgenden Jahren mehrfach positiv. Was er hier, im vorliegenden Text, nicht ausführte, war seine zeitweise manisch auftretende Opposition gegen die Idee und gegen die geistigen Träger des Zionismus, Martin Buber etwa, denen er geistigen Gleichklang mit dem Nationalsozialismus vorwarf, und Stefan Zweig vor einer Zusammenarbeit mit Chaim Weizmann warnte.19 Noch auf der realpolitischen Ebene angesiedelt betonte Roth in seinem Text die Bedeutung kosmopolitischer ›Instanzen‹, die durch ihre Internationalität die Enge und Gefährlichkeit nationaler Staaten im Zaum halten, überspielen und vielleicht auch unnötig machen könnten. So eine Entität könnten die Juden sein, würden sie sich nicht, wie an den deutschen Juden gerade aufgezeigt, in nationalen Verbänden fixieren. Dass so eine jüdische Internationale trotz der Behauptungen der Antisemiten eben nicht existiere – was Roth beklagte –, dass sie aber angesichts des Scheiterns des Sozialismus und des momentanen Versagens der katholischen Kirche notwendig wäre, an dieser seiner Auffassung ließ Roth keinen Zweifel. Was aber hatte Roth den vertriebenen und verjagten Exilierten zu sagen? Er rekurrierte auf göttliche Gebote als Orientierung, aber bot keine konkrete Lösung an. Im Namen Gottes trug er ihnen auf, sich ihrer gottgegebenen und in der Bibel festgeschriebenen Mission zu besinnen. Die damit verbundenen Bedingungen, die sie auf sich nehmen mögen, bestünden jedenfalls in dauerndem Exil, d. h. im Verzicht auf eine Heimstätte. Positiver formuliert, als Intention der Schöpfung: »Die ganze Erde ist vorläufig unsere Heimat. Unsere wirkliche Heimat aber ist der ewige Schoß Gottes«. (W, 3, S. 662) Diese göttliche Mission tritt in Roths Text in zweierlei Formulierungen auf, in zwei Sätzen bzw. Satzteilen mit kleinen aber relevanten Unterschieden. Version 1 besagt dass, »zwischen der Mission der Juden, der Welt Gott zu geben, und ihrem Bedürfnis, ein ›eigenes Land‹ zu besitzen, ein gewaltiger Widerspruch liegt«. (W, 3, S. 531, Hervorhebung v. Verf.) Version 2 lautet: »Sie waren über die Welt verstreut worden, um Gottes Namen zu verbreiten. Sie haben indessen Gott selbst vergessen und müssen sich nun wieder in eine geographisch beschränkte Nationalität zurückziehen«. (Ebd., Hervorhebung v. Verf.) Die Differenz zwischen den Texten wirft die Frage/den Verdacht auf, ob hier – tendenziell? – zwei Religionen angesprochen werden: Waren doch die Juden nie aufgefordert, der Welt einen Gott zu geben, die Christen hingegen haben das, ihrem Glauben entsprechend, schon getan (nämlich den Juden Jesus Christus als solchen anerkannt und damit das Judentum transzendiert).

19

In: ebd., S. 420.

Der Segen des ewigen Juden

37

Die Ambiguität der obigen Textstellen, und die Tatsache, dass sich in den beiden hier besprochenen Artikeln noch weitere mehrdeutbare Stellen finden, gibt zu denken. Diese Textstellen beziehen sich auf: – die Jüdin, die zu der Familie Jesu Christi gehört;20 – das konfessionelle Interesse am Konkordat, das Joseph Roth für sich reklamiert;21 – die Formulierung: »das alte Volk, das seinen Propheten mißtraute und Jesus Christus auslachte« (W, 3, S. 529). Wie viel Aussage aus den Differenzen abgeleitet werden kann, bedürfte einer interdisziplinären Untersuchung, die hier nicht geleistet werden kann. Der schillernde Umgang, den Roth mit seinen Affiliationen zu Religionen pflegte, eröffnet ein breites Feld an Möglichkeiten. Zum Beispiel wären als Interpretationen denkbar: – Ansprechen bzw. Einbeziehen beider Konfessionen, Verwendung von jeweils eingängigen Diskussionselementen, bzw. Nicht-Abschrecken der einen oder anderen davon, – Herstellen von Nähe zu katholischen Kreisen ohne sich explizit zu positionieren, – Andeutung eines katholischen Bekenntnisses. Festzuhalten ist jedenfalls, dass Roth nicht beabsichtigt, seinen Lesern eine praktische Lösung oder Hilfestellung zu geben. Ja, nicht einmal Sympathie oder Empathie. Ideell sprach er ihnen eine Mahnung bzw. Ermahnung aus, sich ihrer Jahrhunderte lang gültigen und anerkannten Identität zu erinnern und sie wieder anzunehmen. In die Richtung religiöser bzw. sittlicher Ermahnung deutet auch der sprachliche Gestus: Roth wählte auffallend häufig brave, altmodische, besinnliche oder mit moralischer Wertigkeit befrachtete Worte – wie sie Erziehungsliteratur anstünde. Der gewählte Ton gehört allerdings nicht milden Ermahnungen an, sondern suggeriert eher ein Strafgericht: Denn nicht zuletzt ließ er in den Passagen, die von bereits stattgehabten Verfolgungen und vom Vergessen auf Gott Töne anklingen, die an die Anklagen des Propheten Jeremias gegen die religiöse und sittliche Verderbtheit seines Volkes erinnern und an seine Drohung, dass Gott deshalb Unheil über das Volk bringen werde. Die Texte der Propheten handeln von Gottes Gericht – das segnende Wirken Gottes würde für nach dem Gericht zu erhoffen sein.

20

21

Bezogen auf Ilse Blankenstein, in »Die Juden und die Nibelungen«: »Es gibt, wie gesagt, nur eine bedingungslose Liebe: die zu Gott. Das sollte gerade eine Jüdin wissen, die zu der Familie Jesu Christi gehört«. (W, 3, S. 523). Nochmals Roth in Die Juden und die Nibelungen über seine Position: » […] weitens geht es mich sehr wohl – aus konfessionellen Gründen – an, mit wem die Kirche ein Konkordat schließt« (W, 3, S. 525) – eine Formulierung, die eine katholische Konfession für den Autor ostentativ denkbar erscheinen lässt.

38

Victoria Lunzer-Talos

Wer nun den Auftrag seines jüdischen Gottes wieder annehme, der, so Roth, gehe damit auf jüdisch-religiöse Weise um. Er werde Bestätigung in den alten Schriften finden. Wer ihn nicht annimmt, der bleibe rechtens ungetröstet. Mindestens so stark wie auf dem Wert der Wanderschaft liegt in diesem Text der Akzent in der Aufforderung zum Befolgen der jüdischen Gesetze. Joseph Roth widmete dem Kampf gegen den Nationalsozialismus einen großen Teil seiner publizistischen Arbeit nach 1933 sowie ein Gutteil seines persönlichen Einsatzes. Als möglichen – und potenten – Mitstreiter in diesem Kampf sah er schon vor Hitlers Regierungsantritt die katholische Kirche an, verstärkt durch monarchistische Parteinahmen und Traditionen in Hinblick auf die Bewahrung Österreichs vor einem Anschluss an Hitlerdeutschland. Die Notwendigkeit, derartige Initiativen zu unterstützen, bedingte eine Annäherung an deren Positionen, die Roth auch heftig wahrnahm. Wie weit seine persönlichen Überzeugungen darin Ausdruck fanden, bleibt allerdings diskutabel. Roth lebte in seinem Alltag definitiv nicht streng nach religiösen Vorschriften oder Richtlinien. Das verhinderte aber nicht, dass er für sich – abstrakt genommen – wenn schon eine jüdische – einzig die traditionelle Orthodoxie als jüdische Autorität, als Stimme des Gesetzes anerkannte, und, wie der Text Der Segen des ewigen Juden zeigt, sie als für Juden verbindlich erachtete.

Klaus Zelewitz

Zur Dialektik des insistierenden Dementis: Joseph Roth und der Zionismus

1996 hat Mark Gelber eine eher knapp nach Roths Tod aufgestellte Behauptung von Alfred Werner (1943),1 »Roth sei sogar noch gegen Ende seines Lebens ein begeisterter Zionist gewesen« als eine »sehr problematische Aussage«2 qualifiziert, die charakteristisch sein könne »für eine bestimmte weitverbreitete Tendenz im Judentum, alle möglichen jüdischen Erscheinungen, sogar sehr zweifelhafte, gleichwohl als sehr jüdisch, oder wie hier, als zionistisch zu bezeichnen«. Mark Gelber hat Roths »bitteren Ton«, den er zu diesem Thema in seinen Briefen an Stefan Zweig anschlägt, als Gegenreaktion auf Zweigs angebliche wachsende Sympathie für den Zionismus interpretiert. Schon um 1970, offenbar im Anschluss an den 75. Geburtstag des Schriftstellers, war eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen, die Joseph Roth betrafen; so bereits in der ersten Jahreshälfte Hermann Kestens Ausgabe der »Briefe 1911–1939«,3 in denen sich auch die eine oder andere Bemerkung zum Zionismus findet. Wenn Roth 1934 schrieb »Ich bin weit davon entfernt, ein Gegner der zionistischen Idee zu sein«, empfiehlt es sich dringend, seinen Beitrag noch etwas weiter zu lesen. Roth schränkt nämlich gleich darauf entscheidend ein: Ich bezeichnete sie lediglich deshalb als eine tragische, weil ich unter dem Gedanken leide, daß ein Volk, aus dessen Schoß der »Allerweltsgedanke« geboren ist, nunmehr gezwungen wird, eine kümmerliche »Nation« mit »Vaterland« zu werden. Ich anerkenne diese Notwendigkeit. Aber ich bedauere sie. Ich bedauere sie genau so, wie ich die anderen Nationen, die anderen Vaterländer, die anderen »Schollen« bedauere. Ich wünsche überhaupt keine Vaterländer.4

Und dann setzte Roth noch ein technisch-pragmatisches Argument hinzu: 1 2

3 4

Alfred Werner: Joseph Roth. In: The Universal Jewish Encyclopedia. Bd 9. New York 1943, S. 232. Mark H. Gelber: Zur deutsch-jüdischen Rezeptionsgeschichte. Joseph Roth und die Jüdische Rundschau. In: Mark H. Gelber (u. a. Hg.): Von Franzos zu Canetti. Jüdische Autoren aus Österreich. Neue Studien. Tübingen: Max Niemeyer 1996, S. 201. Roth an Stefan Zweig, Brief vom 24. Juli 1935. In: Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970. Joseph Roth: Jedermann ohne Pass. Schlusswort zum »Segen des ewigen Juden«. In: Joseph Roth: Werke. Hg. von Klaus Westermann. Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, Bd 3, S. 546 (ursprünglich in: Die Wahrheit [Prag], 6. Oktober 1934).

40

Klaus Zelewitz Aber: reicht es auch für alle Juden? Reicht dieses »Vaterland« nicht, nach optimistischen Berechnungen, für kaum drei Millionen Juden? Und es gibt nicht nur deren sechzehn in der Welt. Sondern: innerhalb dieser sechzehn Millionen streben zwei Drittel durchaus nicht zu einem palästinensischen Vaterland, sondern zu einer (restringierten) »Assimilation« an die Nationen, innerhalb deren sie leben!5

Man wird freilich richtig gehen anzunehmen, dass es sich bei der dieser Drittelung lediglich um eine vage Einschätzung Roths handelt. Ebenfalls 1970 hat Hansotto Ausserhofer im Zusammenhang mit seiner Dissertation seine Arbeit Joseph Roth im Widerspruch zum Zionismus veröffentlicht. Ausserhofer stellt schon im Titel klar, was er in der Folge dann auch überzeugend belegt: »Ein Nationalismus, ob ideologisch verbrämt oder rassisch gefärbt«, widerspreche nach Roths Auffassung »dem geschichtlichen Sendungsauftrag der Juden, und von dieser Position sei Roth auch in seiner katholischen Zeit nicht abgerückt.«6 Matityahu Kranz hat fünf Jahr später eine »Ergänzung« (Kranz) zu Ausserhofers Beitrag nachgebracht, die manches Interessante enthält, aber wenig grundsätzlich Neues bringt. Kranz’ Feststellung: »Die zionistische Idee hatte nicht den geringsten Einfluß auf Roths Gedanken«7 ist mit diesem absoluten Geltungsanspruch nicht haltbar. Die Arbeiten von Ausserhofer und Kranz kann man klar in die Kategorie »Dementi eines zionistischen Engagements« einordnen. Eine wiederum 1970 erschienene, einschlägige Arbeit kannte Kranz jedoch nicht, oder er ignorierte sie: »Joseph Roths lebenslange Auseinandersetzung mit dem Zionismus«, verfasst von David Bronsen, dem Doyen der Roth-Forschung. Mit diesem Titel suggeriert Bronsen jedenfalls eine Art permanente Auseinandersetzung Roths mit diesem Thema. Er zeigt sich dann zwar in seinem Text erstaunt darüber, dass es »auffallend ist, wie oft Roth sich im Laufe seines Lebens publizistisch zum Zionismus äußerte«,8 führt jedoch in seinem Aufsatz selbst lediglich fünf (!) entsprechende Beiträge an. Es gehört zum einfachen germanistischen Handwerkszeug zu wissen, dass es im Erzählprozess als Mittel der zeitlichen Komprimierung neben der durativen Raffung auch die iterative Raffung gibt. Die zeitlichen Sprünge, die Roth dabei aber vollführt, sind in ihrer Weite rekordverdächtig, oder anders ausge5 6 7

8

Ebd. Hansotto Ausserhofer: Joseph Roth im Widerspruch zum Zionismus. In: Emuna Horizonte 5 (1970), S. 325–330, hier S. 327f. Matityahu Kranz: Joseph Roths Stellung zum Zionismus. Eine Ergänzung zu H. Ausserhofers Aufsatz ›Joseph Roth im Widerspruch zum Zionismus‹. In: Tribüne 55 (1975), S. 6376–6392, hier S. 6380. David Bronsen: Joseph Roths lebenslange Auseinandersetzung mit dem Zionismus. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden (ZGDJ) 1 (1970), Olamenu, Tel Aviv, S. 1–4, hier S. 1.

Zur Dialektik des insistierenden Dementis: Joseph Roth und der Zionismus

41

drückt: Eine lebenslange Auseinandersetzung Roths mit dem Zionismus existiert nicht. Auch wenn man David Bronsens Roth-Biografie, lange Zeit das Standardwerk zu Roth, einigermaßen aufmerksam durchgeht, wird man das Thema Zionismus dennoch nur recht ab und zu leicht aufblitzen sehen. Man darf an dieser Stelle verschiedene Äußerungen Roths zum Zionismus nicht unterschlagen, auch wenn oder gerade weil sie durchaus etwas unterschiedlich ausfallen. So lehnte er noch 1938 eine Bitte seines früheren Schulkollegen Nachum M. Gelber, die Aufbringung von Geldern für den Landerwerb in Palästina zu unterstützen, mit der Begründung ab, er sei kein Zionist.9 Wenn Roth im Spätsommer 1934 Stefan Zweig gegenüber feststellte, die geplante Emigration seiner Schwiegereltern nach Palästina sei etwas »Schreckliches«,10 geschah diese Äußerung wohl eher aus Sorge, wie er dann mit seiner kranken Ehefrau Friedl verfahren solle, und weniger aus Distanz zum Zionismus. Und es geht aber auch nicht nur in Briefen, sondern auch publizistisch viel gemäßigter: In Juden auf Wanderschaft lehnt Roth den Zionismus zwar einerseits als Anachronismus ab, gesteht den Juden aber »ein Recht auf Palästina« zu, weil sie »kein anderes Land will«.11 Wenn man Versuche einer Vereinnahmung Joseph Roths in den Zionismus zurückweist, muss man sich auch fragen lassen, ob es legitim ist, ihn zum Österreicher zu stempeln, seine Literatur in die österreichische zu reihen; gerade wenn man als Österreicher von Vornherein nicht unbedingt vom Verdacht frei ist, man könnte parteilich argumentieren. Vor 1930 lebte er nicht nur Jahre mit einem Lebensmittelpunkt in Deutschland, sondern darauf konzentrierte sich auch ein großer Teil seiner journalistischen Arbeit, und zugleich war das Land mehr als nur eine Matrix für so einige Romane. Gegen Ende der Zwanziger Jahre wurde das weltoffene Frankreich, wurde Paris seine geliebte Wohnstadt. Erst dann revitalisierte Roth seine Affinität zu Österreich: Was das aber genauer bedeutet, ist so ganz klar nicht. Dies liegt zum Einen an undeutlichen mitunter schillernden Formulierungen Roths, zum Anderen aber an einem objektiv schillernden Österreich-Begriff. In einer mährischen Provinzstadt – die recht gut auch für die mährische Stadt W. Pate gestanden haben könnte, in der Franz von Trotta als Bezirkshauptmann agiert – schildert Roth »Die k. und k. Veteranen«. Gespalten lebt der Präsident dieser Veteranen – einerseits in der damals gegenwärtigen Armee Leutnant, andererseits als Veteran Oberst – in Vergangenheit und Gegenwart zugleich:

9 10 11

Interview mit Erna Avni, Sdeh Nahum, Israel (zit. ebd., S. 3). Joseph Roth an Stefan Zweig. Brief vom 18. September 1934. In: Joseph Roth: Briefe (wie Anm. 3), S. 379. Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. In: Joseph Roth: Werke (wie Anm. 4), Bd 2, S. 836.

42

Klaus Zelewitz Und nicht ganz klar war die Rolle, die er an Kaisers Geburtstag spielte. Schrieb ihm die militärische Sitte vor, sich am achtzehnten August vormittags um zehn Uhr beim Garnisonskommandanten als Leutnant zu melden, so verpflichtete ihn sein Ehrenamt, vor demselben Garnisonskommandanten mit seinen sechzig Veteranen schon um elf Uhr des gleichen Vormittags im Kasernenhof Aufstellung zu nehmen. War er noch um zehn Uhr verhältnismäßig jugendlich, mit einem einzigen goldenen Stern am Kragen, in einem himmelblauen Paraderock und in schwarzen Hosen mit grünen Passepoils hinter dem großen Säbel, mit einem wuchtigen, goldenen Kragen, eine breite, schwarz-gelbe Schärpe quer um den Leib, in einem schwarzen Anzug mit dunkelroten Säumen, mit einem schweren Paradehut mit grünen wehenden Federn gegen ein Uhr nachmittags an der Spitze seines Zuges aus der Kaserne, alt geworden und kaum zu erkennen. Die Hauptleute und die Majore selbst grüßten ihn nunmehr zuerst.12

Hier ist noch eine ironische Distanz unüberhörbar; aber die verschwand bald: Im Ton hymnischer Verbrüderung appellierte er 1932 an Ernst KĜenek »Ja, ja, wir sind Österreicher!«,13 und wenig später, dann wohl schon unter dem Eindruck des Aufstiegs der Nationalsozialisten scheint Roth selbst zum Veteranen mutiert: »Ich bin ein alter österreichischer Offizier. Ich liebe Österreich«.14 Bald darauf tadelte er brieflich Stefan Zweig und warf ihm vor, er »verstehe nicht ganz, dass Sie nicht ganz und ungeteilt Österreicher sind« und sein, Roths, eigener »aktiver österreichischer Patriotismus«15 gründe bereits im ersten Weltkrieg, als er einer preußischen Division zugeteilt gewesen sei. »Diesen Zeitabschnitt seines Militärdienstes«, stellte David Bronsen schon 1974 fest, »mit den farbigen Blüten seiner Fabulierkunst«.16 Eine solche farbige Blüte ist auch diese frühe Geburtsstunde eines aktiven österreichischen Patriotismus. Jene Leser aber, die einen österreichischen Schriftsteller meiner Art etwa für einen »Kritikaster« halten, sind in der Tat nicht Verteidiger des ersten universalen und katholischen deutschen Staates, sondern des »zweiten« und des »kleinen Alpenländchens«. Es sind brave, wohlmeinende »Gau«-Verteidiger. (Aus dem Stoff, aus dem sie gemacht sind, kann man unter Umständen auch »Gauleiter« machen.) […] Diese braven, ahnungslosen Patrioten, die Gau-Katholiken und die Gau-Österreicher […]17 12 13 14 15 16 17

Joseph Roth: Die k. und k. Veteranen. In: Joseph Roth: Werke (wie Anm. 4), Bd 3, S. 64–70 (Ursprünglich in: Frankfurter Zeitung vom 18. Juni 1929). Joseph Roth an Ernst KĜenek. Brief vom 10. September 1932. In: Joseph Roth: Briefe (wie Anm. 3), S. 226. Joseph Roth an Stefan Zweig. Brief vom 28. April 1933. In: Joseph Roth: Briefe (wie Anm. 3), S. 262. Joseph Roth an Stefan Zweig. Brief vom 31. August 1935. In: Joseph Roth: Briefe (wie Anm. 3), S. 276. David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 168. Joseph Roth: An den »Christlichen Ständestaat«. In: Joseph Roth: Werke (wie Anm. 4), Bd 3, S. 674 (ursprünglich in: Der Christliche Ständestaat, 23. Juni.1935).

Zur Dialektik des insistierenden Dementis: Joseph Roth und der Zionismus

43

Auf eine Ablehnung eines nicht selten ins Braune changierenden Alpenkatholizismus der österreichischen Zwischenkriegszeit stoßen wir bei Roth mehrmals; sie zeugt wieder einmal von seinem politischen Gespür. Für ihn ist die totalitäre, faschistisch gewordene Republik nicht »›der zweite deutsche Staat‹, sondern der erste, sozusagen: der allererste deutsche und übernationale und christliche Staat«! Zugleich jedoch beklagt Roth »nicht nur geistige Beschränktheit, sondern auch, so fürchte ich, jene unselige geographische, zu der wir Österreicher durch den Friedensvertrag verurteilt worden sind«, distanziert sich aber deutlich von dieser geistigen Beschränktheit und unterzeichnet den Artikel »mit österreichischem, welt-österreichischem Gruß«. Wenn Roth aber die geistige und geographische, oktroyierte Beschränktheit des gegenwärtigen Österreich beklagt, legt er zugleich wiederum einen Abstand zwischen diesen Staat und sich selbst, und die Anrufung »mein gottseliger Kaiser, Franz Joseph I.« im ersten Teil des Artikels verweist auf das monarchistische Österreich vor 1918; auf welches? – Auf den Gesamtstaat, umgangssprachlich nicht selten »Österreich« genannt anstatt »ÖsterreichUngarn«? Oder auf die »österreichische Reichshälfte« (wiederum nicht die offizielle, genaue Bezeichnung), die jedoch auch viele Slawen umfasst hatte und auch viele Juden, auch und vor allem Galizien, Roths Herkunftsland. Wirklich klar ist also Roths Österreich-Bezug nicht, und ich kehre wieder zurück zu seiner Position zum Zionismus. Dem Satz Roths »Ein Zionist ist ein Nationalsozialist, ein Nazi ist ein Zionist«.18 wird in der Forschung erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt; dies gilt umso mehr, als er nicht eine beiläufig hingeworfene Bemerkung darstellt, sondern Teil einer langen und geschlossenen Argumentationskette, in der Roth im August 1935 seinen Briefpartner Stefan Zweig zu überzeugen versucht, Chaim Weizmann – den späteren ersten Präsidenten des Staates Israel – auf keinen Fall in eine von Zweig offensichtlich konzipierte Allianz von prominenten Gegnern des Nationalsozialismus zu bitten. Bronsen und Ausserhofer erwähnen den Satz mit keinem Wort, Kranz versucht sie mit der Bemerkung, aus ihr spreche »ein unbeherrschter Haß, der sehr weit geht«,19 vom Tisch zu wischen. Der lange Brief enthält eine ganze Reihe von Sätzen, die zum selben Argumentationsmuster gehören: Vergessen Sie, bitte, nicht, […] dass ferner die Zionisten – im Unterschied von allen anderen Juden – den Nazis sehr nahe stehen; dass sogar zwischen beiden Beziehungen aller Art vorhanden sind; dass sogar Sympathien zwischen beiden vorhanden sind, wie zwischen Nationalisten selbstverständlich ist […] Ich sehe also nicht ein, warum Sie gerade durch einen Bruder der Nationalsozialisten, nämlich einen Zionisten, sei er auch ein genialer, einen Kampf gegen Hitler beginnen wollen, der ja nur ein blöder Bruder des Zionisten ist. 18 19

Joseph Roth an Stefan Zweig. Brief vom 14. August 1935. In: Joseph Roth: Briefe (wie Anm. 3), S. 419–422. Kranz, Joseph Roths Stellung (wie Anm. 7), S. 6389.

44

Klaus Zelewitz

Bereits in einem Vorgängerbrief an Zweig hatte Roth – der sich in einer Apposition wieder einmal als »Jossel Roth aus Radziwillow«20 identifizierte – geschrieben: Mein Judentum ist mir nie anders, als eine akzidentelle Eigenschaft erschienen, etwa wie mein blonder Schnurrbart (er hätte auch schwarz sein können). Ich habe nie darunter gelitten, ich war nie darauf stolz. Ich leide auch jetzt nicht darunter, dass ich deutsch denke und schreibe [….]»Palästina«, »Menschheit« sind mir längst zuwider.21

In einem dritten Brief aus dieser Phase – Roth schrieb an Zweig damals in sehr kurzen Abständen – mahnt er seinen als »teurer Freund«22 angesprochenen Mäzen eindringlich, warum der die Verachtung der jüdischen Rasse erst heute sehe, und nicht schon vor zwei, 2¾ Jahren und stellt trocken fest: »Diese Bestialität war von Anfang drin«. Eine zur Bestialität gesteigerte Nationalität verweist einen Österreicher auf ein Epigramm Franz Grillparzers als Subtext. Der Weg der neuern Bildung geht Von Humanität Durch Nationalität Zur Bestialität.23

Die Perfektion des letzten Stadiums, jenes der »Bestialität«, hat Joseph Roth im Nationalsozialismus nicht mehr erlebt – oder sollte man besser sagen: erleben müssen. Die »Entfesselung der nationalen Dynamik«, so Gideon Botsch, »verhinderte in vielen Fällen die friedliche Integration der verschiedenen ›Ethnien‹ in multiethnische Staatsverbände«.24 Es bleibt aber, milde ausgedrückt, zumindest eine beträchtliche Impertinenz, Roth in die Nähe des Zionismus zu setzen: In wissenschaftlichen Beiträgen dies immer wieder zu dementieren, häufig halbherzig und schwach belegt, verbündet sich mit den seltenen Positionierungen, die Roth direkt für den Zionismus requirieren möchten. Dafür dass ich dies jetzt eben selbst in gewisser Weise unternommen habe, kann ich eine branchenübliche Erklärung ins Treffen führen: Es geschah in wissenschaftlichem Eifer. Ich bitte dafür um Verständnis. 20 21 22 23 24

Joseph Roth an Stefan Zweig. Brief vom 24. Juli 1935. In: Joseph Roth: Briefe (wie Anm. 3), S. 417. Ebd., S. 417f. Joseph Roth an Stefan Zweig. Brief vom 19. August 1935. In: Joseph Roth: Briefe (wie Anm. 3), S. 424. Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Hg. von Peter Frank und Karl Pörnbacher. 2 Bde. München 1960, Bd I, S. 500. Gideon Botsch: Der Zionismus. Eine jüdische Nationalbewegung. http://www.natio nalanarchismus.org/nationale_anarchie/Zulieferer/Denkwurdig/Botsch/botsch.html, Zugriff: 15. Mai 2009.

Zwischen Kulturen und Orten

Mira Miladinoviü Zalaznik

»Der Patriotismus beginnt erst bei den Aktionären des Hotels«.1 Die Hotelwelt Joseph Roths

Vor bald vierunddreißig Jahren bin ich zum ersten Mal auf Joseph Roth gestoßen. Es war im Bahnhof von München, jenem vorübergehenden Halteplatz, der per definitionem die Rolle einer Begegnungsstätte zwischen fremd und heimisch innehat, an der, wie es schien, jenes mitteleuropäische Stations-Flair, das Roth so großartig wiedergegeben hat, spurlos vorbei düste. Ob es als Schicksal oder als Fügung bezeichnet werden kann, dass mir, einer Leserin und angehenden Germanistin aus Slowenien, gerade die beiden »slowenischen« Romane des begnadeten, mir damals jedoch völlig unbekannten Fabulierers, nämlich Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft ins Auge und danach in die Hände fielen, ist nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, so will mir heute scheinen, dass es eine Liebe auf den ersten Blick war. Beim Lesen seiner Werke erging es mir ähnlich, wie es Roth verkündet hatte: »Der Künstler muß den Leser besiegen, einfangen, durch Täuschung, mit Gewalt, durch Überrumpelung. Er muß ihn ›spannen‹ […].«2 Seitdem befasse ich mich mit mäßiger Regelmäßigkeit mit Roth: als Leserin, Übersetzerin, Germanistin. Davon, dass man eines Tages eine Konferenz zu seinen Ehren in Slowenien organisieren würde, konnte damals nicht geträumt werden, da Roth in diesem Land östlich des Westens als abtrünniger Sozialist und überzeugter Royalist verschrien war. Die Konstellation, dass die Trottas aus dem slowenischen Sipolje stammten, konnte ebenfalls nicht als ein mildender Umstand angesehen werden und zu seiner Rehabilitation beitragen. Doch tempora mutantur: Vor einem Jahr kam Kollege Lughofer in mein Büro mit dem Vorschlag, Joseph Roth in Ljubljana zu ehren, wenn es ginge, in einer Parallelaktion. Gesagt, getan bzw. nach einigem Herumtelefonieren vorgeschlagen und durchgeführt. Was in diesem Zusammenhang vielleicht noch eine kleine Erwähnung verdient, ist der Umstand, dass mir, wider Erwarten, mehr Schwierigkeiten als die Organisation der Konferenz die Wahl des Themas für mein Referat bereitete. Doch endlich stand auch das fest: Die Hotelwelt. Nun, auf die Erleichterung folgte unweigerlich eine erste logische Frage: Was genau ist ein Hotel? Das Wörterbuch der slowenischen Schriftsprache aus 1

2

Joseph Roth: Werke. Hg. von Fritz Hackert und Klaus Westermann. 6 Bde. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989/1991. Im Folgenden zitiert als W mit Band- und Seitenzahl, hier W, 3, S. 6. W, 3, S. 156.

48

Mira Miladinoviü Zalaznik

dem Jahr 1970 wartet mit der nachfolgenden Definition auf: »[…] veþji gostinski obrat, v katerem se dobi prenoþišþe in hrana […]«.3 Dem trockenen Charme des Selbstverwaltungsvokabulars jener Zeit ist zu entnehmen, dass Hotel ein Gastgewerbebetrieb sei, in welchem man Logis und Kost bekäme. In Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1895, das Joseph Roth vermutlich nicht nur zeitlich näher stünde als ein Wörterbuch aus dem Zweiten Jugoslawien, liest man: Hôtel (franz., spr. [h]otell), großes palastähnliches städtisches Haus, namentlich als Wohngebäude hoher Staatsbeamten (z. B. Gesandtschaftshotel) oder einer reichen aristokratischen Familie. Die Eigenartigkeit des Hotels bildete sich in Frankreich im 17. Jahrh. aus; es ist von der Straße durch ein eisernes Gitter oder einen niedrigen Thorbau und den cour d’honneur geschieden. Zur Seite des Hofes liegen Dienerund Wirtschaftsräume. Der Hauptbau (corps de logis) enthält an der Hofseite die Wohnräume, an der gegenüberliegenden Gartenseite im Erdgeschoß die Festräume. […] Name von Gasthäusern, in denen die Fremden in der Hauptsache nur Wohnung, bez. Bedienung und Frühstück suchen, und zwar für längern Aufenthalt […]4

Und Gasthäuser sind […] Häuser, deren Inhaber (Gastwirte) gegen Entgelt Speise, Trank etc. verabreichen und Herberge geben, im engeren Sinne Wirtschaften, mit deren Besitz das Recht, Fremde über Nacht zu beherbergen (Gastgerechtigkeit), verbunden ist, im Gegensatz zu Speise- und Kaffeehäusern, Restaurationen, Schenken (Krügen, Kneipen).5

In einer Zeit, in welcher der Raum eine zunehmend wichtige Rolle spielt, sind auch Hotels, wie das menschliche Leben überhaupt, von einer gewissen Polarität gekennzeichnet: sie können irgendwo zwischen dem privaten und öffentlichen Raum angesiedelt werden, kehrt man doch in ein Hotel entweder als Privatperson oder geschäftlich ein, um dort, an einem Durchgangsort, eine temporäre und erschwingliche Gastfreundschaft zu genießen. Und hatte denn nicht auch Franz Ferdinand Trotta, zum ersten Mal wohl in seinem Leben etwas resolute Privatinitiative zeigend, sein Zuhause in eine private Pension umgewandelt, in der nach dem Zerfall der Monarchie, dem Ende des großen Krieges und der alten Welt, seine Freunde zu – allerdings – nicht stets zahlenden Gästen wurden? Sein Zuhause wurde somit aus einem familiären Raum zu einem gesellschaftlichen, aus dem Raum der Kultur zu einem der Nützlichkeit, aus dem Raum der Freizeit zu jenem der Arbeit.6 3 4

5 6

Slovar slovenskega knjižnega jezika. Bd 1. Hg. von Anton Bajec et al. Ljubljana: DZS 1970, S. 821. Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagwerk des allgemeinen Wissens. Fünfte, gänzlich neubearbeitete Auflage. Achter Band. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1895, S. 1041 (Hervorhebung im Original). Ebd., Siebenter Band. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1894, S. 123. Vgl. Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. von Jörg Dünne und Stephan Günze.

Die Hotelwelt Joseph Roths

49

Eines jener Hotels, welchem Joseph Roth am meisten zugetan war, hieß Hotel Foyot in Paris: Meine erste große Liebe, seitdem ich Wien verloren habe, ist Paris. Ich liebe mein Quartier Latin, mein Hotel Foyot. Es ist mein Hotel. Man gibt mir dort Geld und zu essen, wenn ich in Not bin. Es ist diskret, ruhig, vornehm […] Rilke hat es mir gezeigt. Er lag dort an einer schweren Krankheit darnieder. Desgleichen der arme Radiguet. Bin ich etwa der dritte, dessen Name mit »R« beginnt und der in diesem gastfreundlichen Haus enden wird.7

Wie wir wissen, ist gerade diese, vielleicht von ihm sogar herbeigesehnte, Befürchtung Roths nicht in Erfüllung gegangen. Hotels haben Roth privat und beruflich interessiert und fasziniert. Er hat sie bewohnt und zum Objekt seiner Kunst gemacht. Das Thema schien Anfang des 20. Jahrhunderts in der Luft zu liegen. Es nahmen sich seiner sowohl Franz Kafka in seinem unabgeschlossenen Werk Amerika an als auch Thomas Mann im ebenfalls unvollendeten Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, um hier stellvertretend nur diese zwei zu nennen. Doch ging Roth hierbei am weitesten, denn er benannte einen seiner Romane nach einem Hotel. Das Hotel Savoy aus dem gleichnamigen Roman (1924) wurde ihm zum Ort der Sehnsucht, zum Schauplatz eines Neuanfangs, zur Stätte des Aufbruchs in die neue Welt. Gabriel Dan, ein Sohn russischer Juden, ein Heimkehrer aus dem Krieg und Außenseiter, steht zum ersten Mal nach fünf Jahren »wieder an den Toren Europas. Europäischer als alle anderen Gasthöfe des Ostens scheint mir das Hotel Savoy mit seinen sieben Etagen, seinem goldenen Wappen und einem livrierten Portier. Es verspricht Wasser, Seife, englisches Klosett, Lift, Stubenmädchen in weißen Hauben […].«8 In einer der höchsten Etagen dieses Hotels mit 864 Zimmern bereitet sich Dan auf sein neues Leben vor, träumt davon, vom Hotel aus das große Glück zu machen, es, beispielsweise, mit zwanzig Koffern zu verlassen und in der großen weiten Welt zu reüssieren. Je höher man im Hotel Savoy wohnt, umso schlechter ergeht es einem, umso dürftiger die Aussichten auf einen nennenswerten Erfolg. Der Fahrstuhl mit dem obligaten Liftboy ist ein Luxus, in dessen Genuss nicht alle Hotelbewohner gelangen können. Er gibt beredtes Zeugnis von einer auf den Kopf gestellten Hierarchie, von der bereits Büchner ein Lied zu singen wusste: »Wenn wir in Himmel kämen«, so Woyzeck, »so müßten wir donnern helfen«.9 Im Hotel Savoy lernen wir sie alle kennen: Alt und jung, reich und arm, Beamten und Künstler, Hochstapler und seriöse Herren, Nichtstuer und Revoluti-

7 8 9

Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2006, S. 317–329, hier S. 319. W, 3, S. 1034. W, 4, S. 149. Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Erster Band. Hg. von Werner R. Lemann. München: Carl Hanser 1974, S. 172.

50

Mira Miladinoviü Zalaznik

onäre, Tänzerinnen und junge Herren, nur nicht dessen sagenhaften Hotelier Kaleguropulos, der mit seiner Klientel mittels der an die Türen gehefteten Zettel kommuniziert. Auch kehrt im Hotel Savoy ein möglicher Erlöser ein, naturgemäß ein ehemaliger Sohn der Stadt, nunmehriger Amerikaner Mister Bloomfield, von dem man sich eine Befreiung aus der eigenen Misere erhofft, wie einige Jahrzehnte später in einer ganz anderen Ecke der europäischen Welt beim Besuch der alten Dame. Doch die beiden Hotel Savoy bewohnenden Kollegen, der kroatische Revolutionär Zwonimir und Gabriel Dan als sein Jünger wider Willen, wissen es besser: die Rettung ist zu suchen und wohl auch zu finden allein in Amerika. Wenn man davon ausgeht, dass in Hotel Savoy eine Welt im Kleinen der echten Welt draußen nachgeschaffen wurde als ein Sinnbild des menschlichen Tun und Lassens, so entwirft Joseph Roth im Jahr 1929 eine Reihe von Artikeln für die Frankfurter Zeitung, die er der Hotelwelt an sich widmet. Da es sich dabei um Zeitungsartikel handelt und nicht um Kunstobjekte, um Berichte und nicht um Fiktion, ist man geneigt, sie für bare Münze zu halten. Ob es angesichts der größten Wirtschaftskrise, welche die Welt bis dahin erschüttert hatte, opportun gewesen war, ein solches Thema in Auftrag zu geben, sei dahingestellt: Das Hotel, das ich wie ein Vaterland liebe, liegt in einer der großen europäischen Hafenstädte […] Wie andre Männer zu Heim und Herd, zu Weib und Kind heimkehren, so komme ich zurück zu Licht und Halle, Zimmermädchen und Portier – und es gelingt mir immer, die Zeremonie der Heimkehr so vollendet abrollen zu lassen, daß die einer förmlichen Einkehr ins Hotel gar nicht beginnen kann.10

Das Hotel, in welches der Autor seine Heimkehr zelebriert, ist wenig spektakulär, mäßig geheimnisvoll und sehr anheimelnd, eine Erfahrung, die den Lesern jenes deutschen Blattes, für welches Roth Hotelartikel verfasst hatte, wohl nicht ganz fremd sein durfte. Ankunft im Hotel und Abschied vom Hotel formen den Rahmen des Gruppenbildes, das Roth entwirft. Darin sind ein Portier, ein Kellner, ein Koch, ein Zimmermädchen und ein Patron zu erkennen. Es wird ihnen allen – das soll meines Erachtens hervorgehoben werden, kennen wir doch die Entrüstung, die dem Maler eines anderen Gruppenbildes, nämlich Rembrandt entgegenschlug, nachdem er sein Bild Die Nachtwache seinen Auftraggebern präsentiert hatte – ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Position, die gleiche Aufmerksamkeit zuteil. Von seinem Stützpunkt aus als der die Halle eines Hotels zu dienen hat, beginnt der Feuilletonist, der dort genaueste Beobachtungen machen kann, über das Hotelpersonal zu schreiben: »Es sind lauter Persönlichkeiten! Weltbürger! Menschenkenner! Sprachenkenner, Seelenkenner! Keine Internationale neben der ihrigen! Sie sind die wahrhaft Internationalen! (Der Patriotismus beginnt erst bei den Aktionären des Hotels.)«11 10 11

W, 3, S. 3. W, 3, S. 6.

Die Hotelwelt Joseph Roths

51

Eine Feststellung, die, obwohl vor Jahrzehnten getroffen, auch in den Zeiten der Globalisierung ihre Gültigkeit behalten sollte. Denn die Wahrheit ist, dass es heute vom Patriotismus nicht mehr weit ist bis zum nationalen Interesse, welches nicht allein von den mehr oder minder anonymen Hotelaktionären vor den Augen der Öffentlichkeit als Legitimation dafür zur Schau gestellt wird, sich mit Freude jener Interessen anzunehmen, die weniger patriotisch, dafür durchaus merkantil sind, also, was Gott behüte, auch international. Wenn des besagten Hotels Zimmermädchen, das später als Madame Annette bekannt wurde, sich in Ermangelung eines echten Ehemannes einen erdachten zulegt, dessen Existenz mit Hilfe eines silbernen (nicht etwa goldenen!) Eherings manifestiert und dabei entschlossen nach ihrem Ziel – Hauswirtschafterin in einem Hotel zu werden – trachtet, so wird aus Resi Horwath, einer Frau ähnlicher Vergangenheit, die stolze Besitzerin eines Stundenhotels im Radetzkymarsch. Aus welchem die Errettung Seiner Apostolischen Majestät des Kaisers, gleichsam seine zweite durch einen Trotta, initiiert wurde. In schneeweißer Uniform, als ein zusammengefaltetes Photo, darf der Kaiser in der Brusttasche eines einst aus dem sagenhaften slowenischen Sipolje stammenden jungen Offiziers, des Enkels des Helden von Solferino, unerkannt die Stätte der unbeschwerten Liebe verlassen. Der Bezirkshauptmann Trotta, der Sohn des Helden von Solferino (die slowenische Post hat zur Jubiläumsgründung des internationalen Roten Kreuzes in der Nachfolge der Schlacht bei Solferino 2009 eine Briefmarke erlassen) fährt in die entlegene Garnison seines Sohnes. Dort quartiert er sich in einem Grenzhotel ein und lässt sich von Grafen Chojnicki Gott und die Welt erklären. Sein Sohn Carl Joseph dagegen fährt in regelmäßigen Abständen in die entgegen gesetzte Richtung, nämlich in ein Hotel der Haupt- und Residenzstadt, um sich dort mit Wally, einer fest verheirateten Frau, in den von Anfang an durch Vergänglichkeit gezeichneten Begegnungen in Liebe zu treffen. Franz Ferdinand Trotta, ein entfernter Verwandter der Trottas aus Radetzkymarsch, sollte in einem Hotel in Baden, eskortiert vom Hausdiener Jacques, kurz bevor er an die Front geht, seine Hochzeitsnacht verbringen. Einst hatte die Hochzeitsnacht – damit war eigentlich die Defloration der Ehefrau gemeint – möglichst an einem neutralen Ort stattzufinden, mit Vorliebe in den Eisenbahnzügen oder in Hotels, in einem Durchgangsort also.12 Dass es in Die Kapuzinergruft dazu nicht kommt, dass der frisch verheiratete Ehemann stattdessen seinen Diener Jacques in den Tod begleitet, wird ihm von seiner Frau Elisabeth nie verziehen. Auch in Die Geschichte der 1002. Nacht (1939) werden zwei, drei zentrale Ereignisse in das Umfeld eines Hotels postiert. Der persische Schah verliebt sich in einem exotischen Land Europas, in Österreich, bei einem Empfang zu seinen Ehren in eine Blondine, die, weil adelig und verheiratet, selbst für ihn unerreichbar ist. Der Rittmeister Taittinger, der »zwecks besonderer Verwen12

Vgl. Foucault, Von anderen Räumen (wie Anm. 6), hier S. 322.

52

Mira Miladinoviü Zalaznik

dung von seinem Regiment detachiert war«13 und ebenfalls eine Schwäche für die gleiche Dame empfindet, sich aber aus dem gleichen Grund mit ihrem Ersatz zufriedenzustellen hat, verhilft dem Schah-in-Schah im Anflug der Solidarität und mit Hilfe des Innenministeriums zu einer Trost-Illusion: Anstatt der Gräfin W. wird dem Herrscher als Gastgeschenk die Mizzi präsentiert, nicht in einem Palast, sondern im Hause Matzner, einem Stundenhotel, das zu diesem Zweck wie ausgewechselt schien: Alle Pensionärinnen saßen eingesperrt in ihren Zimmern. Frau Matzner bewahrte die Schlüssel. In ihrem aschgrauen, hoch- und festverschlossenen Kleid, mitten in dem Zwielicht, das sie selbst so mühsam hergestellt hatte, dank allerhand Schleiern und Tüchern, damit das allzu gewöhnliche Dekor nicht deutlich zum Vorschein komme, erinnerte sie an ein nach langen Jahren, Jahrhunderten des Todes wieder aufgescheuchtes Gespenst einer verschwiegenen Kammerzofe.14

Jahre später, beim erneuten Besuch Wiens, muß der Schah, den die Sehnsucht nicht mehr so oft heimsucht wie in seinen jungen Jahren, seine Erfahrung, dass die Abendländer verlogen seien, denn sie predigten die Tugend, die Monogamie und entschleierten dabei »ihre Weiber nicht nur – – nein, sie verliehen sie auch!!«,15 revidieren. Die Begegnung in Liebe war naturgemäß ein Trug der solidesten Art – sie machte einen selbst für nachhinein immer noch ein wenig melancholisch. Zwei andere Hotels in der gleichen Geschichte wurden vom Autor zu einer Sonderrolle erkoren. Es ging dabei um jene Hotels, die zum Sterbeort von zwei Figuren wurden, die in einer einigermaßen verhängnisvollen Beziehung zum Schahbesuch standen. Es ist hier vom unglücklichen Taittinger die Rede, der sich in einem Hotel, das ihm, einem seit jener unglückseligen Geschichte mit dem Schah Entwurzelten, zur Heimat wurde, eine Kugel in den Kopf schoss, und von Madame Matzner, die in ihrer letzten Wohnstätte eines natürlichen Todes von dannen ging. Der eine wollte nicht mehr, die andere konnte es nicht. Man war daheim angekommen. Selbst noch in einem der letzten Werke Roths, in der wunderbaren Novelle Die Legende vom heiligen Trinker, in der Roth ein wehmütig mildes Abbild eines ewigen Trinkers gelungen ist, der sich, wieder Erwarten vom Schicksal begünstigt, anschickt, seine Schulden zu bezahlen, ein anständiger Mensch zu werden und das Trinken sein zu lassen, spielt das Hotel eine nicht unwichtige Rolle. Der obdachlose Andreas aus Paris, ein fester Trinker, kehrt einige Male in diversen Hotels ein, um sich dort auszuruhen und wieder Mensch zu werden. In einem Luxushotel trifft er gar auf seinen einstigen Freund aus der Heimat, Andreas Kartak, den nunmehrigen berühmten Fußballer. Dieser ermöglicht ihm in einem etwas weniger noblen Hotel eine Bleibe für einige Tage: 13 14 15

W, 6, S. 506. W, 6, S. 385. W, 6, S. 384.

Die Hotelwelt Joseph Roths

53

Auf dass er sich erhole, wasche, rasiere. Gestorben aber wird in Die Legende vom heiligen Trinker nicht in einem Hotel, sondern in aller Öffentlichkeit, in einem Bistro. Doch, der Tod ist mitunter gnädig, er holt den armen Andreas lieber in der Sakristei der Kirche der heiligen Therese von Lisieux. Einen leichteren und schöneren Tod konnte der liebe Gott einem gar nicht geben. Ich komme zum Schluss: Es gibt keine Wahrhaftigkeit im literarischen Kunstwerk ohne Wahrscheinlichkeit. Um diese zu erzeugen, muß der Berichter »beobachtet« haben, »das Leben kennen«, »die Welt kennen« […] Der Erzähler ist ein Beobachter und ein Sachverständiger. Sein Werk ist niemals von der Realität gelöst, sondern in Wahrheit (durch das Mittel der Sprache) umgewandelte Realität.16

Joseph Roth war ein scharfsinniger Beobachter und ein hochbegabter Erzähler, der, wie Rilke, gelernt hat zu sehen. Er schrieb Geschichten, die er in diversen Räumen sich abspielen lässt, auch in Hotels, die er vermutlich besser kannte als andere. Und obwohl den Schauplätzen seiner Geschichten eine wichtige Rolle zukommt, sind sie doch nie ganz so aufschlussreich wie Figuren, die sie bewohnen. Im Mittelpunkt seines Erzählens steht immer der Mensch, der einfache, bodenständige, tatkräftige, melancholische, trinkende, das Vaterland verteidigende, dem Kunstgewerbe frönende, dienende, sich in Liebe zu Frauen und zu Monarchie ergehende, adelige, jüdische, slawische, österreichische, also gleichzeitig übernationale, sich duellierende, kaiserliche Gnade und Milde verbreitende Mensch aus einer Zeit und Welt, die längst entschwunden waren. Und die für nachhinein, obwohl ausgestattet mit einem genauen Wissen um deren Fadenscheinigkeit, Fehlerhaftigkeit, Gebrechlichkeit, Ungerechtigkeit, Unzeitgemäßheit, ja Verlogenheit immer noch annehmbarer erscheinen als die schnelllebige Zeit Österreichs und Europas zwischen den beiden Kriegen. In diese Zeit und in diesen Raum postierte Roth seine Figuren mit dem Wunsch, »[e]inen Menschen so darzustellen, daß man ihn sieht, hört, fühlt, [denn dies] ist die Aufgabe der Autoren (die man nach einer törichten Tradition ›belletristisch‹ nennt)«.17 Das ist ihm, »einem übernationalen Menschen und also einem Adeligen echter Art«,18 großartig gelungen.

16 17 18

W, 3, S. 157. Ebd. W, 5, S. 655.

Ulrike Zitzlsperger

Caféhäuser, Bahnhöfe und Hotels: Zur Bedeutung der halböffentlichen Räume im Werk Joseph Roths

In Joseph Roths Werk sind die halböffentlichen Räume, insbesondere Hotels, Bahnhöfe und Caféhäuser, ein Kontinuum.1 Orte der Begegnung im weitesten Sinne, geht es weniger um die großen Häuser als um jene, in denen ein bisweilen auch politisch gefilterter Alltag stattfindet. Die schleichende oder rapide Veränderung der Qualität der halböffentlichen Räume beschreibt epochale Umbrüche; der Verlust eines Stammcafés ist gleichbedeutend mit dem Ende eines biographischen Abschnittes des Erzählers und damit des Lebensgefühls seiner Generation. Diese Orte qualifizieren historische Übergänge; sie entziehen sich der Beschreibung als Orte der Moderne, stattdessen sind sie Teil der Textur von Zeit und Raum.2 Sie passen sich gewandelten Umständen immer wieder neu an und charakterisieren in Hinblick auf ihre Gäste die Disposition einzelner Generationen, insbesondere jener, die vom Ersten Weltkrieg geprägt wurde, mitsamt zeitbedingter Unsicherheiten und Perspektiven. Die Erfahrung von Grenzen (unter anderen zwischen dem Zentrum und der Peripherie, zwischen Ost und West), die in Roths Werk so markant ist, kommt auch hier zum Tragen, denn die halböffentlichen Räume veranschaulichen die Übergänge zwischen Zeiten und Räumen. In seiner biographischen Skizze Joseph Roths beschreibt Hermann Kesten die Masken, die dieser über die Jahre getragen habe – die des österreichischen Leutnants, zum Beispiel, des ungetauften jüdischen Katholiken, »ja manchmal sogar nur die Maske des Trinkers«.3 Dazu gehören die wechselnden persönli1

2

3

Der Begriff Caféhäuser deckt nur einen Teil der von Roth behandelten Gaststätten ab, wird hier aber der Einfachheit halber stellvertretend für Bistros, Schenken, Restaurants usf. verwendet. Roths halböffentliche Räume entwerfen eine Kartographie der Zwischenkriegszeit. Das neu erwachte Interesse an dem Autor, das die häufig regional motivierten Auswahlbände (z. B. Joseph Roth: Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger. Hg. von Michael Bienert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1996 oder Im Bistro nach Mitternacht. Ein Frankreich-Lesebuch. Hg. von Katharina Ochse. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999) der vergangenen Jahre spiegeln, mag auch hierauf zurückzuführen sein: Europa nach dem Ende des Kalten Krieges macht noch immer neue Landkarten erforderlich und Roths Topographie der Zwischenkriegszeit ist bei der Suche nach Anhaltspunkten zeitgemäß evokativ. Hermann Kesten: Meine Freunde, die Poeten. 2. Aufl. Zürich: Atrium 2006, S. 97; beinahe im Wortlaut ebenso in Joseph Roth. Werke. Hg. von Hermann Kesten. 2. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1975–1976, Bd 1, S. 15.

56

Ulrike Zitzlsperger

chen Inszenierungsräume, zumal, wie Kesten in verschiedenen Zusammenhängen betont, »in vielen Städten Europas sein Kaffeetisch eine Tafelrunde [war]«.4 In dem literarischen Salon, den Roth in Kestens Worten auf Reisen trägt,5 werden die feuilletonistischen und literarischen Beobachtungen durch das Leben des Autors gleichsam bestätigt. Kesten wiederum hat, wie Roth selbst, mit seinen Kommentaren zu dem Mythos des heimatlosen aber der öffentlichen Geselligkeit verschriebenen Schriftstellers beigetragen. Im Exil unternahm Roth in »Das Autodafé des Geistes« für die literarische Behandlung metropolitaner Räume eine Zuordnung: [Die Juden] haben die ganze Vielschichtigkeit der städtischen Zivilisation entschleiert. Sie haben das Kaffeehaus und die Fabrik entdeckt, die Bar und das Hotel, die Bank und das Kleinbürgertum der Hauptstadt, die Treffpunkte der Reichen und die Elendsviertel, die Sünde und das Laster, den städtischen Tag und die städtische Nacht, den Charakter des Bewohners der großen Städte.6

Die halböffentlichen Räume markieren Zivilisation – geballt in den Städten, punktuell auf dem Land, vor allem aber machen sie in Roths Worten »den Charakter«, das Wesentliche aus und tragen dazu bei, dass seine Themen an der »sogenannten ›Aktualität‹ teilnehmen«.7 Ankunft und Abfahrt von Hotels und Bahnhöfen, die Begegnungen und Beobachtungen in den Cafés umschreiben das Erlebnis der Gegenwart – etwa am Beispiel des Feierabendverkehrs, der je nach sozialer Herkunft in unterschiedliche Richtungen verläuft. Abends um sieben machen sich die Angestellten mit gleichbleibender Regelmäßigkeit auf den Weg: […] die sechshundertfünfzig Beamten und Angestellten zogen schwarze Anzüge an, suchten ihre Abonnements hervor, ihre kleinen Mädchen und ihre vergrämten Frauen und begaben sich in die Theater, die Kinos und Konzerte zu ermäßigten Preisen, die Bürodiener und Lohnkutscher betraten die Bierkneipen und führten die schmalen Gläser, gefüllt mit schäumender, uringelber Flüssigkeit an die langhaarigen Schnurrbärte. Um diese Stunde strömten die fünftausend Arbeiter aus den Fabriken […] in die feuchten Säle voll von kaltem Pfeiffenrauch, dumpfem Gestank der Bierfässer, säuerlichem Menschenschweiß, um Politik zu hören.

Die Feierabendfreiheit ist genau bemessen, es sind »knappe zwölf Stunden an Länge und Breite«. (Rechts und Links, W, 4, S. 609–772, hier S. 741) Sie manifestiert sich vor allem über den Ort des Vollzugs, dann über die Zeit. In Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik erinnert Karl Schlögel daran, dass sich Geschichte »nicht nur in der Zeit, son4 5 6

7

Kesten, Meine Freunde (wie Anm. 3), S. 99. Hermann Kesten: Dichter im Café. 2. Aufl. München, Zürich: Knaur 1965, S. 299. Joseph Roth: »Das Autodafé des Geistes«. In: Joseph Roth. Werke. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, Bd 3, S. 494–503, hier S. 501. Alle folgenden Zitate beziehen sich auf diese Werkausgabe. Vgl. Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur. Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik. Oxford u. a.: Peter Lang 2007.

Caféhäuser, Bahnhöfe und Hotels

57

dern auch im Raum abspielt: Immer erwies sich der Ort als der angemessenste Schauplatz und Bezugsrahmen, um sich eine Epoche in ihrer ganzen Komplexität zu vergegenwärtigen. […] Der Ort hielt den Zusammenhang aufrecht«.8 Roths Kartographie der Zeit macht sich an den öffentlichen Erfahrungsräumen fest – augenfällig zum Beispiel in Die Kapuzinergruft, weil hier das Thema des Verlusts und die Suche nach Fluchtpunkten, die das Transitorische des Zeiterlebnisses verdeutlichen, die Struktur der Erzählung bestimmen. Der Erzähler beginnt mit einer präzisen Positionsbestimmung: »Ich bin nicht ein Kind dieser Zeit, es fällt mir schwer, mich nicht geradezu ihren Feind zu nennen«. (Die Kapuzinergruft, W, 4, S. 225–345, hier S. 225) Die Caféhauswelt des IchErzählers der Habsburger Monarchie, die den Anfang der Erinnerungen charakterisiert, ist zu Ende des Ersten Weltkriegs obsolet und damit auch eine spezifische, mit Heimat assoziierte Kulturerfahrung. Der Erzähler stellt für die Vorkriegszeit, die den Maßstab vorgibt, fest, es sei »das natürliche Gesetz eines starken Geistes«, der imstande sei, »das Entlegene nahezubringen, das Fremde verwandt werden zu lassen und das scheinbar Auseinanderstrebende zu einigen«. Die Folge ist, dass Das einzige Kaffeehaus in Zlotogrod, das Café Habsburg, gelegen im Parterre des Hotels »Zum Goldenen Bären«, in dem ich abgestiegen war, nicht anders aus[sah] als das Café Wimmerl in der Josefstadt, wo ich gewohnt war, mich mit meinen Freunden am Nachmittag zu treffen. (Die Kapuzinergruft, W, 4, S. 252)9

Der Vorteil der Vorkriegszeit ist der Nachteil der Nachkriegszeit: die Homogenität räumlich bedingter Erlebniswelten geht verloren – und daran scheitert in Die Büste des Kaisers Franz Xaver Morstin in der »nächtlichen American Bar«. Hier »grölt« ein Grammophon, die »Barmädchen kreischten«, der Barmann »zauberte aus metallenen Gefäßen die geheimnisvollen Zaubertränke der neuen Zeit« (Die Büste des Kaisers, W, 5, S. 667) und Morstin findet sich nicht länger zurecht. Hier hat nichts mehr die alte Gültigkeit: die Getränke, die Geräuschkulisse, vor allem aber die Besucher und das Personal, mit denen Morstin als Verteidiger der Tradition aneinandergerät. Die neue Generation schafft sich ihre eigene Raumqualität, die für die Vorgänger nicht nachvollziehbar ist. 8

9

Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitk. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer 2007, S. 9f. Werner Sieg: Zwischen Anachronismus und Fiktion. Eine Untersuchung zum Werk von Joseph Roth. Bonn: Bouvier 1974, betont die Rolle des geographischen Raumes (S. 139–142), der sowohl »Hinweischarakter« (S. 141) als auch »moralischen Eigenwert« (S. 142) besitzt; Sieg konzentriert sich auf Landschaftsräume. Ähnlich zum Beispiel auch in die Büste des Kaisers. W, 5, S. 655–676, hier S. 656: »Überall gab es die gleichen Kaffeehäuser mit den verrauchten Wölbungen, den dunklen Nischen, in denen Schachspieler wie merkwürdige Vögel hockten, mit den Buffets voll farbiger Flaschen und glitzernder Gläser, die von goldblonden und vollbusigen Kassiererinnen verwaltet wurden«.

58

Ulrike Zitzlsperger

Die Disposition, die in Die Kapuzinergruft und in Die Büste des Kaisers deutlich wird, zieht sich als roter Faden durch das Werk Roths. In den halböffentlichen Räumen wird die Kontemplation der Gegenwart im Licht der Vergangenheit möglich, vor allem aber kann die Typologie eines Ortes Erfahrungen räumlich vorwegnehmen: Das gilt für den Emigrantentreffpunkt Tari-Bari mitsamt der unzuverlässigen Uhr in Beichte eines Mörders ebenso wie die Bahnhöfe in Juden auf Wanderschaft – es sind in gleichem Maße Orte der Heimatlosigkeit wie der Zugehörigkeit. Friedrich zehrt am Ende in der sibirischen Verbannung in Der stumme Prophet von der sinnlichen Erinnerung an das vormals Alltägliche: […] den faulen Geruch von Wasser und Fischen in den gewundenen Gäßchen alter Hafenstädte, den paradiesischen Glanz der Lichter und Spiegel in den Kellern, in denen geschminkte Mädchen und blaue Matrosen tanzen, den wehmütigen Jubel der Ziehharmonika, der profanen Orgel volkstümlicher Leute, das törichte und schöne Brausen der weiten Straßen und Plätze, der Flüsse und Seen aus Asphalt, die leuchtenden grünen und roten Signale in den Bahnhöfen, den gläsernen Hallen der Sehnsucht. (Der stumme Prophet, W, 4, S. 773–929, hier S. 929)

Mit seinem Interesse an diesen Räumen steht Roth nicht allein – Hotels, Bahnhöfe und Cafés sind die repräsentativen literarischen Orte der Zwischenkriegszeit, weil sie Themen der Zeit wirkungsvoll in Szene setzen; die Cafés etwa spiegeln das Leben der Boheme ebenso wie den Zerfall der Gesellschaft, Hotels fokussieren soziale Diskrepanzen, Bahnhöfe verweisen auf die neue Mobilität und die Erinnerung an den Krieg; bekannte und neue Bilder werden hier nachvollziehbar. Roth aber entwickelt ein besonders wirkungsvolles, Strukturen und nicht nur Bilder determinierendes Nebeneinander alltäglicher Räume, in denen (Kultur)Geschichte zum Tragen kommt. Dass die Raumerfahrung, die er in den Feuilletons, Erzählungen und Romanen entfaltet, sich oft mit der Inszenierung einer eigenen Mythographie deckt, trägt dazu bei, dass Roths Kartographie der europäischen Zwischenkriegszeit so überzeugend ist. Im Folgenden sollen vor diesem Hintergrund Caféhäuser, Bahnhöfe und Hotels in Roths Werk genauer berücksichtigt werden.

Caféhäuser, Grenzschenken: Räumliche Vergegenwärtigung der Zeit Die Cafés, die der Erzähler in Die Kapuzinergruft vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges besucht, sind Orte, an denen die Zeit keine Rolle zu spielen scheint. Stattdessen herrschen feste Rituale, die Zugehörigkeit vermitteln. Diese Zugehörigkeit ist umfassend und schließt das Personal, die Einrichtung und andere Besucher ein. Das Ende der Monarchie ist hier am Greifbarsten. Die nun unterbrochene Kontinuität unterstreicht, dass eine Einrichtung im Prinzip fortbestehen mag, sich in ihrem Wesen aber mit dem neuen Zeitgeist

Caféhäuser, Bahnhöfe und Hotels

59

überholt hat. Besonders deutlich machen historische Brüche die Grenzschenken, die vor allem in Momenten der Verunsicherung frequentiert werden.10 Sie sind die räumliche Manifestation von Schicksalen, die sich der Weltgeschichte nicht entziehen können.11 Die Grenzschenke Jadlowkers, in die die Freunde in Die Kapuzinergruft einkehren, zeigt zwar von Anfang an die »irdischen Zeichen des Todes« (W, 4, S. 258), doch solange allenfalls eine Ahnung des Krieges herrscht, beschränkt sich diese Wahrnehmung auf die Vergänglichkeit des Lebens. Sinnbild dieser Vergänglichkeit ist der alte Wirt, der das Geschehen verfolgt. Mit Kriegsbeginn steht die Grenzschenke dann für Abschied schlechthin, ihre Verrufenheit tritt angesichts der Misere symbolisch in den Vordergrund. Sie wird zum Ort der Heimatlosen, denen die Gegenwart entzogen wird. Die Grenzschenke beschreibt auf verschiedenen Ebenen den Übergang, sie bietet Variationen über Leben und Tod, Vertrautes und Zukünftiges, Anfang und Ende. Dem Wirt und seiner Kassiererin wird mit Kriegsbeginn »von der Weltgeschichte gekündigt«, »alles Private war auf einmal in den Bereich des Öffentlichen getreten« (Die Kapuzinergruft, W, 4, S. 262). Die Grenzschenke nimmt damit zu Beginn des Krieges das Erlebnis vorweg, dass einige Jahre später auch die vertrauten Cafés der Heimat ihre Funktion für die Generation der Heimkehrer nicht mehr zu erfüllen in der Lage sind: sie komprimieren die Verlustgeschichte.12 Roth vermittelt in den Caféhäusern mithilfe der ausführlichen Inventarisierung das Gefühl der Familiarität, auf die die Besucher angewiesen sind – dazu gehören »die Schachbretter, die Dominosteine, die verrauchten Wände, die Gaslampen, die blaugeschürzte Magd, der Landgendarm mit dem lehmgelben Helm […]«. (Die Kapuzinergruft, W, 4, S. 253) Diese detaillierten Aufzählungen konkretisieren das Heimatgefühl, das in den halböffentlichen Räumen deutlicher als im privaten Umfeld erlebt wird. Die Spur der Vernichtung, die sich durch die Zeit zieht, wird auch entsprechend physisch in den imaginierten und realen Räumen, die er beschreibt, greifbar. Das Hotel Savoy brennt in Roths gleichnamigem Roman ab, und damit scheint das Schicksal des »alten« 10

11

12

Vgl. Joachim Beng: Die Grenzschenke. Zu einem literarischen Topos. In: Coexistent Contradictions: Joseph Roth in Retrospect. Papers of the 1989 Joseph Roth Symposium at Leeds University to Commemorate the 50th Anniversary of his Death. Hg. von Helen Chambers. Riverside (CA): Ariadne Press 1991, S. 148–165, hier S. 149f.: »Die Grenzschenke partizipiert – zumindest virtuell – an der Bedeutung von Grenzen im weiteren und auch im übertragenen Sinn und damit an der Möglichkeit der Grenzüberschreitung«. Vgl. zu Roths Geschichtskonzept Ulrike Steierwald: Leiden an der Geschichte. Zur Geschichtsauffassung der Moderne in den Texten Joseph Roths. München: Königshausen & Neumann 1994 (zugl. Dissertation 1992). In Der Leviathan ist es, konzentriert auf ein einzelnes Schicksal, die Schenke Podgorzews, die dem Korallenhändler bei einem Besuch klar macht, dass in sein Leben unweigerlich eine Veränderung getreten ist. Der Leviathan. W, 6, S. 544–574, hier S. 353.

60

Ulrike Zitzlsperger

Europas endgültig besiegelt, Roths über viele Jahre frequentiertes Pariser Hotel, dem er aus diesem Anlass ein Feuilleton widmet, (Rast angesichts der Zerstörung, W, 3, S. 813–815) wird abgerissen, das Café Lindhammer, das der Erzähler in Die Kapuzinergruft aufsucht, wird geschlossen, als die Volksregierung verkündet wird und der Cafetier Adolf Feldmann seinen Abschied nimmt. Der Erzähler bleibt mit dem alten Hund Franz zurück – »zehn Jahre hatte er dem Café Lindhammer gedient, wie ich dem Kaiser Franz Joseph; und jetzt konnte er nicht mehr. Jetzt konnten wir beide nicht mehr«. (Die Kapuzinergruft, W, 4, S. 346) Mit Verlust des Lindhammers macht sich die Verlorenheit an der titelgebenden Gruft fest, ein Erinnerungsort, dem im Gegensatz zu den halböffentlichen Räumen das Moment der Kommunikation fehlt. Die existentielle Bedeutung des Caféhauses kommt auch in Zipper und sein Vater zum Tragen. Der junge Zipper flüchtet sich hierher, um seinem Alltag zu entrinnen. Roth beschreibt zuerst den Raum selbst und entfaltet dabei eine Gliederung, die an einen Sakralbau erinnert – mitsamt den rituellen Gegenständen, der festlichen Dunkelheit und den »Seitenkapellen«: Das Kaffeehaus lockte ihn jeden Abend, wie das Gasthaus einen Trinker, wie der Spielsaal einen Spieler. Er konnte nicht mehr leben, ohne den regelmäßigen Anblick der kleinen, weißen, runden und der viereckigen, grünen Tische; der dicken Säulen, die einmal in der ersten Jugend dieses Kaffeehauses seinen prunkvollen, majestätischen Charakter betont haben mochten, die heute schwarz von Rauch waren, gleichsam von jahrzehntelangen Opferbränden, und an denen Zeitungen hingen wie dürre Früchte in dürren, gelben, klappernden Rahmen; der dunklen Nischen, beschattet von Überkleidern an schwerbehängten Ständern […]. (Zipper und sein Vater, W, 4, S. 501–607, hier S. 552)

Roth beschreibt die Gemeinde, die diesen Ort ausmacht, und auch hier liegt der Schwerpunkt auf der Permanenz von Strukturen. Er erwähnt die Kassiererin, »die jeden beim Namen kannte« und die Post zuteilt, die »Kellner, die niemals wechselten, niemals starben, niemals nach den Wünschen der Gäste fragten, sondern immer das Gewohnte brachten«. (Zipper und sein Vater, W, 4, S. 553) Die Geräuschkulisse, eine jeweils zeittypische Symphonie akustischer Impressionen, setzt sich, wie die Einrichtung, aus gleichermaßen bedeutsamen Bestandteilen zusammen: Fliegen summten, Karten klatschten, Dominosteine klapperten, Zeitungen rauschten, Schachfiguren fielen mit hartem Schlag auf Bretter, Billardkugeln rollten dumpf über gepolstertes Holz, Gläser klirrten, Löffel klangen, Schuhe schlurften, Stimmen murmelten, Wasser tropfte sentimental aus einem fernen, wie geträumten Hahn, der sich niemals schloß – und über allem sangen die Karbidlampen. (Zipper und sein Vater, W, 4, S. 553)

Roth unterscheidet zwischen Besuchen aus Leidenschaft und Gewohnheit, Erfüllung und Bedürfnis. (Zipper und sein Vater, W, 4, S. 551) Das Caféhaus gewährt eine Sicherheit, die Arnold Zipper andernorts entbehrt; es wird zum Lebensraum, der vorübergehend seiner Persönlichkeit gerecht wird:

Caféhäuser, Bahnhöfe und Hotels

61

Manchmal glich das Kaffeehaus einem Lager überwinternder Nomaden, manchmal einem bürgerlichen Speisezimmer, manchmal einem großen Wartesaal in einem Palast und manchmal einem warmen Himmel für Erfrorene. Denn es war warm, es war eine animalische Wärme, unterstützt von glimmenden Kohlen in drei breiten Öfen, durch deren Gitter es rötlich schimmerte und die aussahen wie Eingänge zu einer Hölle, die nichts Schreckliches hat. (Zipper und sein Vater, W, 4, S. 553)

Das Caféhaus wird gegen die als gleichgültig empfundene Aussenwelt abgegrenzt. Ähnlich wie Zipper ergeht es Paul Bernheim in Rechts und Links – auch er findet, seinem Status und anderen Motiven angemessen allerdings in der Hotelhalle, sein Selbstbewusstsein erst hier wieder, das vertraute Procedere von Ankunft, Bestellung und Bezahlung wird zum Akt der Rückversicherung der eigenen, gesellschaftlich determinierten Existenz: Er ging, wie er es liebte, in die Halle eines großen Hotels. Er bildete sich ein, daß es der einzige Ort war, an dem man mit Würde unglücklich sein konnte. Noch während er in den breiten, knarrenden Ledersessel glitt, war er überzeugt, daß es jetzt galt zu überlegen, Brandeis abzusagen, einen neuen Ausweg zu suchen. Aber schon als der Kellner vor ihm stand, glaubte Bernheim, daß er anfing, das Schicksal zu meistern. Ja, während er bestellte – einen Whisky Soda, das Getränk der Sicherheit, weltmännischer Lebenskunst, angelsächsischer Tatkraft –, hatte Paul Bernheim das Gefühl, gesiegt zu haben, als bewiese der Diensteifer des Kellners die Unterwürfigkeit der Welt. (Rechts und Links, W, 4, S. 726f.)

Die génération perdue (Gertrude Stein) findet in den halböffentlichen Räumen vorübergehend zu sich selbst, weil dieses Umfeld die Zeit und den Einzelnen in Einklang zu bringen vermag.13 Die gastronomischen Einrichtungen werden – vornehmlich in den Romanen und Erzählungen – zu Barometern von Befindlichkeiten einerseits und – insbesondere in den Feuilletons – Mittel der Veranschaulichung von Tagespolitik andererseits.14 Dabei spielt keine Rolle, ob es sich um reale Orte handelt, oder ob Roth die wesentlichen Merkmale typischer Lokalitäten zusammenstellt: es geht um Symptome, die materielle Aspekte ebenso einschließen wie bestimmte Atmosphären. Dient die Gastronomie der räumlichen Vergegenwärtigung der Zeit, der Kontinuität wie auch der Krise, und als Spiegel der Gesellschaft, kommt bei Roth den Bahnhöfen eine zwischen Zeit und Raum vermittelnde Funktion zu. Der Bahnhof determiniert als Ausgangs- und Endpunkt die Beschaffenheit eines Ortes, seine Lage bestimmt die Parameter dörflicher oder städtischer Eigenheiten. 13 14

Das gilt auch für Tarabas, für den der Aufenthalt in Kristianpollers Schenke zum Wendepunkt wird. Tarabas. W, 2, S. 325–472. Vgl. beispielsweise die lokal herausgearbeiteten grundsätzlichen Veränderungen und Umfunktionalisierungen in den Wiener Kaffeehaus-Feuilletons: »Die Weißgeldwechselstube« (W, 1, S. 84–86), »Wiener Hoffnungslichter« (W, 1, S. 200–203) zur Nachtbeleuchtung der Cafés oder »Volkscafé« (W, 1, S. 118f.) zur Differenzierung »bestimmter« und »unbestimmter« Gäste.

62

Ulrike Zitzlsperger

Bahnhöfe: Provinz und Metropole Roths Interesse richtet sich auf die kleinen Bahnhöfe, die in einiger Entfernung von den Städten liegen – »das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie«. Alle Bahnhöfe der alten österreichisch-ungarischen Monarchie gleichen einander, die kleinen Bahnhöfe in den kleinen Provinzorten. […] Überall, in Sipolje wie in Zlotogrod, war der Portier der gleiche […]; auf dem Bahnhof in Zlotogrod, wie auf dem in Sipolje, gab es den gleichen »Wartesaal zweiter und erster Klasse«, das gleiche Büfett mit den Schnapsflaschen und der gleichen blonden, vollbusigen Kassiererin und den zwei riesengroßen Palmen rechts und links vom Büfett […]. (Die Kapuzinergruft, W, 4, S. 235 und 249f.)

Die Wiederholung der Ortsnamen und der detaillierte Vergleich in Form der Aufzählung verstärken auch hier – wie das Inventar der Caféhäuser – den Eindruck von Kontinuität und Nachvollziehbarkeit, eine sprachliche Untermauerung der Verlässlichkeit gegebener Strukturen. Die Fahrt vom Bahnhof in die Stadt erlaubt die Reflektion. Es ist in der Regel erst dieser Weg, der die Ankunft verifiziert. In Die Kapuzinergruft wird Zlotogrod durch die Wegbeschreibung jedoch dem Weltgeschehen entzogen und gewinnt einen märchenhaften Charakter. Der Bahnhof ist die letzte Verbindungsstelle zur Zivilisation: Denn weite Felder zu meiner Rechten, weite Sümpfe zu meiner Linken dehnten sich auf dem Weg zwischen der Bahnstation Zlotogrod und dem Städtchen Zlotogrod, es war, als wäre es gleichsam in freiwilliger Keuschheit bewußt ferne dem Bahnhof geblieben, der es mit der Welt verband. (Die Kapuzinergruft, W, 4, S. 251f.)

Die bloße Existenz des Bahnhofes, wie des Caféhauses oder des Hotels, bestätigt hingegen das Gefühl der Partizipation, sie machen die Öffentlichkeit eines Ortes aus. Die soziale Differenzierung, die vor allem in den Hotels vollzogen wird, beobachtet Roth auch anhand der Positionierung von Bahnhöfen. In Paris zum Beispiel beginnt die Fahrt des kritischen Feuilletonisten am Gare Saint Lazare, »ein lebhafter Bahnhof, mit vielen überflüssigen Dingen«, die die Reichen für ihre Fahrt in die Sommerfrische in Deauville zu brauchen meinen. Die Lage des Bahnhofs am Ankunftsort in Trouville determiniert die industrielle Realiät des Ortes, die dem Ferienort Deauville nicht angemessen wäre: Man kommt natürlich nicht direkt in Deauville an – wie sollte man! Man kommt in Trouville an, der Schwesterstadt, der etwas vernachlässigten, die es übernommen hat, den Bahnhof zu beherbergen. Denn schon ein Bahnhof ist ungesund. Ein Bahnhof verbreitet Steinkohlendunst, und in Deauville soll es keine Art von Dunst geben. […] Es gibt in Trouville allerdings auch Hotels und einen Strand. Aber es sind kleinbürgerliche Hotels und ein bürgerlicher Strand. Außenseiter wie ich wohnen in Trouvil-

Caféhäuser, Bahnhöfe und Hotels

63

le, baden in Trouville. (Ein paar Tage Deauville, W, 2, S. 752–756, hier S. 752 und S. 753)

In dem Feuilleton »Heimweh nach Prag« verallgemeinert Roth das »Prinzip Bahnhof« und wendet es zur Beschreibung seiner Lebensweise, aber auch Berlins an: Ich sitze da wie im Wartesaal eines großen Bahnhofs und warte auf den Zug. Um mir das Geld für die Fahrkarte zu verdienen, handle ich inzwischen mit Büchern und Zeitungsartikeln. Es ereignet sich viel in diesem Bahnhof […]. Am Tage wandere ich durch den Bahnhof Berlin […]. Des Nachts schlafe ich in leeren Wartesälen, die mit Frühstück zu vermieten sind und in denen sich Klaviere mit Hirschgeweihen befinden. (Heimweh nach Prag, W, 2, S. 308f., hier S. 308)15

Das Heimatgefühl, das die wohlplazierten Bahnhöfe und Hotels der Habsburger Monarchie ausmachen, wird hier zugunsten einer Disqualifikation der Metropole und der Zeit aufgegeben – der Stadtbahnhof ist der impliziten Beständigkeit des Provinzbahnhofes genau entgegengesetzt. Die ländliche Ordnungswelt nimmt mit dem Bahnhof ihren Anfang, von hier aus entfaltet sich erst die Folge öffentlicher Räume, an denen das Leben stattfindet. In der Erzählung April verkettet Roth diese zentralen Orte: Zuerst der Bahnhof, an dem die einzige Droschke auf den Erzähler wartet, dann das Hotel und die dazugehörige Wirtschaft und darüber hinaus gab es »in dem Städtchen […] ein Kinotheater« und eine Bibliothek. (April, W, 4, S. 333–351, hier S. 336) Dieses Ensemble bestimmt die Lebensweise in der Provinz, während die Metropole Berlin über den Anfangsstatus des Wartens, den der Bahnhof impliziert, nicht hinauszukommen scheint und entsprechend die Sehnsucht nach Prag qualifiziert. Dem Beispiel Berlins nicht unähnlich wird in Flucht ohne Ende der Bahnhof zum Sinnbild der Kultur, die Geräusche, die addiert werden, forcieren eine von der Technik diktierte städtische Atmosphäre. Roth greift hier ein Thema auf, das in den zwanziger Jahren zu den literarischen Leitmotiven gehört: Der zum Automat mutierte Schutzmann gehorcht einer höheren Ordnung, während er sie gleichzeitig wahrt: Vor dem Bahnhof sah er ein Gewimmel von Drähten, Bogenlampen, Automobilen, in der Mitte einen Schutzmann, der wie ein Automat die Arme streckt, rechts, links, aufwärts, abwärts, gleichzeitig aus einer Trillerpfeife Signale gab und so aussah, als würde er im nächsten Augenblick auch noch seine Beine für die Verkehrsregelung in Anspruch nehmen müssen. Tunda bewunderte ihn. Aus einigen Kneipen tönte Musik, sie füllte die Pausen, die der Verkehrslärm gelegentlich offenließ, es war ei-

15

Roth beschreibt den »großen Bahnhof« Berlin; dem »großen Bahnhof« erteilt er auch in ›Romantik‹ des Reisens (W, 2, S. 574–578) in der Frankfurter Zeitung 1926 eine ironische Absage.

64

Ulrike Zitzlsperger ne Atmosphäre von Sonntagsfreude, Becherklang, Steinkohle, Industrie, Großstadt und Gemütlichkeit. Der Bahnhof schien ein Zentrum der Kultur zu sein. (Die Flucht ohne Ende, W, 4, S. 389–496, hier S. 442f.)16

Das Kulturversprechen des Bahnhofs ist das des reibungslosen Funktionierens der wohldisponierten Stadt, in der Tunda vorübergehend bleibt. Der Bahnhof als Zentrum, das die zeitgenössische Kultur umschreibt, ist ein Umschlagplatz; der Provinzbahnhof hingegen wird als Vermittler zwischen den Kulturen beschrieben. Beide Male stellt der Bahnhof räumliche Bezüge her.

Hotels: Ankunft und Abschied Hotels markieren, wie Bahnhöfe, räumlich die Schwelle zwischen Stadt und Provinz, Moderne und Tradition. In Zlotogrod kehrt der Erzähler in Die Kapuzinergruft im »Goldenen Bären« ein, »dem einzigen Hotel dieses Städtchens, von dem man mir gesagt hatte, es sei einem Europäer angemessen«. (Die Kapuzinergruft, W, 4, S. 49) Das Hotel nimmt eine zwischen der Herkunft und dem Wunschort Zlotogrod vermittelnde Rolle ein. In der Erzählung »Erdbeeren« wiederum verweigert sich die Stadt der neuen Zeit – implizit dem ›Westen‹ – dadurch, dass sie ihre Symbole ignoriert und damit disfunktionalisiert. »Unsere Stadt war sehr regelmäßig und höchst einfach angelegt. […] Die eine Straße führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die andere vom Gefängnis in den Wald«. (Erdbeeren, Werke, Bd 4, S. 1008–1036, hier S. 1011) Das schlichte Hotel des Ortes wird von dem »große[n] Verteidiger Wolf Bardach, ein[em] berühmte[n] Mann« durch ein neues ersetzt: »Es sollte ein Hotel sein, wie es auch in New York stehen könnte«. Das Hotel scheitert, weil es seiner Umgebung nicht angemessen ist: »Die alten Leute bei uns, die nichts vom Fortschritt hielten, waren erbost. Das Hotel erinnerte sie an den Turm von Babel«. (Erdbeeren, W, 4, S. 1028f.) Zu der Korrespondenz zwischen den halböffentlichen Räumen und dem Zeitgeist gesellt sich die des richtigen Umfelds, denn: »Wenn aber das große Hotel sich einbildet, es repräsentiere in dieser Provinzstadt die große Welt, so bleibt es doch für mich, wenn ich aus der Welt hinkomme, der Ort, in dem ich der konzentrierten Provinz begegne«. (Nachmittag im fremden Hotel, W, 3, S. 356–358, hier S. 356) In Die Kapuzinergruft ist die Wiederbegegnung des Erzählers mit seiner Frau nach dem Krieg zum Scheitern verurteilt, das durch die Beschreibung ihrer ersten gemeinsamen Nacht nach den verfehlten Flitterwochen in einem 16

Vgl. auch Jon Hughes: Facing Modernity. Fragmentation, Culture, and Identity in Joseph Roth’s Writing in the 1920s. London: Maney Publishing 2006, mit einem Kapitel zur Bedeutung der Technologie im Werk Roths: Terror of the Machine? Technology, the Metropolis, and the Myth of Progress, S. 113–142.

Caféhäuser, Bahnhöfe und Hotels

65

Hotel vor dem Krieg vorweggenommen wird. Hatte der Erzähler seinerzeit dem Tod des alten Dieners statt seiner Braut beigewohnt, ergibt sich in den Wirren der Nachkriegszeit scheinbar die Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen. Die Ehe wird nun eilig und unter Heimlichkeiten in einer schäbigen Unterkunft vollzogen: Die Tapeten waren giftgrün, wie gewöhnlich. Es gab keine Beleuchtung. Der Portier zündete eine Kerze an, ließ ein paar Tropfen abschmelzen und klebte sie auf den Nachttisch. Über dem Waschbecken hing ein Handtuch. Eingestickt darin waren mitten in einem grünen, kreisrunden Kranz die Worte »Grüß Gott«! mit blutrotem Faden. (Die Kapuzinergruft, W, 4, S. 310)

Der Raum wird zur physischen Manifestation der hoffnungslosen Situation. Auch die »Binnengliederung« des Hotels vom Empfang bis hin zum Zimmer beschreibt eine in sich geschlossene Ordnungswelt, die sich vor und nach dem Krieg gleich bleibt: der Portier in der Empfangshalle, dann der Aufzug, und schließlich der gemietete Raum sind grundsätzliche Erfahrungsmomente, in denen vor allem Ankunft und Abschied mit Blick auf die dazwischenliegende Zeit eine Rolle spielen, sowohl in Roths persönlichen Kommentaren zu seinen Unterkünften als auch in den Feuilletons und Romanen. Ein Hotel gewährt vorübergehend ein Gefühl von Zuhause, das Transitorische ist im Gegensatz zum Caféhaus jedoch von vorne herein festgelegt – insofern ist Hotel Savoy die ideale Metapher für die Nachkriegszeit, bis hin zu dem Punkt, an dem der Erzähler den Liftknaben mit dem Tod assoziiert.17 Die Feuilletons, die Anfang 1929 in der Frankfurter Zeitung erscheinen, entwickeln den für den Besuch eines Hotels eigenen Rhythmus: Auf die Beschreibung der Ankunft – »Ich bin ein Hotelbürger, ein Hotelpatriot« – am 19. Januar 1929 folgen die des Portiers, des Herrschers über das Hotel, des alten Kellners, des Kochs, Madame Annettes, des Patrons und schließlich des Abschieds am 24. Februar. (Hotelwelt, W, 3, S. 3–31, hier S. 6)18 Die potentielle Sentimentalität des Abschieds wird in der Hotelwelt durch den sachlichen Szenenwechsel ersetzt: Wenn meine Koffer weg sind, werden andere hier stehen. Wenn meine Seife eingepackt ist, wird eine andere neben dem Waschbecken liegen. Wenn ich nicht mehr an diesem Fenster stehen werde, wird ein anderer hier stehen. Dieses Zimmer macht sich und dir und mir und keinem Menschen Illusionen. Wenn ich es verlasse und 17

18

Hotel Savoy. W, 4, S. 147–242, hier erstmals positiv besetzt (S. 150), dann zunehmend negativ (S. 156) und schließlich als Inkarnation des Bösen (S. 183). Zur Analyse von Hotel Savoy vgl. Gotthart Wunberg: Joseph Roths Roman »Hotel Savoy« (1924) im Kontext der zwanziger Jahre. In: Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions 1989, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Hg. von Michael Kessler und Fritz Hackert. 2. Aufl. Tübingen: Stauffenburg 1994 (Stauffenburg Colloquium; 15), S. 449–462. Wunberg argumentiert, die im Roman ständig zerstörten Bedeutungsgeflechte spiegelten die Nachkriegszeit, das Hotel wird mit einer Simultanbühne verglichen. Zum Hotelalltag vgl. auch Das Hotel, W, 3, S. 259–262.

66

Ulrike Zitzlsperger noch einen Blick darauf werfe, ist es nicht mehr mein Zimmer. (Hotelwelt, W, 3, S. 30)

Der Hotelbesuch akzentuiert die Disposition der Gäste; bestimmend sind in allen Fällen die festen Abläufe und das Personal, die Inkarnation von sich stets gleich bleibenden Lebenszyklen.

Das Prinzip Transit Roths Hotels, Bahnhöfe und Caféhäuser finden ihre Entsprechungen bei anderen Autoren der zwanziger Jahre, die sich dem Verkehr, den Cafés und Hotels widmen – etwa Gabriele Tergit, Erich Kästner oder Vicki Baum. Die Zwischenkriegszeit beschäftigt sich mit einer Phänomenologie der Oberflächen, die den Mangel an festen Bezugspunkten ersetzt. Roth ist jedoch in Hinblick auf ihre Integration in den Erzählverlauf und ihre Rolle als Indiz eines Verständnisses der Zeit besonders konsequent. 1927 beschreibt Roth in dem Feuilleton »Wo der Weltkrieg begann« wie ein namenloses Mädchen, die Freundin des Autors, ihm die Botschaft überbringt, dass der Thronfolger erschossen worden sei. Das Ende der Beziehung wie das des Friedens sind öffentlich: Anderthalb Jahre später […] stand sie schon, auch sie mitten in der Rauchwolke, am Güterbahnhof römisch zwei, unaufhörlich schmetterte die Musik, Waggons kreischten, Lokomotiven pfiffen, kleine, fröstelnde Frauen hingen wie welke Kränze an den grünen Männern, die neuen Uniformen rochen nach der Apretur, wir waren eine Marschkompanie, Reiseziel dunkel, mit Ahnung: Serbien. Wahrscheinlich dachten wir beide an den Sonntag, das Telegramm, Sarajevo. Ihr Vater ging nie mehr ins Kaffeehaus, er lag schon in einem Massengrab. (Wo der Weltkrieg begann, W, 2, S. 731–733, hier S. 732)

Die Orte, die die Zeit ›zusammenhalten‹, sind zwangsläufig auch die Orte, an denen sie auseinanderfällt. Sie kristallisieren persönliche Geschichten, die wiederum von der Zeitgeschichte diktiert werden. Die Topographie und Beschaffenheit der halböffentlichen Räume sind einerseits Indizien für den historischen Status quo. Andererseits beleuchten sie individuelle Lebenszyklen: Wenn Andreas in Die Legende vom heiligen Trinker trotz aller glücklichen Zufälle dem gesetzten Rhythmus nicht mehr entkommt, werden seine Besuche vertrauter und unbekannter Restaurants und Bistros, selbst das Hotel, in dem er unterkommt, zur komprimierten Wiedererfahrung dessen, das er schon erlebt hat.19 Sie sind die Summe seines Lebens. Caféhäuser, Bahnhöfe und Hotels sind von der Gleichzeitigkeit, des Vergangenen und der Gegenwart, des eige19

Andreas besucht unter anderem das Tari-Bari (W, 5, S. 515–543, hier S. 541), das in Beichte eines Mörders der Ausgangspunkt des Romans ist. Ebenso wird der Eindruck des Realitätsbezuges durch die Erwähnung Tundas in Der Prophet verstärkt.

Caféhäuser, Bahnhöfe und Hotels

67

nen und der anderen Leben geprägt: persönliche Geschichte und Weltgeschichte sind untrennbar miteinander verbunden. Bezeichnend hierfür ist der Schluss von Die Flucht ohne Ende: Der Erzähler trifft Tunda in Paris exakt zehn Jahre, nachdem dieser in Kriegsgefangenschaft geriet und seitdem in permanenter Nachkriegszeit lebt: Es war am 27. August 1926, um vier Uhr nachmittags, die Läden waren voll, in den Warenhäusern drängten sich die Frauen, in den Modesalons drehten sich die Mannequins, in den Konditoreien plauderten die Nichtstuer, in den Fabriken sausten die Räder, an den Ufern der Seine lausten sich die Bettler, im Bois de Boulogne küßten sich die Liebespaare, in den Gärten fuhren Kinder Karussell. (Die Flucht ohne Ende, W, 4, S. 496)

Tunda hat an der Bewegung keinen Teil, er scheitert an Richtungslosigkeit als »Kind seiner Zeit« und der Erzähler lässt ihn exemplarisch gerade hier zurück. Bei Roth sind die halböffentlichen Räume keine metropolitanen Lichtinseln oder Chiffren urbanen Lebens, stattdessen geben sie zeit- und gesellschaftsbedingte Stimmungen und Bilder und schließlich zivilisatorische Veränderungen vor, die dem Schicksal des Einzelnen und seiner Generation den nötigen Kontext gewähren.

David Horrocks

Kosmopolitismus im Vergleich: Joseph Roth und Stefan Zweig

Ich wünsche überhaupt keine Vaterländer. Ich möchte auf dieser Erde nichts anderes sehen als ein einziges ›Vaterland‹, das Land Gottes, unser aller Vater, in dem jedermann ohne Paß, ohne Namen herumwandern oder bleiben kann, wie es ihm beliebt oder seiner Natur entspricht.1

Mit Ausnahme des Hinweises auf Gott hätte dieses Bekenntnis Joseph Roths aus dem Jahre 1934 genau so gut der Feder seines langjährigen Freundes und Gönners Stefan Zweig entstammen können. Denn beiden österreichischen Schriftstellern war jede Art Nationalismus zutiefst verhasst. In einem Brief desselben Jahres an Romain Rolland erwähnt Zweig als Ursache seines wachsenden Pessimismus »la folie contagieuse du nationalisme«.2 Allein seine umfangreiche Korrespondenz mit Rolland, wohl dem wichtigsten frühen Verfechter der Idee der europäischen Einigung, und die Tatsache, dass er ihm – wenn auch nicht fehlerfrei – ständig auf Französisch schreibt, zeugen von Zweigs Kosmopolitismus. Zwar geht Zweig nie so weit, sich als »Franzose aus dem Osten« zu beschreiben, wie bekanntlich Roth in einem Brief an Benno Reifenberg,3 doch er teilt in vielerlei Hinsicht dessen Begeisterung für Frankreich und die französische Kultur. Wo Roth in einem kurzen Lebenslauf für seine Übersetzerin Blanche Gidon notieren konnte: »1922 France = la lumière, la liberté PERSONELLE« (B, 314), schrieb Zweig im Frühjahr 1924 rückblickend aus Paris an seine Frau Friderike: »Du weißt eben nicht, was die Zeit hier in meinem Leben war – die Befreiung von Wien, das Menschwerden überhaupt«.4 In einem erweiterten, weniger persönlichen Sinne diente Frankreich, und speziell der Süden des Landes, beiden Schriftstellern als Modell multikulturellen Lebens. 1925 zum Beispiel besuchten beide unabhängig von einander Marseille. In Briefen an seine Frau und Rolland begeistert sich Zweig für das Hafenviertel 1

2 3 4

Joseph Roth: Werke. Hg. von Fritz Hackert und Klaus Westermann. 6 Bde. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989/1991, Bd 3, S. 546. Im Folgenden zitiert als W mit Band- und Seitenzahl. Stefan Zweig: Briefe 1932–1942. Hg. von Knut Beck und Jeffrey B. Berlin. Frankfurt am Main: S. Fischer 2005, S. 93. Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 98. Im Folgenden zitiert als B mit Seitenzahl. Unveröffentlichter Brief vom 29. Januar 1924, zitiert in Oliver Matuschek: Stefan Zweig. Drei Leben – eine Biographie. Frankfurt am Main: S. Fischer 2006, S. 204.

70

David Horrocks

der Stadt, sogar für dessen Gestank, den reinen ›Orient‹, und er hat das Gefühl, der Orient sei seine wahre Heimat.5 Der »berauschend kosmopolitische Gestank« der Stadt taucht auch in dem Marseille-Kapitel von Joseph Roths Die Weißen Städte auf. (W, 2, S. 500) Und in seinem Bericht über die Stadt für die Frankfurter Zeitung beschreibt Roth unter anderen Reiter aus Turkestan, chinesische Matrosen, Schiffsköche aus Indochina, griechische Priester und algerische Juden. Aber keiner fällt besonders auf: »Nichts kann so exotisch sein, dass es Aufsehen erregte. Der Bürgersteig gehört der ganzen Welt, den Passagieren von siebenhundert Schiffen aus allen Ländern«. (W, 2, S. 443) Wie Zweig fühlt sich Roth in solchem kosmopolitischem Ambiente heimisch: »Da ist die Welt, in der ich eigentlich zu Hause bin. Meine Urväter mütterlicherseits leben dort. Alle verwandt. Jeder Zwiebelhändler mein Onkel«. (B, 57) Dieser Hinweis auf seine jüdische Herkunft ist bezeichnend für einen anderen Aspekt von Roths Auffassung des Kosmopolitismus, denn das Judentum der Diaspora ist für ihn in dieser Beziehung vorbildlich. 1933 lobt er »die den Juden eigene kosmopolitische Begabung« (W, 3, S. 501), und ein Jahr später behauptet er sogar, das Schicksal des ›Ewigen Juden‹ sei kein Fluch, sondern geradezu ein ›Segen‹. (W, 3, S. 532) Leider haben seiner Meinung nach viele Juden dieses kosmopolitische Ideal verraten, indem sie – und das gilt besonders für viele deutsche Juden – entweder begeisterte Patrioten wurden oder als Zionisten versucht haben, »sich ebenfalls eine ›Nationalität‹ nach modernen Mustern zu verleihen«. (W, 3, S. 531) Und ironischerweise müssen – so Roth – gerade diese nationalistisch gesinnten Juden »jetzt den Vorwurf zu hören bekommen, dass sie Kosmopoliten seien. Sie sind es leider nicht. Und wie nötig hätten wir jetzt ein paar Millionen Kosmopoliten«! (W, 3, S. 532) Einen ähnlichen Standpunkt vertritt häufig auch Stefan Zweig, indem er den Zionismus verwirft und – trotz allem Leid – die universell-menschlichen Vorteile der Diaspora hervorhebt. Ein gutes Beispiel dafür ist folgende Stelle aus einem Brief an Marek Scherlag vom Juli 1920: Ich sehe die Aufgabe des Jüdischen politisch darin, den Nationalismus zu entwurzeln in allen Ländern […] Deshalb lehne ich auch den jüdischen Nationalismus ab, weil er auch Hochmut und Absperrung ist: wir können nicht mehr, nachdem wir 2000 Jahre die Welt mit unserm Blut und unsern Ideen durchpflügt, uns wieder beschränken in einem arabischen Winkel ein Natiönchen zu werden. Unser Geist ist Weltgeist – deshalb sind wir geworden, was wir sind und wenn wir dafür leiden müssen, so ist das unser Schicksal. Es hilft nichts stolz zu sein auf das Judentum oder beschämt – man muß es bekennen wie es ist und auch so leben, wie es eben unser Schicksal ist, nämlich heimatlos im höchsten Sinne.6

5 6

Siehe D. A. Prater: European of Yesterday. A Biography of Stefan Zweig. Oxford: Oxford Univ. Press 1972, S. 157. Stefan Zweig: Briefe 1920–1931. Hg. von Knut Beck und Jeffrey B. Berlin. Frankfurt am Main: S. Fischer 2000, S. 27.

Kosmopolitismus im Vergleich: Joseph Roth und Stefan Zweig

71

In Wirklichkeit war Zweig natürlich keineswegs ein Heimatloser. Drei Jahre zuvor hatte er für 90 000 Kronen das Haus am Kapuzinerberg in Salzburg gekauft, wo er die nächsten fünfzehn Jahre leben sollte. Zugegeben war er in diesen Jahren ständig auf Reisen, »gehetzt wie ein Wildschwein«, wie er einmal Friderike schrieb,7 und, Joseph Roth ähnlich, häufig in Hotels wohnend und schreibend. Die Heimatlosigkeit, die er so hoch schätzt, ist trotzdem eine Stilisierung. Sie erinnert an die »guten Europäer« in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft, von denen es heißt, sie hätten das Recht, »sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen«.8 Wie sehr Zweig tatsächlich an seiner österreichischen Heimat hing, ist ihm laut eigenem Bericht erst nach deren Verlust völlig bewusst geworden: Es hat mir nicht geholfen, daß ich fast durch ein halbes Jahrhundert mein Herz erzogen, weltbürgerlich als das eines ›citoyen du monde‹ zu schlagen. Nein, am Tage, da ich meinen Pass verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, daß man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.9

Dies die späte Einsicht Zweigs gegen Ende seiner Autobiographie Die Welt von Gestern. Erst in diesem Spätwerk stellt er das Österreich und insbesondere das Wien der Habsburgermonarchie verklärend als Modell kosmopolitischen Lebens dar: […] hier waren alle Ströme europäischer Kultur zusammengeflossen; am Hof, im Adel, im Volk war das Deutsche dem Slavischen, dem Ungarischen, dem Spanischen, dem Italienischen, dem Französischen, dem Flandrischen im Blute verbunden […] es war lind, hier zu leben, in dieser Atmosphäre geistiger Konzilianz, und unbewußt wurde jeder Bürger dieser Stadt zum Übernationalen, zum Kosmopolitischen, zum Weltbürger erzogen.10

Im Werke Zweigs ist eine solche Stelle aber eher die Ausnahme. Nirgends wird die untergegangene Habsburgermonarchie so stark als Ideal einer übernationalen Lebensform geschildert wie bei Joseph Roth, etwa in der berühmten Beschreibung des Fronleichnamszuges in Radetzkymarsch (W, 5, S. 320–323) oder in seinem offenen Brief an den Christlichen Ständestaat vom Juni 1935, wo behauptet wird, Österreich sei »der allererste deutsche und übernationale und christliche Staat«. (W, 3, S. 674, Hervorh. im Original) Und während Zweig das Kosmopolitische vor allem in der Kultur der »zweitausendjährigen übernationalen Metropole«11 Wien situiert, waren für Roth die Kronländer und 7

8 9 10 11

Stefan Zweig – Friderike Zweig: »Wenn einen Augenblick die Wolken weichen«. Briefwechsel 1912–1942. Hg. von Jeffrey B. Berlin und Gert Kerschbaumer. Frankfurt am Main: S. Fischer 2006, S. 189f. Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, Bd 3, S. 628. Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main: S. Fischer 1955, S. 374. Ebd., S. 23. Ebd., S. 8.

72

David Horrocks

deren Einwohner dessen wahrer Hort. Man denke nur an die vielzitierte Aussage des Grafen Chojnicki in Die Kapuzinergruft, der Roth zweifellos als Sprachrohr dient: Freilich sind es die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Galizianer, die Kaftanjuden aus Borislaw, die Pferdehändler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajewo, die Maronibrater aus Mostar, die ›Gott erhalte‹ singen. Aber die deutschen Studenten aus Brünn und Eger, die Zahnärzte, Apotheker, Friseurgehilfen, Kunstphotographen aus Linz, Graz, Knittelfeld, die Kröpfe aus den Alpentälern, sie alle singen ›Die Wacht am Rhein‹. […] Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie. (W, 6, S. 235)

Der frankreichliebende Stefan Zweig war wohl nie versucht, ›Die Wacht am Rhein‹ zu singen, aber man hat ihn einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber dem Habsburgerreich und dem österreichischen Erbe bezichtigt.12 Und sein jüngster Biograph macht die interessante Bemerkung, dass der Schwerpunkt seiner vielen Lesereisen »eindeutig in den Städten Nord- und Westdeutschlands und in Berlin« gelegen hat. Abgesehen von einigen Vorträgen in Wien, habe er durch das übrige Österreich nicht eine Tournee unternommen.13 Wie dem auch sei, Zweigs Kosmopolitismus ist zweifellos von einer spezifisch deutschen Kulturtradition geprägt, und zwar der der Weimarer Klassik, insbesondere Goethes. In seinem Vortrag »Der Europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung«, gehalten auf Italienisch im Mai 1932 in Florenz, lobt er Goethe als große Ausnahme in einer Zeit patriotischer Nationalliteratur, musik und -philosophie. Das berühmte Wort von der »Weltliteratur« zitierend, fährt Zweig fort: Je älter und klarer dieser hohe Geist wird, um so mehr verlangt er nach Weite. Die deutsche Welt, der bloß deutsche Standpunkt wird ihm, der über die ganze Erde blickt, zu eng, und neben seinem deutschen Standpunkt erschafft er sich noch ein europäisches Bewußtsein und versucht, obwohl repräsentativer Deutscher wie kein zweiter, gleichsam aus der Seele aller Völker zu denken.14

Joseph Roth ist dasselbe humanistische, übernationale Ideal auch wichtig. Ja, er ist es, der im März 1933 Stefan Zweig an dieses Ideal erinnert, nachdem Zweig ihm seinen Entschluss, keine öffentliche Stellungnahme gegen die Nationalsozialisten abzugeben, mit der Berufung auf eine lange jüdische Tradition des Schweigens und Leidens zu verteidigen suchte: »Wir kommen eher aus der »Emanzipation«, aus der Humanität, aus dem ›Humanen‹ überhaupt, als aus Ägypten. Unsere Ahnen sind Goethe Lessing Herder nicht minder als Abraham Isaac Jacob«. (B, 257) 12 13 14

Siehe C. E. Williams: The Broken Eagle. The Politics of Austrian Literature from Empire to Anschluss. London: Paul Elek 1974, S. 130. Matuschek, Stefan Zweig (wie Anm. 4), S. 231. Stefan Zweig: Zeit und Welt. Frankfurt am Main: S. Fischer 1982, S. 128. Im Folgenden zitiert als ZuW mit Seitenzahl.

Kosmopolitismus im Vergleich: Joseph Roth und Stefan Zweig

73

Und im Brief vom November desselben Jahres, in dem er Zweig gegen Ende das Ultimatum stellt: »Sie müssen entweder mit dem III. Reich Schluß machen oder mit mir« (B, 289), kritisiert er dessen Schweigen noch stärker, unter anderem in biblischer Sprache und mit einem pointierten Hinweis auf den geliebten Goethe: »Jetzt, angesichts dieser höllischen Stunde, in der die Bestie gekrönt und gesalbt wird, hätte selbst ein Goethe nicht geschwiegen. Zumindest hätte er nicht […] eine Beziehung zu den Gegnern des III. Reiches dementiert«.15 (B, 288) Wenig später sieht Roth aber in der allzu starken Verehrung der geistigen Repräsentanten einer Nation eine Gefahr, wenn nicht einen fatalen Irrtum. Und es klingt wie Kritik an Zweig – sicher auch wie Selbstkritik –, wenn er 1934 in Der Segen des Ewigen Juden desillusioniert schreibt: »Juden sind leicht geneigt, ein Volk nach seinen Genies zu beurteilen. Juden lesen nämlich gerne. Sie sind das Volk der Bücher. Sie beurteilen auch die anderen Völker nach deren Büchern. Sie sahen in den Deutschen die Nation Lessings, Herders, Goethes«. (W, 3, S. 529) In den Augen Roths gehört Zweig wohl zu den Juden, die »den Deutschen zu viel moralischen Kredit gewährt« haben. (W, 3, S. 529). Nur in diesem Sinne ist der Vorwurf zu verstehen, den er seinem Freund 1937 macht, nachdem dieser vor dem Penclub eine Botschaft hat verlesen lassen, die laut Roth einem »Weg mit der Politik«! gleichkommt: Ach! Wozu machen Sie Solches und Ähnliches! Sie können Deutschland nicht verwinden! Nur wenn Deutschland vorhanden ist, sind Sie Kosmopolit! Seien Sie gleichmütig gegen die Welt und schenken Sie, was Sie an Güte besitzen, drei vier Menschen, nicht der »Menschheit«. (B, 497f)

Zweigs Kosmopolitismus scheint Roth so abstrakt-humanistisch, dass er ihn gegen die Realität des Einzelmenschen und vor allem gegen politische Wirklichkeiten blind macht. Dagegen setzt er zunehmend den eigenen Glauben an Gott, der ihn angeblich hellseherisch macht. Zum Beispiel 1935 an Zweig: Ich habe […] den exzessiven Wahnsinn Preußens vorausgesehen. Weil ich an Gott glaube. Und Sie haben es nicht gesehen, weil Sie an die »Menschheit« geglaubt haben: einen Begriff so unklar, daß man, mit ihm verglichen, vermeinen könnte, Gott selbst jeden Augenblick im Dornbusch zu begegnen. (B, 419)

So provokant das klingen mag – Roths Zorn gegen Zweigs Naivität in Sachen Politik kann manchmal zu extrem ungerechten Urteilen führen –: In Passagen wie dieser scheint Roth einen wichtigen Unterschied zwischen Stefan Zweig und sich selbst präzise auszumachen. Denn verglichen mit Roths ist Zweigs Kosmopolitismus vorwiegend abstrakt-intellektuell und elitär. Das lässt sich 15

Roth weist hier auf Klaus Manns Exilzeitschrift Die Sammlung hin. Zweig war anfangs als Mitarbeiter angekündigt, sagte aber ab, als ihm klar wurde, dass dies keine literarisch-unpolitische Publikation war.

74

David Horrocks

zum Beispiel an seiner Schilderung des großen Humanisten Erasmus sehen, von dem es heißt: Er anerkannte, seßhaft in keinem Lande und heimisch in allen, der erste bewußte Kosmopolit und Europäer, keinerlei Überlegenheit einer Nation über die andere, und weil er sein Herz erzogen hatte, die Völker einzig zu werten nach ihren edelsten und geformtesten Geistern, nach ihrer Elite, so dünkten sie ihn alle liebenswert.16

Die Nähe zu Zweigs eigener Erfahrung ist hier kaum zu übersehen, nahm er doch selbst ständig Kontakt zu prominenten Intellektuellen und Künstlern in fast allen Ländern Europas auf. Und auf seine Zugehörigkeit zu dieser europäischen Aristokratie des Geistes, deren hohe moralische Prinzipien er stets betonte, konnte er manchmal stolz sein bis zur Selbstgefälligkeit. 1911 berichtet er Romain Rolland nach der Lektüre von dessen Buisson Ardent, wie ergriffen er gewesen sei »über die moralische Höhe des Buches, die sich immer deutlicher abhebt«,17 und nach einem Treffen mit Hermann Hesse 1917 in Bern notiert er in seinem Tagebuch: Merkwürdig, wie wir in allen Urteilen (Dehmel, Rolland) übereinstimmen: mit einer gewissen erlesenen Sorte Menschen habe ich jetzt nie mehr eine Art Meinungsstreit. Anscheinend ist von einer erreichten moralischen Höhe für alle das gleiche offenbar. Man muß sie nur erreicht haben.18

Dass Zweigs Auffassung des Kosmopolitischen vorwiegend geistig-kulturell und weniger sozial, geschweige denn politisch ist, geht immer wieder aus Formulierungen wie den folgenden hervor, alle in dem kurzen Aufsatz »Internationalismus oder Kosmopolitismus« aus dem Jahr 1926 (ZuW, S. 72–77): »Internationale des Geistes«, »Maßnahmen für den geistigen Zusammenschluß der Völker«, »die innere geistige Einheit unserer Welt«, »die Brüderlichkeit des Geistes«, »das einzig wahrhafte Vaterland unserer europäischen Geisteswelt«. Wie das letzte Beispiel zeigt, ist Zweigs Auffassung zudem ausgesprochen eurozentrisch. In seinem schon erwähnten Florenz-Vortrag 1932 schildert er das römische Reich stark idealisierend als »Herrschaft nicht nur wie bisher einzig durch militärische Macht, sondern aufgrund eines geistigen Prinzips« (ZuW, S. 120) und bedauert seinen Untergang als »Augenblick europäischer Schmach« Warum? Weil Europa auf den Gebieten der Medizin und Wissenschaft, der Kunst und des Gewerbes jetzt auf die Araber und Byzantiner angewiesen sei: »[...] unser großes Europa, Lehrmeister in der Zivilisation, muß bei seinen eigenen Schülern in die Schule gehen«! (ZuW, S. 121f.).

16 17 18

Stefan Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. Frankfurt am Main: S. Fischer 1981, S. 12. Stefan Zweig: Briefe an Freunde. Hg. von Richard Friedenthal. Frankfurt am Main: S. Fischer 1978, S. 23. Stefan Zweig: Tagebücher. Hg. von Knut Beck. Frankfurt am Main: S. Fischer 1984. Hier der Eintrag vom 22.11.1917.

Kosmopolitismus im Vergleich: Joseph Roth und Stefan Zweig

75

Glücklicherweise sei durch die Römische Kirche »der Geist […] gerettet« worden, und mit ihm die lateinische Sprache, Medium der nächsten großen Periode des Kosmopolitismus, nämlich der Renaissance. In diesem »übernationalen Reich des Humanismus, in dieser Herrschaft einer internationalen Elite« können Erasmus, Giordano Bruno, Spinoza, Bacon, Leibniz und Descartes »gleichgültig gegen die politischen und sozialen Streitigkeiten […] in künstlerischer Leidenschaft über alle Grenzen« (ZuW, S. 124) hinwegdenken. Erst 1934 in seinem Erasmus-Buch sieht Zweig dieses goldene Zeitalter des internationalen Humanismus etwas differenzierter. Dort kritisiert er implizit auch das eigene Elitedenken und den eigenen Hang zum Unpolitischen, wenn er »Vorbeisehen am Volke« und »Gleichgültigkeit gegen die Wirklichkeit« als Grundfehler der führenden Humanisten identifiziert.19 1936, anlässlich seiner ersten Brasilienreise, scheint er dann nicht nur seinen Eurozentrismus zu überwinden, sondern auch eine kosmopolitische Sicht mit weniger elitärer und intellektualistischer Ausrichtung zu entwickeln. Von dem Land begeistert, schreibt er an Friderike:20 Die Menschen bezaubernd – und Gnade auf Erden – der einzige Ort, wo es keine Rassenfrage gibt, Neger und Weiße und Indianer, Dreiviertel, Achtel, die herrlichen Mulatinnen und Kreolinnen, Juden und Christen leben in einem Frieden zusammen, den man nicht schildern kann.

Solche Stellen finden sich bei Joseph Roth in Hülle und Fülle, und viel früher. Besonders 1925 in den Briefen aus Frankreich an Benno Reifenberg, in seinen Reiseberichten für die Frankfurter Zeitung und in den Weißen Städten lobt er immer wieder »die großartige kosmopolitische Rassenmischung, die den europäischen Süden kennzeichnet«. (W, 2, S. 496) Wenn er Papst wäre, schreibt er, würde er in Avignon leben: Mich würde es freuen zu sehen, was dieser europäische Katholizismus zustande gebracht hat. Welche großartige Rassenmischung, welch einen farbigen Wirrwarr der verschiedenen Lebenssäfte, und wie trotz dieser Vermengung kein langweiliges Einerlei entstanden ist. […] die Gemeinschaft ist frei, sie zwängt niemanden in eine bestimmte Haltung. Der höchste Grad von Assimilation: gerade so fremd, wie einer ist, soll er bleiben, um heimisch zu werden. (W, 2, S. 481)

Hier mag der dem Katholizismus zugeschriebene Einfluss höchst fragwürdig sein, aber sonst wirkt das von Roth entworfene Bild trotz aller Idealisierung im Konzept erstaunlich modern. Das gilt besonders für seine Definition der Assimilation höchsten Grades, die keine Anpassung an eine Leitkultur impliziert, sondern die Beibehaltung kultureller Unterschiede geradezu fördert und erfordert. Besonders gegen Ende des Avignon-Berichtes scheint Roth die Argumen-

19 20

Zweig, Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam (wie Anm. 16), S. 97. Stefan Zweig/Friderike Zweig: Briefwechsel. Hg. von Friderike Zweig. Bern: Alfred Scherz 1951, S. 298.

76

David Horrocks

te vieler heutiger Verfechter des Multikulturalismus vorwegzunehmen, wenn er fragt: »Wird die Welt einmal so aussehen wie Avignon«? und hinzufügt: Welch eine lächerliche Furcht der Nationen, und sogar der europäisch gesinnten unter den Nationen, diese und jene »Eigenart« könnte verlorengehen [...] Je mehr Mischung, desto mehr Eigenart! Ich werde diese schöne Welt nicht erleben [...] aber ich fühle diese Zukunft schon heute, wenn ich auf dem »Platz der Turmuhr« in Avignon sitze und alle Rassen der Erde im Gesicht eines Polizisten, eines Bettlers, eines Kellners leuchten sehe. Das ist die höchste Stufe der »Humanität«. (W, 2, S. 482)

Roths enthusiastische Darstellungen ethnischer Vielfalt in Südfrankreich sind in seinem Journalismus der zwanziger Jahre keine Ausnahme. Viele seiner Zeitungsbeiträge erwecken den Eindruck, dass er gegen gängige rassistische Vorurteile in Deutschland und Österreich eine regelrechte Kampagne führt. So zum Beispiel die Artikel »Rehabilitierung der Schwarzen« (W, 1, S. 558–562) und »Die Schwarzen im Ruhrgebiet« (W, 1, S. 947–948), in denen er die Scheinheiligkeit jener Deutschen anprangert, die die Beteiligung schwarzer Soldaten an der Besatzung des Ruhrgebiets als besondere Schmach empfinden. Er scheint sogar eine Art hämische Freude daran zu finden, die Leserschaft mit den entlegensten Beispielen ethnischer Mischung zu konfrontieren, wie im Artikel »Der blonde Neger Guillaume« (W, 1, S. 1092f.). Dieser Unteroffizier in der Okkupationsarmee, Sohn eines weißen Fremdenlegionärs und einer schwarzen Mutter, die lange in Bayern gelebt und gearbeitet hat, redet wie ein Süddeutscher. Bewusst provozierend beschreibt Roth ihn als »Grüßgott-Neger. Eine herrliche Mischung, fast rein arisch.« Noch provozierender, weil diesmal religiöse Unterschiede mit der Rassenmischung Hand in Hand gehen, ist der Fall des Abdul Rahim Miligi aus Kairo, Feuerschlucker im Passage-Panoptikum, der selbst schwarz wie die Finsternis seiner Heimat, und orthodox mohammedanisch, blonde evangelische Kinder hat, mit einer weißen, pietistischen Holländerin im Osten Berlins ein bürgerlich glückliches Familiendasein führt und Königsberger Klopse sein Leibgericht nennt. (W, 1, S. 398).

Ob solche Figuren wirklich existiert haben? Entstammen sie nicht mit großer Wahrscheinlichkeit der »Einbildungskraft eines Mythomanen«, wie David Bronsen bekanntlich Roth genannt hat?21 Wer weiß? Diese Frage scheint letztlich von sekundärer Bedeutung, denn was die »Einbildungskraft« projiziert, zeugt von Roths authentischem Bemühen, rassistische und konfessionelle Vorurteile zu unterminieren. Nebenbei bemerkt spricht auch Roths Verbindung zu Andrea Manga Bell und ihren Kindern, so problematisch sie auch war, für sein persönliches Engagement in dieser Sache. Jedenfalls lässt sich an solchen Beispielen ersehen, dass es bei Roths Kosmopolitismus immer konkret um einzelne Menschen geht, und meist um unbekannte, auf der Straße oder in der Bahn getroffene. Im Falle Stefan Zweigs dagegen geht es vorwiegend abstrakt 21

David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. München: dtv 1981, S. 13.

Kosmopolitismus im Vergleich: Joseph Roth und Stefan Zweig

77

um die ›Menschheit‹ oder allenfalls um berühmte historische oder zeitgenössische Figuren aus der Welt des Geistes. In dieser Hinsicht »führen« die beiden Schriftsteller tatsächlich »zwei verschiedene Sprachen«. In einem anderen Zusammenhang – dem Österreichs – schreibt Roth 1934 an Zweig: »Glauben Sie mir! Ich habe mehr Instinkt als Verstand«.22 Im Zusammenhang mit dem Kosmopolitismus ist das vielleicht kein großer Nachteil.

22

Joseph Roth an Stefan Zweig, 24. Januar 1934. In: Matjaž Birk: »Vielleicht führen wir zwei verschiedene Sprachen …«. Zum Briefwechsel zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig. Mit 21 bisher unveröffentlichten Briefen. Münster: LIT 1997 (Literatur im Kontext; 3), S. 138.

Johann Georg Lughofer

Joseph Roth – ein Schriftsteller der Hybridität oder der Reinheit von Kulturen?

Neuere Forschungen zu Roth gehen gern von Fragestellungen zu Raum, Migration und Identitäten aus, wobei natürlich vielerorts klassische Untersuchungen zum Werk Roths berührt werden, die schon früh den Heimatverlust und die Entwurzelung der Protagonisten beleuchtet haben. Doch die dahinter liegende Grundannahme, dass eine an Tradition und Land gebundene Heimat Bedingung für eine stabile kulturelle Identität ist, wird heute in Frage gestellt. Zu erwähnen sind hier die Arbeiten von Ute Gerhard, die in ihrer Dortmunder Habilitationsschrift, der umfangreichen und erhellenden Diskursanalyse Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise,1 die Diskurse der 1920er und 1930er zur Massenmobilität untersucht, dabei die extrem binäre Differenzierung zwischen positiven – zielgerichteten – und negativen Bewegungsvorstellungen aufzeigt. Die positive Rhetorik bezieht sich auf Sesshaftwerdung und das Wandern. Eine aggressive und negative Rhetorik zur Bewegung taucht nicht nur in antisemitischen Publikationen auf, sondern bestimmt auch den zeitgenössischen Diskurs zum Thema in anerkannten Zeitungen, bei Politikern unterschiedlicher Couleur und in der Wissenschaft. Das dabei benutzte Vokabular inkludierte Worte wie »Degeneration«, »Zerstreuung«, »Entwurzelung«, »Vermischung« oder »Unterwanderung« und bestimmte den Zugang zum Thema. Ute Gerhard hebt aber Joseph Roth beispielhaft hervor: seine Texte unterlaufen nämlich die geläufige binäre Strukturierung der Wanderungssymbolik, sie entziehen sich einer Synchronisation mit der Modernen, entgehen den Grenzziehungen und entwerfen »antimoderne Nomaden« als positive Figuren. Vermischung wird nach Gerhard bei Roth positiv akzentuiert. In seinem Werk würden nicht Heimat und Identität gesucht, sondern zeitgenössische Identitätsbildungen und Identitätsforderungen in Frage gestellt.2 Telse Hartmann relativiert diese Position, indem sie bemerkt, dass bei den Protagonisten Roths, diesen unbehausten, nomadischen Figuren, doch die Idee einer Heimat, wenn auch im Sinne eines immer schon verlorenen Ortes, prä1

2

Ute Gerhard: Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. Ute Gerhard: Von Passfälschern und Illegalen. Literarische Grenzüberschreitungen bei Joseph Roth. In: Joseph Roth: Grenzüberschreitungen. Hg. von Thomas Eicher. Oberhausen: Athena 1999, S. 65–87.

80

Johann Georg Lughofer

sent bleibt.3 In ihrer Forschung baut sie auf kulturwissenschaftlichen Theorien der Hybridität auf, welche eine reine Ursprünglichkeit in Frage stellen, Identitäten hybrid, diskontinuierlich und fragmentarisch definieren und sich für die Formen des Dazwischen interessieren. Wie auch in diesem Artikel analysiert sie ausgewählte Szenarien, d. h. Entwürfe von zeitlich und räumlich konkretisierten Handlungen oder Ereignissen – oft mit starkem Bildcharakter, weshalb Hartmut Scheible bei Roth sogar von Tableaus spricht.4 Die Rolle der Grenzen, der osteuropäischen Grenzschenke, wo Identitäten destabilisiert, verschoben oder gar gewechselt werden, spielt bei Roth ohne Zweifel eine bedeutende Rolle. Grenzverschiebungen, Grenzverwischungen und Grenzüberschreitungen können eigentlich schon als traditionelle Topoi der Rothforschung gesehen werden. Roths journalistische Beschäftigung mit Grenzkonflikten ließ ihn begreifen, dass nationale Identitäten an den Rändern »ausgefranst« werden. Roth selber wendete sich gegen Unannehmlichkeiten der Grenze. Seine subversiven Figuren wie Kapturak überschreiten die Grenzen auf professionelle Weise. Roth verwischt in Arbeiten zu Südfrankreich und Polen Grenzen nationaler, räumlicher, zeitlicher oder ethnischer Art. Sein Interesse an den Rändern der Kultur wurde vielfach untersucht, entsprechende Aussagen oftmals zitiert. An verschiedenen Stellen befürwortet er Mehrsprachigkeit und bezieht Stellung gegen die Kritiker der »Rassenvermischung«, wie sie auch Roth in zeitgenössischer Weise nennt, wobei er übrigens diese auch wertend »nicht schlecht« oder »günstig« nennt (W, 2, S. 470 und 970 sowie W, 3, S. 307 und 596). Dass Hartmann aus diesen Tatsachen ein Plädoyer für durch Vermischungen, Ambivalenzen und Grenzaufhebungen gekennzeichnete Kulturen und für gespaltene Subjektivitätsentwürfe ableitet, erscheint mir in der Gesamtheit der Texte Roths nicht ohne Weiteres begründbar. So verwundert es auch wenig, dass sie vergeblich nach positiven Lebensentwürfen des Dazwischenseins, im Nomadentum oder in der Diaspora sucht. Der Fehler liegt wohl schon an dem Punkt, an dem Joseph Roth zum Verkünder moderner Auffassungen von Hybridität gemacht wird. Hartmann selbst erkennt noch ein Verlangen nach Authentizität bei Roth, die Suche nach dem Echten. Bei journalistischen Texten über exotische Kleinkunst und ihre Darsteller taucht dies sogar als zentrale Wertungskategorie auf.5 Hartmann hätte gut daran getan, diesen Ansatz weiterzuverfolgen, denn so wäre sie wohl schnell von Roth als Lobpreiser der Hybridität von Kulturen abgekommen. Öfter, in journalistischen und literarischen Arbeiten, taucht die Ursprünglichkeit der Kultur als Ideal auf, Fremdeinwirkungen hingegen als 3 4 5

Telse Hartmann: Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths. Tübingen: Narr Francke 2006. Hartmut Scheible: Joseph Roth. Mit einem Essay über Gustave Flaubert. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: W. Kohlhammer 1971, S. 9. Hartmann, Kultur und Identität (wie Anm. 3), S. 100ff.

Joseph Roth – ein Schriftsteller der Hybridität oder der Reinheit von Kulturen?

81

Schaden. Roth scheint eine Einfachkodierung kultureller Identität, die über Geburt und Herkunft festgelegt ist, oft viel näher gelegen zu sein. Vermischung der Kulturen wird bei Roth keineswegs so positiv dargestellt, wie manchmal angenommen. Er scheint Kulturen vor allem als ganzheitliche, voneinander abgeschlossene und räumlich begrenzte Einheiten darzustellen. Mit drei Punkten soll diese These untermauert werden. Erstens werden wie bei kaum einem anderen nichtfaschistischen Schriftsteller bei Roth Angehörige einer Nation mit ewig gleichen Charaktermerkmalen beschrieben. Roth benutzt auch vielfach Wendungen, worin die kulturelle Herkunft als Erklärung der Gedanken und Handlungen genügt – wie »Tunda dachte an frisches Gebäck – er war ein Österreicher […]« (W, 4, S. 398), »glücklich, dass ihn keine Vorschrift zwang, eine Partei zu ergreifen. Er war ein Österreicher […]« (W, 4, S. 396) oder »Es passt ihnen halt nimmer, von mir regiert zu werden! dachte der Alte. Da kann man nix machen! fügte er im Stillen hinzu. Denn er war ein Österreicher«. (W, 5, S. 352) Zweitens bleiben Fremdbegegnungen im Werk Roths meist ohne Konsequenzen, sie führen zu keiner Befruchtung oder Bereicherung, von Vermischung ganz zu schweigen. Drittens kritisieren die Protagonisten – von der Erzählhaltung unterstützt – eine Hybridität der Kulturen und drücken ihre Sehnsucht nach »reinen« Kulturen deutlich aus.

Die klare Einteilung der Charaktere in Nationen Roth verwendet ein breites Spektrum unterschiedlicher Kulturen und Nationen als Herkunftsorte seiner Protagonisten, die Eigenschaften und Charaktere der Protagonisten aus einer Nation ändert er dabei aber wenig. Kennzeichnend ist hier der teufelsartige Jenö Lakatos, der immer das Böse schlechthin vertritt, ob als Advokat, als Hopfenhändler, als Spion, als Fabrikant oder als Händler künstlicher Korallen. Immer ist er Ungar aus Budapest, und wie an allen Ungarn in Roths Werk wird an ihm kein gutes Haar gelassen – man denke nur an die Festszene nach Erhalt der Schreckensbotschaft aus Sarajewo in Radetzkymarsch. (W, 5, S. 419ff.) Besser dran in Roths Gut-Böse-Schema sind Angehörige slawischer Nationen und Juden, anders die Deutschen, die ebenso immer wieder sehr negativ beschrieben werden – sei es der Händler Arnold in Die Rebellion, der das Unglück über Andreas Pum bringt, sei es Philipp Neuner, der arrogante Industrielle in Hotel Savoy, sei es die Haushälterin Hirschwitz mit ihrer langjährigen »reichsdeutschen Erfahrung« in Radetzkymarsch. Mit aggressiver Ironie wird insbesondere in Die Flucht ohne Ende Deutschland beschrieben,6 weshalb an 6

Siehe auch die Analyse des Romans aus interkultureller Perspektive: Johann Georg Lughofer: »Im Grunde war er ein Europäer, ein Individualist«. Die Flucht ohne En-

82

Johann Georg Lughofer

dieser Stelle beispielhaft darauf eingegangen werden soll. Die »mittelgroße deutsche Stadt« (W, 4, S. 395 u. a.), in der Tundas Bruder am Rhein lebt, wird übrigens als einziger Ort im Roman nie benannt, obwohl gerade hier die Atmosphäre detailliert beschrieben wird. So kann diese Stadt besser exemplarisch für ganz Deutschland gelten, die anderen Orte in Russland, Österreich und Frankreich hingegen sind im Roman genau bezeichnet. Schon die Zugfahrt von Österreich nach Deutschland wird als eine klare Überschreitung großer kultureller Differenzen beschrieben, deutsche Stereotypen werden in großem Maßstab bedient: Tunda ist von der Ausstattung und Organisation der deutschen Eisenbahn verblüfft: Ansichtskarten und Reklamen für verschiedene Produkte und Dienstleistungen zieren die Kupees: Besonders die Angebote für Sicherheitsketten für das Gepäck sowie die Reisediebstahlund Unfallversicherung faszinieren auch den Erzähler, insbesondere weil sowieso schon Hacke, Beil und Säge in Glaskästen bereit gestellt sind »um den Unfällen von vornherein zu drohen«. (W, 4, S. 439) Die literarisch umgesetzten Stereotypen wie deutsche Ordnung und Sicherheitsbedürfnis rufen wenig Sympathie hervor: »Welch ein zuverlässiger Betrieb! [...] Nur die Wächterhäuschen und Signale standen wie Ehrenposten. Dass sie nicht in die Luft schossen, erschien wie eine Pflichtverletzung«. (W, 4, S. 439) Tunda sehnt sich nach der russischen Eisenbahn mit ihren harmlos geschwätzigen Passagieren, in Deutschland blicken ernste Herren in ihre Papiere oder unterhalten sich über ernste, moralische oder tagespolitische Inhalte. Leichte Friktionen Tundas mit den Deutschen tauchen vom ersten Moment an auf: »Tunda stand im Korridor und rauchte, er sah die Tafel nicht, die es ausdrücklich verbot, weil der Mensch etwas Widersinniges nicht sieht. So will es die Natur«. Obwohl noch ein Mitpassant rauchte, wird nur Tunda zur Rede gestellt, da der »brave Herr« seine Zigarette vor dem Schaffner ein wenig versteckte: »denn es ging den meisten Autoritäten weniger um die Einhaltung der Gebote als um die Einhaltung des Respekts«. (W, 4, S. 440) Auf einen Autoritätsglauben der Deutschen soll nicht zum letzten Mal im Roman angespielt werden. Dass Tunda die Zigarette am Fenster zerdrückte, wurde ihm nur deswegen nicht weiter angekreidet, weil er aus Sibirien kommt. Als sich sein Mitpassagier vorstellt, nimmt er eine für Roth wohl »typisch deutsche« – Haltung ein: Hier erfolgte eine merkwürdige Verwandlung des Herrn, er war plötzlich um einen Kopf größer, seine trüben Augen blitzten kühn und blau, über seiner Nasenwurzel erschien ein winziges Koordinatensystem aus Falten – ›Verzeihen Sie‹, sagte der Herr mit vorgeneigtem Oberkörper: ›Staatsanwalt Brendsen‹. Gleichzeitig schlugen seine Fersen mit scharfem Knall zusammen.

de zwischen den Kulturen. In: Im Prisma. Joseph Roths Romane. Hg. von Johann Georg Lughofer. Wien, St. Wolfgang: Edition Art Science 2009, S. 132–152.

Joseph Roth – ein Schriftsteller der Hybridität oder der Reinheit von Kulturen?

83

Tunda glaubte einen Augenblick, seine Verhaftung stünde bevor. Er besann sich, wurde ebenso ernst, machte Lärm mit den Stiefeln, nahm aktive Haltung an und schoss seinen Namen ab. (W, 4, S. 441)

Ordnung, Autoritätsglauben und militärische Haltung werden als Stereotypen für die Deutschen bei Roth oftmals bemüht. Der deutsche Typus schlechthin wird lange schon vor 1933 zur negativen Beschreibung verwendet, beispielsweise bei einem Kommentar zu einem Sozialistenkongress in Marseilles in den 20er Jahren: Sie sind hier eingefallen, wie vor tausend Jahren die Langobarden. Mit Schillerkragen! Mit Aktentaschen! Mit Regenschirmen! Mit dicken Frauen auf Plattfüßen! Sie gehen ohne Hüte. Sie schwitzen. Sie stinken ... Alle Sozialdemokraten sehen deutsch aus. Sogar die litauischen. Denn in Deutschland ist der Typus zu Hause: redlich, fleißig, biertrinkend, die Ordnung der Welt verbessernd. Demokrat und sozial.7

Von Diskussion zu und Verständnis für Vermischungen der Kulturen kann bei solchen pauschalisierenden Zuschreibungen, die dann auf einen ganzen »Menschentypus« ausgeweitet werden, nicht die Rede sein.

Erfolglose Fremdbegegnungen Als weiteres Indiz für die These soll dargestellt werden, wie im literarischen Werk Roths Fremdbegegnungen selten in eine bereichernde Auseinandersetzung mit dem Anderen und dem Fremden münden. Eher kauen die Figuren traditionelle Stereotypen zu anderen Kulturen wieder, was an zwei Beispielen gezeigt werden soll. So kann Tunda in Flucht ohne Ende seine Erfahrungen in Sibirien nicht ausdrücken – bzw. die österreichische und deutsche Gesellschaft ihn nicht verstehen. So schreibt er an den fiktiven Herausgeber: Ich spiele meine Rolle als eben heimgekehrter ›Sibiriak‹ weiter. Man fragt mich nach meinen Erlebnissen, und ich lüge, so gut ich kann. Um nicht in Widersprüche zu geraten, habe ich angefangen, alles aufzuschreiben, was ich im Laufe einiger Wochen erfunden habe; es sind fünfzig große Quartseiten geworden, ich amüsiere mich dabei, ich bin gespannt darauf, was ich weiter schreiben werde. (W, 4, S. 431)

Tunda gibt später gar ein Buch zu Sibirien in einem großen Berliner Verlag heraus. Es ist aber nicht die Sammlung seiner Erlebnisse und Eindrücke, sondern vielmehr die genannte Sammlung der Lügen, mit denen Tunda die unangenehmen und dummen Fragen beantwortet hat. Schriftlich notiert wurden sie eigentlich nur zum Spaß und aufgrund Tundas Ehrgeizes, sich nicht zu widersprechen. Zu den 50 Seiten aus Österreich sind noch weitere 30 Quartseiten

7

Joseph Roth: Briefe. Hg. von Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 57.

84

Johann Georg Lughofer

Lügen in Deutschland hinzugekommen. Das Fremde bleibt für Tunda schwer fassbar und unerklärbar. Ähnlich geht es Paul Bernheim in Rechts und Links.8 Er schreibt Briefe aus Oxford nach Hause, die aber nur Folge des Stundenplans und des guten Tons sind. Mitzuteilen hat er darin nichts. Nach seiner Heimkunft erzählt Bernheim dasselbe wie vor der Reise, er hat nicht mehr Beobachtungen und Erfahrungen in England gesammelt, als ihm Prospekte schon vorher hatten wissen lassen. Der Auslandsaufenthalt scheint sinnlos gewesen zu sein, Bernheim ist den Engländern nicht näher gekommen, fährt mit dem gleichen Wissen über Land und Leute nach Hause. Weder in den Briefen noch in anschließenden Erzählungen kann er Fremdbegegnungen anschaulich machen und erklären – ein scheinbar typisches Manko der Figuren Roths.

Sehnsucht nach dem Ursprünglichen Roths Protagonisten äußern an manchen Stellen direkt ihre Sehnsucht nach der reinen, ursprünglichen Kultur, die nicht von anderen beeinflusst und mit anderen vermischt ist, eine heute sehr befremdliche Tatsache. Hybridformen werden schonungslos kritisiert, so schimpft Franz Tunda in Die Flucht ohne Ende seinen Bruder Georg: »Diese alte Kultur hat tausend Löcher bekommen. Ihr stopft die Löcher mit Anleihen aus Asien, Afrika und Amerika. Die Löcher werden immer größer«. (W, 4, S. 456) Franz Tunda sieht die Kulturen keineswegs relativiert und überlappend, sondern absolut und abgegrenzt, er stellt eine »gewisse Abkehr von europäischen Sitten fest» (W, 4, S. 454), auch der Erzähler findet eine Vermischung lächerlich, wie den Samowar, der Tunda zu Ehren verwendet wird: Mit den Kohlen weiß man dabei wenig anzufangen und ergreift sie mit einer silbernen Zuckerzange. Es ist dann nur Tundas wenig sympathisch gezeichneter Bruder, der sich hier toleranter zeigt: es seien Konzessionen, »nichts mehr. Die Welt ist kleiner geworden, Afrika, Asien und Amerika sind uns näher. Man hat zu allen Zeiten fremde Sitten übernommen und sie der Kultur eingefügt«. (W, 4, S. 456) Franz Tunda lässt dies nicht gelten, er sieht keine deutsche Kultur mehr: »Wo aber ist die Kultur, der ihr sie einfügen wollt? Ihr habt ja lauter Attrappen einer alten Kultur«. (W, 4, S. 456) Er kommt nicht damit zurecht, dass die Leute mehreren Kulturen angehören und mit mehreren Identitäten versehen sind, und klagt an: »Ihr kommt ja aus den Kostümen nicht heraus«! (W, 4, S. 456) Tunda und der Erzähler erweisen sich als höchst konservativ, Änderungen und Vermischungen stehen sie ablehnend gegenüber: Besonders amüsant ist 8

Siehe auch die Analyse des geschickten Spiels mit Vorurteilen im Roman: Johann Georg Lughofer: Die Menschen »konnten nur einen ganz bestimmten Grad von Fremdheit ertragen«. Stereotypen von West und Ost in Rechts und Links. In: Lughofer, Im Prisma (wie Anm. 6), S. 183–193.

Joseph Roth – ein Schriftsteller der Hybridität oder der Reinheit von Kulturen?

85

heute die negative Sicht auf die deutschen Vorboten der modernen Freizeitkultur: Bei einem Spaziergang fallen Tunda hurtige Radfahrer negativ auf, auch seine brave Nichte fährt schon mit vier Jahren am Rad. Dass auch ältere Herren in die Berge wandern, ist Tunda wie dem Erzähler einfach zuviel: »Würdig, mit Rucksäcken, wanderten kindlich gekleidete Männer in die Berge«. (W, 4, S. 445) Eine andere klare Stellungsnahme gegen die Vermischung der Kulturen zeigt sich, wenn sich der Erzähler immer wieder in ironischer Weise gegen den Einfluss Englands auf den europäischen Kontinent wehrt, seien es die englischen Vornamen der jungen, gleich anmutenden, französischen Mädchen in Die Flucht ohne Ende: Untereinander mochten sie sich wohl durch bestimmte Kleider und Schleifen, durch die Verschiedenheit einiger Haarfärbemittel und Lippenstifte unterscheiden. Dem Außenstehenden aber waren sie die Kinder derselben Mutter, Schwester von verblüffender Gleichheit. Dass sie verschiedene Namen trugen, war ein Irrtum der Behörden. Übrigens hatten die meisten englische Vornamen. (W, 4, S. 491)

Noch stärker wird die Bewunderung Englands durch deutsche Bürger in Rechts und Links kritisiert: Und die Welt war für einen gewissen Kreis von gehobenen Bürgern England. Diese Herren ließen schon seit einigen Jahren ihre Anzüge aus England kommen, waren Mitglieder von Flottenvereinen, rühmten die britische Politik und die britische Verfassung, trafen König Eduard den Siebenten oft und wie von ungefähr auf der Marienbader Promenade, machten Geschäfte mit Engländern, tranken Whisky und Grogs, obwohl ihnen Pilser Bier schmeckte, schlossen sich in Klubs zusammen, obwohl sie sich lieber im Kaffeehaus getroffen hätten, simulierten Schweigsamkeit, obgleich sie beredt von Natur waren, wurden Sammler von verschiedenen nutzlosen Gegenständen, weil sie sich einbildeten, ein wohlgeborener Mann müsse einen ›Spleen‹ haben, trieben Gymnastik in den Morgenstunden, verbrachten den Sommer an den Küsten und auf den Meeren, um eine salzluft- und windgerötete Haut zu bekommen, und erzählten Wunder vom Londoner Nebel, der Londoner Börse, den Londoner Polizisten. Manche gingen so weit, ›well‹ statt ja zu sagen, und englische Zeitung zu abonnieren, die viel zu spät kamen, als daß man aus ihnen noch Neuigkeiten hätte erfahren können. Aber die Abonnenten nahmen Ereignisse, die sie noch nicht auf englisch gelesen hatten, vorläufig nicht zur Kenntnis. ›Warten wir ab‹! sagten sie, wenn etwas geschah, ›morgen kommt die Zeitung‹. Ihre Kinder lernten Englisch wie Deutsch sprechen. Und eine Zeitlang sah es aus, als wüchse eine kleine angelsächsische Nation mitten in der Stadt heran, um sich gelegentlich freiwillig dem britischen Imperium einverleiben zu lassen. Man mußte in dieser Stadt, die einen durchaus kontinentalen Charakter hatte, in der niemals die Spur von einem Nebel zu ahnen war, so essen, trinken, gekleidet sein wie an den meeresumrauschten Küsten von England. (W, 4, S. 621f.)

Gegen die Vermischung spricht sich skurriler Weise im gleichen Roman vor allem Nikolai Brandeis aus, der als Sohn einer evangelischen Pfarrerstochter und eines Juden in einer deutschen Kolonie der Ukraine aufgewachsen ist. Das

86

Johann Georg Lughofer

reale Deutschland enttäuscht ihn und kommt dem Bild dieser Nation nicht nahe, das die zuhause gelesenen Familienzeitschriften vermittelt haben: Diese Zeitschrift stellte das Land so dar, wie es zur Zeit der Auswanderung der Kolonisten ausgesehen haben mochte. Daheim, erinnerte sich Brandeis, war er trotz seinem Gesicht, das er vom Vater ererbt hatte, unter den schwäbischen Gesichtern seiner Jugendgenossen heimisch gewesen. Hier, wo die Gesichter der Menschen keine bestimmte Rasse verrieten – Brandeis nannte sie Asphalt-Slawen –, war er ein Fremder. (W, 4, S. 685)

Hier taucht überraschend der klassische Diskurs der Weimarer Republik auf, in der die Stadt als »Rassengrab« bezeichnet wird, populär geworden durch Spenglers Untergang des Abendlandes,9 natürlich in zeitgenössischer Perspektive ironisch gebrochen im Gedanken dieser Figur. Deutschland und vor allem die Großstadt mit unterschiedlichen ethnischen Gruppen und inkorporierten Elementen verschiedener Kulturen vermag ihm kein Heimatgefühl zu vermitteln: »Ja, ihm war, als ob die kleine deutsche Kolonie in der Ukraine mehr Deutschland gewesen wäre als dieses Land, aus dem die ewigen Auswanderer das Heimatliche wegzutragen, die ewigen Einwanderer das Fremde mitzubringen scheinen«. (W, 4, S. 685)

Resümee Die oft beschriebene Idealisierung der Multikulturalität bei Roth meint vor allem ein klares Nebeneinander im Vielvölkerstaat mit klaren Autoritäten und kein echtes Durcheinander und Dazwischen. Man kann nur sehr schwer eine postmoderne Programmatik der Hybridität der Kulturen in Roths Werk finden. Es ist wohl überhaupt nicht leicht bei Joseph Roth eine durchgängige Programmatik und intellektuell untermauerte Einstellungen ausfindig zu machen. Wolfgang Müller-Funk betont, dass Roth ein antiwissenschaftlicher Schriftsteller ist, bei dem wenig Disput über ästhetische Probleme oder über Aufgaben der Schriftsteller sowie wenig Reflexion über Geschichte und Philosophie zu finden ist.10 Dies betrifft auch die Frage nach Hybridität oder Reinheit der Kulturen, Roth kann meines Erachtens nicht als Befürworter der Hybridität und Vermischung der Kulturen gesehen und verwendet werden, wenn er auch nicht als deren entschlossener Gegner abgestempelt werden darf.

9 10

Übrigens war Spenglers epochenprägendes Werk auch ein persönliches Kultbuch für Roth. (Vgl. Klaus Westermann: Nachwort. In: W, 3, S. 1071). Wolfgang Müller-Funk: Joseph Roth. München: C. H. Beck 1989, S. 16.

Alexander Ritter

Über das »Gleichgewicht zwischen der Tischplatte und ihrer künstlichen Verlängerung« Zur kulturkritischen Antithese ›Amerika‹ und der Lebensbalance in Joseph Roths Hiob (1930) »Daß Verfolgte ins Ausland gehen, um für ihre Heimat Gutes zu tun, ist seltsam. Denn es ist Humanität«. (Berliner Börsen-Courier vom 7. August 1921)

I Er, Joseph Roth,1 meine mit seinem Beschreiben der Welt die »Wirklichkeit«, denn »nur durch [deren] minutiöse Beobachtung kommt man zur Wahrheit«.2 Weil er »über Tatsächliches berichte, also mehr tägliches Leben darstelle, als eine Meinung ausdrücke«,3 werde »es ›radikal‹, das heißt: hell, klar und entschieden«.4 Er »zeichne das Gesicht der Zeit«.5 Mit diesem verführerisch prägnanten Diktum zur Schreibabsicht hat der Leser vorsichtig umzugehen. Das gilt insbesondere für die Auseinandersetzung mit dem historisch tatsächlichen Amerika in seinem Roman Hiob (1930). Dieser Roman eines einfachen Mannes ist kein Amerikaroman, und das Bild vom anderen Land und Kontinent hat der Autor auf sein besonderes Zeitgesicht zugeschnitten. Darum hat die Textrezeption jene diversen Aspekte zu berücksichtigen, die Roths subjektives Zeitgesicht bestimmen. Erstens: Mit Hiob hat Roth einen autobiographischen, kulturkritisch moralisierenden Text verfasst, gerichtet gegen »die höllische Blindheit« und »die falsche Sprache« seiner Zeit.6 Seine skeptizistische Weltsicht wiederholt sich fiktionalisiert in der Welterfahrung des passiven Helden Mendel Singer. Deren Authentizität resultiert aus der erzählerischen Verbindung von imaginierter und historisch tatsächlicher Welt, wie er sie interpretiert. Mit dem inhaltlichen und sprachlichen Bibelrekurs hebt der Autor seine aufklärerische Botschaft auf 1

2 3 4 5 6

Zitierte Ausgabe: Joseph Roth: Hiob. Der Roman eines einfachen Mannes. 9. Aufl. München: dtv 2008 (dtv; 13020); ders.: Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970 [Sigle: Briefe]; ders.: Werke. 4 Bde. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1975–76 [Sigle: W]. Umfrage zum 25. Todestag von Emil Zola. In: W, 4, S. 221. Joseph Roth: Rußland geht nach Amerika. In: Frankfurter Zeitung, 23. November 1926. In: W, 3, S. 970–973, hier S. 972. Joseph Roth antwortet. In: Weltbühne, 24. September 1929. In: W, 4, S. 230f. Joseph Roth an Benno Reifenberg vom 22. April 1926. In: Briefe, S. 87–89. Joseph Roth: Der Antichrist ist gekommen (1934). In: W, 3, S. 373–376.

88

Alexander Ritter

die Metaebene des Wahrheitsanspruchs. Romankonzeption und Schreibweise folgen traditionellem Erzählen.7 Die Textfragmentarik entspricht der »fragmentarischen Gestalt« der Hauptperson.8 Zweitens: Zwischen dem literarischen Tun, seiner Biographie, der europäischen Migrationsgeschichte und den USA gibt es einen engen Zusammenhang.9 Schutzlosigkeit, ein nostalgisches kaiserlichösterreichisches, nationalkulturelles Selbstverständnis, das Emigrantenleben,10 die Nöte des Schriftstellers und die aktuelle nationalkonservative Wende in Deutschland prägen Roths Lebens- und Schreibkonzept.11 Er leidet unter dem Dilemma von eskapistischem Ausweichen vor der inhumanen Welt und verantwortungsethischem Schreiben: Roth, der kämpferische Moralist, müht sich, die »Welt vor dem Untergang zu retten«.12 Drittens: Der Autor steht in der seit Mitte des 19. Jahrhunderts sich entfaltenden Diskurstradition eines intellektuellen Kulturpessimismus und dezidierten Antiamerikanismus.13 Die USA werden als Topos industriegesellschaftli7 8 9

10 11 12 13

Die gesprengte Romanform. In: Die Literarische Welt, 12. Dezember 1930. In: W, 4, S. 387–389. »Die fragmentarische Form des Berichts entspricht vollkommen der fragmentarischen Gestalt«. In: Ebd., S. 388. Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009. Die Publikation konnte nicht mehr eingesehen werden; vgl. die älteren Biographien von David Bronsen (1974) und Helmuth Nürnberger (1981, 112006). Joseph Roth: Emigration. In: W, 4, S. 654–657. Joseph Roth: Humanität. In: Berliner Börsen-Courier, 7. August 1921. In: W, 4, S. 518–521. Hermann Kesten: Joseph Roth schreibt Briefe. In: Briefe, S. 13. Fritz Stern: The Politics of Cultural Despair: A Study in the Rise of the Germanic Ideology. Berkeley u. a.: University of California Press 1961 (dt. 2005); Alexander Schmidt: Reisen in die Moderne: Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich. Berlin: Akademie Verlag 1997; Georg Kamphausen: Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890. Weilerswirst: Velbrück Wiss. 2002; Niels Werber: Der Gott der Materie. Amerika als Phantasma deutscher Autoren. In: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (2003), S. 107–121; Timo Nitz: Deutscher Antiamerikanismus. Grundlagen, Entwicklung und Beständigkeit einer Ideologie. Saarbrücken: VDM Müller 2006; Antiamerikanismus. Zum europäisch-amerikanischen Verhältnis zwischen Ablehnung und Faszination. Hg. von Georg Kreis. Basel: Schwabe 2007; Stephen Mennell: Auf Mythenjagd in Amerika. Zur Verabschiedung einiger gängiger Ansichten über die amerikanische Zivilisation. In: Leviathan 36 (2008), H. 2, S. 191–211; Sebastian Schwark: Zur Genealogie des modernen Antiamerikanismus in Deutschland. BadenBaden: Nomos 2008 (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft; 14); Bedrich Loewenstein: Der Fortschrittsglaube. Geschichte einer europäischen Idee. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009; Joseph Roth: Nonpareille aus Amerika. In: Frankfurter Zeitung, 21. März 1929. Wieder in: W, 4, S. 552–555; Noch einmal Prü-

Zur kulturkritischen Antithese »Amerika« und der Lebensbalance in ›Hiob‹

89

cher Moderne mit ihren inhumanen Begleiterscheinungen Materialismus, Uniformität, Geschichts- und Kulturlosigkeit, hemmungsloser Fortschrittswahn usw. wahrgenommen. Ist in Hegels eurozentrischer Geschichtsphilosophie Amerika noch Paradigma für die Europäisierung der Welt,14 so beobachten vor allem europäische Politiker und Intellektuelle ab 1900 ein Anwachsen des Amerikanismus, der – wie man befürchtet – die europäische Kultur bedrohe.15 Beide Haltungen sind Teil des europäischen Krisenbewusstseins seit Ende des Ersten Weltkriegs, geprägt von Wirtschaftskrise, Nationalismus, Antisemitismus16 und nationalsozialistischem Gedankengut. Den dazugehörigen Debatten entnimmt Roth das, was er an zeit- und ideologiegeschichtlichem Kolorit in der Romanhandlung umsetzt. In dieser geht es um die Stoffe Judentum – Migration – Amerika. Sie korrespondieren mit Facetten von des Autors privater Krise: Humanitätsdefizit – Heimatlosigkeit – Kulturpessimismus und legen die erzählte Welt als retrospektive Utopie fest. Seine literarisierte Weltsicht folgt diesen Prämissen, changierend zwischen Fortschrittspessimismus, k.u.k.Nostalgie und missionarischer Bekämpfung des »Böse[n]« in der Welt.17 Viertens: Des Autors Amerikakenntnis ist schmal, gewonnen aus zweiter Hand, sortiert nach Verwendbarkeit und eigener pejorativer Einschätzung als Ideologem.18 Roth hat die USA nie erlebt. Im Jahre 1926 lehnt er den Korres-

14 15

16 17

18

gel. Frankfurter Zeitung, 17. Mai 1929. In: W, 4, S. 555–557; Clemenceau. In: W, 3, S. 475–529; Amerika über Paris. In: Frankfurter Zeitung, 26. August 1925. In: W, 3, S. 843–846; Humanität (wie Anm. 11); Hollywood, der Hades des modernen Menschen. In: W, 3, S. 380–383. Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltordnung. München: Hanser 2007. S. 73–100. Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA. Hg. von Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch. Stuttgart: Reclam 1975; Deutschlands literarisches Amerikabild. Neuere Forschungen zur Amerikarezeption der deutschen Literatur. Hg. von Alexander Ritter. Hildesheim, New York: Olms 1977 (Germanistische Texte und Studien; 4); Manfred Durzak: Das Amerika-Bild in der deutschen Gegenwartsliteratur. Historische Voraussetzungen und aktuelle Beispiele. Stuttgart: Reclam 1979; Juliane Mikoletzky: Die deutsche AmerikaAuswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur. Tübingen: Niemeyer 1988 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 23); Thomas W. Kniesche: Projektionen von Amerika. Die USA in der deutschjüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bielefeld: Aisthesis 2008; Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Hg. von Christof Hamann, Ute Gerhard und Walter Grünzweig. Bielefeld: transcript 2009. Joseph Roth: Betrachtung an der Klagemauer. In: Das Tagebuch, 14. September 1929. In: W, 4, S. 558–561. Joseph Roth an Otto Forst-Battaglia vom 28. Oktober 1932. In: Briefe, S. 139f.; Joseph Roth an René Schickele von Ende 1933 oder Anfang 1934. In: Briefe, S. 301–303. Joseph Roth an Gustav Kiepenheuer zum 50. Geburtstag vom 10. Juni 1930. In: Briefe, S. 164–168.

90

Alexander Ritter

pondentenposten ab.19 Seine »Skepsis« gegenüber der »bürgerlichen Demokratie« erlaube dies nicht, denn Amerika könne »schlimmstenfalls immer amerikanischer« werden.20 Eine sachbezogene Recherche und Auseinandersetzung umgeht er. Sie sind ihm auch für seinen Schreibzweck nicht erforderlich, denn an dem Helden Mendel Singer solle ja lediglich demonstriert werden, wie er an der Metropole New York, der Inkarnation von Fortschritt,21 die Deprivation von Glauben, Humanität und Kultur erfährt. Im übrigen habe die Annahme einer Dialektik von Alter und Neuer Welt als Irrtum zu gelten, weil sich beide Gesellschaftsordnungen im humanitären Niedergang befänden. Ein Überleben sei nur im geistig-geistlichen, nationalkulturellen Rückzug denkbar, denn die Bewunderung Amerikas sei »eine unbewußte Anpassung an das geistige Amerika. Und das ist die geistige Leere«.22 Seine antiamerikanische Haltung prägt das Amerikamotiv, das sich seit der Publikation seiner Erzählung Das Kartell (1923) durch das Werk zieht. Roth agiert dabei auf Grund seiner Weltanschauung reaktionär, aus einer Verteidigungsstellung heraus, apologetisch reagierend gegenüber dem Bedrohlichen des Fortschritts, dem unaufhaltbaren Geschichtsgang. Und er scheint sich selbst unter einen Deklarationszwang zu stellen, der sich ihm in politisch orientierungsloser Zeit aus einem weltanschaulich festgelegten Aufklärungsauftrag ergibt. Es ist daher immer wieder kritisch auf die Neigung des Autors hingewiesen worden, in plakativ vereinfachenden Beschreibungen, pejorativen Reflexionen und Urteilen, mit Stereotypisierung, in hyperbolischer Rhetorik und klischeehafter Sprache sich der Kolportage anzunähern. Das entspricht seiner Schreibprogrammatik, mit der aus stabiler Weltsicht als moralische Autorität gegen die industriegesellschaftliche Orientierungslosigkeit. Insofern begegnet er den Signaturen des sozialen Zustandes während der Weimarer Republik und den Folgejahren mit denselben rhetorischen Mitteln, die die öffentlichen Äußerungen charakterisieren, immer im Dienste der Gegenrede und immer in analytisch-prognostischer Absicht. Die philologische Forschung hat den thematischen wie motivgeschichtlichen Zusammenhang von Amerikarezeption durch die deutsche Literatur in differenzierter Weise aufgearbeitet und dokumentiert.23 Das trifft für den Diskurs über die Rolle Amerikas innerhalb der Roth-Philologie nur bedingt zu. Ursache für diese Zurückhaltung ist vermutlich der Umstand, dass das Ameri19 20 21

22 23

Joseph Roth: An die Frankfurter Zeitung, 2. Juni 1926. In: Briefe, S. 91f. Ebd., S. 91f. Dazu: Joseph Roth: Der Aberglaube an den Fortschritt. In: W, 4, S. 487–494; Glauben und Fortschritt. Vortrag gehalten am 12.6.1936. In: W, 4, S. 632–646: »Der Glaube an die rein menschliche Vernunft ist nämlich in der Tat der Aberglaube an den […] notwendig naturgegebenen Fortschritt der Menschheit«, der aber so das sittliche Gesetz der »zehn Gebote« außer Kraft setze. (S. 638.) Roth, Rußland geht nach Amerika (wie Anm. 3), S. 972. Vgl. Anm. 15.

Zur kulturkritischen Antithese »Amerika« und der Lebensbalance in ›Hiob‹

91

kabild in den Schriften von Joseph Roth durch die ideologische Festlegung im Kontext eines konsequenten Antiamerikanismus nur einen begrenzten Spielraum für Beschreibung und Ausdeutung zulässt.24 Die folgenden Ausführungen versuchen, den bisherigen Erläuterungen Rechnung zu tragen. Sie konzentrieren sich auf den Zusammenhang von Figurenentwurf und Handlungsverlauf, transponiertem historischen Kontext, Funktion des Amerikamotivs und der damit verbundenen Autorbotschaft. Weil der Roman konzeptionell dialektisch angelegt ist, orientiert sich die Analyse am Verlauf des epischen Vorgangs.

II Amerika zeige sich als »Konglomerat aus Kaufleuten, Industriellen, Bankiers und Angestellten« ›imponiere‹ durch »Gewaltigkeit, Rastlosigkeit und Industriezivilisation«. Komplementär zur »Lebenskraft dieser jungen Gesellschaft« hausten »armselige Einwanderer in unsagbar schmutzigen und engen Häusern«, angelockt vom gelobten Land. Das sog. »erste Volk auf der Welt« sei »ein Staat, aber kein Volk«, denn ihm fehle »Zivilisation«.25 Die Beobachtungen des polnischen Literaten Henryk Sienkiewicz von 1876 sind symptomatisch für den europäischen Antiamerikadiskurs. Es sind die Vision vom demokratischen Staatswesen und die negativen Begleitumstände des Fortschritts, die den Europäer an den USA als Modell der Moderne faszinieren und enttäuschen. Zugleich ist es dieses Land, das dem europäischen Unbehagen an der cisatlantischen Moderne als Projektionsfläche dient. So sieht es auch Joseph Roth in seinem Hiob-Roman. Weil der Konflikt des Autors und seines Protagonisten mit sich selbst und der Gesellschaft aus der Krise einer Utopie vom Fortschritt resultiert, wiederholt sich ihm die eigene Krise in seiner Zeit mit ihren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen sowohl in Europa als auch in den USA.26 Und so organisiert Roth die Biographie seines Romanhelden Mendel Singer zum Gegenentwurf der Zeitkrise, als Ahasver und Hiob in einer Person an einer Welt der Konflikte und Krisen zwischen 1890 und 1920 leidend. Für diesen Gegenentwurf, fundiert durch sein stabiles zeitkritisches Weltbild, mo24

25 26

Bodo Rollka: Joseph Roths Amerikabild. In: Literatur + Kritik 7 (1972), S. 590–598. Wieder in: Ritter (Hg.), Amerikabild (wie Anm. 15), S. 442–450; Gerald Poscheschneik/Ludger Schwienhorst-Schönberger: Hiob 1930. Psychologische Assoziationen zu Josephs Roths Hiob. In: Im Prisma. Joseph Roths Romane. Hg. von Johann Georg Lughofer. Wien: Edition Art Science 2009, S. 209–222; Kniesche, Projektionen von Amerika (wie Anm. 15). Darin über Joseph Roths Hiob: S. 60–71. Henryk Sienkiewicz: Briefe aus Amerika (1878). 3. Aufl. Berlin: Rütten & Loenig 1980, S. 36–74, hier S. 40–58. Charles P. Kindleberger: Manias, Panics, and Crashes. A History of Financial Crises. 4. Aufl. New York u. a.: John Wiley & Sons 2000.

92

Alexander Ritter

bilisiert er zahlreiche Motive und stoffliche Zusammenhänge aus früheren Publikationen, fügt sie in den neuen textlichen Zusammenhang ein und entwickelt eine stringente Handhabung des Amerikamotivs als Leitmotiv, plausibel im Sinne seiner Weltsicht, nicht der dazu modifizierten historischen Wirklichkeit. Amerika, für Roth den entlarvten Mythos des ineffektiven Rechtsstaates und die Massendemokratie versinnbildlichend, ist ihm Projektionsfläche für die Gefährdung von Humanität und jüdischer Kultur. Das Erzählte erfüllt die Vorausdeutungen des programmatischen Romantitels. Der referentielle Verweis auf das Buch Hiob und die paratextuelle Notiz vom Roman eines einfachen Mannes versprechen einen Zusammenhang von jüdischreligiöser und weltlicher Thematik, auf einen geschichtslosen Helden zielend. Roths Romanintention folgt der These: »Wir sind’s gewohnt, daß Verfolgte ins Ausland flüchten. Daß Verfolgte ins Ausland gehen, um für ihre Heimat Gutes zu tun, ist seltsam. Denn es ist Humanität«.27 Dem wiederum entspricht die dialektische Romankonzeption. Die Handlung kontrastiert den ersten Teil des Aufbruchs in die amerikanische Fremde (These: Amerikanismus) mit dem zweiten komplementären Teil der Identitätskrise (Antithese: Antiamerikanismus), einmündend in den ungeschriebenen dritten Teil von Heimkehr und Identitätserhalt (Synthese). Um die erzählerische Verknüpfung zwischen biblischem Vorbild und literarästhetischer Nachbildung herzustellen, die Wahrheitssuche auf der religiös autorisierten Metaebene in Psychogramm und Soziogramm zu bewerkstelligen, nutzt der Autor eine symbol- und metaphernreiche, allegorisierende und konnotierende Darstellung. Zusätzlich mobilisiert er die Antagonismen von Europa und Amerika, jüdischer Ethnie hier und dort, von Kleinstadt und Metropole, gesellschaftlicher Regression und Progression. Weil die Intention auf eine symbolisch-parabelhafte Aussage zielt, bleiben jedoch politisch-historische Bezüge weitgehend ausgeklammert, das zeitgeschichtliche Gerüst angedeutet, werden Schreibimpulse wie Pogromstimmung, Wanderungsgeschichte und Antiamerikanismus am Rande erwähnt. An der Existenz der ärmlichen orthodox-jüdischen Lehrerfamilie Mendel Singers in der Diaspora des wolhynienschen Provinznestes Zuchnow der 1890er Jahre demonstriert der allwissende, didaktisierende Erzähler die Ausgrenzung des Menschen aus dem Sozialgefüge, den Niedergang jüdischer Kultur und den Humanitätsverlust der modernen Industriegesellschaft: »Es war der gefährliche Geruch der […] Pogromstimmungen«.28 Mendel Singer, den Protagonisten und Antihelden, macht Roth zum Stellvertreter einer humanistischen Kultur des ostjüdischen Erbes. Er, stereotypisierter ›Jude auf Wanderschaft‹ und Kulturbewahrer, personifiziert mit seinem ungewöhnlichen Lebenslauf den kulturellen Widerstand bis zur Selbstaufgabe in einer Zeit des zerstörerischen Antisemitismus in Russland/der UdSSR, Polen und in Deutschland. 27 28

Roth, Humanität (wie Anm. 11), S. 519. Hiob 43.

Zur kulturkritischen Antithese »Amerika« und der Lebensbalance in ›Hiob‹

93

Diesem Konzept ordnet er das Amerikamotiv zu, reduziert auf die Großstadt New York. Sie ist Durchgangsschauplatz und Ideologem, die Sozialisation und Existenzkrise von Autor und Held spiegelnd. Das literarische Erscheinungsbild der USA reduziert der Autor auf wenige plakative Eigenschaften und funktionalisiert es als Projektionsfläche für das individualisierte Leiden auf der Handlungsebene und das grundsätzliche Leiden am sozialen Niedergang auf der Metaebene. Der Roman setzt mit einem Auftaktsatz in der formelhaften Sprache des Märchens ein: »Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer«.29 Indem Roth so verfährt, teilt er dem Leser mit, dass er zum Zwecke der Belehrung die Folgehandlung aus der Wirklichkeit in eine weitgehende raum-zeitliche Distanz rücken wird, besetzt mit stereotypisierten Figuren. Und zum andern deutet er voraus, dass sowohl der Handlungsgegenstand als auch der Handlungsvorgang von der Katastrophe zu glücklicher Lösung geführt werden. Indem Roth erzählerisch in dieser Weise startet, kann das erste Geschehnisviertel die aktionsbestimmenden thematischen, stofflichen und konzeptionellen Bedingungen entfalten. Der allwissende Erzähler umkreist dafür mit Redeformen von Erzählerbericht, wörtlicher und erlebter Rede sowie innerem Monolog eine familiäre Katastrophe, das zentrale Movens der Handlung. So wie die Friedlichkeit der Zeit um 1890 täuscht, genau so labil wird die häusliche Idylle gezeichnet.30 Über die insulare Privatwelt in einem Haus, in einem Raum, um einen Tisch bricht bei bedrohlich sommerlicher Hitze die feindliche Wirklichkeit herein. Die positive Namensemantik vermag die Gefährdung der Familienexistenz nicht länger zu verdecken: Jonas, der ›Friedliebende‹, wird Soldat; Schemarjah, der ›von Gott Behütete‹, emigriert; Mirjam, die ›Fruchtbare‹, zeigt nymphomanische Neigungen; Menuchim, der ›Tröster‹, ist ein Krüppel; die Ehefrau Deborah, die ›biedere Fleißige‹, wird depressiv, Mendel, ›mit dem Gott ist‹, agiert hilflos und selbstanklagend. Die jüdischen Vornamen sind traditionell die ›wirklichen‹, die sie religiös und existentiell bestimmenden, weil es diese sind, mit denen sie »am Sabbat und an Feiertragen zur Thora aufgerufen werden […]«.31 Roth nutzt sein Wissen darüber, um die Situation erzählerisch zusätzlich zu dramatisieren. Er stellt in diesem regressiven, klaustrophobischen Konfliktszenario den schutzlosen Menschen vor, dem sogar Bibel- und Rabbirat verbale Leerformeln bleiben.32 Der Autor benötigt dieses Tableau, um über den Weckruf »Amerika«! – per ›reitendem Boten‹ im jüdischen Schicksalsmonat Ab33 überbracht und vom

29 30 31 32 33

Hiob 7. Joseph Roth: Das Jüdische Städtchen. In: W, 3, S. 306–323. Joseph Roth: Ein Jude geht nach Amerika. In: Juden auf Wanderschaft. Berlin: Schmiede 1927 (Berichte aus der Wirklichkeit; 4), S. 345–351, hier S. 349. Hiob 18, 38f. Hiob 61: In diesem Monat zerstören die Römer den jüdischen Tempel in Jerusalem.

94

Alexander Ritter

Blitzschlag scheinbar göttlicher Offenbarung bestätigt34 – eine erste Peripetie einzuleiten. Als Boten setzt Roth nicht den ausgewanderten Sohn Schemarjah, den ›verlorenen Sohn‹ ein. Statt dessen tritt sein Freund mit dem Allerweltsnamen Mac auf, ein Amerikaner auf Geschäfts- und Touristenreise, der die Zäsur in Singers Leben auslöst, die Wende zum Besseren verspricht, wie es sein Reiseziel Ararat mit den legendären Verknüpfungen von Sintflut und der Arche Noah (1. Mos. 8,4) signalisieren soll. Er erledigt als ›Sohn‹ (Mac) der Neuen Welt den Auftrag, lädt die Singers zur Immigration ein, weist Brief, Fotos und Geld als Belege des transatlantischen Wohlergehens vor. ›Amerika‹ ist Aufbruchsignal und Stichwort für den konnotativen Dunstkreis des Topos: Amerika, »gesegnetes Land«.35 Mendel Singer entscheidet sich für den Ausbruch aus dem familiären Existenzdilemma: »›Wir werden nach Amerika fahren‹«.36 Dieser bringt die drei Personen – die Trias Mann, Frau, Kind – durch Grenzüberschreitung in einen psychischen und moralischen Schwebezustand, bedroht vom »Antichrist«,37 wie es der Russe Sameschkin orakelt: »›der Teufel‹« schicke die Juden »›in der Welt herum‹«.38 Antisemitismus und ostjüdische Migration sind für Roth Phänomene einer erodierenden Humanität. Er passt diese historisch in die für ihn falsche Massenemigration russischer Juden ab 1890 nach Amerika ein und meint das Schicksal Mendel Singers gleichzeitig als Warnung vor einer Ende der 1920er Jahre aktuell wachsenden erneuten Emigration in die USA. Im Durchschnittsauswanderer, dem Juden Mendel Singer, verkörpert er die »Emigrantenerbärmlichkeit […] dieses Volkes der Ostjuden«. Ihr Exodus, ausgelöst durch den push-Faktor der antisemitischen zaristischen Innenpolitik,39 und den pull-Faktor der Kettenwanderung (Filiopietismus),40 führe letzt34

35 36

37 38 39

40

Hiob 67: Der Samowar, die Teemaschine als zentrales Gerät der Familienversammlung, mutiert auf der metaphorischen Ebene zum konvexen Reflektor einer göttlichen Offenbarung, der Tisch zu den Gesetzestafeln Moses’ und damit zum leitmotivischen Hoffnungssymbol. Hiob 68. Hiob 81. Die Formulierung ›nach Amerika‹ folgt in dieser präpositionalen Fügung dem Slogan der Zeit, den Friedrich Gerstäcker als programmatischen Titel für seinen sozialgeschichtlichen Immigrantenroman populär gemacht hat (1855). Anm. 6. Hiob 81. 1881 bis 1914: Emigration von rd. 2 Mill. Ostjuden, davon 85% in die USA); Historisches Lexikon der Sowjetunion 1817/22 bis 1991. Hg. von Hans-Joachim Torke. München: Beck 1993; Israel Bartal: Geschichte der Juden im östlichen Europa 1772–1881. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009; Joseph Roth: Das Schiff der Auswanderer. An Bord der ›Pittsburgh‹. In: Prager Tagblatt, 18. Februar 1923. In: W, 3, S. 641–644, hier S. 642f.; Rußland geht nach Amerika (wie Anm. 3); Juden auf Wanderschaft (wie Anm. 31). Darin: Ostjuden im Westen, S. 295–305; Ein Jude geht nach Amerika (wie Anm. 31). »Amerika ist die Ferne. Amerika heißt die Freiheit. In Amerika lebt immer irgendein Verwandter«. In: Roth, Ein Jude geht nach Amerika (wie Anm. 31), S. 345.

Zur kulturkritischen Antithese »Amerika« und der Lebensbalance in ›Hiob‹

95

lich in die kulturelle Entleerung. Die Kumulation von Juden im Einwandererhafen New York hat ethnische Gettos mit desaströsen Wohnumständen und Arbeitsmöglichkeiten, Spannungen zwischen Traditionalisten (Shtetelmentalität) und sich akkulturierenden Juden zur Folge. Roth inszeniert den nun folgenden Leidensumweg über Amerika,41 um des Helden Begreifen dafür zuzuschärfen, daß Emigration bedeute, Heimatliebe und Identität zurückzugewinnen. Indem er die Familie in New York landen lässt, wählt er den maßgeblichen Immigrationsort, reduziert die Metropole auf ihre ikonographisch definierten Eigenschaften, macht sie zur Platzhalterin einer Welt von Materialismus und Gottesferne, nutzt sie als Kulisse für das Milieu der jewish community, Singers neuer Heimat. Die synästhetische Gestaltung modernen Großstadtinfernos42 – seinen Erfahrungen, der expressionistischen Großstadtliteratur und Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer (1925)43 verpflichtet – erscheint als beängstigender Kontrast zu Singers Provinzwelt: die »Gottesabwesenheit« befördere eine »wahllose[r] Unzucht« der Dinge, schreibt Alfred Klemm.44 Der erste Romanteil schließt mit einem ambivalenten Ausblick: »Ein Jude kann sich nichts besseres wünschen, als nach Amerika zu gelangen«.45 Und: »Was geht mich Amerika an? Bin ich noch Mendel Singer«?46 Hinter diesem

41

42

43

44

45 46

»Es war, als hätten sie, Deborah und Mendel, nicht freiwillig den Entschluß gefaßt, nach Amerika zu gehen, sondern als wäre Amerika über sie gekommen, über sie hergefallen […]. Nun, da sie es bemerkten, war es zu spät. Sie konnten sich nicht mehr vor Amerika retten«. (Hiob 92) Volker Klotz: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lésage bis Döblin. Hamburg: Rowohlt 1987. Darin: Gezeiten der Stadt. John Dos Passos: »Manhattan Transfer«, S. 317–371. Joseph Roth: Der Amerikanismus im Literaturbetrieb. In: Frankfurter Zeitung, 29. Januar 1928. In: W, 4, S. 221–223: »Ein Mitarbeiter der ›Frankfurter Zeitung‹ hat für eine Besprechung eines der jüngst erschienenen amerikanischen Bücher einen Titel gefunden, der als Überschrift fast über der ganzen modernen amerikanischen Literatur stehen könnte. Der Titel lautet: ›Zola-Ersatz‹. […] Diese Literatur (mit wenigen ›europäischen‹ Ausnahmen, wie z. B. John Dos Passos) demonstriert das soziale Gewissen des Anklägers am naturalistisch gewählten und behandelten Gegenstand. Sie stellt dar: das maßlose Elend des amerikanischen Proletariats und die maßlose Verlogenheit des amerikanischen Bürgers«. – Möglicher Einfluss deutscher Texte: Hermann Georg Scheffauer: Das Land Gottes. Hannover 1923; ders.: Wenn ich ein Deutscher wär! Leipzig: Koch 1925; Hermann Graf Keyserling: Amerika. Der Aufgang einer neuen Welt. Stuttgart, Berlin: Dt. Verl. Anst. 1930; Fritz Giese: Girlkultur. München: Delphin-Verlag 1925. Alfred Klemm an Alfred Lichtenstein [ohne Datum]. In: Almanach der Neuen Jugend (1917), S. 134f. Wieder in: Expressionismus. Literatur und Kunst 1910–1923. Hg. von Bernhard Zeller. Stuttgart: Schiller-Nationalmuseum 1960 (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums; Katalog Nr 7), S. 34. Hiob 93. Hiob 104.

96

Alexander Ritter

negativen Zwischenurteil verbirgt sich Roths grundsätzliche Antipathie gegenüber dem Land, in dem schon Maxim Gorki schäbig traktiert worden sei.47 Der Amerikamythos ist brüchig, die Vision fragwürdig. Amerika statt des Shtetl: die Identitätskrise des Helden verstärkt sich.

III Mendel Singers beharrlich immobile Lebensweise setzt sich in der Handlung des zweiten Romanteils fort. Die Schauplatzkonfiguration bleibt im Grundsätzlichen unverändert: das Judengetto in New York, darin die Hinterhofwohnung in der Mietskaserne, isoliert von der amerikanischen Gesellschaft. Der Erzähler verlängert nicht nur das Leiden seines Helden Singer, sondern verschärft es. Ausgelöst durch plötzliche Wohlhabenheit, sieht die Familie Singer ein scheinbar bestätigendes Signal ihrer richtigen Migrationsentscheidung als Voraussetzung für das nun eintretende Lebensglück. Mendel Singer meint, darin »Gottes breite weite, gütige Hand« zu erkennen und »glaubte seinen Kindern aufs Wort, daß Amerika das Land Gottes war«.48 Diese Selbstsuggestion, unterstützt durch gute Meldungen über die Söhne Menuchim und Jonas aus Russland, entlarvt der Text jedoch als fatale Selbsttäuschung. Zwar lässt der Erzähler die Familie nach Atlantic City, the gambling city, fahren, das renommierte Seebad an der Ostküste. Aber Singer begreift angesichts des Atlantischen Ozeans, dass diese fashionable Welt nicht die seine sei, die tatsächlich jenseits des Meeres im fernen östlichen Europa liege. Mit dem Verlassen des Gettos führt der Erzähler seinen Helden zum ersten Mal in die Begegnung mit der amerikanischen Wirklichkeit, entlarvt diese aber durch den Zielort als verführerische Scheinwelt. Die teleologische Deutung der USA als neues Palästina, God’s own country, und New York, the wonder city, als neues Jerusalem, ist für Roth eine fundamentale Fehldeutung.49 Weil diese Episoden für den Handlungsgang lediglich retardierende Momente der erzählerischen Dramaturgie sind, setzt sich Singers tragische Lebensentwicklung bis zum Tiefpunkt seiner Existenz fort. Die Familie zerbricht. In Europa hat der Erste Weltkrieg begonnen. Schemarjah ist als Soldat gefallen, der Bruder Jonas verschollen und Menuchims Existenz bedroht. Die Tochter fällt in geistige Umnachtung, die Ehefrau stirbt, und Singer verzweifelt an sich, der Welt und an Gott. Die Personenkennzeichnung durch Kleidung, Tätigkeit, fensterloses Hinterhofzimmer und Aftermieterdasein spiegeln seine seelische Befindlichkeit und die ihm eigene immobile klaustrophobische Existenz, mit der er die Wahrnehmung der amerikanischen Wirklichkeit zugunsten der vergeistigten Innensicht aufgibt.50 An die Welt als Amerika, das er inner47 48 49 50

Roth, Humanität (wie Anm. 11), S. 519f. Hiob 119–121. Hiob 107, 124. Hiob 110, 121, 128f.

Zur kulturkritischen Antithese »Amerika« und der Lebensbalance in ›Hiob‹

97

lich nie akzeptiert hat, und an Gott, dem er zutiefst verbunden war, richtet sich seine Anklage, und auf beide projiziert er seine seelische Not:51 Mit diesem Hineinsteigern in die radikale Regression des Hiob-Schicksals befreit der Erzähler seinen Helden von der amerikanischen Talmiwelt, schützt den Primat seiner Identität und verhindert eine zerstörerische Ichdissoziation. Ganz im Sinne der Intention gerät Amerika, das in der olfaktorischen Wahrnehmung abgewertete Leben »einer meilenweiten geschäftigen Welt«,52 aus dem Blickfeld des Helden. Ihre Unwirklichkeit wird ihm durch den lediglich erfahrenen »Widerschein« bestätigt, der ihm bestätigt, dass es eine materialistische, seelenlose Gesellschaft ist, die »verzweifelt am nächtlichen Himmel Gott zu suchen schien«.53 Der Erzähler allegorisiert Singers Zustand als Zustand einer Welt ohne Humanität, denn diese ist zu einer Tugend aus »der Rumpelkammer pensionierter Gegenstände« degeneriert.54 Ganz im Sinne der antagonistisch verstandenen Kulturwelt Osteuropas und Amerikas fädelt Roth erneut einen deum ex machina als Sendboten in die Handlung ein. Er sorgt für die zweite Peripetie. Mit dieser, verdichtet und biblisch-legendär überhöht in den Motiven von Menuchims Lied (Hohelied Salomos), im Osterfest (Feier der Auferstehung Jesu Christi) und der Metapher vom Tisch (mensa domini), und über einen anklopfenden Besucher leitet der Erzähler die radikale Wende in Singers Existenz und das fabula docet ein. Zentrales Ereignis ist das Abendmahlritual an der Ostertafel bei der befreundeten Familie Skowronnek mit dem geduldeten Singer am »Ende des Tisches, auf den man ein gehobeltes Brett gelegt hatte«, dessen »Gleichgewicht« vor allem »Mendels Sorge« gilt.55 Die spirituelle »Erwartung eines Wunders« stilisiert der Text zum tatsächlichen Wunder. Das »Klopfen« und Erscheinen des wiedergekehrten Sohnes Menuchim, der »Tröster«, konnotiert mit der Petrus-Episode um des Herrn Rettung vor »Herodes und vom Warten des jüdischen Volkes«,56 leitet scheinbar Erlösung und Heimkehr ein. Hiob ist im Lande Uz geblieben, Singer benötigt den Umweg dazu. Mit der Umkehrung des Lebensweges in Richtung Herkunft wird Amerika als Irrweg gelöscht. Der »Fremde[r]«, der sich als Mendel Singers verloren geglaubter Sohn Menuchim erweisen wird, kontrastiert den dem Vater entfremdeten ältesten Sohn Schemarjah. Letzterer, der Ausgewanderte und Assimilierte, hat den Vater von Amerika aus in Russland nicht selbst aufgesucht, dafür den Stellvertreter Mac geschickt, seine Taufnamenidentität als Samuel mit der Namenveränderung zum Allerweltsamerikaner ›Sam‹ aufgegeben, sich der Kommerzideologie geöffnet, seinen Glauben wie viele Juden profanisiert und als ›Versucher‹ die Familie zur Aufgabe von Heimat, Kultur und Identität verführt. 51 52 53 54 55 56

Hiob 139–142. Hiob 121. Hiob 121f. Roth, Humanität (wie Anm. 11), S. 518. Hiob 168–171. NT, Lukas 13,25.

98

Alexander Ritter

Schemarjah, dieser Sendbote des »Teufels« (Sameschkin), stirbt in Europa eines gewaltsamen Soldatentodes. Menuchim dagegen, der jüngste Sohn, ist in Russland geblieben, hat sich von seiner Krankheit befreit und sucht den Vater. Er handelt nach der Namensemantik seines Pseudonyms Alexej Kossak als ›Helfer‹ und ›unabhängiger Kämpfer‹,57 hat seine Identität in der Heimat durch die Universalkunst der Musik als Dirigent und Komponist bewahrt, propagiert diese weltweit und wird – im Kontext des Osterfestes als Auferstehungsfeier – zum Erlöser spirituell überhöht, den in seinem Taufnamen angelegten Auftrag des »Trösters« am Vater erfüllend. In der biblisch-archaischen Geste vom Aufgehobensein in Abrahams, hier Menuchims Schoß58 – unterstrichen durch die Alliteration der Vornamen – erfüllen sich die prophetischen Worte des Russen Sameschkin von der Wanderung als Versuchung des Teufels und des Rabbis Mahnung, an Gottes Wirken zu glauben. Es ist Amerika, die Fremde als Durchgangsregion, in der der Held aus seiner psychischen und physischen Selbstgettoisierung erlöst wird, seine Identität wiederfindet und sich durch die in Menuchim personifizierte osteuropäische Herkunftskultur in seinem kulturellen Beharren bestätigt sieht. In der Metapher vom Tisch konvergieren Autorbiographie und Biographie des Romanhelden. Roth hat sie als Referenzobjekt für den symbolischen Vorgang des Zusammentreffens von Vergangenheit und Zukunft und der Heimkehr von Mendel Singer ins Vaterland und zu sich selbst funktionalisiert.59 Es vollzieht sich die Wiederherstellung seiner Lebensbalance unter dem Diktum von Liebe, Glaube, Hoffnung. Über des Helden erstmaliges Hinausschauen durchs Fenster auf die amerikanische Außenwelt vom New Yorker Luxushotel Astoria aus, lässt der Erzähler ihn naiverweise angesichts der Großstadtszenerie erstaunen. Dem Leser aber teilt er mit, dass diese Wirklichkeit als seelenlose Konsumwelt in der illuminierten Kunstfigur einer Limonadenreklame sich selbst decouvriere: »Blendwerk und Dilettantismus« im »Gewimmel der Dummheit«.60 Über diese Wiederaufnahme des Leitmotivs vom Fenster und dem freien Blick in die Welt, wie es noch im russischen Heimatdorf und Vaterhaus möglich gewesen ist, schließt der Autor den Lebenskreis seines Helden und führt ihn in seine Ausgangsexistenz zurück.

57 58 59

60

Alexander: Alexius, von gr. álexis, Hilfe, Abwehr; Kossak: Bezeichnung für tatarische Abstammung, freier Kämpfer. Hiob 180. Vgl. Joseph Roth: Die Heimkehr des Imre Ziska. In: Berliner Börsen-Courier, 26. März 1922. In: W, 4, S. 76–78; Das Vaterhaus. In: Das Tagebuch, 22. März 1930. In: W, 4, S. 565–567. Hiob 183. Joseph Roth: Amerika über Paris. In: Frankfurter Zeitung, 26. August 1925. In: W, 3, S. 843–846, hier S. 845: »Über den Dächern der Häuser von Paris lächelt ein fürchterlicher Riesensäugling von kolossaler Gesundheit. Er macht Reklame […] für eine Seife […]. Aber es ist mehr als eine Reklame; es ist ein Symbol, es ist Amerika: Amerika über Paris«.

Zur kulturkritischen Antithese »Amerika« und der Lebensbalance in ›Hiob‹

99

So endet der Roman. Er ist keine open ended story und ist doch eine. Dem Leser wird ein happy end in Aussicht gestellt. Nach Mendel Singers geistiger Selbstfindung, resultierend aus dem Bestätigen seiner beharrlich bewahrten Herkunftskultur, deutet der Erzähler auch seine tatsächliche Rückkehr ins Herkunftsland und Heimatdorf an. Diese aber ist nicht beschreibbar, denn beide Ziele existieren nicht mehr. Es geht ihm im Prinzip wie Imre Ziska in Roths Die Heimkehr des Imre Ziska (1922). Diesen führt Roth »aus der Heimatlosigkeit der Erde […] in die Heimatlichkeit seliger Gefilde«. Genauso wie er dessen Tod als Opfertod für die »Menschheit« deklariert, genauso versteht er Mendel Singer als Vertreter dieser »Menschheit« und überträgt seinem Schicksal ebenfalls die »philosophische Bedeutung«, dass es einzelne sind, die mit ihrer Lebenskonsequenz die Humanität in der Gesellschaft erhalten helfen.61 Weil aber Singers Perspektive eine Retrospektive ist, Roth in ihr seine rückwärtsgewandte Utopie vorstellt, ist es zum einen mehr erforderlich, aber zum andern eben auch nicht realisierbar, den dritten Romanteil zu schreiben. Und Amerika? Der Leser bleibt ratlos zurück. Die Prognose für ein Leben Mendel Singers im Nachkriegseuropa ist so fragwürdig wie das Ablegen des stigmatisierten Amerika hinter dem ozeanischen Horizont.

IV Joseph Roths Roman Hiob ist die suggestive Zeitdiagnose einer theologisierten Identitätskrise. Sein Anliegen dient der Aufklärung über die zerstörerische Kollision von zivilisatorischem Fortschritt mit Kultur und Humanität. Es gelte, »die gebotenen Maße« und »natürliche Hierarchie der Werte« zu restaurieren.62 Er folgt seiner Prämisse vom schädlichen Fortschritt: »Wir wissen: bis heute ist noch keine Lösung gefunden. Von uns aus, rückwärtsbetrachtet, erliegen beide Gesprächspartner, der rohe Farmer und der kultivierte Europäer, dem gleichen Fehler: sie glauben beide an den Fortschritt«.63 Mit dem räumlichen und sozialen Ver-rücken seines Helden Mendel Singer meint der Autor die ver-rückte Gesellschaftsordnung seiner Zeit. Und das Transponieren eines Großteils der Handlung in die exotische Ferne nach Amerika macht die USA zum Anschauungsfall für seine beispielhafte Selbstdekonstruktion des Fortschrittsmythos. Die Analyse der Amerikarezeption in Joseph Roth Roman Hiob führt zu den folgenden Zwischenresultaten, die im Kontext der Roth-Forschung weiterhin diskussionswürdig scheinen: Erstens: Roth folgt seinem axiomatischen Antiamerikanismus, der sich an dem angeblichen Diktum von Georges Benjamin Clemenceau orientiert: 61 62 63

Roth, Imre Ziska (wie Anm. 59), S. 77f. Roth, Humanität (wie Anm. 11), S. 519. Joseph Roth: Der Aberglaube an den Fortschritt. In: W, 3, S. 487–494, hier S. 487.

100

Alexander Ritter

»Amerika, das ist die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne den Umweg über die Kultur«.64 Dieses Amerika dient ihm zur personalisierten Ikonisierung des Leidens an der Welt. Für den didaktischen Zweck reduziert er den Mythos Amerika zur Projektionsfläche externalisierter Konflikte und kathartischer Durchgangsstation. Die Signaturen seines Amerikabildes simplifizieren die Komplexität von Staat, Gesellschaft und Kultur im Interesse der Schreibintention. Europa sei zwar Amerikas Vergangenheit, aber die Amerikanisierung der Welt ihr kultureller Untergang. Zweitens: Des Autors Sichtweise auf Amerika ist eingeschränkt. Erkannte ›Blindheit‹ der gottlosen Moderne, Vorurteil und Erzählfunktion nutzen ein negativ stigmatisiertes, darin polemisches und redundant verwendetes Amerikabild, das die eigene Blindheit gegenüber dem unaufhaltbaren Fortschritt und dessen Potential begünstigt. Roths Amerikasicht resultiert nicht aus einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Neuen Welt. Sie ist eine Melange von modischer Idiosynkrasie und stupend ideologisierter Aversion. Mit dieser apodiktischen Amerikakritik bedient er den Antiamerikanismus seiner Zeit. Drittens: Gegen das Fortschrittsdenken stellt Roth sich selbst, »den gläubigen Optimisten«, mit einer romantisierenden retrospektiven Utopie. Daher ist Hiobs Amerikaerfahrung eine befristete räumliche Grenzüberschreitung, keine intellektuelle. Es gebe, sagt Roth, »keine andere Objektivität als eine künstlerische«, nur sie könne »wahrheitsgemäß« ›darstellen‹. Seine Denkmuster und Wahrheitssuche aber greifen zu kurz. Angesichts seines uneingestandenen Wissens um die Dominanz westliche, amerikanisch geprägte Zivilisation wird sein Schreiben zur Flucht in die literarische Fiktion. Viertens: Der Roman Hiob impliziert ein rezeptionsästhetisches Problem, das mit dessen ideologischer Wertigkeit, Didaxe und enger Zeitbindung zusammenhängt, mit des Autors obsessivem Fortschrittspessimismus und seinem Ignorieren einer Diskrepanz von Amerikaablehnung und Amerikaauswanderung, aber auch mit seiner jüdisch-katholisch und habsburgisch-monarchistisch komplexen Geschichtssicht. Und er berührt das Thema von der Bewahrung jüdischer Kultur, die im Roman und in der historischen Wirklichkeit Fiktion bleibt und somit sich als Utopie selbst annulliert. Es stellt sich die Frage, ob der moderne Leser nach dem Auslöschen der jüdischen Kultur in Europa diesen Text noch so rezipieren kann, wie es der Autor intendiert, nämlich als ein Plädoyer für den Schutz einer ethisch-moralisch orientierten, nationalkulturell profilierten Gesellschaft.65 Roth hat dieses Rezeptionsproblem im Zusammenhang mit der Publikation seiner Schrift Juden auf Wanderschaft (1927) bereits drei Jahre zuvor erkannt.66 64 65

66

Roth, Clemenceau (wie Anm. 13). Zu den desorientierenden Folgen der Auslöschung ostjüdischer Kultur vgl. den autobiographischen Roman: Lily Brett: Too Many Men. Sydney: Pan Macmillan Australia Pty Ltd. 1999 (dt.: Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008). Roth, Juden auf Wanderschaft (wie Anm. 31), S. 293.

Matjaž Birk

»Der Heroismus der Intellektuellen – Der liquidierte Heroismus« Fremd- und Selbstbilder in Joseph Roths und Stefan Zweigs Reisefeuilletons Seit der kulturwissenschaftlichen Wende knüpfen imagologische Untersuchungen in der literaturwissenschaftlichen Forschung an verschiedene Ansätze aus dem Umfeld postkolonialistischer Theorien, die in Verbindung mit diskurstheoretischen und verschiedenen literatursoziologischen Theoremen1 ein differenziertes methodologisches Instrumentarium zur Erforschung von Bildern des Fremden bzw. des Anderen und des Selbst zur Verfügung stellen. Auf Grund von vergleichbaren bzw. identischen Theoremen stellen imagologische Untersuchungen einen wichtigen Bestandteil dar in der literaturwissenschaftlichen Erforschung von kulturellen Transferprozessen und Identitätskonstruktionen in der Beziehung zur Repräsentation des Fremden und des Selbst. Die Stichwörter ›Fremd‹ bzw. Anderes und ›Selbst‹: Die Termini beschreiben relative und relationale Begriffe. Was als das Eigene oder das Fremde betrachtet wird, hängt von der Perspektive der Kultur ab, die sie interpretiert. Jede Kultur nimmt ihre eigene Gliederung in verschiedenen Diskursen vor und bestimmt daher, was sie als ihr zugehörig anerkennt und was als ihr nicht zugehörig ausgegrenzt wird, nicht thematisiert werden kann oder darf. Homi Bhabha betont, dass das Andere nie außerhalb oder jenseits von uns verortet ist, sondern eine Stelle innerhalb eines jeden kulturellen Systems und des durch dieses System bedingten Diskurses einnimmt. Der Andere ist nicht draußen, sondern ebenso im Selbst, in der Identität. Daher ist Identität ein Prozeß [...] Identität ist kein Fixpunkt, sondern ein ambivalenter Punkt [...] Das Subjekt wird also nicht als abgeschlossene Einheit gesehen, sondern vielmehr als Kreuzung der Sprachen, Ordnungen, Diskurse; Systeme wie auch Wahrnehmungen, Begehren [...] die es durchziehen. [...] Das postkoloniale und postmoderne Subjekt erfährt sich als Verdichtung einer Vielzahl von Diskursen in einer hybriden, polykontexturalen Welt.2 1

2

Vgl. Norbert Bachleitner: Eine soziologische Theorie des literarischen Transfers. Erläutert am Beispiel Hermann Bahrs. In: Ent-grenzte Räume. Hg. von Helga Mitterbauer und Katharina Scherke. Wien: Passagen Verlag (Studien zur Moderne; 22), S. 147. Helga Mitterbauer: Acting in the Third Space. Vermittlung im Spannungsfeld kulturwissenschaftlicher Theorien. In: Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers. Hg. von Federico Celestini und Helga Mitterbauer. Tübingen: Stauffenburg 2003, S. 57.

102

Matjaž Birk

Unterschiede zwischen dem Selbst und dem Fremden werden zum Vorwand für Stereotypisierungen, durch die Fremdheiten erst geschrieben bzw. festgeschrieben werden. So setzt im Prinzip der Prozess der Komplexitätsreduktion, die Hervorbringung der ›images‹ ein:3 Treten die vereinfachenden Bilder des Selbst und Fremden mit der Ambition hervor, zweckdienliche Hinweise zu kulturellen Grenzziehungen zu liefern, bleiben sie Kulminationspunkte, die bei der Historisierung und Kontextualisierung als sich stets neu artikulierenden Teile einer Invention von Tradition erkannt werden können. Kultureller Transfer, der im Sinne Bhabhas als »nie-endender Transfer zwischen unsicheren Polen kultureller Differenz«4 zu betrachten ist, bedeutet die Überschreitung kultureller Grenzziehungen und ist daher deren Negation und, Michel Foucault zufolge auch deren Bedingung: »Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, wäre nicht existent; eine Überschreitung, die keine wirkliche Grenze überträte, wäre nur Einbildung«.5 Demzufolge gelangt erst im Augenblick des Widerspruchs die Grenze zur Erfüllung ihrer Aufgabe, welche weniger darin liegt, zu trennen, als die Übertretung zu markieren, sie als Überschreitung erscheinen zu lassen. Kontamination mit dem Fremdartigen führt zur kreativen Umstrukturierung von, laut Maurice Halbwachs sozial konditioniertem Erinnern und kollektiver Identitätsbildung6 und hat, mit M. Bachtin gesprochen, Pluralität und Mehrstimmigkeit zur Folge. Im vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, anhand von Joseph Roths und Stefan Zweigs Reisefeuilletons aus Sowjetrussland die Repräsentation vom kulturellen Fremden und Selbst im Kontext der Identitäts(re)definierung im Europa der 1920er Jahre zu erörtern.

3

4 5

6

Amália Kerekes: Angewandte Landeskunde mit Morgen- und Abendausgabe. Anmerkungen zur Verortung der Publizistik in der kulturwissenschaftlichen orientierten Imagologie. In: Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Hg. von Wolfgang Müller-Funk u. a. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2003, S. 194. Zur Entstehung von Auto- und Heteroimagines vgl.: Europa und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme in der Literatur, Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Hugo Dyserinck und Karl Ulrich Syndram. Bonn: Bouvier 2008. Simon Sherry: Translation, Postcolonialism and Cultural Studies. In: Meta 42/2 (1997), S. 475. Michel Foucault: Vorrede zur Überschreitung. In: Von der Subversion des Wissens. Hg. von Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1987, S. 28–45, hier S. 32. Vgl. Gerald Echterhoff/Martin Saar: Einleitung: Das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Mauriche Halbwachs und die Folgen. In: Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Hg. von Gerald Echterhoff und Martin Saar. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2002, S. 17ff.

»Der Heroismus der Intellektuellen – Der liquidierte Heroismus«

103

I Stefan Zweigs reisephilosophisches Konzept greift auf überlieferte, in der deutschsprachigen Reiseliteratur Anfang des 20. Jahrhunderts von namhaften Großreisenden wie Hermann Graf Keyserling7 aktualisierte reisephilosophische Konzepte und Modelle zurück. Zweig reist »um der Ferne« und »des Fortseins vom Eigenen« willen. Reise versteht er als Identitätsstiftung, die durch den kulturellen Austausch, »die Zubewegung des Fremden auf das Eigene, des Inneren auf das Äußere«8 erfolge. Die Identitätsstiftung konkretisiert sich in einem breiten Spektrum der Individuierung, in »der allerpersönlichsten, ureigensten Gestaltung unserer Neigung«, die sich in einem Reisemodus verwirklichen ließe, der dynamisch und auf den Einzelnen zugeschnitten ist. Diesen Reisemodus grenzt Zweig ab vom modernen, von der angelsächsischen Kultur geprägten Modell des Gereist-Werdens (dies ist ein von Zweig geprägter Begriff), das Statik und Entindividuierung impliziert und keine Annäherung an das Fremde zulasse, denn »die Gereisten fahren an vielem Neuen vorbei und nicht ins Neue hinein«.9 Die identitätsstiftenden Austauschprozesse sollen Zweig zufolge an der Natur und an den darin verorteten Übergangs- und Harmonisierungsvorgängen gelernt und geübt werden, was in Zweigs Reisefeuilletonistik an zahlreichen Naturbildern veranschaulicht wird: So klar und rein entfaltet sich hier der Fächer der Farben, nichts befeindet sich, alle Gegensätze sind harmonisch gelöst. Norden und Süden, Stadt und Landschaft, Deutschland und Italien, alle diese scharfen Kontraste gleiten sanft ineinander [...] Meisterschaft des Übergangs: das ist die Gewalt dieser Südtiroler Täler. Und nicht nur in der Struktur in ihrem eigenen Leben ist der Wandel der Erscheinung bezwungen, auch der Umschwung der Jahreszeiten [...] scheint gebändigt von ihrer beruhigenden Gewalt. Die Jahreszeiten, die vier feindlichen Schwestern, hier halten sie sich noch friedlich Hand an Hand, leise umwandelnd im Reigen.10

Joseph Roth und seinem Wesen widersprechen Reduktionen, Einengungen, Strukturen und Schemata – stets währte er sich gegen ideell-ideologische und literarästhetische Zuordnungsversuche, wie etwa gegen die Zuordnung zum Sozialismus oder zur Ästhetik der Neuen Sachlichkeit.11 Es wundert daher nicht, dass so etwas wie eine Reisephilosophie Roths ihren Niederschlag vor7

8 9 10 11

Vgl. Hermann Graf Keyserlings im reisephilosophischen Hinblick epochales Werk Das Reisetagebuch eines Philosophen (1919). Es enthält philosophische Eindrücke einer Weltreise und baut auf dem Konzept des Reisens als Aufgehen im Anderen und Individuierung in Form der Selbsterkenntnis auf. Stefan Zweig: Reisen oder Gereist-Werden. In: Ders.: Auf Reisen. Feuilletons und Berichte. Hg. von Knut Beck. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1990, S. 261. Ebd., S. 261. Stefan Zweig: Herbstwinter in Meran. In: Ders., Auf Reisen (wie Anm. 8), S. 163. Über Roths Einstellung zur Neuen Sachlichkeit vgl.: Jürgen Heizmann: Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. Heidelberg: Mattes 1990.

104

Matjaž Birk

erst in dem Prozess der Dekonstruktion des romantischen Reiseverstehens, der Poetik des Reisens und der Fremde schlechthin findet. Roths Dekonstruktion der Reise- und Fremdschemata wie sie sich in seinen Reisefeuilletons niederschlägt, geht zurück auf die Auffassung, dass Fremde und Heimat und deren Repräsentationen, historische und relationale geistig-kulturelle Konstrukte sind: »In diesem Augenblick erblicke ich eine kleine Maus, die durch das Gitter huscht, hinüber, auf die andere Seite – in die Heimat, in die Fremde? Alle Beamten blicken auf den Zug. War es eine Maus mit Paß oder eine Konterbandemaus«?12 Andererseits will Roth der Faszination, die von dem Reisen und dem Fremden ausgeht nicht widerstehen. Er lässt sich in deren Bann einbeziehen, der an den reiseimmanenten Orten des Übergangs, wie Grenzen, Bahnhöfen, Hotels, Hafen, Zügen, Schiffen usw., mit besonderer Intensität sinnlich erfahrbar gemacht wird: Ich weiß nicht, was jemand zu erzählen hat, wenn er eine Reise tut. Ich könnte jahrelang zu Hause sitzen und zufrieden sein. Wenn nur nicht die Bahnhöfe wären. Man glaubt, ein schriller Laut, der die Nacht durchschauert, sei nur ein Pfiff der Lokomotive. Und es ist ein Schrei der Sehnsucht. Und wunderschöne Frauen steigen gelegentlich zu einem ins Abteil [...]13

In Anbetracht der Faszination der beiden Autoren für den ›Übergang‹, für das Zwischenräumliche, wenn man so sagen will, kann man fürs Erste von einer reisephilosophischen Wesensverwandtschaft zwischen Roth und Zweig sprechen. Bei genauem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass zwischen Reisetheorie und reiseliterarischer Praxis bei Zweig Inkongruenzen vorhanden sind, was auf seine dichotomische Wirklichkeitskonstruktion und –Repräsentation zurückzuführen ist,14 durch die den kulturellen Transferprozessen, die in der Theorie als identitätsstiftende Reiseimmanenz herausgestrichen werden, Schranken gesetzt werden. Daraus lassen sich auch Unterschiede im reisephilosophischen Konzept des Übergangs bestimmen. Während es bei Zweig weitgehend dem Theoretischen verhaftet und auf die überindividuelle Identitätsbildung bzw. Rekonstruktion eingeschränkt bleibt, was am Beispiel der Ausbildung des geistigen Weltbürgertums ersichtlich wird, erscheint ›der Übergang‹ bei Roth von Bedeutung im Kontext der Identitätsbildung des Individuums, in dessen Individuierung, die unter dem Einfluss der empirischen Erfahrung in den Reisefeuilletons demonstrativ vorgenommen wird:

12 13 14

Joseph Roth: Die Grenze. In: Ders.: Orte. Ausgewählte Texte. Hg. von Heinz Czechowski. Leipzig: Reclam 1990, S. 42. Joseph Roth: Reise. In: ebd., S. 6. Zweigs reiseliterarische Wirklichkeitskonstruktionen greifen zurück auf traditionelle Dichotomien wie ›Leben vs. Tod‹, ›Zivilisationskritik vs. Fortschrittsoptimismus‹, ›Authentizität vs. Nicht-Authentizität‹ usw.

»Der Heroismus der Intellektuellen – Der liquidierte Heroismus«

105

Es gibt Luxuszüge, D-Züge, Schnellzüge, Personenzüge, verschiedene Taxen. [...] All das empfindet man »romantisch«. Dennoch ziehe ich es vor, in einem D-Zug erster Klasse nach Monte Carlo zu fahren, als zu Fuß eine Steuererklärung auszufüllen [...]15

II Für Zweigs reisepoetologische Substanz sind konstitutiv die Bilder der Natur, die sich mit den Bildern von Kulturlandschaften, meist urbanen Charakters, und den Gesellschaftsbildern überlappen. Die Natur, die, wie oben gezeigt, einen paradigmatischen Stellenwert hat, erscheint als Zeichen für innere Zeit, d. h. für idealtypische individuelle und kollektive geistige und emotionale Identitäten. Bei Roth tritt die Natur häufig als ein konstruktivistisches Gefüge in Erscheinung, demnach bleibt ihr referentieller Charakter beschränkt auf Funktion der Referenz im Kontext der Vergangenheitsverklärung und Zivilisationskritik.16 Aus gattungspoetologischer Hinsicht tendieren Roths Reportagen zur Autoreferentialität und weisen einen akzentuierten poetischen Charakter auf, der sich im Rückgriff auf Tropen, vorwiegend Metaphern bzw. Personifikationen, niederschlägt, wo Roth wesentlich innovativer und kreativer vorgeht als Zweig. Die Tropen bilden das Instrumentarium der visuellen Kraft von Roths reiseliterarischem Erzählen. Sie fungieren als Stilmittel der Ironie und Satire, so werden Gummi-Absätze auf den russischen Straßen in der Optik des Roth’schen Beobachters zu »Hufeisen für Menschen«.17 Roths poetischer Stil zeigt sich ferner in spezifischer Szenerie und Dramaturgie, mit den für das Genre und das Veröffentlichungsmedium charakteristischen retardierenden und akzelerierenden Momenten, die das Ziel verfolgen, die Atmosphäre stimmig abzubilden, bis Personen in ihrem jeweiligen Umfeld glaubwürdig typisiert werden. Bei beiden Autoren erscheint die Ich- bzw. Wir-Erzählinstanz meist in der extradiegetisch-homodiegetischen Kombination in Verbindung mit Tendenz zur internen und Null-Fokalisierung. Die Erzähleridentitäten sind meist die eines Beobachters, Flaneurs, Zeitzeugen, Chronisten usw. Während bei Zweig pluriregionale und stabile erzählte Welten konstruiert werden, lässt Roth im Segment des unzuverlässigen Erzählens stabile Welten durch instabile nicht nur ergänzen, sondern auch ersetzen. Hierbei bedient er sich verfremdender Erzählstrategien und Illusionsdurchbrechungen, die unter Rückgriff auf Ironie und Sarkasmus erfolgen. Impressionistische und expressionistische Natur- und Kulturbilder ergänzen sich gegenseitig, wobei unter Einfluss mo15 16

17

Joseph Roth: Romantik des Reisens. In: Roth, Orte (wie Anm. 12), S. 101. Vgl. Joseph Roth: Die Stadt geht ins Dorf. In: Ders.: Joseph Roth Werke 2. Das journalistische Werk 1924–1928. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 645. Joseph Roth: Wie sieht es in der russischen Strasse aus. In: ebd., S. 623.

106

Matjaž Birk

dernistischer ästhetischer Konzepte, die, mit der Vermittlung des Sinnesapparates konstruierten Wirklichkeitsrepräsentationen symbolischen Charakters bevorzugt werden. Die Russlandreisen der beiden Zeitgenossen sind im Kontext des gesteigerten Interesses der europäischen Intelligenz an den Entwicklungen im ersten sozialistischen Staat der Welt zu betrachten. Die meisten von den Reisen standen unter dem Signum ›ex oriente lux‹ bzw. es wurde dieses Signum über sie ideologisch ›verhängt‹ – wenn sie aktive Mitglieder der linken politischen Parteien waren, wie etwa das KPD-Mitglied Clara Zetkin, die 1921 das Reisebuch Im befreiten Kaukasus veröffentlichte. Die Mehrheit unter den europäischen Russlandreisenden setzte sich aus Schriftstellern und Journalisten zusammen, die keine Parteimitglieder waren, sondern lediglich Anhänger diverser Ideologien. Bis auf (wenige) Sozialistischorientierte, wie Franz Karl Weißkopf und Egon Erwin Kisch, waren die Meisten bürgerlicher ideeller Prägung, darunter neben den hier untersuchten Joseph Roth und Stefan Zweig auch Walter Benjamin, Ernst Toller, Arthur Holitscher u. v. a. Einige von den namhaften Vertretern der Russlandreisenden liberaler Orientierung sahen von der Reise ab, weil sie die politische Instrumentalisierung des Sowjetismus fürchteten: Bekannt ist das Beispiel des französischen Pazifisten Romain Rolland, der aus dem selben Anlass und zur gleichen Zeit wie Zweig nach Sowjetrussland hätte fahren sollen. Zweig gegenüber behauptet er, Tolstoi vom Bolschewismus feiern zu lassen, sei »genauso frevelhaft als Franz von Assisi vom Faschismus«.18 Auch Stefan Zweig war auf der Suche nach einem geeigneten unpolitischen Motiv, das seine erasmische Haltung der Konzilianz nicht gefährden würde. Die Einladung der sowjetischen Behörden im Sommer 1928, aus Anlass des 100. Geburtstags von L. N. Tolstoi, als Vertreter des österreichischen PEN-Clubs eine Rede im Bolschoj-Theater zu halten, kam ihm daher sehr gelegen.19 Seine Motivation für die Reise nach Sowjetrussland war begründet in spezifischem, an J. W. Goethes Umgang mit Faust-Stoff gemahnendem Interesse für die russische Kultur und Literatur. Auf seinen Reisen,20 so auch auf seiner Russlandreise, verfolgte Zweig das Ziel der literarischen Selbstinszenierung zum Klassiker der Weltliteratur, wozu ihm sein Gefallen an dem Im-Rampenlicht-Stehen, das er in einem in Moskau verfassten Brief an seine Frau Friderike Zweig bekundete, zweifellos zugute kam: Angekommen Montag 3 Uhr, begrüsst, photographiert, cinematografiert [...] um sechs das herrliche Opernhaus [...] drei Stunden auf der Tribüne den Reden zugehört, dann selbst eine improvisiert, während sechs Scheinwerfer standen [...] tausend 18 19

20

Zit. nach: Donald A. Prater: Stefan Zweig. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 182. Mehr über Zweigs öffentliches und privates Russlandbild vgl. Matjaž Birk: Stefan Zweigs Impressionen aus dem kommunistischen Rußland 1928. In: Monatshefte 4 (1995), S. 404–419. Vgl. hierzu: Festliches Florenz. In: Zweig, Auf Reisen (wie Anm. 8), S. 338–343.

»Der Heroismus der Intellektuellen – Der liquidierte Heroismus«

107

Leute kennengelernt, dann ins Tolstoi-Museum (mein Tolstoibuch wird an allen Strassenecken für 25 Kopeken verkauft) [...] Alles rasend interessant. Ich bin glücklich alles gesehen zu haben, es ist ein Eindruck für das ganze Leben. [...] Mir geht es gut, ich fühle mich durch die Intensität der Eindrücke frisch und besser als je.21

Im Rahmen der dargestellten literarischen Selbstinszenierung war Zweig intensiv um die Förderung der internationalen Rezeption seiner Werke bemüht. Einer ihrer Höhepunkte wurde zweifellos durch die russische Ausgabe von (seinen) gesammelten Werken erreicht, die auf Betreiben und unter aktiver Mitarbeit von Maxim Gorki im Leningrader Wremja-Verlag im Jahr vor Zweigs Russlandreise zur Veröffentlichung gelangten. Im Hinblick auf die journalistische und literarische Karriere Roths fügt sich seine Russlandreise in einen Zeit-Raum-Rahmen ein, der durch die aus dem Verlust der Pariser Korrespondentenstelle resultierende Krise zum einen, und durch die intensive literarische Produktion (im Jahr 1927 erschienen Juden auf Wanderschaft und Flucht ohne Ende) zum anderen gekennzeichnet wurde. Dem Briefwechsel mit der Frankfurter Zeitung zufolge nahm Roth die Reise nach Sowjetrussland an, um nach dem Verlust der Pariser Korrespondentenstellen seine journalistische Integrität zu bewahren. In einer konfliktträchtigen Periode in seinen Beziehungen zur Frankfurter Zeitung bekräftigte Roth seine Forderung nach Journalismus mit literarischen Ansprüchen. Seinem Vorgesetzten, dem Feuilletonredakteur Benno Reifenberg, schrieb er im Vorfeld seiner Russlandreise: »Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Das ist die Aufgabe einer großen Zeitung. Ich bin Journalist, kein Berichterstatter, ich bin Schriftsteller, kein Leitartikelschreiber«.22 Er wies den Vorwurf der Nicht-Objektivität in seiner Herangehensweise an die sowjetische Gesellschaft als Folge seiner vermeintlich bürgerlichkritischen Haltung zurück und reiste Anfang Juli 1926 über Polen nach Moskau: Ich glaube nicht an die Vollkommenheit der bürgerlichen Demokratie, aber ich zweifle noch weniger an der tendenziösen Enge der proletarischen Diktatur. [...] Ich darf Ihnen bei dieser Gelegenheit gestehen – ohne Sie mit einer Beichte belästigen zu wollen, daß mein Verhältnis zum Katholizismus und zur Kirche von einer verblüffend anderen Art ist, als man von einer flüchtigen Kenntnis meiner Person, meiner Aufsätze und selbst meiner Bücher glauben könnte. Schon dieser Umstand allein garantiert mir eine gewisse Distanz zu den Dingen in Rußland. Sie gehen uns übrigens vorderhand näher an, als die Dinge in Amerika. Es scheint mir, daß gerade jetzt in Rußland eine gewisse fruchtbare Ruhe eingetreten ist, fruchtbar in dem Sinne, daß man sich vielleicht Rechenschaft abzulegen beginnt. Es wird sich also vieles in Rußland ändern, indessen Amerika auch im nächsten Jahr noch Amerika, schlimmstenfalls noch amerikanischer sein könnte.23 21

22 23

Stefan Zweig – Friderike Zweig: »Wenn einen Augenblick die Wolken weichen«. Briefwechsel 1912–1942. Hg. von Jeffrey B. Berlin und Gert Kerschbaumer. Frankfurt a. M.: Fischer 2006, S. 213. Joseph Roth. Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 88. Ebd., S. 92.

108

Matjaž Birk

Roths Russlandreise war im Vergleich zu jener von Zweig zeitlich und räumlich ausgedehnter – im Vergleich zu Zweig, der zwischen Moskau und Leningrad unterwegs war, wurden auf Roths Reise weite Strecken zwischen Moskau, Leningrad, dem Kaukasus und Schwarzen Meer zurückgelegt. Roths Reise war in deren Gestaltung und Durchführung individuiert, was auf Unterschiede in den Reisekonzepten, in der Reisemotivation (L. N. Tolstoi-Hundertjahrfeier vs. Reisereportage) und in der Identitäten der Reisenden (Staatsgast vs. Journalist auf der Dienstreise) zurückgeht. In Anlehnung an Zweigs Reisetypologie kann man behaupten, dass in der Zweig’schen Reise, gemessen an der in der Reisereportage zu beobachtenden Selbstrepräsentation und Selbstinszenierung, vordergründig der Modus des Gereist-Werdens seine Konkretisierung findet, während bei Roth der Modus des Reisens im Vordergrund steht. Charakteristisch dafür ist Roths kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Symptomatik Sowjetrusslands, die meist im Privaten erfolgte, etwa in Gesprächen mit anonymen Reisegefährten, bei denen der Reiseberichterstatter nicht zur Preisgabe seiner Identität verpflichtet war. Der Modus des Reisens trat auch im Gespräch mit dem sich in der Sowjetunion zur gleichen Zeit aufhaltenden Walter Benjamin in Erscheinung, bei dem Roth, während eines Zusammentreffens in Moskau im Dezember 1926, den Eindruck eines desillusionierten ›Sowjet-Fans‹ hinterließ.24 Hingegen lassen Öffentlichkeitsauftritte und Begegnungen auf das Vorhandensein des in Ergänzung zum Modus des Reisens stehenden Gereist-Werdens schließen. Dieser Modus, der wie bei Zweig pragmatisch motiviert wurde, manifestiert sich in teils wahrer, teils fingierter Anerkennung gesellschaftlicher Veränderungen anlässlich der Interviews für die sowjetische Presse.25 24

25

Vgl. Walter Benjamin: Moskauer Tagebuch. Aus der Handschrift herausgegeben und mit Anmerkungen von Gary Smith. Mit einem Vorwort von Gershom Scholem. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 42–43. Dass der Eindruck, der Roth auf Benjamin machte, das Ergebnis der Selbstrepräsentation von Roth war, die in der Abhängigkeit von den Erwartungen seines Gegenübers erfolgte, ist angesichts Benjamins Enttäuschung über die sowjetische Realität, durchaus möglich. Die auf die Erwartungen des jeweiligen Gesprächpartners zugeschnittene Selbstrepräsentation war ein konstantes Verhaltensmodell in Roths Leben, das in erster Linie jene Beziehungen bestimmte, die für Roth von existentieller Bedeutung waren, was in besonderer Intensität und Vielfalt in seinem Verhältnis zu Stefan Zweig in Erscheinung trat. Vgl. hierzu: Matjaž Birk: »Vielleicht führen wir zwei verschiedene Sprachen ...« Zum Briefwechsel zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig. Mit 21 bisher unveröffentlichten Briefen. Münster: LIT 1997 (Literatur im Kontext; 3), S. 84ff. Aufschluss über die Kontaktaufnahme seitens der sowjetischen Presse gibt Roth in seinem Brief an Benno Reifenberg vom 30. August 1926: »Einige Zeitungen haben meine Ankunft begrüßt: der revolutionäre deutsche Schriftsteller ist in Rußland«. Vgl. Roth, Briefe (wie Anm. 22), S. 93. David Bronsen bringt Stellen aus dem auf dieses Interview zurückgehenden Beitrag, der unter dem Titel Ankunft von Joseph Roth in einer russischen Zeitung in Tiflis zur Veröffentlichung gelangt haben soll. In diesem Aufsatz bezeugt Roth seine »Beigeisterung und nochmals Begeisterung« für

»Der Heroismus der Intellektuellen – Der liquidierte Heroismus«

109

III Zweigs Wahrnehmung des Fremden ist auf den Bereich der Kultur fokussiert. Sie weist einen systematischen, zugleich jedoch auch schematischen Charakter auf und erfolgt unter Rückgriff auf zwei Bestimmungsmodi. Der erste ist die Bestimmung nach kultureller Sozialisation, der zweite nach dem Wesen, wobei das Wesen als eine im Prozess ständiger Veränderung begriffene mentale und kulturelle Identitätsbildung verstanden wird. Trotz der programmatischen Hinterfragung der kolonialistischen Annäherung an das Fremde – »wie wenige sind heute unter uns im geistigen Europa, die aus eigener Anschauung und Erfahrung dieses neue Rußland mit dem alten gerecht zu vergleichen wissen«26 – und des Rekurrierens auf das identitätsstiftende Element des Übergangs, bleibt für Zweigs Repräsentation des Fremden konstitutiv die Grenzziehungen zwischen Europa und Sowjetrussland und somit die Aneignung des Fremden durch das westeuropazentrische kulturelle Selbst. Dieses Selbst, wenngleich es sich im Prozess der Neudefinierung befindet, wird stets als Referenz herangezogen. In Anlehnung an die vom französischen Imagologen Henri Pageaux begründete Typologie der Beziehungen zum Fremden unterliegen die Beziehungen zwischen dem Selbst und dem Fremden in Zweigs Russlandreportage einer dreifachen Relation: der phobischen Relation, in der das Fremde als minderwertig repräsentiert wird, der philischen, in der das Fremde als positiv bewertet und als solches in die betrachtende Kultur zunehmend als das Andere eingeschrieben wird, und drittens der unifikatorischen Relation,27 die bei Zweig unter dem Signum des Kosmopolitismus und Internationalismus pazifistischer Prägung steht und positive Relationen zwischen kulturellen Elementen innerhalb des unifikatorischen Kulturgefüges und negative außerhalb des-

26 27

den »Aufbau eines neuen Lebens und einer neuen Kultur«. Zit. nach David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 285. Der IchErzähler aus Reise in Russland, der die Identität des historischen Autors annimmt, berichtet von einem für die sowjetische Presse gegebenen Interview und versetzt der sowjetischen Presse einen Seitenhieb, indem er auf die Stereotypien verweist, die von den sowjetischen Zeitungen im Bezug auf die Reisenden aus Europa verbreitet wurden: die Interviewer brachten »dem staunenden Rußland die Kunde, daß ein Herr Joseph Roth angekommen sei, obwohl er ausdrücklich bemerkte, er sei kein Konservativer und habe gar keine Beziehungen zur deutschnationalen Partei«! Vgl. Joseph Roth: Öffentliche Meinung, Zeitungen, Zensur. In: Roth, Werke 2 (wie Anm. 16), S. 658ff. Stefan Zweig: Epilog. In: Ders., Auf Reisen (wie Anm. 8), S. 318. Eine weitere Möglichkeit der Relation zwischen dem Selbst und dem Fremden bzw. Anderen ist jene, bei der sowohl Ziel- als auch Ausgangskultur als negativ repräsentiert werden. Vgl. Daniel-Henri Pageaux: Uvod v imagologijo [Einführung in die Imagologie]. In: Podobe tujega v slovenski književnosti. Podobe Slovenije in Slovencev v tuji književnosti. [Fremdbilder in der slowenischen Literatur. Slowenienbilder in fremder Literatur]. Hg. von Tone Smolej. Ljubljana: Filozofska fakulteta 2005, S. 19ff.

110

Matjaž Birk

sen aufweist. In der unifikatorischen Relation macht Dialog der Unifikation oder Rekonstruktion von in Verlust geratenen Gefügen (wie Pangermanismus, Panslawismus usw.) Platz. Dazu gehören auch Kosmopolitismus und Internationalismus, bei denen die Bestimmung vom Positiven und Negativen am schwierigsten erscheint. In der unifikatorischen Relation erscheint das Fremde häufig als das in einem unterschiedlichen Intensitätsgrad vorhandene Selbst mit anderen Worten, das Fremde wird in ein mit dem Eigenen gleichwertiges Anderes transformiert: Sie haben ihnen, die Raum und Ruhe um sich ebenso notwendig wie Nahrung brauchen, eine Geißel erfunden, die wir in den Nachkriegsjahren selber im Fleisch gefühlt haben, die Wohnungsnot. Aber hier ist sie nicht Geißel mehr, sondern dreimal geknotete Knute, diese für unsere europäische Begriffe unerträgliche Wohnungsnot [...] Ich besuchte einen großen Gelehrten im einzigen Zimmer, das, neben einem zweiten winzigen Räumchen ohne Küche, er zu viert bewohnt […] Ich besuchte Eisenstein [...] Dieser Meister, der für das russische Können mehr Propaganda geleistet als hundert Bücher, hat ein einziges Zimmer innerhalb einer Gesamtwohnung [...] und doch, sie lassen sich durch Geld nicht von ihrer Aufgabe weglocken, alle halten sie durch, alle kehren sie wieder aufopferungsvoll nach Rußland zurück [...] empfindungslos für alle kleinen Bequemlichkeiten, die uns ihren europäischen Brüdern, Selbstverständlichkeit sind. Das ist der großartige Heroismus der russischen Intellektuellen von heute [...]28

Zahlreiche Grenzziehungen zwischen Westeuropa und (Sowjet)Russland erfolgen unter Rückgriff auf stereotype Heteroimages,29 vorwiegend aus dem kulturellen Bereich. Teils handelt es sich bei den Heterostereotypen auch um Quasiheterostereotypien, d. h. um Fremdbilder, in denen sich das beobachtende Ich hinter die mutmaßliche Perspektive des Fremden versteckt. Diese heterostereotypischen Bilder fügen sich weitgehend in die von anderen Russlandreisenden konstruierte Sowjetrussland-Stereotypie ein, die dadurch von Zweig festgeschrieben wird. Der Rückgriff auf Heterostereotypien zeigt sich in der Repräsentation verschiedener Aspekte der kollektiven Identität, die auf Attribute, wie Geduld, Vitalität, Frömmigkeit, Drang der Massen zur Bildung, Geduld, Heroismus der Intelligenz usw., basiert. Heterostereotype Bilder der russischen Menschen und deren Gesellschaft werden meist weder individuiert noch identifiziert. Sie beziehen sich (neben der Differenzierung nach Kategorie des Alters und des Geschlechts) vorerst auf Vertreter unterschiedlicher 28 29

Stefan Zweig: Heroismus der Intellektuellen. In: Ders., Auf Reisen (wie Anm. 8), S. 295–297. Laut Pageaux führen Bilder notwendigerweise zu Stereotypen: »Das Bild bleibt ein unklares Wort, anscheinend für alles geeignet. Nachdenken muss man jedoch auch über seine spezifische und kollektive Erscheinungsform – über das Stereoty, d. h. das Signal, das zu einer einzigen möglichen Interpretation verleitet. Das Stereotyp verbreitet lediglich die wesentliche Mitteilung, versendet das wesentliche Bild, das erste und das letzte – das wichtigste«. Vgl. Daniel-Henri Pageaux: Uvod. In: Podobe tujega (wie Anm. 27), S. 11–12.

»Der Heroismus der Intellektuellen – Der liquidierte Heroismus«

111

kultureller Subsysteme, wo bestimmte Berufs- und Interessengruppen (Beamte, darunter Offiziere, Zöllner, Kondukteure, Leiter von kulturellen Einrichtungen, Wissenschaftler, Schriftsteller und Mitglieder literarischer Vereinigungen usw.) und deren anonyme Vertreter als Repräsentanten gesellschaftlicher Kraftfelder in der Abgrenzung von westeuropäischer, gleichwohl entindividuierter Selbstrepräsentation dargestellt werden. Während die Fremdrepräsentation, die nach kultureller Sozialisation erfolgt, auf Bilder anonymer Menschen beschränkt bleibt, werden die Bilder des Fremden, die auf die Bestimmung nach ihrem Wesen zurückgehen, identifiziert. Diese Bilder erfahren mit den Repräsentationen von M. Gorki und L. Tolstoi ihre bedeutendste Konkretisierung. Die geistigen und ästhetischen Physiognomien der beiden russischen Dichter nehmen in der Repräsentation der sowjetisch-russischen und zaristisch-russischen Identität einen paradigmatischen Stellenwert ein. An Repräsentationen Gorkis und Tolstois tritt eindeutig zu Tage die Dichotomie im Zweigs Umgang mit dem Fremden, die mit der Deblockierung kultureller Transfers einsetzt, um schließlich über die Einschreibung des Fremden in das Eigene auf die Abgrenzung der sowjetischen Kultur von den westeuropäischen hinauszulaufen. Diese Dichotomie verweist auf die Kluft zwischen reisephilosophischer Theorie und reiseliterarischer Narrative in Zweigs Kontext der Annäherung an das Fremde. Der Erzähler belässt es in seiner Grenzziehung eindeutig bei der Prägung des ›harten Kerns‹ der beiden kulturellen Größen, der (sowjet)russischen und westeuropäischen Kultur. Trotz des Bewusstseins von enger Verknüpfung zwischen der Selbstrepräsentation der sowjetrussichen Kultur und der gesellschaftlichen Mächte- und Kraftverhältnisse, die in Zweigs nach seiner Rückkehr aus Sowjetrussland entstandenen und nicht zur Veröffentlichung bestimmten Privatkorrespondenz mit R. Rolland thematisiert wird, greift der Erzähler in seinen Heterostereotypien auf diese Selbstrepräsentation zurück, konkret auf die Elemente im Funktionsgedächtnis des sowjetrussischen kulturellen Fremden, wie Transkulturalität, Volksnähe, gesellschaftliche Verantwortung und soziale Sensibilisierung der Kunst usw. Diese Elemente werden als unentbehrlich für die westeuropäische Identitätsrekonstruktion vor Augen geführt. Dabei scheint der Erzähler das finale Ziel zu verfolgen, das in der Umverlegung der Elemente aus dem Speichergedächtnis in das Funktionsgedächtnis des kulturellen Selbst besteht: Und sein neues Buch [M. Gorkis], an dem er noch arbeitet, wird nicht Dichtung sein, sondern Darstellung seiner Erlebnisse mit diesem Volk bei dieser Wiederbegegnung nach Jahr und Jahren. Und ich glaube, gerade dieses Buch wird für Europa von äußerster Wichtigkeit sein [...] Und wenn wahrhaft dann dieser wahrhaftige Bildner, dieser warmherzigste Kenner seines Volkes trotz aller Einschränkungen im wesentlichen der Leistung der letzten Jahre zustimmt, sollten immerhin manche vorsichtiger sein [...]30

30

Stefan Zweig: Besuch bei Gorki. In: Ders., Auf Reisen (wie Anm. 8), S. 300.

112

Matjaž Birk

Roths Annäherung an das Fremde ist im Vergleich zu der von Zweig komplexerer und zugleich widersprüchlicher Natur. Im Vorfeld entlarvt er die Erwartungen auf geistige Erneuerung Westeuropas als Illusion: »Im Westen aber wartet ein großer Teil der geistigen Elite auf das bekannte Licht von Osten. [...] Wie groß ist ihr Irrtum«!31 Zur Zielscheibe seiner Kritik wird die europazentrische Aneignung des (sowjet)russischen kulturellen Fremden. Roth zufolge führt sie stereotype Repräsentationen herbei, in die sich die in Europa lebenden Russen, durch adäquate Selbstinszenierungen einzufügen haben: »Die schmucken Gestalten in den exotischen Uniformen stehen vor den Nachtlokalen des Montmartre. In den russischen Städten tragen sie Zivil und machen Geschäfte mit kleinen Händlern«.32 Roth streicht heraus, dass die (sowjet)russische Heterostereotype von der europäischen Literatur fest- und fortgeschrieben wurde. Dass durch diese Kritik auch ein Seitenhieb auf Zweig und seine Russlandbücher versetzt wurde, liegt nahe.33 Roth zeigt, dass die einzige Fremdrepräsentation, die ihre Gültigkeit behalten kann, auf die Bestimmung nach dem Wesen zurückgeht. Die Bestimmung nach dem Wesen resultiert in der Dekonstruktion von sämtlichen Heterostereotypien, die sozialkritische Dimensionen annimmt und in Roths multipolaren weltanschaulichen Kontext verortet wird. Die soziale Kritik legt die sowjetrussische Gesellschaftssymptomatik zutage, darunter die Einschränkung der individuellen Geistesfreiheit, »nicht so sehr der Gesinnung als Betrachtungsweise«,34 Inkongruenz von Theorie und gesellschaftlicher Praxis, Verbürgerlichung und Verbeamtung der Revolution, die Globalisierung amerikanischer Art, Falschheit der Selbstrepräsentation, Politisierung und Depoetisierung der Gesellschaft, Desakralisierung der Liebe, Enterotisierung der Frau usw. An der diagnostizierten Symptomatik, mitunter an der Verbürgerlichung der postrevolutionären sowjetischen Gesellschaft, wird gezeigt, dass die Grenzziehungen zwischen dem Selbst und dem Fremden, die von Stereotypien festgeschrieben wurden, von der modernen Gesellschaftsrealität eingeholt werden: Der enteignete Kapitalist [...] geht am Abend in die Halle des großen Hotels, wo zwar ein Bild von Lenin hängt, aber auch eines von Fragonard [...] Hierher haben selbst die Bettler, die überall hinkommen, keinen Zutritt. Es ist eine ganz großbürgerliche Welt, wie im Westen.35

31 32 33

34 35

Joseph Roth: Russland geht nach Amerika. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 629. Joseph Roth: Das Völker-Labyrinth im Kaukasus. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 621. 1919 erschien der erste Band aus der Reihe Baumeister der Welt mit DostojewskiPortrait (neben Balzac und Dickens); der letzte im Frühjahr 1928 veröffentlichte Band bringt neben Portraits von Casanova und Stendhal auch das bekannte TolstoiPortrait. Joseph Roth: Öffentliche Meinung, Zeitungen, Zensur. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 656. Joseph Roth: Der auferstanden Bourgeois. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 615.

»Der Heroismus der Intellektuellen – Der liquidierte Heroismus«

113

Roths Blickwinkel ist im Vergleich zu jenem von Zweig auf das nationale, geschlechtliche und kulturelle (Kunst, Bildung, Wirtschaft) Fremde gerichtet. Die Bilder beziehen sich auf verschiedene Nationen und Berufsgruppen und lassen deren kollektive Identitäten als Repräsentanten von gesellschaftlichen Kraftfeldern krass in Erscheinung treten. Die Dekonstruktion der Heterostereotypie geht bei Roth mit der kritischen Hinterfragung der Autoimagines einher, die mit der Hinterfragung der Selbstinszenierung des Reisenden einsetzt – »über die polnische Politik wusste ich divinatorisch viel zu sagen«36 – und unter Rückgriff auf das Stilem des Perspektivenwechsels erfolgt. So entstandene Quasiheteroimagines vermitteln ein verfremdendes Bild des westeuropäischen Selbst: Wer leuchtet mir von den Plakatwänden entgegen? Der Maharadscha. Mitten in Moskau! [...] In seinem Gefolge befinden sich die ältesten Kinodramen Europas [...] Hoffte ich nicht, den Maharadschas und ihresgleichen zu entkommen, als ich hierherfuhr? Schicken sie uns den Potemkin und lassen sich dafür den Gunnar kommen, die Russen? Welch ein Tausch.37

Dieses Bild zwingt zur Neudefinierung des Selbst, der im ersten Augenblick im Vergleich zu Zweig weder Schranken durch das Festhalten an Stereotypien gesetzt werden noch auf die Aufdeckung fremder Archivselemente und die Neuverteilung von Elementen zwischen beiden Erinnerungsmodi beschränkt bleibt. Um der Dekonstruktion der Autostereotypie gerecht zu werden, stellt Roth Kreativität und Einfallsvermögen zur Schau, indem er zwischen verschiedenen Relationen zwischen dem Selbst und dem Fremden wechselt: Das Spektrum umfasst manische, fobische, philische und jene Relation, in der beide Kulturgefüge als negativ repräsentiert werden. In diesem Geflecht der Beziehungen zwischen Selbst und Fremdem, die sich mit der Dekonstruktion von Hetero- und Autostereotypien überlappen, lässt Roth zuerst die Neudefinierung des mentalen und kulturellen Selbst verorten. An dieser Stelle tritt hervor die Ambivalenz in Roths Annäherung an das Fremde, die daran zu beobachten ist, dass die westeuropäische Kultur nicht nur als referentielles, sondern als suprematisches Gefüge fungiert – »Vorläufig bleibt immer noch die geistige Physiognomie Europas interessanter – wenn auch ihre politische und soziale Physiognomie schauderhaft ist«38 –, wodurch die Dekonstruktion der Stereotypien zunehmend in ihr Gegenteil umschlägt. So schaltet Roth zwischen Dekonstruktion und Fortschreiben von Stereotypien des Fremden, was auch daran zu sehen ist, dass bis auf einige Ausnahmen (Verweise auf M. Gorki, F. M. Dostojewski, L. N. Tolstoi und andere historische Persönlichkeiten, Gespräch mit dem Direktor des Moskauer jüdischen Theaters) die von Roth gezeichneten Bilder der Menschen, ähnlich wie bei Zweig, anonym und 36 37 38

Joseph Roth: Die Wunder von Astrachan. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 611. Joseph Roth: Gespenster in Moskau. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 596ff. Joseph Roth: Russland geht nach Amerika. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 632.

114

Matjaž Birk

entindividuiert sind.39 Wie Zweig, greift auch Roth zunehmend auf das Funktionsgedächtnis des Fremden zurück. Im Vergleich zu Zweig erfolgt dieser Rückgriff per negationem und in der Interdependenz von der als suprematisch repräsentierten westeuropäischen Kultur.40 Der Rückgriff resultiert im Kontext der Neudefinierung des Selbst in einer mit Zweig vergleichbaren Implikation der Neuverteilung von kulturellen Elementen in dessen Erinnerungskultur: Wenn man uns heute sagt, daß etwas nur ein Märchen sei, so ist das für uns lange kein Grund, ihm nicht zu glauben. [...] Wir haben den Weg schon zurückgelegt, auf dem man erfreut feststellt, daß die Wunder erklärbar sind. Wir wandern schon den Weg, auf dem man erfährt, daß auch das Erklärliche ein Wunder ist.41

Während Zweig im Kontext der Neudefinierung des kulturellen Selbst die Illusion der Überschreitung von Grenzziehungen stereotypisch fortschreibt, was besonders eindeutig in den Bildern der jungen sowjetischen Dichtergeneration zutage tritt, entlarvt Roth innerhalb seiner zahlreichen Grenzziehungen zwischen kulturellem Osten und Westen die Grenzüberschreitung als ein ideologiebehaftetes Konstrukt: »Die vielen verschiedenen Stämme vermischen sich nicht«.42 In Roths multipolarer weltanschaulicher Optik wird dieses Geflecht von Dekonstruktion und Rekonstruktion von Stereotypien abgesteckt mit der Blockierung der Zirkulation von kulturellen Elementen, wie Modernisierung, Globalisierung, Nationalismus, Forschrittsdenken, Zukunftsoptimismus, Todeskult usw. Andererseits werden zur Neudefinierung des Selbst bestimmte Wertvorstellungen bzw. kulturelle Elemente zur Zirkulation zwischen europäischem Osten und Westen, zwischen dem Fremden, dem Anderen und dem Selbst freigegeben, darunter Individualismus, Humanität, (klassische) Bildung, Revolution des Geistes, Poesie der Wirklichkeit, geistige Revolution, Sakralität der Kunst usw. Die Gründe für Roths Deblockierung der genannten kulturellen Elemente und für dessen Rückgriff auf die im Dekonstruktionsvorgang parallel dazu hinterfragten Heterostereotypen im Rahmen der Neudefinierung des Selbst sind vielfältig und reichen von Roths reiseliterarischer Poetik, über dessen Hang zur Mythomanie und seiner kulturellen Hybridität, bis zu Erwartrungen des Rezipienten: Ich gestehe beschämt, daß mich manchmal in diesen Straßen eine ganz bestimmte Trauer befällt. [...] mitten in der Bewunderung ergreift mich ein Heimweh nach un39

40

41 42

Dasselbe kann man auch in den Aufzeichnungen aus seinem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Rußland-Tagebuch beobachten. Vgl. Joseph Roth: Das Rußland-Tagebuch. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 1007–1022. An den Bildern einer suprematischen westeuropäischen Kultur mangelt es auch in seinem Rußland-Tagebuch nicht, in dem der Berichterstatter voller Sarkasmus vorgibt: »Das Licht kommt vielleicht vom Osten, aber Tag ist nur im Westen«. Vgl. Roth, Werke 2 (wie Anm. 16), S. 1019. Joseph Roth: Die Kirche, der Atheismus, die Religionsphilosophie. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 640. Joseph Roth: Auf der Wolga bis Astrachan. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 603.

»Der Heroismus der Intellektuellen – Der liquidierte Heroismus«

115

serem Leichtsinn und unserer Verwerflichkeit, eine Sehnsucht nach Aroma der Zivilisation, ein süßer Schmerz um unsere wissenschaftlich schon ausgemachte Dekadenz, ein kindischer, dummer aber inbrünstiger Wunsch, noch einmal eine Modeschau bei Moulineux zu sehen, ein holdseliges Abendkleid an einem törichten Mädchen, eine Nummer von Sourire und den ganzen Untergang des Abendlandes: Wahrscheinlich ist das ein bourgeoiser Atavismus.43

Die Elemente, deren Zirkulation blockiert wird, wie auch jene, die zur Zirkulation freigegeben werden, geben Aufschluss über die komplexe weltanschauliche Optik des Verfassers, wo sich unter dem Signum der Humanität auf den ersten Blick unvereinbare geistig-ideelle Konzepte des religiösgeprägten Konservatismus mit jenen des liberalen Revolutionismus überlappen und sich gegenseitig durchdringen. Der Konservatismus ist an jenem Pol des geschichtsphilosophischen Konzepts von Roth verortet, der die Geschichte als zyklische Wiederkehr versteht. Diese Positionierung tritt bei Roth meist in der Darstellung sozialer Ungerechtigkeiten in Erscheinung und läuft auf die ironiebehaftete Resignation hinaus. Der Revolutionismus entspringt der Auffassung der Geschichte als Erneuerung und findet seinen Ausdruck in der Forderung nach geistiger Individuierung. Die Stereotypien bedeuten Grenzziehungen, welche ihrerseits, wie in der Einleitung in Anlehnung an M. Foucault ausgeführt, in sich zugleich auch das Potential zu deren Überwindung tragen. Aus diesem Blickwinkel können aus Roths Reportage aus Sowjetrussland besonders jene Repräsentationen des Fremden, die sich in die Kultur des Selbst als Bilder des Anderen einschreiben, darunter die in Europa auftretenden Balalaika-Orchester, russische Emigranten, die Sibiriaks, als Verweise auf das Zwischenräumliche gedeutet werden. Während Grenzüberschreitung bei Zweig auf diskursive Ebene beschränkt bleibt, thematisiert Roth im Rahmen seines Dekonstruktionsvorgangs unterschiedliche Möglichkeiten der Übertretung von Grenzen, darunter die Modifikation von historisch bedingten Fremdrepräsentationen anhand des in Veränderung begriffenen Bolschewistenbildes in Westeuropa, ferner die zunehmende Interdependenz zwischen Selbst- und Fremdrepräsentation usw. Zahlreich sind die Aspekte der kulturellen Hybridisierung in Roths Russlandreportage: Man findet sie in der Dekonstruktion von Stereotypien und innerhalb der Repräsentation von inter- und intrakulturellen Transferprozessen – in den Bildern von sowjetischen Frauen, Bauern, Adligen, an Orten des Übergangs: Am Kaukasus »sieht man wohlgebaute Herren mit gestikulierenden Juden aus Minsk und Griechenland verhandeln. Chasaren, Hunnen, Byzantinier, Araber, Tataren, Mongolen, Perser, Türken, Seldschuken haben Tiflis abwechselnd bis zum Jahre 1795 erorbert«.44 –, in der Überlappung der Religion mit der Ideologie, der Vergangenheit mit der Gegenwart, der Sozialprivilegierten mit den Depri43 44

Joseph Roth: Wie sieht es in der russischen Strasse aus. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 625. Joseph Roth: Das Völker-Labyrinth im Kaukasus. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 621.

116

Matjaž Birk

vilegierten usw., doch ihren wichtigsten Ausdruck findet sie in diesem Text, im Judentum und dessen Vermittleridentität. Die Juden-Bilder zeigen Tendenz zur Individuierung, ihre Identitätswerdung läuft auf die Zirkulation kultureller Elemente zurück. Sie erscheint als transnational und -kulturell (was Roth an der jiddischen Sprache, der Poetik der Moskauer jüdischen Bühne usw. darstellt) und daher potentiell als existenzstiftend: Das ist ein Volk mit alten Köpfen und neuen Händen; mit altem Blut und verhältnismäßig neuer Schriftsprache; mit alten Gütern und neuer Lebensform; mit alten Talenten und neuer Nationalkultur. [...] Die nationalen Juden Rußlands blicken nicht zurück, sie wollen nicht die Erben der alten Hebräer sein, sondern nur ihre Nachkommen.45

Chancen zur existentiellen Behausung des modernen Subjekts sieht Roth zuletzt in der Grenzüberschreitung. Die Neudefinierung des Selbst, die Zukunft Europas, die auf die geistige Rehabilitierung Westeuropas hinausläuft, wird in der kulturellen Hybridität verortet: Die großen Kulturleistungen Europas, das klassische Altertum, die römische Kirche, die Renaissance und der Humanismus, ein großer Teil der Aufklärung und die ganze christliche Romantik – sie alle sind bürgerlich. Die alten Kulturleistungen Rußlands: der Mystizismus, die religiöse Kunst, die Poesie, die Slawophilie, die Romantik des Bauerntums, die gesellschaftliche Kultur des Hofes, Turgenjew und Dostojewski: sie alle sind selbstverständlich reaktionär. Woher also geistige Grundlagen für eine neue Welt nehmen? Was bleibt übrig? – Amerika!46

Die Grenzziehungen ermöglichen vorerst zwar die Identitätsrekonstruktion, auf Dauer führen sie jedoch die existentielle Not, das Vegetieren, herbei. Dass Amerika auch bei Roth als Sinnbild eines hybriden kulturellen Gefüges erscheinen könnte, lässt sich trotz Roths Kritik an der amerikanischen Gesellschaft und Kultur, nicht ganz von der Hand weisen, wenngleich in seiner Russland-Reportage dafür keine Belege zu finden sind.

IV Zwischen Roths Reise in Russland und seinen romanesken Texten, die während der Reise entworfen und im Anschluss daran fertig geschrieben wurden, bestehen zahlreiche formale, stoffliche und motivisch-thematische Parallelen, die anderorts eingehend erörtert wurden.47 Verschiedene intertextuelle Bezüge 45 46 47

Joseph Roth: Die Lage der Juden in Sowjetrußland. In: Ders., Orte (wie Anm. 12), S. 277. Joseph Roth: Der neunte Feiertag der Revolution. In: Ders., Werke 2 (wie Anm. 16), S. 632. Matjaž Birk: Zeitkritische Aspekte im Roman Die Flucht ohne Ende (1927) – einem Bericht von Joseph Roth. In: Neophilologus 1 (1996), S. 111–125.

»Der Heroismus der Intellektuellen – Der liquidierte Heroismus«

117

sind in erster Linie in dem – neben Hotel Savoy der wichtigste Zeitroman –, 1927 veröffentlichten Flucht ohne Ende zu finden. Diese Austauschprozesse können als Bestandteil der rezeptionsbedingten Ökonomie oder als jener der Roth’schen Poetik verstanden werden. Auf der motivischen Ebene ist diese Kongruenz besonders manifest in den Motiven der Verbürgerlichung und Verbeamtung der Revolution, der Interdependenz zwischen der Selbstinszenierung und der (sowjet)russischen Heterostereotypie, die die Russen Europas auf sich nehmen mussten, seien diese nun Emigranten oder Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft. Unter ihnen auch Franz Tunda, der Protagonist aus Die Flucht ohne Ende, der sich in das westeuropäische kolonialistische Wahrnehmungs- und Repräsentationsmuster durch die Selbstinszenierung als Sibiriak und bolschewistischer Bürgerschreck einzufügen sucht. Er beginnt diese Rolle bewusst auszubauen, indem er sich zusätzliche Abenteuer in Sibirien ausdenkt und sie niederschreibt. Die erfundenen Abenteuer perpetuieren europäische Heterostereotypien über Sowjetrussland: »Er hatte schon eine Menge Abenteuer erfunden, es war ihm ein leichtes, ein berühmter Sibirienforscher zu werden«.48 Parallel zur Verschriftlichung fiktiver Geschehnisse verläuft die Einübung in sein Rollenspiel, woran er letztendlich scheitert. Ähnlich wie in der Russlandreportage erscheint im Roman Die Flucht ohne Ende das Überschreiten von Grenzen zunächst als ein anzustrebender ›modus vivendi et operandi‹, der in der Sehnsucht des Protagonisten nach kultureller Hybridität, nach »komplizierten Verhältnissen«, in denen er »im Grund [...] ein Europäer, ein Individualist«49 sich zu verwirklichen hofft, manifest wird. Im Kontakt mit dem gesellschaftlichen Konventionalismus und intellektuellen Konformismus im Europa der 1920er Jahre, das als ein substanzloses, verschiedenen Stereotypien verhaftetes Dämon dargestellt wird, erscheint die Aufhebung von Grenzziehungen als illusionsbehafteter Konstrukt. Die Sehnsucht nach dem Zwischenräumlichen wirkt auf den Protagonisten zunehmend verfremdend, die Verschriftlichung seiner fiktiven Lebensgeschichte bietet ihm längst keinen Halt mehr. Doch obwohl sich Franz Tunda im Westen der Nachkriegszeit von der Gefahr der existentiellen Desintegration immer mehr bedroht fühlt, will er die Hoffnung auf das Zwischenräumliche und auf die Vergegenwärtigung von dieser, vor dem Krieg erfahrenen Immanenz der westeuropäischen bürgerlichen Kultur, nicht aufgeben und verbleibt in Paris.

48

49

Joseph Roth: Werke 4. Romane und Erzählungen. 1916–1919. Hg. von Fritz Hackert. Köln, Amsterdam: Kiepenheuer & Witsch und Allert de Lange 1989, S. 459. Ebd., S. 432.

Fernando Magallanes

Reiseliteratur am Beispiel Joseph Roths

In der Literatur kann eine Reise als fiktiv oder real dargestellt werden. Im Falle einer wirklichen Reise können die Gründe, diese anzutreten, vielfältig sein.1 Die Reisen Joseph Roths sind beruflich bedingt, da seine Aufenthalte in Berlin und in der Sowjetunion mit seiner Tätigkeit als Journalist in Verbindung stehen. Diese beruflich bedingten Reisen beinhalten bei ihm aber – neben dem intellektuellen Interesse – auch das Anliegen, diese literarisch zu verwerten, denn Roth ist nicht nur Journalist, er ist auch Literat. Obwohl die Klarheit, Präzision und Direktheit, mit der er seine Reisen beschreibt, Spuren des journalistischen Stils aufweisen, wird auch sein literarisches Talent deutlich. Man könnte sagen, dass Roths Feuilletons auf halbem Wege zwischen Literatur und Journalistik liegen. In seinen Reiseschilderungen und -erzählungen, die er in Form von Reportagen, Feuilletons, Tagebuchaufzeichnungen2 o. ä. veröffentlichte, zeigt sich sein Anliegen, dem Leser das Fremde verständlich zu machen und ihm Einblick in andere Kulturen zu geben. Roth tritt in diesen Texten zumeist als Beobachter des Geschehens auf, dem es vor allem darauf ankommt, dem Leser das, was er durch die Reisen gelernt hat, zu vermitteln. Hinzu kommt sein 1 2

Pilgerfahrten, diplomatische, kulturelle oder Studienreisen wären nur einige Beispiele hierfür. Folgende Veröffentlichungen habe ich genutzt: Joseph Roth: Reise nach Russland. Feuilletons, Reportagen, Tagebuchnotizen 1919–1930. Hg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995; Michael Bienert: Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger. 5. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003; Joseph Roth: Sehnsucht nach Paris, Heimweh nach Prag. Ein Leben in Selbstzeugnissen. Hg. und mit einem Vorwort von Helmut Peschina. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006; Joseph Roth: Briefe aus Deutschland. Mit unveröffentlichten Materialien und einem Nachwort. Hg. von Ralph Schock. 3. erg. Aufl. Merzig: Gollenstein 2008; Joseph Roth: Werke 1. Das journalistische Werk 1915–1923. Hg. von Klaus Westermann. Mit einem Vorwort zur Werkausgabe von Fritz Hackert und Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989; Joseph Roth: Werke 2. Das journalistische Werk 1924–1928. Hg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990; Joseph Roth: Werke 3. Das journalistische Werk 1929–1939. Hg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991.

120

Fernando Magallanes

literarisches Talent, dass es ihm ermöglicht, sozio-geographische Schriften in ganz eigenem Stil zu einer Art von Reportage3 werden zu lassen.4 In meinem Beitrag möchte ich mich den wichtigsten journalistischliterarischen Arbeiten Joseph Roths über Russland5 und Berlin widmen. Die Schilderungen des Autors lassen sich dem Begriff Reiseliteratur zuordnen, auch wenn es sich in einem Fall um ein Land und im anderen um die Beschreibung einer Stadt handelt. In Bezug auf seine Russlandreise kann man von zwei Itineraren sprechen: einmal Roths reale Reiseroute durch Moskau, Nizhny Novgorod, Astrachan, Krim und Kaukasus und zugleich ein anderes Itinerar durch die historischpolitische Wirklichkeit Russlands, ideologische Inhalte eingeschlossen. Bei seinen Schilderungen Berlins dagegen konzentriert sich Roth vermehrt, wenn auch nicht ausschließlich, auf das, was er selbst als »Wesen« der Stadt bezeichnet. In Form von impressionistischen Fragmenten schildert er die subjektiv erlebte Atmosphäre der Stadt. Einschränkend sagt er selbst, dass es eine große Vermessenheit ist, Städte beschreiben zu wollen. Städte haben viele Gesichter, viele Launen, tausend Richtungen, bunte Ziele, düstere Geheimnisse, heitere Geheimnisse […] Man müßte die Fähigkeit haben, die Farbe, den Duft, die Dichtigkeit, die Freundlichkeit der Luft mit Worten auszudrücken.6

Wenn er über Russland schreibt, ist er ganz »engagierter Chronist«.7 Sein Engagement geht hierbei über das Erzählen hinaus, da er sich auch politisch 3

4

5 6 7

Roths Reportagen lassen sich folgender Begriffsbestimmung dieser Untergattung zuordnen: »Kürzere Prosaform, die nur im Zeitungs- und Medienwesen des 20. Jahrhunderts vorzufinden ist. Mit Anspruch auf dokumentarische Authentizität wird über soziale Konflikte, Katastrophen, gesellschaftliche Ereignisse, Gerichtsprozesse, Städte und Länder berichtet. Die Reportage thematisiert, über den neutralen Bericht hinaus, den Vorgang der Informationsermittlung (die Recherche) und der subjektiven Wahrnehmungen und gegebenenfalls deren Bewertungen. Damit zielt sie darauf ab, dem Lese- oder Zuhörer-Publikum Erfahrungen und Erkenntnisse zu vermitteln, die im normalen Alltag unzugänglich bleiben. Tendenziell will die Reportage auch die Haltung des Publikums beeinflussen«. Benedikt Jeßing/Ralph Köhnen: Literarische Gebrauchsformen. In: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, S. 137–143, hier S. 140ff. So ist es: Eigentlich muss man bei Roth von literarischen Reisebeschreibungen, Reiseberichten oder Reiseerzählungen sprechen, »in denen die tatsächlichen oder erfundenen Reiseerlebnisse literarisch geformt werden«. Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik. Hg. von Horst Brunner und Rainer Moritz. 2. überarbeitete und erweiterte Aufl. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 336. »Eine andere Welt«, die »hinter Lemberg beginnt«. Frankfurter Zeitung, 22.11.1924. In: Roth, Sehnsucht nach Paris (wie Anm. 2), S. 47. Ebd., S. 42 und 43. »Sowohl in seinen Romanen, wie auch in seinen Feuilletons, die er ab 1919 schreibt, ist Roth immer aktiver, engagierter Chronist seiner Zeit«. S.: »Über das Buch«. In: Roth, Sehnsucht nach Paris (wie Anm. 2), S. 3. Trotz des Gesagten möchte ich noch einmal betonen, dass er sich nicht in jedem seiner Reisebücher mit der gleichen In-

Reiseliteratur am Beispiel Joseph Roths

121

einsetzt und sogar Konzepte zur Verbesserung der Lage des Landes entwickelt.8 Überraschend ist die Mannigfaltigkeit der Themen, über die er schreibt.9 Noch überraschender ist, wie gekonnt er allgemeine und bedeutende Fragen mit der Schilderung von Kleinigkeiten kombiniert.10 Roth selbst hat einmal gesagt: »Nur die Kleinigkeiten des Lebens sind wichtig«.11 Wie es Michael Bienerts Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger schon im Untertitel ausdrückt, wollte Roth ein »Lesebuch« schaffen. Diese Form entspricht seinen Reportagen, die, vielleicht ohne dass er sich dessen bewusst war, literarische Reisebücher sind. Doch inwieweit handelt es sich bei seinen Schriften um Lesebücher?12 Meiner Meinung nach kann man die Texte dieser Untergattung zuordnen; natürlich nicht im Sinne der »sachorientierten Reisebücher, die nützliche Informationen für Reisende geben«,13 sondern in dem Sinne, dass diese Berichte dem Leser einerseits fremde Wirk-

8

9

10

11 12

13

tensität mit der politischen Realität des Landes auseinandersetzt; so weist sein Russland-Reisebuch wesentlich mehr politisches Engagement auf, als seine BerlinChronik, da »aus subjektiver Perspektive erzählend dem Leser Segmente und Strukturen der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit vermittelt« werden, wie Burckhard Dücker in seinem Vortrag auf dem Germanisten-Kongress in Sevilla im Jahr 2003 feststellte. Burckhard Dücker: Joseph Roths Reiseberichte aus Osteuropa: Sowjetunion, Albanien, Polen. In: Estudios Filológicos Alemanes 2 (2003), S. 143–161, hier S. 149 und 151. Auch in Bezug auf den Zionismus und unter dem Titel Betrachtungen an derKlagemauer (in: Bienert, Joseph Roth in Berlin [wie Anm. 2], S. 85–89, hier S. 86–87) behauptet Roth, dass die Juden keine Nation seien: »sie sind eine Übernation, vielleicht die vorweggenommene, zukünftige Form der Nation überhaupt. Längst haben sie die groben Formen der ›Nationalität‹ abgestreift: den Staat, Kriege, Eroberungen, Niederlagen«. So finden sich in seinem Buch zur Russlandreise Betrachtungen, die sowohl die historische Wirklichkeit der Zarenzeit, als auch die gegenwärtige politische Lage betreffen; aber auch Kommentare und Reflexionen bezüglich der Pädagogik, Religion, Soziologie, Erfolgen und Enttäuschungen der sowjetischen Revolution, Städtebau, Erotismus usw. sind im Text enthalten. In den Berliner Chroniken hingegen geht er mehr auf die Armut und den Tod in der Großstadt sowie auf die Welt der Ausgegrenzten, die städtische Landschaft, die Bohemiens, die Vergnügungsindustrie, die Politik oder das Judentum ein. Sein Ziel ist es, über die Schilderung von kleinen Dingen und Ereignissen, die Wirklichkeit anschaulicher zu machen. Man braucht nur die Texte, in denen über Juden und über die Politik gesprochen wird, mit anderen wie z. B. Das XIII. Berliner Sechstagerennen zu vergleichen, um diese Behauptung bestätigt zu sehen. Spaziergang. In: Bienert, Joseph Roth in Berlin (wie Anm. 2), S. 66. Bezüglich der Literatur zum Lesebuch s. u. a.: Hermann Helmers: Geschichte des deutschen Lesebuchs in Grundzügen. Stuttgart: Ernst Klett 1970; Walther Killy: Zur Geschichte des deutschen Lesebuchs. In: Germanistik, eine deutsche Wissenschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967. Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik (wie Anm. 4), S. 336.

122

Fernando Magallanes

lichkeiten näherbringen, andererseits sind sie aber, auf Grund ihres ästhetischen Wertes, auch literarische Texte und nicht nur einfache Reportagen. Gleichzeitig beinhaltet die Auswahl dessen, was er von seinen Reisen für erzählenswert hält, schon ein persönliches Urteil. Eine tiefer gehende Analyse der Texte würde aber auch zeigen, dass es trotz der Unterschiede in der Beschreibung Russlands und Berlins auch verbindende Elemente gibt. Die Reiseberichte, die Roth über Berlin, Russland, aber auch über Albanien, Polen, Südslawien oder andere Länder veröffentlicht hat, könnte man als besondere Lesebücher bezeichnen, da er nicht nur objektiv Informationen über die jeweiligen Länder bietet, sondern sich persönlich einbringt, so dass man auch von Elementen einer intellektuellen Autobiographie14 des Autors sprechen kann. Der Ausgangspunkt seiner Reiseerzählungen ist immer die Vermittlung von Informationen zu der momentanen Lage des jeweiligen Landes; hervorzuheben ist erneut der ästhetische Wert seiner Schriften. Roth schildert die Realität nicht nur, er interpretiert sie. So gehen seine Texte über die Darstellung der Wirklichkeit eines Landes hinaus: Die geschilderte Gegenwart erlangt literarische Bedeutung, wodurch seine Reiseberichte nicht nur Zeugnisse des Augenblicks sind, sondern die Lektüre zu einer ästhetischen Erfahrung werden lassen. Es entsteht ein literarischer Mikrokosmos, den Roth mit Leben erfüllt. Gleichzeitig ist er aber auch um eine gewisse Neutralität bei der Schilderung eines Landes bemüht, indem er objektive Beschreibungen einfügt. Geprägt hat ihn ohne Frage die Auflösung des österreichisch-ungarischen Kaiserreiches sowie seine persönliche Situation als des Landes Verwiesener, die ihm das Gefühl gibt, heimat- und staatenlos zu sein. Darin liegt wohl auch der Grund, dass er um eine gewisse Objektivität bei der Darstellung fremder Länder und Völker bemüht ist. Die literarische Bearbeitung seiner Reiseberichte sowie seine Deutung der geschilderten Ereignisse machen seine Schriften zu atypischen Chroniken. Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle die Definition der Chronik, wie sie im Kleinen Lexikon der literarischen Grundbegriffe von Otto Lorenz zu finden ist: »Form des Berichts historischer Ereignisse, der streng dem Prinzip der Sukzession, dem Nacheinander der Ereignisse folgt«.15 Die chronologische Auf- und Nachzeichnung16 der geschilderten historischen Ereignisse, die ja zur Chronik gehört, ist bei Roth so nicht gegeben, weswegen man diese Gattungs14

15 16

D. h., es gibt Züge dieser Art von Autobiographie, da es bei Roth auch um die Darstellung der Bildung seiner Ideen, seiner Denkweise, um seine intellektuelle und ideologische Entwicklung, geht. Vgl. Über diese Art von Autobiographie: Georges May: L’autobiographie. Paris: Presses Universitaires de France 1979. Otto Lorenz: Kleines Lexikon literarischer Grundbegriffe. 2. Aufl. München: Wilhelm Fink 1999, S. 25. Dem sehr ähnlich ist die Definition in: Heike Gfrereis (Hg.): Grundbegriffe der Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar: Metzler 1999, S. 31 – dort: »Auf- bzw. Nachzeichnung historischer Ereignisse in ihrer zeitlichen Folge«.

Reiseliteratur am Beispiel Joseph Roths

123

bezeichnung streng genommen nur bedingt auf seine Reisebücher anwenden kann. Ein weiterer Unterschied zur regulären Chronik sind die schon erwähnten autobiographischen Tendenzen seiner Werke. Anwendbar ist daher die Definition des autobiographischen Reiseberichts als einer »Sonderform autobiographischen Erzählens [...]«. Hiernach handelt es sich um »die erzählende Präsentation von Erfahrungen, Erlebnissen und Reiseeindrücken, denen reale Erfahrungen zugrunde liegen. Formal ist der Reisebericht ungebunden: Meist in Prosa erzählt, kann er Tagebuch- oder chronikartige Anteile enthalten, […]«.17 Nach dieser Definition bildet weder die Reiseliteratur, noch das Phänomen des Autobiographischen für sich genommen eine Gattung,18 da beides Sonderformen der Literatur sind. Schon Mitte des 20. Jahrhunderts stellte Georg Misch fest, dass die Autobiographie an keine bestimmte Form gebunden ist: Man findet autobiographische Literatur sowohl in der Lyrik, als auch in der Epik und Dramatik.19 Da somit beide, Reisebericht und Autobiographie in unterschiedlichen Gattungen in Erscheinung treten, kann man von einer gewissen Verwandtschaft sprechen, zumal das Reisen an sich eine persönliche Erfahrung darstellt und es die Entscheidung des Autors ist, ob er eine objektive Chronik oder einen persönlichen Bericht schreiben möchte. Man könnte sagen, dass das Leben für die Autobiographie das gleiche wie die Reise für die Reiseliteratur ist: Ein literarischer Stoff, der Wirklichkeit und nicht der Phantasie entnommen. Wie genau zeigt sich nun das Autobiographische in Roths Reisebüchern? Schon auf den ersten Blick fällt einem bei der Lektüre der persönliche Blickwinkel des Autors auf, der seine Erlebnisse in den verschiedenen Ländern kommentiert. Festzustellen ist auch, dass sich seine Haltung und Meinung zu politischen oder gesellschaftlichen Vorkommnissen, die er miterlebt, wandelt. So ändert sich z. B. seine Sicht auf den Sozialismus nach der Reise durch Russland und er teilt mit Stefan Zweig die Verzweiflung über die politische Lage in Europa. Spürbar ist auch, wie das politische Engagement Roths einer zunehmenden Resignation weicht. Ohne Zweifel spielen die Eindrücke seiner Russlandreise, besonders die von ihm als enttäuschend erlebte Etablierung einer neuen Bourgeoisie in der UdSSR, eine wichtige Rolle bei seiner Abkehr vom Sozialismus. Doch nicht nur wegen seiner Verzweiflung über die Lage in Europa, sondern auch auf Grund seines literarischen Stils und des Lebens im Exil steht er anderen Schriftstellern seiner Zeit, wie zum Beispiel Stefan Zweig, nahe. Die subjektive Perspektive seiner Reisebücher entfaltet sich auf folgende Weise: 17 18 19

Jeßing/Köhnen, Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft (wie Anm. 3), S. 139. Obwohl ich in der Zusammenfassung die Begriffe Genre und Gattung, auf Grund des begrenzten Raums, erwähnt habe. Vgl.: Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Erster Band: Das Altertum. Erste Hälfe. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: G. Schulte-Bulmke 1949.

124

Fernando Magallanes

Er reist in ein Land oder eine Stadt und betritt somit eine für ihn neue Welt. Die vielen Eindrücke lässt er zunächst auf sich wirken und bewertet, auf positive oder negative Weise, aus seiner innersten Auffassung heraus, das, was ihm begegnet. So bekommt man bei der Lektüre einen Einblick in Roths persönliche Reiseerfahrungen, obwohl der Begriff ›Bericht‹ dem Leser suggeriert, dass es sich um eine objektive Schilderung handelt. Worin liegt nun die Bedeutung von Roths autobiographischen Reiseberichten? Meiner Meinung nach haben seine Texte einen besonderen Wert, da sie dem Literaturwissenschaftler, der sich aus philologischem Interesse damit befasst, etwas über die Persönlichkeit des Autors vermitteln. Seine Bücher über die Reisen nach Russland oder Berlin geben der literarischen Forschung Hinweise auf seine Denkweise und sein Wesen. Gleichzeitig erhält der Leser, der diese Bücher vor allem aus Interesse an dem jeweiligen Land liest, wertvolle Informationen über dessen Kultur und Gesellschaft. Die informative Zielsetzung beschränkt hier den autobiographischen Aspekt, da sich bei Chroniken bzw. Reportagen das Ich des Schriftstellers zugunsten der Beobachtung der Wirklichkeit zurückhält. Bei der Lektüre lernt der Leser viel über Geschichte, Politik, Bräuche und Architektur der jeweiligen Länder, gewinnt aber zusätzlich, durch die persönliche Bewertung dessen, was Roth auf seinen Reisen sieht und erlebt, gleichzeitig Einblick in die intellektuelle Persönlichkeit des Autors. So wird die Neugier des Lesers auf doppelte Weise geweckt. Da es sich aber primär um Reiseberichte, d. h. um die Schilderung geographischer Orte und ihrer Menschen handelt und nicht um Tagebücher oder Briefromane, schränkt Roth, wie schon erwähnt, die autobiographischen Züge seiner Texte ein. Die reale Reise ist Stoff seiner literarischen Berichte. Wie bei der Autobiographie, wo der Leser von der realistischen Basis des Erzählten ausgeht und sich in gewissem Sinne »betrogen« fühlt, wenn das Geschilderte nicht der Realität entspricht, erwartet er von einem Reisebuch, dass es ihm Informationen über das jeweilige Land vermittelt. Insofern gleichen sich hier Reisebericht und Autobiographie. Da die Reise Teil des Lebens ist, findet die Verquickung beider Formen in den Büchern Roths auch eine inhaltliche Legitimierung, derer er eigentlich aber gar nicht bedarf. Das Autobiographische erhält zusätzlich eine gewisse ontologische Dimension, da es das Resultat einer Selbstreflexion ist; in seinen Kommentaren und Anmerkungen zur geschilderten Realität denkt Roth auch über sich selbst nach.20 Typologisch gesehen und aus der Perspektive des Autobiographischen 20

In diesem Sinne ähneln die Reiseberichte Roths der Beschreibung, die Hans Rudolf Picard in seiner Studie Autobiographie im zeitgenössischen Frankreich. Existentielle Reflexion und literarische Gestaltung (München: Wilhelm Fink 1978) gibt, in der das Erzählen der Vergangenheit durch die Gegenwart des Autors ersetzt wird. Es handelt sich um einen nicht so sehr dokumentarischen, sondern vielmehr schöpferischen Autobiographismus.

Reiseliteratur am Beispiel Joseph Roths

125

könnte man seine Texte auch als Reflexions-Tagebücher bezeichnen, in denen das Erzählen der Vergangenheit, wie es normalerweise in der Autobiographie üblich ist, durch die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ersetzt wird. Dies macht seine Reisebücher, neben der literarischen Bedeutung, zu kreativen, autobiographischen Texten. Gleichzeitig gibt die Nähe zur Diaristik Roths Reportagen, gerade durch seine Aufrichtigkeit und Spontaneität, ein hohes Maß an Authentizität. Ein weiteres Element, das diese Chroniken dem Tagebuch ähnlich sein lassen, ist die Fähigkeit des Autors, seinen unmittelbaren Eindruck der Dinge und Menschen, die ihm in der Fremde begegnen, zu vermitteln. Des Weiteren beschreibt er auch, wie sich durch das, was er auf den Reisen erlebt, sein Denken verändert. Ein Beispiel hierfür ist seine schon erwähnte Bewertung des Sozialismus, die sich durch die Erfahrungen, die er in Russland gemacht hat, veränderte. Vor der Reise hatte er diesen noch positiv, danach aber negativ bewertet. Die fremden Realitäten bringt Roth den Lesern nahe, indem er Sinneinheiten zu bestimmten Aspekten der geschilderten Länder und Städte schafft, wobei mehr beschreibende Passagen sich mit der Äußerung seiner Gedanken abwechseln. Um Lesebücher handelt es sich insofern, als er Fragmente einer bestimmten Realität schildert. Seine Schriften dienen als Vermittler zwischen dem Leser und der Wirklichkeit des bereisten Landes. Die Vollständigkeit der geschilderten, fremden Welt ergibt sich aus der Darstellung des Autors, der die Auswahl trifft, was er für erzählenswert hält. Zusammenfassend kann man sagen, dass Roths Reisebücher einen bedeutenden und persönlichen Beitrag zur literarischen Darstellung fremder Länder und Städte leisten. Seine Interkulturalität, der Kosmopolitismus, der in seinen Reportagen zum Ausdruck kommt, sind ein entscheidendes Charakteristikum. Vieles liegt aber nach wie vor im Dunkeln, z. B. die Frage,21 welche Kriterien Roth für die Auswahl der Themen anwendete. War es eine improvisierte Auswahl vor Ort? Eine Auswahl nach persönlichen Vorlieben? Oder nahm der Chefredakteur der Frankfurter Zeitung, für die er, in seiner Funktion als Journalist, tätig war, Einfluss auf die Themenwahl? Es gibt noch viel zu entdecken, und die literarische Bedeutung der Reiseberichte Roths lässt genauere Studien zu seinem Werk wünschenswert erscheinen.

21

Es ist mir nicht bekannt, ob Roth jemals darauf reagiert hat.

Zwischen den Geschlechtern

Isabel dos Santos

Zur »Übersetzung des männlichen ernsten Militärexerzierens ins Weibliche« und zu anderen weiblichen Erscheinungen bei Joseph Roth Mehrfach hat man behauptet, und einige Male sogar versucht nachzuweisen, dass Joseph Roth dem weiblichen Geschlecht in seinem Werk nicht gut gesinnt ist. Wenn er sie überhaupt ins Leben ruft, so heißt es mit wenigen Ausnahmen, porträtiert er Frauen als kalte, hässliche, bösartige und skrupellose Kreaturen, die die männlichen Helden in ihren Untergang stürzen oder zumindest an ihrer Destruktion beteiligt sind. Roths Darstellung von Frauen sei ausgesprochen stereotypisch und misogyn, bemängelt zum Beispiel Margarete Willerich-Tocha. Es sei deshalb sehr verwunderlich, »[d]aß Roth aufgrund solcher [bis zur Karikatur gehenden] Typisierungen noch nicht in die Fänge feministischer Kritik geraten ist«.1 Dietmar Mehrens sieht Roths fiktive Frauen als »auf das Geschick der männlichen Protagonisten ungünstigen Einfluß ausübende [...] Femmes fatales«, die er als kalt und zerstörerisch klassifiziert. Sie verwehren Halt und Geborgenheit, so Mehrens, und bringen den Männern keine sinngebende Lebensperspektive, sondern Enttäuschung und Desillusionierung. Oft steuern sie den Helden in einer Katalysatorfunktion in seinen Untergang.2 Mehrens erliegt vorausgegangenen misogynen Deutungen von Roths Frauenbildern eher unkritisch. Im Rahmen seiner religiösen Deutungsperspektive stellt er die Frau als eine dämonisierende Kraft dar, die eifrig am Grab des schwachen, hilflosen Mannes schaufelt. Er nimmt mitunter Bezug auf Volker Henze, dessen Urteil jedoch etwas milder ausfällt. Zwar meint auch dieser im Rahmen eines kulturpessimistischen Diskurses, dass Frauen bei Roth eine »schicksalsentscheidende und in das Verderben führende Macht« zufällt, doch er situiert dies in die insgesamt querliegende Um- und Lebenswelt der männlichen Hauptgestalten, die an dieser letztlich zugrunde gehen. Ihre Begegnungen mit dem weiblichen Geschlecht seien oftmals eine Projektion ihrer selbst oder ihrer Umwelt.3 Nicht 1

2 3

Margarete Willerich-Tocha: Bezugsfelder der Roth-Rezeption. Wertungsprobleme schematischer Kommunikation. In: Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions 1989, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Hg. von Michael Kessler und Fritz Hackert. 2. Aufl. Tübingen: Stauffenburg 1994 (Stauffenburg Colloquium; 15), S. 407–416, hier S. 410. Dietmar Mehrens: Vom göttlichen Auftrag der Literatur. Die Romane Joseph Roths. Ein Kommentar. Hamburg: Libri BoD 2000, S. 311f. Volker Henze: Jüdischer Kulturpessimismus und das Bild des Alten Österreich im Werk Stefan Zweigs und Joseph Roths. Heidelberg: Carl Winter 1988, S. 112.

130

Isabel dos Santos

viel anders sieht es Jon Hughes, der Roth frauenfeindliche Darstellungen zuschreibt, weil er Frauen vorwiegend nur in krassen Stereotypisierungen vorfindet.4 Oft müssen Roths eigene Lebenserfahrungen als Beleg für diese angeblich misogyne Einstellung gerade stehen. Übersehen werden bei diesen Lesungen zu einem, dass, wie Wilhelm von Sternburg anführt, Roth zwar als Beispiel einer lebenslangen Selbstwertkrise und Identitätssuche angesehen werden kann, in seiner Kunst dennoch äußerst selbstsicher ist, – Sternburg spricht in Anlehnung an Freud von einer künstlerischen Phantasiewelt, die vom Dichter völlig ernst genommen, von der Wirklichkeit jedoch scharf gesondert wird –,5 zum anderen ist zu bedenken, dass Roths dichterisches Universum zwar vorwiegend von Männern bevölkert wird, Frauen ihm aber ebenso als Beispiele dienen, die Probleme seiner Zeit und deren Auswirkung, darzustellen. Roth zeichnet »das Gesicht der Zeit«6 und tut dies, was Frauen betrifft, auf eine viel differenziertere Weise, als was man ihm oft zugestanden hat: Den enormen Frauenüberschuss und den hoffnungslos überfüllten Markt an Stellungssuchenden nach dem Krieg thematisiert Roth in seinem frühen Roman Die Rebellion (1924) und in mehreren Feuilletons. Im Berliner Bilderbuch (1924) malt Roth den »vorgeschriebenen Lebenslauf trauriger Mädchen« vor: von der Fabrik oder fremden Dienstbotenzimmern kämen sie über den Rummelplatz in die Prostitution, »von ihrer unausbleiblichen Zukunft gezeichnet, die aus Kindesmord, Syphilis und Kriminal besteht«. (W, 2, S. 119) Der Ton des Artikels kritisiert jedoch nicht die Frau, sondern die Gesellschaft, deren Opfer sie werden –, und zwar die männlich geprägte Gesellschaft. So sieht der Autor ferner keine Menschen mehr, nur »männliche Masken, Umhänge und Schnauzbärte«. Nur die Zuhälter tragen in diesen verworrenen Zeiten noch menschliche Regung in sich, sie »haben wenigstens Physiognomien in dieser Stadt der physiognomielosen Herdenmenschen« (ebd.). Roth zeichnet

4

5

6

Vgl. Jon Hughes: Facing Modernity. Fragmentation, Culture and Identity in Joseph Roth’s Writing in the 1920s. London: Maney Publishing 2006 (MHRA Texts and Dissertations Volume; 67), S. 93. »Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir sagen: Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann unrecht zu meinen, es nähme die Welt nicht ernst; im Gegenteil, es nimmt sein Spiel sehr ernst, es wendet groȕe Affektbeträge darauf. […] Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d. h. mit groȕen Affektbeträgen ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert.« Sigmund Freud zitiert nach Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth – Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 28. Joseph Roth an Benno Reifenberg, Brief vom 22. Oktober 1926. In: Briefe 1911– 1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 88.

Zur »Übersetzung des männlichen ernsten Militärexerzierens ins Weibliche«

131

Prostituierte und Verbrecher als Opfer der bürgerlichen, nach männlichen Strukturen orientierten Gesellschaft. Sylvia Punkerfield aus dem Kartell (1923), deren Namen an die Tochter der britischen Suffragette Emmeline Pankhurst erinnert und die entsprechend für Frauenrechte kämpft, legt den Kampf um die Frauenrechte nieder, als sie sich in einen portugiesischen Stierkämpfer verliebt und sich von ihm entführen lässt. Ihr Schicksal wird, so Fritz Hackert im Nachwort der sechsbändigen Werkausgabe, »heutige Leserinnen [...] kaum gewinnen« (W, 4, S. 1079). Roths ironisierende Kritik der Suffragetten in ihren Bestrebungen lässt sich jedoch, entgegen anti-emanzipatorischer Deutungen, umgekehrt auf die Männerwelt gepeilt lesen, die die Frauen nur in einer Rolle ästhetischer Weiblichkeit als hübsch, weich und warm geltend machen und ihren Intellekt, ihre Nöte und Forderungen ignorieren. Die Satire nimmt die fanatischen Suffragetten ebenso aufs Korn wie Roths skrupellose Reporter-Kollegen, die einem anderen Ziel genauso engstirnig hinterher jagen und dabei nicht weniger lächerlich wegkommen. Klara aus Die Flucht ohne Ende (1927), Klara ohne Busen, ohne Herz und ohne Unterleib, ist Produkt einer substanzlosen, sinnentleerten Welt. Sie, ebenso wie das junge Fräulein Pauline, das unbeschwert und fast rücksichtslos im Wirbel ihrer Zeit aufgeht, dient Roth zur Entlarvung der bürgerlichen Scheinwelt in den Zwischenkriegsjahren. Auch Natascha im selben Roman fungiert als Beispiel jener »russischen Frau von heute« deren Umstände Roth in seinen Russland-Artikeln (W, 2) diskutiert. Natascha, ideologisch geblendet und ihrer Femininität dadurch abhanden gekommen, wird bei genauerer Untersuchung dennoch als eine äußerst menschliche Figur geschildert. Elisabeth aus der Kapuzinergruft (1938) ist als schlechte Mutter rezipiert worden, die zudem eine lesbische Beziehung eingeht. Dass Roth sie trotz der Ich-Erzählperspektive Trottas als Opfer ihrer Lebensumstände, ihrer Gesellschaft und ihres Mannes schildert, haben nur wenige erkannt. Auf Klara, Natascha und Elisabeth wird im Folgenden noch zurückzukommen sein. Roth äußert sich in seinem Werk zu mehreren kultur-soziologischen Fragen. Dazu gehören nicht zuletzt die Auswirkungen einer liberaleren Geschlechterpolitik und seine Beschäftigung mit der Stellung der Frau. Zur Emanzipation hatte er ein gespaltenes Verhältnis; die Neutralisierung, Nivellierung oder Vermännlichung femininer Eigenschaften war ihm ein Dorn im Auge, aber die Notwendigkeit, die Frau als gleichwertiges Individuum anzusehen und ihre Situation zu verbessern, wird in vielen seiner Texte evident. Die Geschlechterfrage spielte im intellektuellen Klima Europas schon seit der Wiener Moderne eine wichtige Rolle. Durch die männliche Identitätskrise, die aus dem verlorenen Weltkrieg hervorging, wurde die Frauenfrage aktualisiert. Spätestens der Krieg bewies, dass die männliche Identität als Konstrukt einer militärischen, uniformierten Identität besiegelt worden war, die vor allem

132

Isabel dos Santos

dem deutschen Nationalbewusstsein zu Grunde lag und deren Wert eng mit Wehrbarkeit und Disziplin verknüpft wurde. Die Historikerin Ute Frevert wies nach, dass der von Turnvater Jahn und später Hitler gefeierte altgermanische Krieger, der dem deutschen Soldaten Vorbild gewesen sein soll, in Wirklichkeit ein Konstrukt aus dem 19. Jahrhundert war. Die Erziehbarkeit der Nation, oder des männlichen Teils der Nation, mündete durch den Wehrdienst, in Preußen ab 1813 Pflicht geworden, in ein Männlichkeitsbild, das von Militarismus gekennzeichnet wurde: Es spricht [...] vieles für die Annahme, daß der männliche Geschlechtscharakter im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend soldatische Elemente inkorporierte. [...] Wehrdienst [sollte] die Nation im eigentlichen Sinn erst konstituieren, ständische und regionale Differenzen abschleifen und [einen] uniformen, geeinten »Körper« schaffen.7

Für Roth, dessen Soldaten nie kriegerische Tatenmenschen im Sinne Theweleits, sondern desorientierte Kriegsheimkehrer, Krüppel oder deplatzierte Charaktere sind, ist die Krise untrennbar mit dem Werteverfall und der Bruchhaftigkeit der Nachkriegsgesellschaft verkettet. Das betrifft die männliche Krise ebenso wie die weibliche. Das Nationalbewusstsein war eng verbunden mit Ideen von bürgerlichem Verantwortungsbewusstsein, körperlicher Disziplin, Wahlrecht und Schulpflicht – Werte, die in der modernen Republik auch von den Frauen übernommen werden durften.8 In ihrer neuen, oft ökonomisch bedingten Rollensuche fanden sie eine neu affirmierte Weiblichkeit, die sich mit den männlichen, militärisch gefärbten Idealen auseinandersetzte und diese zum Teil sogar übernahm. Roth beanstandet bald, dass die neuen Ansprüche an die moderne Frau »eine Übersetzung des männlichen ernsten Militärexerzierens ins Weibliche« (W, 2, S. 393) erfordern. In seinen Artikeln zu Revuetänzerinnen im Stil der TillerGirls kritisiert Roth, dass den Tänzerinnen ein vollwertiges, würdevolles Sein als individuelle Persönlichkeiten abgesprochen wird: »Sechzehn tanzende Säuglinge hätte man eher auseinanderhalten können«. Ihre Gleichartigkeit beim Tanz ist »ein Parademarsch der friedlichen Nachkriegszeit« (W, 2, S. 202), ihre Spiele sind »Kompositionen aus Militarismus und Erotik« (W, 2, S. 393) und sie stehen somit der Entindividualisierung, der Militarisierung wie der Maskulinisierung nahe. Der Zuschauer, so Roth, bedürfe manchmal »solcher kleinen Beweise wie des abstaubenden Puders« der sich beim Tanz von

7

8

Ute Frevert: Soldaten – Staatsbürger: Überlegungen zu historischen Konstruktionen von Männlichkeit. In: Männergeschichte – Geschlechtergeschichte: Männlichkeit im Wandel der Moderne. Hg. von Thomas Kühne. Frankfurt a. M., New York: Campus 1996, S. 69–87, hier S. 76ff. Vgl. Industrial Culture and Bourgeois Society: Business, Labor, and Bureaucracy in Modern Germany, 1800–1918. Ed. by Jürgen Kocka. Oxford, New York: Berghahn Books 1999.

Zur »Übersetzung des männlichen ernsten Militärexerzierens ins Weibliche«

133

den Leibern löst, um sich von der Realität der Girls zu überzeugen. Dies sei die einzige, wenn auch geringfügige Manifestation ihrer Menschlichkeit: Daß ein sogenanntes Schönheitsmittel, wie Puder, überhaupt nur eine Zutat war und kein wesentlicher Bestandteil ihrer selbst, läßt uns doch noch hoffen, daß die Girls aus einer weiblichen Substanz gemacht sein könnten. (W, 2, S. 202)

Dabei geht es ihm weniger um eine Verurteilung der Tänzerinnen und mehr um eine Kritik an den vorwiegend männlichen Zuschauern, jenen »sittlichen Normalmenschen« die ihre »lüsternen Vorstellungen« (W, 2, S. 393) vertuschen und deren Verhalten deshalb ebenso unnatürlich und pervers ist wie das Konzept, dass die »prüde« Nacktheit der Tänzerinnen in den »Dienst der Hygiene, nicht der Erotik« gestellt ist und ihre Schwimmkostüme »weniger lockend als Nonnengewänder« sind. (W, 2, S. 393) Das Übergreifen des Hygiene-Denkens ins tägliche Leben sah Roth als Gefahr. Die Schlüpfrigkeit, so Roth, legitimiere sich nunmehr durch eine Verwandtschaft mit ertüchtigenden Tendenzen der Gemeinschaft, während die Triebe »übergeleitet werden in tugendhaften Patriotismus«. (W, 2, S. 393) Wie er später auch in seinen Russland-Artikeln erneut hervorheben würde, bedauert Roth, dass Frauen in ihrer neuen Rollensuche ihre charakteristische Feminität willig aufgeben, um sie gegen unerwünschte männliche Verhaltensmuster auszutauschen. Um es mit Roth zu sagen, strebt die neue Frau danach, »jene Hosen zu tragen, die unser Geschlecht – das männliche – seit etwa zweihundert Jahren lächerlich machen«. (W, 3, S. 297) Die Tiller-Girls wurden zum Massenphänomen und symptomatisch für die Zeit. Sie exemplifizierten die neue Vorstellung von Weiblichkeit in den 20er Jahren, die sich durch Mädchenhaftigkeit, Jugendlichkeit und Sportlichkeit auszeichnete. Das Aussehen der Frau erhielt einen neuen Wert, der geradezu professionelle Elemente enthielt. Die Erscheinung des Girls wurde zur Norm, der sich kaum eine Frau entziehen konnte oder wollte. Das Girl war modern, das Girl war gefragt, und es war in mehreren Ausprägungen vorzufinden: Junge Flapper, wie man die Charlestongirls nannte, schwangen ohne Hemmungen – und gegebenenfalls ohne männlichen Partner – das Tanzbein, das Sportgirl scheute auch nicht vor angeblich unweiblichen Sportarten zurück. Freizeitfreuden dieser Art waren für jene Frauen, die in Büros und Kaufhäusern unter langen, monotonen Arbeitstagen litten, ein wichtiger Ausgleich.9

Gleichschaltung beinhaltet für Roth den Verlust der eigenen Identität. Wie sollen Menschen, die aussehen und sich benehmen, als seien sie serienmäßig alle gleich produziert worden, überhaupt noch als individuelle Menschen erkennbar sein? Die Kritik am äußeren Erscheinungsbild der Girls steht für eine tiefere Beunruhigung, der der spekulative und gleichschaltende Charakter der 9

Hanna Vollmer-Heitmann: Wir sind von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt. Die zwanziger Jahre. Hamburg: Kabel 1993, S. 22.

134

Isabel dos Santos

Nachkriegszeit zugrunde liegt. Allmählich habe sich »die Natur der Industrie auszuliefern« begonnen, beklagt Roth in Konfektionserotik (W, 3, S. 205). In Berliner Vergnügungsindustrie (W, 3, S. 211–215) thematisiert Roth das Nachtleben in der deutschen Hauptstadt, das durch Spekulation auf das Industriedenken »der unsagbaren Eintönigkeit des internationalen Nachtlebens« erlegen sei und seine Identität verloren habe. Hier bietet sich ihm, wie in Die Girls II aus dem gleichen Jahr, der »schauerliche« Anblick, die moderne »Tugend genau so nackt gesehen zu haben, wie sich sonst nur die Sünde benahm, als sie noch lebte«. (W, 3, S. 203) Er beanstandet die neuen bunten Cocktails als charakterlos, die neuen Tänze als Exerzierübungen, die »aus der Welt des martialischen in die des bacchantischen Militarismus« übertragen worden sind, bemerkt, dass die Besucher leblos wie Fotografien erscheinen und dass alle Bardamen der Welt gleich aussehen – Versionen jenes internationalen, infantilen, schlanken, schmalhüftigen Frauentyps, in dem sich das Laster mit dem Training zu verbinden scheint, die Tendenz zur selbständigen Modernität mit der überlieferten Methode, durch Hilflosigkeit zu verführen, die aktive und passive Wahlberechtigung mit der Bereitschaft, sich kaufen zu lassen. (W, 3, S. 212)

Erst in einer minderwertigen und deshalb konkurrenzunfähigen Unterhaltungsstätte, die bereits das 50-jährige Jubiläum ihrer Existenz feiert, entdeckt der Autor eine überholte, doch ihm zusagende Realität, wo die Sünde noch als solche erkennbar ist: Der Wirt ging zwischen den Tischen herum und nickte und ließ die Leute leben und ermunterte sie, tüchtig zu sündigen. Die Witze waren schlecht, aber die Menschen waren heiter, die Frauen sehr bekleidet, aber sie bestanden aus Fleisch und Blut und waren nicht Resultate hygienischen Trainings. Das Vergnügen war immerhin ein Geschäft und noch keine Industrie. (W, 3, S. 215)

Hieraus abzuleiten, dass Roth den modernen Entwicklungen reaktionär entgegenstand, wäre allerdings ein Fehlschluss. Roth kritisiert die Entmenschlichung und Oberflächlichkeit die mit den neuen Zeiten und dem neuen Frauenbild einhergehen, doch Aufsätze wie Körperliche Erziehung der Frau (W, 2, S. 370f.) offenbaren einen Autor, der dem Fortschritt, physischem Training und sozialen Verbesserungen für die Frau völlig zustimmt. Roth lobt die im Rahmen einer Tagung für die körperliche Erziehung der Frau gehaltenen Vorträge sowie Ausführungen aus ärztlichen Standpunkten und praktische Vorführungen, die der Aufwertung der Frau und ihres Körpers dienen. Begeistert schreibt Roth: »es soll bei dieser Gelegenheit hervorgehoben werden, daß solche regelmäßigen Veranstaltungen von einem unschätzbaren sozialen und moralischen Wert sind«. Diese Begeisterung ist sicherlich auch auf seine zu dieser Zeit noch dezidiert linken Auffassungen zurückzuführen, sein sozialistisches Engagement – das vielfach in Frage gestellt worden ist – tritt hier wohl zutage. Noch zwei Jahre vorher unterschrieb er seine Artikel als roter Joseph. Er be-

Zur »Übersetzung des männlichen ernsten Militärexerzierens ins Weibliche«

135

dauert, und hier liegt das Anliegen dieses Schreibens, dass derartige Veranstaltungen dem Mittelstand vorbehalten sind und die Arbeiterklasse nicht davon profitiert. Unter den Zuschauern und Zuhörern befanden sich nur Frauen aus dem sogenannten Mittelstand. Wo blieb das »Volk«? Wo blieben die vielen proletarischen Turnvereine? Wo die Arbeiterinnen, um deren körperliche Erziehung uns am meisten bang sein muß? [...] Die Mehrzahl der deutschen Frauen lebt in den Fabriken, und ihre Körper verderben in den Fabriken. Man wird so lange nicht von einer wirklich nationalen Bedeutung solcher Tagungen sprechen können, so lange sie sich nicht an alle deutschen Schichten wenden und so lange sie nicht von allen Schichten unterstützt werden. (W, 2, S. 371)

Roth lobt vor allem »das deutliche Streben«, das weibliche Training von den militärischen Traditionen des Männerturnens zu befreien und durch Werte wie der Harmonie zwischen einem ausgebildeten Körper und der geistigen Leistungsfähigkeit zu ersetzen. Besonders erfreulich erscheint Roth, »daß die ausgeführten Übungen [besonders die Übungen zur Musikbegleitung] niemals gegen das oberste Gesetz der Frauenwelt: das der Erhaltung der Anmut verstießen«. Und schließlich: »Der Körper der Turnenden wird künstlerischer Ausdruck, [...] die Bewegung wird Architektur und bleibt nicht nur Hygiene«. (W, 2, S. 370) Der Artikel ist ein Plädoyer für die weibliche Anmut und das Proletariat, zwei Aspekte die Roths lebenslange Sympathie hatten. Obwohl die Kritik des Autors in vielen seiner Artikel auf die Gesellschaft zielt, die natürliche weibliche Verhaltensformen pervertiert hat, macht sich Roth über die »hygienisch trainierten« Frauen lustig und prophezeit das Kommen der braven, sittlichen Hausfrau, »die den Morgenkaffee mit gymnastischen Übungen zubereitet, Kinder hygienisch gebiert und zu Soldaten erzieht und noch vor zehn Uhr schlafen geht«. (W, 2, S. 394). Solch eine Hausfrau ähnelt Franz Tundas Schwägerin Klara in Die Flucht ohne Ende, die, in Gummihandschuhen und Seidenstrümpfen, dem disziplinierten Hygiene-Drill der Zeit folgt. Sie geht auf »in dem Kampf der Menschheit gegen die Bazillen und die Galanterie« (W, 4, S. 436) und repräsentiert demonstrativ männlichmilitärische Bestrebungen. Klara steckte in einer Lederjoppe aus braunem Kalb, es erinnerte an die Lederhemden, die mittelalterliche Ritter unter der Rüstung trugen. Sie erweckte den Eindruck, daß sie von weit her kam, Gefahren in dunklen Wäldern zu bestehen hatte, sie erinnerte an Bürgerkrieg. (W, 4, S. 442)

Wohlhabend, modern, kultiviert und tugendhaft, führt Klara »ein hygienisches Haus ohnegleichen« (W, 4, S. 455), aber bei näherer Betrachtung auch eine Ehe die aus leerer Konvention besteht und ein Dasein der Anpassung und Selbstlüge. Am Beispiel Klaras und ihrer Freunde zeigt Roth die Oberflächlichkeit, Wertelosigkeit und Verlogenheit dieser Weimarer Gesellschaft, in der Hygiene und Materialismus mehr wiegen als Aufrichtigkeit und Familienwerte. Ob Klara in dieser oberflächlichen Welt glücklich ist, muss bezweifelt werden.

136

Isabel dos Santos

Die moderne Vorstellung, die Frau stehe im Dienst der Hygiene, wird von Roth immer wieder als propagandistisch beanstandet. Der Erzähler erklärt humorvoll, Klara serviere Kaffee, der koffeinfrei ist, die Zigaretten im Hause seien nikotinfrei und schließlich ist selbst der Gute-Nacht-Kuss der Ehefrau »erotinfrei« (W, 4, S. 455). Ihrer in hygienische Seidenstrümpfe gehüllten und deshalb unnatürlichen Beine wegen wird sie als »kein Geschöpf der Liebe« (W, 4, S. 436) ironisiert:10 Klaras Beine waren sachliche, gerade Beine, Wanderbeine, keineswegs Instrumente der Liebe, sondern eher des Sports, ohne Waden. Daß sie in seidene Strümpfe gehüllt waren, schien ein unverzeihlicher Luxus. Irgendwo müssen sie doch Knie haben, dachte ich immer, irgendwo müssen sie in Schenkel übergehen, es ist doch unmöglich, daß Strümpfe in Unterhöschen hineinwachsen und damit basta?! Es war aber so [...] (W, 4, S. 436)

Im Spott dieser Beschreibung wird Klara in die Nähe der Girls gerückt. Sie ist einer Schaufensterpuppe ähnlicher als einer Frau aus Fleisch und Blut, ihr Menschsein tritt völlig zurück. Auch jeder erotische Reiz scheint bei Klara ausgeschaltet: ihr gesamter Unterleib, bis zu den Zehenspitzen, ist durch die hygienische Barriere der Unterwäsche wie nicht vorhanden. Klara ist im Wertepluralismus der Stabilisierungsgesellschaft jede Natürlichkeit abhanden gekommen. Ihr Busen ist »nur ein Etui für ihre sachliche Güte«, ein Herz ist ihr gar nicht erst zuzutrauen. Sie ist so »tugendhaft«, erklärt der Erzähler in ironischem Ton, dass sie fast keine menschlichen, vor allem weiblichen, Eigenschaften hat. Deshalb ist ihr Mutterwerden »wie das achte Wunder, wie eine Anomalie und eine Sünde zugleich«. (W, 4, S. 436) Ihr substanzloses, leerlaufendes Auftreten ist ein Echo auf das entleerte Rollenspiel der männlichen Figuren im Roman. Bezeichnend ist hier die Rede des Fabrikanten, der Tunda über das gesellschaftliche Rollenspiel aufklärt: Man lebt nach Prämissen, die man aus freiem Entschluss eingerichtet hat, aber nach einiger Zeit unterjochen sie den freien Willen. Jeder lebt hier nach ewigen Gesetzen und gegen seinen Willen. [...] So wie ich, lügen alle Menschen. Jeder sagt das, was ihm das Gesetz vorschreibt. [...] Jeder hat seine Rolle. So ist es in unserer Stadt. Die Haut, in der jeder steckt, ist nicht seine eigene. (W, 4, S. 450ff.)

Mit den Frauen steht es nicht anders. Roth teilt sie absichtlich in zwei stereotypisierte Gruppen – die »sachlichen Damen« und die nach Frankreich tendierenden »eleganten Damen« (W, 4, S. 448), um das charakteristisch Gesellschaftliche im Gegensatz zum Individualverhalten herauszustellen. Sie alle werden »von seelenlosen Lebensmechanismen determiniert«, wie Frank

10

Zur Bedeutung von Seidenstrümpfen bei Roth siehe Helen Chambers: Predators or Victims? – Women in Joseph Roth’s Works. In: Co-existent Contradictions – Joseph Roth in Retrospect. Ed. by Helen Chambers. Riverside: Ariadne 1991, S. 107–127.

Zur »Übersetzung des männlichen ernsten Militärexerzierens ins Weibliche«

137

Trommler formuliert.11 Roth entlarvt die Gesellschaft als brutal, opportunistisch und entindividualisierend, die Frauen und Männer gleichermaßen zu Opfern macht und in der Tunda ein Fremder bleibt. Eine andere Frau begegnet dem Leser von Die Flucht ohne Ende in Natascha, Tundas russischer Geliebten. Die bolschewistische Revolutionärin ist schön und kräftig, »mutiger als die ganze männliche Schar, in deren Mitte sie kämpfte« (W, 4, S. 402) und bestrebt, »ihre männliche Überlegenheit« (W, 4, S. 403) in der Revolution unter Beweis zu stellen. Liebe ist für sie ein verrufener, alter Wert einer überwundenen Zeit, der nun durch »heilige« Kameradschaft (W, 4, S. 413) und das nivellierende »Genosse« ersetzt wird, ebenso ist Schönheit ein überholter, bürgerlicher Wert für den die Revolution keinen Platz hat. (W, 4, S. 414) Der Mensch, und somit auch jeder weibliche Aspekt, steht im Dienst des höheren Ideals. Sie wollte von ihrer Schönheit nichts wissen, rebellierte gegen sich, hielt ihre Weiblichkeit für einen Rückfall in die bourgeoise Weltanschauung und das ganze weibliche Geschlecht für den unberechtigten Überrest einer besiegten, verröchelnden Welt. (W, 4, S. 402)

Die Emanzipation, die durch Nataschas Beispiel dargestellt wird, hat mit Militarismus und politischer Ideologie mehr zu tun als mit gleichen Rechten zwischen den Geschlechtern. Der Glaube an die marxistische Ideologie schreibt ihr bestimmte Werte vor, die sie zwar annimmt und zu internalisieren versucht, doch Roth zeichnet eine Frau, die eine zerrissene Existenz führt, weil sie die auferlegten militärischen Vorgaben dieser Emanzipation nicht mit ihrem weiblichen Empfinden vereinbaren kann. Sie gibt Gleichgültigkeit, Hohn, Kontrolle und Entschlossenheit vor, doch Sätze wie »sie atmete auf und ließ ihn am Leben« oder »sie freute sich und verachtete ihn« (W, 4, S. 405) enthüllen die Widersprüche zwischen auferlegter Pflicht und realer Empfindung. Auch Tundas Beschreibung ihrer Gesichtszüge unterstreicht ihre gezwungene Einstellung: Ihr Gesicht veränderte sich manchmal. Ihre gewölbte Stirn legte sich in viele kleine Falten, ihre starken, kurzen Augenbrauen schoben sich eng zusammen, die zarte Haut ihrer Nase straffte sich über dem Knochen, die Nasenlöcher wurden schmal, die Lippen, immer rund und halb offen, preßten sich gegeneinander wie zwei verbissene Feinde, der Hals streckte sich vor wie ein suchendes Tier. Ihre Pupillen, sonst braun, rund, in dünnen, goldenen Ringen, wurden schmale, grüne Ovale, zwischen zusammengezogenen Lidern wie Klingen in Futteralen. (W, 4, S. 402)

Nataschas politische Überzeugungen werden ihr nicht zur zweiten Natur – ihre Emanzipationsbestrebungen ergeben sich aus den Vorschriften der Revolution, nicht aus eigener Neigung. Deshalb siegt Natascha zwar in der Revolution, ihren inneren Kampf verliert sie aber. Der Spiegel, den sie in ihrer Aktentasche trägt, verrät selbst noch am Schluss, dass sie trotz allen Widerstands ihre als 11

Frank Trommler: Roth und die Neue Sachlichkeit. In: Joseph Roth und die Tradition. Hg. von David Bronsen. Darmstadt: Agora 1975, S. 276–305, hier S. 295.

138

Isabel dos Santos

bürgerlich verrufene Feminität zurückbehält. Aus dem Roman wird sie verabschiedet, indem sie am Sinn ihrer bisherigen, von der Revolution determinierten, Existenz zweifelt. Nataschas Funktion besteht darin, die Diskrepanz zwischen Ideologie und ernüchternder Praxis zu verkörpern und entlarvt die Revolution als menschenfeindlich und entindividualisierend. Wiederum geht es auch hier um den Verlust der Erotik. Bei den Girls und Klara kritisiert Roth, dass die Erotik durch militärische Exerzierübungen und hygienische Barrieren ausgeschaltet wird. In diesem Fall wird die körperliche Liebe zur sozialen Pflicht und die Frau ebenso zum Objekt degradiert. Auch der zu diesem Thema verfasste Essay Die Frau, die neue Geschlechtsmoral und die Prostituition (W, 2, S. 632–636) kritisiert diese forcierte und unnatürliche Art von Emanzipation, die Roth in der neuen Sowjetunion vorgeschrieben sieht und die die Frau wie in eine Zwangsjacke steckt. Die sogenannten »revolutionären« Kulturreformationen, so Roth, nehmen der Frau durch Gleichstellung ihren ursprünglichen Wert (W, 2, S. 633). Seine Ansichten stellen sich nicht gegen die Emanzipation, sondern gegen eine Überrationalisierung in Dingen Gefühl und Sensibilität, was die Frau betrifft, und die sie zu purer Funktionalität reduziert: Es ist reaktionär, die Frau durch Gleichstellung ins Neutrum zu verwandeln, es wäre revolutionär, sie durch Achtung weiblich sein zu lassen. Es ist reaktionär, sie nur frei zu machen – es wäre revolutionär, sie frei und schön zu machen. Die wirkliche Degradation ist nicht die vom »Menschen« zum »Weib«, sondern vom freien, erotisch kultivierten, mit der Fähigkeit zu lieben ausgestatteten Menschen zum sexuell funktionierenden Säugetier. (W, 2, S. 635f.)

Deshalb behält Natascha ihre geschlechtslose Kameradschaft, die ihr heilig ist. Liebe jedoch, der bürgerliche und verrufene Wert, bleibt ihr auf Dauer versagt. Natascha versinnbildlicht die Ansicht, die Roth noch im gleichen Artikel bedauert: »Man scheint nicht zu verstehen, daß die Liebe immer heilig ist« (W, 2, S. 634). In einem Zeitalter, das noch von Otto Weininger und Karl Kraus geprägt ist, ist Roths Einstellung alles andere als konservativ oder antiemanzipatorisch. Roth nimmt Partei für die moderne Frau und oft auch für die Emanzipation. Es muss Wilhelm von Sternburg deshalb auch vehement widersprochen werden, wenn dieser die Behauptung aufstellt, Roth blieb der »Frauenemanzipation bis zu seinem Tod zutiefst fremd«.12 Die Ansicht, er habe sich der Aufklärung verweigert, weil er vom patriarchalischen Denken des 19. Jahrhunderts geprägt war und das weibliche Rollenverständnis, wie die widerstandslose Fürsorge seiner Mutter, als »naturgesetzlich zuerkannte Stellung in Familie und Gesellschaft« missverstanden habe,13 ist durch Artikel wie Die Frau von den Barrikaden (1927) oder Brief an eine schöne Frau im langen 12 13

Sternburg, Joseph Roth (wie Anm. 5), S. 221. Sternburg bezieht sich nicht ausdrücklich auf die jüdische Herkunft der Mutter Roths. Ebd., S. 222.

Zur »Übersetzung des männlichen ernsten Militärexerzierens ins Weibliche«

139

Kleid (1931) ebenso zu widerlegen wie durch seine lebenslange Bewunderung für Helene Szajnocha-Schenk. Auch elf Jahre später haben sich Roths Ansichten und seine Ästhetik nicht grundlegend verändert. In Die Kapuzinergruft geht es um die Usurpierung männlicher Verhaltensmuster ebenso wie um die Desillusionierung der Frau in ihrer Rollensuche. Wie Klaus Pauli richtig bemerkt, wird der Emanzipation hier der fundamentale Vorwurf einer Angleichung an das herrschende männliche Rollenverständnis [gemacht] – der Kampf also gegen das Patriarchat, nicht um es in seinen inneren Verhaltensdiktaten und Hierarchien an sich zu verändern, sondern um es bis in seine Erscheinungsformen zu übernehmen.14

Elisabeth Trotta und ihre Geliebte Jolanth verfallen dabei genau in die Verhaltensweisen zurück, die typisch für die von ihnen verhassten Männer sind, wie der Ich-Erzähler Trotta beobachtet: Wie Männer zu tun pflegten, zögerten sie vor der Tür, welche von beiden der andern den Vortritt lassen solle. Wie Männer zu tun pflegen, zögerten sie noch am Tisch, welche von beiden sich zuerst setzen sollte. Ich machte auch nicht einmal einen schüchternen Versuch mehr, der einen und der andern die Hand zu küssen. Ich war ein lächerliches Ding in ihren Augen, Sohn eines kümmerlichen Geschlechts, einer fremden, geringgeschätzten Rasse, zeit meines Lebens unfähig, die Weihen der Kaste zu empfangen, der sie angehörten, und der Geheimnisse teilhaft zu werden, die sie hüteten. Ich war noch in den infamen Vorstellungen begriffen, daß sie einem schwachen, gar einem inferioren Geschlecht angehörten, und frech genug, diese meine Vorstellungen durch Galanterie deutlich zu machen. Entschlossen und geschlossen saßen sie neben mir, als hätte ich sie herausgefordert. (W, 6, S. 307)

Die Ansichten des Ich-Erzählers decken sich hier weitgehend mit denen des Verfassers von Die russische Frau von heute, Roths Artikel von 1927, der eine Emanzipation durch die persönlichkeitsfeindliche Ideologie des Kommunismus für falsch erklärt und Galanterien als Gesten höflicher Aufmerksamkeit statt Zeichen von Unterjochung und Degradierung verstanden haben möchte (W, 2, S. 647–650). Indem er die Rollen in den zitierten Überlegungen tauscht, wird aber ebenfalls deutlich, dass er sich der entwürdigenden Erniedrigung des ›schwachen Geschlechts‹ widersetzt. Elisabeth beendet ihr lesbisches Verhältnis, um sich in einer neuen Rolle als Ehefrau und spätere Mutter eines Sohnes zu versuchen. Nach einer Phase bricht sie jedoch erneut aus, um einer Berufung zur Schauspielerei zu folgen. Offensichtlich hat der Leser es hier mit einer jener eigennützigen und rücksichtslosen Frauen zu tun, die dem Mann kein Glück bringen. Bei genauerer Untersuchung werden Elisabeths Beweggründe dennoch einleuchtend und 14

Klaus Pauli: Joseph Roth – Die Kapuzinergruft und Der stumme Prophet. Untersuchungen zu zwei geschichtlichen Portraitromanen. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1985, S. 139.

140

Isabel dos Santos

Roths Verständnis für die untergeordnete Stellung der Frau offensichtlich. Roth schafft nämlich eine Distanz zwischen dem Ich-Erzähler Trotta und dem erzählten Inhalt, die Elisabeth als Opfer der Lieblosigkeit kenntlich werden lässt. Trotta ist ein patriarchalisch obsessiver Vater und oedipaler Sohn, als Ehemann sieht er sich nicht. »Ich war ein Sohn, und ich war ein Vater«. (W, 4, S. 336) Er ist Teil eines Dreiecks in dem es für Elisabeth keinen Platz gibt. Ihre frühere Rolle hat Elisabeth aufgegeben, aber auch in der von ihr geforderten traditionellen wird sie nicht geschätzt und schon gar nicht glücklich; sogar ihr Kind wird ihr von Mann und Schwiegermutter genommen. Es ist deshalb weniger die Enge der alten patriarchalischen Werte oder der Ruf einer neuen Herausforderung, die sie zur Flucht verleiten, sondern die menschliche Kälte und Gleichgültigkeit, die ihr im Trotta-Haushalt zuteil wird. Roth ist sich der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau voll bewusst. Die Darstellung Elisabeths als Lesbierin ist als Rollensuche zu verstehen, als extreme Reaktion, dem Patriarchat durch Gleichsetzung ein Ende schaffen zu wollen, nicht als eine Herabsetzung der Frau. Die desillusionierte Auflehnung gegen die überholten Werte des patriarchalischen Bürgertums findet in Elisabeths Abschiedserklärung »der Ruf der Kunst ist mächtig« (W, 6, S. 339) einen Widerhall indem die »Kunst« hier weitgehend für Freiheit steht. Die deutsche Klara, die russische Natascha und die österreichische Elisabeth sind Beispiele der neuen Frau der Zwischenkriegszeit, die als künstlich erschaffene Wesen und Opfer der Gesellschaft transparent werden. Ähnlich wie es bei Roths Männern der Fall ist, wird die zeitgenössische Identitätskrise an ihren Schicksalen sichtbar. Ihr Verhalten richtet sich nach Strukturen, die durch männliche Vorstellungen und Rituale vorgegeben sind. Erstaunlich ist dabei, dass diese Diskussion heute noch immer virulent ist, vieles sich nicht wirklich geändert hat. Noch heute wachsen Frauen im Glauben auf, »dass sie natürlich dasselbe wollen sollten wie Männer«,15 weil das, was Männer tun, einen höheren gesellschaftlichen Rang hat. Das feministische Gedankengut, man werde nicht zur Frau geboren, sondern zur Frau gemacht, wird von der kanadischen Entwicklungspsychologin Susan Pinker neu in Frage gestellt und durch neue Erkenntnisse in der Biologie und Psychologie aufgerüttelt.16 Grundprämisse ist hier, dass Mann und Frau nicht gleich sind, sondern biologische Differenzen aufweisen, die im Gehirn naturwissenschaftlich nachweisbar sind. Diese Unterschiede kommen vor allem ins Spiel in den von Konkurrenzkämpfen geprägten Strukturen der männlich orientierten Berufswelt, bei denen Frauen mit weiblichen Verhaltensmustern und Bedürfnissen an Grenzen stoßen. Die Differenzen sind für Naturwissenschaftler zwar subtil, aber fundamental. Sozialwissenschaftlern 15 16

Susan Pinker im Spiegel-Gespräch: »Männer sind extremer«. In: Spiegel 39/2008, S. 61–66, hier S. 63. Susan Pinker: Das Geschlechterparadox: Über begabte Mädchen, schwierige Jungs und den wahren Unterschied zwischen Männern und Frauen. München: DVA 2008.

Zur »Übersetzung des männlichen ernsten Militärexerzierens ins Weibliche«

141

wird vorgeworfen, dass sie mit einem vorgefassten Urteil auf die Wirklichkeit blicken und diese Unterschiede deshalb bewusst vernachlässigt haben. Weil die Biologie früher mißbraucht wurde, um Frauen zu diskriminieren, fürchten sie sich heute davor, die Daten objektiv zu betrachten. Dabei gibt es keinerlei wissenschaftliche Argumente dafür, dass Frauen zu Hause bleiben und Kinder aufziehen sollten. Das würde ich auch nie so sehen. Natürlich ist es meine Überzeugung, dass Frauen und Männer in dem Sinn gleich sein müssen, dass sie die gleichen Möglichkeiten und Rechte in einer Gesellschaft haben. Doch die große Zahl der Frauen verhält sich in der Arbeitswelt anders als die große Zahl der Männer – weil die Geschlechter eben nicht identisch sind.17

Pinker wünscht sich eine Aufwertung weiblicher Eigenschaften und Lebensentwürfe, die die Regeln der – männlich geprägten – Arbeitswelt verändern und modernisieren.18 Zu oft gehe es im Geschlechterkampf darum, dass Frauen über Projektionen männlicher Ideale nicht hinauswachsen. In diesem Sinne hätte sich zwischen den Geschlechtern dann soviel doch nicht verändert. Noch immer richtet sich die Frau nach einer Struktur, die aus männlichen Vorstellungen und Ritualen besteht. Der Meinung, Roths »konservative Voreingenommenheit«19 oder gar ein »blindes Nichtverstehen«20 sei dem Autor im Weg gestanden und er habe für bestimmte Aspekte »geschichtlich notwendig gewordener Veränderung«21 einfach kein Verständnis aufbringen können, kann ich mich nicht anschließen. Der schulmeisterliche Blick Mendel Singers deckt sich nicht mit Roths klarsichtigem Scharfsinn. Wenn er auch als allzu stark auf die Vergangenheit bezogen rezipiert worden ist – jener Scharfsinn und sein fast prophetisches Einfühlungsvermögen machen Roth zu einem äußerst verständnisvollen, sensiblen aber auch herausfordernden Zeitzeugen. Die gesellschaftliche Krise, die Roth oft literarisch thematisiert, wird in vielen zeitgenössischen Werken widerspiegelt. Wie viele andere Autoren ist Roth ein Vertreter des Geistes, der im Durcheinander von Masse und Machtkonspiration mit schriftstellerischen Mitteln mehr Vernunft und Menschlichkeit durchzusetzen versucht. Dabei geht es ihm nicht um »misogyn«, »männlich« oder »weiblich«; es geht ihm nur um eine Kategorie: es geht ihm um »menschlich«.

17 18

19 20 21

Pinker, Gespräch (wie Anm. 15), S. 62. Die Annahme, dass die männliche bzw. weibliche Persönlichkeit durch kulturelle und gesellschaftliche Effekte, vor allem durch Erziehung und Umwelteinflüsse geprägt werden, bleibt bei der naturwissenschaftlichen wie bei der sozialwissenschaftlichen Perspektive dennoch bestehen. Pauli, Joseph Roth (wie Anm. 14), S. 139. Magris zitiert nach Pauli, ebd., S. 139. Ebd.

Irena Samide

Joseph Roth und seine Muse(n)

Die Rede vom ›Frauenbild‹ oder ›Weiblichkeitsentwurf‹ eines Autors – nicht nur Joseph Roths – enthält, vor allem im Rahmen feministischer Analysen, prinzipiell einen parteilich-kritischen Blick.1 Analysiert wird gewöhnlich nicht nur mit dem Ziel, Konturen bestimmter Frauenbilder nachzuzeichnen, sondern diese selbst außer Kraft zu setzen, sie zu destruieren. Sie seien, so die übliche feministische Kritik, lediglich Wunsch- oder Schreckbilder, die die Grenzen erwünschten weiblichen Verhaltens markieren sollen, »Männerphantasien«,2 sie hätten nichts mit der Realität der Frau zu tun, sondern viel mehr, mit Freud gesprochen, mit der Erfahrung realen Mangels, den der Mann im Bild des/der Anderen – der Frau, nämlich – kompensiere. Im feministischen Diskurs wird die Produktion solcher Idealbilder im Kontext von »Sexus und Herrschaft«3 gesehen, an ihnen haften folglich Spuren patriarchalischer Herrschaft; so diagnostiziert Sigrid Weigel in diesem »Projektionsfeld männlicher Wünsche und Ängste« Eigenschaften wie Anmut, Schönheit, Natürlichkeit, Mütterlichkeit, Sinnlichkeit und Unschuld, die sich paaren sollen mit bürgerlichen Tugenden wie Duldsamkeit, Sparsamkeit, Fleiß und Selbstdisziplin:

1

2

3

Dies gilt zumindest im Kontext der neueren feministischen Diskussion. Auf frühere Arbeiten, die z. T. im Kontext der ›alten‹ Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind, trifft dies nicht zu. Vgl. Inge Stephan: Bilder und immer wieder Bilder … Überlegungen zur Untersuchung von Frauenbildern in männlicher Literatur. In: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Hg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel. Berlin: Argument 1993, S. 15ff. So u. a. auch der Titel eines zweibändigen Werks von Klaus Theweleit: Männerphantasien I und II. Frankfurt a. M.: Roter Stern 1977. Dem Autor, der darin das Phänomen des Faschismus unter dem Aspekt des Geschlechterverhältnisses untersucht, gelang es dank seiner immensen Materialienfülle und überraschender Aspekte, ein kulturkritisches Standardwerk der Faschismusforschung zu verfassen. Vgl. das gleichnamige Werk (im Original: Sexual Politics) von Kate Millett: Sexus und Herrschaft. Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985.

144

Irena Samide

Die Unmöglichkeit dieser Konstruktion wird besonders in den Diskursen am Ende des 18. Jahrhunderts (idealtypisch bei Rousseau und Fichte) evident, in denen Weiblichkeit [...] als zweite Natur der Frau festgeschrieben wird.4

Weigel moniert also, dass die männlichen Entwürfe eine »unmögliche Konstruktion« darstellten, was offenbar heißen soll, dass keine reale Frau je hoffen kann, solch widersprüchlichen Anforderungen zu entsprechen. Ihr scheint das Konzept der ›idealen Frau‹ verhängnisvoll zu sein: denn immer noch versuchten allzu viele Frauen, so zu werden, wie die Männer sie sich wünschten: Projektionsfläche für männliche Träume. Doch der Preis für die Verkörperung dieser Position sei hoch: »Die Phantasien von der Wunscherfüllerin heilt von der traumatischen Angst, ein Nichts zu sein. Aber wohlgemerkt um den Preis nicht zu sein«.5 Isabel dos Santos weist in ihrem Beitrag6 darauf hin, dass man die Texte Joseph Roths durchaus auch als Kritik der bestehenden (weiblichen) Identitätskrise lesen könne und dass darin Frauen als Opfer der Gesellschaft erkennbar seien. Auch Musen, denen sich der folgende Beitrag widmet, wurden/werden in der aktuellen Forschung – wenngleich sich nur wenige Arbeiten mit dem Musen-Status auseinandersetzten7 – immer wieder als Opfer entlarvt, als Leichen, auf welchen herum gedichtet wurde und wird, als gewollt abwesende oder unerreichbare weibliche Wesen, die schließlich die vielfältige dichterische Produktion und Präsenz der Imaginationen ermöglich(t)en, es wurde ihnen jedoch traditionsgemäß keine emanzipatorische Kraft zugeschrieben. Generell kann Muse – leider kann an dieser Stelle nicht tiefer in die mythologische musische (Gedanken)Welt eingedrungen werden – als generischer Sammelbegriff für die Rolle der Frau als Sprosse auf der Leiter männlichen Erfolgs und männlicher Produktivität gelesen werden, bei gleichzeitiger Negierung weiblicher Identität und einem »Berufsverbot für Musen«.8 Dabei wird allerdings oft vergessen, dass die Musen ursprünglich allgegenwärtig und 4

5

6 7

8

Ulrike Prokop: Die Konstruktion der idealen Frau. Zu einigen Szenen aus den »Bekenntnissen« des Jean-Jacques Rousseau. In: Feministische Studien 1 (1989), S. 86– 96, hier S. 96. Sigrid Weigel: Frau und ›Weiblichkeit‹. Theoretische Überlegungen zur feministischen Literaturkritik. In: Feministische Literaturwissenschaft: Dokumentation der Tagung in Hamburg vom Mai 1983. Hg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel. Berlin: Argument 1984, S. 103–113, hier S. 104f. Vgl. den Beitrag Isabel dos Santos’ in diesem Band. Erwähnenswert sind vor allem folgende Studien: Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München: Kunstmann 1993; Renate Böschenstein-Schäfer: Die Stimme der Muse in Hölderlins Gedichten. In: HölderlinJahrbuch 24 (1984–85), S. 87–112; Sigrid Weigel: Musen und Junggesellenmaschinen – Mythen vom Geschlecht der Künste. In: Das Geschlecht der Künste. Hg. von Corina Caduff und Sigrid Weigel. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1996, S. VII–XV. So der Titel eines 1976 erschienenen Aufsatzes von Cäcilia Rentmeister: Berufsverbot für Musen. In: Ästhetik und Kommunikation 25 (1976), S. 92–112.

Joseph Roth und seine Muse(n)

145

allwissend waren; die Inspiration der Dichter erfolgte entweder durch Erleuchtung oder als Erinnerung, indem die Musen dem Dichter nicht nur das individuelle, sondern auch das kollektive Gedächtnis verliehen. Und – genauso wichtig: Ihre Stimme war, im Gegensatz zu der der erstarrten Medusa,9 durchaus hörbar – und wahrnehmbar. Aus den altgriechischen Quellen geht einleuchtend hervor, dass die Musen einst selber Sängerinnen waren: Sie nahmen im künstlerischen Prozess eine aktive Rolle ein und wurden nie auf eine nur rein passive oder sogar fiktive Inspirationsquelle reduziert. ›Singe mir, Muse‹, ›Nenne mir, Muse‹! waren die häufigsten Anredeformen an die Musen: »Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes«, beginnt die Odyssee,10 während es in der Ilias heißt: »Sagt mir, nur, Musen! [...] / Denn ihr seid Göttinnen und seid zugegen bei allem und wißt alles«.11 Die antiken Dichter mussten um ihre Gunst erst werben, um danach an ihrem musischen Wissen und ihren Erinnerungen teilhaben zu können. Der griechische Sänger, der Dichter, galt in der Gemeinschaft als göttlicher Diener und Gefolgsmann der Musen, er war förmlich auf sie angewiesen; sie waren die Göttinnen, die »das ganze Dasein ihres Erwählten [erfüllen], durchleuchten es mit der Helligkeit des Geistes und begnaden es mit allen Gütern, deren es bedarf«.12 Obwohl heutzutage das Konzept des Musentums weitgehend ironisiert, als anachronistisch abgetan wird und die Auffassung Arlene Croces überwiegt, die in ihrem provozierenden Essay mit dem Titel Is the Muse Dead?13 die Vorstellung von der Fleisch gewordenen Muse als für den modernen Feminismus verheerend bezeichnete, leben die Musen noch immer weiter, als Titelgestalten, als Nostalgie nach einer vergangenen Zeit, als ätherische, und oft auch als durchaus körperliche Wesen, die ›ihren‹ Dichtern die Flügel der poetischen Phantasie verleihen. Welche ›irdischen‹ Frauen umgaben Joseph Roth, gab es unter ihnen solche, denen inspirative Fähigkeiten zugeschrieben werden könnten, solche, die von ihm angerufen und angebetet worden sind? »Übrigens glaube ich nicht, daß irgendeine jüngere Frau ihn jemals beeinflußt hat, oder daß man sein Wesen von dieser Seite ergründen kann,« behauptet Sybil Rares,14 eine junge, geistreiche, aus der Bukowina stammende Schauspielerin, die Roth 1929 kennenlernte und mit ihm einige Monate verbrachte (u. a. auch in ›seinem‹ Hotel Foyot in Paris). Frauen, die ihn eine kürzere oder längere Zeitperiode begleitet haben, gab es viele, aber nur drei, die in seinem Leben eine 9 10 11 12 13 14

Vgl. Sigrid Weigel: Die Stimme der Medusa. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979, S. 7. Homer: Odysee. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 487. Homer: Ilias. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 35. Walter F. Otto: Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens. Darmstadt: Eugen Diederichs 1955, S. 35. Vgl. Arlene Croce: Is the Muse Dead? In: The New Yorker 71 (1996), Nr 8, S. 164. Brief von Sybil Rares-Schuster vom 28.3.1961 an David Bronsen. Zitiert nach: David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenhauer & Witsch 1974, S. 368.

146

Irena Samide

besondere Bedeutung hatten. Sie fügen sich fast nahtlos in einen von drei charakteristischen Modelltypen ein.

I

Modellierte, imaginierte Frau

»Ich kannte Friedl am Anfang als sehr reizendes, intelligentes, sehr lustiges Wiener Mädchen«, erinnert sich der Philosoph Ludwig Marcuse, mit dem Roth eng befreundet war. Aber Roths Typ war die elegante, zurückhaltende Dame, und er modelte an seiner Frau, bis er sie zu einem Dichtungsgeschöpf machte und ihr jede Natürlichkeit raubte. Sie mußte nach seinen Anweisungen spielen, und er hat sie zugrunde gerichtet. Obgleich sie in sexueller Hinsicht eher temperamentvoll war, durfte sie sich das nicht anmerken lassen. Nach außen mußte sie sich distanziert und korrekt geben.15

Es handelt sich um Roths Frau Friederike – Friedl Reichert, die Roth im Jahre 1922 heiratete und sie nach seinen Maßstäben formen und erziehen wollte. Friedl, die nach Bronsens Interpretation »keine besondere Intelligenz« besessen habe, sich jedoch dennoch sehr bemüht habe, sich auf seine intellektuelle Höhe zu erheben, ihrem Mann zur Seite zu stehen und ihm geistig ebenbürtig zu werden«,16 war nach den Aussagen Stefan Fingals »gescheit und bezaubernd«, ja, noch mehr, sie habe »jüdischen Hochmut und jüdische Intelligenz gehabt«.17 Aber bei der Frau, die in »Roths Händen zu seinem Kunstwerk wurde«,18 zeigten sich bald Symptome einer geistlichen Erkrankung. So muss der erste Modellierungsversuch Roths scheitern, seine Methode jedoch verändert sich nicht. Andrea Manga Bell, die in Hamburg geborene Tochter einer blonden Hamburgerin hugenottischer Herkunft und eines kubanischen Schwarzen, die für sich und ihre zwei Kinder als Redakteurin der Kunstzeitschrift Gebrauchsgraphik Lebensunterhalt verdiente, faszinierte ihn auf den ersten Hieb. Anfangs schickte er ihr jeden Tag eine Rose – was ihn jedoch nicht daran hinderte, ihr das Tanzen – als »Ausbund der Geilheit«, das Tragen von Badeanzügen – als Zeichen des Exhibitionismus – und sogar den Besuch von Friseursalons – Friseurladen als Bordell – zu verbieten.19 »Er wollte mich abhängig machen, und ich sollte neben ihm hocken, während er schrieb«, erinnerte sich Manga Bell,20 während Roth, nachdem ihre Beziehung nach sechs Jahren schon endgültig vorbei war, neckisch bemerkte: »Manga

15 16 17 18 19 20

Bronsen, Roth (wie Anm. 14), S. 330. Ebd, S. 331. Vgl. Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenhauer & Witsch 2009, S. 221. Bronsen, Roth (wie Anm. 14), S. 331. Vgl. ebd., S. 372. Ebd.

Joseph Roth und seine Muse(n)

147

Bell hat sich konstant geweigert, nach den Gesetzen meines Lebens zu leben. Ihre Kinder waren und sind ihr viel wichtiger, als ich«.21 »Aus mir wollte er etwas machen, was ich nicht war«, behauptete schließlich auch die damals schon berühmte ›blonde und blauäugige‹ Autorin Irmgard Keun, die ihn 1936 in Ostende in Belgien kennen und lieben lernte: »Oft sagte er mir: ›Eine Frau benimmt sich nicht so‹. ›Eine Dame tut sowas nicht‹. Mit dem Taxichauffer durfte ich anstandshalber nicht sprechen. Ein Paket zu tragen, war mir nicht erlaubt. Er wollte aus mir eine ergebene Magd machen, mich zur Zartheit erziehen. [...]«22 Frauen, die nicht sie selbst sein dürfen, weil Roth sein Denken und seine Vorstellungswelt wenigstens an ihnen in die Realität umsetzen will. Bei Roth sind es nicht fiktionale Figuren, die zum Projektionsfeld ›männlicher Wünsche und Ängste‹23 verschmelzen würden, sondern gerade umgekehrt: es sind die realen Frauen, die nach dem Wunsch des Menschen (nicht des Autors) Joseph Roth zu Idealfiguren geformt werden wollen. Es ist folglich nicht das Bild der fiktiven Frau, die das Leben der realen Frauen einschränken und ihre Produktivität und Kreativität hemmen würde – was der häufigste Vorwurf von feministisch orientierter Literaturforschung ist –, sondern die fixe Vorstellung von den einzig wahren ›weiblichen‹ Eigenschaften, die die Frau an Roths Seite charakterisieren sollten. Außer den schon genannten gesellt sich noch die obligatorische Bewunderung des Schriftstellers Roth hinzu. So berichtet z. B. Oskar Maurus Fontana: »Roths Frau war von Hause aus nicht literarisch interessiert. Aber ihren Mann sah sie als den ersten aller Dichter. Sie war sehr stolz auf ihn, nannte ihn vor anderen ›den Roth‹ und lehnte alle anderen Schriftsteller ab«.24

II

Karrierebegleiterin, Schreibmaschinistin Keiner ist da, weit und breit, der mir auch nur ein Telefongespräch abnehmen täte. Ich möchte auch gar nicht, daß die Frau es tut. Alles wird mir dann ausgelegt werden, eines Tages, als ›Arbeit‹, ›Verdienst‹ und dergleichen. Ich will nicht, daß man für mich koche, tippe, telephoniere; ich will keine Dienste. Alles das rächt sich eines Tages bitterlich. Ich muß souverän sein, wie ein Sultan im Harem. Ich bezahle nicht mit Beischlaf und auch nicht mit Erhaltung sogenannter Dienste. Ich pfeife darauf.25

21 22 23 24

25

Ebd., S. 468. Ebd., S. 502. Vgl. auch: Ingrid Marchlewitz: Irmgard Keun: Leben und Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 47. Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. Bronsen-Interview mit Oskar Maurus Fontana. Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus in Wien. Zitiert nach Sternburg, Roth (wie Anm. 17), S. 224. Vgl. Bronsen, Roth (wie Anm. 14), S. 467.

148

Irena Samide

Trotz dieser Beteuerungen – oder gerade wegen ihnen – war Roth, wie auch viele andere Literaten (nicht nur) jener Zeit mehr als angewiesen auf die diesbezüglichen ›Dienste‹ seiner jeweiligen Frau, Geliebten, Freundin. Sie haben seine zahlreichen Artikel, Briefe, Manifeste, Romane abgetippt, korrigiert, verschiedenste administrative Tätigkeiten ausgeübt, und standen mit Rat und Tat beiseite. »Auch während der Zeit, in der Roth mit Irmgard Keun zusammen war«, erinnert sich Manga Bell, »hörte er nicht auf, an mich zu schreiben. Er bat mich mehrmals um Rat und meinte, ›Du hast doch immer Mittel für alles‹«.26 Aufgrund der neuen Aufzeichnungstechniken wie Schreibmaschinen und Sprechapparate, die um 1900 produziert wurden, übten besonders ›Schreibmaschinistinnen‹ eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Dichter aus. Klaus Theweleit, der in seinem facettenreichen Buch der Könige sehr genau und bekanntlich sehr unorthodox einige berühmte Paarbeziehungen untersuchte, meint, Franz Kafka habe sich in Felice Bauer just in jenem Moment verliebt, als er vernahm, dass sie es liebe, Manuskripte in Typoskripte zu verwandeln.27 Auch Nietzsche ließ von Lou Andreas Salome tippen, Brecht neben anderen von Margarethe Steffin, und Roth beauftragte mit dieser Aufgabe vor allem Andrea Manga Bell, die seinetwegen ihren Posten bei der Zeitschrift aufgab, um ihm mit ihren Schreibdiensten zur Verfügung zu stehen. Der Typus der Karrierebegleiterin, der ›Unsichtbaren‹, der ›Verdrängungskünstlerin‹28 schlägt sich oft in solcher Intensität nieder, dass es oft nichts mehr Eigenes gibt, worüber sich schreiben ließe: »Die Produktion künstlicher Wirklichkeit geht nicht allein vor sich«.29 Orpheus ist eingebunden in Verhältnisse, die nur »teils aussehen wie Liebesverhältnisse, womöglich aber Produktionsverhältnisse sind«.30 Das wahre Geniewerk setzt notwendig die vampiristische Ausbeutung anderer voraus und setzt sich zusammen aus der sichtbaren Arbeit des Künstlers und dem, was Renate Köbler ›Schattenarbeit‹ genannt hat.31 Vor allem in feministischer Forschung wird immer wieder die These vom ›Frauenopfer‹32 als notwendiger Voraussetzung jeglicher kultureller Pro-

26 27 28 29 30 31

32

Vgl. ebd., S. 470. Vgl. Klaus Theweleit: Buch der Könige. Band 1. Orpheus und Eurydike. Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld, Roter Stern 1988, S. 463. Vgl. Inge Stephan: Das Schicksal der begabten Frau. Im Schatten berühmter Männer. Stuttgart: Kreuz 1989, S. 11. Theweleit, Buch der Könige (wie Anm. 27), S. 96. Ebd. Vgl. die Einleitung von Renate Köbler in ihrem Werk: Dies.: Schattenarbeit. Charlotte von Kirschbaum – Die Theologin an der Seite Karl Barths. Köln: Kirche und Gesellschaft 1987, S. 17–19. Vgl. Theweleit, Buch der Könige (wie Anm. 27) sowie ders., Männerphantasien (wie Anm. 2).

Joseph Roth und seine Muse(n)

149

duktion postuliert,33 man spricht entweder von »killing women into art«34 oder von der Opferstruktur der »Geschlechterdramaturgie«.35 Die symbolische Ordnung konstituiere sich durch eine »am Körper der Frau vorgenommene Tötung«,36 was sich in der Literatur in Gestalt des Motivs der schönen weiblichen Leiche37 manifestiere. Schöne weibliche Leichen findet man jedoch bei Joseph Roth eigentlich nicht, er fundiert seinen Schreibakt nicht im Körper der toten Frau. Aber auch er verlangt Frauenopfer, jedoch – und darin unterscheidet er sich von manchem seiner dichterischen Kollegen, von Novalis, Hölderlin, Rilke oder Benn – er verlangt Opfergaben nicht für sein Schreiben, sondern für sein Leben. »Roth war in jeder Hinsicht eifersüchtig«, erzählt Irmgard Keun: Durch den Alkohol verstärkte sich diese Tendenz noch bei ihm, so daß er mich zum Schluß nicht mehr aus den Fingern ließ. Nicht einmal austreten konnte ich, ohne daß er unruhig wurde. Schlief ich ein, so hatte er seine Finger in meinen Haaren eingewühlt, auch noch, wenn ich aufwachte. Abschiede waren ihm unerträglich geworden, so daß ich ihm schwören mußte, ich würde ihn nie verlassen.38

Er wird »oft schrecklich boshaft und verletzend [...] und in seinen Launen und Stimmungen zermürbend wechselvoll«, schreibt sie an Arnold Strauss.39 Die Assoziation an Karl Bornwasser, an den äußerst unangenehmen, geradezu grotesk eifersüchtigen Lebensgefährten Lenchens aus dem eher düsteren, aber auch bizzaren Roman Irmgard Keuns D-Zug dritter Klasse, ist offensichtlich: Karl Bornwasser quälte sie mit Mißtrauen und einer Eifersucht, die bis in ihre Kindheit drang. Nacht für Nacht verwickelte er sie in komplizierte Gespräche, wies ihr Widersprüche nach und Lügen. Sie weinte, weil sie bei ihm war, und sie weinte, wenn er drohte, fortzugehen.40

33 34

35 36 37 38

39

40

Vgl. Weiblichkeit und Tod in der Literatur. Hg. von Renate Berger und Inge Stephan. Köln, Wien: Böhlau 1987. Sandra M. Gilbert/Susan Gubar: The Madwoman in the Attix. The Woman Writer and the Nineteenth-century Literacy Imagination. New Haven, London: Yale University Press 1979, S. 25. Weigel, Musen und Junggesellenmaschinen (wie Anm. 7), S. VIII. Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 1990, S. 92. Vgl. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München: Kunstmann 1993. Bronsen-Interview mit Irmgard Keun. Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus in Wien. Zitiert nach: Bronsen, Roth (wie Anm. 14), S. 502. Irmgard Keun: Ich lebe in einem wilden Wirbel. Briefe an Arnold Strauss 1933 bis 1947. Hg. von Gabriele Kreis und Marjory S. Strauss. Düsseldorf: Claassen 1988, S. 205. Irmgard Keun: D-Zug dritter Klasse. Düsseldorf: Claassen 1983, S. 50.

150

Irena Samide

Aber die Eifersucht Joseph Roths ist schließlich mehr als bekannt, bei allen Frauen, die ihm nahe standen, finden sich ähnliche Beschreibungen, es ist immer der Mensch Roth, der einengt, seine Grenzen, seine Forderungen stellt, seine Ängste an realen Frauen auslebt. Je autonomer die Frau, desto schwieriger fällt es ihr, desto sinnloser erscheint es ihr, als Besitz-Objekt behandelt zu werden. Bei Irmgard Keun dauerte es ›nur‹ 18 Monate, bis sie sich endgültig trennten. Sie schreibt: »In Paris verließ ich ihn mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung und ging mit einem französischen Marineoffizier nach Nizza. Ich hatte das Gefühl, einer unerträglichen Belastung entronnen zu sein«.41 Das Paradoxe und das gleichzeitig Tragische dabei ist, dass sich Roth in seinen Beziehungen genauso eingeengt fühlte: »Es steckt in dieser Frau – wie übrigens in allen – der fatale und sehr natürliche Drang, mich einzuengen, familiär und zum Haustier zu machen«, beklagt er sich über Andrea Manga Bell, und fügt im gleichen Atemzug hinzu: »Und ich kann mich mit gutem Gewissen nur dann davor schützen, wenn ich sie nicht entbehren lasse«.42

III

Kreative, schreibende und sprechende/singende Muse

»Wir fanden zusammen«, schreibt Irmgard Keun, »jeder für seinen Teil – aus Angst, allein zu sein, obwohl das gegenseitige Interesse bei der ersten Begegnung vorhanden war«.43 Im Gegensatz zu manchen Künstlern, die Frauen an ihrer Seite zum Schweigen zwangen, lässt Joseph Roth seine Muse schreiben, mehr noch, er fördert und fordert sie dazu: »Den halben Tag gestern mußte ich im Bett liegen«, schreibt sie an Arnold Strauss, und setzt fort: »›Wie kommen Sie dazu, im Bett zu liegen‹, sagte Roth. ›Sie sind ein Schriftsteller, Sie haben keine Frau zu sein, sondern ein Soldat‹. Ich habe geschworen, nachzuholen und heute 35 Seiten zu schreiben. Roth wird sie heute abend zählen«.44 Auch Irmgard Keun vermag es, sich selbst und ihre Beziehungen zu inszenieren und an ihrem Selbstbildnis zu feilen. Deswegen sollten auch bei ihr, die sich »bindungslos trotz aller Bindungen« zeigt, »verschlossen bei aller Offenheit«,45 solche Aussagen behutsam betrachtet und nicht als die ›letzte Wahrheit‹ angenommen werden, aber dennoch: Während sie schreibt, sitzt er in der anderen Ecke des selben Cafes am Place d’armes und schreibt – »die reinste Schreib-

41 42 43 44 45

Bronsen-Interview mit Irmgard Keun (wie Anm. 38). Zitiert nach: Bronsen, Roth (wie Anm. 14), S. 502. Bronsen, Roth (wie Anm. 14), S. 467. Bronsen-Interview mit Irmgard Keun (wie Anm. 38). Zitiert nach: Bronsen, Roth (wie Anm. 14), S. 469. Keun, Ich lebe in einem wilden Wirbel (wie Anm. 39), S. 181. Ebd., S. 13.

Joseph Roth und seine Muse(n)

151

olympiade« nennt dies Keun,46 und fragt sich rhetorisch: »Warum wohl Arbeit einen femininen Artikel hat«? Die Antwort findet sie bei sich: »Weißt du«, schreibt sie an Arnold Strauss, »manchmal ist meine Arbeit etwas, was sich unabhängig von mir macht und personifiziert – und dann liebe ich sie wie meinen am meisten geliebten Mann, weil sie das einzigste ist, was mir immer raushilft aus allem«.47 Schreiben als Medizin? Die Frage, ob Joseph Roth Musen brauchte, um schreiben zu können, lässt sich nicht so einfach beantworten. ›Du hast mich befruchtet‹, sollte er mehrmals zu Manga Bell gesagt haben,48 und er ließ sich oft von wirklich erlebten Figuren inspirieren. Literaturforscher suchen – und finden – immer wieder Spuren von seinem Vater, von ihm selber, von seinen Freunden, Feinden und Frauen. So habe z. B. Friedl – um nur ein Beispiel von vielen zu nehmen – als ›Vorlage‹ für Mirjam, die Tochter Mendel Singers in Hiob gedient: »Schlank, mit langen Beinen, einem fein-geschnittenen Gesicht, und einem süffisanten Lächeln um den kleinen Mund«49 – aber wie Friedl endet auch Mirjam, von den Ärzten mit dem Stempel der Unheilbarkeit versehen, letztendlich in einer Irrenanstalt. Die ganze Welt sei unverarbeitete Literatur, und alles biete ihm Stoff und Gestalten für seine Romane, äußerte er sich einmal eher beiläufig in den letzten Monaten vor seinem Tod im Gespräch mit Joseph Gottfarstein.50 Von einem göttlichen Funken, vom Musenkuss, könnte man da nur schwer sprechen. Die beste Inspiration seien – seinen eigenen Aussagen zufolge – die Geldnot und der Alkohol. Alle guten Stellen seien unter dem Alkohol-Einfluss entstanden, behauptete er immer wieder.51 Und so wie Irmgard Keun verschreibt er sich das Schreiben auch als Medizin: »Ich schreibe jeden Tag, nur, um mich zu verlieren, in erfundenen Schicksalen, ich arbeite inzwischen, um mich zu betäuben [...] Ich arbeite, um zu fliehen«.52 Und noch: »Ich kenne, glaube ich, die Welt nur, wenn ich schreibe, und wenn ich die Feder weglege, bin ich verloren«.53 Wie endet schließlich die Suche nach der (verlorenen) Muse Joseph Roths? Eine traditionell konturierte, stumme, sprachlose, passive, bis zur Unkenntlichkeit idealisierte bzw. stilisierte Muse gibt es nicht, weder in seinen literari46 47 48 49 50 51

52 53

Ebd., S. 82. Ebd., S. 123. Vgl. Bronsen, Roth (wie Anm. 14), S. 371. So beschreibt sie Soma Morgenstern: Joseph Roth im Gespräch. In: Joseph Roth und die Tradition. Hg. von David Bronsen. Darmstadt: Agora 1975, S. 48. Vgl. Bronsen, Roth (wie Anm. 14), S. 544. »Ohne Alkohol wäre ich wahrscheinlich noch gerade ein guter Journalist geworden. Alle guten Einfälle kommen mir beim Trinken,« soll er einmal gegenüber Soma Morgenstern eingestanden haben. Vgl.: Morgenstern, Joseph Roth im Gespräch (wie Anm. 49), S. 45. Briefe an Stefan Zweig vom 17.2.1936. Zitiert nach Bronsen, Roth (wie Anm. 14), S. 559. Ebd.

152

Irena Samide

schen Werken noch im realen Leben. Die Zeiten, als Homer die Göttin auffordert, durch ihn zu singen, als Dante von der Nachbarin Beatrice schwärmt und Petrarca Laura besingt, als Novalis seiner toten Braut Sophie ein unvergleichbares poetisches Denkmal setzt und Rilke im Orpheus-Gewand die kaum gekannte Eurydike – Wera Ouckama Knoop – im Transzendentalen verewigt – die Zeiten sind endgültig vorbei. Roth stellt seine Musen nicht auf Altäre und Piedestale. Auch sein Versuch, in seine fleischlichen Musen sein eigenes Idealbild der Weiblichkeit zu projizieren und hinein zu transplantieren, was auch viele vor ihm und etliche nach ihm getan haben –, war letztendlich zum Scheitern verursacht: »Ich fühlte mich immer mehr in die Enge getrieben, bis ich es nicht mehr aushielt, bis ich unbedingt ausbrechen mußte«,54 offenbarte Irmgard Keun. Sie steht stellvertretend für eine Muse, die flieht, protestiert, sich gegen Projektionen wehrt, eine Muse, die spricht, (trinkt), denkt und schreibt, eine Muse, die ihre eigene, unverwechselbare Stimme besitzt und somit das klischeehafte, stumm-passive Musen-Modell weit überholt.

54

Bronsen-Interview mit Irmgard Keun (wie Anm. 38). Zitiert nach Bronsen, Roth (wie Anm. 14), S. 502.

Neva Šlibar

Entgegengesetzte Fluchtbewegungen Joseph Roth und Irmgard Keun schreiben im Exil

I Als ich Joseph Roth zum erstenmal in Ostende sah, da hatte ich das Gefühl einen Menschen zu sehen, der einfach vor Traurigkeit in den nächsten Stunden stirbt. Seine runden blauen Augen starrten beinahe blicklos vor Verzweiflung und seine Stimme klang wie verschüttet unter Lasten von Gram. Später verwischte sich dieser Eindruck, denn Roth war damals nicht nur traurig, sondern auch noch der beste und lebendigste Hasser.1

Irmgard Keuns eindringliches, kaum dreiseitiges Kurzporträt Joseph Roths, wie sie ihn im Sommer 1936 in Ostende und dann auch später in der gemeinsamen Zeit erlebte, wurde nachträglich, nach dem Zweiten Weltkrieg, geschrieben und in den Bildern aus der Emigration 1947 veröffentlicht. Es wird vielfach zitiert,2 weil es gerade wegen der Subjektivität und persönlichen Sicht ein griffiges und markantes Bild einer Schriftstellerfigur – der Literarisierung durchaus nahe – zeichnet, die bereits seinem eigenen, zwei Jahre später eintreffenden Untergang entgegengeht, jedoch vermutlich auch, weil sich darin die Vorstellung, die sich die lesende Welt gern von Joseph Roth in dieser seiner letzten Lebensphase macht, verdichtet findet. Zu diesem Bild passt auch die Tatsache, dass Roth über Irmgard Keun nichts Vergleichbares hinterlassen hat: Erinnerungen kamen verständlicherweise nicht in Frage, auch aus Briefen sind bisher keine Aussagen über die junge Freundin überliefert, einige wenige, nicht gerade schmeichelhafte, differenzierte oder einfühlsame Äußerungen Roths findet man etwa in den Erinnerungen Géza von Cziffras und Arthur Koestlers.3 Die Eckdaten der Beziehung Keun-Roth sind hinlänglich bekannt: Im Sommer 1936 werden sie durch Vermittlung der Kischs einander in Ostende 1

2

3

Irmgard Keun: Bilder aus der Emigration. In: Dies.: Wenn wir alle gut wären. Hg. und mit einem Nachw. von Wilhelm Unger. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1983, S. 146f. Vgl. etwa die Biographien Keuns und Roths: Hildrud Hänzschel: Irmgard Keun. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 67. Gabriele Kreis: »Was man glaubt, gibt es«. Das Leben der Irmgard Keun. Zürich: Arche 1991, S. 179f.; Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 451. Vgl. Häntzschel, Keun (wie Anm. 2), S. 69 und David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 472.

154

Neva Šlibar

vorgestellt4 und bald darauf leben sie, die einunddreißigjährige Erfolgsschriftstellerin und der allseits geschätzte zweiundvierzigjährige österreichische Journalist und Romancier gemeinsam im Hotel de la Couronne. Roth war aus seiner zentralen Exilstadt Paris gekommen, wo er kurz davor mit Andrea Manga Bell Schluss gemacht hatte. Ein paar Monate davor, am 4. Mai 1936 hatte Irmgard Keun Deutschland verlassen, und war »[o]hne besonderen Grund«,5 eher aus Nostalgie, nach Ostende gefahren, wo sich dann, im Laufe des Sommers, eine kleine Gruppe deutscher Schriftsteller einfand. Ab Spätherbst 1936 und den Großteil des Jahres 1937 verbringt das Paar auf Reisen: wiederholt Brüssel, Amsterdam, Zürich und Paris, aber auch Wien, Polen, wo sich Roth auf Vortragsreise befindet und seine Verwandten besucht, und Salzburg. Der Sommer wird wieder in Ostende verbracht, im Januar 1938 verlässt Irmgard Keun Roth und geht nach Nizza. Im Mai 1939, einige Tage nach Ernst Tollers Freitod in New York, stirbt Joseph Roth in Paris; erschüttert schreibt sie, die seinen Tod als »indirekten Selbstmord«6 bezeichnet, zum Abschied ein bei weitem nicht innovatives Gedicht mit den Zeilen: Die Trauer, Freund, macht meine Hände dumm, Wie soll ich aus dem schwarzen Blut der Grachten Kränze winden? Das Leid, mein Freund, macht meine Kehle stumm, Wo bist du, Freund, ich muß dich wiederfinden. […] Ich möchte einen Mantel weben aus dem Leid Einsamer Stunden, kann man Tote noch beschenken? Man kann nur dankbar sein für jede Stunde Zeit, Die Gott noch gibt, um liebend zu gedenken.7

Freunde und Biographen sind sich der Ambivalenz dieser Beziehung, die auch auf die Widersprüchlichkeit der beiden Persönlichkeiten zurückzuführen ist, von Beginn an bewusst: zum einen erscheint es unverständlich, was Irmgard Keun an diesem äußerlich und oft auch im Verhalten nicht einnehmenden, nicht gerade frauenfreundlichen8 und dem Tod bereits verschriebenen Alkoho4

5 6 7

8

Vgl. Irmgard Keun: Ich lebe in einem wilden Wirbel. Briefe an Arnold Strauss 1933 bis 1947. Hg. von Gabriele Kreis und Marjory S. Strauss. Düsseldorf: Claassen 1988, S. 186. Keun, Bilder aus der Emigration (wie Anm. 1), S. 129. Ebd., S. 149. Das Gedicht mit dem Titel Für Joseph Roth (Amsterdam) ist im Interview mit Klaus Antes abgedruckt: »Einmal ist genug« Irmgard Keun – über ihr Leben und Werk. Ein Gespräch mit Klaus Antes. In: Irmgard Keun: Nach Mitternacht. Mit Materialien. Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig: Klett 2003, S. 140–162, hier S. 152. Vgl. Reinhard Baumgart: Auferstehung und Tod des Joseph Roth. Drei Ansichten. München, Wien: Hanser 1991, hier S. 36: »Sein Verhältnis zu Frauen scheint gestört und verstört und durchaus nicht durchweg hellsichtig«. Eine etwas andere Sicht, nämlich, dass Roth den Frauen ihren Lebensgeist lasse, vertritt Nadine Gordimer. Vgl. Nadine Gordimer: Joseph Roth. Das Labyrinth des

Entgegengesetzte Fluchtbewegungen

155

liker fasziniert hat, zum anderen missbilligen Roths Freunde, die sich um seine Gesundheit bemühen, die Partnerschaft, weil sie Keuns Neigung zum Alkohol kennen. Eine fundierte Einschätzung der Art ihrer Beziehung – war es von beiden Seiten Liebe, eine enge Freundschaft oder eher eine Interessensgemeinschaft, ein verzweifeltes Aneinanderklammern zweier an den Zeit- und Lebensumständen geschundener Zeitgenossen, deren Auftrag das Schreiben war – muss ausbleiben, weil sich lediglich Keun, zeitlich unvermittelt, jedoch entsprechend verdeckt in den Briefen an Arnold Strauß und dann in den bereits erwähnten Erinnerungen und einigen wenigen Interviews9 dazu geäußert hat. Sie spricht von gegenseitigem Interesse, vom Zusammensein aus Angst vor dem Alleinsein, von Liebe ihrerseits und davon, dass Roth nur seine Frau und Manga Bell geliebt hätte.10 Wegen seiner Eifersucht (aber vermutlich auch wegen seines Alkoholismus und dessen gesundheitlichen Folgen) sei die Liaison »kein sonniges Beisammensein«11 gewesen. Trotzdem weht aus der komplizierten Beziehung und deren Beschreibung große Faszination mit dem Menschen Roth, auch Achtung für seine antifaschistische Haltung und Bewunderung für sein schriftstellerisches Werk: Wenn er nicht an seinem Roman arbeitete, schrieb er Artikel gegen den Nationalsozialismus. Ich kenne niemand, der so unerbittlich klar, so überzeugend stark, so leidenschaftlich kompromißlos darüber und dagegen schrieb wie Roth. Ich kenne niemand, der so erbarmungslos auch die kleinste politische Schwäche prominenter und prominentester Emigranten entdeckte und so furcht- und rücksichtslos angriff. […] Ich kenne niemand, der so sauber und mutig Stellung nahm gegen jede Ungerechtigkeit – ganz gleich, wer sie beging, ganz gleich, wo sie begangen wurde. […] nie wieder einen Menschen, der weniger Rücksicht auf eigenen Schaden oder Nutzen nahm.12

II Das schriftstellerische Werk und nicht die zwischenmenschliche Situation steht hier im Mittelpunkt der Erörterung, denn die gemeinsame Zeit war für beide eine Zeit intensiver schriftstellerischer Produktion. In den vorliegenden Ausführungen dient der biographische Hintergrund der Beziehung als Vergleichsbasis der literarischen Produktion, denn es soll untersucht werden, wie

9 10

11 12

Reiches und des Exils. In: Dies.: Schreiben und Sein. Essays. Berlin: Berlin Verlag 1995, S. 21–36, hier S. 24. Vgl. ebd. Vgl. Sternburg, Roth (wie Anm. 2), S. 451–454 und David Bronsens Interviewnotizen, gedruckt in: Heinz Lunzer/Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth 1894–1939. Wien: Dokumentationsstelle für Österr. Literatur 1994, S. 116–123. Ebd., S. 118. Hier zitiert David Bronsen Irmgard Keun. Keun, Bilder aus der Emigration (wie Anm. 1), S. 148. Vgl. auch das ausführliche Zitat weiter unten.

156

Neva Šlibar

beide fiktional und ästhetisch auf die gleiche historische und lebensweltliche Situation, auf ähnliche Problematiken reagiert haben und ob sich in bestimmten Facetten ein Austausch eruieren lässt. Im Mittelpunkt steht folglich die Untersuchung der Exilerfahrung und deren unterschiedliche Vertextung: paradigmatisch bestätigt sich an der jungen deutschen Autorin und dem österreichischen Schriftsteller der in der Exilforschung etablierte Befund, Frauen hätten sich in ihren Werken durchaus mit der Exilsituation auch thematisch auseinander gesetzt und sie in ihre Texte einfließen lassen, während ihre männlichen Kollegen in ihren Werken die Flucht in die Historie,13 den Mythos und in Dystopien angetreten hätten. Die Gegenüberstellung der Produktion in diesem Zeitabschnitt suggeriert jedoch auch einige Querverbindungen und mögliche gegenseitige Einflussnahmen, die nicht unerwähnt bleiben sollen. In den bereits mehrfach zitierten Bildern aus der Emigration beschreibt Irmgard Keun sowohl die unterschiedliche und geschlechtsspezifische Reaktionen auf das Exil wie sie auf die ›Flucht‹ in den Mythos eingeht. Zwar beschreibt sie die Paarkonstellation nicht anhand eines Schriftstellerehepaars, sondern es handelt sich um einen in armen Verhältnissen lebenden Berliner Arzt und seine jüngere Frau. In Belgien darf er nicht praktizieren und er nimmt deshalb eine Stellung in einer Fischhandlung an. »Er fühlt sich alt und müde und im tiefsten verstört und unfähig, zu begreifen, was mit ihm geschehen war. […] Materielle Not und sozialer Abstieg demütigten ihn bis zur Verzweiflung«.14 Sie hingegen wird gezeichnet als tapfer, mit einer gesunden, ursprünglichen Lust am Leben. Sie besaß in sich die Möglichkeiten, um auch unter schwierigsten Umständen einen Weg für sich zu finden. Sie war fleißig, praktisch, geschickt auf hunderterlei Art und ausgerüstet mit allen Erfahrungen einer erbarmungslosen harten Jugend. Keinerlei Armut hätte ihr den Mut nehmen können, wohl aber wurde er allmählich zerstört durch die täglichen und nächtlichen Selbstmordgespräche des Mannes […] Eigentlich gefiel ihr das Neue und Fremde mit all seinen Unsicherheiten und dunklen Rätseln.15

Bekanntlich meisterten Frauen (trotz gegenteiliger Darstellung in den wenigen Texten von Autoren über den Exilalltag wie etwa in Lion Feuchtwangers Exil) diesen in der Wirklichkeit und in der Regel viel besser als Männer, sie sicherten durch ihre Flexibilität, ihren Einfallsreichtum und ihre Anpassungsfähigkeit häufig die familiäre Existenz. Die beiden berühmtesten Exilantinnen der deutschsprachigen Literatur, Anna Seghers und Erika Mann, stellten in ihren Beobachtungen aus der Exilzeit schon sehr früh diesen spezifischen, essentiellen Beitrag von Frauen für das Überleben der Familien heraus.16 Die Exilfor13 14 15 16

Ausführlich darüber v. a. Hans Dahlke: Geschichtsroman und Literaturkritik im Exil. Berlin, Weimar: Aufbau 1976. Ebd., S. 138. Ebd. Vgl. Erika Mann: Frauen im Exil. In: Dies.: Blitze überm Ozean. Aufsätze, Reden, Reportagen. Hg. von Irmela von der Lühe und Uwe Naumann. Reinbek bei Ham-

Entgegengesetzte Fluchtbewegungen

157

schung hingegen brauchte sehr lange bis sie sich, ab der neunziger Jahre nun verstärkt, des Geschlechterparadigmas auch für die von ihr untersuchte Zeit annahm, und nicht nur eine Reihe von relevanten Einsichten formulierte, sondern zum einen auch Texte entdeckte, die Autorinnen über jene Zeit geschrieben hatten, und zum anderen sie wiederentdeckte, weil ihr Schreiben durch ungünstige Veröffentlichungs- und Rezeptionsbedingungen nicht beachtet worden war.17 Diese Untersuchungen heben außerdem das Problematische bis hin zum Widersprüchlichen hervor, das aus dem veränderten Geschlechterverhältnis bzw. aus der Umkehr der Geschlechterrollen folgte und den Frauen sowie ihrer Emanzipation nicht zum Vorteil gereichte, weil sich das Geschlechterverständnis trotz veränderter Lebensbedingungen kaum wandelte.18 Darauf wird im Folgenden eher am Rande einzugehen sein, wichtiger erscheint die damit verbundene Thematisierung des Exilalltags: In den vielen dokumentarischen und autobiographischen Exiltexten [von Autorinnen] ist von der konkreten Bewältigung des Alltags im Exil an ungezählten Stellen die Rede – in einem Maße übrigens, das seine Mißachtung durch die Exilforschung gegenüber dem Alltag im Exil zu erkennen gibt,19

stellt Heike Klapdor fest. Zu ergänzen ist ihr Befund auch mit fiktionalen Texten von Frauen, in denen, wie im Werk Irmgard Keuns, Leben und Schreiben eng miteinander verflochten sind.20

17

18

19 20

burg: Rowohlt 2001. Zitiert wird hier immer wieder ihr Aufsatz Business and Professional Women in Exile (S. 167–175). Anna Seghers: Frauen und Kinder in der Emigration. In: Anna Seghers. Wieland Herzfelde. Ein Briefwechsel. Berlin, Weimar: Aufbau 1985, S. 112–126. Vgl. etwa die Darstellung von Elsbeth Wolffheim: Schwerpunkt der deutschen Exilforschung im Rückblick. In: Zwischen Aufbruch und Verfolgung. Künstlerinnen der zwanziger und dreißiger Jahre. Hg. von Denny Hirschbach und Sonia Nowoselsky. Bremen: Zeichen+Spuren Frauenliteraturverlag 1993, S. 30–38. Ein eklatantes Beispiel ist Veza Canetti, vor allem mit ihrem Roman Die Schildkröten. Heike Klapdor kritisiert etwa »Anna Seghers’ Bild von der einfachen, gütigen, mütterlichen, starken Frau«, weil es vereinfachend, weil es »unhistorisch, universal, unabänderlich« ist und sie führt weiter aus: »Im unhistorisch und naturhaft definierten Begriff von der Frau, vom Weiblichen ist die Überlebensstrategie Teil des weiblichen Lebensentwurfs.« Heike Klapdor: Überlebensstrategie statt Lebensentwurf. Frauen in der Emigration. In: Hirschbach/Nowoselsky (Hg.), Zwischen Aufbruch und Verfolgung (wie Anm. 17), S. 15–29, hier S. 29. Ebd., hier S. 20. Von der Konzentration auf die Domäne des Alltags im Leben wie im Schreiben der Frauen im Exil ist bereits bei Gabriele Kreis 1984 die Rede. (Vgl. Gabriele Kreis: Frauen im Exil: Dichtung und Wirklichkeit. Düsseldorf: Claassen 1984.) Irmela von der Lühe prägt dann den in der Wertung oszillierenden Begriff »Alltagspoetik«. (Vgl. Irmela von der Lühe: »Und der Mann war oft eine schwere, undankbare Last«: Frauen im Exil – Frauen in der Exilforschung. In: Exilforschung 1996, S. 44–62.) Kreis und Lühe sahen darin eine konservative Wende für die Emanzipation der Frauen.

158

Neva Šlibar

Die oben angeführte These erscheint umso plausibler, als sich Keun selbst über die Schwierigkeit, im Exil zu schreiben, Gedanken gemacht hat, worauf in den vorliegenden Ausführungen noch einzugehen sein wird.

III Aus der Parallelisierung der Produktion beider AutorInnen entsteht folgendes Bild: Joseph Roth arbeitet intensiv, regelmäßig und konzentriert – bekannt sind auch Keuns Beschreibungen seines ›Büros‹ im Café an der Place d´armes. Er ist der produktivere der Beiden, verfasst bzw. redigiert in dieser Zeit nicht nur vier Romane und einige Erzählungen, sondern hält auch Vorträge und schreibt einige Artikel. Als sie sich kennenlernen, arbeitet Roth an den Korrekturen seines Textes Beichte eines Mörders und beginnt zugleich andere Romanprojekte, Keun hingegen dürfte bereits ein halbes Jahr an ihrem Roman Nach Mitternacht geschrieben haben, denn obwohl ihren Briefberichten über Schreibprojekte an Arnold Strauss nicht vorbehaltlos Glauben zu schenken ist – bei einigen, vor allem für Zeitungen, gibt es keinen Beleg für ihre Fertigstellung und Publikation –,21 ist anzunehmen, dass sie tatsächlich bereits Ende 1935 Konzepte dafür entwarf. Während sich die Buchpublikation wegen des Rückziehers des Verlegers einige Monate verzögert, gibt es auf den Vorabdruck in der Pariser Zeitung sofort positive Stimmen. Im Bronsen-Interview vom Jahr 1961 habe sie anscheinend behauptet: »Sie traf sich mit Roth erstmalig in Ostende. Er schrieb damals ›1002. Nacht‹ und sie schrieb an ›Kind aller Länder‹ worin Züge von Roth enthalten sind«.22 Diese ›Erinnerung‹ ist nicht ganz verständlich, jedenfalls entsteht in der Forschung ein etwas anderes Bild; freilich könnte es sich um eine von Keuns eigenwilligen autobiographischen Deutungen handeln oder aber sie begann sich schon 1936 mit dem späteren Buchprojekt auseinander zu setzen. Im Roth-Reisejahr 1937 veröffentlicht Keun kein weiteres Buch, dürfte aber am D-Zug dritter Klasse laboriert haben, da das Buch dann im April 1938, nach der Trennung von Roth erscheint. Im selben Jahr, im Herbst, wird Keuns letztes Exilbuch, Kind aller Länder veröffentlicht, wohin bereits der zweimonatige Amerikaaufenthalt im Frühsommer 1938 Eingang findet, aber auch viele Erlebnisse aus Ostende und von ihren Roth-Reisen. Etwas komplizierter ist Roths Schaffensprozess in dieser Zeit, da er zugleich an mehreren Romanen arbeiten dürfte: Im Sommer, Herbst und Winter schreibt Roth am Roman Das falsche Gewicht, der dann im Frühjahr 1937 erscheint. Die Niederschrift und 21 22

Vgl. Keun, Briefe (wie Anm. 4), etwa S. 178. Bronsen, Lunzer (wie Anm. 10), S. 116. Die einzigen Parallelen zwischen Kullys Vater und Roth in »Kind aller Länder« lassen sich im Alkoholismus, in der Unfähigkeit, mit Geld umzugehen und der daraus folgenden ständigen Geldnot sowie im bohèmehaften nomadischen Lebensstil ausmachen.

Entgegengesetzte Fluchtbewegungen

159

Veröffentlichung von Die Geschichte von der 1002. Nacht zieht sich über drei Jahre, von 1936 bis 1939. Das Buch erscheint erst 1939, posthum, ebenso wie Die Legende vom heiligen Trinker, die Roth einige Wochen vor seinem Tod fertig stellt. Arbeit an der Kapuzinergruft ist im Dezember 1936 belegt, während Roths Wien-Aufenthalt; sie wird 1937 fortgesetzt, der Roman kann dann im Spätherbst 1938 veröffentlicht werden. Im Oktober 1936 erscheint der einzige Zeitungsbeitrag jenes Jahres mit dem Titel Statt eines Artikels und dieser enthält auch eine Begründung für Roths journalistische Abstinenz, die in die Schlussformel »In trauriger Resignation«23 mündet. 1937 veröffentlicht er auf Polnisch den Text Die vertriebene deutsche Literatur,24 in der ebenfalls von der materiellen Aussichtslosigkeit und politischen Wirkungslosigkeit der vertriebenen Literaten die Rede ist, während in Aus dem Tagebuch eines Schriftstellers Roths These von der Unvergleichbarkeit der damaligen Exilsituation entfaltet wird: »daß diese Emigration sich von allen anderen dadurch unterscheidet, daß die Literatur nicht nur körperlich, sondern auch geistig aus ihrer Heimat verbannt ist«.25 Im nicht veröffentlichten, mehrteiligen Essay Emigration aus demselben Jahr wird neben diesem Gedanken die Ansicht vertreten, der Antisemitismus sei das wirkungsvollste Propagandamittel des Dritten Reiches und Hitler befinde sich letztlich auf einem Kreuzzug gegen das Kreuz, also die Christen.26 Besonders lesenswert erscheint für GermanistInnen der im März 1938 erschienene Artikel Der Mythos von der deutschen Seele, in dem Roth die Romantisierung Nazideutschlands durch westliche Politiker und Diplomaten anprangert, »und in der Tat sind nicht wenige Germanisten von Beruf«.27

IV Die Gegenüberstellung mündet in der weiters nicht verwunderlichen Feststellung, dass wir es mit zwei sehr unterschiedlichen Reaktionen auf die Exilsituation zu tun haben: zum einen Irmgard Keun, die ihr Genre, den Zeit- oder Gegenwartsroman weiter entfaltet und diesen um Facetten erweitert bzw. intensiviert, zum anderen Joseph Roth, der das Exilantentum in seinen Artikeln und Essays anspricht, während seine Romane dieser Zeit in eine, manchmal mythisch anmutende Vergangenheit der Habsburger Monarchie zurückgehen. Irmgard Keun beschrieb dies folgendermaßen: 23

24 25 26 27

Joseph Roth: Statt eines Artikels. In: Ders.: Die Filiale der Hölle auf Erden. Schriften aus der Emigration. Hg. und mit einem Vorw. von Helmut Peschina. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003, S. 86–90, hier S. 90. Ebd., S. 91–95. Ebd., S. 96–101, hier S. 103. Ebd., S. 102–115. Ebd., S. 116–120, hier S. 117.

160

Neva Šlibar

Er schrieb an einem Roman aus dem alten Österreich. Wie viele seiner Bücher war auch dieses Buch von einer stilistischen Abgeklärtheit, mit halb gestorbenen, dunkel bewegten Menschen – lebendigen Schatten oder schattenhaft Lebendigen im erbarmungslosen Licht unerbittlicher Wahrheiten. Und über allem die zum Eis erstarrte Luft letzter Hoffnungslosigkeit, die noch hinter der Verzweiflung liegt. In seinen Büchern versenkte Roth sich gern in die Welt der alten österreichischen Monarchie – in eine Welt, von der er mit verzweifelter Anstrengung und Inbrunst glauben wollte, daß sie ihm – zumindest früher einmal – Heimat des Denkens und des Fühlens war. Doch er wusste, dass er ewig heimatlos war und sein würde. Alles, was seinem Wesen nahe kam – Menschen, Dinge, Ideen –, erkannte er bis in die verborgenste Unzulänglichkeit hinein und bis in jene Kälte, die auch den lebendigsten wärmsten Atem einmal erstarren macht. So suchte er denn nach Welten, die ihm wesensfremd waren und von denen er hoffte, daß sie ihm unerkennbarer und wärmend bleiben würden. Doch was seiner rastlos schaffenden Phantasie gelang, zerstörte ihm immer wieder sein bitterböser unerbittlicher Verstand. Er hätte den Teufel gesegnet und Gott genannt, wenn er ihm geholfen hätte, an ihn zu glauben. Zuweilen sah er sich selbst in geisterhaft leerem Raum zwischen Rationalismus und Mystik, gelöst von der Wirklichkeit und das Unerreichbare nicht erreichend und wissend dabei, daß es nicht zu erreichen war. Er war gequält und wollte sich selbst los werden und unter allen Umständen etwas sein, was er nicht war. Bis zur Erschöpfung spielte er zuweilen die Rolle eines von ihm erfundenen Menschen, der Eigenschaften und Empfindungen in sich barg, die er nicht hatte. Es gelang ihm nicht, an seine Rolle zu glauben, doch er empfand flüchtige Genugtuung und Trost, wenn er andere daran glauben machen konnte. Seine eigene Persönlichkeit war viel zu stark, um nicht immer wieder das erfundenen Schattenwesen zu durchtränken, und so empfand er sich manchmal als ein seltsames Gemisch von Dichtung und Wahrheit, das ihn selbst manchmal zu einem etwas erschrockenen Lachen reizte.28

Diese Stelle wurde in aller Ausführlichkeit zitiert, weil sie die sowohl für Keun wie für Roth typische Verklammerung von Faktischem und Fiktionalem, von Erfahrungs- und Dichtungswelt, von Biographie und literarischer Umgestaltung enthält. Die Fiktionalisierung des Faktischen oder die Fiktionen des Faktischen, wie Ingeborg Wirtz das Ineinandergreifen der beiden Bereiche im Feuilleton Joseph Roths nennt,29 operiert auf unterschiedliche Weise: Irmgard Keun spannt das hautnah Erlebte, Erfahrene und Erzählte – Nazideutschland und dann das Exil – in kunstvoller Reduktion, Verfremdung und Figurenauffächerung in gleichsam filmische Bilder einer nachvollziehbaren Gegenwart, die das Existenzial des Exilanten bzw. des gefährdeten Außenseiters in seiner Alltagsgegenwärtigkeit erfahrbar macht. Heimatverlust und Heimatlosigkeit, Einsamkeit, Desorientierung, Prestigeverlust und nicht zuletzt die immer be28 29

Keun, Bilder aus der Emigration (wie Anm. 1), S. 147f. Vgl. Irmgard Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen: das Feuilleton der zwanziger Jahre und »Die Geschichte von 1002. Nacht« im historischen Kontext. Berlin: Erich Schmidt 1997, s. etwa S. 289: »Das Feuilleton kann wie ein Sachtext auf die aussersprachliche Wirklichkeit referieren und gleichzeitig wie Kurzprosa ganz selbstreferentiell und polyvalent eine imaginäre Gegenwelt zur äußeren Wirklichkeit entwerfen«.

Entgegengesetzte Fluchtbewegungen

161

drängender werdenden Geldsorgen, den Kampf um die notwendigen Papiere, die Kränkungen, die dem Nicht-Heimischen zugefügt werden, scheinen in der Figurenzeichnung Keuns durch ebenso wie in ihrer Handlungsführung, sie schlagen sich nieder in einer subtilen, obgleich nicht immer gleich gelungenen (vgl. D-Zug dritter Klasse) Gratwanderung zwischen Satire und Sentimentalität, an der Perspektivenwahl und Fokalisation ablesbar, zwischen Banalität und Katastrophe. Die Wirklichkeit als Alltagserfahrung in der Gewaltgeschichte wird fiktional gedoppelt und dadurch sichtbar gemacht; zugleich funktioniert die (selbst)ironische Fiktionalisierung als Distanzgarantie und Schutzmechanismus. Ganz anders bei Roth: die Doppelung entzieht sich der oberflächlichen Erfahrungsparallelität und der Alltagsdarstellung, sie sucht nach bewährtem Muster, nicht nur bei Roth, sondern wie die Exilforschung bereits sehr früh feststellen konnte, bei zahlreichen anderen deutschsprachigen Autoren, Fremdheit und Distanz bereits durch die dargestellte Welt zu erreichen, die dann auf der Symbolebene mit der Gegenwart verklammert wird. Während Keun eindringliche Bilder und ›Geschichten‹ findet, um das Gegenwärtige zu vergegenwärtigen, entrückt Roth sogar die Gegenwart – wir finden sie z. T. in der Beichte, der Kapuzinergruft und der Legende – durch die Genrewahl und den altertümelnden, dem Erzählen des 19. Jahrhunderts verpflichteten Stil in eine märchenhaft-mythische Vergangenheit, wodurch das Grauen nicht gemildert, sondern intensiviert wird. Den Konnex zur Erfahrungswirklichkeit herzustellen ist den Lesenden selbst vorbehalten. Wie stark die Thematik der Heimatlosigkeit, Desorientierung und des Identitätsverlusts, die skizzierten Untergangsstimmungen und das Lebensgefühl der Figuren – des Eichmeisters, Trottas und eines Baron Taittinger – aus dieser Schaffensperiode Roths der Exilsituation verpflichtet sind, hat die Exilforschung auch an den Werken einer Reihe anderer Autoren seit den siebziger Jahren nachgezeichnet. Auch wenn die Tatsache berücksichtigt wird, dass jedes schriftstellernde Temperament anders auf Grenzsituationen reagiert, wie sie im Exil wohl täglich zu bewältigen waren, stellt sich dem heutigen professionell Lesenden jene Frage, die sich Irmgard Keun bereits im Spätherbst 1936, nach der Fertigstellung ihres besten, bis heute in seiner Wirkung stärksten Romans Nach Mitternacht, gestellt haben dürfte und die 1947 in ihren Bildern aus der Emigration in folgende Überlegungen münden: Noch verband mich mein Buch, an dem ich schrieb, mit dem Leben in Deutschland. Bald würde es fertig sein. Und dann? Was würde ich dann schreiben? Es hatte mich immer gequält, wenn nicht der Plan zu einer neuen Arbeit in mir drängte, noch ehe die Arbeit beendet war. Was ich über das nationalsozialistische Deutschland, so wie ich es kannte, zu schreiben hatte, hatte ich geschrieben. Noch einen Roman konnte ich nicht darüber schreiben. Von nun kannte ich es ja auch nicht mehr aus eigenem Erleben.30 30

Keun, Bilder aus der Emigration (wie Anm. 1), S. 153.

162

Neva Šlibar

Mit Ausnahme von Anna Seghers und ihrem ikonischem, später publizierten KZ-Lager- und Nazideutschlandroman Das siebte Kreuz und Arnold Zweig mit seinem Das Beil von Wandsbek dürften sich so manche deutsch schreibende Schriftsteller zu jener Zeit ähnliche Gedanken gemacht haben, denn die Gegenwartsromane, die Romane, die sich mit der verlassenen Heimat befassen und den darin geschehenden Gräueln, gehören in der Regel der ersten Exilphase an. Keuns Nach Mitternacht gilt als ihr bestes Buch: es ist eine eindringliche Ich-Erzählung aus der Sicht einer kleinbürgerlichen Neunzehnjährigen, deren verfremdender, weil politisch unbedarfter Blick ›Furcht und Elend‹ der frühen nationalsozialistischen Herrschaft und ihres Alltags in oft erschütternden, starken Bildern, wie dem des Führerbesuchs und dem tödlichen Reihendurchbrechen der kleinen Bertchen, der Denunziation ihrer eigenen Tante u. v. m. gezeichnet wird. Das große Figurenensemble, die Unterschiedlichkeit der Schauplätze, von privaten bis zu öffentlichen, ermöglichen ein breites Panorama: Keuns Aussage, in diesem Roman sei etwas von Roth, dürfte sich auf die Figur des vierzigjährigen, die politische Situation luzide beurteilenden Journalisten Heini beziehen und eben nicht auf den Schriftstellerbruder Algin, der sich dem Regime und seinen Erwartungen anzupassen versucht. Ebenso wie Veza Canettis 1938 geschriebener Roman Die Schildkröten endet der Roman Keuns mit einer hoffnungsvollen Note, der gelungenen Flucht mit der Bahn ins Exil.

V Diese Motivik der Bahnfahrt und des Grenzübergangs stellt dann Keuns schwächster31 Roman D-Zug dritter Klasse in den Mittelpunkt: er ist buchstäblich der Übergang zwischen dem gelungenen Deutschlandroman und dem Exilbuch Kind aller Länder. Meiner Ansicht nach handelt es sich auch um denjenigen Roman, der Roth, wenn es überhaupt Sinn macht bei zwei so eigenen Autorenpersönlichkeiten von ›Einfluss‹ zu reden, am stärksten ›verpflichtet‹ ist. Es handelt sich innerhalb des Schaffens Irmgard Keuns um das im Ton deprimierendste und resignativste Buch, vor allem, weil die Protagonistin nicht mehr ein mutiges ›Girlie‹ ist, das sich den Herausforderungen des Lebens und der Zeit – gerade wenn sie, wie in Nach Mitternacht bereits von der nationalsozialistischen Willkür geprägt ist – stellt, sondern eine in ihrer kitschigen Vorstellungswelt und in Abhängigkeit von drei Männern lebende fremdbe31

Der negativen Rezeption dieses Romans, die bereits nach seiner Veröffentlichung einsetzte, wird in den meisten Arbeiten darüber viel Platz eingeräumt, vgl. u. a. Bernhard Spies: D-Zug dritter Klasse, oder »[…] es ist das Recht des Unglücklichen, sich trösten zu lassen«. In: Irmgard Keun 1905/2005. Deutungen und Dokumente. Hg. von Stefanie Arend und Ariane Martin. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 183–204, hier S. 183–185.

Entgegengesetzte Fluchtbewegungen

163

stimmte junge Frau. Die scheinbare ›femme fragile‹, die zwar durchaus fähig ist, über Männer ihr Überleben zu sichern, könnte »das Bild einer konservativen Kehrtwende im Werk der früher progressiven und experimentierfreudigen«32 Autorinnen signalisieren, darunter auch Irmgard Keun. Um die These zu erhärten, dass dem nicht so sei, dass »die These der so genannten konservativen Kehrtwende, sondern auch das Urteil der ›Alltagspoetik‹ von Exilschriftstellerinnen«33 nicht zutreffe, wählt Barbara Drescher Keuns signifikanterweise Nach Mitternacht und nicht D-Zug dritter Klasse. Ausgehend von ihrer These und auf der Basis von Gesche Blumes Argumentation, Keuns Romane inszenierten auf verschiedene Weise die »romantische Liebe als dysfunktionalen Diskurs«34 führt der zweite Exilroman Keuns die Dekonstruktion dieser Liebe vor oder stellt wie Blume weiter konstatiert, in der Konstellation Lenchen und Karl eine Karikatur auf die »deutsche Frau« und deren Unterdrückung dar.35 Blume zieht auch eine biographische Parallele: Was sich Nach Mitternacht erstmalig konkret und in monochromer Manier herauszuschälen beginnt, nämlich die Erfindung eines Gefühls, die Konstruktion einer Liebe nach den Mustern internalisierter Topoi – setzt die Autorin auch in ihrem Folgeroman D-Zug dritter Klasse fort – das Experiment mißlingt jedoch auf weite Strecken, weil Keun sich nicht für eine eindeutige Perspektivierung entscheidet. Schon allein aufgrund der Figurenzeichnung spiegelt die Beziehung zwischen Lenchen und Karl Bornwasser mitnichten die Liebesbeziehung zwischen Irmgard Keun und Joseph Roth wider. Allenfalls als eine Parodie oder eine einseitige Überzeichnung ihrer negativen Aspekte könnte man diesen Interpretationsansatz gelten lassen. Keuns Amalgamierung einer psychologischen Figurenskizze mit einer Karikatur ist allerdings ein erzähltechnischer Fauxpas.

Obwohl Blumes Urteil sehr harsch ausfällt, ist ihm zumindest dort zuzustimmen, wo es auf Keun und Roth hinweist: gerade auf dem biographischen Hintergrund, wo es oberflächliche Übereinstimmungen gibt – der charmante, jedoch unberechenbare und Angst einflößende Trinker Karl36 und das zwischen drei Männern, wie zu jener Zeit Irmgard Keun (ihrem Mann Tralow, Arnold Strauß und Joseph Roth), lavierende Lenchen –, wirkt die extreme Verkürzung 32

33 34 35 36

Barbara Drescher: Junge »Girl«-Autorinnen im Exil: Emanzipation oder Ende der »Neuen Frau« aufgrund der antifaschistischen Literaturpolitik nach 1933? In: Gender – Exil – Schreiben. Hg. von Julia Schöll, mit einem Vorwort von Guy Stern. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 129–145, hier S. 131. Ebd., S. 132. Gesche Blume: Irmgard Keun. Schreiben im Spiel mit der Moderne. Dresden: Thelem bei w.e.b. 2005, S. 145. Vgl. ebd., S. 158, Anmerkung 56. Vgl. die unzulässig verkürzte Aussage von Kreis: »›Karl‹ war für Irmgard Keun seit 1936 Joseph Roth«. Gabriele Kreis: »Schreiben aus eigener Erfahrung …« Drei Schriftstellerinnen im Exil: Lili Körber, Irmgard Keun, Adrienne Thomas. In: Hirschbach/Nowoselsky (Hg.), Zwischen Aufbruch und Verfolgung (wie Anm. 17), S. 65–80, hier S. 76.

164

Neva Šlibar

der Figuren irritierend. Es wird der Eindruck vermittelt, als habe Keun sich selbst und Roth auf ihre Schwachpunkte reduziert, um sich durch diese Entblößung auf bestimmte negative Persönlichkeitsanteile einen Zerrspiegel vorzuhalten. Beide, Lenchen und Karl, aber auch so mancher andere Passagier in jenem Coupé des D-Zugs, führen vor, was es heißt, eingehüllt in eine Phantasiewelt aus Wünschen und falscher Selbsteinschätzung an der Realität vorbei zu leben, einer Gefahr, der Exilanten besonders ausgesetzt sein dürften. Literarische Topoi und märchenhafte Elemente prägen die Motivwelt des Romans stark; man kann zwar nicht von einer Rückkehr zu Mythischem sprechen, wie es bei Roth anzutreffen ist, aber auffallend sind die Unterschlagung konkreter Zeitbezüge und eine Enthistorisierung, die durch eine Aufhebung im Zeittranszendierenden wettgemacht zu werden trachtet. Dazu dient m. E. das an Chaucer, aber auch an Agatha Christie gemahnende Motiv der in einem Reisecoupé vereinten Schicksalsgemeinschaft, die mit grotesken Zügen gezeichnet wird, wobei folgerichtig gerade die Verrückte, Lenchens bizarre Tante Camilla, die an ihren Macken unverrückbar festhält, den Sieg, das geschmuggelte Geld, davonträgt. Das an zentralen Stellen wiederkehrende Bild des Weihnachtsengels oder anderer Märchenfiguren, mit dem sich Lenchen in ihren Wunschträumen identifiziert und das sie nicht nur als schwache Frau, sondern auch als sich selbst zum Kind reduzierende Figur zeigt, sowie ihre ›Utopie‹ der heilen Weihnachtswelt wird mit Kitsch gleichgesetzt und gleich mehrfach zerschrieben.37 Die durchgehende satirische Verfremdung, die, wie bei ihren drei ersten Büchern auch über die verengte Figurenperspektive läuft, wird hier beibehalten, die Erwählweise schaltet indes auf die dritte Person um, was, wie einige Interpreten meinen, dem Buch zum Nachteil gereicht. Bernhard Spies versucht in seinem überzeugenden und interessanten Aufsatz eine Rehabilitation des Romans unter anderem auf der Basis der These des schwer zu vereinbarenden Paradoxons von satirischer Distanzierung und affirmativer Sentimentalität. In einer differenzierten Analyse führt Spies aus: Es sind stets die gleichen Inhalte (Gewohnheiten moralischen Urteilens, Lebenspläne von Personen, Methoden, mit deren Scheitern kompensatorisch umzugehen), die in D-Zug dritter Klasse einmal satirisch-distanziert als Objekt der Kritik, einmal mehr oder minder verständnisvoll als eine dieser bestimmten Person unumgängliche menschlich psychologische Bedürfnislage geschildert werden. […] Durch diesen Wechsel der Auffassungs- und Darstellungsperspektive erscheinen diejenigen Figuren, die überhaupt ein plastisches Profil erhalten – also vor allem Lenchen –, als gemischte Charaktere; […] Das unweigerlich sich einstellende Pathos der Identifikation mit dem gutmeinenden Mädchen, dem die Welt so übel mitspielt, wird periodisch gebrochen durch die satirische Distanzierung, vor allem durch die Aufdeckung, dass an den üblen Spielen die Betroffene aktiv beteiligt ist; damit wird die junge Frau 37

Vgl. Irmgard Keun: D-Zug dritter Klasse. Düsseldorf: Claassen 1983, S. 16–18, (Lenchen sieht sich als Märchenprinzessin in weißen wallenden Gewändern), S. 26 (Kindermärchenbuch), S. 36, 47 (Prinzessin auf der Erbse), S. 75, 96, 109, 112, 131, 134.

Entgegengesetzte Fluchtbewegungen

165

aber keineswegs dem Verlachen preisgegeben, sondern zum Medium eines indirekten, invertierten Pathos der Desillusioniertheit. […] Vom Anspruch eines Rechts auf das Lebensglück der Liebe bleibt, nachdem eingeräumt und anerkannt ist, dass gerade Liebe mit diesem illusionären Anspruch nur einen weiteren Beitrag zum Unglück leisten kann, das Bewußtsein eines in der Bedürftigkeit des Individuums liegenden unverzichtbaren Rechts.38

Der Widerspruch in Intention, Inhalt und Figurenzeichnung kann kompositorisch und erzähltechnisch nicht überzeugend gelöst werden, auch nicht durch die Einführung eines Er-Erzählers,39 meint Spies. Dennoch zeigt er auch anhand der Werke von Horváth und Seghers die Bedeutsamkeit, gerade zur Zeit des Nationalsozialismus das Paradoxon von der Unmöglichkeit und zugleich Unverzichtbarkeit einer privaten Glücksperspektive zu thematisieren, dem individuellen Recht »als sentimentales Dennoch«.40 Ob die Entscheidung für einen geminderten Zeitbezug, für die Er-Erzählung, für die Wahl bestimmter Motive und für eine höhere Allgemeingültigkeit doch auf die Auseinandersetzung mit dem Schreiben Roths zurückzuführen ist, kann nur spekuliert werden. Was jedoch im Keun-Roth Vergleich stutzig macht, ist die Tatsache, dass Roth zur gleichen Zeit in Kapuzinergruft Keuns beliebteste Erzählperspektive der ersten Person einsetzt und sich ihrer Forderung nach einem Zeitroman insofern stellt, als er darin zumindest die Vorgeschichte bis zum Anschluss an Hand des (Er)Lebens und der Sicht Franz Ferdinand Trottas nachzeichnet. Mögliche Querbezüge lassen sich in Roths weiblichem Figurenrepertoire aus dieser Zeit ausmachen, die aber genauso gut auf der Logik der Figurenkonstellationen in Kapuzinergruft, Die Geschichte von der1002. Nacht und Die Legende vom heiligen Trinker beruhen könnten und hier nur angedeutet werden. So können als Weiterführung und negative Auswirkungen der Frauenemanzipation sowie der »neuen Frau«, wie sie Keuns erste Romane schildern, Roths selbständige jüngere Frauen in der Kapuzinergruft gelten, wobei die Kunstgewerblerin Jolanth Szatmary gleichsam als Abschreckungsfigur fungiert, während Trottas Frau Elisabeth eine Mittelstellung einnimmt, denn sie versucht, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein, wird jedoch von der Schwiegermutter abgelehnt, vor allem auch weil sie nach Selbstverwirklichung strebt. An beidem scheitert sie wie alle anderen Figuren. In Die Geschichte von der 1002. Nacht haben wir es mit gleich zwei für sich selbst sorgenden Frauenfiguren und ihrem ›gewöhnlichen Leben‹ zu tun; sie suchen das Glück auf unterschiedliche Weise zu erringen, die naive Mizzi Schinagl durch die Liebe, die abgebrühte Bordellinhaberin Josephine Matzner durch Geld. Auf Mizzi ließe sich so manche Beobachtung münzen, die oben für Lenchen galt. Die Legende vom heiligen Trinker weist gleichfalls zwei gegensätzliche Frauentypen auf, des Protagonisten Andreas ehemalige Geliebte, mit 38 39 40

Spies, D-Zug (wie Anm. 31), S. 199. Vgl. ebd., S. 201. Ebd., S. 199.

166

Neva Šlibar

der er die Nächte durchzecht und die ihm das Geld aus der Tasche zieht und das Mädchen Therese, das er mit der Heiligen Therese von Lisieux gleichsetzt.

VI Die Exilzeit und der konkrete Zeitbezug, vor allem auf den Nationalsozialismus, bleiben, wie bereits eingangs angeführt, bei Roth in seinen fiktionalen Werken ausgeblendet. Diese findet indes gelegentlich, wenn auch selten, in ihrer Alltäglichkeit, im alltäglichen Existenzkampf, Eingang in seine journalistischen Beiträge, die auf einzelne politischen Veränderungen reagieren. Es ist naheliegend, diese Arbeits- und Aufgabenaufteilung geschlechtsspezifisch und vom unterschiedlichen Literaturverständnis her zu interpretieren. In diesem Sinne würden Roth und Keun jeweils die Trennung und die Verbindung von Leben und Schreiben bestätigen, eine These, die in derartiger Simplifizierung einer differenzierten Analyse nicht standhalten kann. Auf das bereits im Exil diskutierte Dilemma Zeitroman oder historischer Roman antwortet Irmgard Keun naturgemäß mit dem Optieren für den Zeitroman. In Bildern aus der Emigration heißt es in der Fortsetzung des bereits oben Zitierten: Was schrieben andere emigrierte Schriftsteller? Kesten schrieb einen Roman über Philipp II., Roth einen Roman über das alte Österreich, Zweig einen Roman über Erasmus von Rotterdam, Thomas Mann über »Lotte von Weimar«, Heinrich Mann über Henri IV., Feuchtwanger über Nero. Leonhard Frank hatte zuletzt den Roman »Traumgefährten« geschrieben, der jenseits aller Zeit und Wirklichkeit mit kostbarer Zartheit das gespensterhaft grausame und blumenhaft unmenschliche Leben in einem Irrenhaus schildert. Alle diese Schriftsteller hatten früher einmal die gegenwärtige Wirklichkeit in ihre Sprache übersetzt und ihr die Kritik geschrieben, die ihnen ihr Temperament und ihre Persönlichkeit diktierten. Die in Deutschland verbliebenen Schriftsteller mußten sich an der Wirklichkeit vorbeidrücken, die waren überhaupt praktisch überflüssig geworden. […] Aber die Schriftsteller draußen, die konnten doch schreiben, was und wie sie wollten. Warum schrieben sie auf einmal fast alle nur historische Romane? Gewiß, selbst die historischen Romane waren so, daß sie in Deutschland nicht hätten geschrieben werden können, und manche von ihnen werden einmal zum Wertvollsten moderner deutscher Literatur gehören. Wo aber blieb die große Schilderung gegenwärtiger Wirklichkeit?41

Auf die von sich selbst gestellte Herausforderung antwortete Keun mit einem Exilroman, den sie selbst vermutlich nicht als »die große Schilderung gegenwärtiger Wirklichkeit« bezeichnet hätte, denn darin wird das Prekäre des Schreibens über die Exilsituation, die sie selbst problematisiert, gelöst, indem 41

Keun, Bilder aus der Emigration (wie Anm. 1), S. 153f.

Entgegengesetzte Fluchtbewegungen

167

der Exilalltag aus der Perspektive eines kleinen Mädchens geschildert wird. Die Kindersicht wird hier doppelt funktionalisiert: zum einen dient sie als traditionelles poetologisches Verfremdungsverfahren, als Sicht von unten, die so mancherlei in seiner grotesken Verformung zeigt, zum anderen ist es ein Mittel zur erlaubten Übertretung gesellschaftlicher Normen (ähnlich einem Hofnarren oder einem Verrückten, die wie das Kind die Diskursordnung sanktionslos übertreten dürfen). Die Normen, gegen die als ExilantIn nicht zu verstoßen ist, benennt sie in den Bildern: es handelt sich um Dankbarkeit gegenüber dem Gastland, Höflichkeit, die von einem Gast erwartet wird und der Nicht-Gefährdung anderer Exilanten: »Als Emigrant hatte man dankbar zu sein und nicht zu kritisieren, auch soziale Zustände nicht, die schon gar nicht. Man hätte nicht nur sich selbst, sondern auch anderen Emigranten das Leben schwerer gemacht, als es schon war«.42 In die pikareske, häufig einer assoziativen Reihung folgende Romanhandlung integriert Keun auch Geschehnisse und Schauplätze aus der gemeinsam mit Roth verbrachten Zeit, etwa einen Aufenthalt in Polen, in Lemberg, in Salzburg usw. Trotzdem erscheint die Entfernung von Roth und seinem Werk hier besonders ausgeprägt; so ist auch die Gleichsetzung der Vaterfigur mit Roth m. E. poetologisch und biographisch unhaltbar. In ihrer ausführlichen und genauen Analyse des Buches, die allen drei Familienmitgliedern gerecht wird, zitiert Sabine Rohlf auch Gert Roloffs Argument, der den Vater als typischen Bohémien versteht.43 Die verschiedenen Strategien, die die drei Familienmitglieder einsetzen, um die prekäre Lebenssituation zu ihrem Gunsten zu wenden, glücken lediglich Kully, denn sie verabschiedet sich zum einen aus der »Fixierung auf eine nationale oder europäische Heimat«44 und zum anderen geht es um eine »Überschreitung oder Auflösung jener Geschlechterbinarität, deren Problematik der Roman mit den Figuren der Eltern vorführt«.45

VII Zusammenfassend und abschließend kristallisieren sich in Joseph Roths und Irmgard Keuns Schaffen aus der gemeinsamen Zeit des Exils folgende Thesen heraus: 1. Wie bei derart eigenwilligen Schriftstellerpersönlichkeiten erwartet, konnten bislang keine umfassenden Einwirkungen, höchstens punktuelle, aufeinander nachgewiesen werden. Es deuten sich jedoch Querverbindungen in der Genrewahl an und eventuelle Verarbeitungen bestimmter Charakterzüge 42 43

44 45

Ebd., S. 155. Vgl. Sabine Rohlf: Exil als Praxis – Heimatlosigkeit als Perspektive? Lektüre ausgewählter Exilromane von Frauen. München: Ed. Text und Kritik 2002. Kapitel 5, S. 162. Ebd., S. 173. Ebd., S. 179.

168

Neva Šlibar

des jeweiligen Gegenüber in einigen Texten aus dieser Zeit, die freilich auch eine Folge poetologischer und kompositioneller Entscheidungen sein könnten. 2. Die unterschiedliche Reaktion auf die Exilerfahrung könnte bei Roths ›Verarbeitung‹ auf seine ›literarische Diglossie‹ zurückzuführen sein, ein Terminus, den ich einführen möchte, um die patriarchalisch sozialisierte und poetologisch etablierte Trennung der Schaffensbereiche zu benennen, d. h. eine ahistorische und mythisierte Umgestaltung erfolgt in Romanform und eine unmittelbare Reaktion auf das Tagesgeschehen in Artikelform, während der Alltag als uninteressante Wiederholung des Gleichen fast zur Gänze ausgeblendet bleibt. 3. Das Gegenteil, eine Integration und Transformation des Persönlichen zum Historischen bzw. des Historischen, wie es ins Persönliche reicht, des Alltäglichen zum Symbolischen und des Symbolischen, wie es sich als Alltägliches manifestiert, finden wir im ›weiblichen Schreiben‹ Irmgard Keuns, wodurch sich so manches Stereotyp des Geschlechterdiskurses bestätigt findet. Eben auch die in der widersprüchlichen Persönlichkeit der Autorin Keun verankerte paradoxe oder folgerichtige Verflechtung von Kleinmachen und Siegen. 4. Die Autorin und den Autor verbindet ihre Vorliebe für schwache Helden, d. h. für wenig gebildete bzw. noch nicht voll sozialisierte und geistig etwas unbedarfte Protagonistinnen und Protagonisten, die sogar in ihrem Scheitern und trotz der ironisch bis satirischen Distanz, mit der sie dargestellt werden, Mitgefühl erregen.46 5. Die unterschiedliche Qualität der in dieser Zeit geschriebenen Texte kann wohl bei beiden auch auf die unmittelbare existenzielle Situation, d. h. die ständige Geldnot zurückzuführen sein, ebenso als eine Konsequenz des Schreibens im Exil gedeutet werden. – Metadiskursiv sollte in Zukunft ebenso die eventuelle Ungehörigkeit der Problemstellung diskutiert werden, die mit der Forschungsposition einhergeht: wie weit wird unsere heutige Einschätzung vom gegenwärtigen literarischen Funktionsverständnis getrübt, d. h. von der Forderung nach Vergangenheitsbewältigung und der Bevorzugung der Alltagsgeschichte. Entgegengesetzte Fluchtbewegungen? Joseph Roths Fluchten ohne Ende sind erinnert,47 wissenschaftlich erörtert und sogar literarisiert worden; Irmgard Keun hat ihr eigenes Leben (und Schreiben?) gleichfalls als Flucht verstanden, sie sprach vom ›Fluchtgefühl‹: »Ich fühle mich wie auf der Flucht immer. Ich wollte irgendwohin und wusste nicht, wohin ich sollte. Ich hatte auch keine echte Geduld zu Menschen. Ich löste mich immer wieder, sobald einer etwas näher kam …«48 46 47 48

Vgl. v. a. Petra Klaß-Meenken: Die Figur des schwachen Helden in den Romanen Joseph Roths. Aachen: Shaker 2000. Vgl. Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen. Hg. und mit einem Nachw. von Ingolf Schulte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. Dietrich Steinbach: Einleitung ›Nach Mitternacht‹ – Ein Zeitroman der Literatur des Exils. In: Irmgard Keun: Nach Mitternacht. Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig: Ernst Klett 2003, S. 134–139, hier S. 139.

Helen Chambers

Sex und Behörde in Joseph Roths Reportagen der zwanziger Jahre

Wer heute Joseph Roths Reportagen und Feuilletons aus den zwanziger Jahren liest, kann nicht umhin zu bemerken, wie viele Gegenwärtiges direkt oder mittelbar ansprechen: Themen wie zum Beispiel Rassismus, kulturelle Identität, Kriegsopfer, Kriminalität und finanzielle Krisen. Kennzeichnend für viele und ein übernationaler sowie auch nach wie vor aktueller Aspekt ist die Auslotung des Verhältnisses zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre. Mein Anliegen ist ein Teilaspekt dieser Problematik, und zwar die Beziehungen zwischen Sex und Behörden. Diese hat Roth mehrfach in Reportagen aus den Jahren 1923 bis 1927 dargestellt. Die fraglichen Behörden sind die Polizei und die Armee. Das Thema ist damit eher eng umrissen. Man hätte eine andere Gegenüberstellung untersuchen können, wie etwa Erotik und Ordnung – was freilich eher ein Thema für die Romane wäre – aber daraus hätte sich eine andere Dynamik bzw. ein anderes Machtverhältnis ergeben.1 Bei dem gewählten Schwerpunkt handelt es sich vor allem um Roths Beobachtungen über das Eingreifen von Behörden in das private Leben, in die Intimsphäre des sexuellen Verhaltens. Das war und bleibt kein ausschließlich deutsches Phänomen, sondern ein übernationales, welches in unterschiedlichen Spielarten auftritt, wie die Reportagen auch zeigen. Ihnen liegen zwei Diskurse zugrunde: der juristische und der medizinische/gesundheitliche, welche in Sachen Sex oft ineinandergreifen.

I

Der juristische Diskurs

In zwei Berichten von Ende 1923 aus Köln, dem Zentrum der britischen Besatzungszone, wird das Juristische in der weiblichen Sittenpolizei des britischen Militärs verkörpert, während deutsche und serbische Polizeibeamte in Berlin respektive Belgrad, 1924, 1925 und wiederum 1927 für verwandte Überlegungen herhalten.2 An diesen Beispielen sieht man, dass Roths Kritik sich nicht auf das juristische System in Deutschland beschränkt. 1 2

In Radetzkymarsch und Das falsche Gewicht wird z. B. gezeigt, wie Erotik Ordnung übertrumpft. Zitierte Ausgaben: Joseph Roth: Unter dem Bülowbogen. Prosa zur Zeit. Hg. von Rainer-Joachim Siegel. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994 [Sigle: UB]; ders.: Wer-

170

Helen Chambers

Die Beschreibung der britischen militärischen Sittenpolizistinnen in beiden Kölner Reportagen drückt einen anscheinend harten Schock und tiefe Abneigung aus, der sich nur in der zweiten, ausführlicheren Behandlung in bedingtes Mitgefühl und schließlich Neugierde über das private Leben dieser unbekannten, exotischen und doch menschlichen Wesen übergeht. Weil Roth sie anfangs angeblich geschlechtsmäßig nicht einordnen kann, stellt er sie einerseits als nichtmenschliche und nicht irdische Wesen – mit ›anorganischen‹ Gesichtern – dar. Andererseits hebt er in genau formulierten visuellen Schilderungen sowohl durch Vergleiche als auch durch Benennung von Kleidungstücken das Maskuline hervor: »Ihre Nacken sind glattrasiert, fett und wulstig, wie bei alten Generälen« (UB, 251); sie sehen von ferne wie römische Legionäre oder griechische Fußsoldaten aus; sie sind mit Gamaschen, genagelten Stiefeln und Waffen versehen. Die männlichen Attribute sind negativ besetzt und decken sich mit Roths allgemeiner Kritik an Militarismus und Reaktion.3 Der Titel seines Artikels in der Neue Berliner Zeitung, »Die Mannweiber der Sittlichkeit«, weist auf einen zweiten Aspekt seiner Bedenken hin, nämlich wer wen bestraft – das Ungeeignetsein der Strafbefugten, was in dem britischen Fall mit Roths Auffassung von Geschlechterrollen zu tun, und im deut-

3

ke. 6 Bände. Hg. von Fritz Hackert und Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991 [Sigle: W]. Joseph Roth: Blue Lamp Room. In: Neue Berliner Zeitung – 12-Uhr-Blatt, 29. Dezember 1923 (W, 1, S. 1094–1095); ders.: Die Mannweiber der Sittlichkeit. In: Neue Berliner Zeitung, 3. Januar 1924; In: Prager Tagblatt, 4. Januar 1924 (UB, S. 251– 253); ders.: Aus der Reihe Berliner Bilderbuch. In: Der Drache, 10. Juni 1924 (W, 2, S. 119–120); ders.: Die erotische Schutzpolizei. In: Der Drache, 24. März 1925 (W, 2, S. 365–367); ders.: Blick nach Südslawien. In: Frankfurter Zeitung, 16. Juli 1927 (W, 2, S. 746–749). »Diese zwei [Menschen] waren weder Männer noch Frauen, sie sahen aus wie Wesen von einem fremden Stern oder außerhalb der irdischen Atmosphäre Geborene – nein! Nicht Geborene, sondern auf unerklärliche Weise Zustandegekommene, Präparierte, Fabrizierte. Sie trugen Halbzylinder, hatten breite, hölzerne, graue Gesichter, und ihre Augen blickten lebendig in der maßlosen, gewissermaßen anorganischen Leere dieser Antlitze. Sie waren grau gekleidet, hatten Gamaschen an den Beinen und genagelte Stiefel an den Füßen und kurze Röcke. So erinnerten sie von Ferne an römische Legionäre oder an griechische Hopliten. Ich vergaß zu sagen, daß Patronengurte um ihre Leiber geschlungen waren«. (W, 1, S. 1083); »Gegen zehn Uhr abends fängt es an. Es erscheinen in den Kölner Straßen seltsame Gestalten. Wesen von einem anderen Stern, von Maschinen gezeugt. Mechanismen mit Räderwerken in der Brust. Nicht Männer, nicht Frauen. [...] Ihre Gesichter sind starr, anorganisch leer, wie aus Holz gezimmert. [...] Der Körper steckt in einer grauen Militärjacke und einem kurzen Schoß. Um die Beine rollen sich die Spiralen grüner Wickelgamaschen. Um die Taille ist ein Ledergurt mit Pistole geschlungen. Die Füße stecken in dreifach gesohlten und genagelten Stiefeln.« (UB, S. 251–252).

Sex und Behörde in Joseph Roths Reportagen der zwanziger Jahre

171

schen Fall – wie z. B. in dem Artikel »Die erotische Schutzpolizei« – mit der moralischen Untauglichkeit der Vertreter der strafenden Instanz zu tun hat.4 Roths erste Äußerung über das weibliche Personal, dessen Pflicht darin bestehe, zwischen 10 Uhr abends und der Frühe zu patrouillieren und Mädchen zu verhaften, die mit britischen Soldaten gehen, erschien im Dezember 1923 in der Frankfurter Zeitung als Teil einer Reportage über menschenunwürdige Kriegsnachwirkungen sowohl für Sieger als auch Besiegten in den Besatzungszonen. Roth formuliert so stark polemisch, dass die Redaktion – was sonst selten vorkommt – beschwichtigend kommentiert: Wie kam es, daß sie sich zu dieser unmenschlichen Tätigkeit bereit fanden, zur Wasenmeisterei für Straßenmädchen, und die Ehre der Frau schändeten, in dem sie sich engagieren ließen, die Gesundheit der Armee zu retten? Wie tief ist die Prophylaxe unter die Krankheit gesunken, da jene zum Büttel wird statt zum Retter? (Wir glauben, daß diese Frauen doch als Retter ausgeschickt werden; vielleicht glauben die Engländer sogar besonders human zu handeln, wenn sie den traurigen Häscherberuf Frauen übertragen. D. Red.)5

Roths Vorbehalte zeugen von Abscheu gegen das, was er eher essentialistisch auffasst und als Verrat am eigenen Geschlecht im Dienst des Patriarchats auslegt, andererseits zeigt er sich hier wie auch sonst solidarisch mit den Prostituierten, die er immer wieder als Subjekte zu konstruieren und vor der Versachlichung als Ware diskursiv zu retten versucht.6 »Wasenmeisterei für Straßenmädchen« impliziert ihre Behandlung wie organisches Material von den Sittenpolizisten, als Wasenmeistern (Abdeckern), d. h. als denjenigen, die für Tierkörperverwertung zuständig und die auch als von der Stadt behördlich angestellte Instanz befugt sind, streifende Hunde auf der Straße einzufangen. Roths aus heutiger Sicht betrachtet politisch sehr inkorrekte Bemerkungen über die »Mannweiber« in der Reportage für die Neue Berliner Zeitung (fast gleichzeitig im Prager Tagblatt erschienen), die übrigens viel leichter und humoristischer im Ton ist als der Frankfurter Zeitung-Beitrag, verdeutlicht dieses Doppelgesicht, was die Frauen angeht. Der männliche Blick operiert erotisch wertend, was bei Roth gleichzeitig ästhetisch wertend bedeutet. Er tut die Polizistinnen als extrem hässlich ab, weil er von Frauen aus den besseren Klassen erwartet, dass sie möglichst attraktiv und weiblich gepflegt auftreten und aus ihrer herkömmlichen weiblichen Rolle nicht ausfallen.7 Andererseits 4 5 6

7

Der Drache, 24. März 1925 (W, 2, S. 365–367). Ähnlich auch schon in einem Bericht in der Berliner Bilderbuch Serie. In: Der Drache, 6. Mai 1924, (W, 2, S. 111). Der Schrei des Wilden und des Weißen. In: Frankfurter Zeitung, 12. Dezember 1923 (W, 1, S. 1081–1084, hier S. 1083–1084). Vgl. »Die traurigen Mädchen, die der vorgeschriebene Lebenslauf aus der Fabrik, aus fremden Dienstbotenzimmern über den Rummelplatz in die Prostitution führt, sind da, von ihrer unausbleiblichen Zukunft gezeichnet, die aus Kindesmord, Syphilis und Kriminal besteht.« (W, 2, S. 119). Vgl. »Sie sind keine Mütter, sie sind keine Schwestern« (W, 1, S. 1083).

172

Helen Chambers

fehlt meist bei Roth, wenn es sich um soziale Opfer am Rande der Gesellschaft handelt, wie zum Bespiel die Straßenmädchen, der männliche Blick und er sieht eher den unfreien Menschen, der leidet und kämpft.8 Roths Reaktion auf das Aussehen der ›Sittenpolizisten‹, spiegelt die Absichten der britischen Militärbehörden interessanterweise gewissermaßen wieder. Der erste Weltkrieg war für Großbritannien der erste Krieg, an dem zahlreiche Frauen aktiv teilnahmen. Etwa 80 000 dienten in britischen militärischen Einheiten. Das brachte neue Probleme der sozialen und sexuellen Integration mit sich. Um öffentliche Sorgen um den engen Kontakt der Geschlechter zu beschwichtigen, bemühte man sich, die weiblichen Truppen äußerlich möglichst zu ›militarisieren‹ und zu defeminisieren, und zwar in Hinsicht auf Uniformen, Ränge und Titel.9 Roths Bezeichnungen: »Nicht Männer, nicht Frauen«; »Diese Hässlichkeit ist Eros mordend, jede Hitze kühlend, ja jeden Gedanken der Liebe ausrottend« (UB, 252) deckt sich mit den Absichten und Verfügungen der britischen Armee ziemlich genau. Was die dienstliche Tätigkeit der Frauen betrifft, fehlten Roth Hintergrundinformationen, die ihm möglicherweise als Erklärung, wenn nicht als Rechtfertigung für das Phänomen hätten dienen können. In Großbritannien übte in den 20er Jahren die social-purity movement, eine breite Sittlichkeits-Bewegung, die ihre Anfänge in der viktorianischen Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts, hatte, anhaltenden und starken Einfluss aus.10 Im Einklang mit deren Programm gab es zahlreiche Freiwilligenorganisationen von bürgerlichen Frauen, die sich mit der Regelung der Sittlichkeit beschäftigten. Der Krieg gab mit der Störung und bisweilen Zerrüttung des Familienlebens Anlass zu Befürchtungen allgemeiner moralischer Verwahrlosung, vor allem wegen der Einquartierung von Soldaten bei der Zivilbevölkerung und der großen Konzentrationen von Männern in militärischen Lagern. Das führte dazu, dass verschiedene Frauenorganisationen Patrouillen einführten, unter anderem um offenes Gelände in der Nähe von militärischen Lagern zu überwachen und über die sexuellen Aktivitäten von 8

9

10

Karl Kraus – den Roth übrigens nicht schätzte – polemisiert in »Sittlichkeit und Kriminalität« wiederholt gegen den Doppelstandard bei der juristischen Behandlung von Mädchen und Frauen. Seine Perspektive auf Frauen und Geschlechterrollen war aber essentialistischer und undifferenzierter als Roths. Vgl. Karl Kraus: Die Hetzjagd auf das Weib. In: ders.: Werke. Hg. von Heinrich Fischer. München: Kösel 1970 (Sittlichkeit und Kriminalität; 11), Erstveröffentlichung 1908, 2. Aufl. Jan. 1924, S. 35–40, hier S. 37. Siehe Nancy Loring Goldman/Richard Stites: Great Britain and the World Wars. In: Female Soldiers – Combatants or Noncombatants. Historical and Contemporary Perspectives. Ed. by Nancy Loring Goldman. Westport (CT), London: Greenwood Press 1982 (Contributions in Women’s Studies; 33), S. 21–45, hier S. 27, »The female uniforms were partly defeminized (for example removing the breast pocket which was thought to emphasize excessively the bust)«. Ebd., S. 5–6. Siehe Katherine Mullins: James Joyce, Sexuality and Social Purity. Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 4.

Sex und Behörde in Joseph Roths Reportagen der zwanziger Jahre

173

Paaren Bericht zu erstatten.11 Eines der Ergebnisse dieses sittlichen Eifers war die Gründung einer women’s police force, die 1918 der Metropolitan Police Force (Londoner Polizei) angegliedert wurde.12 Dies war eine Weiterentwicklung der Voluntary Women’s Patrols (Freiwilligenpatrouillen von Frauen), die von dem National Council of Women (Nationalen Frauenrat) 1914 aufgestellt worden waren. Bis 1923 hatten die Polizistinnen das Recht, Verdächtige zu verhaften. Aus britischer Sicht waren also Frauen, die das sexuelle Verhalten anderer Frauen kontrollierten und juristisch einzuschreiten befugt waren, weder neu noch lächerlich, und wenn auch nicht überall begrüßt, dann doch eher als wohltätige Verteidigerinnen der Sittlichkeit sowie der Schutzlosen weitgehend akzeptiert. Die Polizistinnen, die in Köln patrouillierten, gehörten dem Women’s Auxiliary Service (Weiblicher Hilfsdienst) (WAS)13 einer Freiwilligengruppe an, die parallel zu der Londoner Polizei existierte. 1923 wurde Mary Allen, die Kommandantin des WAS von dem Adjutant General (Kommandanten) der Britischen Besatzungsarmee im Rheinland (British Army of Occupation in the Rhine Provinces) nach Köln eingeladen, um die Armee zu beraten, wie mit dem wachsenden Problem der gesundheitsschädigenden Kontakte zwischen Soldaten und Prostituierten umzugehen sei.14 Infolge ihres Berichtes wurde Allen von der britischen Regierung beauftragt, ein Team von sechs Polizeibeamtinnen: eine Kommissarin (Inspector), eine Obermeisterin (Sergeant) und 4 Wachtmeisterinnen (Constables), mit militärischem Rang zu liefern und weitere deutsche Polizistinnen für den Dienst zu trainieren. Sie legte großen Wert auf Uniformen15 für die Einheit und bestand auf dem Wert des Drills beim Trainieren des Frauenkorps: die deutschen Frauen sträubten sich dagegen, weil der Drill sie zu sehr an das militärische Regime der Kriegsjahre erinnerte, aber sie mussten einlenken, weil die Uniform ihnen sonst vorenthalten wurde.16 Roth hat die Uniform der Einheit, soweit man das nach dem vorliegenden Material beurteilen kann, nicht akkurat beschrieben. Die Frauen trugen die Uniform des WAS, zwar mit Ledergurt, aber ziemlich sicher ohne Pistole, geschweige denn Patronen. Frauen in der britischen Armee wurden erst viel 11 12 13 14 15

16

Siehe Jeffrey Weeks: Sex, Politics and Society. The Regulation of Sexuality since 1800. 2nd edn. London: Longman 1989, S. 214. Ebd., S. 215. 1914 zuerst als Women’s Police Vounteers von Margaret Damer Dawson und Mary Allen gegründet, 1915 in Women’s Police Service umbenannt. Siehe Mary S. Allen: The Pioneer Policewoman. London: Chatto and Windus 1925, S. 200–212. Allen war von Anfang an militärisch gesinnt und wurde später sogar eine begeisterte Bewunderin von Hitler, den sie 1934 kennenlernte; sie sympathisierte auch mit Franco zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und wurde schließlich wegen ihrer faschistischen Sympathien aus dem Polizeidienst entfernt. Eveline W. Brainerd: Women Police as England Sees Them. In: The Outlook, 10. September 1924.

174

Helen Chambers

später bewaffnet. Bis auf Knüppel sind britische Polizisten und Polizistinnen es im Normaldienst immer noch nicht. Dass Roth in beiden Artikeln explizit auf den Ledergurt für Schusswaffen aufmerksam macht, lässt sich m. E. nur dadurch erklären, dass der weibliche Offizier höheren Rangs (Die Kommissarin) statt eines einfachen Ledergurtes wie die anderen ein Koppel mit Schulterriemen trug. Der sogenannte Sam Browne belt war seit den 1850er Jahren in der britischen Armee bekannt. Ursprünglich mit Säbelhalter versehen, wurde er traditionsgemäß nur von Offizieren getragen. Da Mary Allen großen Wert auf ihre Stellung als quasi militärischer Offizier legte, nimmt es nicht Wunder, dass dieser Gurt den Offizieren des WAS zukam, aber doch nur den wenigen Offizieren. Genagelte Stiefel und Wickelgamaschen (militärisches Zubehör aus dem Ersten Weltkrieg) sind auch nicht auf den Photographien zu erkennen. »Halbzylinder« ist eine ungenaue Bezeichnung der Hüte, die eher wie breitkrempige Melonen aussahen – die Assoziation mit den Zylindern der führenden Herren der Gesellschaft steckt vielleicht hinter diesem Vergleich. Die Uniformen waren dunkelblau mit roten – oder bei den Deutschen lila – Aufschlägen, nicht grau, ein Farbton welcher bei Roth öfters als Farbe der Trostlosigkeit und Lebensfeindlichkeit verwendet wird.17 Übrigens decken sich etliche Details der Uniformen – graue Farbe, Koppel mit Schulterriemen, Wickelgamaschen und schwere Stiefel – mit der damaligen Uniform von Hitlers SATruppen,18 ob mit Absicht in die Schilderung als versteckte Mahnung gegen den Eingriff Unbefugter in das private Leben Unschuldiger eingeschmuggelt oder per Zufall, muss dahingestellt bleiben.19 Wie dem auch sei, handelt es sich hier m. E. um eine rhetorisch retouchierte Schilderung, eine subjektive, an das Polemische grenzende Beschreibung eines aktuellen Phänomens, auch da, wo sie sich faktisch gibt. Zu den Pflichten der britischen Polizistinnen gehörten die Beratung von jungen Mädchen und die Ermittlung bei sexuellen Delikten. Zwei Beiträge im satirischen Magazin Der Drache20 zeigen deutlich, dass, wenn Sittenkontrolle Männersache bleibt, die Gefahren für die Überwachten erheblich schlimmer sind. Nach wie vor trifft die Strafe Mädchen und Frauen. Der erste erschien im Mai 1924 in der Artikelreihe »Berliner Bilderbuch«, der zweite im März 1925, unter dem Titel »Die erotische Schutzpolizei«.21 Der Stil hier ist scharf und

17

18

19 20 21

Etwa in Hotel Savoy. Freilich nicht immer: Vgl. Das Spinnennetz, wo diese Farbe mit der Kleidung der schönen Frau Efrussi assoziiert wird. Es kann auch sein, dass Roth dabei an Feldgrau dachte. Die SA wurde zwar nach dem November-Putsch verboten, wurde aber als Frontbann weiter geführt. Zu SA-Uniformen siehe David Littlejohn: The SA 1921–45: Hitler’s Stormtroopers. Oxford: Osprey 1990 (Men-at-Arms Series; 220). Die braunen Hemden gehörten erst ab Februar 1925 zur Uniform: Restbestände der deutschen tropischen Einheiten wurden 1924 in Österreich aufgekauft. Ebd., S. 8. Herausgegeben von Max Reimann in Leipzig. Wie Anm. 2.

Sex und Behörde in Joseph Roths Reportagen der zwanziger Jahre

175

satirisch, indem Roth mit Antithesen, Wortspielerei und Lob als Tadel Effekte erzielt. Er billigt das unsittliche Vorgehen der Behörde in ironischer Brechung: Die »Sittenkontrolle« ist eine großartige Einrichtung. In Berlin grassiert sie im Umkreis der Bahnhöfe als die erfolgreichste Konkurrenz der Gonorrhöe. Die Bazillenträger der Sittenkontrolle sind die Hüter der öffentlichen Sicherheit, die Schutzpolizisten. (W, 2, S. 110)

Der medizinische Diskurs gesellt sich zum juristischen, indem Roth den Fall einer Prostituierten erzählt, die ›straffrei‹ bleiben darf, wenn der Schutzpolizist ihr Delikt, wovor er die Gesellschaft zu schützen hat, mit ihr genießt. Als dieselbe Prostituierte beim nächsten Polizisten ähnlich handeln will, kommen sie und der erste, den sie beklagt, vors Gericht und sie bekommt die Strafe ab, weil nicht ihre Aussage, sondern dem Eid des ersten Polizisten geglaubt wird. Dieser wird dann doch – aber nur per Zufall – ertappt, entblößt und verurteilt, nicht etwa weil die Frau von ihm körperlich und moralisch misshandelt wurde, sondern um die Ehre des ohnehin korrupten Diensts zu verteidigen. Roth bringt es auf die Pointe: »Denn heiliger als die Freiheit eines ohnehin freien Mädchens, eines Frauen-Wachtzimmers sozusagen, ist der Diensteid«. (W, 2, S. 111) Die Wortspielerei prangert die Heuchelei der Behörde mit leichter Hand an, wobei die Anekdote ein Happy und gerechtes End hat, wohlgemerkt durch Zufall und den ungerechten Mechanismen der Justiz zum Trotz. In der zweiten Reportage aber, die als Aufhänger einen Zeitungsbericht über einen Sittenpolizeibeamten hat, der das zur Kontrolle der Prostitution gedachte Recht ausübt, »Frauen von ihrer männlichen Begleitung nach Belieben zu trennen« (W, 2, S. 365, Hervorhebung im Original), um junge Frauen festzunehmen und zu vergewaltigen, ist der Ton bitter ironisch. Roth empört sich hier weniger über die Gewalt gegen Frauen22 als über den Vertrauensbruch als Symptom einer fundamental korrupten Gesellschaft, in der die amtlichen Verteidiger des Gesetzes außer Kontrolle geraten sind, und der private Bürger sich einschüchtern lässt und mit dem System kollaboriert. Der Normalbürger lässt zu, dass die Behörden illegal in seine intimste Sphäre eingreifen, während die Presse feige oder resigniert versagt und über Tatsachen fast gleichgültig berichtet, die öffentlichen Protest verdienten. Wo Roth in den zwanziger Jahren es sonst eher auf Rassismus, Antisemitismus, Brutalität der politischen Rechten und grassierenden Militarismus absieht, um die Atmosphäre in Deutschland und Mitteleuropa zu vermitteln, wird hier das Verhältnis Sex – Behörde als symptomatisch für das systemische Versagen der juristischen Behörden. Dies verbindet er mit dem Zusammenbruch der öffentlichen Moral und der Zivilcourage schlechthin. 22

Vgl. dazu auch Helen Chambers: »Eine ganze Welt baut sich im Gerichtssaal auf«: Law and Order in the Berlin Reportage of Joseph Roth and Gabriele Tergit. In: Vienna meets Berlin. Ed. by John Warren and Ulrike Zitzlsperger. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2005, S. 95–108.

176

Helen Chambers

Wie seine Reportage aus Belgrad, »Blick nach Südslawien« zeigt, ist die polizeiliche Überwachung von Paaren keine rein deutsche Angelegenheit, aber in diesem Bericht zieht Roth eine strenge Trennungslinie zwischen Volk und Verwaltung: »Die Verwaltung ist reaktionär, das Volk ist fortschrittlich«.23 Die von Roth geschilderte behördliche Kontrolle des Sexes, die aus Überwachung und Strafe besteht, zeigt, wie der Sex entweder als legal oder strafbar eingestuft wird. Roth aber empört sich gegen solch binäres Denken, wenn es auf die metaphysischen Aspekte des Menschenlebens wie z. B. Liebe, Intimität und Freiheit angewandt wird.

II

»Im Dienst der Hygiene nicht der Erotik«:24 Der medizinische Diskurs

Der medizinische Diskurs tauchte schon im Zusammenhang mit der Strafbarkeit des Geschlechtsverkehrs auf, und das Interesse der Behörden, ob staatlich oder militärisch, an dem Sexualverhalten des einzelnen hatte praktische, gesundheitliche Gründe. Roth, der dem Zweckmäßigkeitsdenken skeptisch gegenüberstand,25 untersucht, wie sich der medizinische Diskurs auf das sexuelle Erlebnis des Menschen auswirkt.26 Köln als Hauptquartier der britischen Besatzungszone war voll britischer Soldaten, die Geld und Freizeit hatten. Geschlechtskrankheiten waren in allen europäischen Armeen ein Problem, aber die Infizierungsrate bei den britischen Truppen war besonders hoch.27 In der Nachkriegszeit war die Lage besonders bedenklich, weil so viele Männer im Krieg gefallen waren. Um eine neue, gesunde Generation von Briten zu sichern, waren offizielle Maßnahmen gegen Geschlechtskrankheiten ein nationales Anliegen. Roths Reportage‚ »›Blue Lamp Room‹« in der Neue Berliner 23 24 25 26

27

Frankfurter Zeitung, 16. Juli 1927 (W, 2, S. 746–749, hier S. 748). Joseph Roth: Die »Girls«. In: Frankfurter Zeitung, 28. April 1925 (W, 2, S. 393). Siehe z. B. Spaziergang (W, 1, S. 566–567) und Totenfeier um Mitternacht (W, 2, S. 354). Die Pathologisierung des Geschlechtsverkehrs, der oft zu gewalttätigen Untersuchungen und unverdient zur Kriminalisierung von Mädchen führte, war ein brisantes Thema im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Siehe z. B. Kraus, Die Hetzjagd auf das Weib (wie Anm. 8), S. 37; Gabriele Tergit: Der Fall Machan-Kolomak. In: Berliner Tageblatt, 16. Februar 1927. Wiederabdruck in: Gabriele Tergit: Wer schießt aus Liebe? Gerichtsreportagen. Hg. von Jens Brüning. Berlin: Das Neue Berlin 1999. Siehe dazu Chambers‚ Eine ganze Welt (wie Anm. 22), S. 106–107. Aus sozio-historischen Gründen, wie Magnus Hirschfeld erklärt: »(...) England, dessen Heer und Marine seit jeher Rekordziffer an Geschlechtskrankheiten aufwies und dessen puritanische Moral Stillschweigen über diese Frage gebot, büßte das mit einer weiteren Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten [im ersten Weltkrieg] [...]«, S. 172. Sittengeschichte des ersten Weltkrieges. Hg. von Magnus Hirschfeld und Andreas Gaspar. 2. neubearbeitete Aufl. Hanau: Schustek-Verlag 1929.

Sex und Behörde in Joseph Roths Reportagen der zwanziger Jahre

177

Zeitung berichtet von der systematischen Kontrolle und Behandlung der Geschlechtskrankheiten in militärischen Gesundheitsstellen: An jeder zweiten Straßenecke leuchtet das blaue Lämpchen geschlechtlicher Gesundheit. Die englischen Soldaten sind verpflichtet, nach jedem Liebesgenuß die Blue lamp rooms aufzusuchen. Da wird es ihnen schwarz auf weiß bescheinigt, daß sie ohne Schaden geliebt haben und bis auf weiteres weiterlieben können. [...] Stunde um Stunde kommen die englischen Soldaten, lassen sich untersuchen und desinfizieren, Bestätigungen schreiben und Zettel ausfüllen. [..] Ein geschlechtlich erkrankter englischer Soldat, der nicht nachweisen kann, daß er im Blue lamp room gewesen ist, wird eingesperrt. Wenn er es nachweisen kann, sperrt man den Sanitäter ein.28

In diesem eher humoristischen Artikel untersucht Roth wieder das Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Leben. Das Verfahren der militärischen Behörden verwandelt die Liebe (das Private) in eine medizinische und bürokratische (öffentliche) Angelegenheit. Das Wort »Hygiene«, eine in Roths Wortschatz immer negativ besetzte Vokabel, fällt wiederholt (5 mal insgesamt) – zweimal in für Roth typischen Dreier-Reihungen, wobei jeweils die betonte letzte bzw. erste Stelle die Widersprüchlichkeit zwischen Hygiene und den anderen Begriffen unterstreicht: »Sonntag ist ein Tag der Freiheit, der Liebe und der Hygiene«. Letztere gehört nicht in das private Leben des Individuums. Und wieder: »Er [der englische Soldat] hat den Geboten der Hygiene, der Kaserne und seinem Vaterland Genüge getan«.29 Sie gehört auch nicht auf eine Ebene mit dem übergeordneten nationalen Begriff ›Vaterland‹. In dieser Reportage stellt Roth das behördliche Bestehen auf die Hygiene als vergleichsweise harmlose nationale Geschmacksverirrung dar, die er belächelt. Dabei bewundert er die Tommies fast, denn sie finden sich auf ihre eigene Weise mit der Regelung ab: »Trotzdem vergeht den Engländern merkwürdigerweise der Appetit auf die Liebe nicht«. Aus Roths »kontinentalische[r]« Sicht lassen sich Hygiene und Erotik nicht verbinden. Das geht auch deutlich aus seinen Betrachtungen über das neue Russland in der Reihe von FZ-Reportagen über seine Russland-Reise Ende 1926 hervor.30 Er spricht über die »gymnasiastisch-hygienische rationale Geistigkeit Amerikas« (W, 2, S. 632), die in die Sowjetunion importiert worden sei; und in »Die

28 29 30

Neue Berliner Zeitung, 29. Dezember 1923 (W, 1, S. 1094). Ebd. Siehe David Turner: »Überwältigt, hungrig, fortwährend schauend.« Joseph Roth’s Journey to Russia in 1926. In: Co-existent Contradictions. Joseph Roth in Retrospect. Ed. by Helen Chambers. Riverside (CA): Ariadne Press 1991, S. 52–77. Turner weist auf zwei Hauptthemen in Roths Rußland-Berichten hin: die Verbürgerlichung der sowjetischen Gesellschaft und den Verlust des »Metaphysischen«, S. 58; zu Amerikanisierung siehe S. 64.

178

Helen Chambers

Frau, die Neue Geschlechtsmoral und die Prostitution«31 schreibt er, dass die Frau im Dienst der neuen post-revolutionären Ordnung zum »öffentlichen Faktor« geworden sei‚ bei der »Reduzierung der Liebe zu einer hygienisch einwandfreien Paarung zweier [...] sexuell aufgeklärten Individuen verschiedenen Geschlechts«. Symptomatisch ist auch die neue Form der Eheschließung: Das »demonstrativ einfach[e]« Standesamt sei »der Ortspolizei angegliedert«. Der rationale behördliche Diskurs, ob medizinisch oder juristisch, widerspricht dem oder verzerrt das, was Roth unter sexuelle Beziehungen zwischen Mann und Frau versteht, nämlich eine metaphysische, nicht rational oder empirisch erfassbare Seite des menschlichen Lebens und Erlebens.32

III

Sex ohne Behörde

Zwei weitere Abstecher ins nicht deutsche Ausland – einmal nach Prag und einmal nach Marseille – lassen auf Gegenbeispiele verweisen, wo der Sex sozusagen behördenfrei in Erscheinung tritt. In »Der Mann, der die Visa besorgt«33 schildert Roth »ein[en] Privatmann, berufen, ohne Beruf«, der menschlich und inoffiziell Visa vermittelt, wo die eigentlichen Konsularbeamten versagen.34 Wie Roth ihn darstellt, besitzt dieser Mann lauter positive Eigenschaften. Hier handelt es sich eindeutig um unironisches Lob, mit DreierReihungen von Attributen ohne Widersprüchlichkeiten. Als selbständig denkender und handelnder Mensch vermittelt der Mann auch anderen Bewegungsfreiheit über Grenzen hinweg. Zu diesem seltenen Idealbild gehört das Detail, dass der Mann dreimal täglich liebt. Hier gehört der Sex eindeutig zum gesunden, natürlichen Leben eines warmen, freien Menschen, der als Individuum mit sich und der Welt in Einklang lebt und wirkt. Wo Roth dieses Detail her hat, spielt keine Rolle, bezeichnend ist, dass der Sex in diesem Fall vollkommen frei vom juristischen Diskurs der Überwachung und Strafe erscheint, und wenn der medizinische Diskurs im Hintergrund spukt, dann doch nicht pathologisierend und einschränkend, sondern im Gegenteil, gesundheitserhaltend: 31 32

33 34

Die Frau, die Neue Geschlechtsmoral und die Prostitution. In: Frankfurter Zeitung, 1. Dezember 1926 (W, 2, S. 632–637). Vgl. auch: »Man scheint nicht zu verstehen, daß die Liebe immer heilig ist, daß ein Augenblick, in dem zwei Menschen zusammen kommen, immer eine Weihe hat« (W, 2, S. 634), Hervorhebung im Original. Der Mann, der die Visa besorgt. In: Prager Tagblatt, 23. Oktober 1923 (UB, S. 194– 196). Roths persönliche Probleme mit Ausweisen bei seinen Reisen als Journalist im Europa der 20er Jahre machten ihn besonders empfindlich in Hinsicht auf Visum und Grenzübergänge. Siehe Telse Hartmann: Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths. Tübingen: A. Francke 2006, S. 44, Fußnote 62. Zu Roths Vertrautheit mit Behörden und seiner ironischen Haltung ihnen gegenüber. Siehe z. B. Das Amt. In: Prager Tagblatt, 20. Juli 1924 (W, 2, S. 223–225).

Sex und Behörde in Joseph Roths Reportagen der zwanziger Jahre

179

Im Krieg war er dienstführender Unteroffizier eines Spitals. Das zeugt von hoher Begabung. Er war stärker, geschickter, klüger als das Vaterland, das ihn opfern wollte. Er trägt über einem sympathischen großen Gesicht einen kleinen schiefen Wind- und Wetterhut. Der gibt dem Mann etwas Verwegenes. Seine kleinen grauen Augen blicken irgendwohin in die Weite. Sie erinnern an Zugvögel, die in irgendeinen Süden fliegen wollen. Dieser Mann war niemals krank. Er liebt dreimal täglich, wie ein anderer zu essen pflegt. Er hat gesunde Zähne und ein starkes Kinn und rechtschaffene Schultern. Die meisten Beamten sind verkümmert, windschief, verheiratet und kinderreich. Kein Wunder, daß sie keine Visa erteilen wie dieser prachtvoll gesunde, gute, ehrliche Mann. (UB, 195)

Er ist also ein Mann ohne Furcht, ohne Eigeninteresse, bis auf einen gesunden Selbsterhaltungstrieb, einer, der es fertigbringt von der Privatsphäre aus einen öffentlichen Dienst inoffiziell und menschlich zu leisten. Gleichfalls im Prager Tagblatt erschien die Reportage »Hafen von Marseille«.35 Sie ist ein halblyrisches, melancholisches Stimmungsbild vom abendlichen Leben im Hafenviertel von Marseille, in dem Roth die sich wiederholenden Lebensmuster der Armen erzählend und reflektierend skizziert. Die bestehende Ordnung bestimmen unentrinnbare ökonomische Verhältnisse. Abends sucht man Unterhaltung oder Ablenkung im Tanzlokal Nebukadnezar. Plötzlich ergibt sich ein kleines Drama: Draußen erhob sich Lärm. Man stürmte hinaus. Ein Straßenmädchen hatte einem Besucher die Brieftasche gestohlen. Das Zimmer stand offen, alle Fremden drangen ein, befühlten das Lager, auf dem man liebte und stahl [...] Der Bestohlene [...] war ein Amerikaner. [...] Amerikanische Matrosen ergriff der Patriotismus, und sie nahmen sich des Bestohlenen an. Sie kämpften für die Brieftasche eines reichen Mitbürgers, wie es die Pflicht aller Matrosen ist. Die Musikkapelle stand auf der Straße und spielte unentwegt. Sie folgte den Gästen. Man vergaß die Brieftasche und begann zu tanzen. Man schritt tanzend hinunter in den Keller.

In diesem Fall wird der Sex als gängiger Handel gezeigt, wozu sich gelegentlich Diebstahl gesellen kann. In diesem multinationalen Armenmilieu am sozialen und geographischen Randgebiet des Hafens fehlt jegliche behördliche Kontrolle. Man ruft nicht nach der Polizei, der juristische Diskurs bleibt aus und ob die Sache geregelt wird oder nicht, ist dem Berichterstatter wie den Anwesenden gleichgültig. Die Menschenmenge reagiert gleichsam wie ein natürliches Ereignis: Sie quillt empor und versiegt schnell wieder. In seinen distanzierten, leicht ironischen Beobachtungen beleuchtet Roth hier kurz eine Version der Prostitution, welche als normaler Vorgang in der sozialen Landschaft, wie sie sich unüberwacht und ohne kriminalisierenden behördlichen Eingriff abspielt, einfach hingenommen wird.

35

Hafen von Marseille. In: Prager Tagblatt, 20. Dezember 1925 (UB, S. 280–282).

180

Helen Chambers

Schlussbemerkung Roth befasst sich immer wieder mit der Diskrepanz zwischen den Wirklichkeiten des alltäglichen menschlichen Lebens und den amtlichen Bemühungen, diese durch Systeme zu beherrschen – ob es sich um Verkehrsregelungen, Verfügungen über Kriegsbeschädigte, Gerichtsverfahren oder sittenbehördliche Aktivitäten handelt. Er zeigt wiederholt, dass Behörden mit menschlichem Verhalten nicht menschlich fertig werden. Das Verhältnis Sex – Behörde stellt ein schlagendes Beispiel für diese Inkommensurabilität dar. Auf diese Diskrepanz weist Roth oft durch die Inkongruenz der von behördlicher Seite verwendeten juristischen und medizinischen Diskurse mit dem Stoff Sex, welcher solcher Bestimmung und Beherrschung in Roths ironischen Texten zu entschlüpfen droht. Inwiefern ein solches Ausweichen aus den Machtstrukturen des Wortes im Leben möglich ist, bleibt eine offene Frage. Roths Texte aber fordern zu dem Versuch auf, inhumane Diskurse zu erkennen und in Frage zu stellen, und öffentliche Systeme, und das heißt gleichzeitig Diskurse, zu entwickeln, die den Bedürfnissen des Privatmenschen angemessen sind.

Soziales und Geschichtliches

Hartmut Scheible

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre Am Beispiel von Joseph Roths Roman Die Hundert Tage mit einem Blick auf Chantal Thomas Les adieuxs à la reine I In den Jahren der Weimarer Republik ist eine auffallende Häufung von literarischen Werken, in deren Zentrum Napoleon steht, festzustellen. Nach dem Zusammenbruch der alteuropäischen Ordnung, dem Zerfall der überlieferten Autoritäten und angesichts der politischen Instabilität der neuen, von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnten republikanischen Staatsform läge die Suche, so könnte man vermuten, nach einem neuen ›starken Mann‹, der, notfalls mit eiserner Faust, die Dinge wieder ins Lot zu bringen imstande wäre, immerhin nahe. Die meisten der zahlreichen, in den zwanziger Jahren entstehenden Napoleon-Dramen (um nur diese Werke herauszugreifen) bestätigen diese Annahme nicht. Im Gegenteil. Zwar gibt es vereinzelt Stücke, die in unverkennbar patriotischer (wenn auch keineswegs eifernd nationalistischer) Intention geschrieben sind – Neidhardt von Gneisenau (1922) von Wolfgang Goetz –, es überwiegen jedoch solche Dramen, deren republikanische, antimilitaristische und antinationalistische Tendenz unverkennbar ist.1 In seiner Autobiographie Narziß mit Brille beispielsweise gibt Bernhard Blume zu Protokoll, er habe sein Stück Bonaparte zu einer Zeit geschrieben, da »in Deutschland der Ruf nach dem starken Mann unüberhörbar wurde«; er habe darzustellen versucht, »was ein starker Mann für die kleinen Leute bedeutet. Die Antwort war: Tote«.2 Für Fritz von Unruhs Drama Bonaparte. Ein Schauspiel (1927) beginnt mit der rechtswidrigen Hinrichtung des Duc d’Enghien im Jahre 1804, wenige Monate vor der Kaiserkrönung, Napoleons Weg in die Diktatur und damit in den Untergang. Dass das Stück trotz bester Absichten und tadelloser republikanischer Gesinnung nicht zu überzeugen vermag, liegt wohl an der bei aller expressionistischen Aufgeregtheit konventionellen Form des Thesenstücks, das durch 1

2

Vgl. Tom Kuhn: »Napoleon greift daneben«. Antifaschistische Dramen im Umgang mit der Geschichte. In: Exiltheater und Exildramatik 1933–1945. Tagung der Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur. Hg. von Edita Koch und Frithjof Trapp unter Mitarbeit von Anne-Margarete Brenker. Maintal: E. Koch 1991 (Exil; Sonderband 2), S. 251–267. Bernhard Blume: Narziß mit Brille: Kapitel einer Autobiographie. Heidelberg: Schneider 1985, S. 130.

184

Hartmut Scheible

sein Bestreben, zeitgemäß und aktuell zu sein, vom politischen Leitartikel schließlich nur noch schwer zu unterscheiden ist.3 – In Walter Hasenclevers Komödie Napoleon greift ein (1929) muss Napoleon, der als Wachsfigur im Pariser Musée Grevin gelandet ist, belehrt durch seinen Nachbarn, den Massenmörder Landru, zur Kenntnis nehmen, dass die Zeit für Genies und große Männer vorbei ist. »Heutzutage regiert der Rekord, die Sensation, die Freude am Sinnlosen«.4 Der Kaiser beschließt daraufhin, Politiker zu werden und als Diplomat und Teilnehmer an einer internationalen Konferenz den Völkern zu helfen, die nach dem Weltkrieg »unfähig« sind, »eine Form zu finden, die ihre gegenseitige Freiheit garantiert«, damit sie nicht vollends zum »Sklaven Amerikas« werden.5 Unter fachkundiger Beratung des Massenmörders stellt Napoleon seine Garderobe zusammen, indem er sich bei den anderen Wachsfiguren bedient: von Mussolini nimmt er die Hose, von Stresemann Rock und Weste, woraufhin Landru zufrieden kommentiert: »Halb Mussolini, halb Stresemann: das ist die Politik der Zukunft«.6 In einem Interview bemerkt Hasenclever, dass in seiner Komödie die vereinigten Staaten von Europa gegründet werden, »nur leider ganz anders, als die Idealisten es sich vorstellen. Ich zeige eine Konferenz des Völkerbundes, in der unter der Diktatur der amerikanischen Banken Europa wirklich zu dem einheitlichen politisch-sozialen Gebilde gemacht wird, was es [...] in verkappter Form heute schon ist, nämlich zu einer Wirtschaftsfiliale amerikanischer Finanzgruppen«.7 Mit dem Stichwort »Europa« ist zugleich die Perspektive benannt, in der in Deutschland seit der Kontroverse zwischen Leopold von Ranke und Heinrich von Treitschke die Auseinandersetzung über die angemessene Beurteilung Napoleons sich vollzieht. Rankes berühmtes Wort, man dürfe Napoleon nicht als ›Eroberungsbestie‹ sehen, sondern als Wegbereiter einer Einigung des europäischen Kontinents gegen die Weltherrschaftspläne Englands, leitet, nach den ›Franzosenfressern‹ in der Epoche der Befreiungskriege und der bis zum Delirium gesteigerten Napoleon-Schwärmerei ab etwa 1830 (Heinrich Heine, Franz von Gaudy), die dritte, liberale Phase der deutschen Napoleon-Verehrung ein, deren populärster Repräsentant der – von Fachhistorikern wie Max Lenz und Gustav Roloff als »historischer Belletrist« geringge3

4

5 6 7

Unruh rückt, wie Barbara Beßlich bemerkt, »die Frage nach der Regierbarkeit einer Demokratie durch einen zur Diktatur neigenden Einzelnen in den Vordergrund der dramatischen Aufmerksamkeit«. Dadurch erscheint sein Bonaparte »als ein verfassungsrechtliches Schlüsseldrama, das politische Probleme der Gegenwart im historischen Gewand verhandelt«. Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung. Darmstadt: WBG 2007, S. 349. Walter Hasenclever: Napoleon greift ein. In: Hasenclever. Gedichte – Prosa – Dramen. Unter Benutzung des Nachlasses hg. und eingeleitet von Kurt Pinthus. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt 1963, S. 296. Ebd., S. 297. Ebd., S. 299. Zit. nach Beßlich, Napoleon-Mythos (wie Anm. 3), S. 357, Anm. 136.

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre

185

schätzte – Emil Ludwig mit seiner im Jahre 1925 erschienenen NapoleonBiographie werden wird. Damit schien, eingekleidet in einen weltanschaulich und politisch untadeligen europäischen Einigungsplan, die Sehnsucht nach dem im europäischen Haus endlich Ordnung schaffenden starken Mann endlich eine reputierliche Gestalt gewonnen zu haben. Soweit ich sehe, gibt es vor 1933 kein auch nur halbwegs ernstzunehmendes Werk, in dem die Gestalt Napoleons benutzt wird, um die Errichtung eines Führerstaats propagandistisch vorzubereiten, selbst nicht bei Berthold Vallentin, der dem George-Kreis angehört und den Kult um Napoleons »weltformende Seele« besonders weit treibt,8 und auch nicht bei Oswald Spengler, der in Bonaparte die erste der Caesarengestalten sieht, die das Weltgeschehen künftig lenken werden.9 Eine Verherrlichung Napoleons, die konsequent aus dem Geist des Nationalsozialismus erfolgt, wird erst im Jahre 1939 erscheinen (Philipp Bouhler, Napoleon, Kometenbahn eines Genies). Aus dem Rahmen des bürgerlich-liberalen Napoleon-Kultes im Geiste des Paneuropa-Gedankens fällt allein der international renommierte Stadtplaner, Architekturkritiker und politische Schriftsteller Werner Hegemann mit seinem Buch Napoleon oder »Kniefall vor dem Heros« (1927). Hegemann, der schon zwei Jahre zuvor als Kritiker des preußisch-deutschem Mythos um Friedrich II. hervorgetreten war (Fridericus oder Das Königsopfer, 1925), widmet sein Buch ironisch »Dem Andenken der deutschen Seher Friedrich Nietzsche, Emil Ludwig und Wolfgang von Goethe, die zusammen mit Johannes von Müller, Leopold von Ranke, Max Lenz und anderen preußischen Literaten den Kaiser Napoleon als Nationalhelden der Deutschen begründet haben«.10 Hegemanns politische Bücher, wie auch das religions- und mythenkritische Werk Der gerettete Christus oder Iphigenies Flucht vor dem Ritualopfer (1927), sind sämtlich nach demselben Muster, einer konsequent angewandten Technik der Montage, aufgebaut: Die Teilnehmer einer fiktiven Gesprächsrunde, namhafte Persönlichkeiten, die sich zu dem betreffenden Thema öffentlich geäußert haben, tauschen ihre zum Teil sehr kontroversen Ansichten und Argumente im 8 9

10

Berthold Vallentin: Napoleon. Berlin: G. Bondi 1923. Ders.: Napoleon und die Deutschen. Berlin: G. Bondi 1926. »Mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts nähert sich der Parlamentarismus, auch der englische, mit schnellen Schritten der Rolle, die er selbst dem Königtum bereitet hat, er wird ein eindrucksvolles Schauspiel für die Menge der Gläubigen, während der Schwerpunkt der großen Politik, wie er rechtlich von der Krone zur Volksvertretung hinüberging, nun aus dieser in Privatkreise und den Willen von Privatpersonen verlegt wird. [...] Es ist der Übergang vom Napoleonismus zum Cäsarismus, eine allgemeine Entwicklungsstufe vom Umfang wenigstens zweier Jahrhunderte, die in allen Kulturen nachzuweisen ist«. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München: C. H. Beck 1973, S. 1080f. Werner Hegemann: Napoleon oder »Kniefall vor dem Heros«. Helleraus: J. Hegner 1927, S. 7.

186

Hartmut Scheible

Stil angeregter Konversation aus, ohne dass der originale Wortlaut ihrer Äußerungen im geringsten geändert würde. Während im Fridericus und im Geretteten Christus die Gespräche in der kultivierten Abgeschiedenheit der fiktiven Villa Boccanera nahe Neapel stattfinden, wodurch sich die Erinnerung an die Tusculum-Gespräche Ciceros und an die in Castigliones Libro del Cortegiano portraitierte höfische Gesellschaft von Urbino wach wird, finden die Gespräche über Napoleon in einem »Zauberschloß« auf dem eisigen Gipfel des Montblanc statt.11 Man könnte ja vielleicht kein besseres Sinnbild für das Streben der [...] internationalen Gespräche finden als diese höchste Burg des Festlandes, die sich wie ein neues Monsalvat in der Mitte der feindlichen Völker Europas erhebt, als wäre sie geschaffen für die [...] Zwecke [...] gewissenhaften Gedankenaustausches und anzustrebenden Ausgleiches zwischen den sich allmählich besser verstehenden Gegnern.12

Schon die Wahl des aller Realität entrückten Schauplatzes lässt erkennen, wie Hegemann den Völkerbund einschätzt bzw. dessen auf Europa beschränkte Alternative, den Paneuropäischen Kongress, der zuerst 1926 in Wien getagt hatte. Was die Qualität der vielgerühmten internationalen Verständigung betrifft, so bleibt sie nach Hegemanns Auffassung zufällig und oberflächlich, da sie einem ihr äußerlich bleibenden Mechanismus folgt: Ein Teil der Tische in den Sitzungssälen steht auf einer Art Drehscheibe, die sich langsam innerhalb eines unbeweglichen Ringes, auf dem die andere Hälfte der Tische steht, um die eigene Achse dreht, so dass im Verlaufe der Konferenz tatsächlich jeder mit jedem in ein – nach kurzer Zeit zwangsweise abgebrochenes – Gespräch gerät.13 Alsbald wird erkennbar, dass die mit dem Ziel einer (angeblich) friedlichen Verständigung angetretenen Verhandlungspartner – also die Verteidiger eines ›friedliebenden‹, europäisch gesonnenen Napoleon unter Führung von Max Lenz und Gustav Stresemann auf der einen und die Ankläger der ›Eroberungsbestie‹ Napoleon auf der anderen Seite – nichts anderes sind als potentielle Kriegsparteien, die denn auch sofort eine drohende Haltung gegeneinander einnehmen. Als der Hausherr nach end- und ergebnislosen Debatten schließlich die Konferenzteilnehmer auffordert, sich endlich auf ein Bild von Napoleon zu einigen, tritt die Katastrophe in Form von chemischen Bomben ein, die über dem ›Zauberschloß‹ abgeworfen werden. Am Ende bleiben nur vier Überlebende übrig.

11

12 13

»Auf der Suche nach einer möglichst imaginären, d. h. also sinnbildlichen Örtlichkeit erinnerte ich mich an das »Zauberschloß auf dem Gipfel des Montblanc«, das der Napoleon-Dichter Grabbe für die wenig überzeugenden Zwecke seines liebesdurstigen Faust entweihte«. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 25ff.: »Dabei gab die Kürze der jedem gewährten Frist den Unterhaltungen etwas epigrammatisch Leichtes und ermutigte selbst Schweigsame zur Mitteilung überraschender Einfälle«.

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre

187

Wer, wie Werner Hegemann, mit einem untrüglichen Sinn ausgestattet ist für die Residuen von Gewalt, die noch in den menschenfreundlichsten Mythen wie dem von der »humanen« Iphigenie Goethescher Prägung14 enthalten sind, schafft sich keine Freunde. »Da Napoleon gerade von Goethe besonders verehrt wurde und Goethe vielfach als der vollkommenste Deutsche betrachtet wird, liegt die Vermutung nahe, dass Napoleon einen Typ des Gewaltherrschers darstellt, der den Deutschen besonders gemäß und kongenial ist«.15 Dass Hegemann mit diesen Worten allerdings ziemlich genau getroffen hat, was in den Köpfen der Zeitgenossen wirklich vor sich geht, erweist sich schon wenige Jahre später durch die Untersuchungen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Die Erhebungen zum aktuellen Bewusstsein des Proletariats in Deutschland, die Max Horkheimer nach seiner Ernennung zum neuen Direktor des Instituts in die Wege leitet, haben zum Ergebnis, dass das Bewusstsein der überwiegenden Mehrheit der Arbeiterschaft derart demokratiefeindlich und autoritär fixiert ist, dass es praktisch keine Rolle spielt, ob die Grundeinstellung ›links‹ oder ›rechts‹ ist; entsprechend unkritisch fällt die Bewunderung für den Gewaltherrscher Napoleon aus. Dieser Befund, den zu veröffentlichen Horkheimer wohlweislich unterließ, musste auf die linksintellektuellen und marxistischen Kritiker des Bürgertums nicht zuletzt deshalb einen verheerenden Eindruck machen, weil damit die Revolutionstheorie, die von Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein entwickelt worden war, in Frage gestellt bzw. widerlegt war.

II In seinem Aufsatz Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats hatte Lukács die These vertreten, dass im kapitalistischen System die Proletarier durch ihre Stellung im Produktionsprozess so konsequent unterdrückt, ihrer Individualität beraubt (›verdinglicht‹) und dadurch zum bloßen Objekt der Geschichte gemacht werden, dass sie nicht einmal ansatzweise mehr die Illusion entwickeln können, Subjekte des Geschichtsprozesses zu sein. Der revolutionäre, alle Verdinglichung sprengende Befreiungsschlag sei daher unausweichlich. Hingegen sei der Untergang der Bourgeoisie notwendig, gerade weil sie aufgrund ihres Verfügens über ästhetische und andere weltanschauliche Reservate einstweilen noch die Illusion hegen könne, das eigene Schicksal und den Verlauf der Geschichte aktiv gestalten zu können.16 14

15 16

Vgl. Hartmut Scheible: Wider den falschen Mythos. Werner Hegemanns »Der gerettete Christus oder Iphigenies Flucht vor dem Ritualopfer«. In: Die Atriden. Literarische Präsenz eines Mythos. Hg. von Marion George und Andrea Rudolph. Dettelbach: J. H. Röll 2009. Hegemann, Napoleon (wie Anm. 10), S. 13. Vgl. Hartmut Scheible: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988 (Rowohlts Enzyklopädie; 468), S. 428–436.

188

Hartmut Scheible

Von Lukács inspiriert dürfte der berühmte Essay Die Biographie als neubürgerliche Kunstform (1930) sein, in dem Siegfried Kracauer die stabilisierende Wirkung der zur literarischen Modeerscheinung gewordenen Gattung der Biographie betont: »Inmitten der erweichten unfasslichen Welt wird der Zug der Geschichte zum Element. Die Geschichte, die sich uns eingebrockt hat, taucht als Festland aus dem Meer des Gestaltlosen, Nichtzugestaltenden auf«.17 Die Biographie als Form der neubürgerlichen Literatur versteht Kracauer als ein Zeichen der Flucht bzw. der Ausflucht. Um sich nicht durch Erkenntnisse bloßzustellen, die das Dasein der Bourgeoisie in Frage ziehen, harren die Biographen unter den Schriftstellern wie vor einer Wand an der Schwelle, bis zu der sie von den Weltereignissen vorgetrieben worden sind. Daß sie von ihr aus wieder ins bürgerliche Hinterland fliehen, statt sie zu übertreten, beweist die Analyse des Durchschnitts der Biographien.18

Kracauers Kritik zielt natürlich vor allem auf Emil Ludwig, den bekanntesten und erfolgreichsten Verfasser historisch-biographischer Werke. Die Biographie führt exemplarisch vor, wie einzelnen Individuen es immer wieder gelingt, den Verlauf der Geschichte nicht nur zu beeinflussen, sondern ihm für ein Jahrhundert und mehr die Richtung vorzugeben. In diesem Sinne heißt es zum Beschluss des Nachworts von Ludwigs Napoleon-Biographie: Was ein Mann durch Selbstgefühl und Mut, Leidenschaft und Phantasie, Fleiß und Willen erreichen kann: er hat’s bewiesen. Heut, in der Epoche der Revolutionen, die aufs neue dem Besten jede Bahn eröffnen, findet die glühende Jugend Europas als Vorbild und Warnung keinen Größeren als ihn, der unter allen Männern des Abendlandes die stärksten Erschütterungen schuf und litt.19

Gegenwartsbezug und die Möglichkeit der Nutzanwendung auf die eigene Person des Lesers sind es, die Ludwigs Biographien für ein breites bürgerliches Publikum attraktiv machen. In der Stunde der größten politischen und weltanschaulichen Not, unmittelbar nach der militärischen Niederlage und dem Untergang des Kaiserreichs, hatte Ludwig mit seinem Goethe. Geschichte eines Menschen (1920) das übermächtige Bedürfnis nach einem intakt gebliebenen Vorbild erfüllt. Dass das Buch zum Welterfolg werden konnte, ist der von Ludwig entwickelten Methode zu verdanken, seinen Helden »nicht bloß menschlich vollendet, sondern« – unter popularisierender Verwendung der von Nietzsche und Freud entwickelten psychologischen Enthüllungstechniken – zugleich »vollendet menschlich«20 erscheinen zu lassen. Durch die »Aufdeckung seines Seelenle17 18 19 20

Siegfried Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963, S. 75–80, hier S. 76. Ebd., S. 78. Emil Ludwig: Goethe. Geschichte eines Menschen. Berlin, Wien, Leipzig: Zsolnay 1931 (Ungekürzte Sonderausgabe), S. 676. Ebd.: Vorrede zur hundertsten Auflage, S. 6.

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre

189

bens«, die den Helden als einen Menschen mit allerlei Schwächen und Skurrilitäten erscheinen lässt, wird es möglich, dass der Leser sich mit ihm auf einer Ebene zu treffen vermag. Ludwig wird nicht müde zu beteuern, dass »der größte Geist, den das Jahrtausend hervorgebracht hat, weit mehr sich selbst als dem Schicksal verdankte«. Keineswegs sei Goethes Begabung »viel größer« gewesen »als die einiger andrer Dichter, nur der Sturm seines Innern war in der Jugend stärker [...]. Was schließlich daraus geworden ist, das ist seine Leistung [...]«.Nur auf diese Weise, nur wenn »geniale Menschen« nicht »vergöttert« werden, können sie zu Vorbildern werden und auf »die Nachgeborenen produktiv« wirken. Die Begegnung mit dem Genie ist nicht einer kleinen Elite vorbehalten – insofern markiert Ludwigs biographische Methode die demokratische Gegenposition zu Stefan George und seiner Schule –, vielmehr solle sie »jedem« zum »feurigen Ansporn werden, das Mögliche aus sich herauszuholen«.21 Hatte den Spruch, dass es für den Kammerdiener keinen Helden gebe, Hegel einst ergänzt durch den Zusatz, das liege nicht daran, dass der Held kein Held, sondern dass der Kammerdiener ein Kammerdiener sei,22 so liefert Ludwig einen Helden, der den mittlerweile gestiegenen Ansprüchen des Kammerdieners gerecht wird, ohne ihn indessen zu überfordern. Da natürlich auch Ludwig weiß, dass der Nachahmung des eigentlich schöpferischen Potential Goethes enge Grenzen gesetzt sind, muss die Bedeutung der poetischen Werke erheblich relativiert werden zugunsten von Dokumenten, die dem Lebenslauf jedes beliebigen Menschen eine Rolle spielen könnten: Ihm sei, bemerkt Ludwig, während der Arbeit an der Goethe-Biographie nie der Gedanke gekommen, »das Werk könnte wichtiger sein als der Brief, das Gedicht kostbarer als der Aufsatz, oder ein Drama müsste an Wert ein Gespräch überragen«.23 Da es Ludwig ausschließlich um das – zur Nachahmung empfohlene – Seelenleben Goethes geht, ergibt sich der paradoxe Befund, dass sein Werk über den 21 22

23

Ebd., S. 10. Hegels Kritik der Kammerdiener-Perspektive könnte bereits mit Blick auf das biographische Verfahren Emil Ludwigs geschrieben worden sein: »Diese Psychologen hängen sich dann vornehmlich auch an die Betrachtung von den Particularitäten der großen, historischen Figuren, welche ihnen als Privatpersonen zukommen. Der Mensch muß essen und trinken, steht in Beziehung zu Freunden und Bekannten, hat Empfindungen und Aufwallungen des Augenblicks. Für einen Kammerdiener giebt es keinen Helden, ist ein bekanntes Sprüchwort; [...] nicht aber darum, weil dieser kein Held, sondern weil jener der Kammerdiener ist. [...] Die geschichtlichen Personen, von solchen psychologischen Kammerdienern in der Geschichtschreibung bedient, kommen schlecht weg; sie werden von diesen ihren Kammerdienern nivellirt, auf gleiche Linie oder vielmehr ein Paar Stufen unter die Moralität solcher feinen Menschenkenner gestellt«. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Hg. von Hermann Glockner. Elfter Band. Stuttgart-Bad Cannstatt: FrommannHolzboog 1971, S. 62. Ludwig, Goethe (wie Anm. 19), S. 5.

190

Hartmut Scheible

bedeutendsten deutschen Dichter ohne literarische Kriterien, ohne Kritik und ohne ästhetische Fragestellungen welcher Art auch immer auskommt. Allerdings geht der Anspruch, den Ludwig mit seinem Buch über Napoleon erhebt, über die Perspektive eines fortschrittlichen Kammerdieners weit hinaus. Nach der dringend notwendigen Stabilisierung des bürgerlichen Selbstbewusstseins mit seinem Goethe will er mit dem fünf Jahre später (1925) erschienenen Napoleon für das aufgeklärte Bürgertum eine Perspektive entwerfen, die auf der Höhe der Zeit ist, mit demokratischer und sogar europäischer Gesinnung. Er will nicht an der ›Wand‹, durch die Kracauer bürgerliches Denken begrenzt sieht, kehrt machen, sondern er will dem Bürgertum die Möglichkeit eröffnen, weiterhin handlungsfähig zu sein. Vermutlich wären die Angehörigen des Bürgertums mit einem starken Mann im großen und ganzen ganz einverstanden, aber man will ihn doch nicht, wie das bei Oswald Spengler der Fall ist, einfach vorgesetzt bekommen, man will teilhaben an dem, was ihn antreibt. Dieses Ziel erreicht Emil Ludwig weniger durch exakte historischen Forschungen, als vielmehr auf dem Wege der Einfühlung. Hatte Ludwig, um eine von jedermann nachvollziehbare ›Seelengeschichte‹ Goethes liefern zu können, die Werke des Dichters weitgehend unbeachtet lassen müssen, so muss er nun von den Taten Napoleons abstrahieren.24 Schließlich ist es nicht jedem Leser gegeben, sich selbst zum Kaiser krönen oder einen Russlandfeldzug organisieren zu können. Das hat zunächst den Vorteil, dass Napoleon weitgehend abgekoppelt werden kann von den aktuellen politischen Belastungen (Versailler Diktat, Ruhrkampf), die das Verhältnis zu Frankreich prägen: »Napoleons Gestalt«, bemerkt Ludwig, habe »mit der Nation, für oder gegen die er kämpfte, so wenig zu tun [...] wie mit der Moral«.25 Nicht die politischen Ereignisse in Napoleons Leben stehen daher im Vordergrund, nicht seine Schlachten und Feldzüge, vielmehr geht es um Napoleons Seelenstärke und Dynamik, die gleichsam sozialisiert werden sollen, damit jedermann auf sie Zugriff haben kann – jedenfalls jeder Leser von Ludwigs Buch. Aus diesem Grunde nimmt der Autor sich vor, »das Innere dieses Mannes ständig prüfen, seine Entschlüsse und Hemmungen, Taten und Leiden, Phantasieen und Calcüle aus den Stimmungen des Herzens erklären« zu wollen. Die »große Kette der Gefühle«, die »inneren Stimmungen« sind »zugleich Mittel und Zweck der Darstellung«. Da Ludwig beabsichtigt, die »Geschichte einer großen Seele« zu schreiben, sich also ganz auf die Innenperspektive zu konzentrieren, muss er, wie er betont, die Darstellungsweise des Künstlers

24

25

»Jeder Konflikt mit seinen Brüdern, mit seiner Frau, jede Stunde der Melancholie oder des Stolzes, sein Zürnen und Erbleichen, Tücke und Güte gegen Freund oder Feind, jedes Wort an seine Generale oder an Frauen, wie sie Briefe oder verbürgte Gespräche überliefern, schien wichtiger als die Schlachtordnung von Marengo, der Friede von Lunéville oder die Einzelheiten der Kontinentalsperre«. Ebd., S. 674. Ebd.

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre

191

wählen; dagegen benötige der Historiker, dem die »Erforschung der Wahrheit« obliege, »andere Talente als die Kunst der Darstellung«.26 Diesen Gegensatz – und damit die methodologische Grundlage von Ludwigs Napoleon-Biographie überhaupt – hat Heinrich Ritter von Srbik in seiner Doppelrezension der Napoleon-Bücher von Ludwig und Hegemann eindringlich kritisiert. Ginge es um einen Roman, so wäre eine solche Verfahrensweise ohne weiteres denkbar; nicht jedoch bei einer Biographie, durch die ein historisches Individuum zum Leitbild einer durch Orientierungslosigkeit bedrohten Epoche geformt werden soll. Emil Ludwig mag, betont der Rezensent, die Napoleons Leben bestimmenden Fakten, die politischen Winkelzüge, Schlachten, Siege und Niederlagen in ihrer Bedeutung für die »Seele« gering schätzen: um der Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit willen der von ihm vergegenwärtigten Napoleon-Gestalt bedarf er ihrer doch; letzten Endes: muss er also darauf beharren, das »Seelengemälde«, bei aller künstlerischen Gestaltung, doch »auf streng historischer Basis« entworfen zu haben. Diesen Widerspruch kritisiert Srbik als unauflösbar,27 so dass sich schließlich für ihn die grundsätzliche Frage stellt, ob Ludwigs Methode bei einer Gestalt wie Napoleon überhaupt Anwendung finden kann: Niemals kann [...] dieser Feldherr und Staatsmann mit seiner ungeheuren Außenorientierung nur als Innenproblem [...] verstanden werden [...]. Auch für den Innenmenschen Napoleon ist der »Hergang der Schlachten« nicht »belanglos«, zumindest wirft manche Einzelheit Napoleonischer Schlachten Licht auf seine Denk- und Willensart. Eine Monographie seines Gefühls- und Vernunftdaseins ohne beständige Beachtung der »Taten« [...] erscheint mir [...] unmöglich.

Srbik resümiert: »Aber freilich, den Versuch hat noch niemand gewagt, nur den Innenmenschen Napoleon zu schildern«.28

26 27

28

Ebd., S. 673. »Wie reimt es sich, daß Ludwig den Historikern die Erforschung der Wahrheit als Pflicht zuschreibt, sich ihnen als Künstler gegenüberstellt, dem die Kunst der Darstellung zusteht, und doch die ›streng historische Basis‹ für sich in Anspruch nimmt und den historischen Roman ablehnt? Er nimmt doch zweifellos gleichfalls ›die Erforschung der Wahrheit‹ auf seinem seelengeschichtlichen Gebiet für sich in Anspruch; wo liegt also die Gegensätzlichkeit gegenüber den Historikern, d. h. wohl den Berufshistorikern«? Srbik, S. 593f. »Und mit Recht ist dieser Versuch nicht gewagt worden: eher [596] noch kann ein weltabgewandter Denker oder Dichter gleichsam als isoliertes Innenwesen betrachtet werden, niemals aber ist ein Tatenmensch größten Formates in seiner seelischen und gedanklichen Haltung ohne beständige lebendigste Verflechtung mit seiner Epoche, mit ihren Einzelereignissen, die er geschaffen und die auf sein Denken, Fühlen und Wollen in jedem wechselnden Momente zurückwirken, zu begreifen; niemals ohne die großen überindividuellen Wandlungen, in die er hineingeriet, die ihn bestimmten und die er bestimmte«. Ebd., S. 595.

192

Hartmut Scheible

III Es ist Joseph Roth, dessen Tendenz, der Geschichte zu entfliehen,29 seit Jahren unübersehbar ist, der ein Jahrzehnt später sich auf dieses Wagnis einlässt. Auf den ersten Blick erkennbar ist, dass sein Napoleon-Roman Die Hundert Tage nach dem von Emil Ludwig vorgegebenen Modell konstruiert ist, mit dem Unterschied, dass Roth die historischen Determinanten von Napoleons Leben nicht nur, wie Ludwig, in den Hintergrund zu rücken, sondern sie so gut wie vollständig zu ignorieren beabsichtigt. Über die kurze Zeitspanne, die sein Roman umfasst – zwischen der Rückkehr von der Insel Elba, die Napoleon als selbständiges Fürstentum zugewiesen worden war, und der Einschiffung als Gefangener nach St. Helena – schreibt Roth an seine Übersetzerin Blanche Gidon: »Il m’intéresse, ce pauvre Napoléon – il s’agit pour moi de le transformer: un Dieu redevenant un homme – la seule phase de sa vie, où il est ›homme‹ et malheureux«.30 Damit ist absehbar, dass Roth bei der Arbeit an seinem Roman auf ganz ähnliche Probleme stoßen wird, wie dies bereits bei Emil Ludwig der Fall war. Auch wenn er bestreitet, dass finanzielle Gründe eine Rolle gespielt hätten, so dürfte doch die chronische und immer wieder dramatisch sich zuspitzende Geldknappheit zu dem Entschluss beigetragen haben, durch einen historischen Roman mit überschaubarem Zeit- und Handlungsrahmen von einer gerade bei Emigranten beliebten Modeströmung zu profitieren. Das Beispiel seiner Mitbewohner in dem von Hermann Kesten gemieteten Haus am Boulevard des Anglais in Nizza dürfte ein übriges getan haben. Bei den in die Emigration gegangenen Schriftstellern, die den direkten Kontakt zum aktuellen Geschehen in ihren Herkunftsländern, zu ihren Verlagen und ihrem Publikum verloren haben, ist der historische Roman ein beliebtes Genre, da er es ermöglicht, sich dennoch, wenn auch indirekt, mit den Zuständen in ihrer Heimat auseinanderzusetzen. Kesten arbeitet an Ferdinand und Isabella, Heinrich Mann am ersten Teil des Henri Quatre. Als Roth klar wird, worauf er sich eingelassen hat, ist es zu spät; schon aufgrund der Vorschüsse, die er von seinem Verlag erhalten hat, kann er es sich buchstäblich nicht leisten, die Arbeit abzubrechen. »Das ist das erste und das letzte Mal, daß ich etwas ›Historisches‹ mache«, schreibt er an René Schickele. Es sei »unwürdig«, fährt er fort, »festgelegte Ereignisse noch einmal formen zu wollen – und respektlos. Es ist etwas Gottloses drin – ich weiß nur nicht genau was«?31 Was die ›Gottlosigkeit‹ des historischen Romans betrifft, so ist es müßig, hinter jeder 29

30 31

Vgl. Hartmut Scheible: Joseph Roths Flucht aus der Geschichte. In: Joseph Roth. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text und Kritik 1974 (Sonderband Text und Kritik), S. 56–66. Joseph Roth an Blanche Gidon, 17. November 1934. In: Joseph Roth: Briefe 1911– 1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 394. Joseph Roth an Rene Schickele, 1935. In: Ebd., S. 412.

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre

193

als tiefere Einsicht sich gerierenden Ausdünstung eines in Alkohol eingelegten Gehirns partout einen wie auch immer gearteten Sinn erkennen zu wollen. Dagegen lässt sich immerhin nachvollziehen, wie Roth zu seiner immer entschiedener und immer heftiger formulierten Abneigung gegen den historischen Roman kommt. Mit dem Erscheinen seines Romans Waverly im Jahre 1814 hatte Walter Scott die Gattung des historischen Romans zwar nicht begründet, aber er hatte ihr zu einem unerhörten Aufschwung verholfen.32 Das galt für Deutschland in besonderem Maße; während um 1820 hier nur etwa jeder zwanzigste Roman als ›Historischer Roman‹ zu bezeichnen war, gehört nur fünf Jahre später bereits jeder dritte Roman diesem Genre an. Es ist, als sei plötzlich die Tür jenes ziemlich engen Zimmers aufgestoßen worden, in das bisher der Roman eingeschlossen war, insbesondere die spezifisch deutsche Ausprägung der Gattung, der auf das einzelne Individuum bezogene Bildungs- und Entwicklungsroman. Zwar wird der Begriff des Bildungsromans erst 1803 geprägt (durch den Kritiker und Literaturtheoretiker Karl Morgenstern, 1770–1852), der Sache nach gibt es ihn jedoch bereits seit Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774). Aufgabe des Romanautors ist für Blanckenburg, die »Theilnehmung« des Lesers zu wecken »für das, was den Menschen eigentlich angeht, ohne daß wir auf ihn, als Glied eines gewissen Staates denken fähig sind [...]«.33 Auch das für den Bildungsroman wesentliche Merkmal, dass die Entwicklung des Helden sich in einem kontinuierlichen, an einem Telos orientierten Prozess der individuellen Vervollkommnung zu vollziehen habe, ist bei Blanckenburg bereits Teil der Romantheorie.34 Waren ›Bildung‹ und ›Bildungsroman‹ bisher nur auf das einzelne Individuum bezogen,35 so schien mit den im Zusammenhang mit den Befreiungskriegen gegebenen Verfassungsversprechen die Möglichkeit gegeben, individuelle Bildung, bürgerliche Emanzipation und nationale Einigung miteinander zu verbinden und damit aus der Beschränkung auf das einzelne Individuum herauszutreten. Nachdem selbst der preußische König es für notwendig und richtig gehalten hatte, durch einen in den Zeitungen veröffentlichten Aufruf »An mein Volk« die Menschen nicht mehr als Untertanen zum Kriegsdienst einzufordern, sondern als Staatsbürger zum

32 33

34

35

Hugo Aust: Der historische Roman. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994. Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart: Metzler 1965, Vorbericht, S. XIVf. »Diese Veränderung in unsrer Theilnehmung kann das menschliche Geschlecht seiner Vervollkommnung näher bringen. Der Romanendichter soll es mit dahin führen helfen«. Ebd., S. XV. Vgl. W. H. Bruford: The German Tradition of Self-Cultivation. ›Bildung‹ from Humboldt to Thomas Mann. Cambridge: Cambridge University Press 1975.

194

Hartmut Scheible

Kampf gegen den Fremdherrscher aufzurufen,36 schien eine Rückkehr in den Zustand der politischen Unmündigkeit nicht mehr möglich zu sein. Als mit dem Wiener Kongress dann aber, gegen alle Erwartungen, eine Phase der Restauration und der mit den Mitteln des Polizeistaats betriebenen Unterdrückung aller freiheitlicher Bestrebungen einsetzt, gibt es, insbesondere nach den scharfen Zensurbestimmungen der Karlsbader Beschlüsse (1819), wohl keinen anderen Ausweg, wenigstens einen Rest der Zukunftshoffnungen zu bewahren, als diese in eine bessere Vergangenheit zu verlegen. In dieser Situation kommt der historische Roman gerade recht (Wilhelm Hauff, Lichtenstein, 1826). Da insbesondere die ›jungdeutschen‹ Autoren – Heinrich Laube, Karl Gutzkow, auch Willibald Alexis und Hermann Kurz – sich des Genres annehmen, erschöpft es sich nicht in der Ausmalung von Bildern und Szenen antiquarischen Inhalts – das wird erst in den detailverliebten kulturhistorischen Novellen Wilhelm Heinrich Riehls der Fall sein – sondern lässt erkennen, dass die Historienbilder in der Perspektive auf eine demokratische Gegenwart gesehen werden wollen. Daher kann Robert Prutz den historischen Roman gegen seine Verächter verteidigen, weil in ihm sich der Übergang vollziehe von der Beschränkung auf das Privatleben zur Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Zustände in Deutschland.37

IV Vor diesem Hintergrund erscheint es als nicht verwunderlich, dass Roth den historischen Roman kompromisslos ablehnt. Denn er ist verbunden mit den beiden Begriffen, denen sein ganzer Hass gilt: dem Begriff des Fortschritts und dem der Nation. »Fortschritt« ist für Roth nichts anderes als eine Chiffre für die Selbstvergötzung des Menschen (vielleicht hat der historische Roman deshalb für ihn »etwas Gottloses«), die »Nation« ist das Prinzip, das den Untergang seines »Vaterlandes« verursacht hat, des »einzigen«, das er je besessen habe, der supranationalen »österreichisch-ungarischen Monarchie«.38 Den Zionismus lehnt Roth ab, weil er zum Ziel hat, aus den Juden, der übernationalen Gemeinschaft schlechthin, eine Nation wie alle anderen zu machen.39 Um 36

37 38 39

Vgl. Hartmut Scheible: »Ich kann schreiben nach jeder Richtung«. Journalistenkomödien von Kotzebue bis Schnitzler. In: Ders.: Liebe und Liberalismus. Über Arthur Schnitzler. Bielefeld: Aisthesis 1996, S. 9–57, hier S. 19f. Vgl. Robert Prutz: Stellung und Zukunft des historischen Romans. In: Ders.: Kleine Schriften. Zur Politik und Literatur. 2 Bde. Merseburg: Garcke 1947. Vgl. Joseph Roth an Otto Forst-Battaglia, 28. Oktober 1932. In: Roth, Briefe (wie Anm. 30), S. 240. »Ein Zionist ist ein Nationalsozialist, ein Nazi ist ein Zionist. (...) Vergessen Sie, bitte, nicht, daß [...] die Zionisten – im Unterschied von allen andern Juden – den Nazis sehr nahe stehen; daß sogar [...] Sympathien zwischen beiden vorhanden sind,

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre

195

den aufs schwerste kompromittierten Begriff der Nation außer Kraft zu setzen, versucht Roth den historischen Roman wieder in Einzelschicksale auflösen, ihn also von den ›politisch-socialen Zuständen‹, von denen Prutz gesprochen hatte, wieder abzukoppeln, mit dem Ziel, sich erneut auf die Darstellung des ›Privatlebens‹ zu konzentrieren. Dass mit dieser Wendung der Roman in Gefahr ist, sein zeitkritisches Potential einzubüßen, hat Roth möglicherweise nicht übersehen, jedenfalls aber in Kauf genommen. Hatte, nach dem Ende der spekulativen Geschichtsphilosophie Hegelscher Prägung, Johann Gustav Droysen in seinen Arbeiten zur Historik eine Antwort zu geben versucht auf die Frage, wie aus Geschehen Geschichte werde, so unternimmt Roth mit seinem Napoleon-Roman den Versuch, dieses Verfahren umzukehren und das Abstractum Geschichte wieder in anschauliche Geschehnisse aufzulösen. Allerdings kann es nicht ausbleiben, dass auch Roth von jener Antinomie eingeholt wird, die untrennbar verbunden ist mit Droysens Postulat eines »forschenden Verstehens«, das für die Arbeit des Historikers verbindlich sein soll.40 Droysen meint damit eine entschiedene Abkehr von dem spekulativen Verfahren der idealistischen Geschichtsphilosophie zugunsten einer genauen Erforschung der Tatsachen, ohne dabei das Ziel des Verstehens aufzugeben, Geschichte also nicht in unverbundenes Geschehen zerfallen zu lassen. In diesem Sinne hat Droysen selbst als Erkenntnisziel der von ihm begründeten preußisch-kleindeutschen Geschichtsschreibung den Nachweis betrachtet, dass seit dem 15. Jahrhundert es der »deutsche Beruf« Preußens gewesen sei, durch Verfolgen einer geeigneten Machtpolitik auf die Herstellung eines geeinten Nationalstaats hinzuwirken. In seinem im Jahre 1916 erschienenen Aufsatz Das Problem der historischen Zeit hat Georg Simmel diesen Gedanken aufgegriffen und festgestellt, dass die Vorstellung von einem kontinuierlichen Verlauf des Geschehens nur ein von dem konkreten historischen Inhalt zurücktretender, abstrakt reflektierender Gedanke ist, während die [...] Bildung dieses Inhalts sich in der [...] Form der Diskontinuität der »Ereignisse« bewegt! Die ›Schlacht von Zorndorf‹ ist ein [...] aus unzählig vielen Einzelvorgängen gebildeter Kollektivbegriff. In dem Maße, in dem die Kriegsgeschichte jene Einzelheiten zur Kenntnis bringt, jeden Angriff, jede Deckung [...], also sich dem Bilde dessen, was »wirklich« war, mehr nähert – in eben diesem Maß atomisiert sich der Begriff der Schlacht [...].41

40 41

wie zwischen Nationalisten selbstverständlich ist [...]«. Joseph Roth an Stefan Zweig, 14. August 1935. In: Ebd., S. 420f. Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Stuttgart, Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog 1977. Georg Simmel: Das Problem der historischen Zeit. In: Ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit Margarete Susman hg. von Michael Landmann. Stuttgart: K. F. Koehler 1957, S. 43–58, hier S. 53f.

196

Hartmut Scheible

Wenn Simmel dergestalt während des Weltkriegs, also in einer mit nationalistischen Parolen hochgradig aufgeladenen Zeit, einen historischen Nominalismus als zumindest erwägenswert darstellt und damit zulässt, dass der für das preußische Selbstverständnis zentrale Begriff des Siebenjährigen Krieges in immer kleinere Einheiten zerlegt wird, bis hin zu »einem einzelnen Handgemenge zwischen einem preußischen und einem österreichischen Grenadier bei Kunersdorf«,42 so ist zwar die kritische Wendung gegen eine nationale, vom einzelnen Individuum absehende Geschichtsschreibung unübersehbar, zugleich aber wird auch deutlich, dass die kleinsten Einheiten, zu denen er schließlich gelangt, letzten Endes unbegriffen und zufällig bleiben. Ein kompromisslos zu Ende geführter historischer Nominalismus, der sich jeder Zusammenfassung einzelner Geschehnisse zu übergreifenden Sinneinheiten verweigerte, wäre zwar geeignet, eine ideologisch überformte Geschichtsschreibung zu unterlaufen, aber er könnte auch zur Folge haben, dass eine kritische Deutung der Geschichte unmöglich würde.

Exkurs: Chantal Thomas: Les Adieux à la reine Anhand des Romans Les Adieux à la reine von Chantal Thomas lässt sich indessen demonstrieren, dass auch ein in konsequent nominalistischer Perspektive erzählter historischer Roman gelingen kann, ohne dass damit auf Deutung und Kritik Verzicht zu leisten wäre.43 Die dem Kleinadel entstammende Demoiselle Agathe-Sidonie Laborde, ehemals zweite Vorleserin der Königin Marie-Antoinette, erzählt, aus dem Wiener Exil des Jahres 1810 zurückblickend, den Verlauf der drei Schicksalstage des Ancien régime, vom 14. bis 16. Juli 1789, wie sie sich, um wenige Stunden zeitversetzt, gefiltert durch die jeweiligen Boten und angereichert mit diversen Gerüchten, der Hofgesellschaft in Versailles darstellt. Durch ihre Tätigkeit gehört sie zwar zum innersten Zirkel, sie bleibt aber, da die mehr an Mode als an Literatur interessierte Königin sie nur selten beschäftigt, eine Randfigur; sie verfügt daher über genügend Zeit, alle Vorgänge in ihrer Umgebung aufs genaueste zu beobachten, nicht zuletzt auch zu dem Zweck, die jeweilige Stimmung der psychisch labilen Königin einschätzen zu können, um jederzeit die passende Lektüre parat zu haben. Für die intime Kennerin der Etikette, durch die alle ablaufenden Vorgänge mit ritueller Gleichförmigkeit gesteuert werden, nehmen die geringsten Abweichungen infolge der Pariser Vorgänge, die in Versailles nur undeutlich und gerüchtweise wahrgenommen werden, sofort die Dimension von weltgeschichtlichen Katastrophen an; es genügen geringfügige kleinste Veränderungen im Verhalten der Dienerschaft, kaum nachweisbare Nachlässigkeiten, um in der verängstigten Vorleserin apokalyptische Visionen auszulösen. War die 42 43

Ebd., S. 56. Chantal Thomas: Les Adieux à la reine. Paris: Edition du Seuil 2002.

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre

197

bei allem äußeren Glanz kleine Welt von »Versailles« derart in sich geschlossen, dass die Tore des Schlosses nachts offenstehen konnten, ohne dass dies der Vorleserin jemals bewusst geworden wäre, so löst die plötzlich eingeführt nächtliche Schließung bei ihr einen panikartigen Schrecken aus, wie er durch eine tumultuarisch sich nähernde revolutionäre Masse nicht stärker hätte ausfallen können. Dass es außerhalb von »Versailles« eine Welt gibt, diese Tatsache, die sie längst vergessen hatte, und dass diese Welt der Ihrigen feindlich gegenüberstehen könne, ist ihr mit der Plötzlichkeit eines Schocks wieder ins Bewusstsein gerufen worden. Dass mit Les Adieux à la reine ein nominalistisch verfahrender, dabei aber nicht auf ›Deutung‹ verzichtender historischer Roman entstehen konnte, ist vor allem zwei Faktoren zu danken. Zum einen kommt bei Thomas die zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermittelnde Person selbst zu Wort, wodurch der Ausdruck größerer Authentizität erreicht wird. Nicht bevormundet durch einen Erzähler, der, wie das bei Roth der Fall ist, sich keineswegs neutral verhält, sondern sein eigenes Weltbild massiv zur Geltung bringt, kann sie die Auswahl der Dinge, Eindrücke und Menschen, die ihr wichtig erscheinen, selbst treffen. Außerdem ist sie durch Herkunft und Bildungsstand zwar keine herausragende, aber auch nicht unwissende, törichte, willen- und bewusstlos ihren Trieben folgende Gestalt wie Angelina in Joseph Roths Roman. Die Demoiselle Laborde ist ein typischer ›mittlerer Charakter‹, was erwarten lässt, dass ihre Wahrnehmungen, Hoffnungen, Ängste und Urteile in keiner Weise extravagant wirken, so dass sie, obzwar subjektiv vermittelt, einen Eindruck von ›Objektivität‹ entstehen lassen. Diese ›mittlere‹ Stellung, die sie einnimmt, schließt ein, dass ihr ein detaillierter und differenzierter Einblick in die umfassenden politischen und historischen Zusammenhänge fehlt; verhielte es sich anders, so wäre die Auswahl der ihr bedeutsam erscheinenden Einzelheiten eine ganz andere, die Möglichkeit einer ›nominalistischen‹ Sichtweise wäre in Frage gestellt. Dass das von ihr Berichtete dennoch nicht zusammenhanglos und unbegriffen bleiben muss, sondern in einen größeren Deutungszusammenhang eingefügt werden kann, ist einem kompositionstechnischen Bravourstück zu verdanken: Chantal Thomas lässt ihre Erzählerin nicht aus einem zeit- und ortlosen Off berichten, vielmehr ist die Erzählgegenwart genauso präzise angegeben – der 12. Februar 1810, Wien, Grashofgasse – wie die erzählte Zeit (14. bis 16. Juli 1789). Durch den Namen Napoleon schließen sich damit Vergangenheit und Gegenwart zu einer Sinneinheit (im Sinne Droysens bzw. Simmels) zusammen, die es erlaubt, alle, auch die geringsten, Geschehnisse wie in einem Kraftfeld zu ordnen und damit verstehbar werden zu lassen. Mit dem Einzug Napoleons in Wien findet die Entwicklung ihren Höhepunkt und Abschluss, die in jenen Julitagen des Jahres 1789 ihren Anfang genommen hatte: die Revolution. Sie hat in Bonaparte ihren Vollender, Überwinder und Verräter gefunden. Die Einnahme Wiens ist für Napoleon Höhepunkt und Wendepunkt

198

Hartmut Scheible

zugleich: sie ist verknüpft mit der ersten militärischen Niederlage, der Schlacht von Aspern-Essling (21./22. Mai 1809), die ihm den Mythos der Unbesiegbarkeit raubt, und sie geht einher mit der Vermählung mit der Tochter des Kaisers, Marie Louise (11. März/1. April 1810), durch die der Usurpator die Epoche der Revolution definitiv abschließt. Die bruchstückhaften, subjektiven und scheinbar willkürlichen Beobachtungen und Aufzeichnungen, Gefühlregungen und Schockerlebnisse der Vorleserin schließen sich spätestens im Rückblick zusammen zu den Anfängen eines welthistorischen Texts.

V Dagegen ist Joseph Roth nicht in der Lage, mit seinem Napoleon-Roman Die Hundert Tage auf überzeugende Weise ein Geschichte in Geschehnisse auflösendes Werk zustandezubringen, obwohl das zugrundeliegende Konzept überaus klar erkennbar ist: Zwei der vier Bücher des Romans sind der Gestalt des Kaisers und des ihn umgebenden Mythos gewidmet, zwei weitere der Gestalt der Wäscherin Angelina, die dem Mythos Napoleon immer mehr verfällt, ihm ihren Glauben (und damit ihr Seelenheil), ihr Lebensglück und letzten Endes sogar ihren Sohn opfert. Napoleon dagegen gelingt es, sich von seinem Mythos zu distanzieren und, indem er zum Büßer, ja zu einem zweiten Hiob wird, zu Gott zurückzufinden. Der Vergleich Napoleons mit Hiob entbehrt jeder Grundlage, da es zwischen beiden Gestalten keine Gemeinsamkeit gibt, mit der einzigen Ausnahme, dass Napoleon anscheinend glaubt, mit der Niederlage von Waterloo einen unverdienten Schicksalsschlag erlitten zu haben; wobei es keine Rolle spielt, ob die Stelle Roths Auffassung (bzw. die des Erzählers), oder die des Kaisers über sich selbst zum Ausdruck bringt.44 In beiden Fällen lässt der wehleidige Vergleich mit Hiob den ›bekehrten‹ Napoleon noch abstoßender erscheinen als die ›Eroberungsbestie‹, die er einmal war. Die Tatsache, dass Roth nicht mehr fähig ist, Menschen und ihre Schicksale erzählerisch zu gestalten, hat im übrigen zur Folge, dass er das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich gemeint und darzustellen beabsichtigt hatte. Dieser Defekt hat seine Ursache darin, dass aufgrund mangelnder Gestaltungskraft des Autors seine Figuren selbst erklären müssen, was mit ihnen geschieht. Wenn beispielsweise Roth es als seine Absicht erklärt, »faire un

44

»It is immaterial whether any analogy between Napoleon and Job is legitimate, for Roth is not comparing Napoleon with Job; he is having Napoleon compare himself with Job. The important fact is the overpowering influence Napoleon feels from this image of a man humbled before God«. Bruce M. Broerman: Joseph Roth’s ›Die Hundert Tage‹: A New Perspective. In: Modern Austria Literature. Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association 11 (1978), Nr 2, S. 35–50, hier S. 40.

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre

199

›humble‹ d’un ›grand‹«,45 dann ist es die schwierige, prinzipiell aber lösbare Aufgabe des Erzählers, die tiefgreifende Verwandlung, die mit Napoleon vor sich geht, auf nachvollziehbare und überzeugende Art und Weise darzustellen.46 Versagt der Erzähler vor dieser Aufgabe, oder weicht er ihr, aus welchem Grund auch immer, aus, wird also die Gestalt vom Erzähler alleingelassen, dann muss diese selbst erklären, was mit und in ihr vorgeht, mit desaströsen Folgen: »Ich bin mehr als ein Kaiser, ich bin ein Kaiser, der verzichtet. Ich halte ein Schwert in der Hand, und ich lasse es fallen. [...] Ich halte ein Zepter, und ich wünsche mir ein Kreuz – ja, ich wünsche mir ein Kreuz«!47 Eine Intention – »faire un ›humble‹ d’un ›grand‹« –, die nicht mehr in erzähltes Geschehen verwandelt, sondern nur noch deklamatorisch von der Gestalt selbst propagiert wird, schlägt in ihr Gegenteil um: anstelle einer neuen Demut erscheint die alte Hybris des Kaisers, der aber durch seine winselnde Bigotterie jede Würde verloren hat. Von der Kunst des großen Erzählers Joseph Roth ist hier nicht mehr übriggeblieben als das traurige Vermögen, den pseudoreligiösen Kitsch bis an die Grenze zur Blasphemie zu steigern. Dass Roth sein Versagen als Erzähler selbst bemerkt, geht aus dem Gespräch hervor, dass der Kaiser, kurz vor der Abdankung, mit seinem Bruder führt: »Ich werde abdanken« – antwortete Napoleon. – »Ich bin nicht müde, aber ich bin [...] verwandelt. Siehst Du: ich glaube nicht mehr an all das, woran ich immer geglaubt hatte: an die Gewalt, an die Macht und an den Erfolg. [...] Noch kann ich zwar nicht an das andere glauben, an die Macht, die wir nicht kennen. [...] An die Menschen glaube ich nicht mehr, und an Gott glaube ich noch nicht. Ich fühle ihn aber schon, ich beginne schon, ihn zu fühlen«! (W, 2, S. 604)

Wenn Napoleons Läuterung, sein Weg zu Gott, das eigentliche Anliegen ist, das Roth mit seinem Roman verfolgt, dann handelt es sich bei dieser Passage, in der der Kaiser über seine ›Wandlung‹ spricht, um eine der wichtigsten Stellen des Romans überhaupt. Aber selbst hier muss die Romangestalt für den 45 46

47

Joseph Roth an Blanche Gidon, 17. November 1934. In: Roth, Briefe (wie Anm. 30), S. 395. Die Absicht, Napoleon auf alle Größe verzichten zu lassen, ist allerdings von vornherein dadurch entwertet, dass der Kaiser nach der verlorenen Schlacht von Waterloo ohnehin keine andere Wahl mehr hat, als sich in seine Situation zu schicken: »Dabei wird man den Gedanken nicht los, daß der Kaiser [...] aus der Not eine Tugend macht«. Helmut Famira-Parcsetich: Die Erzählsituation in den Romanen Joseph Roths. Hg. von Armin Arnold, Michael S. Batts und Hans Eichner. Bern, Frankfurt: Lang 1971 (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur; 2), S. 107. Joseph Roth: Werke. Neue erweiterte Ausgabe in vier Bänden. Hg. von Hermann Kesten mit dem Vorwort zu der dreibändigen Ausgabe der Werke von 1956 und dem Vorwort zur erweiterten Neuausgabe 1975/1976. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1975/1976, Bd 2, S. 601. Diese Ausgabe wird im folgenden im Text mit Band- und Seitenzahl zitiert.

200

Hartmut Scheible

Erzähler in die Bresche springen und etwas verkünden, was zu gestalten dieser unterlassen hat. Roth mag das gespürt und im letzten Augenblick versucht haben, die plötzliche, durch nichts vorbereitete und daher wenig überzeugende ›Wandlung‹ des Kaisers dadurch etwas weniger unvermittelt erscheinen zu lassen, dass er Napoleon noch ›auf dem Weg‹ sein lässt. So kommt es, dass dieser gar nicht Zeugnis ablegt von seinem neuen Glauben, er beschränkt sich vielmehr auf die vage Absichtserklärung, in Zukunft – irgendwann einmal – gläubig sein zu wollen. Damit ist, so mag Roth kalkuliert haben, der Erzähler erst einmal aus dem Schneider, denn, was noch gar nicht geschehen, was bisher nicht mehr als ein ›Gefühl‹ ist, das zu gestalten ist er einstweilen nicht verpflichtet. Dieser Versuch des hoffnungslos überforderten Erzählers, sich aus der Verantwortung zu stehlen, ist in seiner Hilflosigkeit so absurd, dass er nahe daran ist, in Komik umzuschlagen und dadurch versöhnend zu wirken, er lässt an den Versuch Kants denken, der störenden Gedanken an den Diener Lampe, den er gerade (1802) hatte entlassen müssen, dadurch sich zu erwehren, dass er in seinem Merkheft notierte: »Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden«!48 Folgt man Roths Roman, so könnte es wohl sein, dass Napoleon in der Verbannung auf St. Helena auf seinem Schreibtisch einen Zettel vor sich liegen hatte – »Gott muss nun unbedingt geglaubt werden«! –, den er niemals aus den Augen verlor. Während es Napoleon – zumindest nach der Intention des Autors – gelingt, sich von dem ihn umgebenden Mythos zu befreien, zu innerer Einkehr und zu Gott zu finden, nimmt die Lebensgeschichte der Wäscherin Angelina Pietri, die parallel zu den Taten Napoleons erzählt wird, einen gegensätzlichen Verlauf. Die Vermutung, dass in Angelinas bis zur Selbstpreisgabe gesteigerter Verblendung die Verführbarkeit der Massen im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland exemplarisch wiedergegeben sein soll,49 ist plausibel, allerdings muss über das Verhältnis von Angelina und Napoleon in Joseph Roths Roman auch gesagt werden, dass der Kaiser und die Wäscherin eigentlich nichts miteinander zu tun haben.50 Wahrscheinlich spielt auch hier die ständige Geldknappheit des Autors eine Rolle; sie lässt ihn um dringend benötigter Vorschusszahlungen willen immer neue Verträge abschließen, so dass 48 49

50

Vgl. Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: Beck 2005, S. 92–94. »The vast majority of people remain unaware that the real leader is their own eagerness to be manipulated. This is, in effect, an indirect characterization of the German masses under Hitler [...].« Broerman, Roths Hundert Tage (wie Anm. 44), S. 45. »Beide Geschichten, die Angelinas und die des Kaisers, sind durch die Handlung kaum oder nur sehr oberflächlich und kolportagehaft miteinander verbunden«. Dieter Kliche: Joseph Roths Napoleon-Roman ›Die Hundert Tage‹. In: Joseph Roth. Interpretation Rezeption Kritik. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions 1989. Hg. von Michael Kessler und Fritz Hackert. Tübingen: Stauffenburg Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart 1990 (Stauffenburg Colloquium; 15), S. 157–166, hier S. 163.

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre

201

keine Zeit bleibt, begonnene Projekte mit der gebotenen Sorgfalt zu Ende zu bringen. Die Verbindungen, die Roth zwischen den Gestalten des Kaisers und der Wäscherin herzustellen versucht, sind denn auch von unübersehbarer Dürftigkeit: Als im Park des Élysée-Palastes der Kaiser zufällig auf Angelina trifft, die unerlaubt bis in seine unmittelbare Nähe vorgedrungen ist, verzichtet er, nachdem sich herausgestellt hat, dass sie aus Ajaccio stammt, in einer Regung landsmannschaftlicher Verbundenheit darauf, sie bestrafen zu lassen. Das einzige Motiv, das etwas sorgfältiger ausgeführt wird, ist das der sexuellen Hörigkeit, die wohl der eigentliche Grund dafür ist, dass Angelina Napoleon und seinem Mythos verfallen ist: Zweimal in der Woche war Angelina befohlen, die Badezimmer im Schloß zu besorgen. Sie kam zuerst in das Badezimmer des Kaisers. Die frischen Spuren seiner nassen Füße sah sie auf dem Boden. Sie roch den Geruch seines Körpers in den feuchten Tüchern und verharrte eine lange Weile auf der Stelle, reglos, betäubt und pflichtvergessen. Manchmal aber brachte sie einen ungeheuren Mut auf: sie preßte ein Tuch an ihr Herz, sie drückte einen Kuß auf das Leinen, flüchtig und verstohlen, und obwohl sie allein war, errötete sie. Sie liebte noch die geringste der kaiserlichen Spuren. (W, 2, S. 522)

Leider handelt es sich bei Angelinas Fixiertheit auf den Kaiser wohl nicht um eine Jungmädchenschwärmerei, in der kaum erwachtes Begehren und der absolute Willen zu unbedingter Hingabe sich verbinden, vielmehr steht die sexuelle Grundierung von Angelinas Fanatismus in engem Zusammenhang mit Roths misogynem Frauenbild, das im Frühwerk mit machohaftem Überlegenheitsgetue beginnt51 und in den späten Jahren damit endet, dass Roth noch seinen wüstesten Ressentiments die Zügel schießen lässt: »Ein Volk, das sich vergewaltigen lässt, ist (ebenso, wie eine Frau) in den Vergewaltiger verliebt«.52 Ihrem Ziel am nächsten kommt Angelina, als man ihr zu verstehen gibt, der Kaiser werde sie – die höchste Ehre, die den Dienerinnen widerfahren kann – in der kommenden Nacht in sein Schlafzimmer rufen lassen. Als sie im Morgengrauen einsehen muss, dass sie vergebens gewartet und dass der Kaiser sie verschmäht hat, ist sie in ihrer hoffnungslosen Fixierung auf ihr Idol noch bestärkt, was dazu führt, dass ihr eigenes Lebensglück ihr gleichgültig geworden ist: als müsste sie den Platz in ihrem Herzen noch immer für den Einen freihalten, folgen ihre Liebhaber mehr oder weniger zufällig aufeinander; den Antrag des polnischen Schusters Wokurka, der sie heiraten und mit ihr in seine Heimat zurückkehren möchte, lehnt sie ab. 51

52

Vgl. Roths frühe Geschichte Das Kartell (1923). In: Werke in sechs Bänden. Hg. von Klaus Westermann und Fritz Hackert. Mit einem Vorwort zur Werkausgabe von Fritz Hackert und Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, 4, S. 54–61. Vgl. hierzu den Beitrag von Véronique Uberall in diesem Band. Joseph Roth, Berliner Saisonbericht. Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920–39. Hg. und mit einem Vorwort von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1984, S. 419.

202

Hartmut Scheible

Wahrscheinlich ist hier die Stelle, an der sich der Roman am ehesten mit einem konkreten Bezug auf die Gegenwart lesen lässt. Schon im Jahre 1931 hatte Roth vorhergesagt, dass der heraufziehende Totalitarismus die Menschen bedingungslos vereinnahmen werde: »Alle werden Sie Ihr Privatleben verlieren, das EINZIG Wichtige. [...] Es gibt nichts Wichtigeres, als PRIVATMENSCH sein, die Frau lieben, die Kinder auf den Schoß nehmen [...]«.53 Zwischen der Abreise Napoleons nach Elba und seiner Wiederkehr sieht es einmal so aus, als könne Angelina sich dem alles verschlingenden Mythos Napoleon entziehen. Den Schuster Wokurka, dessen Zuneigung sie bisher geringgeschätzt hatte, sieht sie plötzlich in einem anderen Licht: »In einem einzigen Augenblick wurde ihr klar, dass er ihr längst kein unheimlicher Fremder mehr war, sondern ein vertrauter, stiller Genosse, dass er sie lieben musste, wie sie noch niemand geliebt hatte [...]«. (W, 2, S. 568) Für einen Augenblick scheint es, als könne der Mythos Napoleon verblassen und sie freigeben: Am Abend des Tages, an dem Angelina und der Schuster sich einig geworden sind, trinken sie Wein aus einer mit einem Oval versehenen Karaffe: »Im Oval war der Kaiser Napoleon zu sehn [...] gefärbt und gleichsam durchblutet vom roten Wein [...]. In dem Maße, in dem sich die Karaffe lehrte, wurde der Kaiser blasser, ferner [...], und es war Angelina, als sähe sie ihn sterben, Stück für Stück seines Körpers [...]«. (W, 2, S. 569) Dass Wokurka in ihr Leben tritt, bedeutet für Angelina die Chance, doch noch ein ›Privatleben‹ führen zu können im gesunden Klima einer ›Heimat‹, die weit entfernt ist von einem zwielichtigen Mythos, der die Grenzen von Wirklichkeit und Imagination verschwimmen lässt in einer Welt, in der selbst die Jahreszeiten ineinander übergehen: Er begann, immer häufiger davon zu sprechen, daß man heiraten müßte und nach Polen zurückkehren und alles vergessen und ein neues Leben anfangen. Daheim in Polen, in seinem Gora Lysa, war jetzt dichter, guter Schnee, ein klirrender, gesunder Frost, es gab große, runde Brote mit schwarzbrauner Rinde, und man bereitete sich schon für Weihnachten vor. In dieser Welt hier regnete es auch im Dezember [...], weit war der große Kaiser, der allein imstande gewesen wäre, Wokurkas Heimweh auszulöschen. (W, 2, S. 570f.)

Bei aller Faszination durch den Kaiser hat der polnische Schuster sich doch so viel Unabhängigkeit und Wirklichkeitssinn bewahrt – für ihn spielt Napoleon, sobald er kein politischer Machtfaktor mehr ist, keine Rolle mehr –, dass er ihm nicht bedingungslos verfallen ist, während bei Angelina es wohl gerade die Unerreichbarkeit ihres Idols ist, die es ihr dann doch unmöglich macht, sich von ihm zu lösen und sich für ein Leben mit Wokurka zu entscheiden. Ob über die Kritik an Angelinas bedingungsloser Unterwerfung unter den Willen des totalitären Machthabers hinaus es möglich ist, in den ersten drei im Exil 53

Joseph Roth an Friedrich Traugott Gubler, 31. Januar 1931. In: Roth, Briefe (wie Anm. 30), S. 191.

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre

203

entstandenen Romanen – Tarabas (1934), Die hundert Tage (1935) und Beichte eines Mörders (1936) – den »Willen zur Auseinandersetzung mit dem Faschismus«54 zu sehen, muss allerdings bezweifelt werden. Tarabas wandelt sich von einem gewalttätigen Kriegshelden zum Büßer und Heiligen, wohingegen Golubtschik (Beichte eines Mörders), der ursprünglich um sein Recht gekämpft hatte, zum Gewaltverbrecher wird, der am Schluß seine Erfüllung in einem mörderischen Krieg findet. Napoleon, der nach der Rückkehr von der Insel Elba das Kruzifix auf dem Boden hatte zerschellen lassen, entsagt allen Machtphantasien und geht in sich, wo er dem Papst, dem er einst übel mitgespielt hatte, begegnet und sich von ihm mores lehren lässt. »Nimmt man die drei Romane zusammen«, resümiert Kliche, [...] so spiegelt sich Roths Antifaschismus in der Auseinandersetzung [...] um die Probleme moralischer Verantwortung in einer aus den Fugen geratenen Welt [...]. Protagonisten stehen im Zentrum, die von Positionen usurpierter Macht zur Einkehr, Umkehr, Demut und Buße gelangen.55

Hilfloser und unspezifischer, aber auch unpolitischer kann »Antifaschismus« nicht mehr sein.

VI Löst man aber die historische Dimension von dem Roman ab, dann bleiben nur Phrasen allgemeinster Art übrig (Napoleon als »Godseeker«),56 eine Ansammlung von pseudoreligiösem Kitsch auf einem Niveau, für das jedes Kirchenblättchen aus der Provinz sich zu schade sein müsste. Gegen Ende des Romans hält, in einer Art Tagtraum, Napoleon Zwiesprache mit dem Papst, demselben, den er einst gezwungen hatte, nach Paris zu kommen, um ihn dort zum Kaiser der Franzosen zu krönen: »Ich bin ewig! « rief der Kaiser. »Du bist vergänglich!«, sagte der Greis, »wie ein Komet. Du leuchtest allzu stark! Dein Licht verzehrt sich selbst [...]. Aus dem Schoß einer irdischen Mutter bist du geboren«! In diesem Augenblick war es dem Kaiser, als verwandelte sich die Gestalt des Greises in die Gestalt seiner Mutter. Er sank auf die Knie und verbarg seinen Kopf in ihrem Schoß. »Nabulio«! sagte sie zu ihm. Sie trug das rote, wallende Gewand des Heiligen Vaters, und sie sagte: »Ich vergebe dir alles! Ich vergebe dir alles! Nabulio, liebstes meiner Kinder«! Er erhob sich, da schlug es Mitternacht von den Türmen der stillen Stadt. (W, 2, S. 626)

54 55 56

Kliche, Roths Napoleon (wie Anm. 49), S. 159. Ebd. Broerman, Roths Hundert Tage (wie Anm. 44), S. 44.

204

Hartmut Scheible

Wenn Roth im Gegensatz zu einem »Zeitalter, welches sich aus seinem inneren Gegensatz zur Religion heraus bestimmt«,57 an der Notwendigkeit von Religion festhält, so liegt dieser Haltung gewiss auch die Einsicht zugrunde, dass »im Zuge der Rationalisierung die Aufklärung nicht hinreichend über sich selbst aufgeklärt wurde«. Auch bei Roth taucht Religion als »Korrektiv zu den Truismen eines einseitig rationalisierten Subjektivitätsverständnisses« auf, aber nicht, um in einem ideologiekritischen Sinne »die emanzipativen Anlagen der Aufklärung zu einem moralischen Selbst-Abschluss« zu bringen, sondern, im Gegenteil, um eine »Überwindung von Pluralismus [und] Säkularismus«58 einzuleiten. In seinem Bemühen, dem unbedingten Herrschaftsanspruch des Totalitarismus eine nicht weniger unbedingte Absage zu erteilen, geht Roth, spätestens seit dem Antichrist (1934), dazu über, den Anspruch der Religion (wie er sie versteht) zu verabsolutieren auf Kosten einer durch die Aufklärung hindurchgegangene Vernunft, die nun ohne jede Einschränkung als Teufelswerk exorziert wird. Was Roth noch für Religion hält, wird zum Wahn; das meinte wohl der zeitgenössische Rezensent, der in Roths Antichrist »deutlich die Spuren beginnender geistiger Umnachtung« zu entdecken meinte.59 Weil Roth in seinem unbedingten Kampf gegen den Totalitarismus die Vernunft verabschiedet, nimmt sein Denken schließlich selbst totalitäre Züge an. Seine politischen Urteile fallen nur solange sicher und treffend aus, als er noch nicht seinem pseudoreligiösen Fundamentalismus verfallen ist. Noch Ende August 1925 schreibt er an Benno Reifenberg, unter Anspielung auf die ostpreußische Herkunft des wenige Monate zuvor zum Reichspräsidenten gewählten Feldmarschalls Paul von Hindenburg: »Ich kann nicht sehn, wie ganz Deutschland ein großer masurischer Sumpf wird. Wäre ich jetzt dort, ich würde wahnsinnig. Alles wird bei mir persönlich. Wenn man den Becher einsperrt, sitze ich in Haft«.60 Als Roth diese Zeilen schreibt, ist seine Begeisterung für Revolution und Sozialismus bereits Vergangenheit; dennoch vermag er sich mit dem ihm politisch nicht gerade nahestehenden Johannes R. Becher zu identifizieren, weil die persönliche Betroffenheit noch nicht das allgemeine Bezugssystem, die gemeinsame Gegnerschaft gegen den im Aufstieg begriffenen Nationalsozialismus, außer Kraft gesetzt hat. Fünf Jahre später heißt es in einem Brief an Friedrich Traugott Gubler: »Alles Öffentliche ist einen Dreck wert, das Land, die Politik, die Ztg, das Hakenkreuz, die Demokratie. Man 57

58 59

60

Michael Kühnlein: Religion als Quelle des Selbst. Zur Vernunft- und Freiheitskritik von Charles Taylor. Tübingen: Mohr Siebeck 2008 (Religion in Philosophy and Theology; 33), S. 3. Ebd., S. 4. Schalom Ben-Chorin: Zum Tode Joseph Roths. In: Jüdische Rundschau 1939, S. 5. Zitiert nach David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 439. Joseph Roth an Benno Reifenberg, 30. August 1925. In: Roth, Briefe (wie Anm. 30), S. 64.

»Mythos Napoleon« in der Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre

205

muss leben wie ein Bauer [...]«.61 Hier ist die für den späteren Roth charakteristische Abkehr nicht nur von der Politik, sondern auch schon von der Geschichte (»leben wie ein Bauer«) bereits vollzogen, offenbar als Reaktion auf den immer deutlicher sich abzeichnenden Totalitarismus; wenn das Herrschaftssystem beansprucht, das Leben der Menschen umfassend und durchgreifend – »total« – zu reglementieren, dann gerät in der Tat das Festhalten an einem Bereich des Privaten bereits zu einem Akt der Opposition; eines Widerstands, der allerdings ohnmächtig und ziellos zu werden droht, wenn alles, was nicht im Privaten aufgeht, unterschiedslos als »Dreck« denunziert wird. Die – sozusagen – ›theoretische‹ Begründung für eine Haltung, die zwischen ›Hakenkreuz‹ und ›Demokratie‹ nicht mehr zu unterscheiden vermag, liefert Roth, erneut drei Jahre später, in einem Brief an Zweig: »Es hat keinen Sinn, an das Allgemeine zu denken, wenn das Besondere dermaßen bedrängend ist«.62 Authentizität für seine Einstellung glaubt er durch Hinweis auf seine eigene, desolate Situation beanspruchen zu können: »Wenn Sie genau wüßten, wie es mir geht! Wie umstellt ich ringsum bin von Finsternissen! Ich fürchte, tageweise, für meinen Verstand [...]. Ich leide ensetzlich [...]«!63 Das beispiellose Leiden, das er, Joseph Roth, und nur er allein als Folge des Zusammenbruchs sämtlicher Vermittlungsinstanzen auszuhalten hat, bringt aber auch einen Zustand hervor, dem seit längerem seine geheime Sehnsucht gilt: den Zustand der Unmittelbarkeit zu Gott. Deshalb muss Roth eifersüchtig darauf bedacht sein, dass kein anderer so leidet wie er: das ist seine Form von Hybris. Wenn alle das Individuum mit anderen Menschen vermittelnde Instanzen nur noch ›Dreck‹ sind, dann endlich ist Joseph Roth mit seinem Gott allein, dann endlich darf er beanspruchen, dass Gottes Sichtweise auch die seine ist. »Ich schreibe lediglich zu dem Zweck, um mir selbst klarzuwerden«, sagt Franz Ferdinand Trotta, der Erzähler in Roths letztem Roman, Die Kapuzinergruft; »und auch pro nomine Dei sozusagen«. (W, 2, S. 349) Damit hat Roth – denn wenn irgendwo, gegen literaturwissenschaftliche Prinzipien, Erzähler und Autor miteinander identifiziert werden dürfen, dann hier – endlich die Sichtweise gleichsam offiziell gemacht, die er seit jeher angestrebt hatte. Schon zehn Jahre zuvor (1929, also vor dem Erscheinen seiner Meisterwerke Hiob und Radetzkymarsch) hatte er zu erkennen gegebenen, dass er für sich eine Sichtweise beansprucht, die er selbst wohl als überparteilich und als überhistorisch bezeichnet hätte: »Von dem Standpunkt aus, von dem ich Reaktionäre, Liberale, Radikale, Oppositionelle einzig sehen kann, sehen die ›Kreuzzeitung‹ aus wie der ›Vorwärts‹, Wilhelm II. wie Scheidemann, die Juden wie die Antisemiten«. (W, 4, S. 230 – Joseph Roth antwortet) Das ist die Perspektive, in 61 62 63

Joseph Roth an Friedrich Traugott Gubler, 31. Januar 1931. In: Roth, Briefe (wie Anm. 30), S. 192. Joseph Roth an Stefan Zweig, 2. August 1934. In: Roth, Briefe (wie Anm. 30), S. 368. Ebd., S. 349.

206

Hartmut Scheible

der dann ein Urteil wie das über Ossietzky gefällt wird, das Dieter Kliche zu Recht »skandalös«64 genannt hat, das jedoch, in Roths Perspektive, keineswegs zufällig, kein alkoholbedingter ›Ausrutscher‹, sondern durchaus konsequent ist. Bezeichnenderweise erscheint dieses Urteil in einem Zusammenhang, in dem Roth auf das Verhältnis zwischen dem ›Ganzen‹ und dem einzelnen ›Augenblick‹ zu sprechen kommt, also auf den Bereich, in dem seine Wahrnehmungsweise zutiefst gestört ist: Ach! Ich weiß, das Ganze ist nicht so wichtig! Aber es gibt manchmal Augenblicke, in denen ich dazu neige, es wichtig zu nehmen und zu glauben, es sei sogar entscheidend. [...] Dann werde ich allerdings sehr grausam – und ich bedaure nicht, daß z. B. Ossietzky im Konzentrationslager ist. Wieviel Schaden würde er anrichten, wenn er draußen wäre!65

Leider handelt es sich bei diesem Urteil nicht um eine Art ›Ausrutscher‹, der vielleicht durch einen besonders heftigen Alkoholexzess zu entschuldigen wäre, vielmehr kann gerade dieser Satz beanspruchen, absolut folgerichtig der Weltsicht Roths zu entspringen. Vielmehr fallen genau so Urteile aus, die für sich beanspruchen, die Vermittlungen von Zeit und Geschichte hinter sich gelassen und bei Gott angekommen zu sein. Was der späte Joseph Roth als eine Erkenntnisweise »pro nomine Dei« für sich in Anspruch nahm, ist in der Geschichte der Philosophie als intellektuelle Anschauung bekannt: »Gott erkennt alles anschauend«. Kant hat darauf beharrt, dass diese Art einer begriffslosen Erkenntnis allein Gott vorbehalten sei, während bei den Menschen eine Erkenntnis, die nicht auf dem Zusammenspiel von Begriff und Anschauung beruhe, notwendig in die Irre gehe.66 Mit starkem Misstrauen hat er die Versuche des politischen Sehers Fichte und des religiösen Schwärmers Schelling verfolgt, diese Dialektik aufzuweichen zugunsten einer vermeintlich höheren, direkteren Form von Erkenntnis. Diesen, wie er sich ausdrückte, in der Philosophie »neuerdings erhobenen vornehmen Ton« lehnte Kant entschieden und kompromisslos ab. Er wusste, warum.

64 65 66

Kliche, Roths Napoleon (wie Anm. 49), S. 157. Joseph Roth an Stefan Zweig, 26. August 1934. In: Roth, Briefe (wie Anm. 30), S. 373. »Wer sich also im Besitz der letztern [der intellektuellen Anschauung] zu sein dünkt, wird auf den erstern [den Gebrauch der mit Begriffen operierenden Vernunft] mit Verachtung herabsehen; und, umgekehrt, ist die Gemächlichkeit eines solchen Vernunftgebrauchs eine starke Verleitung, ein dergleichen Anschauungsvermögen dreist, anzunehmen«. Immanuel Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. Werke III. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, S. 272.

Klaus-Detlef Müller

Ein Roman aus der Perspektive des Journalisten Joseph Roths Das Spinnennetz

Zu den eindrucksvollsten Texten im feuilletonistischen Werk Joseph Roths gehören die Figurenporträts. Sie bezeichnen ein eigenes Genre. Sein Gegenstand sind nicht selbständige Individuen, sondern Typen, die von ihrer Zeit und von ihren gesellschaftlichen Umständen geprägt sind und diese repräsentieren. Geschildert werden Sozialcharaktere, deren Mentalität epochenbedingt ist und in denen im Sinne von Roths großem Vorbild Heinrich Heine die Signatur ihres Zeitalters zur Erscheinung gelangt und lesbar wird. In ihrem Verhalten und in ihrem Denken manifestiert sich die Tagesaktualität in Gestalt von Rollenmustern und Symptomen,1 die aus der genauen Beobachtung scheinbar peripherer Phänomene gewonnen werden, die aber Aufschluss darüber geben, wie die Wirklichkeit verfasst ist.2 Auf ganz und gar unpolitische Weise sind die mitgeteilten Beobachtungen daher sehr wohl politisch und werden so dem Medium der Tagespresse gerecht. Dabei kommt dem Kleinscheinenden und Alltäglichen ein hoher Zeichenwert zu. Roth folgt hier, wie grundsätzlich in seiner journalistischen Praxis, der Verfahrensweise seines Mentors Alfred Polgar, eines der wichtigsten Vertreter des Wiener Feuilletons, die er folgendermaßen charakterisiert hat: »Polgar schreibt kleine Geschichten ohne Fabel und Betrachtungen ohne Resümee. […] Er poliert das Alltägliche so lange, bis es ungewöhnlich wird. Was soll er noch mit dem Ungewöhnlichen«? (W, 2, S. 521)3 Was dabei impliziert ist, ist der Anspruch, dass ein Feuilleton erst durch künstlerische Arbeit zu einem objektiven Zeitzeugnis wird, das zwar für den Tag geschrieben ist, aber über den Tag hinaus Geltung beanspruchen darf. Das Aufschreiben des Alltäglichen ist, wie Roth unter Berufung auf Heine, der »das Feuilletonunheil in die Welt gebracht« hat, festhält, »eine künstlerisch große Leistung und somit eine ethische. […] Heine hat vielleicht kleine Tatsachen umgelogen, aber er sah eben die Tatsachen, wie sie sein sollten«. (W, 1, 1

2 3

Hierzu Irmgard Wirtz: Joseph Roth. Fiktionen des Faktischen. Das Feuilleton der zwanziger Jahre und »Die Geschichte der 1002. Nacht« im historischen Kontext. Berlin: Schmidt 1997. Zu Roths feuilletonistischem Werk vgl. besonders: Klaus Westermann: Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere 1915–1939. Bonn: Bouvier 1987. Zitate im Text nach: Joseph Roth: Werke. Hg. von Klaus Westermann und Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1990. Angegeben sind Band- und Seitenzahl.

208

Klaus-Detlef Müller

S. 617) Denn, »nur die Kleinigkeiten des Lebens sind wichtig«. (W, 1, S. 565) Das gilt auch und ganz besonders für Roths Figurenporträts. Von dem Revolutionär Tunda in Die Flucht ohne Ende heißt es, als er zu schreiben beginnt: »Schriftsteller erleben alles durch das Mittel der Sprache, sie haben kein Erlebnis ohne Formulierung« (W, 4, S. 407) Dabei entsteht ein ambivalentes Verhältnis zur Gegenständlichkeit, denn »die schriftstellerische Objektivität erfordert eine ganz bestimmte Art von Sympathie für die zu beschreibenden Menschen, eine literarische Sympathie, deren sich unter Umständen auch ein Schuft erfreuen kann.« (Der Patron, W, 3, S. 24) In der Regel schlägt aber das »private Herz in einer sentimentalen […] Weise für die kleinen Wesen«. (Ebd.) Ihre Existenz ist durch die Zeit und die Verhältnisse bestimmt und wird in einer lakonischen Folge von exemplarischen Lebensvorgängen, nicht in singulären Ereignissen festgehalten. Das erfordert »die Haltung eines modernen Autors, der keine Fabeln spinnt, sondern die Augen aufmacht. Es gibt keine spannenderen Fabeln als die Realität«. (W, 2, S. 821f.) Deshalb misstraut er der Fiktion: »Es handelt sich nicht mehr darum zu ›dichten‹. Das Wichtigste ist das Beobachtete«. (Die Flucht ohne Ende, W, 4, S. 391) Da aber das Typische sich immer im Besonderen manifestiert, enthalten die Figurenporträts oft auch das Potential zu einer Geschichte, und so sind viele Erzählungen Roths erweiterte Feuilletons und greifen die frühen Romane immer wieder auf die im Feuilleton entwickelte Darstellungstechnik zurück. Verbindende Momente sind die Prägung der Figuren durch Zeit und Gesellschaft, eine aus der Beobachtung begründete Wahrnehmung und der künstlerische Anspruch eines objektiven, der ›Fabel‹ gegenläufigen Erzählverfahrens. Roth hat seine journalistische Tätigkeit zu einer Art Betriebsunfall stilisiert: aus dem Krieg nach Wien zurückgekehrt, habe er »aus Mangel an Geld zu schreiben [begonnen]. Man druckte meine Dummheiten. Ich lebte davon. Ich wurde Schriftsteller«.4 Das bedeutet freilich keineswegs, dass er seine literarischen Ambitionen aufgegeben hätte, die er zunächst auf dem Gebiet der Lyrik zu verwirklichen gesucht hatte. Dem Vorurteil gegen die journalistische Tagesschriftstellerei begegnet er selbstbewusst mit der Feststellung, die ›Zeitung‹ sei eines Dichters nicht unwürdig, das Feuilleton sei nicht wertloser als ein Roman«.5 Es war freilich nach Robert Musils Einschätzung eine ›Eliteredaktion‹ Wiener Schriftsteller in Benno Karpeles Der Neue Tag, in die Roth eintrat: Hier konnte sich das Feuilleton tatsächlich zu einer anspruchsvollen Kunstform entwickeln, die dichterischen Rang beanspruchen durfte. Unter dieser Voraussetzung erweist sich die übliche Hierarchie der Schreibenden als Vorur4

5

Joseph Roth an Gustav Kiepenheuer. Brief vom 10. Juni 1930. In: Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 167. Die biographischen Bezüge und Mystifikationen untersucht David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974. Joseph Roth an Bernhard von Brentano. Brief vom 7. Mai 1924. In: Roth, Briefe (wie Anm. 4), S. 42.

Ein Roman aus der Perspektive des Journalisten

209

teil einer bornierten Kritik und der ihr hörigen Leserschaft. In seinem programmatischen Feuilleton Einbruch der Journalisten in die Nachwelt (W, 2, S. 519ff.) ironisiert Roth, inzwischen selbst Romanautor, die dümmliche Grenzziehung: »Wenn deutsche Journalisten Bücher schreiben, bedürfen sie beinahe einer Entschuldigung. Wie kommen sie dazu? Wollen die Eintagsfliegen in den Rang höherer Insekten aufsteigen«? Die Grenze zwischen Journalistik und Literatur sei mitnichten die zwischen dem »Reich der Ewigkeiten« und der »Tagesschriftstellerei«. Aktualität sei keineswegs der Dichtung unwürdig und ebenso wenig mit dem Tag verbraucht: »Ein Journalist […] kann, er soll ein Jahrhundertschriftsteller sein«. Er beruft sich auf Alfred Polgar und Egon Erwin Kisch, dessen Aufsätze, Novellen und Tagebuchblätter »Stoffe für sechsundzwanzig Romane seien« und das ihrer künstlerischen Form verdankten. Damit ist, pointiert gesagt, der Hiat zwischen Feuilleton- und Romanschriftstellerei geschlossen.6 Beide Genres, in denen er parallel produziert, sind für Roth ›Kunstgattungen‹. Die Wirklichkeit des Tages gewinnt in Beobachtung und ästhetischer Wiedergabe ›künstlerische Wahrheit‹. Der erste so begründete Roman ist der ›Zeitungsroman‹ Das Spinnennetz.7 Er erscheint als Fortsetzungsroman in der Wiener Arbeiter Zeitung vom 7. Oktober bis 6. November 1923.8 Auch weitere Romane erscheinen als Vorabdruck in Zeitungen: Die Rebellion 1924 im Vorwärts, Hotel Savoy, Zipper und sein Vater, Radetzkymarsch und Hiob in der Frankfurter Zeitung, andere in verschiedenen Exilzeitungen. Trotz pragmatischer Begründung hat das durchaus symptomatische Bedeutung. Die Exposition des Spinnennetzes ist ein erweitertes Figurenporträt. Wie die Protagonisten seiner frühen Romane, Gabriel Dan in Hotel Savoy, Andreas Pum in Die Rebellion, Franz Tunda in Die Flucht ohne Ende, Arnold Zipper in Zipper und sein Vater, Paul Bernheim in Rechts und links, Friedrich Kargan in Der stumme Prophet und sehr viel später noch Franz Ferdinand Trotta in Die Kapuzinergruft, ist auch Theodor Lohse ein Kriegsheimkehrer, der durch die veränderten Verhältnisse aus der Bahn geworfen ist. Verhalten, Habitus und Mentalität aller dieser Figuren sind durch die Zeitumstände fremdbestimmt. 6

7

8

Zum Verhältnis von Feuilleton und Roman vgl. Fritz Hackert: Kulturpessimismus und Erzählform. Studien zu Joseph Roths Leben und Werk. Zum Genre des literarischen Feuilletons und seiner Stellung zwischen Dichtung und Publizistik. Bern: Lang 1967. Vgl. Almut Todorow: »Wollen die Eintagsfliegen in den Rang höherer Insekten aufsteigen«? Die Feuilletonkonzeption der Frankfurter Zeitung während der Weimarer Republik im redaktionellen Selbstverständnis. In: DVjs 62 (1988), S. 697–740. Ergänzend auch: Jürgen Heizmann: Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. Heidelberg: Mattes 1990. In der Forschung wenig beachtet. Einen Analysevorschlag macht Ingeborg Sültemeyer: Das Frühwerk Joseph Roths 1915–1926. Wien, Freiburg, Basel: Herder 1976, S. 105–114. Die erste Buchpublikation erscheint erst 1967 bei Kiepenheuer & Witsch, Köln.

210

Klaus-Detlef Müller

Sie repräsentieren mit einem marginalen Eigenleben ihren Wirklichkeitskontext, wie die kleinen Leute und Alltagsmenschen in Roths Feuilletons. Sie reagieren auf eine Wirklichkeit, die durch sie und nicht um ihretwillen zur Anschauung gebracht wird, und sie haben so eine objektive Zeichenfunktion, nicht im Sinne des herkömmlichen Romans ein individuelles Schicksal. Das ist eine spezifische Sichtweise der Zeitung. Theodor Lohse wird eingeführt als Spross einer Kleinbürgerfamilie mit einem Aufstiegswillen, dem seine Fähigkeiten nicht entsprechen. Seine Chance war der Krieg, der ihm als Reserveleutnant einen sichtbaren gesellschaftlichen Rang verschaffte. In der Armee war er glücklich, auch weil er sich einer »fremden Macht« unterwerfen durfte: »Was man ihm sagte, musste er glauben, und die andern mussten es, wenn er selbst sprach. Theodor wäre gern sein Leben lang bei der Armee geblieben«. (W, 4, S. 66) Auf die Entlassung ins Zivilleben reagiert er mit Ressentiment, um so mehr als seine Familie ihn als Gescheiterten verachtet. Dieses Ressentiment richtet sich gegen die Republik, die ihm als ein »jüdisches Geschäft mit dem Ziel der ›Weltherrschaft‹« erscheint (W, 4, S. 67). Als Hauslehrer beim jüdischen Juwelier Efrussi fühlt er sich erniedrigt, weil er ohne ›Rang‹ den »Glauben an seine Kraft zu erobern« (W, 4, S. 69) verloren hat. Der Roman wird also mit dem sozialpsychologischen Porträt eines zeitspezifischen Typus eröffnet, im ersten Abschnitt allerdings schon mit dem vorausdeutenden Hinweis: Lohse »übertraf die Erwartungen, die er niemals auf sich gesetzt hatte«. (W, 4, S. 65) Damit ist das Potential des Romans bezeichnet, der den Symptomcharakter des nach den Genrevorgaben des Feuilletons entworfenen Figurenporträts zwar nicht aufhebt, wohl aber in den im Zeitkontext gegebenen Möglichkeiten fortschreibt. Für das Folgende verwendet Roth eine andere journalistische Darstellungsform: die Schilderung einer soziopolitischen Epochenkonstellation, wie in seinen Reiseberichten und insbesondere in seinem Essay Juden auf Wanderschaft. Dort sind es allerdings durchgängig anonyme und typisierte Figuren, deren Lebensform von den Verhältnissen bestimmt ist und diese repräsentiert, hier ist es in romanhafter Darstellung ein einzelner Typus, dessen Verhaltensstereotypen veranschaulichen, was an der Zeit ist. In seiner sozialen Inferiorität bewahrt Lohse sich den Traum, »nicht mehr gefangen in der Zeit« zu sein, als Sieger wiederzukehren, nicht »harmlos und ungefährlich« zu sein (W, 4, S. 70). Den Weg eröffnet ihm der jüdische Geheimagent Trebitsch, der ihn als Lustknaben dem schwulen Prinzen Heinrich zuführt. Als dessen Gast im Kasino berauscht er sich an der Vorstellung, »gekannt« zu sein, aus der Namenlosigkeit seiner niedrigen Existenz herauszutreten, ein Motiv, das auch seinen weiteren Lebensweg bestimmt. Am Anfang steht aber auch hier, wie bei seiner militärischen Laufbahn, die Erniedrigung. Der homosexuelle Missbrauch durch den Prinzen ist eine schmerzhaft erfahrene Demütigung, die ihm aber das Entreebillett in den Kreis rechtsnationalistischer republikfeindlicher Umtriebe verschafft. Trebitsch nimmt ihn in eine

Ein Roman aus der Perspektive des Journalisten

211

nationalsozialistische Geheimorganisation auf, von deren Zielen er nichts erfährt und von der er nur weiß, dass ihre Zentrale in München sitzt und für Ludendorff arbeitet. Mit diesem zeitspezifischen und hochpolitischen Kontext gewinnt der Roman die Ebene der Aktualität und damit einen genuin journalistischen Kontext. Lohses Aktivitäten sind Symptome der in den zwanziger Jahren beginnenden völkisch-nationalsozialistischen Aktivitäten und ihrer destruktiven Unterwanderung der Republik. Roth schreibt aber keinen politischen Schlüsselroman. Er verweist nicht auf die bekannten Umtriebe der rechtsradikalen Szene, etwa auf den Kapp-Putsch, die Untaten der Freikorps, die politischen Morde insbesondere an Erzberger und Rathenau, sondern charakterisiert ein rechtsnationales Milieu, das in seiner Durchschnittlichkeit zwar noch peripher, aber nichtsdestoweniger zeit- und gesellschaftstypisch ist und seinem kleinbürgerlichbanalen Protagonisten einen Spielraum verschafft, in dem er seinem abhängigen Handeln eine Bedeutung zuschreiben kann, die seinem Selbstbild eine eingebildete Bestätigung verschafft. Wie sich Roth in seinen Feuilletons auf randständige Figuren, Alltagsmenschen und passiv Betroffene konzentriert, um durch sie zentrale Momente der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit erfahrbar zu machen, so wählt er für Theodor Lohse einen Erfahrungs- und Handlungskontext, der zwar für sich unbedeutend ist, der aber zugleich auf typische Weise eine gesellschaftliche Konstellation bezeichnet: Das rechtsradikale Treiben ist Alltag und ist schon in doppeltem Sinne alltäglich. Lohse ist ein personales Medium für die Veranschaulichung von Tendenzen einer objektiven Wirklichkeit, in der er ein kleines Rädchen ist. Er profitiert von den Verhältnissen, indem er in ihnen einen Weg aus seiner Erniedrigung zu finden glaubt. Seine Machtphantasien sind der Erzählkontext einer romanhaften Handlungsfolge, die in signifikanten Episoden Kontur gewinnt. Durch die Zugehörigkeit zu einer geheimen Organisation gewinnt er ein neues Selbstbild, das weit über die durch die Revolution verhinderte alte Selbstverwirklichung hinausreicht, er sieht sich als »ich, Theodor Lohse, ein Gefährdeter, aber ein Gefährlicher, mehr als ein Leutnant, mehr als ein Sieger auf trabendem Roß, zwischen grüßenden Spalieren, Retter des Vaterlandes vielleicht«. (W, 4, S. 75) Wie realitätsfern und gerade deshalb für das Persönlichkeitsbild aufschlussreich dieses Selbstbild ist, hat Roth in seinem Feuilleton Prosa der Verschwörung. mit dem bezeichnenden Untertitel Eine unpolitische Betrachtung (W, 1, S. 838ff.) verdeutlicht. Verschwörer sind banale Menschen: »keine noch so verbohrte Voreingenommenheit vermag in der spießbürgerlichen Harmlosigkeit dieser Antlitze Kunde von verbrecherischer oder nur geheimer Neigung zu lesen. […] Verschwörer stellten wir uns anders vor. Irgendwo müsste doch die geheime Tätigkeit im Angesicht verhüllt lauern und durch die Verborgenheit auffallen. Eine Physiognomie hätte man zumindest erwartet – und stößt auf einen Typus«. (W, 1, S. 838) Der Verschwörer besitzt nur »die Entschlossen-

212

Klaus-Detlef Müller

heit des zum Gehorchen Bereiten, nicht des initiativ Greifenden«. (Ebd.) Genau das trifft auf Lohse zu, der sich bei seinem ersten Auftrag nicht zufällig eine Kindheitserinnerung assoziiert: »Er entsann sich jener Spinne in den Sommerferien seiner Knabenzeit, die er jeden Tag mit gefangenen Fliegen gefüttert hatte; des atemlosen Wartens auf das hastige Heranklettern des Tieres, sein sekundenlanges Lauern, den letzten todbringenden Anlauf, der Sturz und Sprung und Fall in einer Bewegung war«. (W, 4, S. 81f.) In objektiver Ironie ist diese Erinnerung selbstentlarvend, denn Lohse verkennt, dass die Spinne nicht selbst ihre Beute sucht, sondern sich der ihr vorgehaltenen bemächtigt. Das Spinnennetz ist ein funktionsloses Attribut und als solches ein beziehungsreiches Titelsymbol. Wenn Lohse damit die Vorstellung von »Macht über Menschen« verbindet (ebd.), so verweist das auf die Strategie der Selbstinszenierung. In der Tat ist er bei seinen ersten Tätigkeiten für die geheime Organisation ein gewissenloser agent provocateur. Er lässt sich in den anarchistischen Zirkel um den Maler Trattner mit einer falschen Identität einschleusen und verrät einen lächerlich dilettantischen Anschlag auf die Siegessäule, einen der wenigen nicht nur signifikanten, sondern authentischen Vorfälle, auf die der Roman zurückgreift. Roth hat ihn in seinem Feuilleton Rundgang um die Siegessäule (W, 1, S. 502f.) ironisiert als einen Vorgang, in dem das Monument »durch [seinen] Unfall zu jener Volkstümlichkeit gelangt [ist], die nur missglückte Attentate zu verursachen imstande sind«. Lohse gelangt auf diesem banalen Wege zu Ruhm in den völkischen Zeitungen. Er muss aber vergessen und verdrängen, dass der Maler ihn auf eine Weise porträtiert hat, die ihn vor sich selbst erschrecken lässt und dass die verratenen Anarchisten ihn angespuckt haben. Sein Porträt ist als ein bedeutendes Kunstwerk Trattners genau so öffentlich wie die Zeitungsberichte über seine ›Heldentat‹, entlarvend das eine, verlogen die anderen. Und so verfolgt ihn das Porträt – erst als er wirklich aufgestiegen ist, kann er es schließlich in seinem Arbeitszimmer ertragen, indem er sein kleinbürgerliches Kunstverständnis der aristokratischen Kennerschaft seiner Frau unterwirft. Mit der Tücke der domestizierten Spinne verfolgt er die Ziele der Organisation zugleich zum eigenen Nutzen. Mit falschen Beschuldigungen liefert er seinen Freund Günther einem Fememord aus und tötet zugleich dessen Henker Klitsche, der ihn wie der Prinz Heinrich zur Nacktheit erniedrigt hat und dessen Posten er durch den Mord übernehmen kann. Er agitiert in der völkischen Presse und in Versammlungen, organisiert Kampfgruppen. Aber er ist immer weniger ein Überzeugungstäter: »Er glaubte nur an sich, liebte sich selbst, begeisterte sich an seinen Taten. […] Er glaubte nicht an den Erfolg der Bewegung. […] Er wollte … was er wollte, war ihm nicht klar. Er wollte Führer sein, Abgeordneter, Minister, Diktator. […] Es schmerzte ihn der Zwang zur Namenlosigkeit«. (W, 4, S. 93f.) Sein Ehrgeiz macht ihn jedoch verdächtig, so dass man ihn von der Vorbereitung einer Gefangenenbefreiung abzieht und

Ein Roman aus der Perspektive des Journalisten

213

ihm die banale Aufgabe zuweist, einen Streik von Landarbeitern gegen einen ostelbischen Junker zu verhindern. Roths knappe Schilderung dieser Vorgänge ist ein glänzendes Feuilleton, organisiert um das Figurenporträt des Freiherrn von Köckwitz. Lohse nutzt auch diese Degradierung als Chance, indem er einen Aufstand provoziert, den er blutig niederschlägt. Das wird in den Zeitungen als Heldentat gefeiert und verschafft ihm die Genugtuung, aus der Namenlosigkeit herauszutreten. Die Schilderung der tatsächlichen Vorgänge ist die Gegenzeitung zur Presse im Roman. Immer deutlicher wird aber der Antrieb, in der Hierarchie der Organisation aufzusteigen. Lohse begibt sich nach München in das Zentrum der nationalsozialistischen Aktivitäten und beobachtet neidvoll den Erfolg Hitlers, den er nicht als Führer akzeptiert, sondern als Konkurrenten allenfalls gleichen Niveaus wahrnimmt. Man kann ihn zwar nicht mehr übergehen, findet ihn aber mit der zweitrangigen Aufgabe ab, die Reichswehr zu unterwandern. Damit ist er zwar an der Stelle, die in der alten Ordnung sein höchstes Ziel gewesen war, die ihm aber unter den neuen Verhältnissen nicht mehr genügt. Seine Chance sieht er in einer sich anbahnenden Konfrontation der rechten und der linken Kräfte der Gesellschaft, die zwei in ihrem Ausgang nicht absehbare Möglichkeiten enthält: Putsch oder Revolution. Er will von jedem Ausgang profitieren, organisiert also das militärische Eingreifen gegen einen Generalstreik und verrät zugleich den Arbeitern die Aufmarschpläne. Hier kommt der zweite Protagonist des Romans ins Spiel: der ostjüdische Spitzel und Doppelagent Benjamin Lenz. Er ist intelligenter als Lohse, noch skrupelloser, und er ist handlungsfähiger, weil er keine Bestätigung von außen braucht und in der Maske der Unscheinbarkeit handeln kann. Er ist ein Anarchist: »Seine Idee hieß: Benjamin Lenz. Er haßte Europa, Christentum, Juden, Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen. Er diente den Gewalten, um ihre Schwäche, ihre Bosheit, ihre Tücke, ihre Verwundbarkeit zu studieren«. (W, 4, S. 110) Und so durchschaut er den gesinnungslosen Karrieristen: Sie »glauben längst nicht mehr an die Idee und sind kein geborener Mörder. Sie sind auch kein Politiker. Sie wurden von ihrem Beruf überfallen. Sie haben ihn sich nicht gewählt. Sie waren unzufrieden mit Ihrem Leben, Ihren Einnahmen, Ihrer sozialen Stellung«. (W, 4, S. 113) Mit gespielter Dienstbarkeit und Kumpanei wird Lenz zu Lohses Helfer, um in Wahrheit das selbstzerstörerische Potential einer ihm verhassten und von ihm verachteten Ordnung zu hegen, deren Untergang er betreibt: »Wie liebte Benjamin Theodor, den gehaßten Europäer, Theodor: den feigen und grausamen, plumpen und tückischen, ehrgeizigen und unzulänglichen, geldgierigen und leichtsinnigen, den Klassenmenschen, den gottlosen, hochmütigen und sklavischen, getretenen, strebenden Theodor Lohse! Er war der europäische junge Mann: national und selbstsüchtig, ohne Glauben, ohne Treue, blutdürstig und beschränkt. Es war das junge Europa«. (W, 4, S. 117) Stellvertretend für die Autorinstanz resümiert diese Charakterisierung des Protagonisten durch die Figur Lenz, welche Möglichkeiten eine aus den Fugen

214

Klaus-Detlef Müller

geratene Gesellschaft einem aus der Bahn geworfenen Subjekt eröffnet, indem sie seine latenten Potentiale zur Entfaltung gelangen lässt. Lenz ist romanimmanent der hellsichtige Beobachter, der die Wirklichkeit durchschaut und sie deshalb negiert, ihre Vernichtung betreibt. Für ihn gilt Roths Diktum, dass sich auch ein Schuft der literarischen Sympathie des Autors erfreuen kann. Im Unterschied zu Lohse handelt er nicht aus Eigennutz, sondern geleitet von einer anarchistisch-zerstörerischen Idee. Von seinem Bruder, dessen ChemieStudium er finanziert, erwartet er die Entwicklung eines Sprengstoffs zur Zerstörung Europas (W, 4, S. 145). Aus Ressentiment wird er zu Lohses Mentor bei dessen politischer Karriere. Er vermittelt die Kontakte zu den Linken und damit die Gelegenheit zum Verrat, und er hat damit den Verräter in der Hand. Der Arbeiteraufstand wird blutig niedergeschlagen. Lenz sorgt dafür, dass Lohse ihn zwar als eine demütigende persönliche Niederlage erleben muss, dass er aber dennoch als Held der »nationalen Erhebung« gefeiert wird, der wesentlich zum »Sieg der Ordnung« beigetragen habe (W, 4, S. 128). Lenz suggeriert auch die Heirat mit einem Fräulein von Schlieffen, durch die Lohse sich zum Chef des Sicherheitswesens in der neuen rechten Regierung qualifiziert, von der Organisation unabhängig wird und die Reichswehr verlässt. Zur Hochzeit schenkt Lenz ihm sein Porträt des Malers Klaften – »zur Erinnerung an vergangene Zeiten« (W, 4, S. 135), wie er ihm überhaupt signalisiert, dass er seine dunkle Vergangenheit, insbesondere seinen Doppelmord an Günther und Klitsche und die Ermordung der Landarbeiter in Polen kennt. Zugleich profitiert er als Spitzel von Lohses Kenntnissen im staatlichen Bereich. Der ertappt ihn beim Fotografieren geheimer Akten in seinem Büro, so dass er seine Ermordung planen muss. Mit diesem Vorhaben endet der Roman in einem offenen Schluss. Das gilt jedoch in einem nur relativen Sinne, denn der Roman ist offen zur Wirklichkeit. Bekanntlich ist die letzte Fortsetzung am 6. November 1923 in der Wiener Arbeiter Zeitung erschienen, zwei Tage vor dem Hitler-Putsch in München. Die Geschichte schreibt fort, was der Journalist Roth als genauer Beobachter erzählt hat: die destruktive Unterwanderung der Weimarer Republik durch die völkischen und nationalsozialistischen Umtriebe. In diesem Sinne ist Lohse die exemplarische Verkörperung des »europäischen jungen Mannes«, der die sich ihm bietenden Gelegenheiten skrupellos wahrnimmt und so das Geschehen nicht bestimmt, wohl aber seine objektiven Grundlagen indiziert. Dichtung und Tagesschriftstellerei, Literatur und Journalismus gelangen zu einer Synthese.

Véronique Uberall

Kritik des Journalismus in der Novelle »Das Kartell« von Joseph Roth (1923)

Die Novelle Das Kartell (Juli 1923)1 erzählt die Geschichte eines merkwürdigen Ereignisses, das in Boston stattfindet. Die Rolle der Presse bildet aber den Mittelpunkt der Novelle, denn die Geschichte erklärt die Strategien der nach sensationellen Nachrichten gierigen amerikanischen Journalisten. Das Kartell ist die Vereinigung von drei Journalisten, die gegen alle anderen miteinander arbeiten. Die sehr berühmte Suffragettenführerin Sylvia Punkerfield verschwindet plötzlich vor dem Beginn der wichtigen feministischen Demonstration, die sie selbst organisiert hat. Kein Polizist, kein Journalist kann herausfinden, was passiert ist. Das Kartell der drei Reporter, die Herren Washer, Pumper und Klingson, sitzt im Café Chesterton. Dass der neue Reporter der Aurora, Herr John Baker die Nachricht von dem plötzlichen Verschwinden der berühmten Miss Sylvia Punkerfield zuerst gemeldet hat, können sie nicht verstehen. Sie versuchen alles, um Nachrichten zu bekommen, doch umsonst. Am Ende der Novelle verstehen wir, dass das Verschwinden der Suffragette von dem Reporter John Baker mit Hilfe des Toreros Pedro dal Costo-Caval organisiert wurde, um einen Sensationsartikel aufzubauen. Der Torero hat, wie geplant, Sylvia entführt. Das Unglaubliche ist aber passiert: Sylvia Punkerfield verzichtet für ihn auf jeden politischen Kampf und die Frauenbewegung. Wir können also so wie Tymofiy Havryliv daraus schließen, dass Joseph Roth Skepsis aufzeigen will: »erstens: gegenüber den Medien; zweitens: gegenüber dem politisierten und massenhaft betriebenen Parteien- und Interessenkampf; drittens: speziell gegenüber den Frauenbewegungen«.2 Im Rahmen dieses Beitrags werden wir uns auf das Gebiet des Journalismus beschränken. Wir werden durch einige Beispiele zu zeigen versuchen, welche Mittel benutzt werden, um die Unehrlichkeit und den Ehrgeiz der Journalisten einer gewissen Presse in Amerika zu schildern und zu unterstreichen. Joseph Roth bringt das verdächtige Benehmen der amerikanischen Journalisten der Bostoner Aurora und Little Times ans Licht. Er kümmert sich um die Ethik seines Berufs und um die Rezeption der Sensationspresse durch das Publikum. Wir können auch 1 2

Joseph Roth: Das Kartell. In: Das Leben. Juli 1923, S. 21–25. Tymofiy Havryliv: »Es gab keine österreichisch-ungarische Monarchie mehr«. Joseph Roths erzählte Schicksale und poetische Abrechnungen. Wissenschaftliche Vorlesungen. Wien: Pädagogisches Institut Niederösterreich, S. 25 In: http:// vdeutsch.eduhi.at/vorlesungen/roth.pdf, Zugriff: 10.05.2009.

216

Véronique Uberall

seine Kenntnis der Geschichte des Journalismus bemerken, sowie die Untersuchungsmethoden der Sensationspresse. Joseph Roth spielt mit den Namen, den Titeln, um indirekt den Leser an seiner Kritik eines gewissen Journalismus teilnehmen zu lassen. Wir werden zuerst sehen, wie Joseph Roth sich auf wirklich existierende Zeitungen beruft, dann werden wir die Rolle der Symbolik einiger Namen untersuchen, und endlich das Spiegelbild des sozio-kulturellen Hintergrunds.

I

Sozio-historische, geographische, symbolische Erwähnungen in den Zeitungstiteln

Die Novelle Das Kartell fängt mit dem Zitat des Telegramms auf der ersten Seite der fiktiven Bostoner Aurora an. Die Wahl dieses Zeitungstitels rechtfertigt mehrmals. Er gibt Hinweise auf die Leistungen und das historische Alter des Journalismus in Boston. Diese Zeitung erschien in Boston ungefähr ein Jahrhundert früher vom 15. Februar bis Mai 1830. Geographisch liegt Boston an der Ostküste Amerikas, Ort des Tagesanbruchs und symbolisch, Synonym von Beginn und Erneuerung. Die Schiffe kommen in die Häfen dieser Küste mit den neuesten Nachrichten aus Europa an: Auch wenn sie damals schon zwei Monate alt sind, ist Boston am schnellsten informiert. In Boston ist die allererste Wochenzeitung des amerikanischen Kontinents gegründet worden: die Boston News Letter,3 die vom 17. April 1704 bis zum 29. Februar 1776 erschienen ist. Als die Novelle Das Kartell 1923 erscheint, kann man in Boston zum Beispiel folgende Zeitungen finden: Boston American, Boston Globe, Boston Herald, Boston Phoenix usw. Das Thema des Tagesanbruchs wurde mehrmals als Zeitungstitel gewählt. Der Titel Aurora scheint aber ein Hinweis auf die französische Zeitung L’Aurore zu sein, die in Paris von 1897 bis 1914 erschien. Diese Zeitung ist bekannt, weil sie den von Joseph Roth geschätzten Schriftsteller Emile Zola durch den berühmten Artikel J’accuse4 unterstützte. Dieses Spiegelbild erlaubt auch, die wichtige Rolle der Presse in dem politischen Fall Dreyfus aufzuzeigen, sowie die politische Tapferkeit und journalistische Ehrlichkeit der Zeitung L’Aurore, im Gegensatz zu dem üblen Benehmen der Journalisten von der fiktiven Bostoner Aurora. Unter den drei Reportern des Kartells ist Mister Washer von der fiktiven Little Times von Boston. Eine Zeitung Times gibt es in mehreren Städten wie 3

4

Die allererste Zeitung war die Publick Occurrences, Both Foreign and Domestick. Sie erschien aber nur einmal am 25. September 1690 und musste ihr Erscheinen vier Tage später wegen mehrerer skandalöser Artikel einstellen. Emile Zola: J’accuse. In: L’Aurore, 13.01.1898. Alfred Dreyfus, ein Franzose elsässischer Herkunft und jüdischer Offizier, wurde in der Atmosphäre des französischen Antisemitismus wegen Hochverrats fälschlich angeklagt.

Kritik des Journalismus in der Novelle »Das Kartell«

217

New York oder Chicago. Durch das Wort klein fügt Joseph Roth eine entwürdigende Nuance hinzu. Bemerkenswert ist auch der Name des fiktiven Cafés Chesterton, wo das Kartell der drei Journalisten Stammtisch hält. Es gibt dazu zwei Gründe. Erstens: Die Chesterton Tribune5 ist eine reale unabhängige Tageszeitung von Chesterton (Indiana) seit 1884. Zweitens: Gilbert Keith Chesterton (1874–1936), ein Zeitgenosse von Joseph Roth, ist zu dieser Zeit ein bekannter englischer Journalist und Dichter,6 der Kriminalromane bevorzugt.7 Die Novelle von Joseph Roth Das Kartell ist ein distanzierter, ironischer Blick auf den Misserfolg einer kriminalistischen und journalistischen Nachforschung, über das Verschwinden der Suffragetten-Führerin Sylvia Punkerfield.

II

Die Symbolik der Namen der Protagonisten verrät ihr Verhältnis zur Welt

Wir sind sehr weit von dem Heinrich P., voller Skrupel in der Novelle Immer seltener werden in dieser Welt …, der auȕerhalb der Ereignisse bleiben will, der sich selbst misstraut und sich der ethischen Probleme des Journalismus und seiner Subjektivität akut bewusst ist.8 Die Nachforschung nach dem Verschwinden von Sylvia Punkerfield zieht das Kartell ins Lächerliche, weil alles nur eine Inszenierung des Reporters John Baker ist, um dem Kartell Schach zu bieten. Es gibt nichts Geheimnisvolles bei dem Verschwinden von Miss Sylvia Punkerfield am 12. November, dem Tag der Demonstration. Der Reporter John Baker aus Chicago wusste über den Anfang und das Ende des Abenteuers von Sylvia Bescheid, bevor er es an die Aurora meldete. Der Brief seines Mittäters Pedro dal Costo-Caval, der das Ende der Geschichte erzählt, wurde John Baker am 11. November geschickt, das heißt einen Tag vor dem Beginn der Geschichte. Der allwissende John Baker amüsiert sich also, indem er, innerlich lachend, beobachtet, wie jeder sich anstrengt, Sylvia Punkerfield wieder zu finden. Er weiß aber, dass sie schon in New York ist. Der Brief des Toreros ist klar: es war so geplant, dass er Sylvia Punkerfield nach der Idee von John Baker verzaubern und ent5 6 7

8

In: http://chestertontribune.com, Zugriff: 15.05.2009. Wie Joseph Roth ist Gilbert Keith Chesterton Journalist und Schriftsteller, der 1922 zum Katholizismus übertrat. Gilbert Keith Chesterton: The Murderer. In: Illustrated London News, 6. Mai 1911. In: www.chesterton.org/gkc/murderer.html, Zugriff: 15.05.2009: »I like detective stories; I read them, I write them; but I do not believe them. The bones and structure of a good detective story are so old and well known that it may seem banal to state them even in outline«. Joseph Roth: Immer seltener werden auf dieser Erde ... In: Joseph Roth. Werke in sechs Bänden. Hg. von Klaus Westermann und Fritz Hackert. Köln, Amsterdam: Kiepenheuer & Witsch und Allert de Lange 1989–1991. W, 4, S. 51.

218

Véronique Uberall

führen sollte. Die Inszenierung der Entführung ist aber zur wahrhaftigen Liebesgeschichte geworden, weil der Torero sich in Sylvia verliebt hat und sie heiraten wird. Der Ehrgeiz des Journalisten John Baker spiegelt den eines fiktiven ehrgeizigen berühmten Detektivs der englischen Literatur durch die Symbolik seines Namens wider. Dieser wohnt in der Baker Street 221b in London und heißt Sherlock Holmes. Dieser Vergleich mit Sherlock Holmes ist offensichtlich durch die Beschreibung Bakers mit dem Wortschatz des Spürhundes und der langen Schilderung seiner an eine Hundeschnauze erinnernden Nase.9 Die Ironie Joseph Roths ist noch größer, denn Baker braucht hier keine Spürhundnase, er lässt es den Leser nur glauben. Seine lügenhafte Intrige klingt widerwärtig, weil er mit dem Herzen, dem Selbstgefühl und dem Schicksal einer Frau spielt. Er hat Mr. Pumper übertrumpfen wollen. »To pump« heißt auf Englisch »ausfragen, jemandem die Würmer aus der Nase ziehen« und dieser Pumper handelt mit Raubmördern. Er weiß alles, bevor es geschieht und kann alles aufzeichnen, als wäre er dabei. John Baker hat aber Pedro schwer herausgefordert. Er muss eine Suffragette verführen, die um ihre Unabhängigkeit kämpft und keinem Mann gefügig sein will, ohne Sehnsucht nach konventioneller Liebe, Hochzeit, im Gegensatz zu den jungen Mädchen, die ihn nach einer Corrida bewundern. Die Symbolik des Stiers und seine erotische Gewalt spiegeln sich durch den Torero wider, um die Verführung glaubwürdig zu machen. Die Suffragettenführerin verzichtet auf den Kampf gegen Männer und Liebe am 11. November, symbolische Andeutung an den Waffenstillstand von 1918. Der zweite Journalist des Kartells, Mister Washer, das heißt »Mister Waschmaschine«, schreibt sauber arrangierte Polizeigeschichten.10 Der dritte ist »schweigsam wie ein Dock«,11 heißt aber »Klingson«, das heißt: Sohn des Klingens. Er schweigt oder lügt systematisch, wenn man ihn fragt, ob er interessante Nachrichten hat. Durch die Symbolik der Namen zeichnet also Joseph Roth höchst ironisch auf, wie Journalisten für ein Sensationsblatt zu weit gehen können. Er lässt aber auch Elemente des historischen und soziokulturellen Hintergrunds der zwanziger Jahre erkennen.

9

10 11

Joseph Roth: Das Kartell. In: W, 4, S. 59: »Er war lang und mager wie ein Windhund. Seine Nase hatte sich aus seinem Gesicht gewissermaßen herausgeschoben, gleichsam selbstständig gemacht. Sie bewegte sich rechts und links, hinauf, hinunter, ohne dass sich ein Muskel in Mr. Bakers Gesicht sonst gerührt hätte. Diese Nase war ein selbsttätiges unabhängiges Lebewesen von flatterhafter Rührigkeit. Sie befand sich nie im Ruhestand, sie witterte Ereignisse. Sie zog Sensationen an wie ein Magnet Eisensplitter. Sie roch Menschfleisch, Skalpierungen, Lustmorde, Raubüberfälle. Es war eine ganz merkwürdige Nase«. W, 4, S. 57: »Alles war säuberlich, adrett und unfehlbar und entbehrte doch nicht einer gewissen Pikanterie«. W, 4, S. 58.

Kritik des Journalismus in der Novelle »Das Kartell«

III

219

Die Spiegelung des sozio-kulturellen Hintergrunds

Seit den technischen Fortschritten der Maschinen im 19. Jahrhundert, ist die Presse gieriger nach Sensationen geworden. Um neue Leser zu gewinnen, wird die Presse attackierend, publiziert schockierende, auffallende oder erfundene Anekdoten, mit einem Vorzug für Vermischtes, wo Blut und Sex vorgegeben werden ohne Rücksicht auf die Menschen und die Leser.12 Um den Mangel an Nachrichten zu überspielen und die Leser anzulocken, sind alle Reporter der Novelle unehrlich und fabrizieren Informationen. »Im Café Chesterton wurden Ereignisse und Neuigkeiten fabriziert und in die Welt gebracht«.13 Inwiefern findet sich im Café Chesterton das Café Rebhuhn in der Goldschmiedgasse in Wien wider? Das Café Rebhuhn ist 1923 zwischen 14 und 16 Uhr ein Journalistencafé, wo Joseph Roth gewöhnlich sitzt, um seine Artikel zu schreiben,14 wie auch zum Beispiel im Café Central, im Café Museum, im Café Herrenhof. Dass die Journalisten Amerikaner sind, ist kein Zufall, und dass die Geschichte in Boston spielt auch nicht. Die Bostoner Zeitung Publick Occurences von Benjamin Haris ist schon im Jahre 1690 wegen ihrer Sensationsmache15 verboten worden. Das Kartell der Journalisten kann auch als eine Spiegelung der riesigen Trusts der zwanziger Jahre in Amerika verstanden werden. William Randolph Hearst mit dem New York Journal oder der Boston American, und John Pulitzer mit der New York World führen 1923 einen richtigen Krieg der Auflagen.16 John Pulitzer und W. R. Hearst sind Modelle der kapitalistischen skrupellosen Unternehmer. Die Figuren der Novelle von Joseph Roth stellen eine gewisse Realität des amerikanischen Journalismus dar, der auch in anderen europäischen Büchern kritisiert wird.17 Der Historiker Jacques Boivin schreibt, wie tief die amerikanischen Zeitungen gefallen waren, seit langer Zeit, besonders in Boston, wo man Hunderte von möglichen Diffamationsprozessen in weni-

12

13 14

15 16 17

André Kaspi/François Durpaire/Hélène Harter/Adrien Lherm: La civilisation américaine. Paris: Editions des Presses Universitaires de France 2004, S. 261: »Pour conquérir les lecteurs populaires […], le journalisme se fait agressif, consacrant une large place à des anecdotes, voire des canulars, et exploite les faits divers, où se mêlent sang et sexe, le tout dans un langage facile, sans souci de respectabilité.« W, 4, S. 58. David Bronsen: Joseph Roth. Biographie. Edition revue et abrégée par Katharina Ochse. Traduit de l’allemand par René Wintzen. Paris: Editions du Seuil 1994, S. 115. Siehe Anm. 3. Kaspi u. a., La civilisation américaine (wie Anm. 12), S. 267. Gustave Le Rouge: Le régiment des hypnotiseurs. In: L’Amérique des dollars et du crime. Paris: Editions Robert Laffont 1993 (1899), S. 438: »On sait qu’en Amérique le journaliste, le reporter [...], est fort peu scrupuleux.«

220

Véronique Uberall

gen Monaten18 zählen kann. Diese Kritik des amerikanischen Journalismus soll aber auch im Hintergrund die Karikatur eines Antiamerikanismus ausdrücken, der schon in ganz Europa im 19. Jahrhundert existierte, und das gegensätzliche Gefühl Joseph Roths für Amerika, das Land der Freiheit und der Gefahr des Fortschrittes, zeigt. Durch die Ansiedlung der Geschichte in den Vereinigten Staaten verletzt Joseph Roth niemanden in seinem Journalistenkreise und unterstreicht die Universalität der sogenannten »Regenbogen-Presse«. Im Jahre 1923 schreibt Joseph Roth für die Frankfurter Zeitung, das Prager Tagblatt und für andere deutsche, österreichische, schweizerische Zeitungen. Obwohl er nie Mitglied der sozial-demokratischen Partei gewesen ist, bekämpft Roth den Kapitalismus regelmäßig bis Ende 1924,19 und unterzeichnet seine Artikel als »der rote Joseph«. Die Novelle ist auch eine Kritik der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Das Kartell kann nicht positiv aussehen, es soll die Geldgier, die düsteren, schlechten Seiten des Berufs aufzeigen, besonders in diesem Jahr 1923, wo das Ansteigen der Inflation immer akuter wurde. Der Reporter John Baker ist eine ambivalente Figur dieser Novelle. Er scheint zuerst ein ehrlicher, obwohl widersprüchlicher Journalist zu sein. Dann erscheint er noch übler und verdächtiger, fast teuflischer als die drei Journalisten des Kartells, denn er hat eine volle, ausgewogene Macht über die Ereignisse und spielt mit den Schicksalen der Menschen. Wenn die drei Reporter des Kartells später auf merkwürdige Weise sterben oder verrückt werden, hat der Leser den Eindruck, John Baker sei ein Engel der Gerechtigkeit oder ein Racheengel. Er kann auch eine Verkörperung des Journalisten Joseph Roth sein, der über seinem guten Streich lächelt. Sicher ist diese Novelle »eine ironische Relativierung der Wichtigtuerei, die seinen Berufsstand seit eh und je auszeichnet«.20 Sie kann aber auch wie eine Art Glaubensbekenntnis des hell sehenden Journalisten Joseph Roth gelesen werden, dessen Ziel es ist, die Wahrheit und die Ethik seines beliebten Berufs zu preisen.

18 19 20

Emile Boivin: Histoire du journalisme. Paris: Editions des Presses Universitaires de France 1949, S. 55. Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 269. Ebd., S. 267.

Primus-Heinz Kucher

»Warenhäuser, Rummelplätze, Walkürenjungfrauen« Zu Joseph Roths Berliner Bilderbuch-Feuilletons (1924)

Auf dem Bahnsteig häufen sich die Völkischen. Es sind die Nachkommen heldischer Buchhalter, reckenhafter Zollbeamter, drachentötender Oberlehrer, mit einem oder zwei Worten: germanischer Gestalten und legendarischer Berufe wie man sie auf Schritt und Tritt der Versfüße begegnet. Es sind die Heldensöhne alliterierender Monarchisten und Kleinbürger, Sprösslinge personifizierter Eichenknorrigkeit und unbeugsamer Untertanenbiegsamkeit. Es ist die Zukunft des deutschen Wesens, wie ich sie mir immer vorgestellt habe: eine Knochenkeule als Kopf, mit Brillantine eingefettet, Schlagringe als Fäuste […] Gedärm-Zündschnüre im Bauch; Berserkergrimm als treibende Kraft und geistige Richtung.1

I Mit »nur ein Bild« ist dieser »Ostertag bei den Völkischen«, eine gleichwohl komplexe, prägnante wie rhetorisch wirkungsvoll sprachverspielte Momentaufnahme mit analytischem und prognostischem Charakter aus dem Berliner Bilderbuch überschrieben, ein Bild, das zu jenen achtzehn Beiträgen zählt, die im knappen Zeitraum zwischen März und Juli 1924 en block in der Leipziger satirischen Wochenzeitschrift Der Drache (1919–1925)2 zum Abdruck kamen, gefolgt von vereinzelt nachgereichten Textstücken im Jänner 1925. Von Joseph Roth als Berliner Bilderbuch konzipiert und dabei – dies legt die Werkausgabe nahe, wo sie im Anschluss an die Berliner Reportagen positioniert sind – als thematisch wie formal durchstrukturierter Text-Block, als Tableaus, gedacht, bilden diese Stücke ein durch signalartig gesetzte Begleitreflexionen abgrenzbares Korpus, das nicht zuletzt deshalb einen besonderen Status für sich reklamieren darf.

1

2

Joseph Roth: Berliner Bilderbuch. In: Der Drache, 29.4.1924. Zit. nach: Ders.: Werke 2. Das journalistische Werk 1924–1928. Hg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 92–129, hier S. 107. Im Folgenden zitiert als W mit entsprechender Band- und Seitenzahl. Vgl. Wolfgang U. Schütte (Hg.): Damals in den Zwanziger Jahren. Ein Streifzug durch die satirische Wochenschrift ›Der Drache‹. Berlin: Buchverlag Der Morgen 1968; ferner dazu: Irmgard Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen. Berlin: ESV 1997, bes. S. 65f.

222

Primus-Heinz Kucher

Evoziert die Genrebezeichnung Bilderbuch auch eine Nähe zu Walter Benjamins Interesse für Bilder- und Kinderbücher sowie zu seinem poetischen Erinnerungsarchiv, wie es mit den Prosastücken von Berliner Kindheit um 1900 vorliegt, so lenkt Roth bereits im Einleitungssatz zum ersten dieser Bilder den Blick der Leser und Leserinnen auf die Erzählfigur des Chronisten. Weiters lenkt er die Aufmerksamkeit auf einen Darstellungsmodus, der offen auf Heraushebung der »Symptome der Zeit und des Ortes« (W, 2, S. 92), und somit auf präzise Wahrnehmung von Gegenwart, abgestellt erscheint. Im Kontext der Roth’schen Feuilletonistik sind programmatische Absichtserklärungen dieser Art nicht neu, von Zyklus zu Zyklus forcieren und entwickeln sie bekanntlich spezifische Akzente, die eine übergreifende Charakterisierung erschweren. Wie in der Roth-Forschung wiederholt festgehalten, kennzeichnen jedenfalls radikaler Skeptizismus und analytisch geschulte Verdichtung zu Bildern, aber auch ironisch-subversive Anverwandlung von Genre-Konzepten und Techniken journalistisch-feuilletonistischer Inszenierung nicht wenige seiner Arbeiten für Zeitungen der frühen 1920er Jahre.3 Dies ist daher auch hier im Blick zu behalten. Mit dem Bekenntnis zum Chronisten bezieht sich Roth hintergründig auf eine autoritative Tradition, auf eine Erzählordnung legitimatorisch-ikonographischen Charakters,4 die hier wie in anderen Fällen durch die simultanartige, Themen akkumulierende, ja antichronikalische Bildfülle in Kontrast zu den genreeigenen formalen Vorgaben tritt, um jene spezifische Spannung zu generieren, die den angerufenen autoritativen Gestus mit dem teleologischen Fluchtpunkt der Heraushebung der Symptome der Zeit und des Ortes amalgamiert. Für den Herausgeber der Werkausgabe markierte das Jahr 1924 zudem »einen Höhepunkt seines [Roths] politischen Engagements und zugleich auch seines journalistischen Schaffens«,5 was durch die Präsenz in bedeutenden Zeitungen (Frankfurter Zeitung, Prager Tagblatt, Vorwärts) und einen damit einhergehenden symbolischen wie realen Kapital-Status hinlänglich belegt ist und den Kontext jener 18 Feuilletons bündig und erinnerungswürdig absteckt. 3

4 5

Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Joseph Roth. München: Beck 1989, S. 82f. Ferner dazu auch: Sebastian Kiefer: Braver Junge – gefüllt mit Gift. Joseph Roth und die Ambivalenz. Stuttgart: Metzler 2001, S. 19, wo Roth als »frühreifer Jongleur vieler Stimmen« bezeichnet wird. Vgl. das Lemma Chronik in: Dieter Burdorf u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. 3. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 124f. Klaus Westermann: Nachwort. In: W, 2, S. 1023. Er bekräftigt somit seine frühere Ansicht, wonach diese Texte einen »beinahe schon verzweifelten Versuch« darstellten, sich politisch zu engagieren. Vgl. ders.: Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere. Bonn: Bouvier 1987, S. 42. Diese Ansicht teilt auch Uwe Schweikert: ›Der rote Joseph‹. Politik und Feuilleton beim frühen Joseph Roth (1919–1926). In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Joseph Roth. München: Text und Kritik 1982, S. 40–55, hier S. 49, wonach das Jahr 1924 als »Höhe- und Kulminationspunkt von Roths politischem Engagement« zu gelten habe.

»Warenhäuser, Rummelplätze, Walkürenjungfrauen«

223

Symptome der Zeit suggerieren »Ereignisse von Weltgeschichtsqualität«, wie es an anderer Stelle heißt, doch diese werden für Roth nur erträglich und vermittelbar, wenn sie auf eine persönlichere Dimension zurückgefahren, »von den Schlacken der Monumentalität« befreit werden.6 Fragt man sich, wie Roth zu dieser bereits reflektierten Perspektive gelangt, empfiehlt es sich auf einen Vorschlag von Reinhard Baumgart zurückzugreifen, der Roths Journal-Prosa mit dem Begriff ›Augenblicksbilder‹ belegt hat, die über diesen Aggregatzustand auf einen »allgegenwärtigen« mittels einer spezifisch künstlerischen Gestaltung der dargestellten bzw. beobachteten Sachverhalte transzendieren, ohne dabei eine dokumentarische Grundhaltung aufzugeben.7 Wie manifestiert sich nun in den Bilderbuch-Stücken, so die berechtigte Frage, jene Spannung zwischen Augenblicksbildern, Momentaufnahmen, also tendenziell subjektiven Wahrnehmungsformen und objektivierbaren auf eine Symptomatik der Zeit hin fokussierten Analysen? Und welchen Bildern wendet sich Roth überhaupt zu, um daraus als Chronist der Zeit von der Monumentalität entschlackte und solcherart erträgliche weltgeschichtliche Diagnostik zu versuchen?

II Beginnend bei letzterer Frage liefern die Textstücke folgende Aufnahmen: Verprügelung einer Inderin durch einen Betrunkenen und weitgehendes publizistisches Verschweigen dieses Vorfalls, dem Roth einen Besuch des Reichstages gegenüber stellt (1. Bild); Aufenthalt des Kronprinzen in Potsdam aus zahnärztlichen Gründen, kontrastiert mit einem Gerichtsprozess gegen den Verbreiter des Buch-Pamphlets Die Weisen von Zion (2. Bild); Tod des tschechischen, sozialdemokratischen Diplomaten Tusar und Polemik eines angehenden völkischen Juristen (3. Bild), Republikanische Feierrituale kontrastiert mit publizistisch unauffälligen Todesfällen (4. Bild); Zwei Kriminalfälle im Milieu des Sexualgewerbes und des Straßenhandels mit Kokain, dem Wahlversammlungsstörungen nachgestellt werden (5. Bild); Ernst Tollers Hinkemann-Aufführung und Beginn des Wahlkampfes (6. Bild); Ostertag bei den Völkischen (7. Bild); Exerzierübung der Hakenkreuzler, kontrastiert mit dem Schicksal einer Landarbeiterin und der Sittenkontrolle rund um die Berliner Bahnhöfe (8. Bild). Im neunten Bild, also ziemlich genau in der Mitte des Zyklus, besinnt sich Roth auf die eingangs formulierte Chronistenrolle und bilanziert eine Woche Todesfälle – »ein bilderreiches Bilderbuch« (W, 2, 6

7

Joseph Roth: Oberschlesien. In: Berliner Börsen Courier 29.5.1921. Zit. nach: Werke 1. Das journalistische Werk 1915–1923. Hg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 570. Vgl. Reinhard Baumgart: Auferstehung und Tod des Joseph Roth. Drei Ansichten. München, Wien: Hanser 1991, S. 45.

224

Primus-Heinz Kucher

S. 111), um daran einen diplomatischen Konflikt mit dem sowjetischen Botschafter und eine kuriose Gerichtsverhandlung über sogenanntes Reichsgeld anzufügen. Auffällig an diesen Bilderbuch-Stücken – auch die weiteren neun unterscheiden sich in ihrer Struktur nicht wesentlich von den angeführten – ist die Aufspaltung des Textes in meist zwei, manchmal drei Teile, die vordergründig nichts miteinander verbindet außer einen Gestus kontrastierender Steigerung und mehr oder weniger verdeckter wechselseitiger Spiegelung bzw. Resonanz. Die Geschichte der auf offener Straße durch einen betrunkenen »angeblich angestrengt arbeitende[n] Großstadtmenschen« verprügelten Inderin im ersten Stück bleibt wie zahlreiche andere berichtete Episoden in einem ambivalenten Zwischenraum unaufgeklärt trotz einiger, meist ins Ironische, auch Schnoddrige brechender Begleitkommentare – etwa über das Nichtanstimmen des Deutschland über alles-Liedes durch das umstehende »Dutzend Männer«. Es schreibt sich gerade dadurch ins Gedächtnis, dass Roth, nachdem er einige Vermutungen darüber anstellt, warum dieser Vorfall so nachhaltig in die abgelegenen Spalten der Berliner Presse verdrängt worden wäre, nämlich, weil es sich zwar um eine »rassefremde« Inderin, jedoch um keine Jüdin gehandelt habe (und er damit eine fragwürdige Berichterstattung anspricht), abrupt zu einer ›Unterhaltung‹ anderer Art überwechselt, nämlich zum Sechstagerennen.8 Wer darüber berichtet, noch dazu täglich, habe »keinen Pogrom zu fürchten«; dieses Gaudium bilde kongenial wie undurchschaut die neuen, doch im Grunde alten Knechtschaftsverhältnisse ab, eingebettet in arroganten gesellschaftlichen Glanz rund um das Logenpublikum und in ein technoromantisches Höllenabenteuer aus Chrom, Blech und ohrenbetäubenden Lärm: »So jubelte einst die römische Bourgeoisie […] rings um die Arena«. Von dieser Arena ist es nicht weit in eine andere, ins Velodrom des Reichstages, das im Auge des beobachtenden Ich dem Leser deutlich vor Augen führt, in welcher intellektuellen Verfassung Deutschland sich befindet: Ich sah die Bierfässer in den Saal rollen, die völkischen Schinken, die agrarischen Schweinskeulen, junkerlichen Ochsenköpfe. Noch grausiger aber war die Vision, die mich draußen, vor dem Hause, befiel: Da sah ich, rings um die Siegessäule, zu faschiertem Fleisch gewandelt, das deutsche Volk, dessen Stellvertreter drinnen ›berieten‹. (W, 2, S. 94)

Dieser auf Effekt und Pointierung zugeschnittene Schluss gibt en passant ein Seitenstück zum Eröffnungsbild ab, d. h. eine Art Resonanz zum Bild der durch einen alkoholisierten Großstadtberliner verprügelten indischen Frau, und steht somit in einem intratextuellen Referenzsystem, das – man könnte auch den konventionelleren Ausdruck Leitmotiv verwenden – im Ostertag-Stück eine weitere Ausdifferenzierung erhält. Letzteres macht deutlich, wie der chro8

Über das sogenannte Sechstagerennen hat Roth erstmals am 24.2.1922 im Prager Tagblatt einen Text veröffentlicht. Vgl. W, 1, S. 752–754.

»Warenhäuser, Rummelplätze, Walkürenjungfrauen«

225

nistische Ansatz sukzessive vom archivalischen Aufzeichnen übergeht in Bilder, deren – ohnehin verhalten – geweckte Bilderbuch-Erwartung zu eiskalter Analyse gefriert und aus dem Bildermaterial eine eindringliche Bestandsaufnahme politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse skizziert. Die »Zukunft des deutschen Wesens« lässt Roth aus dem Straßenrand in die Bildmitte aufmarschieren; Rummelplätze erstehen aus »markigem Boden« und »deutschen Ersatz-Eichenwald« (W, 2, S. 108), die mit klassischem Vergnügen, mit den Illusionsträumen der kleinen Leute wenig gemein haben. An deren Stelle treten »Walkürenjungfrauen«, dem Auge des Chronisten zufolge »hygienische Windsbräute auf Sandalen mit flachen Absätzen, unberührte Keuschheit auf Sockelbeinen […] gewissermaßen Sinnplastiken der echten Minne« (W, 2, S. 108). Walter Benjamin abwandelnd könnte man vielleicht auch von rassisch modellierter Kunstkonfektion im anbrechenden Zeitalter technischer Reproduzier- bzw. Zuchtbarkeit sprechen. Stücke wie das ›Ostertag-Bild‹ reflektieren trotz vordergründigem Konfektionsverdacht ein komplexes Selbstverständnis, das dieser Form feuilletonistischer Textproduktion, die 1924 auch vom stilistischen Repertoire her gesehen »am reichhaltigsten« gewesen sei,9 zugrunde liegt. Es geht dabei um mehr als bloß um ein sprachliches Feuerwerk unter dem berühmten ›Strich‹, um die beständige Selbstüberbietung der geistreichen Pointe, wie einmal Ernst Bloch sinngemäß und nicht ohne Irritation, freilich auch der Rothschen Intention nicht gerecht werdend, angemerkt hat.10 Es geht auch hier um ein Ausloten der politischen wie der ästhetischen Funktionen des Schreibens unter den zeitgenössischen Bedingungen der medialen Vermittlungsprozesse – so Almut Todorow in ihrem Essay über Roths Feuilletons für die Frankfurter Zeitung – um ein Ausloten, das die Möglichkeiten der Bild-Gestaltung mit den Sprachen der Wirklichkeit konfrontiert, d. h. eigentlich in Kollision bringt.11 Wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor zieht Roth bei seinen feuilletonistischen Hochseilakten neben den Registern der Rhetorik und der Sprachinszenierung auch die Register der politisch-intellektuellen Semantik, um die Wahrnehmung der Leser unter der sich abzeichnenden Vernarbung, nicht aber Verarbeitung des Versailles-Traumas, des Traumas der Inflation und des Traumas mediokrer republikanischer Alltagsverhältnisse wach zu halten, wenn nicht überhaupt erst aufzurütteln. Dazu bedarf es mitunter frappierender Kontraste, eines sprachlichen overdressings oder konzentrierter »Brechungen« (so ein Formulierungs9 10 11

Klaus Westermann: Joseph Roth. Journalist. Eine Karriere 1915–1939. Bonn: Bouvier 1987 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; 368), S. 43. Ernst Bloch: Unter dem Strich. In: Ders.: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 36. Vgl. Almut Todorow: Brechungen. Joseph Roth und das Feuilleton der ›Frankfurter Zeitung‹. In: Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions 1989, Akademie der Diözese RottenburgStuttgart. Hg. von Michael Kessler und Fritz Hackert. 2. Aufl. Tübingen: Stauffenburg 1994 (Stauffenburg Colloquium; 15), S. 373–384, hier S. 373f.

226

Primus-Heinz Kucher

vorschlag von A. Todorow), um auf knappen Raum an den vorwiegend bürgerlichen Leser und seine Bewusstseinsdisposition, aber auch an das tendenziell sozialdemokratisch orientierte Publikum der Zeitung heranzukommen. Zu diesen frappierenden Kontrastierungen und Brechungen zählt etwa jenes Bild, in dem Roth einerseits vom Tod eines alten Tigers im Berliner Zoo berichtet, den der Wärter aus der herabgekommenen »großen Zeit«, von der ihm nur der »saure Moorrübengeschmack« übrig geblieben war, durch einen Gnadenschuss erlöste, andererseits von der Vereinnahmung Immanuel Kants anlässlich seines Zweihundertsten Geburtstags durch den Berliner Altgermanisten Gustav Roethe (W, 2, S. 114). Roethe, der maßgeblich für die nationalchauvinistische und zunehmend antisemitische Ausrichtung der Berliner (Scherer)-Schule deutsch-preußischer Philologie verantwortlich und zu jener Zeit auch Präsident der Goethe-Gesellschaft war, firmiert bei Roth zuallererst als Kriegshetzer, der befeierte Kant dagegen als Opfer, der seine Unsterblichkeit durch Roethes eigenwillige Deutung – etwa den Traktat vom Ewigen Frieden betreffend – bitter vergolten erhalte. Gegen Roethes These, dass erst der Krieg »als eine wertvolle Triebfeder […] alle Talente der Kultur zu entfalten« (W, 2, S. 114) imstande sei, holt Roth zu einem vielleicht verkürzten, aber – im Ahnen um das Danach, spätestens ab 1933 – nicht ganz abwegigen finalen, pointenverdächtigen Paukenschlag gegen tendenziell konsumistische, großbürgerliche Leserlethargie aus: »Und es gibt kein Gesetz, das den Tigern Professorenstühle und den Professoren Käfige verschafft! Laßt die Tiere Jubiläen feiern und ein Wildschwein wird einen Philosophen besser würdigen können«. (W, 2, S. 114)

III Bedenkt man, dass auch Professoren Spalier gestanden sind, als die Bücher und die Kultur den Scheiterhäufen ab 1933 überlassen wurden, und durchaus begeistert, so erscheint der Vorschlag, ein Wildschwein oder einen müden Zirkustiger eine Gedenkrede halten zu lassen, so abwegig wiederum nicht. Doch darauf kommt es hier letztlich nicht an. Was an diesem letzten Beispiel sowie am dargelegten Ostertag-Bild zu zeigen versucht wurde, ist einerseits die kontrastierende, ans Paradox und nicht nur billigen Effekt herangehende Technik, die Roth zur Zuspitzung krasser chronistischer Wahrnehmungen, in denen Symptomatisches erkennbar werde, heranzieht. Andererseits sticht die dabei wirksam werdende intensive Überblendung des sprachlich-rhetorischen Arsenals mit einer grundlegend politischen Haltung ins Auge, die analytischprognostisch ausgerichtet ist und bei aller Kunst- und vermeintlichen Leichtfertigkeit, eine aufklärend-kritische Richtung sowie den aufzurüttelnden Leser im Auge behält. Dass dabei keine fundierten oder gar quellengestützten Studien über die zeitgenössische Lage und Zukunft Deutschlands zu erwarten

»Warenhäuser, Rummelplätze, Walkürenjungfrauen«

227

waren, liegt auf der Hand, allein der Raum des Feuilletons, auch unter der Genrebezeichnung Bilderbuch, lässt dies nicht zu. Wer zum Vergleich die prominent platzierten Essays von Heinrich Mann in der Vossischen Zeitung oder in Weltbühne aus den meist späten 1920er und frühen 1930er Jahren über die nationale und kulturelle Tragödie,12 die klarer als etwa Anfang 1924 am Horizont ablesbar war, zum Vergleich heranzieht, wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass Roths prognostische Kompetenz von der Wirklichkeit eindrucksvoll bedrückend eingeholt und bestätigt worden ist. Es ist daher wohl kein Zufall, dass Roth gerade Heinrich Mann als würdigenswertes wie einsames Beispiel eines Anschreibens gegen die Tradition des »politisch ›indifferenten‹ deutschen Dichterwaldes« anlässlich des Erscheinens seines Bandes Diktatur der Vernunft (1924) im Text Der tapfere Dichter ein kleines Denkmal gesetzt hat.13 Nichts war ihm, Roth, 1924 entgangen, das sich zusammengebraut und in wenigen Jahren dann auch durchgesetzt hat: Neben dem Antisemitismus, Revanchismus und postwilhelminischem Größenwahn vor allem die verbohrte kleinbürgerliche Disposition als klassenübergreifender Identitätsausweis, die mit Brillantine eingefetteten Knochenkeulen-Köpfe, seien sie Beamte, Offiziere, Professoren, Junker, Ober- und Unterlehrer, Intellektuelle und Handwerker, auch manche Arbeiter, vor dem die bröckelnden Bastionen der Republik sukzessive in die Knie gehen sollten. Es mag als Geste erscheinen, es mag auch andere Gründe haben (z. B. das daran anschließende Engagement bei der renommierten bürgerlich-liberalen Frankfurter Zeitung), aber im vorletzten Text seines Berliner Bilderbuches gesteht sich Roth ein wenig resigniert und zugleich um Klarheit, um Abgrenzung bemüht, die tendenzielle Ohnmächtigkeit seines Tuns, seiner BilderbuchTexte ein, die beständig von einer brutalen Wirklichkeit ein- und überholt werden: Das Material häuft sich und fängt an, mir über den Kopf zu wachsen […] Bilderbücher müssten mit dem Blut der Opfer und den Tränen der Hinterbliebenen geschrieben werden. – Die Tinte genügt nicht und nicht einmal das Herzblut, das »eventuelle« des Schriftstellers […] So aber gerate ich in die Verlegenheit, zu viel berichten zu müssen, denn die Männer der nationalen Belange lassen mir keine Zeit zum Atemholen. Kaum haben sie einen Arbeiter erschossen, da bricht auch schon ein Prozeß aus, in dem Schuldige freigesprochen werden, ballt sich über unsern Häuptern ein »Deutscher Tag« zusammen, beginnen Denkmalsenthüllungen zu grassieren, schwärmen die Bazillen der »vaterländischen Gesinnung« aus. (W, 2, S. 126) »Die Zeit der Rummelplätze ist angebrochen«, heißt es an anderer Stelle dieser feuilletonistischen Bilderbuchstücke (W, 2, S. 119), – gemeint ist damit – ein 12

13

Vgl. Heinrich Mann: Sieben Jahre. Chronik der Gedanken und Vorgänge (1921– 1928). Berlin, Wien, Leipzig: Zsolnay 1929 sowie seine spätere Essaysammlung Der Haß (1939). Dazu auch: Manfred Flügge: Heinrich Mann. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 212f. Erstdruck im Vorwärts, 20.2.1924; zit. nach: W, 2, S. 59–61.

228

Primus-Heinz Kucher

wenig despektierlich und das wohl mit Absicht – dass einerseits der Reichstag, die politische Bühne, eröffnet worden war und parallel dazu Lunaparks die eigentlichen Attraktionen, die Bühnen des Alltags, darstellen. Beide verbindet die schäbige Romantik der großen Stadt, die Prostitution und die Zuhälter, »die einzigen Menschen in Berlin mit einer ausgeprägten Gesichtsarchitektur«. (W, 2, S. 119) Ansonsten sehe man im Lunapark wie im Reichstag nur »männliche Masken, Umhänge und Schnauzbärte, bürgerliche Glatzen, faschistische und kommunistische Kostüme und Gesichter, die von gar nichts anderem erzählen als von Gelderwerb, ehelichem Beischlaf […] Berufsjubiläen und Bierabenden«. (W, 2, S. 119) War das aber nicht schon das Antlitz, die Fratze der kommenden neuen Zeit, die bald wieder »das Schwert mit der Gasgranate vermählt« (W, 2, S. 108) sehen wird, und die hier häppchenweise und weithin unverstanden dem bürgerlichen Lesepublikum als Feuilletons serviert und vermutlich wohl auch ohne an Konsequenzen zu denken genossen wurde? Aber hatte jemand wie Joseph Roth, der in den Jahren 1923–1924 fast täglich einen Text für eine der genannten Zeitungen und Zeitschriften ablieferte – nachzutragen wäre hier seine Mitarbeit an Lachen Links – überhaupt eine andere Wahl, als seine so gewaltige wie nuancenreiche Stimme kompromisslos und um ironische Zuspitzung nie verlegen in eben jene Feuilletons und Artikel zu gießen, die zwar dem Tag geschuldet sind, doch fast immer hinter ihn zurück- und über ihn hinausblenden? Und die nicht nur auf kämpferische Tendenz beharren, man denke nur an seine Solidarisierung mit Ernst Toller und Erich Mühsam,14 sondern diese mit einer freilich auch sehr subjektiv gefassten und daher stets skeptisch aufgenommenen radikalen Grunddisposition in Verrechnung bringen, die neben den Texten, aber auch den zeitgleichen, aus der feuilletonistischen Arbeit mit hervorgegangenen Romanen wie Hotel Savoy und Rebellion vor allem in Briefen immer wieder programmatisch aufblitzt?15 Bezieht man schließlich die vom Genre her vorskizzierten textinternen Konturen und Techniken sowie die wiederholt offen gelegte politische Positionierung zu jener Zeit, d. h. bis hin zur kulturpessimistischen Wende ab 1925/26 in eine abschließende Bewertung mit ein, dann wird man konzedieren müssen, dass dieses frenetische Anschreiben gegen die als bedrohend erkannten und denunzierten »Symptome der Zeit und des Ortes« in einem weiter ausgreifen14 15

Vgl. Joseph Roth: Gruß an Ernst Toller. In: Der Vorwärts, 20.7.1924; In: W, 2, S. 221–223. Vgl. z. B. den Brief an Bernhard von Brentano (vermutlich 1925), in dem Roth eine Einladung zu Döblins Diskussionsrunde ablehnend kommentiert, strebe er nämlich »keine Bindung mit deutschen Schriftstellern« an, weil »keiner von ihnen empfindet doch so radikal wie ich«. Zit. nach: Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 75f. Vgl. dazu auch, wenngleich zurückhaltend, Sonja Sasse: Der Prophet als Außenseiter. Rezeption von Zeitgeschehen bei Joseph Roth. In: Arnold (Hg.), Joseph Roth (wie Anm. 5), S. 76– 89, bes. S. 84.

»Warenhäuser, Rummelplätze, Walkürenjungfrauen«

229

den, aufeinander Bezug nehmenden Funktionszusammenhang steht, innerhalb dessen die feuilletonistischen Texte bewusst auf narrative Verdichtung verzichten, um ihre Wirkungsdimension wie ihr Irritationspotential transparent und wach zu halten und nebenher präzise jene düstere Ostertag-Zukunft des deutschen Wesens anzuzeigen: Sie machen die Nacht zum Tag, die Völkischen, gleichsam aus Courtoisie gegen die Tage Deutschlands, die durch die Wirkungen des Hakenkreuzes zu einer einzigen undurchdringlichen Nacht gemacht wurden […] Sie marschierten […] und es sah gespenstisch aus: wie eine militärische Walpurgisnacht. (W, 2, S. 108)

Karl Wagner

Joseph Roths Kritik des homo academicus Ein Beitrag zur Intellektuellendebatte der Zwischenkriegszeit

In einer der bemerkenswertesten, also zu wenig beachteten österreichischen Autobiographien des 20. Jahrhunderts, in Richard A. Bermanns alias Arnold Höllriegels Die Fahrt auf dem Katarakt, erst 1998 posthum erschienen, wird das studentische Leben an der Wiener Universität vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Charme des Unverklärten beschrieben: Aber wenn an der Universität gerauft wurde, war ich gewöhnlich dabei. […] Im sinnlosen Gewühl dieser lächerlichen Studentenschlachten stand ich, obwohl nicht sehr rauflustig, jedes Mal in den Reihen derer, die die ›Marseillaise‹ sangen. Ich trug kein schwarzrotgoldenes Band auf meiner Brust, obwohl ich diese Farben, einst das Symbol der deutschen Demokratie, in meiner Brust bewahrte. Daß ich als Jude überhaupt nicht zu den Deutschen gehörte, das wurde mir in jenen Jahren von immer schrilleren Stimmen ins Ohr geschrien.1

Joseph Roth, elf Jahre jünger als Bermann, trug 1913 die deutschnational gewendeten Farben der Demokratie und studierte Germanistik, unter den zu allen Zeiten falschen Vorzeichen: hatte er doch »Dichtung erwartet und Germanistik vorgefunden«.2 Dass »die Raufereien in der Aula« der Wiener Universität »nachgerade eine Institution« wurden, berichtet auch Soma Morgenstern in seinen Erinnerungen an Joseph Roth:3 In jener Zeit [sc. 1913 in Wien] begannen an der Universität wochenlang andauernde Raufereien zwischen den Vorgängern der Nazis, den antisemitischen deutschnationalen, und den jüdischen Studenten. Die Juden wären eine zu schwache Minorität gewesen, aber sie hatten tätige Hilfe von den jugoslawischen und tschechischen Studenten. Die Raufereien arteten in stundenlange Kämpfe aus, die sich hauptsächlich in der Aula abspielten, wo die Polizei nach österreichischem Gesetz keinen Zutritt hatte, aber auch draußen auf der Rampe, vor dem Eingang zur Aula. […] An einem solchen Tag begegnete ich Joseph Roth. Er war damals sehr elegant gekleidet, fast stutzerhaft. Sein blondes Haar war in der Mitte gescheitelt, und er trug zum Erstau-

1

2 3

Richard A. Bermann alias Arnold Höllriegel: Die Fahrt auf dem Katarakt. Eine Autobiographie ohne einen Helden. Mit einem Beitrag von Brita Eckert hg. von Hans-Harald Müller. Wien: Picus 1998, S. 48–50. David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. München: dtv 1981, S. 130. Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen. Hg. und mit einem Nachwort von Ingolf Schulte. Lüneburg: zu Klampen 1994, S. 9.

232

Karl Wagner

nen der kleinen Gruppe ein Monokel. Er hatte keinen Stock und fühlte sich neben uns deplaciert.4

Mit diesen Reminiszenzen an die Studienzeit an der Wiener Universität werden Einstellungen wach, die mit dem Unbehagen an der Institution, an einzelnen Personen dieser Institution, aber auch am Kollektiv der Studenten, ihren speziellen Körperschaften und Ritualen und, nicht zuletzt, an den Formen der eigenen Teilhabe zu tun haben. Durch die Besonderheit der politischen Verhältnisse nach dem Krieg ist für die hier zu Wort gekommenen jüdischen Autoren nichts Milderndes durch den zeitlichen Abstand zu erwarten; mit der eigenen Position in den Randalen damals verschärft sich unter dem zunehmenden antisemitischen Druck nach 1918 auch die Frage nach dem eigenen jüdischen Selbstverständnis. Obwohl Roth keineswegs systematisch den gesellschaftlichen Ort der Universität, die auch damals aktuellen Fragen ihrer Reform und Reformierbarkeit untersucht hat, ergeben seine feuilletonistischen, sehr oft satirischen Einzel- und Gruppenporträts ein düsteres Mosaik der Reaktionären Akademiker, wie eines seiner frühen Feuilletons bezeichnenderweise heißt. Mit dem Bewusstsein, selbst einmal für Krieg, Patriotismus und Deutschnationalismus anfällig gewesen zu sein – zusammengefasst in dem problematischen, wenngleich selbstbezichtigenden Vorwurf der »Assimilitis«5 – hat Roth nach 1918 mit bitterer Ironie und voller Häme die antisemitischen Dispositionen der jungen wie etablierten Angehörigen der akademischen Welt zur Schau gestellt. Seine Feuilletons jener Jahre sind ein mit literarischer Raffinesse und politischer Intelligenz unternommener Versuch der Früherkennung der Gegner der Republik und der Feinde der Juden. Es spricht nicht gegen ihn, dass der volle satirische Akkord gegen die »reaktionären Akademiker« von 1920: »Revolutionsfeindlich, monarchistisch, ›völkisch‹, säbelsehnsüchtig, purpurverlangend, so ist die deutsche Jugend von heute«6 für ihn zehn Jahre später höchst dissonant geklungen hätte. Wohl immer noch provokant aber seine Erkenntnis, »dass nicht alles jung, was neu, und dass Jugend nur dem Alter, nicht der Veraltetheit antithetisch ist«.7 Der in den Zwanziger Jahren sich verhärtenden Debatte über das Problem der Generationen bzw. über die Kategorie der Generation ist damit von vornherein die Spitze abgebrochen. Mit blankem Entsetzen zitiert Kurt Tucholsky 1928 aus einer Selbstdarstellungsschrift der deutschen Studentenverbindungen mit dem Titel Briefe an einen Fuchsmajor. Das Fazit seiner Lektüre dieser »Anweisung, junge Füchse zu brauchbaren Burschen und damit zu Mitgliedern der herr4 5 6

7

Ebd., S. 8. Ebd., S. 31–45. Joseph Roth: Werke. 6 Bde. Hg. von Fritz Hackert und Klaus Westermann. Bd 1. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 233. Im Folgenden zitiert als W mit entsprechender Band- und Seitenzahl. W, 1, S. 233.

Joseph Roths Kritik des homo academicus

233

schenden Kaste zu machen«,8 ist niederschmetternd: »Wenn man bedenkt, daß Zehntausende junger Leute so, sagen wir immerhin: denken wie das hier […], dann darf man wohl diesen Haufen von verhetzten, irregeleiteten, mäßig gebildeten, versoffnen und farbentragenden jungen Deutschen als das bezeichnen, was er ist: als einen Schandfleck der Nation […]«.9 Tucholsky verteidigt sogar die Professoren: »Sie sind nicht so dumm, wie sich größtenteils stellen – sie sind feige«.10 Er erinnert nämlich an den »Terror«, dem sie ausgesetzt sind, »wenn sie sich auch nur für diese Republik betätigen«.11 Da ihre Einkünfte, durch eine »gefährliche Vorschrift«, »von den Kolleggeldern abhängen«, sind mit dem studentischen Boykott auch materielle Nachteile verbunden.12 Der Satire auf die Korpsstudenten und der als Priesterkaste lächerlich gemachten Akademiker13 entspricht bei Roth keine vergleichbare Aufmerksamkeit für die in zahlreichen, durchaus auch selbstkritischen Erinnerungen berichteten Erfahrungen im Kontext der linken Studentenschaft der zwanziger Jahre in Wien und Berlin. Auch Tucholsky kann beim besten Willen nicht sehen, wo die aufhebende Wirkung der vielgerühmten Jugendbewegung ist, die Ignorieren für Kampf hält; wo das Gegengewicht steckt, wo die andere Hälfte der Nation bleibt, jenes andre Deutschland, das es ja immerhin auch noch gibt. Wenns zum Klappen kommt, ist es nicht vorhanden. Ungleichmäßig sind bei uns Gehirn und Wille verteilt: der eine hat den Kopf, und der andre den Stiernacken. Es gibt kaum eine intelligente Energie. Sie haben nicht nur das größere Maul, die dickern Magenwände, die bessern Muskeln, die niedrigere und frechere Stirn: sie haben mehr Lebenskraft.14

Der aus Deutschland stammende, mit einem Kindertransport 1938 nach England und später in die USA emigrierte Literaturwissenschaftler Geoffrey Hartman hat in einem Interview einen solchen Zusammenhang von jugendlichem Vitalismus, Nihilismus und Nationalsozialismus im Deutschland und Österreich der 20er Jahre als plausible Hypothese formuliert.15 Thomas Mann hat 1930 »überall eine vitalistisch-irrationale, eine lebensgläubige, ja lebensmystische Gegenbewegung« gegen »den nachtvergessenen Tages- und Verstandeskult abgelaufener Jahrzehnte«16 an der Tagesordnung gesehen. Musils 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Kurt Tucholsky: Briefe an einen Fuchsmajor. In: Kurt Tucholsky: Das Lächeln der Mona Lisa. Berlin: Rowohlt 1929, S. 28. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 236. Ebd., S. 38. »Keine Frage des Tabus, sondern der Enthaltung«. Geoffrey Hartman im Gespräch mit Karl Wagner. In: Der Standard (Wien) vom 12.5.2001. Thomas Mann hat nicht verabsäumt zu erwähnen, was die nationalsozialistische Bewegung »vom Geistigen her« stärkt und gestärkt hat (seine eigene Rolle hat er wohlweislich vergessen): »Dazu gehört eine gewisse Philologen-Ideologie, Germa-

234

Karl Wagner

Porträt der Gruppe um Hans Sepp und deren ›Schleudermystik‹ pointiert eine doktrinär-rücksichtslose Mystik der Tat als Alternative zum Liberalismus des jüdisch-assimilierten Bankiers Fischel, dessen Tochter Gerda, aber auch der Intellektuelle Ulrich, erstaunliche Wahlverwandtschaften mit dieser antiintellektuellen Schwärmerei entwickeln. Dass Roth selbst im Unterschied zur literarischen Soziologie Siegfried Kracauers verstärkt auf satirische Verfahren setzt, mag einer Desillusionierung geschuldet sein, die mit seinen, also für Roths Begriffe, Fanfarenstössen zugunsten der Neuen Sachlichkeit und ihren Verfahren zu tun hat. Seine früh entwickelte Ambivalenz, erstmals schon 1926 bekundet in seiner Besprechung von Döblins Reise in Polen, ist mit seinem Schluss mit der Neuen Sachlichkeit nicht gelöst. Aber Fanfarenstösse werden gern als endgültig angesehen und so haben auch die Herausgeber von Benjamins Schriften (ohne Nachweis) vermutet, das (Krypto)Roth-Zitat in Benjamins Besprechung von Kracauers Die Angestellten, das bei ihm lautet: »die Aufgabe des Schriftstellers sei, nicht zu verklären, sondern zu entlarven«,17 stamme aus Roths Abrechnung mit der Neuen Sachlichkeit. Abgesehen davon, dass sich das Roth-Zitat in dessen Besprechung von Valeriu Marcus Männer und Mächte der Gegenwart findet und korrekt lautet: »Es ist die Aufgabe des Schriftstellers, nicht zu erklären [!], sondern zu entlarven«,18 wird man die Differenz zu Kracauer nicht zu stark machen wollen. Benjamin selbst stellt seine umfangreichere Besprechung der Angestellten ganz unter die Vorzeichen der Satire-Tradition und ortet insbesondere in »Kracauers Analysen, besonders der akademischen tayloristischen Gutachten, Anfänge der lebendigsten Satire«.19 Dass von Kracauers satirischen Analysen vor allem der Psychologe William Stern, also Günther Anders’ Vater betroffen ist, sei nur nebenbei bemerkt. Zu klären wäre, ob Benjamins RothZitat nicht als Versuch zu werten sei, den ›roten Joseph‹ noch einmal für ein gemeinsames marxistisches Projekt zu gewinnen (das Roth zu diesem Zeit-

17

18 19

nisten-Romantik und Nord-Gläubigkeit aus akademisch-professoraler Sphäre, die in einem Idiom von mystischem Biedersinn und verstiegener Abgeschmacktheit mit Vokabeln wie rassisch, völkisch, bündisch, heldisch auf die Deutschen von 1930 einredet […]«. Thomas Mann: Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft. In: Ders.: Ausgewählte Essays in drei Bänden. Hg. von Hermann Kurzke. Bd 2: Politische Reden und Schriften. Frankfurt a. M.: Fischer 1977, S. 125. Vgl. Walter Benjamins zweite, kürzere Rezension zu Kracauers Die Angestellten. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Walter Benjamin. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. 7 Bde. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd III (Hg. von Hella Tiedemann-Bartels). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 226–228, hier S. 228. Siehe W, 3, S. 200. Walter Benjamin: Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. Zu S. Kracauer, ›Die Angestellten‹. In: Benjamin, Schriften (wie Anm. 17), S. 223.

Joseph Roths Kritik des homo academicus

235

punkt schon aufgegeben hatte).20 Abgesehen von Kracauer hat die Frankfurter Schule Roth zumeist unterschätzt.21 Nur vereinzelt unterstützt Roth Anliegen und Projekte der Schulreform22 oder Kundgebungen der republikanischen Jugend, wie etwa jene aus Anlass der Verurteilung von George Grosz wegen seiner Ecce homo – Mappe im Jahr 1924: »Es war eigentlich das erste Lebenszeichen der deutschen Republikanischen Jugend, und das heißt mehr als der Anlaß ahnen läßt. Die Begeisterung einer Jugend, die sich einmal nicht in Stinkbomben und Knüppeln und Hakenkreuzen äußert, ist das Symptom einer geistigen Entwicklung der Nation«.23 Die Geschmeidigkeit seiner Satire enthebt Roth nicht der Anstrengung, nach Gründen für solche Dispositionen der Akademiker zu forschen. In der »Brotfrage«24 findet er einen Schlüssel zu den verschobenen materiellen wie immateriellen Voraussetzungen: Nach der Revolution von 1918 verdiente der Akademiker in der Regel nicht nur weniger als der manuelle Arbeiter; er hatte auch noch das symbolische Kapital eingebüsst, »akademische Ehre«25 genannt. Was heißen soll: Selbst wenn der Universitätslehrer schon vor 1918 weniger verdient haben sollte, durfte er damals zumindest noch die Gewissheit haben, etwas geworden zu sein, was dem Nicht-Akademiker unmöglich war. Mit der problematisch gewordenen Rekrutierung des akademischen Nachwuchses verschärften sich auch die Ausschließungsprozeduren von Frauen und Juden; mit den entsprechenden Folgen, die erst in jüngster Zeit mit einigem Aufwand für die verschiedenen Universitäten erforscht worden sind; viele Ergebnisse stehen aber noch immer aus oder bedürften der Interpretation.

20

21

22 23

24 25

Das ›Entlarven‹, das die Kurzrezension Benjamins mit Roth zu untermauern sucht, steht in der Langversion ([wie Anm. 17], S. 220) in direktem Marx-Zusammenhang: »dialektisch eindringen, heißt: entlarven«. In einem Brief Adornos an Kracauer vom 1. Juni 1930 heißt es: »Ich habe gerade einiges von Joseph Roth gelesen – es ist dagegen [sc. im Vergleich zu Kracauers Feuilletons] ganz inferior; übrigens auch abgesehen davon. Vollends die Produktion Somas [sc. Soma Morgenstern] ist ganz trostlos mit der leeren Ironie, die nur aus dem Bewusstsein der eigenen Insuffizienz, nirgends aus der Empörung über Sachen kommt«. In: Theodor W. Adorno/Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923–1966. Hg. von Wolfgang Schopf. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 223. Am 2. Juni 1931 schreibt er an Kracauer: »Soma Morgenstern sah ich kurz, immer noch sehr nett, aber er hat sich in sein Judentum als feste Burg zurückgezogen und findet den ›Hiob‹ so bedeutend – sonderbarer Schwärmer«. Ebd., S. 260. Vgl. Joseph Roth: ›Versuchsklassen‹. Zu Otto Glöckels Schulreform. In: W, 1, S. 261–264. Joseph Roth: Eine Kundgebung der republikanischen Jugend. In: Joseph Roth: Unter dem Bülowbogen. Hg. von Rainer-Joachim Siegel. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994, S. 276 (fortan mit der Sigle UdB zitiert) – Vgl. Joseph Roth: ›Ecce homo‹ vor Gericht. In: W, 2, S. 57f. W, 1, S. 234. W, 1, S. 235.

236

Karl Wagner

In den von Roth und Soma Morgenstern studierten Fächern, Germanistik und Jus, waren die ideologischen Exklusionen besonders drastisch. Roth hat dies zunehmend aus den Augen verloren, weil er das Problem in einem anderen Feld, dem der Justiz, ungleich besser und mit der Aussicht auf größere Aufmerksamkeit beobachten konnte. Die Universität kam für ihn als Institution gegen das antidemokratische Denken auch immer weniger in Frage. Die sporadischen Artikel über akademische Feiern, Festreden und Fehlleistungen – von Roethe, dem Scherer-Nachfolger, bis Troeltsch – bestätigen nur die Enttäuschung Roths, dass eine alte Institution wie die Universität von diesem Status keinen neuen Gebrauch macht und, wenn überhaupt, nur so selten noch zu überraschen vermag. Dort, wo das Urteil über das Jetzt auf eine sehr bestimmte Weise gefällt wird, war Joseph Roth wie alle wichtigen Autoren der Epoche präsent, nämlich bei den zahllosen politischen Prozessen der Ersten bzw. der Weimarer Republik. Der studierte Germanist Roth zeigt großen Sachverstand, wenn er die Durchlässigkeit von Politik, Verbrechen und Justiz transparent zu machen sucht. Roth ist dabei, wie sonst auch, einer Zeugenschaft des Nebensächlichen verpflichtet, besonders wenn er über Gerichtsprozesse schreibt, aber nicht nur dann. Er legt dabei nicht nur die Etappen des Weges zur Tat frei, sondern auch die kleinsten Zeugnisse für die Entscheidungsfindung bei Gericht, also die Etappen des Wegs zum Urteil. In den politischen Prozessen, die Roth kommentiert, ist dieser Doppelaspekt stets präsent. Etwa in der Freilegung des Milieus der politischen Attentäter durch die Berücksichtigung des Ortes, an dem der politische Mord beschlossen wurde. Auf sarkastische Weise unternimmt dies Roth im Feuilleton Nationalismus im Abort.26 »Im Prozeß gegen die Scheidemann-Attentäter«, schreibt Roth, »hörte man von den Mördern selbst, daß sie ihren Plan in der ›Toilette‹ eines Weinrestaurants reifen ließen. Man kann Grund haben, alle Aussagen der Attentäter zu bezweifeln – nur diese eine nicht. Deutschnationale Schutz- und Trutzbündler, selbst wenn sie in einem Heiligtum ihre Pläne schmiedeten, könnten es zum Lokus degradieren«.27 »Der Abort als Vorbild der Nation«28 lautet auch Tucholskys sarkastisches Urteil über das »Waffenstudententum«.29 Roth lässt nicht einmal den Zufall des Eigennamens und dessen semantischen Potentiale außer Acht: »Ironie des Zufalls fügte es einmal, dass ein deutschnationaler Student und Defraudant nicht anders hieß als – ›Biertimpfl‹. Ein zweites Mal, dass einer der Rathenau-Mörder den Namen ›Niedrig‹ trug. Und derselbe ironische Zufall lässt einen nationalen Mordplan im Klosett reif

26 27 28 29

W, 1, S. 900f. W, 1, S. S. 900. Tucholsky, Das Lächeln der Mona Lisa (wie Anm. 8), S. 37. Ebd., S. 29.

Joseph Roths Kritik des homo academicus

237

werden«.30 Die auf den Abort gekommene und aus ihm kommende Politik der Nationalisten pointiert Roth durch eine kühne Isotopie: »Der Plan, Rathenau zu ermorden, ward in der Mensa der Technischen Hochschule geschmiedet. Damals reaktionäre Hochschule. Aber siehe da: Die Scheidemann-Attentäter hatten noch ein besseres Stelldichein gefunden: die ›Toilette‹. Sie selbst (nicht ich) rücken somit diese Örtlichkeit in die bedrohliche Nähe unserer Hochschulen«.31 Die rhetorisch eingeführte Wendung von der Ironie des Zufalls wird nunmehr für das Prinzip der gesteigerten Wiederholung auf den allerneuesten Mordplan appliziert: »Vielleicht – wenn jener oben angeführte ironische Zufall es will – wird es sich in der nächsten Verhandlung ergeben, dass die HardenAttentäter ihren Mordplan in der – Bedürfnisanstalt einer deutschen Hochschule ersonnen haben. Nach den politischen Grundsätzen, die unsere Biertimpfls in jenen Räumen von sich geben, könnte man wohl auf Meuchelmörder schließen«.32 Zwei Jahre nach der Ermordung Walther Rathenaus am 24. Juni 1922 – es ist nach einer von mir übernommenen Zählung der 354. politische Mord durch Rechtsextreme in der jungen Weimarer Republik33 – besucht Joseph Roth das Rathenau-Museum. Sein Besuch im Rathenau-Museum schließt mit den Worten: »Es ist nicht wahr, daß jeder Mord ein Mord ist. Dieser hier war ein tausendfacher, nicht zu vergessender, nicht zu rächender«.34 Mit nobler Diskretion, nur auf einen Buchtitel Rathenaus anspielend, nicht auf dessen homoerotischen Kontakte, heißt es: »Ach! Er überschätzte den Teil der deutschen Jugend, dessen Opfer er wurde«.35 Eine beträchtliche Zahl von Roths Feuilletons gilt just dieser Jugend: der Physiognomie der »gläubigen Jugend«, der »nationalalkoholischen« Studentenschaft, aber auch den reaktionären Hochschullehrern und dem Arsenal ihrer Phrasen. Verbindlichkeit bekommt eine solche Kritik nur dadurch, dass sie mit den Schablonen, Phrasen und Habitusformen des literarisch-journalistischen Metiers und dem »verworrenen Hausrat der Begriffe« vom Beruf des Dichters nicht minder zimperlich verfährt. Bei höchstem Anspruch: »Die Literatur ist die Aufrichtigkeit selbst, sie ist der einzige wahre Ausdruck des Lebens«,36 30 31 32

33 34 35 36

W, 1, S. 900. W, 1, S. 901. Ebd. In »Biertimpfl und Kanalgeruch« (UdB, S. 171–175) macht Roth von der bewährten satirischen Lizenz Gebrauch, das Menschliche tierisch zu finden; er greift sogar zum verpönten Namenwitz, um auf diese Weise die antisemitische Politik des Namengebens bzw. des Namenzwangs (d. h. Verbots der Namenänderung) bloßzustellen. S. dazu vor allem Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933. Stuttgart: Klett-Cotta 1992. Vgl. Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 232. W, 2, S. 208. W, 2, S. 207. Bronsen, Joseph Roth (wie Anm. 2), S. 349.

238

Karl Wagner

durchquert Roth mühelos alle Demarkationen und Trennungen, die nicht erst in den 20er Jahren zwischen Literatur und Journalismus errichtet worden sind (und immer noch werden). Selbstbewusst lehnt Roth die aus der Defensive genährte Rede von der Auserwähltheit des Dichters ab: »Das Schreiben ist eine irdische Angelegenheit und unterscheidet sich, vom ›Metaphysischen‹ her gesehen, keineswegs vom Schuhmachen«.37 Es verwundert daher nicht, dass Roth seine Vorstellung von diesem Beruf mit der Sphäre des Rechts und der Justiz in Zusammenhang bringt. Eine Umfrage, zum 25. Todestag Emile Zolas, nach den »Möglichkeiten seiner [sc. Zolas] Wirkung auf die heutige deutsche Generation«38 beantwortet Roth damit, dass er von der Hinrichtung von Sacco und Vanzetti spricht und was diese bei ihm ausgelöst hat. Dieser Fall von politischer Justiz, der dank Woody Guthrie und anderer noch die Populär- und Protestkultur nach 1945 entscheidend geprägt hat, mag auch daran erinnern, dass eine gehaltvolle Bestimmung von Populärkultur ohne den Machtbezirk der Justiz nicht möglich ist. Dass »kein einziger Schriftsteller ›von Weltruhm‹ sich gerührt hat, ist für uns, Genossen dieser Zeit, mehr als beschämend: Es könnte fast unsere Hoffnungen vernichten. Die Überzeugung, daß die Gerechtigkeit tot ist – in Amerika und in Europa – muß alle Herzen kalt und starr gemacht haben. Zola aber hätte auch den Mut gehabt, für eine aussichtslose Sache zu kämpfen«.39 Die Gerechtigkeit, die in diesem schmerzhaften Aktualitätsbezug als aussichtslose Sache erscheint, wird von Roth zu seinem literarischen Kriterium gemacht. Dies bedeutet den Bruch mit einer vulgäridealistischen Ästhetik, die »von den ewigen Reaktionären« zur Grenzziehung »zwischen einer Stellungnahme zu den öffentlichen Gemeinheiten und einer tapferen, ›zur Ewigkeit hingewendeten‹ Arbeit«40 aufgewendet wird. Dieser spezifisch deutschen Konstellation stellt Roth, wie schon Heinrich Mann, Emile Zola als Vorbild entgegen: »Wer von den deutschen berühmten Schriftstellern hat sich um schwarze Reichswehr, massakrierte Arbeiter, bayrische Justiz […] gekümmert? Wie viele Dreyfus-Affären hatten wir seit 1918«?41 Im Oktober 1922 schreibt Joseph Roth als Sonderberichterstatter der Neuen Berliner Zeitung über den Rathenau-Prozess aus Leipzig. Das Genre des Prozessberichts war für die Schriftsteller der Weimarer Republik eine besondere Herausforderung. Zu Recht durften sie Erkenntnisse über den Zustand der Justiz und damit über die Republik, die so viele nicht wollten, erwarten. Beim Rathenau-Prozess ist Roth ganz Auge und Ohr für die Rituale der Justiz, für die Sprach- und Sprechgesten, für die Sprache der Gestik aller am Prozess 37

38 39 40 41

Joseph Roth an Stefan Zweig, 17.11.1935. In: Joseph Roth. Briefe 1911–1939. Hg. und eingeleitet von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 440. W, 2, S. 823–825. W, 2, S. 824. Ebd. W, 2, S. 824–825.

Joseph Roths Kritik des homo academicus

239

Beteiligten.42 Und auch für das Ambiente des Gerichtssaals. Schon der Ort der Verhandlung, »überflüssig mit Kaiserbildern tapeziert«,43 verrät ihm etwas vom Zustand der Republik. Die »[ö]lgemalte[n] Zeugen der vergangenen Epoche« sprechen »vielleicht für die Angeklagten, indem sie sie entschuldigen. [–] Der gemalte Purpur und die zerfetzten Kleidungsstücke Rathenaus – ein Kontrast und ein Kausalzusammenhang zugleich«.44 Ein eigenes Feuilleton handelt von der Mordwaffe, einer Maschinenpistole, »die genauso schnell schießt wie ein Maschinengewehr und die jetzt, in ein Corpus delicti verwandelt, geradezu harmlos auf dem Tisch vor den Richtern liegt«.45 Roth geht es vor allem um die Gleichgültigkeit der Angeklagten, die von ihrem Spezialistentum herrührt: »Gleichgültig erörtert Techow die Schnelligkeit dieser Waffe wie ein Sachverständiger im Schießfach«. Merkwürdig sei allerdings, »daß die Sachverständigkeit des Mörders sofort aufhört, wenn das Thema politisch wird. Da vernimmt man, daß er überzeugt war von Rathenaus Zugehörigkeit zu den 300 Weisen von Zion, von der Verlobung seiner Schwester mit Radek, vom ›schleichenden Bolschewismus‹ und von der Schändlichkeit des Judentums. Von den zahlreichen Schriften Rathenaus hat er zwar nichts gelesen […] aber nicht einmal seine totale Unwissenheit zuzugeben ist er mutig genug. Einen einzigen Aufsatz von Rathenau will er gelesen haben, und zwar in Hardens ›Zukunft‹, deren Mitarbeiter Rathenau seit mehr als zehn Jahren nicht mehr war. Wozu lesen? Wozu sich überzeugen? Lieber gleich morden, was leichter ist«.46 Von den Angeklagten repräsentiert der Student Günther, »Hörer der Rechte, 26 Jahre alt, bebrillt«, die »Geistigkeit des völkischen Nationalismus«:47 »ein nationalistischer Schwachkopf mit akademischem Staatsbürgerrecht«48 lautet Roths Befund. Von dem Bankbeamten Ernst von Salomon notiert er: »Er lügt mit einer gewissen Sicherheit und Anmut sogar. Er befleißigt sich einer solchen Präzision, dass die Aussagen unmöglich wahr sein können«.49 Roths Bericht spart die gefällten Urteile aus. Dem Leser des Berichts aber wird die Atmosphäre des Prozesses auf eine Weise vermittelt, die ihm ein politisches Urteil über den Zustand der Republik nicht erspart. An den »Hakenkreuzzüge[n]«50 der Gesichter, an den Stimmen des Offizierskorps und der Verteidiger der Reaktion sind Zuschauer, Angeklagte und Juristen ununterscheidbar geworden. 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Der mehrteilige Artikel Roths: »Leipziger Prozess gegen die Rathenau-Mörder« findet sich in: W, 1, S. 872–882. W, 1, S. 872. Ebd. W, 1, S. 874. W, 1, S. 874f. W, 1, S. 876. Ebd. Ebd. W, 1, S. 880.

240

Karl Wagner

Einer der Verurteilten, Ernst von Salomon, veröffentlichte nach der Haftentlassung seine Version des tödlichen Attentats auf Rathenau und dessen Hintergründe. Der letzte Teil dieses Bekenntnisbuches heißt ›Die Verbrecher‹ und ist mit einem Ernst Jünger-Zitat gerüstet. Er beginnt mit der Verurteilung zu fünf Jahren Zuchthaus und damit fünf Jahren Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Salomons Rekapitulation des Prozesses verrät, wie eine bestimmte Form der Justizkritik bloß als Ausdruck eines antiinstitutionellen Affektes funktioniert und dergestalt sich jeder ideologischen Zwecksetzung anbietet: In tagelanger, grotesker Gerichtsverhandlung sahen wir in feierlichen, mit den Bildern der deutschen Kaiser geschmückten Saale in verschabtes, altmodisches Schwarz gekleidete Männer auf mit goldenen Kronen gezierten Richterstühlen sitzen, Männer. Die ein scharfer Duft Kleinbürgerlichkeit umhüllte und in deren ausdruckslosen, muffigen Gesichtern, in deren geröteten, wässerigen Augen nur die Funken eines kalten, höhnischen Hasses blitzten, sonst nichts.51

Aus der Perspektive des selbsternannten Ausnahmemenschen, der durchgängig das Pathos der Tat mit einer nationalrevolutionären ›Entscheidungs‹- Rhetorik anfacht, kann es nur Schuld, aber keine Gerechtigkeit geben. »Nicht konnten wir Gerechtigkeit verlangen, da wir Gerechtigkeit als sittliche Forderung niemals anerkannt«.52 Sämtliche Topoi und Metaphern des Mechanischen und der Versteinerung werden zur Justizkritik aufgeboten, um letztlich einen anderen, rhetorisch unter die Vorzeichen des Organischen gehievten Begriff des Rechts durchzusetzen: »Wir waren sicherer als jene« – gemeint die Richter, die nur die »Maske des Rechts«53 missbrauchten –, denn wir wussten, dass Recht nur da sein konnte, wo eine Gemeinschaft glaubt. Aber wo war die Gemeinschaft, die glauben konnte, die das Recht begriff in einsatzbereiter Verantwortungsfreudigkeit als tiefe, mystisch bindende, beseelte und beseelende Kraft?54

Es ist bestürzend, dass Theodor Lessing, Verfasser des bis heute stichwortgebenden Buches Der jüdische Selbsthass, an sein Lob für »das Bekenntnis eines ganz außerordentlichen Menschen, der zwar kein starker Mensch, wohl aber ein mit Dynamit geladener ist«, sein eigenes durchaus analoges, affirmierendes Bekenntnis anschließt: »Was ist der letzte Sinn des Lebens? Nicht Wahrheit, nicht Gerechtigkeit!! Sondern: Traum, Rausch und Chaos«.55 In gekonnter Dramaturgie spart sich übrigens Ernst von Salomon die von Roth beobachtete Sympathie der Beamten für die Ideologie der Mörder für den 51 52 53 54 55

Ernst von Salomon: Die Geächteten. 25.–84. Tsd. Gütersloh: Bertelsmann o. J., S. 397. Ebd., 402. Ebd., 403. Ebd. Theodor Lessing: Irrende Helden. In: Ders.: Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte. Essays und Feuilletons (1923–1933). Hg. und eingeleitet von Rainer Marwedel. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1986, S. 86.

Joseph Roths Kritik des homo academicus

241

Zeitpunkt seines Abtransportes in das Gefängnis auf: »Beamte, die uns gutmütig herablassend versicherten, sie stünden mit dem Herzen ganz auf unserer Seite, aber sie müssten ihre Pflicht erfüllen«.56 Wie das Recht allerdings innerhalb der Gemeinschaft funktioniert, hatte Salomon schon zuvor in der perfektesten Ästhetisierung eines Fememords vorgeführt. An Salomons Buch Die Geächteten schieden sich damals schon die Geister auch derjenigen, die sich einig waren in der moralischen und politischen Verurteilung des Mordes. Das, was in heutigen Debatten (aus mitunter sehr durchsichtigen Gründen) zu einer prinzipiellen Unversöhnlichkeit von Ästhetik und Ethik hochstilisiert wird, spielte schon in die damalige Auseinandersetzung um dieses Buch herein. Der Verleger, Ernst Rowohlt, der im selben Jahr auch Arnolt Bronnens dokumentarischen Bericht über den Freikorpsführer Gerhard Rossbach verlegte, rechtfertigte sich gegen den Vorwurf des Gesinnungswechsels mit forciertem Gleichmut: Das Buch ›Die Geächteten‹ von Ernst von Salomon, dessen Publikation man mir verübelt, ist die Arbeit eines Menschen, den ich für einen begabten Schriftsteller halte. ›Daß einer einen Giftmord begangen hat, beweist nichts gegen sein Flötenspiel‹, hat Oscar Wilde gesagt. Außerdem aber halte ich Salomon für einen persönlich sauberen Menschen und für den Prototypen einer Generation […].57

Robert Musil, der mit seinem Törleß gleichfalls eine generationstypische Figur geschaffen oder, wie manche behaupten, antizipiert hat, sprang seinem Verleger nicht nur mit ästhetischen Gründen bei. Für ihn gehört Die Geächteten zu den besten Büchern des Jahres 1930: Es »überrascht durch die Begabung des Verfassers und packt auf das lebhafteste. Denn aus seinen jungen Menschen, die fast von ganz Deutschland seelisch geächtet worden sind, spricht eine mächtige melodische Energie, der bloß die richtige Fassung gefehlt hat«.58 Joseph Roths Rezension mit dem Titel Vom Attentäter zum Schmock59 lieferte einleuchtende Gründe dafür, dass von Salomons Buch aufgrund seiner ästhetischen Mängel für eine Diskussion über eine ›faschistische Literatur von Rang‹ (Walter Heist) nicht taugt: »Er kann nicht nur nicht schreiben, er kann auch nicht beobachten«. Anders als Musil zuvor hat Polgar zu Beginn der 50er Jahre Ernst von Salomons Autobiographie, die in ihrem Titel Der Fragebogen auf ein Dokument verweist, das »auf Grund des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus«60 der Militärregierung, dem Zweck der Entnazifizierung Deutschlands dienen sollte. In besonderer Weise wird also hier der ›autobiographische Pakt‹ (Ph. Lejeune) zu einem auch juristisch verbindlichen Kontrakt: autobiographische Rechtfertigung und Rechtssprechung 56 57 58 59 60

Salomon, Die Geächteten (wie Anm. 51), S. 407. Zitiert nach dem Marbacher Magazin 43/1987: Kurt Wolff – Ernst Rowohlt, S. 124f. Robert Musil: Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. Bd 9. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1722. W, 3, S. 239–242. W, 3, S. 241.

242

Karl Wagner

stehen in dieser besonderen historischen Konstellation in einem engeren Zusammenhang als sonst. Der Literaturkritiker Alfred Polgar lässt keinen Zweifel aufkommen, dass von Salomon, den er eine »gespenstische Erscheinung« nennt,61 dieser Wahrheitsprüfung nicht genügt, auch wenn er sarkastisch einräumt: Ein guter Attentäter und ein guter Schriftsteller. Als solchen beweisen ihn auch viele von den 808 Seiten seines neuen Buchs. In Form umständlicher Antworten auf den umständlichen Fragebogen der Militärregierung erzählt es Mären aus Salomons jungen und älteren Tagen, plastisch und drastisch, in einer Sprache, die selten müde wird. Nur manchmal dunkel.62

Mit besonderer Sorgfalt hat Polgar die Erinnerungen Salomons an den Rathenau-Mord gelesen: Man kann nicht sagen, dass Salomon sich der Tat rühmt, noch weniger, dass er sich ihrer schämt. Er steht ihr mit gemischten Gefühlen gegenüber: wie einer Angelegenheit, die wohl ihr Peinliches hatte, die er aber in der Chronik seiner Erlebnisse und Leistungen keinesfalls missen möchte.63

Anders als Musil 1930 wollte Polgar Rowohlt, der auch sein Verleger war und ist, nicht beistehen. Im Gegenteil, er kritisiert ihn: Rowohlt ist von der Aufrichtigkeit des verfänglichen ›Fragebogen‹ – Dichters rundherum überzeugt und hat ihm auch diese Überzeugung auf der Schlußseite des Buchs attestiert. Mit faksimilierter Unterschrift. Zwischen Rowohlt und Salomon besteht im großen ganzen, scheint es, Harmonie der Urteile und des Geschmacks.

Maliziös fügt er hinzu: »Nur in einem Punkt gehen die beiden Ernste scharf auseinander […]: Nämlich dass Salomon sich gern unauffällig besäuft, Rowohlt dies möglichst auffällig zu tun liebt«.64 Mit Erstaunen registriert Polgar noch die bemerkenswerten Fakten: »vom ›Fragebogen‹ wurden gleich nach Erscheinen 20 000 Exemplare abgesetzt, das Stück zu 19 Mark 80. Versteh’ einer die Welt«!65 Mit Salomons Fragebogen beginnt für das Verhältnis Literatur und Justiz ein anderer, nicht minder komplexer Abschnitt: die Prozesse gegen die nationalsozialistischen Täter, die Frage nach der Rolle der Intellektuellen und Schriftsteller und die schwierige Frage nach der literarischen Darstellung von Verbrechen in den Dimensionen und Bedingungen von Makrogewalt.

61

62 63 64 65

Eine gespenstische Erscheinung. Ernst von Salomon: Der Fragebogen. In: Alfred Polgar. Kleine Schriften. Bd 4: Literatur. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984, S. 167–184. Ebd., S. 167. Ebd., S. 170. Ebd., S. 172. Ebd., S. 174.

Susanne Kalina-McMahon

Ein »Staat, der gar nicht da war« – Joseph Roth und Deutschösterreich In memoriam Günter Kalina1

Am 12.11.1918 wurde von den deutschen Parlamentariern des noch zur Monarchiezeit gewählten Parlaments die Republik Deutschösterreich ausgerufen. Dieses Deutschösterreich sollte alle deutschsprachigen Teile der ehemaligen österreichischen Reichshälfte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie beinhalten und wurde von der Regierung als Bestandteil der Deutschen Republik erklärt.2 Die Herrschaft der Habsburger, die seit 1282 über Österreich und die immer wieder wechselnden zugehörigen Gebiete herrschten, ging damit zu Ende. Aus einer multiethnischen, multikulturellen und mehreren Religionen angehörigen Gesellschaft wurde eine nationale, aus einer mehrsprachigen Bevölkerung eine einsprachige, die Religionen wurden stigmatisierter und der politische Katholizismus verstärkt. Vom deutschen Sprach- und Kulturnationalismus der Eliten aus der Monarchie kam man zu einer vorwiegend deutschsprechenden Nation mit dem Namen Deutschösterreich. Dieses Österreich hatte in dieser Form nie existiert und bestand nach den endgültigen Grenzziehungen nur mehr aus circa 1/8 der früheren Größe. Von der Regierung wurde das Land als »Deutsch« definiert, es gab jedoch nicht nur Deutsch-Österreicher im neuen Staat. Auch in der neuen Republik ist Österreich durch die Einwanderung aus den Kronländern vor 1918 noch ethnisch und sprachlich-kulturell

1

2

Ich widme diesen Beitrag meinem Bruder, Günter Kalina, der am 4.6.2009, in der Zeit zwischen der Joseph Roth Konferenz in Ljubljana und der Endfassung meines Beitrages nach langer schwerer Krankheit verstorben ist. Günter hat sich seit frühester Jugend u. a. für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte interessiert und mich durch Neugier, Hinterfragung, Wissen, Durchblick und den unkonventionellen Zugang zu Dingen animiert und motiviert. Ich werde ihn sehr vermissen. Zur Ersten Republik vgl. Hellmut Andics: Der Staat, den keiner wollte. Österreich von der Gründung der Republik bis zur Moskauer Deklaration. München: Goldmann 1980; Friedrich Heer: Der Kampf um die österreichische Identität. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1981; Das Werden der Ersten Republik. ... der Rest ist Österreich. 2 Bde. Hg. von Helmut Konrad und Wolfgang Maderthaner. Wien: Carl Gerold’s Sohn Verlagsbuchhandlung 2008; Günther Steinbach: Kanzler, Krisen, Katastrophen. Die Erste Republik. Wien: Ueberreuter 2006; Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik. 2 Bde. Hg. von Erika Weinzierl und Kurt Skalnik. Graz, Wien, Köln: Styria 1983.

244

Susanne Kalina-McMahon

differenziert, v. a. in Wien und in den Grenzgebieten.3 Dies führte zu Konflikten innerhalb der Bevölkerung und unter den politischen Lagern. Die Bildung von Nationalstaaten aus den ehemaligen Kronländern der Monarchie gestaltete sich geografisch, politisch und ethnisch nicht problemlos. Die neuen Länder ließen sich nicht so einfach, wie in den vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson propagierten 14 Punkten, mit dem Reißbrett einteilen, ohne etwa historische Gebietsansprüche zu verletzen oder ethnische Minderheiten zu benachteiligen. Die Ruthenen (Ukrainer) wurden überhaupt vergessen und auch die jüdische Bevölkerung konnte kein Gebiet für sich beanspruchen. Die Idee eines Nationalstaates war für das neue Österreich und die aus der Konkursmasse der Monarchie entstandenen neuen Staaten auch schwierig umzusetzen. Der Begriff Österreich bedeutete vor 1918 nicht eine Nation im nationalstaatlichen Sinne. Die Idee einer Nation war bis Ende der Monarchie überstaatlich und durch die Dynastie geprägt.4 Der Begriff »die Deutschen« war während der Monarchie die Bezeichnung für eines der mehreren Völker Österreichs. Man verwendete auch den Begriff »Deutschösterreicher«, der eine zweifache Abgrenzung war – gegenüber den anderen Österreichern einerseits, also den slawischen Völkern und den Ungarn, später auch gegenüber den »Reichsdeutschen« in Preußen.5 Österreicher waren die Angehörigen aller Nationalitäten, die österreichische Staatsbürger waren. Der Name der neuen Republik Deutschösterreich negierte somit die anderen im Land verbleibenden ethnischen Österreicher und machte sie automatisch zu deutschen Österreichern. Der Streit um die zukünftige Gestaltung des Staates schied die Bevölkerung und Politiker nach 1918 in unterschiedliche politische Lager, die sich schon vor dem Krieg und während der Monarchie gebildet hatten. Die einen glaubten an die Deutschösterreicher als eigene Nation oder als zur Deutschen Republik zugehörig. Es gab jedoch auch andere politische Lösungsversuche und Ideologien für ein neues Österreich. So wurde das Projekt einer Donauföderation, einer Föderation von Ländern der ehemaligen Monarchie ohne Deutschland, verfolgt. Ziel war die Fortsetzung der Gemeinschaft mit den anderen Völkern 3

4

5

Michael John/Albert Lichtblau: Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten. Wien, Köln: Böhlau 1990, S. 14–18. Heinz-Dieter Heimann: Die Habsburger. Dynastie und Kaiserreiche. München: Beck 2001. Zu den Habsburgern und der Geschichte Österreichs vgl. auch: Steven Beller: A Concise History of Austria. Cambridge: Cambridge University Press 2006; Robert A. Kann: Geschichte des Habsburgerreiches 1526–1918. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1990; Erich Zöllner: Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien: Oldenbourg 1990; Die Habsburger. Eine europäische Familiengeschichte. Hg. von Brigitte Vacha. Graz, Wien, Köln: Styria 1993. Gerald Stourzh: Vom Reich zur Republik. Studien zum Österreichbewußtsein im 20. Jahrhundert. Wien: Wiener Journal Zeitschriftenverlag 1990, S. 13 und 33–35.

Ein »Staat, der gar nicht da war« – Joseph Roth und Deutschösterreich

245

der Monarchie. Außerdem gab es Monarchisten, die eine Restauration der Habsburgermonarchie erreichen wollten. Diese politischen Richtungen gingen entschieden gegen einen Zusammenschluss mit Deutschland und sie waren gegen einen Nationalstaat im Allgemeinen. Die vor und durch den Ersten Weltkrieg hervorgerufenen politischen und sozialen Umwälzungen waren in den Köpfen der Menschen und Politiker noch lange nicht abgeschlossen. Die ideologischen und politischen Lager waren schon zu Monarchiezeiten in zwei Hauptrichtungen geteilt, in die Verfechter einer übernationalen Monarchie einerseits und in die Vertreter der deutschen Seite andererseits.6 Diese Unterscheidung ist meines Erachtens ausschlaggebend für die später in der Republik Österreich verfolgten ideologischen Linien. Roths Werk beginnt mit dem Ende eines verlorenen Krieges und dem Zusammenbruch der alten Imperien (Habsburgerreich, Russisches Reich, Osmanisches Reich). In Roths literarischem und journalistischem Werk lässt sich die Kritik an jedem gesamtnationalen Gedanken verfolgen. So meint er, dass 1866, dem Ende der österreichischen Vorherrschaft im Deutschen Raum bei der Schlacht von Königgrätz nicht nur die österreichische Armee geschlagen wurde, sondern ebenso der »Typus des deutschen Weltbürgers« zerschlagen wurde, »von seinem Stiefbruder, dem national gebundenen Deutschen«. Er sieht in Österreich den letzten Rest des universalistischen, lateinischen, einigenden, die nationalen Verschiedenheiten aufhebenden Mittelalters.7 Roth sieht die Deutschösterreicher als eine der österreichischen Staatsnationen und nicht als Nation an sich. Ein Österreich als Nationalstaat im ethnischen Sinn ist für Roth somit nicht denkbar.8 Der Österreich-Begriff bei Roth ist geprägt von der Hervorhebung des übernational geprägten Staates. Das Wesen Österreichs wird bei Roth immer als Gegensatz zum Deutschen begriffen. Roth nennt in diesem Zusammenhang folgende Worte, die für ihn Österreich bedeuten: »universal, katholisch, übernational, gottgläubig und gottwohlgefällig«.9 Roths Idee des übernationalen Staates ist eng mit dem »Austroslawismus« verbunden. Er widersetzt sich der Idee der besonderen Stellung eines Volkes in einem Staat. Jede nationale Gesinnung, sei es diejenige der Juden, Deutschen, Polen, Böhmen oder der Ungarn, wird von Roth negativ beurteilt. Die Nationalität als solche begreift Roth als eine Vorstufe der Bestialität, und zwar gemäß 6

7

8

9

Ian Reifowitz: Imagining an Austrian nation: Joseph Samuel Bloch and the search for a multiethnic Austrian identity, 1846–1918. Boulder (Colorado): East European Monographs 2003 (East European Monographs; 631). Joseph Roth. Werke. Hg. von Fritz Hackert und Klaus Westermann. Bde 1–6. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–91. Im Folgenden zitiert als W mit Band- und Seitenangabe und Titel des Artikels in Klammern. Hier W, 3, S. 742ff. (Grillparzer. Ein Porträt). Vgl. dazu die Ausführungen von Joseph Roth in: W, 3, S. 774ff. (›Dreimal Österreich‹. Bemerkungen zum Buch des österreichischen Bundeskanzlers von Schuschnigg). W, 3, S. 674 (An den Christlichen Ständestaat).

246

Susanne Kalina-McMahon

der berühmten Äußerung des österreichischen Dichters Franz Grillparzer: »Von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität«.10 Der Vertrag von St. Germain11 regelte 1919 die Auflösung der ehemaligen österreichischen Reichshälfte der Monarchie und ist am 16. Juli 1920 förmlich in Kraft getreten. Die ursprünglich erwarteten Gebiete bekam man nicht, der Name Deutschösterreich und der Anschluss an Deutschland wurden verboten und die definitiven Grenzen für das nun als Republik Österreich bekannte Land existieren seit Ende 1921. Der Name Deutschösterreich wurde zwar durch die Friedensverträge von St. Germain verboten und laut Karl Renner hätte dieses Deutschösterreich auch alle deutschsprachigen Gebiete (z. B. das Sudetenland) der ehemaligen österreichischen Reichshälfte der Monarchie beinhalten sollen. Nachdem diese Gebiete jedoch durch die Friedensverhandlungen abgespalten wurden, wäre auch der Name Deutschösterreich nicht mehr aktuell.12 Die deutsche Richtung der Republik Österreich blieb jedoch großteils erhalten und führte schließlich 1938 zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Ebenso wie die Bedeutung Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg abnimmt, ist auch die Stellung Wiens nach 1918 geografisch, politisch und im kulturellen Bereich nicht unproblematisch. Früher die Reichs-, Haupt- und Residenzstadt, die Glanz, Kultur und Reichtum bedeutet, wird Wien nach dem Krieg zum »Wasserkopf« der verkleinerten Republik und zur sozialdemokratischen Hochburg schlechthin, die mit den übrigen Bundesländern im politischen und ideologischen Konflikt liegt. Wirtschaftlich und kulturell nimmt Berlin in den Zwanziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts bald eine bedeutendere Stellung ein. Roths Stellung zu Wien ist vor und nach dem Krieg nicht unkritisch. Roth ist nicht wienlastig, d. h. er sieht Wien nicht im Zentrum seiner Erinnerung, und Wien steht nicht im Zentrum seiner Romane und Erzählungen. Roth vergleicht die Stadt während der Monarchie mit einer »glänzenden, verführerischen Spinne«, die ihre Netze webt und alle anderen zum Reich gehörigen Länder aussaugt, dominiert und von ihnen profitiert. Sein Hauptaugenmerk liegt auf den östlichen, den slawischen Ländern, und er räumt diesen Ländern eine eigene Kultur, die wenig mit Wien zu tun hat, ein. Nach dem Krieg fallen diese Länder von Österreich ab. Zu den westlichen Bundesländern in den Alpen hat Roth keine Beziehung. Österreich ist für ihn nicht »in den Alpen zu finden, Gemsen gibt es dort und Edelweiß und Enzian«. Von den Bewohnern der Alpen spricht er bestenfalls als von »Alpentrottel[n]«, »Kröpfe[n] aus den 10

11 12

W, 3, S. 744 (»Grillparzer. Ein Porträt«); zum Austroslawismus vgl. Der Austroslavismus. Ein verfrühtes Konzept zur politischen Neugestaltung Mitteleuropas. Hg. von Andreas Moritsch. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996. Vgl. Versailles – St. Germain – Trianon: Umbruch in Europa vor 50 Jahren. Hg. von Karl Bosl. München, Wien: Oldenbourg 1971. Vgl. Stourzh, Vom Reich zur Republik (wie Anm. 5), S. 32.

Ein »Staat, der gar nicht da war« – Joseph Roth und Deutschösterreich

247

Alpentälern« und von Menschen mit wenig Intelligenz.13 Das Wien nach 1918 wird von Roth vorwiegend negativ beschrieben. Roth widerspricht dem gängigen Österreichklischee vom Walzertänzer und Tirolerhut und dem gezeichneten Österreichbild anderer österreichisch-deutscher Schriftsteller und ist konträr oder als Gegenpol zu den Wiener Schriftstellern zu sehen, die die »Welt von gestern« aus der Wiener Sicht beschreiben. Roths Werk ist auch nicht von deutschen Österreichern geprägt, sondern hauptsächlich von slawischen Figuren und slawischen Milieus.14 Als Roth nach dem Krieg nach Wien zurückkam, kehrte er in die Hauptstadt einer verkleinerten demokratischen Republik. Sein Geburtsort Brody im ehemaligen Kronland Galizien lag plötzlich in Polen, heute in der Ukraine. Roth nahm die österreichische und nicht die polnische Staatsbürgerschaft an. Roth ist jedoch kein deutscher Österreicher im ethnischen Sinn. Er ist als slawischer Jude an der slawischen Grenze zu Russland geboren. Im neuen Deutschösterreich ist er also ein zweifacher Außenseiter: als Slawe und als Jude. Er sieht sich nicht als Deutscher im Sinne eines Nationalstaates, sondern bezeichnet sich schon während der Monarchie als Österreicher und nicht etwa als Deutscher oder Pole. Während das Kronland Galizien durch die Autonomie der Polen in der Monarchie Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr polnisch wird und dort auch die zionistische Bewegung floriert, schließt sich Roth keiner dieser Bewegungen an. Einem Mitschüler, der ihn für die zionistische Bewegung interessieren wollte, begegnete er ablehnend und meint zu den Nationalitäten: »Ich bin kein polnischer Assimilant, sondern ein österreichischer«.15 Unter diesem Begriff schließt Roth alle Nationen ein. Er interessiert sich ebenso wenig für den polnischen Nationalismus wie für den jüdischen oder für den deutschen. Roths Schriften werden Stellungnahmen gegen jede Art von Nationalismus. Roth nimmt seit dem Kriegsende gegen die nationalstaatlichen, völkischen Richtungen Stellung und tritt verstärkt für ein unabhängiges, selbständiges, übernationales Österreich ein. Den Rest seiner Heimat, das verkleinerte Österreich, liebte er »wie eine Reliquie«.16 Er habe niemals Sehnsucht »nach der salzigen deutschen Nordseeluft« gefühlt und nach dem »frischen Wind«, der von Ebert und Scheidemann in Deutschland nach dem Krieg ausging17 – im Gegensatz zu so manchen Deutschnationalen, zu den Liberalen und auch zu den Sozialdemokraten in Österreich. 13

14 15

16 17

W, 6, S. 270, 235 (Die Kapuzinergruft); Joseph Roth. Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 390. Im Folgenden zitiert als B mit Seitenangabe; W, 1, S. S. 225–227 (Preishog’lziag’n). Alicja Fraszczynska: Slawen/Slawinnen und ihre Welt im literarischen und journalistischen Werk Joseph Roths. Universität Salzburg: Phil. Diss. 2000. David Bronsen: Joseph Roth und sein Lebenskampf um ein inneres Österreich. In: Ders.: Joseph Roth und die Tradition. Darmstadt: Agora 1975, S. 4. (Interview mit Abraham Parnes). B, S. 240. W, 3, S. 898 (Schwarz-gelbes Tagebuch).

248

Susanne Kalina-McMahon

Am 13.12.1918, kurz nach der Ausrufung der Republik Deutschösterreich, beschreibt Joseph Roth die verfallene Stadt Golkonda, die durch den Krieg zerstört wurde. In Anlehnung an die symbolische Stadt Golkonda wird Wien für Roth nach dem Krieg zu einer »erdrosselten Königsstadt« in Ruinen, deren »Name einmal Glanz und Reichtum« bedeutet habe. In der Erinnerung wird noch die frühere »Lebensfreude« der Stadt wachgerufen, in deren Mauern jedoch jetzt »der Schakal und die Kobra« wohnen würden. Der Untergang Wiens, der Werte- und Kulturverfall sowie die damalige Politik können durch diese Aussagen leicht evoziert werden.18 Solche Verfallserscheinungen werden von Roth in seinen journalistischen Arbeiten immer wieder angesprochen, besonders deutlich in den Artikeln für die Rubrik Wiener Symptome in der Wiener Zeitung Der Neue Tag.19 Armut, Hunger, menschliche Kälte, Kohlennot und eine katastrophale Versorgungslage werden von Roth dargestellt. Die ursprünglichen Versorgungsgebiete der Monarchie (u. a. Ungarn, Böhmen, Galizien) befanden sich nun im Ausland. Kriegsheimkehrer, Invaliden und Arbeitslose bevölkern die verarmten Straßen Wiens. Roth beschreibt diese Menschen und die Korruption und den schlechten Neuanfang in dem verkleinerten Land und er fragt sich, wozu dieser Krieg geführt wurde. So beschreibt Roth das Schicksal von zwei Kriegsheimkehrern, die das »zweifelhafte Glück« gehabt hätten, nach dem Krieg nach Wien zurückzugelangen. Er meint: »Als sie ausgezogen, war die Zeit noch groß, da sie zurückkamen, ist sie neu«. Die Neuheit der Zeit bestehe aber nur darin, dass sie »mit Neuerungen mißlungener Experimente verunstaltet« wäre. Sie wären heimgekehrt, in ein »Land, das nicht weiß, was anzufangen, weil es überall aufhört« und zu verrohten Menschen, die »den Revolver in der Hosentasche tragen«. Die beiden Heimkehrer wüssten ebenso wenig warum sie heimgekehrt sind wie den Grund, weshalb sie in den Krieg gezogen sind.20 Ein Komet wäre um die Kriegszeit gekommen und hätte zum »Weltuntergang« geführt. Nur ein »paar Millionen Österreicher«, die sich auf den Kometenschwanz hinübergerettet hätten, wären vom ganzen Erdball übriggeblieben und »bildeten ein neues Österreich«. Auch in Deutschland hätte der Krieg zu nichts geführt. Alles, was dort blieb, war »vom ganzen Christentum ein Hakenkreuz«.21 Wien wird für Roth zum »arg vernachläßigten Pflaster« und das »deutschösterreichische Volk« wäre »arm am Beutel, krank am Herzen« und froh, wenn es beim Graben von Straßenbahnschienen »Regenwürmer findet, um sie zu verspeisen«.22 Der Hunger der Bevölkerung taucht in Roths Artikeln immer wieder auf. Ebenso kritisiert er die zwischenstaatlichen Abkommen und Verträge nach dem Krieg. Die Menschen waren für Roth »von Blockaden gedros18 19 20 21 22

W, 1, S. 14f. (Golkonda). W, 1, S. 30 ff. W, 1, S. 41f. (Barrikaden). W, 1, S. 197ff. (Weltuntergang) und W, 2, S. S. 114 (Berliner Bilderbuch). W, 1, S. 34 (Kaffeehausfrühling).

Ein »Staat, der gar nicht da war« – Joseph Roth und Deutschösterreich

249

selte und von Ernährungsmaßnahmen rationierte Ebenbilder Gottes«.23 Die Gegenwart leidet für ihn an »Um-, Zu-, Miß- und Übelständen« und ganz Europa befände sich im »Chaos der staatlichen Trümmerhaufen«.24 Alle Völker würden ihre »dreckigen, kleinen« Nationalstaaten errichten und sogar die Juden rufen einen in Palästina aus.25 Die Schwächen der neuen Regierung werden in den die Stadt Wien betreffenden journalistischen Artikeln von Roth kritisch betrachtet und die polarisierende Stellung der Bevölkerung zum neuen Staat dargestellt. Der vom Historiker Friedrich Heer postulierte »zwanzigjährige Bürgerkrieg« in Österreich kann beginnen. Sozialisten, Kommunisten, Nationale, Konservative und Kleriker streiten um ihr neues Österreich. Revolutionen und Putschversuche häufen sich für Roth überall wie die »Wiener Straßenbahnunfälle«. Das Leben würde mit seinen »Verwicklungen, Höhepunkten, Peripetien und Katastrophen« die kühnste Phantasie eines Filmdramatikers übertreffen.26 Die politische Uneinigkeit beginnt für Roth in Wien und setzt sich in den Bundesländern fort. Roth beschreibt die Anfeindung der unterschiedlichen politischen Gruppen, deren Abschottung voneinander, die Lagerbildung, die Bildung einer »Arbeiterwehr« und die Bildung einer Bürgerwehr (der Republikanische Schutzbund und die Heimwehr), die Anarchie der unterschiedlichen Gruppierungen und er meint: alle Bürger hätten Waffen, aber »keiner einen Waffenpaß«. Die neuen Bürokraten hetzen, wie Hermann Bahr in einer Tagebucheintragung festgehalten hat, nicht mehr zwischen den Völkern, sondern jetzt zwischen Stadt und Land, also zwischen dem sozialistischen Wien und den bürgerlichen Bundesländern.27 »Divergenzen« und Uneinigkeit zeige laut Roth auch die Turmuhr des Stephansdomes in Wien. Seit einiger Zeit hätte sie eine neue »Laune«: die linke und die rechte Hälfte [sic] der Uhr würden etwas völlig Verschiedenes machen. Die Uhr würde auch gern ein »Wiener Symptom« werden: »Sie kündet nicht die Zeiten der Stunde, sondern gleich die der ganzen Zeit. Sie spielt Verordnung und Erfolglosigkeit, Erlaß und Widerruf, Nachricht und Dementi«.28 Die »Seifenblasen« der erhofften Veränderung nach der Staatsneugründung wären bald zerplatzt gewesen. Besonders die 14 großen Seifenblasen von Wilson, die in Versailles anstießen und zerplatzten. Resigniert stellt Roth fest, dass die Revolution nichts gebracht habe und 1919, das »Jahr der Erneuerung«, ein Reinfall gewesen wäre. 23 24 25 26 27 28

W, 1, S. 35 (Die Mülli!). W, 1, S. 92 (Alte und neue Berufe) und S. 149 (Deutschösterreich 1930. Ein Kapitel aus der Weltgeschichte). W, 5, S. 266 (Radetzkymarsch). W, 1, S. 20f. (Film im Freistaat). W, 1, S. 90f. (Die wehrhaften Mannen von Hütteldorf) und Hermann Bahr: Tagebuch. Innsbruck, Wien, München: Tyrolia 1919, S. 293f. W, 1, S. 52 (Divergenzen).

250

Susanne Kalina-McMahon

Es stürzte eigentlich gar nichts: Der Thron verfiel wie eine morsche Sitzbank in einem vernachläßigten Park; die Monarchie löste sich auf wie ein Zuckerwürfel im Wasserglase. Als kein Kaiser mehr da war, entdeckte man die Republik. Da man nicht mehr loyal sein konnte, wurde man revolutionär.29

Im Artikel die Insel der Unseligen beklagt Roth die österreichische Politik und meint, dass sich im neuen Österreich nichts geändert hätte. Es wäre egal, welche Regierungsform es geben würde, alles wäre deutschösterreichisch, d. h. von deutschen Österreichern geprägt, und Deutschösterreich sei »ein kaiserloses Reich, aber keine Republik«. Auf die Frage, ob sich der Kommunismus oder die Monarchie durchsetzen werde, bekommt Roth folgende Antwort: »Kommunismus oder Monarchie – beides ist deutschösterreichisch, und beide sind nicht«. Durch die gesetzlich am Abend festgelegte Haustorsperre gäbe es in Deutschösterreich auch keine persönliche Freiheit.30 In Bezug auf Privilegienmissbrauch kritisiert Roth den Staatskanzler Dr. Karl Renner, der einen teuren Zaun um die Rasenfläche vor seinen Amtssitz hatte errichten lassen. Früher gab es dort eine öffentliche Rasenfläche. Er wirft ihm königliche Allüren vor und fragt: »Ein Staatskanzler, der in einem Büro arbeitet – wodurch unterscheidet er sich von einem simplen Diener des Staates? Aber ein Staatskanzler in einem Park – den nenn’ ich einen Staatskanzler«.31 In dem Artikel »Die Freikarten – Zehn Millionen« kritisiert Roth die Scheinheiligkeit und die auf den persönlichen Vorteil bedachten Repräsentanten der Sozialdemokratie in Bezug auf Freikarten für die öffentlichen Verkehrsmittel.32 Roth ist zu Beginn der Staatsgründung jedoch nicht grundsätzlich negativ eingestellt und er hofft zunächst auf positive Veränderungen. Die Revolution wäre eine »Notwendigkeit« gewesen, jedoch zu früh gekommen. Sie »stolperte« über die »Drahthindernisse des Weltkrieges« und dadurch kam es zur »Frühgeburt der Revolution«. Diese Frühgeburt kam nun in die »Kinderklinik der Koalitionsregierung«. Eine demokratische Koalition wäre zwar an sich nicht schlecht, in Österreich fehle es jedoch an geeigneten Politikern, in der politischen Kinderklinik gäbe es »keine Ärzte«.33 Laut Roth habe es überhaupt den Anschein, als hätte der Krieg noch nicht aufgehört. Für den Krieg sprächen »sowohl die Blockaden der einzelnen Länder als auch die der vielen Gehirne«. Für einen Frieden die »mannigfachen Friedenskonferenzen, auf denen Friedensbedingungen diktiert werden, die bei uns kein Mensch versteht«.34 Der sozialistische »Militarismus der Geister« wäre ebenso schädlich 29 30 31 32 33 34

W, 1, S. 44f. (Seifenblasen) und S. 171f. (Das Jahr der Erneuerung). W, 1, S. 25f. (Die Insel der Unseligen. Ein Besuch in ›Steinhof‹) und S. 39 (Sperrsechserl). W, 1, S. 155 (Der neue Hofpark). W, 1, S. 30ff. (Die Freikarten – Zehn Millionen). W, 1, S. 171f. (Das Jahr der Erneuerung). W, 1, S. 129 (Mars oder Venus?).

Ein »Staat, der gar nicht da war« – Joseph Roth und Deutschösterreich

251

wie jener der Leiber. Den erhofften und gepredigten Menschenrechten wäre durch »Fremdenrazzien« und »Abreisendmachungen« (Abschiebung von nicht-österreichischen Staatsbürgern) nicht gedient. Seit über 30 Jahren wäre nichts mehr für die Menschheit geschehen. Selbst die Pazifisten hätten nur noch Programme eines »passiven Tierschutzvereins«.35 Die politischen Richtungen werden für Roth zunehmend nicht mehr akzeptabel. Den Ideologien der Zeit, dem Sozialismus, dem Kommunismus, dem Faschismus, dem Nationalismus kann er nichts abgewinnen. Ebenso beklagt er die Religionslosigkeit: »Der Mensch der Gegenwart trägt das Kainszeichen der Gottlosigkeit auf der Stirn. Er glaubt nicht mehr«.36 Religionslosigkeit, falsche Gläubigkeit, Götzenverehrung, die Anbetung von neuen Ideologien anstelle Gottes und der Nationalismus werden zu beherrschenden Themen in Roths Werk. Die Unzufriedenheit mit der zerstrittenen demokratischen Republik zieht sich durch die journalistischen Artikel von Roth. Die gewünschten Neuerungen bleiben aus, der Werte- und Kulturverfall wird angesprochen. Roth schreibt über mangelnde Sitten und fehlendes Taktgefühl. Es wäre der »Sieg des Fleischhauerknechtes über das Denkerhirn, des Wasenmeisters über den Geistigen«. Egal wo, es wäre immer dieselbe Art von Menschen: »aus den Kloaken des Jahrhunderts hervorgekrochene Reptilien, Absud einer hartgesottenen Menschheit – Pöbel«.37 Der allgemeine Werteverfall und die Proletarisierung mache sich selbst an den Häusern Wiens bemerkbar: »Alle Häuser sind schäbig geworden [...]. Das Gegenteil von dem geschieht, was die Gegenwart erstrebt: Keine Proletarierbehausung wird würdige Wohnstätte, sondern umgekehrt – alle, alle Häuser sind proletarisiert«. Schlimmer als die desolaten Zustände wäre jedoch die Fähigkeit der Menschen, überhaupt unzivilisiert und bedürfnislos zu wohnen. Die Zivilisation hätte ihre Höhepunkte, die »Barbarei« erreicht.38 Was Roth hauptsächlich mehr und mehr von der Ideologie der Sozialisten abrücken lässt, ist die deutschfreundliche Gesinnung der Sozialdemokraten und die aktive Unterstützung einer Vereinigung Österreichs mit Deutschland. »Alle Sozialdemokraten sehen deutsch aus. Sogar die litauischen«. Sie wären eine »ekelhafte Abart des Deutschen«. Wer die Deutschen nicht liebe, müsse auch die Sozialdemokratie nicht mögen. Sie wären »halbe Bürger, halbe Politiker, halbe Geister, maßvolle Biertrinker«. Es wäre eine Partei der »zahnlosen Drachen«. Keiner von ihnen würde in die Proletarierviertel gehen, wo die zu 35 36

37 38

W, 1, S. 172f. (Das Jahr der Erneuerung). W, 1, S. 276ff. (Die Auferstehung des Geistes). Auf Roths Einstellung zur Politik und zur Religion in den Jahren von 1918 bis 1938 werde ich in meiner voraussichtlich im nächsten Jahr erscheinenden Dissertation zum Thema österreichisch-jüdische Literatur der Zwischenkriegszeit eingehen. W, 1, S. 244ff. (Pöbel). W, 1, S. 170f. (Proletarisierung der Häuser).

252

Susanne Kalina-McMahon

verteidigende Klasse lebt.39 Roth wird mehr und mehr zum Verfechter eines unabhängigen Österreich und beklagt den Massenfaktor, der die politischen Ideologien der Zeit begleitet und nur die Mittelmäßigkeit und den Durchschnitt hervorbringt. An Benno Reifenberg schreibt er 1925: Ich bin sehr verzweifelt. Ich kann nicht einmal mehr nach Wien fahren, seitdem die sozialistischen Juden einen solchen Anschlußlärm machen. Was wollen Sie? Sie wollen Hindenburg? Als der Kaiser Franz Joseph starb [...] wurde eine Zeit begraben. Mit dem Anschluß wird noch einmal eine Kultur begraben. Alle Europäer müßten gegen den Anschluß sein. Und nur die Mittelmäßigkeit sozialdemokratischer Gehirne weiß es nicht. Wie wenig Unterschied zwischen deutschvölkischer und sozialistischer Anschauung! Zwischen Jud und Christ! Die Mittelmäßigkeit bindet ihre Anhänger aus den verschiedensten Lagern fester als ein Prinzip es könnte, ein Ideal. Fühlt man denn nicht, daß ein unabhängiges Österreich immer noch das Versprechen auf ein einiges Europa ist? Soll es ein Bayern werden?40

In Die Juden auf Wanderschaft kritisiert Roth die Wiener Politik folgendermaßen: »Die Christlichsozialen und Deutschnationalen haben den Antisemitismus als wichtigen Programmpunkt. Die Sozialdemokraten fürchten den Ruf einer ›jüdischen Partei‹. Die Jüdischnationalen sind ziemlich machtlos. Außerdem ist die jüdisch-nationale Partei eine bürgerliche. Die große Masse der Ostjuden ist aber Proletariat«.41 Roth weist auf den Antisemitismus und die Uneinigkeit der Parteien hin. Ebenso auf die Konflikte innerhalb der jüdischen Einwohner, besonders auf die Diskrepanz zwischen der ost- und westjüdischen Bevölkerung, worauf in meiner Dissertation näher eingegangen wird. In einem satirischen Artikel vom Oktober 1919 beschreibt Roth den Zerfall der Monarchie und eine Zukunftsvision für Deutschösterreich im Jahre 1930. Die Friedensverhandlungen von St. Germain waren vor kurzem geführt worden und die Hoffnungen der deutschösterreichischen Republik zerschlagen. Nachdem, so Roth, nach dem Krieg alles im »Chaos der staatlichen Trümmerhaufen« versunken war, kam die Zeit des »herrschaftslosen Anarchismus«. Jeder Wachmann wurde zu »seinem eigenen Polizeipräsidenten« und »Diebstahl, Mord, Raub und Plünderungen kamen nur noch bei den politischen Parteigrößen vor«. Anstelle des Adels gab es den Titel »Edelverbrecher«. Die Staatsbürger wurden »abgesetzt«, der Rathauspark wegen der Kohlennot abgeholzt und »erweiteter Rathaus- und Demonstrationsplatz« genannt. Aufgrund des Wilsonschen Selbstbestimmungsrechts der Völker beschloss das Volk Deutschösterreichs, für den Anschluss an die Vereinigten Staaten zu stimmen. Dieser Anschluss an die Vereinigten Staaten anstelle des von den Sozialdemokraten propagierten Anschlusses an Deutschland kann als Stellungnahme Roths gegen einen Nationalstaat ebenso gesehen werden, wie für das aus Monarchiezeiten herreichende Projekt der »Vereinigten Staaten von Groß39 40 41

B, S. 55ff. und 59. B, S. 65. W, 2, S. 858 (Juden auf Wanderschaft).

Ein »Staat, der gar nicht da war« – Joseph Roth und Deutschösterreich

253

Österreich«. In Roths Vision stimmten alle Menschen für den Anschluss, nur die Deutschnationalen waren aus »nationalen Gründen« dagegen, weil »Kolumbus großmütterlicherseits ein Jude gewesen sei«. Der Anschluss kam zum »Schrecken Amerikas« zustande. Dieses sah sich nun vor die »schwere Aufgabe gestellt, einen Staat, der gar nicht da war, zu entdecken«. Eine Expedition wurde ausgeschickt und ein »Mensch ohne Kopf« gefunden. Man nahm an, dass dieser ein »Deutschösterreicher« sein müsse. Und wirklich, es war der »letzte deutschösterreichische Staatssekretär«. In Österreich wurden die Amerikaner »mit Jubel« begrüßt. Die Amerikaner hatten jedoch reichlich zu tun und sandten Experten, um den Deutschösterreichern »neue Köpfe aufzusetzen«. Bei dieser Gelegenheit konnten einige in Österreich profitieren: die Ostjuden konnten sich an den Antisemiten »rächen«, indem sie ihnen einen »prononciert jüdischen Kopf verkauften«. Dadurch hätten auch die Antisemiten einen Vorteil: »Sie hatten, seit der Gründung ihrer Partei, zum erstenmal die Gelegenheit, zu denken«. Die politische Unruhe verschwand, die Arbeitslosigkeit wurde aufgehoben, den großen politischen Parteien wurden ihre »besonderen Arbeitsfelder zugewiesen«. Die Christlichsozialen hatten die »Kirchen instand« zu setzen und »schadhafte Heiligenbilder« auszubessern. Die Sozialdemokraten »triumphierten« über die Christlichsozialen, obwohl sie aus der Koalitionsregierung ausscheiden mussten. Dafür erhielten sie für eine kommende Wahl »sämtliche Hausmeisterstimmen«. Sie mussten außerdem noch die »unfähigen Politiker ihrer Partei« alphabetisch notieren und dem amerikanischen Präsidenten Wilson reichen. Diese Aufgabe gestaltete sich »so schwierig« und zeitaufwendig, dass sie »zu keiner anderen Beschäftigung kommen konnten«. Die Deutschnationalen wurden wegen ihrer »pogromistischen Leistungen« zu Boxkämpfern ernannt und durften bei abendlichen Vorführungen »fünfundzwanzig polnische Juden niederboxen«. Die Leopoldstadt, der 2. Wiener Gemeindebezirk, der als Judenbezirk bekannt war, wurde als »palästinensische Kolonie eingerichtet und den Jüdischnationalen freigegeben«. Nur die »sogenannten bürgerlichen Parteien, die eigentlich nur aus Zeitungspapier bestanden«, wurden nach Amerika gebracht. Dort sollte ihnen das »Gruseln ausgetrieben« werden. Dies war jedoch das »einzige, das den Amerikanern nicht gelang«. So kehrten »Ruhe, Fleiß und Ordnung« nach Deutschösterreich. Es wurde eine »amerikanische Kolonie« mit einem »Gouverneur« und einem Parlament, das man das »weiße Häuschen« nannte. Dieses diente jedoch »zugleich auch anderen Zwecken«.42 Dieser Artikel vom Oktober 1919 zeigt Roths Einsicht in die politischen Probleme in Österreich, insbesondere Wien, kurze Zeit nach der Gründung der Republik. Gleichzeitig erkennt er auch früh die Gegner der Republik und die Gefahren der Ideologien der einzelnen Parteien, die sich national und völkisch gebärden, untereinander zerstritten sind und sich in ihren unterschiedlichen 42

W, 1, S. 149ff. (Deutschösterreich 1930. Ein Kapitel aus der Weltgeschichte).

254

Susanne Kalina-McMahon

Lagern abschotten. Keine der Parteien wird hier bevorzugt, und auch das Parlament als Institution der Demokratie wird bezweifelt. Neben der Ablehnung der politischen Entwicklung nach der österreichischen Staatsneugründung beklagt Roth auch die neuen Staatsgrenzen nach 1918. Sie waren für Roth nicht mehr, wie noch in der Schule gelernt, natürliche und politische Grenzen, sondern nur noch »unnatürlich«. Die neuen politischen Grenzen sind für Roth »Schikanen, Leidenswege, Passionen, Golgathas, Kreuzigungen: mit einem Wort: Visitationen […]«.43 Die Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg hätten zwar staatliche Selbständigkeit gebracht, diese mussten jedoch mit persönlichen Freiheiten teuer erkauft werden. Es gebe heute nur mehr »Erlaubnisscheine« und wie in einem Kerker, die »Kugel am Bein«, den Personalausweis.44 Mit den neuen Grenzen, Ländern, Bestimmungen und nationalen Auswüchsen kann Roth nichts anfangen. Die daraus entstehenden menschlichen Schicksale und Miseren treffen ihn schwer. Selbst bei einer Eisenbahnfahrt würde man nach einer Grenzüberschreitung die »Nationalhymnen« der Eisenbahnen hören.45 Roth war nie ein Anhänger des von Teilen der Regierung seit 1918 geplanten Zusammenschlusses mit Deutschland und auch gegen einen deutschen österreichischen Staat. Seine Einstellung und Ablehnung gegen Deutschland ist konstant und füllt einen großen Teil seiner journalistischen Werke. Dem Narrenschiff der politischen Ideologien kann er nichts abgewinnen, im engen Begriff des Deutschtums und der Nationalstaaten sieht er die Freiheit des Einzelnen nicht gewährt. Roth schrieb gegen die Vorherrschaft des Nationalismus und der Nationalstaaten. Das Antlitz der Gegenwart empfindet er als »zerfurcht, durchpflügt, zerrissen«. Die neue Zeit war für ihn »häßlich«, aber »wahr« und er fragt sich: »Wo sind Puder und Schminke«?46

43 44 45 46

W, 1, S. 100f. (Reise durchs Heanzenland). W, 1, S. 145ff. (Die Kugel am Bein). W, 2, S. 772 (Briefe aus Deutschland). W, 1, S. 215 (Das Antlitz der Zeit).

Jon Hughes

»Wir sind die Söhne« Generationsdiskurse und Geschichte(n) im Werk Joseph Roths

Im ersten Kapitel des 1925 verfassten Reiseberichts zu den Die weißen Städte Südfrankreichs findet der Leser weder eine sachliche Einführung in die Region noch die in dieser Gattung übliche autobiographische Vorgeschichte zur Reise. Persönliche Lebensgeschichte kommt höchstens andeutungsweise als Erklärung und existentielle Rechtfertigung des Reisens im Allgemeinen und der Reise nach Frankreich – »hinter dem Zaun [}], der uns umgibt« – im Besonderen zur Geltung.1 Spezifisches zum eigenen Leben teilt der Erzähler aber kaum mit, der Leser erfährt allenfalls Beruf (Journalist, aber nur »aus Verzweiflung« [W, 2, S. 451]), derzeitige Zwangsheimat (Deutschland) und Alter (um die dreißig), und konstatiert vor allem den dauernden Einfluss eines, immer noch nicht bewältigten Wendepunkts – des Krieges und mehr noch des daraus resultierenden vollkommenen Zusammenbruchs der alten Welt und implizit der eigenen Kindheit.2 Die Wandeleffekte dieses Zusammenbruches werden mit apokalyptischer Symbolik als »Erdbeben« (W, 2, S. 452), als »Sturm« (W, 2, S. 452) suggeriert, und somit knüpft der Erzähler in seinem Vokabular an eine Tradition an, durch die 1918–19 extremistische Kräfte die deutsche Niederlage selbstdramatisierend and pathetisch erlebt haben, ohne aber einen vergleichbaren utopischen Zukunftsoptimismus daraus abzuleiten.3 Der melancholische Ton, die Skepsis der Gegenwart, wenn nicht explizit der 1

2

3

Joseph Roth: Werke. 6 Bde. Hg. von Fritz Hacker und Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–91, Bd 2, S. 453. Weitere Zitate aus der 6-bändigen Werkausgabe werden paranthetisch im Text mit »W« abgekürzt, worauf Bandnummer und Seitenangabe folgen. Man soll hier wohl noch einmal betonen, dass der Erzähler dieses hybriden Textes sowohl in narratologischer als auch in inhaltlicher Hinsicht vom Autor unterschieden werden soll, denn keineswegs alle zum eigenen Leben angeführten Details stimmen ohne weiteres mit der Karriere Joseph Roths überein. Mehr dazu in Jon Hughes: Facing Modernity: Fragmentation, Culture and Identity in Joseph Roth’s Writing in the 1920s. London: Maney/MHRA 2006, S. 16–17. Vgl. hier Wolfgang Schivelbuschs Bemerkungen zur zunächst sehr begrenzten Resonanz der Dolchstoßlegende auch unter rechtsradikalen Kreisen: »In bemerkenswerter Übereinstimmung mit der revolutionären Linken sahen die Rechtsnationalisten in den 20er Jahren den Zusammenbruch von 1918 als reinigendes Gewitter«. In Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage: der amerikanische Süden 1865; Frankreich 1871; Deutschland 1918. Frankfurt a. M.: Fischer TB 2003, S. 251.

256

Jon Hughes

neuen Republik gegenüber, die angedeutete Nostalgie für die verlorenen »Träume« (W, 2, S. 454) der Kindheit, könnten im Gegenteil an eine selbstsüchtige Innerlichkeit, an einen bewussten Antimodernismus erinnern. Man sollte aber diese Thematik, die auch im anschließenden Bericht über die Provence, dessen symbolische Topographie sich eher zeitlich als räumlich deuten lässt, durchaus zu spüren ist, nur vorsichtig mit der in der Roth-Forschung oft (sowohl positiv als auch negativ) bemühten »rückwärtsgewandten Utopie« der späteren Texte in Zusammenhang bringen. Hier wäre vielleicht Ulrike Steierwalds sensibel differenzierte Besprechung des Utopiebegriffes als »Konfrontation mit Geschichte« zu erwähnen, denn gerade eine solche Konfrontation mit einem als Kontinuität verstandenen Geschichtsbegriff wird hier ausgeführt.4 Dass dieser Prozess kein antimodern gerichteter ist, lässt sich anhand der im ersten Teil angewandten erzähltechnischen Strategie zeigen, durch die die wenigen vom erzählenden Ich beschriebenen persönlichen Erlebnisse im Namen eines größeren »wir« reklamiert werden. Das in der »wir«-Form in Anspruch genommene Recht, für eine Gruppe zu sprechen, und die darin implizierte Unterordnung persönlicher Identität, werden in keinem anderen Rothschen Text so bewusst und so klar ausgesprochen. Diese kollektive Identität ist eindeutig unpolitisch, hat hier auch nichts mit nationalen, nichts mit supranationalen Ideen zu tun, wurzelt dagegen in einem gerade in den 1920er Jahren oft bemühten Begriff der Generation. Die formativen Erlebnisse im Zuge des Kriegs habe der Erzähler mit den »Altersgenossen« gemein, mit denen zusammen er dieselbe »offene« Welt, in die er seine kindlichen Hoffnungen für die Zukunft gesetzt hatte, »vernichtet« (W, 2, S. 452) hat. Folge dieser gemeinsam durchführten, so formativen wie destruktiven Tat sei ein immer noch gespürter Verlust an Sicherheit und – hier ein Schlüsselmotiv nicht nur Roths Texte in diesen Jahren – das paradoxe Gefühl, sowohl etwas verpasst als auch zu viel zu schnell erfahren zu haben: Die Kinder der andern, der früheren und der späteren Generationen, dürfen einen ständigen Zusammenhang zwischen Kindheit, Mannestum und Greisenalter finden. Auch sie erleben Überraschungen. Aber keine, die nicht in irgendeine Beziehung zu ihren Erwartungen zu bringen wäre. Keine, die man ihnen nicht hätte prophezeihen können. Nur wir, nur unsere Generation, erlebte das Erdbeben, nachdem sie mit der vollständigen Sicherheit der Erde seit der Geburt gerechnet hatte. [}] Wir wußten mehr als die Greise, wir die unglücklichen Enkel, die ihre Großväter auf den Schoß nahmen, um ihnen Geschichten zu erzählen. (W, 2, S. 452)

Hier findet man in einem Satz gleich mehrere Kernkomponenten in der komplizierten Weltanschauung und im Erzählverständnis Joseph Roths: zum einen die Zäsur als Motiv, den alles verändernden Bruch mit einer plötzlich ungültig gewordenen Vergangenheit, gleichzeitig das Selbstverständnis einer Generation als Söhne und Enkel, als eben doch mit dieser verlorenen Vergangenheit 4

Ulrike Steierwald: Leiden an der Geschichte: zur Geschichtsauffassung der Moderne in den Texten Joseph Roths. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 162.

»Wir sind die Söhne«

257

verbunden, und dazu noch ein metaphorisches Rollenvertauschen, in dem sich Enkel in Großväter und diese zu Kinder verwandeln. Dass Großvater hier gleichbedeutend mit Erzähler ist, der Sohn als Sohn unmündig und keine eigenen Geschichten hat (höchstens Geschichten anderer wiedergeben kann), deutet eine noch nicht gelöste Problematik bei Roth an – die Übersetzung in die Sprache der für die Moderne typischen und generationell empfundenen »Unsicherheit« kann in Roths erzählerischen Prosatexten erst dann vollzogen werden, wenn mit der ungestörten Sicherheit dieses »Großvaters« erzählt wird; das Narrative als Kategorie schließt gerade die »Relativität« der Dinge und Namen, die »Veränderlichkeit der Welt« (W, 2, S. 452), die im Einführungskapitel des Werks Die weißen Städte hervorgehoben werden, aus. Die »Generation« als Wort und als Begriff gab es in den europäischen Sprachen natürlich schon lange – im Deutschen seit dem 17. Jahrhundert im Sinne von der »Gesamtheit aller etwa zur gleichen Zeit geborenen Menschen«.5 So verstanden ist eine Generation eher uninteressant oder harmlos – etwas, was es zwangsläufig geben muss, worin die Zugehörigkeit zufällig und passiv empfangen und die selten zur individuell oder kollektiv identitätsstiftenden Lebensbedingung wird. Bei Roth und seinem Entwurf einer vom Vorangegangenen völlig abgeschnittenen und anscheinend erst durch Gewalt zusammengeschlossenen Generation handelt es sich eindeutig um etwas anderes, so ausgeprägt sein Interesse für gerade dieses »Zufällige« einer Geburt oder einer schwer zu ertragenden Familien- oder gar Sippenidentität auch sein mag. Hier geht es eben um das, was manchmal als eine »Entdeckung« der »Generation« als neues Konzept im wissenschaftlichen ebenso wie im öffentlichen Diskurs der Nachkriegszeit beschrieben wird.6 Sie wird also nicht mehr (nur) im Sinne einer eher zufälligen chronologischen »Gesamtheit« verstanden, sondern, so Karl Mannheim 1928, als »Generationseinheit«, deren kollektive und als exklusiv wahrgenommene Identität durch gleichzeitig und gemeinsam Erlebtes – und eben erst dann – gebildet wird.7 Der Krieg war es natürlich, der das The5 6

7

Hier zitiert nach dem Duden-Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim: Dudenverlag 1989, S. 230. Vgl. hier die Bemerkungen des Soziologen und Kulturhistorikers Zygmunt Bauman: »One may say that the discovery of ›generation‹ in the sense suggested by Ortega y Gasset and subsequently canonized by Mannheim (that is, in the sense of a ›collective subject‹ marked by a distinct worldview, as well as able to, and inclined to, act on its own and in its own particular interests) was itself a generational achievement: of the Great War generation«. In Zygmunt Bauman: The Art of Life. Cambridge: Polity 2008, S. 57. Vgl. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. In: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hg. von Kurt H. Wolff. Neuwied-Berlin: Luchterhand 1964, S. 509–565. Zur Begriffsdifferenzierung und kulturellen Resonanz vgl. die Beiträge in: Generation: zur Genealogie eines Konzepts – Konzepte von Genealogie. Hg. von Sigrid Weigel u. a. München: Fink 2005. Im Vorwort dieses Bands wird angemerkt, dass nach dem Ersten Krieg »Zeitgenossenschaft als Altersgenossen-

258

Jon Hughes

ma als unerwartet extreme Form einer generationell empfundenen Erfahrung aktualisiert und kristallisiert hat, er wurde vor allem von jüngeren Männern zunächst als propagandistisch-naiv gefeierte Stunde der Jugend und dann als desillusionierend-traumatisierende zusammenschließende Leidenserfahrung erlebt – man denke an die erstaunliche Resonanz des von vielen Lesern Ende der 1920er Jahre als »authentisch« rezipierten Romans Im Westen nichts Neues, in dem das Individuelle des Erzählers in vielen Kapiteln hinter einem inklusiven »wir« zurücktritt. Genau diese Überzeugung einer gewaltsam gebildeten und geteilten, aber eben alle andere und alles Vorherige ausschließenden Identität erklärt unter anderem das Motiv des »Vatermords« in expressionistischen Texten und Bildern, vielleicht auch den anschließenden »Kult« der Jugend, der – so Roths Erzähler in Die weißen Städte – »allerneuesten Generation [}], die durch Fußball, Skilauf und Boxen geschlechtsreif wird« (W, 2, S. 451). Problematisch ist es aber, wenn man in der Überzeugung aufgewachsen ist, dass erstens Identitäten durch Geschichte – und die Erzählung dieser Geschichte – Sinn bekommen, und dass zweitens diese Geschichte von einem Zeitbegriff abhängt, in dem für das Dauernde und das Ewig-Gültige der Tradition noch Platz ist. So stellen sich die Fragen: Wie kommt man zu einer Identität, wie kann man überhaupt etwas linear Zusammenhängendes erzählen, wenn fortan statt eines Kontinuums nur noch Brüche sind, Zäsuren zwischen Neuanfängen, Fragmente? Genau diese Fragen liegen nicht nur den Die weißen Städte und der Skepsis des Erzählers, sondern allen erzählerischen Texten Roths bis 1930 (vielleicht auch allen späteren) zugrunde. Sie werden einerseits in der Auswahl der Figuren, Typen und Leitmotive verkörpert, andererseits aber – was vielleicht noch interessanter ist – spielen sie eine Hauptrolle im Narrativen selbst. Die ersten Romane Roths haben bekannterweise etwas Fragmentarisches an sich, ein »Offenes«, was epistemologisch-historiographischen Zweifeln entspringt sowie der erklärten Unmöglichkeit, die zu schildernde Handlung »souverän« oder mit »Autorität« (W, 3, S. 268) zu organisieren. 1930 verteidigt Roth in einer eher selbstreflexiven Rezension für die Literarische Welt die »gesprengte Romanform« als einzig denkbare Methode für einen »ehrlichen« Autor, wenn dieser die »Menschen unserer Tage darstellen« (W, 3, S. 268) will: Er schreibt kein Epos, er läßt einen Auszug aus seinem Tagebuch drucken. O tempora, o homines! Fragmente sind alle: die Gestalten und ihre Darstellungen, die Zeit und ihre Zeitbilder. [}] Der Autor ist gezwungen zuzugeben, daß er wenig weiß. Sein Stoffgebiet: die Gegenwart, gibt ihm weniger Möglichkeit, seine darstellerischen Qualitäten zu zeigen als seine moralischen. (W, 3, S. 268-9)

Es passt dieses hier in Bezug auf Hans Natonek dargelegte Programm zum oft eher ziellosen Treiben oder auch zur »Flucht« der Hauptfiguren in Roths Roschaft reformuliert« (S. 7) und dadurch ältere Bedeutungsfelder des Begriffs – Herkunft etwa – in den Hintergrund gedrängt wurden.

»Wir sind die Söhne«

259

manen, in denen es ebenso gilt, dass »[d]ie fragmentarische Form [}] vollkommen der fragmentarischen Gestalt« (W, 3, S. 269) entspricht. Gleichzeitig wird in diesen Zitaten auch eindeutig, dass diese Figuren gerade im »Fragmentarischen« des Selbstverständnisses, des Charakters und der Motivation zu Typen werden: sie sind die erwähnten »Menschen unserer Tage«, sind Vertreter derselben Generation der »Söhne« und der »auferstandenen Toten«, die »mit der ganzen Tradition, mit der Sprache, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst: mit dem ganzen Kulturbewußtsein« (W, 2, S. 455) gebrochen haben. »Wir sind die Söhne« – mit diesem vielsagenden Satz versucht der Erzähler von Die weißen Städte, eine durch symbolische Ablehnung der Welt des Vaters geprägte Identität zu behaupten. Darin liegt etwas vom Paradoxen im Generationenkonzept der Moderne, das Roth als eifriger und konsequenter Zeitkritiker auch erkannt hat – die Forderung zum Neuanfang, die Behauptung des Besonderen der Gegenwart und des Individuellen derjenigen, die einen Wendepunkt – ob in Krieg, Revolution oder Republik – gemeinsam miterlebt haben, lenkt einerseits gefährlich von einer gesunden Vergangenheitsbewältigung ab, setzt sich andererseits unbewusst über das notwendig Geerbte hinweg. Eine »Generation« im Mannheimschen Sinn, die sich trotz allem noch epigonenhaft als »Söhne« versteht, lässt eine Sehnsucht nach denselben Strukturen erkennen, deren angebliche Ablehnung die Gründung einer eigenen Welt erlauben soll. So ist es vielleicht doch keine Überraschung, dass der erzählende Reisende, der sich anfangs als Mitglied einer sehr modernen skeptischen und »verlorenen« Generation vorstellt, in den weißen Städten das Dauernde, das Ewige, und das Bindende sucht und diese etwa im Ideal der in Avignon vertretenen »Humanität« (W, 2, S. 482) zu finden meint. In den Berichten über die römisch gegründeten Städte Nîmes und Arles verteidigt der Erzähler einen auf »Fortsetzung« (W, 2, S. 488) basierenden, eventuell gegen den Kulturpessimismus eines Spenglers gerichteten Geschichtsentwurf, in dem noch einmal von Kindheit und Alter auffällig die Rede ist: »ich wünschte, daß der neue, der nächste und der übernächste Mensch, der Mensch aller Formen, durch die wir noch zu wandeln und uns noch zu wandeln haben, den Zusammenhang mit der Kindheit Europas behalte und mit seiner eigenen oder daß er sie so wiederfinde wie ich«. (W, 2, S. 488) Die hier ausgedrückte optimistische Hoffnung, dass sich erlebte Brüche doch reparieren und persönliche und kulturelle Kontinuitäten entdecken lassen, lässt sich aber nur selten im erzählerischen Werk Roths blicken, auch wenn die Sehnsucht danach bis in die letzten im Exil verfassten Texte weiter zu spüren ist. Es fällt auf, dass die Schlüsselfiguren in Roths erzählerischen Texten, die gleichfalls zumindest äußerlich die Hauptmerkmale dieser müden Nachkriegsgeneration tragen, häufig patriarchalisch vorgestellt werden. Im 1929 veröffentlichten und bewusst als Zeitroman »der Nachkriegsgeneration« konzipierten Rechts und Links wird Paul Bernheim gleich im ersten Satz als Hauptfigur identifiziert, um dann auf den anschließenden Seiten vollends hinter seinem

260

Jon Hughes

Familienhintergrund, hauptsächlich hinter seinem Vater, dessen Ehrgeiz und Eitelkeit ihn fürs Leben prägen, zu verschwinden.8 Obwohl Paul später durch Krieg, Verwundung, Krankheit, Niederlage und Heimkehr an den wichtigsten »generationellen« Erlebnissen seiner Zeit teilnimmt, werden der bürgerliche Familienkontext und die Bindung zum verstorbenen Vater vom Erzähler wiederholt und bewusst nicht nur ins Zentrum der Handlung, sondern in die Auslegung und Deutung dieser Handlung gerückt – so lesen wir etwa in den eher skizzenhaft berichteten Kriegsszenen im Roman: »Es war, als ob der alte Felix Bernheim über dem Sohn, auf den er wahrscheinlich auch im Himmel noch stolz war, väterlich wachte; als ob das Glück, das dem Alten gute Geschäfte und einen Haupttreffer beschert hatte, den Jungen vor dem Tod bewahrte«. (W, 4, S. 637) Als Heimkehrer begegnen wir Paul immer noch in erster Linie als Sohn, auch wenn diese Identität in seiner Starre – durch die vielen stehengebliebenen Uhren im Haus angedeutet – problematisiert wird. Ein Hauptmotiv im späteren Radetzkymarsch, in dem die psychologische Unmöglichkeit eines »untertanen« Selbstverständnisses, als »Enkel« im Leitmotiv des allgegenwärtigen großväterlichen bzw. kaiserlichen Porträts angedeutet wird, wird hier vorweggenommen: Paul ging ein paar mal durch das Haus. Er blieb immer wieder vor dem vergrößerten Brustbild seines Vaters stehn. [}] Paul versuchte, hinter dem ziemlich mißlungenen und nur die repräsentative Oberfläche der Physiognomie enthaltenden Porträt das wirkliche Angesicht seines Vaters zu finden. Es gelang ihm nicht mehr. Er erinnerte sich noch an gewisse Bewegungen des Körpers und der Hände, deren blaue Adern und viereckige, sehr saubere und fast weiße Nägel. Aber das Angesicht blieb verschollen, es hatte nie gelebt. Es konnte auch gar nichts nützen, etwa die Gruft zu öffnen. Das Antlitz bestand jetzt aus tausend Löchern, es war Behausung und Nahrung der Würmer geworden. Er war zum erstenmal über den Tod seines Vaters traurig. (W, 4, S. 653–4)

Ein durchaus verständlicher, eventuell befreiender oder selbstbestimmender Versuch, sich an einen verstorbenen Vater zu erinnern, wird zur makabren Totenbeschwörung, zur verzweifelten Geste der Machtlosigkeit und Unmündigkeit. Pauls Entschluss »das Haus [des Vaters] zu verlassen« (W, 4, S. 654), darf als Beispiel der in Roths Texten so häufig vorkommenden »Flucht« verstanden werden – hinter einer Maske der Selbstbewusstheit bleibt bei Paul Bernheim, dessen Alter in der merkwürdig unspezifischen erzählten Zeit der Handlung bald – man erinnere sich hier an den Erzähler von Die weißen Städte – als »nahe an die Dreißig« mitgeteilt wird, fast alles transitär und übertrieben: 8

Joseph Roth an Félix Bertaux, 21. Dezember 1927: »Es drängt mich, Ihnen mitzuteilen, daß ich jetzt an einem Roman arbeite, dessen Inhalt: die Nachkriegsgeneration«. In: Joseph Roth: Briefe. Hg. von Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 113. Zur Genese des Texts als Roman der neuen »Generation« vgl. auch die zitierten Briefstellen im wissenschaftlichen Anhang der Werkausgabe: W, 4, S. 1069.

»Wir sind die Söhne«

261

»Das dreißigste Lebensjahr erschien ihm wie die letzte Etappe auf dem Weg zur Größe. Wenn man bis dahin nicht ein bedeutender Mann war, so wurde man es nie mehr«. (W, 4, S. 658–9) Das Selbst wird also nur in Bezug auf eine nicht mehr zu erreichende Vergangenheit bzw. eine größenwahnsinnig ausgemalte Zukunft verstanden, die Gegenwart an sich als bloße »Etappe« abgelehnt. Signifikant ist, dass Roth die Geschichten solcher »fragmentarischen« Figuren – neben Paul Bernheim dürften wir etwa den ewig flüchtenden Franz Tunda oder den »Kiebitiz«, Clown, und »junge[n] Mann der Kriegsgeneration« (W, 4, S. 604) Arnold Zipper erwähnen – in Ich-Erzählungen präsentiert, worin die Konturen des erzählenden Ich als homodiegetische Figur stetig schwinden, so dass es schließlich in Rechts und Links, das mit dem Wort »Ich« anfängt, nach dem ersten Kapitel gar nicht mehr vorkommt und nur noch »auktorial« erzählt wird. So will Roth einerseits das Authentisch-Zeitgemäße am Geschilderten durch möglichst unmittelbare Erzählmodi – Tagebucheintragungen etwa – betonen, andererseits wird ein solcher Modus durch die Gewissheit, »wenig zu wissen« und mehr noch einer epistemologischen Relativität unmöglich. Das so wenig wissende, vor einer eigenen Identität zurück fliehende Ich hat alleine keine Kraft und verschwindet schließlich hinter der Darstellung ebenfalls unsicherer Figuren, deren »Geschichten« selten erzählerische Struktur und »Richtung« aufweisen. Gerade in dieser bewussten Unmöglichkeit einer glatten Eingliederung des Erzählers in die erzählte Welt sieht man eine konsequente Durchführung auf narrativer Ebene der in Die weißen Städte ausgesprochenen Gedanken zur sowohl »skeptischen« als auch »stummen« Generation, der die Möglichkeit des Dialogs und des Sich-Ausdrückens verlorengegangen ist (vgl. W, 2, S. 454–5). So lesen wir im selbstbewusst-spielerischen, mit »Joseph Roth« signierten »Brief des Autors an Arnold Zipper« am Schluss des 1928 veröffentlichten Zipper und sein Vater: »Vielleicht auch hatte ich die einigermaßen berechtigte Angst, ich müsste, wollte ich mehr von Dir schreiben, auch manches Unwichtige von mir selbst erwähnen – und das hätte den Rahmen meiner Aufgabe sprengen können.« (W, 4, S. 605–6) Der Erzähler dient einerseits als Teilnehmer und Augenzeuge, darf andererseits nichts von sich verraten, ohne einen nicht weiter erklärten »Rahmen« zu bedrohen. In der in den Zeitromanen Roths vorhandenen Generationsthematik so wie in deren narrativer Ambivalenz zeitigt sich das heute noch Aktuelle und Relevante in Roths Texten. Im Schlussteil dieses Beitrags und als Beweis hierfür möchte ich auf diese Aktualität durch einen diachronischen Vergleich mit einer literarischen Tendenz der letzten Jahre näher eingehen. Es ist wohl jedem klar, wieweit und wie einflussreich sich der Begriff der »Generation« in den letzten achtzig Jahren entwickelt hat. Während sie für viele in der Zwischenkriegszeit als Konzept neu war und rapide auch nicht nur für die entwurzelten dreißigjährigen Heimkehrer, sondern eben für jüngere, sich jetzt begrifflich

262

Jon Hughes

durch ihre »Jugend« definierende und Joseph Roth ziemlich suspekte Europäer prägend wurde, verstehen sich inzwischen viele durch die Linse generationeller Identifikationsmuster. Die geschichtliche Entwicklung der Gesellschaft und das populäre Zeitverständnis werden in Wellen sich ersetzender Generationen wahrgenommen und dargestellt. Weder aber im ideologischen Optimismus der 68er noch in deren anschließender Ernüchterung und Desillusionierung finden wir in den letzten Jahrzehnten überzeugende Parallelen zur entsagungsvollen Generation der »unglücklichen Enkel«, die im strengen Sinne nicht desillusioniert sind, denn sie hatten, wie auch etwa bei Erich Kästners »Jahrgang 1899«, keine Zeit gehabt, um erst an etwas zu glauben.9 Ähnlichkeiten zu Roth sind eher in der Haltung einer späteren verunsicherten und »postmodern« skeptischen Generation des Spätkapitalismus zu finden. Im 1991 veröffentlichten, oft als epochal verstandenen, und »postmodern« erzählten Roman des kanadischen Schriftstellers Douglas Coupland Generation X: Tales for an Accelerated Culture kann man zum Beispiel eine Art motivspezifischer und formeller Wiederholung von Roths kultur-, sprach- und identitätskritischer Prosaversuche der zwanziger Jahre nachvollziehen. Auch hier ein Dementi einer zusammenhängenden Handlung, geschweige denn einer Erzählung – statt dessen werden verschiedene Arten von lose verbundenen, teils von den Romanfiguren selber erfundenen »Geschichten« vorgestellt; auch hier ein Erzähler, der zwar in der Handlung eine Art Rolle hat, wenn auch eine durchaus passive, der aber die Erlebnisse seiner Freunde eher in den Vordergrund rückt oder sich durch ein programmatisches »wir« an den Leser wendet: »We know why this is why the three of us left our lives behind in the desert – to tell stories and to make our own lives worthwhile tales in the process«;10 auch hier Gesten der Skepsis, der Desorientierung, des Zufalls, der Flucht. In beiden Texten wird das Paradoxe am Versuch, Transitäres erzählerisch festzuhalten und so »permanent« zu machen, auch in der Textform deutlich. So wie Roths Erzähler sich gerne als verlässliche Berichterstatter geben, die »nichts erfunden, nichts komponiert« (W, 4, S. 391) haben, widmet Couplands Erzähler seiner eigenen ephemeren Generation eine Art textimmanenten Lexikons, unter dessen parodischpräzisen Einträgen sich einer zur »Terminal Wanderlust« befindet. Hier hat man also eine in Zeit und Kontext übersetzte und trotzdem gut erkennbare Flucht ohne Ende: »Terminal Wanderlust: A condition common to people of transient middle-class upbringings. Unable to feel rooted in any one environ9

10

»Jahrgang 1899« steht als erstes Gedicht in Kästners 1928 erschienener Sammlung Herz auf Taille, deren schnodderig-zynischer Ton sie zum Standardwerk der neuen Sachlichkeit machte. Auch hier fallen als Topoi das Vergessen (oder besser eine Unfähigkeit, sich zu erinnern) und die verlorene Jugend auf. Douglas Coupland: Generation X: Tales for an Accelerated Culture. London: Abacus 1996, S. 10. Zum Topos Wüste als utopischen (also nicht-örtlichen) Locus vgl. James Annesley: Blank Fictions: Consumerism, Culture and the Contemporary American Novel. New York: St Martin’s Press 1998, S. 119–120.

»Wir sind die Söhne«

263

ment, they move continually in the hopes of finding an idealised sense of community in the next location«.11 Zum Schluss: es wäre natürlich provokant und vielleicht auch übertrieben, den Autor des Radetzkymarsch als proto-»postmoderne« Figur zu postulieren, wenn auch das Engagement mit Themen der Zeit und der Geschichte, mit einzelnen und kollektiven Identitäten und der Kultur nichts an Aktuellem verloren haben.12 Dass Roth aber die auch zu seiner Zeit sehr aktuelle Generationsthematik aufgenommen hat, lässt sich sehr wohl behaupten – er hat sie im eigenen Werk als Erzählbasis angewandt und ist eben dadurch zur Überzeugung ihrer Untauglichkeit für einen Schriftsteller, der gern und gut »fabulieren« und erzählen konnte, gekommen. Es ist jedenfalls aufschlussreich und vielleicht auch eine Ironie, dass sich das nachhaltig Aktuelle eher in den früheren Romanen finden lässt, auch wenn sie andererseits berechtigt als Vorstufen zur Geschlossenheit des Radetzkymarsch betrachtet werden können. In den Defiziten der experimentell »offenen«, zweifelsohne durch Unebenheiten geprägten Romane, die so oft als repräsentative Romane für die Nachkriegsgeneration konzipiert wurden, werden die Versuche einer viel späteren Generation, sich in Romanformen zu finden, die sich von allem Epischen gelöst haben, vorausgenommen.

11 12

Coupland, Generation X (wie Anm. 10), S. 199. Eine solche Postulation wäre andererseits keineswegs unmöglich, zumal die dem »Postmodernen« typische Überzeugung des »neuen« wohl relativisiert werden soll, sogar als Merkmal des »Modernen« identifiziert werden kann. Vgl. Barry Smarts vernünftige Behauptung: »Postmodernism may be described as a cultural configuration that is broadly continuous with modernism, that is as not significantly different. One implication of which is the redundancy of the term«. Barry Smart: Postmodernity. London: Routledge 1993, S. 16.

Sonja Osterwalder

Kaiser, Komponist und Regengott Der Erzähler im Radetzkymarsch

Es gibt einen Topos in der Roth-Forschung, der etwa genauso alt ist wie Claudio Magris’ Erfindung des habsburgischen Mythos. Er ist aus der Behauptung gebaut, die besagt, dass Roths bekanntester Roman Radetzkymarsch vom Gros der Interpreten vor allem als sentimentale Verklärung der Donau-Monarchie gelesen wird. Auch W. G. Sebald nimmt das zur Voraussetzung, wenn er schreibt: »Es ist verschieden argumentiert worden, Roth habe in der literarischen Restitution der Heimat einem Illusionismus gehuldigt, der nicht frei gewesen sei von sentimentalen Zügen. Nichts entspricht weniger den Tatsachen«.1 Und er hält dagegen: »Nichts an diesem Zug um Zug jede Illusion ausräumenden Roman läuft hinaus auf eine Verklärung des Habsburgerreiches […]«.2 Mag Sebald mit seiner radikalen Desillusionslektüre fraglos Recht haben – der Vorwurf der gefühlsseligen Deutungen des Romans trifft nur zur Hälfte zu. Denn in vielen der einschlägigen Interpretationen wird zwar eine nostalgische Retusche ausgemacht, ebenso jedoch auch die kritische Sicht auf die Donau-Monarchie, die im Roman enthalten ist, zart vermerkt. Vor allem die von Erzähler wie Figuren fast leitmotivisch geäußerte Ahnung der Überlebt- und Abgelebtheit, das vage Bewusstsein eines nahen und notwendigen Endes dienen als vorsichtige Hinweise in jene Richtung, in der Kritik zu finden wäre.3 Mit reichlich Pathos im Nacken darf man behaupten, die Tragik der 1

2 3

W. G. Sebald: Ein Kaddisch für Österreich. Über Joseph Roth. In: Ders.: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur. Frankfurt a. M.: Fischer 2004, S. 104–117, hier S. 107. Ebd., S. 109. Ein Beispiel: »[Roth] schildert den Untergang der Donau-Monarchie im Zeichen des von der Forschung vielfach nachgewiesenen ›Habsburg-Mythos‹ mit Nostalgie und Trauer, jedoch durchaus kritisch und mit dem fortwährend artikulierten Bewußtsein, daß die in ihm gestaltete Welt überlebt und nicht mehr lebensfähig ist«. KlausDetlef Müller: Joseph Roth: Radetzkymarsch. Ein historischer Roman. In: Romane des 20. Jahrhunderts. Interpretationen. Bd 1. Stuttgart: Reclam 1993, S. 298–321, hier S. 299f. Wirklich bunt treibt es Bernd M. Kraske, wenn er schreibt: »Joseph Roths Roman ist ganz sicherlich eine verklärende Rückschau auf das alte ÖsterreichUngarn«. Und: »Denke niemand, Joseph Roth hätte in seinem Innersten an die Möglichkeit einer Restauration geglaubt. Zu genau wußte er um die Unaufhaltsamkeit der Zeit, um zu meinen, daß man die Uhr, immer und immer wieder, zurückdrehen könnte. Doch er holte ein Wunschbild aus der Vergangenheit hervor, um darin einzutauchen und in ihm zu verschwinden«. Bernd M. Kraske: Heimweh nach der Ver-

266

Sonja Osterwalder

Radetzkymarsch-Rezeption bestehe darin, dass man die Roth zugestandene Kritik an den Zuständen des Habsburgerreiches so oft in rückwärtsgewandten Heimwehanfällen hat untergehen lassen. Während dem ›roten Joseph‹ der zwanziger Jahre gern eine politische und sozialkritische Neigung attestiert wurde, verbuchte man den Radetzkymarsch, ja fast das gesamte Werk der dreißiger Jahre, unter die bequemen Slogans »Reise aus der Wirklichkeit«4 oder »Flucht vor der Wirklichkeit«.5 Wie das realistische Programm etwa Fontanes gezeigt hat, müssen sich Verklärung und Kritik keinesfalls ausschließen; doch für den Radetzkymarsch stellt sich nicht die Frage, ob der Text so geräumig ist, dass in ihm sowohl nostalgische Anwandlungen als auch ein düsterer Blick auf die Vergangenheit Platz finden, sondern wo, an welchen Stellen sich Verklärung, Wehmut und sentimentales Heimweh überhaupt festmachen lassen. Auf der Ebene der Fabel, der Handlung jedenfalls ist, auch zwischen den Zeilen, kein Geseufze zu hören und keine Trauer zu erkennen. Ein jähzorniger Baron tritt auf, von der Monarchie zutiefst gekränkt, ein vergreister Kaiser, dessen gnadenreiche Güte nur dazu da ist, die Leiden seiner Untertanen zu verlängern, ein verknöcherter Bezirkshauptmann, dessen morsche Welt zusammenstürzt, ein versoffener Maler, ein todunglücklicher Regimentsarzt, ein polnischer Graf, der zur Überzeugung der Bevölkerung gern die Schusswaffen sprechen lässt und schließlich ein eingeschüchterter, dumpfer Leutnant, der dem Tod auf dem Schlachtfeld in die offenen Arme rennt. Die gezeichnete Welt ist eine kalte, der Umgang der Figuren miteinander hilflos wie frostig, die Nähe fremd; steil sind die Hierarchien, plump die Ziele und groß die Schrecken. Weil der Radetzkymarsch fraglos eine Verfallsgeschichte enthält, haben einige Interpreten eine gerade gerückte Welt am Anfang der Erzählung erspäht, etwa im sinnträchtigen Dörfchen Sipolje, das jedoch stets im Jenseits der Geschichte liegt oder, wie Bronsen, am Mittagstisch des Bezirkshauptmanns. »Mit gefälliger Behaglichkeit«, behauptet Bronsen, »werden mehrere Seiten mit der Beschreibung eines Mittagessens gefüllt«.6 Gemeint ist jenes beklemmende sonntägliche Wettessen, das Carl Joseph zum atemlosen Herunterwür-

4

5 6

gangenheit. Joseph Roths ›Radetzkymarsch‹. Bad Schwartau: WFB Verlagsgruppe 2006, S. 17 und 44. Wohltuend anderer Meinung ist Adolf D. Klarmann: Das Österreichbild im ›Radetzkymarsch‹. In: Joseph Roth und die Tradition. Hg. von David Bronsen. Darmstadt: Agora 1975 (Agora; 27), S. 153–162. »Joseph Roth geht den Weg von Solferino nach Sarajewo ohne Sentimentalität«, hier S. 162. Martha Wörsching: Die rückwärtsgewandte Utopie. Sozialpsychologische Anmerkungen zu Joseph Roths Roman ›Radetzkymarsch‹. In: Text und Kritik. Sonderband. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text und Kritik 1974, S. 90–100, hier S. 90. Wolfgang Jehmüller: Zum Problem des ›zweifachen Zeugnisses‹ bei Joseph Roth. In: Text und Kritik, S. 67–75, hier S. 69. David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 412.

Kaiser, Komponist und Regengott

267

gen der Speisen zwingt, um die Ziellinie gemeinsam mit dem Vater erreichen zu können; die familiären Zwangszusammenkünfte lesen sich als einziges Unbehagen: »Herr von und zu Sipolje«, schreibt Roth, aß sehr schnell, manchmal grimmig. Es war, als vernichtete er mit geräuschloser, adeliger und flinker Gehässigkeit einen Gang um den andern, er machte ihnen den Garaus. […] Carl Joseph schluckte furchtsam und hastig heiße Löffelladungen und mächtige Bissen. So wurden sie alle zugleich fertig. (W, 5, S. 161)

Selige Zeiten sind, auch zu Beginn des Romans, keine zu bemerken. Wenn aber die Geschichte eines Niedergangs mit dem Niedergang selbst einsetzt, sind Paradiese, zumal richtige, immer schon verlorene Schätze, die man nie besessen hat.7 Warum so vielen Lesern bei der Lektüre dennoch die Nostalgie entgegenwinkt, hat Gründe, die sich nur schwer an Textstellen festmachen lassen. Da ist zunächst einmal Magris’ habsburgischer Mythos, in welchen er Roths Roman elegant eingemeindet. Unter der Fahne dieses literarischen Reiches anzutreten, hat wohl keinem der versammelten Autoren gut getan – Musil nicht, Grillparzer nicht und auch nicht Stifter: zu allgemein, zu klischeehaft, zu grobschlächtig ist das Dreigestirn »Übernationalismus, Bürokratismus und Hedonismus«, das den Mythos zusammenhält. Zwar verfährt die Analyse des blutjungen Triestiners vorsichtiger als die meisten jener Stimmen, die in den letzten Jahrzehnten den Habsburg-Gesang mitgesungen haben; der Radetzkymarsch, so Magris, sei ein Epos, keine Elegie und, dies ist zweifellos als großes Kompliment gedacht, »ganz einfach ein Roman, der jene Welt begriffen hat«.8 Es gehört zum ehrenvollen Verdienst von Magris, dass er versucht hat, zwischen Text und Autor einen gesunden Abstand zu setzen. »Die Sympathien und Antipathien des Menschen Roth«, heißt es mit Blick auf die Legitimismus-Anhängerschaft des Exilanten, »zählen dabei nicht.«9 Dennoch stellt Magris mit seiner Studie der Rezeption die Weichen, weil er den Radetzkymarsch, »die richtige Saga des Kaiserreichs«,10 wie er ihn nennt, äußerst eng 7

8 9 10

An dem Punkt ließe sich eine der vielen Brücken zu Prousts Recherche bauen; Marcels frühe Combray-Welt ist nicht, auch nicht retrospektiv betrachtet, das verlorene Paradies – man denke an die traumatischen Einschlafszenarien; auch im »Kultus der Ähnlichkeit« und der eigentümlichen Verknüpfung von adliger Physiognomie und Ornithologie liegen eindrückliche Parallelen. Andere Verwandtschaften findet: Michel-François Demet: Vom neurotischen Zeiterlebnis zur überlegten Zeitproblematik im Mythos und Werk. In: Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions 1989, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Hg. von Michael Kessler und Fritz Hackert. Tübingen: Narr 1990 (Stauffenburg Colloquium; 15), S. 79–89. Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Übersetzt von Madeleine von Pásztory. Salzburg: Otto Müller 1966, S. 259. Ebd. Ebd., S. 264.

268

Sonja Osterwalder

mit den gemeinhin als legitimistisch verschrienen Texten wie Rede über den alten Kaiser oder Die Kapuzinergruft in Beziehung setzt. Eine zweite Stütze, die im Roman nostalgische Verklärtheit zu entdecken hilft, liefert die problematische Verknüpfung mit dem Leben des Autors. In steilem Gegensatz zum Bemühen Magris’, literarisches Werk und politische Ansicht zu trennen, kettet man den Autor streng an den Text und liest dann jene schwermütigen Schatten heraus, die die Rothsche Biographie auf die Geschichte geworfen hat. Weil es eine weitverbreitete Annahme ist, dass Autoren mit einer Figurenmaske bekleidet in ihren Texten umzugehen pflegen, hat man in der Forschung häufig die Äußerungen des Grafen Chojnicki als Autorenmeinung identifiziert; da Chojnickis Augen prophetisch in die Zukunft blicken, erkennt etwa Alfred Pfabigan im Grafen das »Sprachrohr des Autors«.11 Auch für Bronsen ist der extravagante Pole nach inneren und äußeren Eigenschaften Roths gezeichnet. »Den zum Orakel erhobenen Grafen Chojnicki gestaltet er zu einem Wunschbild seiner selbst und läßt ihn obendrein mit der eigenen Physiognomie und in der eigenen körperlichen Verfassung erscheinen«.12 Wer eine solch problematische Engführung unternimmt, die Mehrstimmigkeit von vornherein der Eindeutigkeit opfert, muss allerdings sowohl die Schießwut als auch die galligen Tiraden Chojnickis sorgsam ausklammern. Denn da heißt es aus hochadligem Munde: […] der Kaiser sei ein gedankenloser Greis, die Regierung eine Bande von Trotteln, der Reichsrat eine Versammlung gutgläubiger und pathetischer Idioten, die staatlichen Behörden bestechlich, feige und faul. Die deutschen Österreicher waren Walzertänzer und Heurigensänger, die Ungarn stanken, die Tschechen waren geborene Stiefelputzer, die Ruthenen verkappte und verräterische Russen, die Kroaten und Slowenen, die er »Krowoten und Schlawiner« nannte, Bürstenbinder und Maronibrater, und die Polen, denen er ja selbst angehörte, Courmacher, Friseure und Modephotographen. (W, 5, S. 265)

Von den »jüdischen Saustücken«, die im Burgtheater gespielt werden und den »ungarische[n] Klosettfabrikant[en]«, die mit der Baronie belohnt werden, ganz zu schweigen. (W, 5, S. 266) Neben Chojnicki hat man immer auch den jungen Trotta als den Rothschen Statthalter im Text ausgemacht.13 Als schiefe Stütze einer solchen These diente nicht zuletzt Roths eigenes pathosgeladenes Geständnis: »Der Leutnant Trotta, der bin ich«.14 – eine Behauptung, deren französische, von Flaubert geborgte Variante, wohl eingängiger, aber nicht überzeugender klingen mag. Überhaupt, darauf hat bereits 1971 Hartmut Scheible verärgert hingewiesen, 11 12 13 14

Alfred Pfabigan: Geistesgegenwart. Essays zu Joseph Roth, Karl Kraus, Adolf Loos, Jura Soyfer. Wien: Edition Falter 1991, S. 16. Bronsen, Joseph Roth (wie Anm. 6), S. 397. So etwa Pfabigan, Geistesgegenwart, S. 21. Leutnant, eine Eindeutschung des französischen ›Lieutenant‹, führt die Bedeutung des Statthalters noch mit sich. Bronsen, Joseph Roth (wie Anm. 6), S. 398.

Kaiser, Komponist und Regengott

269

wurde die Figurenperspektive, die häufig genug den Zusammenbruch der Doppelmonarchie bedauert, zur Aussage des Romans gekürt und diese Aussage wiederum zu einem Bekenntnis des Autors präpariert.15 Tatsächlich aber hat Roth einer die Monarchie verklärenden Lesart des Radetzkymarsches auch selbst fleißig zugearbeitet. In seinem für den Abdruck in der Frankfurter Zeitung verfassten Vorwort greift der ehemalige Mitarbeiter, ein »Moll-Töner ersten Ranges«,16 wie es bei Polgar heißt, tief in die Tasten. Ein Vorwort bildet eine Art »Vestibül«, einen Vorhof des Textes, dessen Hauptfunktion es ist, so Genette, »eine gute Lektüre des Textes zu gewährleisten«.17 Hinter der huldvollen Rhetorik der captatio benevolentiae verbirgt sich ein strategischer Stützpunkt des Autors, an dem der Leser mit Instruktionen für die anstehende Übung versorgt wird. Es gibt wohl keinen anderen Ort, an dem Macht und Ohnmacht des Autors so deutlich hervortreten, denn zum einen befindet er sich in der privilegierten Position, Anweisungen geben zu dürfen und sich mustergültig zu inszenieren, zum anderen aber zeugen die Erläuterungen von Hilflosigkeit und der berechtigten Angst, der Text könnte auch anders gelesen werden. Joseph Roth hatte mit seinen Vorworten wenig Glück. Die wenigen Sätze, die er Flucht ohne Ende voranstellte, plagten ihn auch noch Jahre später – ausgerechnet was als Klarstellung dienen sollte, führte zu Missverständnissen. »Ich habe nichts erfunden«, schrieb Roth kühn, »nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum zu ›dichten‹. Das wichtigste ist das Beobachtete«. (W, IV, S. 391) Vor allem die feste Umarmung der Neuen Sachlichkeit, die man in diesen Zeilen zu entdecken meinte, wies er später vehement von sich.18 Im pathosgeschwängerten Vorwort zum Radetzkymarsch stellt Roth die Liebe zu seiner untergegangenen Heimat heraus: Ich habe die Tugenden und Vorzüge dieses Vaterlands geliebt, und ich liebe heute, da es verstorben und verloren ist, auch noch seine Fehler und seine Schwächen. Deren hatte es viele. Es hat sie durch seinen Tod gebüßt. Es ist fast unmittelbar aus der Operettenvorstellung in das schaurige Theater des Weltkriegs gegangen. (W, 5, S. 874)

Damit nicht genug. »Ich habe«, heißt es weiter, »die merkwürdige Familie der Trottas, von denen ich in meinem Buch ›Radetzkymarsch‹ berichten will, 15

16

17

18

Vgl. Hartmut Scheible: Joseph Roth. Mit einem Essay über Gustave Flaubert. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1971 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur; 16), S. 67. Alfred Polgar: Radetzkymarsch. In: Ders.: Kleine Schriften. Bd 4. Hg. von Marcel Reich-Ranicki und Ulrich Weinzierl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984, S. 139– 141, hier S. 139. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch zum Beiwerk des Buches. Übersetzt von Dieter Hornig. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 191. Die Charakterisierung des Vorworts als »Vestibül« des Textes geht auf Borges zurück; Genette zitiert ihn, geizt dann allerdings mit bibliographischen Angaben; vgl. S. 10. Vgl. W, 3, S. 45 (Es lebe der Dichter!).

270

Sonja Osterwalder

gekannt und geliebt, die Spartaner unter den Österreichern«. (W, 5, S. 875) Mit jedem Satz knüpft der Autor das nostalgische Band zwischen sich und den Romanfiguren enger und ebnet damit einer vergangenheitsseligen Lesart Tür und Tor. Nicht nur die Trennlinie zwischen Fiktion und Wirklichkeit, sondern auch jene zwischen Autor und Erzähler wird mit Vorsatz eingerissen, am deutlichsten dort sichtbar, wo Roth die Trottas als Spartaner bezeichnet – eine Charakterisierung, die im Roman der Erzähler bemühen wird. Doch nebst den vielen Tränen, die vergossen werden, skizziert Roth in dem kurzen Text auch sein Selbstverständnis als Schriftsteller. Vom »grausame[n] Willen der Geschichte« (W, 5, S. 874), der sein Vaterland zertrümmert habe, ist die Rede. Und weiter: »Den Willen der Weltgeschichte erkannte ich wohl, ihren Sinn verstehe ich nicht immer«. (W, 5, S. 874) Der Schriftsteller, so Roth, habe »die erhabene und bescheidene Aufgabe, die privaten Schicksale aufzuklauben, welche die Geschichte fallen lässt, blind und leichtfertig, wie es scheint«. (W, 5, S. 875) Hier tritt der Autor als Lumpensammler der Historie auf, als derjenige, der das zu seiner Sache macht, was im groben Gedächtnis der Geschichte keinen Platz findet.19 Mit feierlichem Ernst hält er der Welthistorie das Private entgegen. So prekär die hier inszenierte Zeugenschaft ist – denn Roth referiert unerschütterlich auf Tatsachen und Wirklichkeit –, so eingängig erscheint das Unternehmen, wenn man den nachfolgenden Roman ins Spiel bringt: Roth hält der Geschichte die Erzählung entgegen. Wird der Historie zwar ein »Wille« zugebilligt, so doch auch Sinnlosigkeit und Irrtum zugeschlagen. Die beschriebene Welt geht in die Brüche, doch auf Seiten der Erzählungen blüht die sinnreiche Geschlossenheit, aus dem Abfall der Geschichte wird ein neues Reich zusammengebaut. Im Radetzkymarsch feiert, inmitten des großen Untergangs, das Erzählen selbst Triumphe. Die Nostalgie, die hier zum Durchschlag kommt, ist kein Heimweh nach der verlorenen Welt, sondern eine Nostalgie des Erzählens. Die betörend einfache Sprache des Romans ist auf Entsprechungen und Ähnlichkeit aus; über die Hunderten von Seiten wird ein Netz aus Vergleichbarkeiten gespannt. Nur zu Beginn öffnet sich kurz die Schere, als in der 19

Vgl. hierzu Walter Benjamins Porträt von Siegfried Kracauer als einem »Lumpensammler frühe am Morgen, der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht«. Walter Benjamin: Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. Zu S. Kracauer. ›Die Angestellten‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 219– 225, hier S. 225. Einen Vergleich wagen könnte man an dieser Stelle auch mit T. S. Eliots Definition einer bestimmten Art von Provinzlerhaftigkeit, die er in seinem berühmten Vergil-Essay What is a Classic? unternimmt und die die Toten in die Vergangenheit verbannt. »It is a provincialism, not of space, but of time; one for which history is merely the chronicle of human devices which have served their turn and been scrapped, one for which the world is the property solely of the living, a property in which the dead hold no shares«. T. S. Eliot: What is a Classic? In: Ders.: On Poetry and Poets. London: Faber & Faber o. J., S. 53–71, hier S. 69.

Kaiser, Komponist und Regengott

271

Schlacht von Solferino der junge Leutnant Trotta den Kaiser vom Pferd reißt und von einer feindlichen Kugel getroffen wird: »Während [der Kaiser] sich erhob«, heißt es da, »sank der Leutnant nieder«. (W, 5, S. 140) Aus diesen beiden widerstrebenden Bewegungen geht die Handlung hervor. Doch von nun an gibt es nur die eine immergleiche Bewegung, den Stillstand, und eine einzige Richtung, nämlich dem Untergang entgegen. An den Rändern der Erzählung sind Spiegelwände angebracht, sodass sich alles in allem – das Große im Kleinen, das Kleine im Großen – wiederfindet. Das Schicksal der Trottas ist an das Schicksal der Monarchie gebunden, das Schicksal der Monarchie wiederum an jenes der Trottas; der Aufstieg des Geschlechts aus Sipolje wird als Niedergang erzählt, und die militärischen ›Karriereschritte‹ von Carl Joseph stellen den Abstieg noch einmal anschaulich nach: hoch zu Roß sitz er bei der Kavallerie, wechselt dann zum Fußvolk der Infanterie und endet schließlich als einfacher Wasserträger im Kugelhagel;20 die geadelten Trottas, einst slowenische Bauern, nähern sich mit jedem Schritt wieder dem Boden an. Unzählige Motivketten werden im Roman ausgeworfen, eine Welt aus Entsprechungen, Doppelungen und Wiederholungen aufgebaut, die in ihrer prallen Fülle den Eindruck von Überdeterminiertheit erweckt. Da ist das Bild des Helden von Solferino, das Bild des Kaisers, das sind die Großväter, die Enkel, die den Großvätern gleichen, die fehlenden Mütter, die Begegnungen mit dem Maler Moser, die Uhren, die Vögel, da ist der Radetzkymarsch, der Regen, das vielfache Sterben, das Schweigen und der Tod. Wie Planeten auf ihrer ruhigen Umlaufbahn durchqueren die Motive die Ereignisse und verbinden sie; so taucht die Kugel, die den Helden von Solferino verletzt, im Duelltod Demants wieder auf, in der blutigen Niederschlagung des Streiks, in der Roulettekugel, die im Spielcasino im Kreis rollt und rollt und schließlich am Ende, als der Wasserträger Trotta den kläglichen Heldentod stirbt. Die Komposition der Motive, der Wiederholung der Szenen, der Wort- und Satzrepetitionen verbürgt Geschlossenheit, sie überdacht die Erzählung, in der Sinnentleertheit und Brüche regieren. Und es scheint, dass in dieser sinnentleerten Welt die Akustik eine ganz besondere ist. Es gibt wohl kaum einen anderen Roman, in dem so exzessiv geschwiegen wird und der gleichzeitig unendlich von Klängen erfüllt ist. Menschliche Stimmen kommen eher selten zum Einsatz; der Radetzkymarsch wird gespielt, die Nachtigall von Mariahilf singt, und man hört Trompetenstöße, doch für die eigentliche Musik sorgen andere. Der Regen tropft »singend von den Bäumen« (W, 5, S. 192), die Hufe der Pferde klappern, unsichtbare Vögel jubilieren, die Grillen zirpen, die Mücken summen, der Kanarienvogel schmettert, die Raben krächzen, der Kuckuck schreit, und dem Kaiser ist, als würden die Sterne singen. Die Polyphonie, die sich vor allem aus tierischen Stimmen zusammensetzt, wird vom Er20

Der Wasserträger verkörperte die unterste soziale Stufe im ostjüdischen Schtetl. Nachzulesen etwa bei Alexander Granach: Da geht ein Mensch. Autobiographischer Roman. München: btb 2007.

272

Sonja Osterwalder

zähler zur Symphonie geordnet. Jeweils nur kurz unterbrechen die spärlichen Reden der Menschen das unermüdliche Rauschen der Natur, das im Hohlraum der Geschichte erklingt. Zuweilen befällt den Leser und Lauscher der Eindruck, der Mensch sei bereits von der Weltbühne verschwunden. Wie sehr sich der Radetzkymarsch am epischen Erzählen aufrichtet, sieht, wer etwa den Mann ohne Eigenschaften oder Manns Zauberberg neben Roths Roman platziert. Weniger die essayistischen und philosophischen Ergüsse sind gemeint, als vielmehr die Auftritte der Erzähler. Der Mannsche Erzähler spielt mit Hans Castorp wie mit einer Marionette,21 auch Musils Erzähler geizt nicht mit Belehrungen, die seine grenzenlose Überlegenheit demonstrieren. Der deutlichste Unterschied zum Rothschen Erzähler aber zeigt sich im Einsatz der Ironie. Der grauenhafte »raunende […] Beschwörer des Imperfekts«22 benutzt die Ironie zur Errichtung einer steilen Hierarchie, die zwischen Erzähler und Figuren einen Abstand so gewaltig wie jenen zwischen Thron und Landvolk schafft; dies gilt, wenngleich in etwas milderer Form, auch für den Mann ohne Eigenschaften. Ganz anders verhält es sich mit der Ironie des Rothschen Erzählers; denn sie besitzt die wundersame Eigenart, Entfernungen aufzuheben und Hierarchien abzubauen. Die größte Freiheit in einer obdachlosen Welt ist bei Roth eine Ironie, die den Hang zur Objektivität durch Sympathie ersetzt.23 Der Erzähler liebt seine Figuren bedingungslos; Schwächen werden zwar nicht übersehen, aber durch die Art der Beschreibung in eine Liebkosung umgewandelt. Als Taittinger seinen ihm lauschenden Kollegen die Vorgeschichte des Duells zwischen Demant und Tattenbach erzählt, erwähnt er auch ein belangloses Detail, nämlich dass Tattenbach an jenem Unglückstag Namenstag hatte. Daraufhin meldet sich der Graf Sternberg zu Wort, der aber erst vom Erzähler eingeführt wird. Anstatt den direkten, lieblosen Weg einzuschlagen und den Grafen als ›dumm‹ zu bezeichnen, wählt er eine Charakterisierung, in der sich Ironie und Liebe die Hand reichen: »Und der kleine Sternberg«, heißt es gnädig, durch dessen Gehirn die Gedanken einzeln dahinzuschießen pflegten wie einsame Vögel durch leere Wolken, ohne Geschwister und ohne Spur, äußerte sofort, vorzeitigen Jubel in der Stimme: ›Aber dann ist ja alles gut! Situation total verändert! Namenstag hat er halt gehabt‹! (W, 5, S. 225)

21 22 23

Man denke etwa an die letzten Seiten des Zauberbergs. Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurter Ausgabe. Hg. von Michael Neumann. Bd 5. 1. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2002, S. 9. Vgl. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. München: dtv 1994, S. 82. Zur Sympathie, vgl.: Werner G. Hoffmeister: ›Eine ganz bestimmte Art von Sympathie‹ – Erzählhaltung und Gedankenschilderung im Radetzkymarsch. In: Bronsen (Hg.), Joseph Roth und die Tradition (wie Anm. 3), S. 163–180.

Kaiser, Komponist und Regengott

273

Diese taktvolle Dezenz durchzieht den ganzen Roman; in den peinlichsten Situationen werden die Figuren vom Erzähler erhöht, und auch hier ist Ironie am Werk, aber sie bietet den Figuren ein festes Fundament, welches sie trägt und verhindert, dass sie in die Lächerlichkeit abstürzen. Der alte Trotta, der gegen das Lesebuchstück Nr. 15 opponiert, wird als »Ritter der Wahrheit« (W, 5, S. 155) bezeichnet, der Regimentsarzt Demant, der sich vor der Kaserne fürchtet, erscheint als kühner Angreifer, »er ging«, wird berichtet, »auf sie los, auf die feindliche Burg« (W, 5, S. 219). Der Bezirkshauptmann wiederum, flankiert von der Tugend der Beharrlichkeit, bahnt sich den von bürokratischen Hindernissen verstellten Weg nach Schönbrunn: »Und der unerschrockene Kämpfer für die Ehre der Trottas drang in Hasselbrunners Wohnung vor«. (W, 5, S. 400) Auch die Figuren selbst üben sich in taktvollem Umgang miteinander; doch weil ihnen, anders als dem gewandten Erzähler, die wichtigen und richtigen Worte fehlen, gehen die wohlmeinenden Versuche in Schweigen unter. Gelingt es doch einmal, die bleierne Stille zu durchbrechen, flattern Plattitüden in den leeren Raum. Als der Bezirkshauptmann, von angstvollen Sorgen um die Familienehre getrieben, vor dem Kaiser steht und Gnade für seinen in Schulden ertrinkenden Sohn erbittet, vernimmt er ein kaiserliches: »Schönes Wetter heut«! (W, 5, S. 407) Auch der Oberst Kovacs möchte am unglücklichen Regimentsarzt Demant Gutes tun. »Man muß ihm was Nettes sagen, dachte er aufgeregt. Das Schnitzel war heute ausgezeichnet! fiel ihm in der Eile ein. Und er sagte es«. (W, 5, S. 205) Und statt der väterlichen Liebeserklärung: »Mach mir keinen Kummer! Ich liebe dich, mein Sohn« hört der verlorene Carl Joseph vom Bezirkshauptmann ein knappes: »Halt dich gut«! (W, 5, S. 299) Der Erzähler aber, begabter als die Protagonisten des Romans, geriert sich mit seinem Takt, seiner Liebe zu den Figuren, seiner Dezenz, dem fortwährenden Abbau der Hierarchien als eine ideal-monarchische Instanz; während der habsburgische Kaiser und sein Reich untergehen, während die Figuren nacheinander aus ihren Rollen fallen und dem Tod anheimgegeben werden, verliert der Erzähler seine Fassung nicht, sondern verbürgt Unverbrüchlichkeit und Geschlossenheit. Er überblickt sein Reich, und er kennt den Lauf der Dinge. Und als die Figurenwelt endgültig in Trümmer geht, schickt er den Regen über das Land, der die auseinanderbrechenden Teile noch einmal verbindet und gleichsam die Vereinzelung deutlich macht, weil seine geraden horizontalen Striche auch für Trennung sorgen. Wie einen nassen Vorhang lässt ihn der Erzähler schließlich über die verlassene Bühne fallen.

Zoltán Szendi

Der unaufhaltsame Weg zur Katastrophe Joseph Roth: Das falsche Gewicht

Es war einmal im Bezirk Zlotogrod ein Eichmeister, der hieß Anselm Eibenschütz. Seine Aufgabe bestand darin, die Maße und die Gewichte der Kaufleute im ganzen Bezirk zu prüfen.1

Mit den Worten eines Märchenanfangs führt uns der Erzähler in die Welt seiner Geschichte ein, die weit von allem Märchenhaften ist. Der zweite Satz mit sachlichem Inhalt und in nüchternem Ton verfasst, nimmt uns auch gleich jede Illusion des Wunderbaren, indem der langweilige Beamtenberuf des Protagonisten bekannt gegeben wird.2 Damit wird bereits im Erzählansatz eine Art von Diskrepanz hergestellt. Denn es wird zwar mit der narrativen Formel eine Märchenwelt angedeutet, doch bleibt das Geschehen diesseits der Zauberwelt. Dass die magischen Worte im Auftakt jedoch nicht zufällig gefallen sind, können wir erst aus der Struktur des Gesamttextes verstehen, der die Umkehrung einer Märchenwelt darstellt. Während nämlich die Märchenwelt eine abgerundete Sphäre vergegenwärtigt, in der es einen Weg zur Herstellung einer idyllischen Ordnung gibt, wo das Wunderbare das ›heimatliche Element‹ bildet und zu ihrem Wesen gehört, herrscht in der Erzählung die ›reale Welt‹; in dieser bildet das Alltägliche eine langweilige Ordnung, die durch ein faszinierendes Erlebnis zerstört wird. Diese heraufbeschworene Welt, ist der Ort der Zufälligkeit, in dem das Wunderbare zur Unordnung führt und sich so letztendlich als eine grausame Illusion entpuppt. Diese Illusion ist aber zugleich mehr als purer Schein, sie ist sogar organischer Bestandteil des menschlichen Lebens, sie ist Sinn gebend, wie das gelobte Land, das zwar gezeigt wird, vielleicht sogar zu erreichen ist, nicht aber zu haben und erst recht nie zu behalten ist. Trotz aller Realitätselemente, trotz des historisch und geographisch wirklichkeitstreu beschriebenen Milieus, zieht sich das für das menschliche Schicksal Gleichnishafte als roter Faden wahrscheinlich nirgendwo so fehlerlos konsequent durch die gesamte Geschichte wie in diesem Werk Joseph Roths. Die hartnäckige Folgerichtigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Leben des 1 2

Joseph Roth: Das falsche Gewicht und andere Erzählungen. 2. Aufl. Berlin: Verlag der Nation 1990, S. 5. Hinfort im Text zitiert nur mit der Angabe der Seitenzahl. Vgl. Fritz Hackert: Kaddisch und Miserere. Untergangsweisen eines jüdischen Katholiken. Joseph Roth im Exil. In: Joseph Roth. Werk und Wirkung. Hg. von Bernd M. Kraske. Bonn: Bouvier 1988, S. 83.

276

Zoltán Szendi

Protagonisten hindert den Erzähler nicht daran, die Gesten des Märchenerzählers zu bewahren, um der Brutalität der rohen Wirklichkeit entgegenzusteuern und sogar im verhängnisvollen Schicksal des Eichmeisters die großen Augenblicke zu zeigen. Die Erzählstrategie fokussiert auf die schicksalhaften Stationen der zentralen Figur, verzichtet dabei aber nicht auf die Darstellung der psychologischen und sozialen Zusammenhänge. So werden sowohl die wichtigsten individuellen Züge als auch das soziale Umfeld des k. u. k. Unteroffiziers Eibenschütz gleich im ersten Kapitel skizziert. Hervorgehoben wird in erster Linie seine Ehrlichkeit. »Er war ein redlicher Soldat gewesen« (S. 6) – so wird er eingangs vom Erzähler vorgestellt und diese positive Eigenschaft bekommt einen besonderen, bereits auf die düstere Zukunft des Protagonisten hinweisenden Akzent, als sie schon als allgemeine Meinung der neuen Umgebung des Eichmeisters erwähnt wird: »Man sah […] auf den ersten Blick, daß er nicht alt, nicht schwächlich, nicht trunksüchtig war, sondern, im Gegenteil, stattlich, kräftig und redlich; vor allem: allzu redlich«. (S. 8) Auch wenn seine Aufrichtigkeit und damit verbunden seine Standhaftigkeit auf sein einfaches Wesen zurückzuführen sind, bilden sie die festen Säulen seiner Persönlichkeit. Deshalb bricht der ganze Mensch zusammen, als sie unterminiert werden. Am Anfang der Geschichte wird auch das Verhängnis des Mannes mit angedeutet, als seine Ehe kurz kommentiert wird: Er hatte geheiratet, wie es fast alle längerdienenden Unteroffiziere zu tun pflegen […] Also hatte der längerdienende Feuerwerker Eibenschütz geheiratet, eine gleichgültige Frau, wie jeder hätte sehen können […] Die meisten hatten Frauen: aus Irrtum, aus Einsamkeit, aus Liebe. Was weiß man! Alle gehorchten den Frauen: aus Furcht und aus Ritterlichkeit und aus Gewohnheit und aus Angst vor der Einsamkeit. Was weiß man! (S. 6–7)

Entscheidend sind die inneren Motivationen – die Einsamkeit des Mannes und die Gleichgültigkeit der Frau –, die das Schicksal des Protagonisten bestimmen. Der verallgemeinernde Erzählkommentar weist zwar darauf hin, dass die Heirat des Eichmeisters ›aus Irrtum‹ kein Einzelfall ist, wir erfahren aber nur von seiner Ehe und wie düster diese endet. Der voreilige Entschluss zu heiraten, in dem sein Alleinsein offensichtlich eine größere Rolle spielte als die Liebe, und die kurze Bemerkung in Bezug auf die Teilnahmslosigkeit der Frau – der wohl auch keine besondere Bedeutung beigemessen wird – nehmen schon das Fiasko ihrer Ehe vorweg, das die Kettenreaktion der weiteren, zur Tragödie führenden, Ereignisse auslöst.3 Eine lückenlose Determiniertheit der Schicksalsdramen bestimmt den Lebensweg des Eichmeisters, auf dem seine Verheiratung den ersten Meilenstein bildet, denn sie bringt zugleich die erste Wende in seinem Leben mit sich. Der 3

Vgl. dazu noch: Reinhard Baumgart: Auferstehung und Tod des Joseph Roth. DreiAnsichten. München, Wien: Carl Hanser 1991, S. 36f.

Der unaufhaltsame Weg zur Katastrophe

277

Frau zuliebe, die von ihm »Zivil und Stellung und Heim und Kinder und Enkel« (S. 7) verlangte, hat er die Armee, seine zweite Heimat, verlassen. Diese Entscheidung war so schmerzhaft für den Protagonisten, dass er zum ersten Mal böse auf seine Frau wurde. Ursache und Folge sind von nun an vertauschbar, denn alles, was nach diesem Entschluss kommt, bedingt sich gegenseitig und zu den größten Leistungen des Werkes gehört, dass der Erzähler – auf seine allwissende Position verzichtend – nicht alles erklären und psychologisch durchleuchten will, sondern die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur in ihrer vollen Irrationalität zur Geltung kommen lässt. So bleibt die Entfremdung zwischen Mann und Frau trotz aller erwähnten Gründe in vieler Hinsicht unaufgeklärt. Wir wissen zum Beispiel, dass der Eichmeister sich nach Kindern sehnte: »Wenn der Eichmeister Eibenschütz Kinder gehabt hätte! Es wäre alles anders gewesen: ihm zumindest schien es so«. (S. 11) Nach der Beschreibung einer nächtlichen Szene, in der er seine schlafende Frau betrachtet, erfahren wir auch ihre Schönheit, die sehr plausibel vergegenwärtigt wird und da es aus einer zärtliche Teilnahme verratenden Innenperspektive des Mannes geschieht, in der von den »schönen Brüsten« und »dem lieben halboffenen Mund« die Rede ist, unerwartet befremdend klingt die plötzliche Bemerkung unmittelbar danach: »Keine Begierde mehr trieb ihn zu ihr, wie einst in früheren Nächten«. (S. 12) Das Fatum liegt anscheinend schon im Menschen selbst, in seiner kaum erforschbaren Triebwelt, und es gehört zur Tragödie des Protagonisten, dass er mit seiner beschränkten Intelligenz weder sich selbst und noch weniger die Welt verstehen kann. Er fühlte sich deshalb so wohl in der Uniform, weil sie ihm das Leben überschaubar machte, denn der zweipolige Dienst bei der Armee, der seinen Beruf auf Befehl und Gehorsamkeit reduzierte, befreite ihn von allen Sorgen eines Zivilisten. Sein Austritt aus der Armee führt folglich zu einer tiefen Verunsicherung, die sein neuer Dienst nur zum Teil und vorübergehend verdrängen kann. Der ferne Ort am östlichen Rande der ÖsterreichUngarischen Monarchie, wo er mit seiner neuen Arbeit als Eichmeister anfängt, erscheint ihm selbst verhängnisvoll: »Er fühlte, daß sich hier, in Zlotogrod, sein Schicksal erfüllen sollte. Zum ersten Mal auch in seinem ganzen tapferen Leben hatte er Angst«. (S. 10) Diese Vorausdeutung nimmt schon das unheilvolle Ende des Eichmeisters vorweg, denn sie zeigt, dass er der unbekannten Zukunft nicht gewachsen ist. Seine immer mehr zur Gewissheit werdende Ahnung, dass er »aus der Bahn geworfen sei«, verknüpft schon gleich am Anfang die zwei Schicksalslinien seines Lebens, die private und die berufliche, und die beiden führen zum Desaster, worauf die Schlüsselworte ›Angst‹ und ›erschrecken‹ hindeuten. Sehr einsam war er, und er fühlte sich fremd und heimatlos in der ungewohnten Zivilkleidung, nachdem er zwölf Jahre in seiner dunkelbraunen Artillerie-Uniform gehaust hatte. Seine Frau: Was war sie ihm? – Zum ersten Mal fragte er sich, warum und wozu er sie geheiratet hatte. Darüber erschrak er gewaltig. Er erschrak darüber

278

Zoltán Szendi

gewaltig, weil er sich selbst niemals zugetraut hätte, daß er überhaupt erschrecken könnte. Es kam ihm vor, daß er, wie man sagt, aus der Bahn geworfen sei – und dabei hatte er doch immer wieder und ständig seinen rechten Weg eingehalten! Aber, immerhin, soldatischer Disziplin getreu und aus Furcht vor der Furcht, ergab er sich seinem Dienst und seinen Pflichten. Niemals vorher hatte man einen dem Staat, dem Gesetz, dem Gewicht und dem Maß so ergebenen Eichmeister gesehen in dieser Gegend. Er entdeckte plötzlich, daß er seine Frau nicht liebte. (S. 11)

Die Einsamkeit, die ihn in zweifacher Weise quält, macht ihn wehrlos, er ist dadurch seinem Geschick völlig ausgeliefert. Er fühlt sich nicht nur in seiner Ehe allein, sondern auch im Dienst.4 Die einzige Person, zu der er täglich Kontakt hat, ist der Wachtmeister, der ihn auf seinem Dienstweg immer begleitet, ein einfacher und zuverlässiger Mensch, mit dem aber Eibenschütz seine Leiden nicht teilen kann. Der erste Schlag, der in seinem Leben die Kette der düsteren Ereignisse auslöst und das Fatum in Bewegung setzt, ist der Ehebruch seiner Frau, die ein Verhältnis mit seinem Schreiber hat und von ihm auch ein Kind erwartet. Als der betrogene Ehemann beschließt, »der Sache genau nachzuspüren« (S. 21), fühlt er sich – wegen der Entfremdung von seiner Frau – weniger betroffen, ihn motiviert zum Teil »eine flüchtige Vorstellung davon, daß seine Ehre beschädigt war«, aber das ist auch eher eine »Erinnerung an Ehrbegriffe seiner Vorgesetzten« (ebd.) aus der Militärzeit. Was ihn, »den Redlichen« viel mehr antreibt, ist die Suche nach der Wahrheit: »Maß und Gewicht der Begebenheiten festzustellen und zu prüfen«. In der geschlossenen Welt der Ordnung des Eichmeisters, an der er sich immer festgehalten hat, hat sich ein Riss aufgetan. »Ich werde meine Maßregeln treffen« (S. 24) – sagt er seiner Frau, nachdem sie ihre Untreue eingestanden hat, und diese Wortwahl verrät seine einfache Weltsicht, die von seinem früheren, auf Disziplin basierenden Beruf geprägt wurde. Er spricht und handelt ähnlich, wie Instetten, der »Prinzipienreiter« in Effi Briest, der allein »auf das Ganze«, nämlich auf die gesellschaftlichen Normen Rücksicht nimmt, als er seine Frau von sich stößt.5 Als wenn der Ehebruch Reginas auch ihn dazu legitimieren würde, aus seiner durch Regeln verschanzten Welt auszubrechen, fährt er noch an demselben Abend nach Szwaby, zur Grenzschenke, wo er früher nur als strenger Beamte verkehrte. Mit diesem Schritt verletzt er zum ersten Mal die Ordnung, zu deren Einhalt er sich ohne Bedenken in seinem bisherigen Leben verpflichtet fühlte.6 4

5 6

»Im wertentleerten Raum versagen die Kräfte der Ordnung […]. So bricht das Chaos in Eibenschütz’ Leben ein und richtet den Aufrechten zugrunde«. Rudolf Koester: Joseph Roth. Berlin: Colloquium 1982, S. 80. Fontanes Werke in fünf Bänden. Bd 4. 4. Aufl. Berlin, Weimar: Aufbau 1977, S. 254. Über die Affinität des Autors zur Ordnung und Hierarchie vgl. Frank Joachim Eggers: »Ich bin Katholik mit jüdischem Gehirn« – Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth und Franz Werfel. Untersuchungen zu den erzählerischen Werken. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1996, S. 205.

Der unaufhaltsame Weg zur Katastrophe

279

Denn er weiß genau, dass die Kneipe Jadlowkers, der selbst eine höchst verdächtige Figur darstellt, ein Sammelplatz von Schmugglern und Deserteuren ist. Wovon er aber nichts oder kaum etwas wissen kann, das ist die verdrängte Leidenschaft, die seinen Weg von nun an bestimmt, die Verführung, die in der Gestalt einer schönen Zigeunerin erscheint. Das elfte Kapitel beginnt mit der Darstellung ihrer ersten Begegnung. Mit filmischer Genauigkeit und voller Sinnlichkeit der Visualität wird die Faszination des Protagonisten vergegenwärtigt: Die Frau kam. Die Treppe, über die sie hinunterstieg, lief seitwärts neben der Theke. Sie bahnte sich einen Weg durch das lärmende Gewimmel der Deserteure. Das heißt, der Weg bahnte sich eigentlich vor ihr selbst. […] Dünn, schlank, schmal, einen zarten weißen Schal um die Schultern, den sie mit den Händen festhielt, als ob sie fröre und als ob dieser Schal sie wärmen könnte, ging sie sicher, mit wiegenden Hüften und straffen Schultern. Ihre Schritte waren fest und zierlich. Man hörte das leise Aufschlagen ihrer hohen Stöckel einen Augenblick lang, während die lärmenden Männer verstummten und die Frau anstarrten. Ihr Blick war gleich, von der obersten Stufe an, auf den Eichmeister Eibenschütz gerichtet, als schritte ihr Auge ihren Füßen voraus. Als sie auf ihn zutrat, war es ihm, als erführe er zum ersten Mal, was ein Weib sei. Ihre tiefblauen Augen erinnerten ihn, der niemals das Meer gesehen hatte, an Meer. Ihr weißes Angesicht erweckte in ihm, der den Schnee sehr gut kannte, die Vorstellung von irgendeinem phantastischen, unirdischen Schnee, und ihr dunkelblaues schwarzes Haar ließ ihn an südliche Nächte denken, die er niemals gesehen, von denen er vielleicht einmal gelesen oder gehört hatte. (S. 26–27)

Dieses moderne »Hohelied« in Prosa ist zwar eine Beschreibung in dritter Person, stellt aber die aufwühlende Hingerissenheit des einsamen Mannes aus vermittelter Innensicht dar. Auch, wenn er weiß, dass »dieses Wunder ein Mensch« ist, ergreift ihn die irrationale Macht der Liebe vollständig. Zugleich wird mit der Erscheinung der Frau das Gefährliche und Verbotene assoziiert: »jetzt glaubte er, er wüsste, wie die Sünde aussehe. So sah sie aus, genau so wie die Freundin Jadlowkers, die Zigeunerin Euphemia Nikitsch.« (S. 27) Trotz des Bewusstseins der Gefahr, der sein bisher geregeltes Leben ausgesetzt ist, wird der Protagonist mit dieser Begegnung in der Tat »aus der Bahn geworfen«.7 Obwohl es noch weitere Stationen auf seinem verhängnisvollen Weg geben wird, sind sie in erster Linie als Folgen dieser inneren Verwandlung zu betrachten, sowie die vorherigen Ereignisse die Exposition im Drama des Eichmeisters bedeuten. Je größer die – dem Mann bis jetzt unbekannte – Liebesleidenschaft wird, die sich seines ganzen Wesens bemächtigt, desto geringer wird seine Wider7

Baumgart weist auf die Illusion hin, die den Eichmeister erfüllt und ihn in den Abgrund führt. »Diesem Frauenwesen kann Eibenschütz, ein korrekter, also tief anfechtbarer Mann, nicht den Hof machen, sondern nur verfallen«. Baumgart, Auferstehung und Tod des Joseph Roth (wie Anm. 3), S. 39.

280

Zoltán Szendi

standsfähigkeit, die ihn retten könnte. Die gesellschaftlichen Normen, die ihren Sinn bei Eibenschütz vor allem in der militärischen Disziplin erhalten haben, wurden allmählich vollkommen aufgegeben. Sowohl in seinem Privatleben als auch in seinem Beruf. Dadurch, dass er seine Frau von sich abstößt und sie erbarmungslos demütigend bestraft, indem er ihre Stellung im Haus tiefer als die des Dienstmädchens degradiert, denn er will weder sie noch das »fremde« Kind sehen, verliert er endgültig sein Heim. Er versucht zwar den Schein zu bewahren, weil er sich – zumindest in der Anfangszeit – an die äußeren Normen hält, so geht er nach der Arbeit nach Hause, kann aber die selbst verursachte frostige Atmosphäre nicht ertragen. Bei seiner Ankunft verschwindet seine Frau in die Küche und ihr Dienstmädchen empfängt ihn mit düsterem Gesicht. »Nicht einmal die Katze kommt heran, wie einstmals, um sich streicheln zu lassen«. (S. 31) Sein Ehe-Unglück vollendet sich, als Regina und ihr Kind an der Cholera sterben. Am Sterbebett seiner Frau wird ihm plötzlich der Verlust des einstigen Glücks bewusst. Der Anblick der Frau, ihrer bläulichen Lippen, die früher rot »wie Kirschen« waren und »ihn geküsst hatten«, sowie ihre letzten Worte, eine Liebeserklärung mit einer ungewöhnlichen Anredeform – »Mann, ich habe dich immer geliebt« (S. 77) –, erschüttern den Eichmeister. In seinem Schluchzen wirkt gewiss auch die bittere Ahnung mit, dass er auch die heiß geliebte Zigeunerin endgültig verlieren wird. Seine Liebeseuphorie wurde nämlich inzwischen durch das Erscheinen des alten Geliebten von Euphemia zerstört. Die eigentliche Höllenfahrt des Eichmeisters beginnt, als er aus dem Bett Euphemias hinausgejagt wird. Im Gegensatz zu Jadlowker, der anscheinend daran gewöhnt war, die Liebe der schönen Zigeunerin jedes Jahr vom Herbst bis zum Frühling mit dem Maronibrater Sameschkin teilen zu müssen, erlebt Eibenschütz diese Benachteiligung als Vertreibung aus dem Paradies. Denn es bedeutet für ihn, der für seine Liebesleidenschaft ohne Bedenken alles aufgegeben hat, den unaufhaltsamen Absturz in die dunkelsten Tiefen des Chaos, von wo er keinen Rückweg mehr in die Welt der Ordnung finden kann. Gedemütigt und sich selbst demütigend begnügt er sich nun damit, die heiß begehrte Frau zumindest sehen zu können. Der Mann, der einst im Bewusstsein seiner amtlichen Macht die dubiösen Gestalten in der Kneipe mit nüchternem Stolz verachtete, sitzt nun besoffen unter ihnen, halb schon ihnen zugehörig. Ein Anzeichen dafür, dass er seine Beamtenhaltung immer mehr aufgibt, ist die Vernachlässigung seiner Bekleidung. Immer, in Uniform wie im Zivilleben, hatte Eibenschütz sehr viel auf seine Bügelfalten achtgegeben. Nun aber, seitdem er in den Hosen schlief, schien es ihm, daß Bügelfalten nicht nur überflüssig seien: hässlich waren sie auch. (S. 85)

Den äußeren Merkmalen des Haltungsverlustes vorangehend ist die Unterminierung seiner Beamtenmoral, in der zwei Begebenheiten für sein ganzes späteres Schicksal entscheidend sein werden. Die erste betrifft die übereifrige Maßnahme des Eichmeisters, der zwar auf dem Markt nur Gewichte prüft, von

Der unaufhaltsame Weg zur Katastrophe

281

Jadlowker aber auch Konzessionsdokumente verlangt und ihn schließlich vor Gericht bringt. Obwohl er im Namen des Gesetzes auftritt, will er in der Wirklichkeit eigentlich den Rivalen entfernen. Aber der Eichmeister »war auch nur ein Mensch. Das leise Klingeln der Ohrringe Euphemias konnte er nicht loswerden«. (S. 40) Mit dieser ironischen Bemerkung kommentiert der Erzähler die zweifelhafte Tat des Eichmeisters, der sich davon »zwei Jahre Glück« erhoffte. Das so erzwungene Glück dauert aber viel kürzer und macht aus seinem Nebenbuhler seinen späteren Mörder. Den fragwürdigen Auftritt des Eichmeisters in der Marktszene begleitet eine scheinbar bedeutungslose Episode, wo der fleißige Beamte bei einer jüdischen Geflügelhändlerin falsche Gewichte findet und sie abführen lassen will, sich aber am Ende der armen Frau erbarmt und sie freilässt, denn »sein Herz war gütig und streng zugleich« (S. 42). Dass dieses Mal die Güte siegt, ist nicht zuletzt seiner jüdischen Herkunft zu verdanken.8 Dieses Motiv kehrt später mit umgekehrtem Vorzeichen und düsterer Folge zurück. Nachdem Kapturak, der reiche Hypothekengläubiger den Eichmeister vor der ganzen Kneipegesellschaft hinterlistig darauf aufmerksam gemacht hat, dass er seine Pflicht in einem einzigen Fall immer versäume, denn er inspiziere den Laden vom Singer nie, bleibt dem Eichmeister nichts anderes übrig, als das armselige Haus des jüdischen Gelehrten, dessen Frau Lebensmittel verkauft, aufzusuchen. Wie widerwillig er es tut, noch verdrießlicher bestraft er diese vollkommen mittellosen Menschen. »Das hätten wir nicht tun dürfen« (S. 93) – sagt Eibenschütz dem Gendarm, der sich zwar auf das Gesetz bezieht, sein Gewissen aber auch nicht ganz beruhigen kann. Diese Szene bedeutet – trotz ihres episodenhaften Charakters – einen Wendepunkt in der Geschichte. Zum ersten Mal wird sich nämlich der strenge Beamte dessen bewusst, dass sein Ordnungsprinzip und seine Pflichterfüllung mit einem höheren Gesetz der Humanität in einen unauflösbaren Konflikt geraten können.9 So kommt der Titel gleichzeitig zu seiner symbolischmetaphorischen Bedeutung: Das falsche Gewicht betrifft nun nicht mehr den Warenbetrug, sondern die moralische Ungerechtigkeit. Die so entstehende innere Konfliktsituation unterminiert endgültig sowohl die berufliche als auch die menschliche Haltung des Protagonisten, der – bevor er ermordet wird –, sein ›Daseinsgewicht‹ verliert. Sein Weg in die Katastrophe endet zuerst hier, denn es bleibt nicht die geringste Chance mehr für ihn. Der Tod, der meuchlerischerweise auf ihn lauert, vollendet sein Verhängnis – ohne Erlösung und 8

9

»Er hatte nicht gewollt, daß man eine arme törichte jüdische Geflügelhändlerin einsperrte. Er selbst stammte von Juden ab«. (S. 41) Die »Ostjuden« kommen auch in anderen Werken von Roth vor, und sie sind »oft Träger der positiven Werte«. Hugo Dittberner: Über Joseph Roth. In: Text und Kritik. Sonderband Joseph Roth. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text und Kritik 1982, S. 12. Vgl. dazu noch: Sebastian Kiefer: Braver Junge – gefüllt mit Gift. Joseph Roth und die Ambivalenz. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 140ff.

282

Zoltán Szendi

Katharsis. Denn gerade sein moralischer Untergang nimmt dem schrecklichen Ausgang die Möglichkeit der Läuterung, was auch der Perspektivenwechsel in der Erzählsituation deutlich markiert. Während nämlich die Geschichte bis zum 37. Kapitel zunehmend aus der Perspektive des Eichmeisters erzählt wird, auch wenn die (formale) Erzählsituation eine auktoriale ist, fokussiert der Text ab dem 37. Kapitel auf die Figur Jadlowkers, bis zur Innensicht. Nach der unmenschlichen Tat des Eichmeisters findet so eine Abkehr von dem Protagonisten sogar in der Erzählstrategie statt, wodurch Eibenschütz quasi seinem Verhängnis teilnahmslos ausgeliefert wird. Die Funktion des Perspektivenwechsels ist also mit der inneren Veränderung der Hauptgestalt zu erklären, mit dem moralischen Verfalls- und Zerstörungsprozess, der in den Geschehnissen des 36. Kapitels kulminiert. In den nachfolgenden Abschnitten stellt der Erzähler den Racheakt Jadlowkers aus der Nahsicht ohne jeglichen teilnahmsvollen Kommentar dar. Diese neutrale Position wird dann bis zum Ende beibehalten. Im Schlusskapitel heißt es lapidar: »So also starb der Eichmeister Anselm Eibenschütz, und, wie man zu sagen pflegt: Kein Hahn krähte nach ihm« (S. 105). Diese tragische Geschichte bekommt eine epische Erweiterung und Erhöhung durch die motivische Einbettung der Natur in die Textwelt. Die durchaus anschaulichen, jedoch oft ins beinahe Mythische gesteigerten Naturbilder haben eine kontrapunktartige Funktion – auch wenn sie parallel zu den Ereignissen erscheinen.10 Das Land, dem der Eichmeister zunächst begegnet, »redete fürchterlich: Es redete Schnee, Finsternis, Kälte und Eiszapfen« (S. 9). Aber nicht nur der Winter dünkt dem früher in Bosnien lebenden Beamten drohend, sondern auch der Einbruch des Frühlings, »das große Krachen der geborstenen Eisdecke« (ebd.) wirkt unheimlich.11 Die häufige Wiederkehr dieses Motivs symbolisiert die unveränderliche Macht der Natur, die – im Gegensatz zum zerbrechlichen menschlichen Schicksal – unbesiegbar ist. Der Hinweis auf »das große alljährliche Ereignis des Bezirks Zlotogrod« (S. 106) im Schlusskapitel hebt diesen Kontrast endgültig hervor. Denn es wird gegenüber der zyklischen Beständigkeit der Natur der schicksalhafte Bruch im menschlichen Leben gezeigt: Der »gute Sameschkin«, der jährlich seine Geliebte besuchte, beschließt, »nie mehr in diese giftige Gegend zu kommen«. Die ästhetische Qualität des Werkes können wir am besten ermessen, wenn wir es mit zwei früheren Geschichten vergleichen, die das Schicksal des Eichmeisters – partiell und sich ergänzend – vorwegnehmen: die Erzählungen Stationschef Fallmerayer, die drei Jahre (1933), und Triumph der Schönheit, die 10

11

Dieses Land, als »engere Heimat« des Schriftstellers, ist »ein fiktives, von der Optik der Sehnsucht mythisch geprägtes Galizien«. Maria KlaĔska: Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths. In: Joseph Roth. Interpretation, Rezeption, Kritik. Hg. von Michael Kessler und Fritz Hackert. Tübingen: Stauffenburg 1990, S. 144. Vgl. dazu noch: Larissa Cybenko: Galicia miserabilis und/oder Galicia felix. Ostgalizien in der österreichischen Literatur. Wien: Praesens 2008, S. 165.

Der unaufhaltsame Weg zur Katastrophe

283

zwei Jahre früher (1934) als Das falsche Gewicht entstanden ist. Im Falle des Fallmerayers ist der Liebeswahn in Parallele zu der Geschichte des Eichmeisters zu stellen, während in dem düsteren Schicksal des Diplomaten die verheerende Folge dieser Leidenschaft deutlich wird. Im Vergleich fällt gleich auf, dass die beiden vorangegangenen Texte den Charakter einer Fallstudie haben. Die zwei Geschichten exemplifizieren nämlich mit unterschiedlichem Ausgang die betrügerische Macht der Liebe. Der Bahnbeamte Fallmerayer verliebt sich in eine polnische Gräfin und verlässt ihretwegen seine Familie. Die romantische Liebesgeschichte nimmt aber ein grotesk pointiertes Ende, als der Mann der Gräfin verkrüppelt aus dem Krieg zurückkehrt und das große Abenteuer sich in eine Pflegerolle verwandelt, vor der der Geliebte panikartig und spurlos flieht. In Triumph der Schönheit setzt der Protagonist alles aufs Spiel und verliert: »er starb nämlich an einer Frau, und zwar an seiner eigenen« (S. 135). Der Titel nimmt das tragische Ende seiner bedingungslosen Leidenschaft tief ironisch vorweg, denn die Schönheit der Frau, die ihn so lange gefangen hält, entpuppt sich als grausamer Betrug, der den Ehemann schließlich in den Selbstmord jagt.12 Das falsche Gewicht verbindet nicht nur die Hauptmotive der vorigen Erzählungen miteinander, sondern befreit sie auch von ihren lehrhaften Pointen, indem es sie in einen mehrdimensionalen Daseinskomplex setzt. Die tiefste Tragik bedeutet dabei die kettenartige Determiniertheit, die dem Eichmeister letztendlich alle Auswege verbaut. Das Fatum ist zwar auch in seinem Leben unerforschbar, aber keineswegs unmotiviert. Sogar die innersten Widersprüche seines Schicksals folgen nämlich der unbiegsamen Logik, die sich aus einem vielfältigen Komplex von Determinanten ergibt. Diese schicksalsbestimmenden Faktoren sind in ihren oppositionellen Wechselwirkungen zu erfassen und nur in ihren Paradoxien zu deuten. So sind es vor allem die zwei wichtigsten Schicksalselemente, Beruf und Liebe, die dem Leben des Eichmeisters einen Sinn geben, es aber zugleich zerstören. Denn das Ordnungsprinzip, das dem Beamten einen Halt sichert, führt schließlich zur Unmenschlichkeit, und die Liebe, die ihm zunächst die größte Freude schenkt, stößt ihn in völlige Selbstaufgabe mit tödlichem Ausgang. Zur Vollständigkeit der Erzählung gehört, dass diese tragische Geschichte nicht nur in ihrer Individualität zu deuten ist, denn sie wird, sosehr sie auch immer dem Fatum ausgeliefert ist, zugleich in eine unerfahrbare Welt des Daseins miteinbezogen. Ähnlich, wie die Geschichte von Hiob, nur ohne deren religiösen Trost.

12

»Nicht endenwollende Irrwege durchlaufen sie alle« – so charakterisiert MüllerFunk diese Protagonisten. Wolfgang Müller-Funk: Joseph Roth. München: Beck 1989, S. 26.

Maria KáaĔska

»Nationale und sprachliche Einheitlichkeit kann eine Stärke sein, nationale und sprachliche Vielfältigkeit ist es immer.« Joseph Roth zum Nationalismus und zum nationalen Gedanken anhand der Beispiele Polen und Palästina Mit diesem Haupttitel, der ein Zitat aus Roths Reisebild Lemberg, die Stadt1 ist, möchte ich die Problematik meines Vortrags umreißen. Ich möchte in Bezug auf ausgewählte Texte untersuchen, wie der Autor zum Problem der Nation, des Nationalen und vor allem des nationalen Nebeneinander (resp. der Multikulturalität) Stellung bezieht. Diese Problematik soll anhand der Texte aus der mittleren Schaffensphase wie der kleinen Zyklen Reise durch Galizien (1924) und Briefe aus Polen (1928) sowie des umfangreicheren Zyklus Juden auf Wanderschaft (1927) skizziert werden. Diese Auswahl deutet bereits an, dass ich die besagte Problematik besonders in Verbindung mit der polnischen, jüdischen und habsburgischen Situation explizieren möchte. Roths Heimat Galizien wurde bekanntlich nach 1918 als Maáopolska (Kleinpolen) zu einer Provinz des nach 123 Jahren der Teilung wiedererstandenen polnischen Staates. Der Schriftsteller Joseph Roth soll Polen fünfmal besucht haben, zuerst bereits 1920 als Berichterstatter der Neuen Berliner Zeitung aus dem polnisch-sowjetischen Kriege, dann 1922 privat, um sich ans Krankenbett seiner sterbenden Mutter in der Lemberger Polyklinik zu begeben,2 1924 und 1928 als Reisereporter im Auftrag der Frankfurter Zeitung, schließlich kurz vor seinem Tode im Winter 1938/39 als Emigrant aus Frankreich, der auf Einladung des Polnischen PEN-Clubs Polen mit einer Vortragsreise bedachte. Seiner Einstellung zur polnischen Nation nach 1918, ihrem neuen Status in dem nach der Teilungsperiode als Folge des Ersten Weltkriegs wiedererstandenen Polen gab er Ausdruck vor allem anhand der beiden in der Frankfurter Zeitung veröffentlichten Reisezyklen Reise durch Galizien (1924) und Briefe aus Polen (1928). Im Zyklus Reise durch Galizien signalisiert es bereits der Titel, dass Roth nicht so sehr die Problematik des neuen polnischen Staates als vielmehr das »Postgalizische« in Kleinpolen interessiert. Schon dadurch, dass er angibt, dass Galizien, das ja als Land 1924 längst nicht mehr existierte, 8 Millionen

1

2

Aus dem Zyklus Reise durch Galizien (1924). In: Joseph Roth: Werke 2. Das journalistische Werk 1924–1928. Hg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 285ff. Vgl. David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 90.

286

Maria KáaĔska

Einwohner (G, 281)3 zähle, manifestiert der Berichterstatter, dass für ihn die galizische Vergangenheit des Landes wichtiger als sein aktueller Status ist. In der ersten Skizze, Leute und Gegend, betont er besonders den traditionellen, agrarischen und konservativen Charakter der Provinz: »Alle leben eigentlich von der einzigen produktiven Klasse: den Bauern [Hervorhebung – J. R.]. Die sind fromm, abergläubisch, furchtsam. Sie leben in scheuer Ehrfurcht vor dem Priester und haben einen maßlosen Respekt vor der ›Stadt‹ […]« (G, 282). Die vormoderne Sicht der Bauern simulierend, berichtet der Publizist weiterhin, dass aus der Stadt alle Errungenschaften der Technik kommen und dort die moderne Justiz und alle Institutionen des Staates ihren Sitz haben, vor denen es den Bauern graut. Die Absicht, den Unterschied zwischen dem Einst der Habsburgermonarchie und dem polnischen Staat zu verwischen, markieren besonders deutlich folgende Worte: So war’s, als der Kaiser Franz Joseph regierte, und so ist es heute. Es sind andere Uniformen, andere Adler, andere Abzeichen. Aber die wesentlichen Dinge ändern sich nicht. Zu den wesentlichen Dingen gehören: die Luft, die menschliche Seele und Gott mit allen seinen Heiligen, die seine Himmel bewohnen und deren Abbildungen an den Wegen stehen. (G, 282).

Schon aus dieser Gegenüberstellung von Stadt und Land und den Ausführungen darüber, was für den galizischen Bauern wesentlich sei, kann man die Geringschätzung Roths der Idee der Nation gegenüber herauslesen, auf die später genauer eingegangen werden soll. Bereits in dieser Skizze erscheinen die Juden als ein von den Bauern als fremd aufgefasstes Element, da sie deren Glauben fremd gegenüberstehen, was das Bild der den Heiligenbildern auf beiden Seiten des Weges mit Absicht ausweichenden jüdischen Händler in der Nähe des Bahnhofs unterstreicht. Anderseits wird das Land als Schauplatz des Großen Krieges 1914–1918 beschworen, wofür z. B. das Bild des Gekreuzigten am zerstörten Kreuz steht, das das Leid der Kreatur und das Schweigen Gottes diesem gegenüber versinnbildlicht. Roth berichtet über Galizien aus der Perspektive eines Bahnreisenden, obwohl seine Kenntnis der Kultur und der gegenwärtigen Lage des Landes andeutet, dass er es keineswegs dabei bewenden ließ. Die dritte Skizze des Zyklus, Die Krüppel. Ein polnisches Invalidenbegräbnis, setzt diesen Gedanken fort, wobei das Adjektiv »polnisch« eher irreführend wirkt, da Roth auch diese Episode zur Hervorhebung des menschlichen Leides infolge des Krieges verwendet. Es geht um das Begräbnis eines polnischen Kriegsinvaliden in Lemberg, der Selbstmord verübt hat, an dem sich Behinderte und Krüppel aller Art beteiligen. Offensichtlich war der Freitod des Mannes eine Demonstration 3

Wegen des häufigen Zitierens aus diesen drei Texten Roths werde ich mich folgender Siglen bedienen: G – Reise durch Galizien, P – Briefe aus Polen, J – Juden auf Wanderschaft, plus Seitenangabe, wobei sich alle Seitenangaben auf die Veröffentlichung: Roth, Werke (wie Anm. 1) beziehen.

Joseph Roth zum Nationalismus und zum nationalen Gedanken

287

gegen die Ignorierung des Schicksals der überlebenden Kriegsopfer durch den Staat. Dabei wird durch die Wiederholung des Wortes »polnisch«, dreimal auf der ersten Seite des Textes (G 289), u. a. in seinem Untertitel, der Eindruck vermittelt, dass es vor allem der polnische Staat ist, der das Schicksal seiner Kriegsinvaliden ignoriert, während ein späterer Roman Roths, Die Rebellion, deutlich zum Ausdruck bringt, dass es in dem angeblich vorbildlich regierten deutschen Staat zu den gleichen Missständen kommt. Das drastische Bild der durch ihre Teilnahme am Begräbnis protestierenden Kriegsinvaliden, die z. T. nicht selbst gehen können und auf einem offenen Auto den Trauerzug begleiten müssen, hat die größte Aussagekraft eben als Bild der dem Leid ausgesetzten Kreatur, der Menschen, die durch den Krieg um ihre Gesundheit und ihre körperliche Integrität gebracht wurden. Roth schafft als Berichterstatter eine imaginäre Gemeinschaft zwischen sich und seinen Lesern und verheimlicht gleichzeitig, dass er diese Provinz sehr gut kennt, da er selbst dort bis zu seinem 19. Lebensjahr lebte, indem er sich in den beiden Texten auf die Erfahrungen deutscher und österreichischer Soldaten bezieht, die dieses Land »wie er« im Kriege kennen gelernt haben. Diese Perspektive schafft einen Erzählrahmen im ersten Text des Zyklus, denn am Anfang und am Ende ist davon die Rede und wird auf die Ungerechtigkeit der negativen Stereotype über Galizien in Westeuropa hingewiesen. Als letztes Syntagma des Textes Land und Leute erscheint der Satz von dem »traurigen Glanz der Geschmähten« (G, 285), wodurch der Erzähler noch einmal auf seine apologetische Absicht aufmerksam macht, ohne jedoch so weit zu gehen, sich mit diesem Stereotyp vorbehaltlos zu identifizieren. Am prägnantesten wird die nationale Problematik in dem mittleren Teil des kleinen Triptichons dargestellt, in dem Kulturbild Lemberg, die Stadt. Lemberg war bekanntlich die Hauptstadt des Kronlandes Galizien. Nach dem Kriege beanspruchten sowohl die Polen, die in der Stadt die unumstrittene Mehrheit gebildet haben, als auch die Ukrainer, die die Mehrheit auf dem Lande ringsum hatten, die Stadt für sich, und es kam zu einem polnisch-ukrainischen Krieg um Lemberg, der mit dem polnischen Sieg endete.4 Die Erinnerung daran, besonders an die Beteiligung und den Tod zahlreicher polnischer Jugendlicher, OrlĊta (Junge Adler) wurde zu einem schmerzlichen und bis heute existierenden polnischen Gedächtnisort. Damals war die Frage der nationalen Zugehörigkeit Lembergs/Lwóws auch für die Ukrainer ein emotionsgeladenes Thema. Roth sucht allerdings mehr nach den Spuren der Habsburgermonarchie und betont den tatsächlich vorhandenen multinationalen und multikulturellen Charakter Lembergs anno 1924.

4

Vgl. z. B. Wáadysáaw A. Serczyk: Historia Ukrainy (Geschichte der Ukraine). 2. Aufl. Wrocáaw, Warszawa, Kraków: Ossolineum 1990, S. 322f. In Lemberg sollen 1918 laut polnischen Quellen ca. 60% Polen, 30% Juden und 10% Ukrainer gewohnt haben.

288

Maria KáaĔska

Auch in diesem Text hält der Erzähler an der Fiktion fest, er kenne diese Stadt (lediglich) als »Etappe« aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Bereits der Einstieg in den Artikel, in dem der Autor darlegt, dass es eine große Vermessenheit sei, Städte zu beschreiben, denn jede von ihnen sei eine Einheit und eine Vielheit zugleich und habe mehr Zeit, sich zu entwickeln als selbst eine Nation, führt in Roths Sicht der Dinge ein. Es heißt nämlich: »Die Städte überleben Völker, denen sie ihre Existenz verdanken, und Sprachen, in denen ihre Baumeister sich verständigt haben« (G, 285). Im Falle Lembergs hatte Roth auf jeden Fall Recht, denn seit dem 14. Jahrhundert bis zu den Teilungen Polens und dann wieder 1918–1939 war die Stadt polnisch, in der Zeit der Teilungen Polens 1772–1918 österreichisch, 1939 wurde sie infolge des HitlerMolotow-Pakts sowjetisch und jetzt ist sie ukrainisch. Schon zu Roths Zeit beanspruchten aber die Ukrainer ihre Gründung für sich, denn sie war von dem Fürsten Daniel für seinen Sohn Leo gegründet worden, daher der Stadtname, der ein Genitiv vom Namen »Leo« – »Lew« ist.5 Bevor der Journalist auf Lemberg zu sprechen kommt, beschreibt er in einigen Zügen das idealtypische ostgalizische Städtchen und stellt fest, dass Lemberg die einzige größere Stadt in (ehemaligem) Ostgalizien sei, wohl mit einiger Übertreibung, denn auch Stanislau (heute Ivano-Frankivsk), Kolomea oder PrzemyĞl6 waren Städte, nicht bloß Städtchen. Der Verfasser ist ständig auf der Suche nach den Gemeinsamkeiten zwischen dem Einst und dem Jetzt der Stadt. Zwar haben sich die Zeichen des symbolischen Kapitals7 verändert: Früher hieß die Hauptstraße nach einem österreichischen Erzherzog KarlLudwig-Straße, nach 1918 Legionowa, die Straße der (polnischen) Legionen Pilsudskis; die österreichischen Uniformen der spazierenden Offiziere wurden durch die polnischen ersetzt. Aber bereits die Sprache, ein wichtiges Zeichen der nationalen Zugehörigkeit, nach Benedict Anderson derjenige Faktor, der erst die Herausbildung einer Nation ermöglicht,8 ist gemischt geblieben und hat sich wenig verändert:

5 6

7

8

Vgl. ebd., S. 49 bzw. z. B. Alexander Guttry: Galizien. Land und Leute. München, Leipzig 1916, S. 11. Guttry nennt 12 galizische Städte, außer den Großstädten Lemberg und Krakau, die zwischen 21.000–57.000 Einwohner hatten, davon 8 in Ostgalizien (PrzemyĞl, Kolomea, Drohobycz, Tarnopol, Stanislau, Stryj, Jaroslau, Sambor). Vgl. Serczyk, Historia Ukrainy (wie Anm. 4), S. 56. Im Sinne Bourdieus; vgl. Pierre Bourdieu: Reguáy sztuki. Geneza i struktura pola literackiego. 2. Aufl. Kraków: Przekáad Andrzej Zawadzki 2007, Orig. Les règles de l’art. Genèse et du champ littéraire. Paris: Edition de Seuil, 1992 et 1998. Vgl. Benedict Anderson: Wspólnoty wyobraĪone. RozwaĪania o Ĩródáach i rozprzestrzenianiu siĊ najconlizmu. Kraków, Warszawa: Przekáad Stefan Amsterdamski 1997. Orig. Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. 1. Aufl. Ithaca, New York: Cornell Unversity Press 1983, vgl. S. 30f., 48ff.

Joseph Roth zum Nationalismus und zum nationalen Gedanken

289

Hier hörte man immer Deutsch, Polnisch, Ruthenisch. Man spricht heute Polnisch, Deutsch und Ruthenisch. In der Nähe des Theaters, das am unteren Ende die Straße abgrenzt, sprechen die Menschen Jiddisch. Immer sprachen sie so in dieser Gegend. Sie werden wahrscheinlich niemals anders reden. (G, 287).

Dabei hat Roth die Shoah und die Folgen der Völkerverschiebungen infolge des Zweiten Weltkriegs freilich nicht prognostizieren können. Das Bild der »Stadt der verwischten Grenzen« (G, 289), die sein positives Beispiel eines friedlichen Nebeneinander und Miteinander der Kulturen ist, lässt ihn gleichzeitig Kritik an der Politik des polnischen, allerdings nicht nur des polnischen, Staates üben, der die Minderheiten zu assimilieren sucht: Gegen diese Vielsprachigkeit wehrt sich das neugestärkte, durch die jüngste Entwicklung der Geschichte gewissermaßen bestätigte polnische Nationalbewußtsein – mit Unrecht. Junge und kleine Nationen sind empfindlich. Große sind es manchmal auch. Nationale und sprachliche Einheitlichkeit kann eine Stärke sein, nationale und sprachliche Vielfältigkeit ist es immer. In diesem Sinn ist Lemberg eine Bereicherung des polnischen Staates. Es ist ein bunter Fleck im Osten Europas, dort, wo es noch lange nicht anfängt, bunt zu werden. Die Stadt ist ein bunter Fleck: rot-weiß, blau-gelb9 und ein bißchen schwarz-gelb. Ich wüßte nicht, wem das schaden könnte. (G, 287).

Roth weiß ja aus der Geschichte Polens, die er im Gymnasium kennen lernte, dass Polen zu den sog. historischen Nationen gehörte, und es war 1918 keineswegs »klein«,10 er sucht es einerseits durch die Adjektive »klein und jung« zu bagatellisieren, anderseits ist für ihn die Erfindung der Nation offensichtlich ein Prozess des 19. Jahrhunderts, worüber es heute einen Konsens der Geschichtswissenschaft gibt. In der bunten Bilderfolge, die er zur Bestätigung seiner These heranzieht, wird das Kosmopolitische, aber gleichzeitig Menschlich-Vertraute (ein Offizier, der seiner Frau den Einkaufskorb und das »Eingemachte« nach Hause trägt), das Nicht-Feierliche betont. Er macht sowohl den »österreichischen Schlendrian« als auch die slawische Lässigkeit (G, 288) verantwortlich für diese Weichheit und ein gewisses Wirrwarr, die ihm beide sympathisch sind. Zum Schluss wird Lemberg noch Krakau als einem »nationale[n] Museum« der Polen entgegengesetzt, was sogar den modernen deutschen Germanisten Helmut Nürnberger zum Widerspruch veranlasste.11 Aber es stimmt mit Roths Ansicht überein, dass die Lemberger Vielfalt einen größeren Wert darstellte als die Krakauer national-kulturelle Einheitlichkeit. Das Fazit des kurzen Zyklus 9 10

11

Die Nationalfarben der Ukraine. Im Jahre 1931 zählte die Bevölkerung Polens über 31 Millionen Einwohner. Ich nenne eine so späte Angabe, da die Bevölkerungszahl von 1921 als nicht maßgebend gilt, weil sie das Wilnaer Gebiet sowie Oberschlesien nicht berücksichtigt. Vgl. Helmut Nürnberger: Die Welt des Joseph Roth. In: Die Schwere des Glücks und die Größe der Wunder. Joseph Roth und seine Welt. Hg. Evangelische Akademie Baden. Köln: Evangelische Akademie Baden 1993, S. 30.

290

Maria KáaĔska

von Roth ist offensichtlich, dass die positiven Beispiele aus dem Leben des Zwischenkriegspolen diejenigen seien, in denen das nachgalizische Leben seinen Charakter im Vergleich zu der Habsburgerzeit nicht verändert habe. In dem vier Jahre später verfassten ausführlicheren Zyklus Briefe aus Polen kann man Roths Einschätzung des polnischen Staates, dieser sei ein Nationalstaat, und der »Empfindlichkeiten« der Minderheiten, die auf ihre Rechte pochten, verfolgen. Es ist daran zu erinnern, dass Roth zwar keine polnische Schule, aber eine galizische Schule in Brody besucht hatte, wo er auch Polnisch, polnische Literatur und polnische Geschichte lernen musste.12 Die Sammlung Briefe aus Polen wirft die Frage auf, ob er im Stande war, den polnischen nationalen Standpunkt zu verstehen, oder ob er sich ausschließlich mit den Minderheiten identifizierte. Dabei muss man freilich seine Rücksichtnahme auf das deutsche Lesepublikum der Frankfurter Zeitung in Betracht ziehen, denn, wie man aus dem Text Die deutsche Minderheit ersehen kann, fingierte er seine ausschließliche Identifizierung mit der deutschen Minderheit des Landes, die er als diejenige bezeichnet, die dem »Wirtsvolk« am wenigsten Schwierigkeiten bereite, denn sie sei loyal, bezahle pünktlich ihre Steuern, sorge ökonomisch für sich selbst und wäre im Stande, auch kulturell ihre Bedürfnisse zu erfüllen, wenn der auf nationale Einheitlichkeit erpichte Staat es ihr nicht erschweren würde. Roths Beteuerungen, dass die Deutschen in Polen durch ihre redliche, stille Kultursendung, wobei er freilich auf einem alten Stereotyp besteht, gleichzeitig »die Missionäre einer nationalen Idee und die Werkzeuge eines nationalen Schicksals seien« (P, 962) befriedigte sein z. T. deutschnationales Publikum keineswegs, wovon ein in der FZ abgedruckter Leserbrief zeugt (vgl. B, 965– 968). Der Journalist schrieb: »Es gibt eigentlich keine akute ›deutsche Frage‹ in Galizien, wie es eine ukrainische, eine weißrussische, jüdische gibt. Ich wollte, Sie hätten mit mir den stillen Frieden deutscher Kolonien in Ostgalizien und Wolynien gesehen […]« (P, 964). Er spricht von der großen Rolle des »Wortes«, also der Sprache, der deutschen Mundart, für die Erhaltung der deutschen Ethnie in Polen. Zwar spricht er, wohl um den Erwartungen der zeitgenössischen Leser zu entsprechen, von »Blut« und von »Boden«,13 aber ausschlaggebend für die Identität ist für ihn tatsächlich die Sprache. Darüber hinaus scheut er sich nicht, davon zu sprechen, dass, falls das Auslandsdeutschtum in den Wirtsvölkern aufgehen würde, es vielleicht »einen geheimen und fernen Sinn« haben könnte (P, 965). Dies wird freilich verständlich, wenn man sieht, dass er – ganz im Sinne der heutigen Theorien der Nation und

12 13

Vgl. Bronsen, Joseph Roth (wie Anm. 2), S. 80. Wolf R. Marchand hat der Problematik der Verwendung der ›völkischen‹ Begriffe durch Joseph Roth eine ganze umfassende Monographie u. d. T. Joseph Roth und völkisch-nationalistische Wertbegriffe. Untersuchungen zur politisch-weltanschaulichen Entwicklung Roths und ihrer Auswirkung auf sein Werk (1974) gewidmet.

Joseph Roth zum Nationalismus und zum nationalen Gedanken

291

des Nationalismus von Gellner, Hobsbawn oder Anderson,14 die Nation für etwas Artifizielles, nicht immer Gegebenes, und beliebig, obwohl unter bestimmen Bedingungen Erfundenes oder im besten Falle ins Leben Gerufenes, betrachtet. Verfolgen wir es zuerst anhand des Textes Die ukrainische Minderheit aus dem gleichen Zyklus. Man weiß aus dem epischen Werk Roths, dass die Ukrainer zu seinen Lieblingen auf der Völkerkarte der ehemaligen habsburgischen Monarchie gehören, übrigens im Einvernehmen mit dem traditionellen, seit Karl Emil Franzos vorhandenen Stereotyp, dass die Ukrainer und Juden als zwei unterdrückte Minderheiten in Galizien zusammenhalten sollten. So fängt diese Skizze mit einem Geständnis des emotionellen Engagements des Briefschreibers an, der die Schönheit der Volkslieder der Ukrainer im Ohr habe und gleichzeitig im Namen der Gerechtigkeit ihre benachteiligte Lage bedauere. Es wird mit Nachdruck auf die Tatsache hingewiesen, dass ein 30 Millionen starkes Volk keinen eigenen Staat besitzt, sondern größtenteils aufgeteilt zwischen Russland (die Sowjetunion), Polen und einige andere Länder lebt. Dabei weist Roth auf das im 20. Jahrhundert geltende Prinzip des Anrechts jeder Nation auf einen eigenen Staat hin: In diesem Europa, in dem die möglichst große Selbständigkeit der Nationen das oberste Prinzip der Friedensschlüsse, Gebietsteilungen und Staatengründungen war, hätte es den europäischen und amerikanischen Kennern der Geographie nicht passieren dürfen, dass ein großes Volk von 30 Millionen, in mehrere nationale Minderheiten zerschlagen, in verschiedenen Staaten weiterlebe. (P, 957f. Hervorhebung von J. R.).

Er spricht von der »naiven Anschauung«, dass die Nationen wie auf Schachbrettern auf »säuberlich voneinander getrennten Gebieten« (P, 958) leben, die als geltend betrachtet wird, folglich sollte man das Territorium dieses Volkes zu einem Staate unter eigener Regierung verbinden. Der Text thematisiert den tatsächlich bestehenden und später zu Katastrophen führenden15 Antagonismus zwischen dem polnischen Nationalismus im wiedererstandenen polnischen Staat und den nationalen Ansprüchen der Uk14

15

Gemeint sind solche ihrer Arbeiten wie Anderson, Wspólnoty (wie Anm. 8); Ernest Gellner: Narody i nacjonalizm. 2. Aufl. Warszawa: Przeá. Teresa Hoáówka 2009, Orig.: Nations and Nationalism. Ithaca, New York: Cornell Unversity Press 1983, 2006, oder Eric Hobsbawn: Nations and Nationalism since 1780: Programme, Myth, Reality. Cambridge: Cambridge University Press 1990. Für den Hinweis auf die Ähnlichkeit der Reflexionen Roths zu den modernen Nationalismustheorien dieser Autoren bin ich meinem Kollegen Professor Hubert Oráowski verpflichtet, bei dem ich mich somit herzlich dafür bedanke. Massenmorde der UPA an der polnischen Bevölkerung Wolyniens während des Weltkrieges als Folge des historisch begründeten Hasses der ukrainischen Nationalisten gegen die Polen.

292

Maria KáaĔska

rainer. Roth sieht den polnischen Nationalismus zu Recht nicht als etwa biologisch angeboren, sondern als Funktion der Geschichte, wovon auch seine Texte über die Polen aus der gleichen Sammlung handeln. Der plötzlich nach einer jäh unterbrochenen Entwicklung wiedererstandene polnische Staat versuchte automatisch (und jedenfalls mehr aus einer Reaktion gegen das eben überwundene Unglück als aus einer natürlichen Veranlagung, die man ihm vorwirft), sich als einen Nationalstaat zu betrachten und danach seine Minderheiten zu behandeln. (P, 958)

Das ist eine gerechtere Sicht der Dinge als die Rede von »kleinen und jungen« Völkern. Den polnischen Nationalismus sieht Roth als einen Trend der Geschichte, bei dessen Beobachtung die Polen eine 50-jährige Entwicklung nachzuholen suchen. Da von »50« und nicht von über 100 Jahren die Rede ist, kann es nicht um die Zeit der Teilungen gehen, sondern um die Zeit, seit der sich in Europa der Nationalismus entwickelte. Ganz im Einvernehmen mit den modernen Nationalismustheorien, etwa mit Gellner,16 spricht Roth davon, dass die ukrainischen Bauern keineswegs an einem eigenen Bildungssystem oder auch einem eigenen Staat interessiert gewesen wären, wenn ihre primären, vor allem sozial-ökonomischen Bedürfnisse nicht von den polnischen Grundbesitzern außer Acht gelassen worden wären. So aber haben die wenigen Gebildeten ihnen das Nationalbewusstsein beigebracht, wobei er daran erinnert, dass das an der Annektierung des Restes der Ukrainer interessierte Russland sie schon vor dem Ersten Weltkrieg mit seiner russophilen Propaganda anzuziehen versuchte. Jetzt sei es die Sowjetunion, deren Minderheitenpolitik Roth fälschlicherweise sehr positiv als sehr großzügig einschätzt. Er lässt sich in dieser Hinsicht offensichtlich von der sowjetischen Propaganda lenken.17 So erhofften sich immer mehr ukrainische Bauern »von einer sozialen Revolution eine nationale Befreiung« (P, 959). Zum Schluss bekommt seine Diktion wieder eine emotionelle Farbe und er charakterisiert den »›Charakter des Volkes‹« (schon bei Roth in Anführungsstriche gesetzt) als »unwissend, arm, zerschnitten und schön« (P, 961), was die Sympathie und wohl auch das Mitleid des Lesers hervorrufen soll. Drei Texte des Briefzyklus betreffen Polen, u. a. auf der nationalen Ebene. In dem einleitenden Brief Abreise und Ankunft polemisiert der Autor, ähnlich wie in Reise nach Galizien, gegen die gängigen Stereotypen über Polen und empfiehlt seinen Lesern, die Ressentiments bei Seite zu schieben. Nichtsdestoweniger ist auch sein Bild des Landes mit dessen Antinomien etwas stereotyp, wobei diesmal der Schwerpunkt auf das Passieren der polnischen Grenze mit dem Zug gelegt wird. Was beanstandet wird, ist die von den Teilungs16 17

Vgl. Gellner, Narody i nacjonalizm (wie Anm. 14), S. 148–150 (das fiktive Beispiel Ruritaniens). Vgl. auch Roths Reise in Russland (Frankfurter Zeitung 1926/27). In: Roth, Werke (wie Anm. 1), z. B. Das Völker-Labyrinth in Kaukasus, S. 616–620.

Joseph Roth zum Nationalismus und zum nationalen Gedanken

293

mächten ererbte und noch mehr ausgebaute Bürokratie, die sich überdies im militärischen Stil darstellt. Was ihn dabei besonders stört, ist die Schwierigkeit, in Polen einen Pass zu erhalten und verlängern zu lassen sowie die Genehmigung zum Grenzübertritt zu bekommen. Man sieht also, dass ihn vor allem solche Behinderungen des öffentlichen Lebens ärgern, die mit der Aufteilung Europas in Staaten und dem Bestehen einer, dazu noch schwer passierbaren, Grenze zusammenhängen, während man sich früher im Rahmen der großen Habsburgermonarchie ohne Schwierigkeiten bewegen konnte. Die viel versprechende Tafel an den Waggons weist auf die Route von Paris über Berlin und Warschau nach Moskau, theoretisch also die Zukunft des schrankenlosen Grenzverkehrs, hin, in Wirklichkeit aber stößt der Reisende auf viele bürokratische Hürden »zwischen der Idee Europa und der europäischen Realität« (P, 936). Was ihn dagegen nach dem Passieren der polnischen Grenze positiv stimmt, ist der agrarische, konservative Charakter des Landes, wo »die Natur das öffentliche Leben so beeinflusst, als wäre sie die Industrie«. (P, 938) Noch aufschlussreicher ist für die Rothsche Einschätzung der polnischen Wirklichkeit ein Brief mit dem Titel Blick auf die Straßen. Hier wird das nationale Leben der Polen mit seinem Hang zur Militarisierung und zu Paraden aus der verspäteten historischen Entwicklung zum Nationalismus, dem endlich ein eigener Staat entspricht, und dem tragischen Verlauf der polnischen Geschichte erklärt. Roth zeigt hier seine Kenntnis der polnischen Geschichte und sein Verständnis für die Vorliebe der Polen für nationale Gedächtnisorte, indem er seinen Briefschreiber mitteilen lässt: Die sehr menschliche, sehr dramatische und sehr schmerzliche Geschichte dieses Landes liefert eine große Anzahl feierungswürdiger Gedenktage – und die ebenfalls dramatische Entstehung des jungen Staates fügte zu den alten geheiligten Daten neue, zu heiligende. In Wirklichkeit hat der tragische Elan, mit dem die Vorsehung das polnische Volk behandelt – als hätte sie sich dem Nationalcharakter angepaßt –, selbst aus der Geschichte des Landes besondere Höhepunkte abgezeichnet und Details mit symbolischer Kraft ausgestattet und eine Art von Kriegswundern geschaffen, die man in der Geschichte anderer Nationen nicht finden könnte. (P, 945)

Zu Recht bemerkt er die Beteiligung des nationalen, kirchlichen und militärischen Faktors an diesen Feierlichkeiten und warnt vor dem Hang der Polen zu »Festivitäten«, der einem jungen Staat gefährlich sei. Der Berichterstatter erzählt ohne jegliche Begeisterung von diesen militärischen und paramilitärischen Schülerparaden, die »wie eine kriegerische Bedrohung der nachbarlichen Welt« (P, 946) aussehen, vermutet aber, dass diese Paraden »eher für die Vergangenheit nachgeholt als für die Zukunft bestimmend zu sein« (P, 946) scheinen, worin er, wie es sich im September 1939 erweisen sollte, leider Recht behalten sollte. Er stellt diese Paraden neben solche in Moskau und Berlin und findet sie alles in allem unsympathisch. Besonders ärgert ihn, den in Gender-Fragen durchaus Konservativen, die Beteiligung von Frauen und insbesondere Schul-

294

Maria KáaĔska

mädchen an diesen Paraden, was sie angeblich um ihre sonst in Polen so anmutige Weiblichkeit bringe. Der scheinbar banale Anlass der Uniformität der Kleidung bringt ihn auf den Gedanken, »daß die Völker eigentlich einander gleichen (aber in ihren Fehlern) und daß sie wenig Grund haben, einander gram zu sein« (P, 948). Er spricht verständnisvoll von Polens »chronisch gewordener Auferstehungsfreude« (P, 948), warnt aber, dass »die nationalen und wehrhaften Schaustücke allerdings manchmal wie eine Herausforderung, wie die Manifestation einer nationalen Überheblichkeit« (P, 948) auf die Minderheiten wirken. Dieses wird dann in den bereits analysierten Reportagen über die ukrainische und deutsche Minderheit zum Ausdruck gebracht. Das Fehlen der jüdischen Minderheit kann, sieht man von einem eventuellen Tarnungsmanöver, das bei Roth nicht auszuschließen ist, ab, damit erklärt werden, dass er kurz davor seinen Zyklus Juden auf Wanderschaft veröffentlichte. Seine Beschreibung Polens ist voller Ambivalenzen, z. B. in dem Brief Das literarische Leben. Hier möchte er den deutschen Lesern die polnische Gegenwartsliteratur näher bringen, für die er immerhin zehn Namen nennt. Das Lob des polnischen Literaturlebens klingt an, das sich privat in Dichterzünften organisiert, wofür die Dichtertreffen auf dem Landgut des Grafen, Diplomaten und Schriftstellers Ludwik Hieronim Morstin in Páawowice einstehen. Von der Seite des Staates wird es durch die Erschaffung der Dichterakademie und Zuteilung von Stipendien gefördert. Besonders erfreulich findet er die von der polnischen romantischen Tradition und der Situation unter den Teilungen geheiligte Rolle des Dichters, der über die Seelen regiere.18 Er beneidet die polnischen Kollegen um die Schulklassen, die vor den Dichtern Gedichte vortragen und sie als große Autoritäten betrachten. Er kennt die Lage der polnischen Autoren recht gut und stellt fest, dass sie »außerhalb der Klassen, neben den Klassen« stehen (P, 956). Dies schreibt er der z. T. noch vorkapitalistischen Wirtschaft zu, in der das Buch nicht zur Ware reduziert wird, die mit anderen Waren konkurrieren muss. Zum Schluss drückt er die Befürchtung aus, dass sich dies auch in Polen ändern werde und die Schriftsteller ihren Rang als »Gewissen der Nation« einbüßen würden. Freilich konnte er nicht wissen, dass diese Änderung infolge der politischen Entwicklung eigentlich erst nach der Transformation des Jahres 1989 eintreten wird. In diesem Zyklus zeigt Roth mehr Aufgeschlossenheit für den polnischen Staat und seine historischen Bedingtheiten als in jenem aus dem Jahre 1924, aber auch in diesem Falle stößt ihn das rein Nationale ab19 und er redet den 18 19

Regierung der Seelen – ein stehender Begriff in der polnischen Kultur, der aus dem romantischen Drama Die Ahnenfeie (Dziady) von Adam Mickiewicz stammt. Vgl. die Bemerkung von Krzysztof LipiĔski: Joseph Roth als »polnischer Autor«. Seine Übersetzungen und seine Rezeption in Polen. In: Joseph Roth. Interpretation – Rezeption – Kritik. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions 1989, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Hg. von Michael Kessler und Fritz Hackert. 2. Aufl. Tübingen: Stauffenburg 1994 (Stauffenburg Colloquium; 15), S. 192.

Joseph Roth zum Nationalismus und zum nationalen Gedanken

295

Rechten der nationalen Minderheiten das Wort, nicht dem »Wirtsvolk«. Dabei lässt sich seine Auffassung der Nation und des Nationalismus als eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und keineswegs als etwas Natürliches feststellen. Ähnliches lässt sich an Roths Beziehung zum Zionismus, insbesondere in der Essayfolge Juden auf Wanderschaft beobachten. Der Schriftsteller sieht zwar ein, dass man sich angesichts der Tatsache, dass der moderne Nationalismus sich auf den territorialen Gedanken stützt und dass die Juden nirgendwo in Europa als Minderheit, geschweige denn als Ansiedler, willkommen sind, mit dem Gedanken an die Kolonialisierung Palästinas wird anfreunden müssen, aber er sieht darin einen Rückschritt, denn die Juden seien vor dreitausend Jahren eine Nation mit Nationalterritorium gewesen und hätten diese Phase der Geschichte längst überwunden. Am deutlichsten werden diese Ansichten in dem Eingangsessay dieser Sammlung, Ostjuden im Westen, artikuliert. Roth schildert darin die mentale und physische Kondition der Juden in Osteuropa und erklärt daraus die Anhängerschaft zahlreicher Ostjuden gegenüber der Idee des nationalen Judentums: Diesem Schicksal [eines Juden in der Diaspora – M. K.] entgeht man schwer. Und statt es zu fliehen, beschließen viele, sich ihm zu unterwerfen, indem sie ihr Judentum nicht nur nicht verleugnen, sondern sogar kräftig betonen und sich zu einer jüdischen »Nation« bekennen, über deren Bestand seit einigen Jahrzehnten kein Zweifel mehr ist und über deren »Berechtigung« unmöglich ein Streit entstehen kann, weil schon der Wille von einigen Millionen von Menschen genügt, eine »Nation« zu bilden, selbst, wenn sie früher nicht bestanden haben sollte. (J, 830)

Auf diese Weise lässt Roth klar erkennen, dass er den Gedanken von Benedict Anderson bestimmt teilen würde, dass die Nation etwas Imaginiertes, Erfundenes und auf Grund allgemeinen Einvernehmens Beschlossenes ist.20 Ernst Gellner wiederum betrachtete zwar den Willen einer Gemeinschaft, sich zu einer Nation zu erklären, als nicht hinreichend, aber doch als notwendig, damit dieser Gründungsakt vollzogen wurde.21 Roth nennt den Nationalgedanken einen westlichen: »Den Begriff ›Nation‹ haben westeuropäische Gelehrte erfunden22 und zu erklären versucht« (J, 834). Und als Pendant dazu erklärt er zum Zionismus: »Ja, Zionismus und Nationalitätsbegriff sind im Wesen westeuropäisch, wenn auch nicht im Ziele. Nur im Orient leben noch Menschen, die sich um ihre ›Nationalität ‹, das heißt um die Zugehörigkeit zu einer ›Nation‹ nach westeuropäischen Begriffen, nicht kümmern« (J, 834). Zwar ist seine Sicht, wie wohl auch unsere noch, eurozentrisch, während etwa Benedict Anderson die Geburt des nationalen Gedankens gerade in den beiden Amerikas findet,23 aber es wäre ein Anachronismus, 20 21 22 23

Vgl. Anderson,Wspólnoty (wie Anm. 8), S. 19–20. Vgl. Gellner, Narody i nacjonalizm (wie Anm. 14), S. 83. Hervorhebung v. Verf. Vgl. Anderson, Wspólnoty (wie Anm. 8), S. 58ff.

296

Maria KáaĔska

dieses Wissen von ihm zu verlangen, während seine Vorstellungen von der natürlichen Sorglosigkeit in Bezug auf das »Nationale« bei Völkern im »Naturzustand« oder auch Feudalismus durchaus richtig sind. Er weist zu Recht darauf hin, dass der Zionismus in Wien und von einem österreichischen Journalisten begründet wurde.24 In diesem Zusammenhang reflektiert Roth über die Habsburgermonarchie und ihren Parlamentarismus als den Ort, wo der moderne Nationalismus mitentwickelt wurde. Die Schuld daran sieht er in der Unfähigkeit der österreichischen Regierung(en) der Zeit der Monarchie, ihren Staatsbürgern Rechte und Freiheiten zu gewähren, die unveräußerliche Menschenrechte sind, um die dann die Vertreter der einzelnen Ethnien als Vertreter von Nationen im Parlament gekämpft hätten: Die alte österreichisch-ungarische Monarchie lieferte den scheinbar praktischen Beweis für die Nationalitätentheorie. Das heißt, sie hätte den Beweis für das Gegenteil dieser Theorie liefern können, wenn sie gut regiert worden wäre. Die Unfähigkeit ihrer Regierungen lieferte den praktischen Beweis für eine Theorie, die also durch einen Irrtum entstand und sich durchgesetzt hat, dank den Irrtümern. (J, 834)

Die Juden in der Diaspora haben zwar die oft problematische Möglichkeit gehabt, sich zu assimilieren oder mindestens kulturell an die Mehrheit anzupassen, doch diese Lösung findet Roth, selbst ein bewusst mit der deutschen Kultur assimilierter Ostjude,25 nicht zufriedenstellend, da die »Wirtsvölker« den Ankömmling meistens nicht vollständig akzeptieren, weiterhin als »fremd« empfinden, auch wenn er bereit ist, einen hohen Preis für die Eingliederung in die neue Gesellschaft zu zahlen. Anderseits überlegt Roth, ob dieser Preis nicht zu hoch wäre, denn man hätte von den Juden zunächst einmal verlangt, ihr blutiges Lebensopfer in Kriegen hinzubringen: Sie haben kein »Vaterland«, die Juden, aber jedes Land, in dem sie wohnen und Steuern zahlen, verlangt von ihnen Patriotismus und Heldentod und wirft ihnen vor, daß sie nicht gerne sterben. In dieser Lage ist der Zionismus wirklich noch der einzige Ausweg: wenn schon Patriotismus, dann lieber einer für das eigene Land. (J, 837)

Viele Juden hätten seines Erachtens den nationalen Gedanken aufgegriffen, ohne Zionisten zu sein oder auf jeden Fall ohne direkt die Kolonisierung Palästinas anzustreben. (Das stimmt freilich mit der historischen Wirklichkeit überein.) Diese haben sich als nationale Minoritäten deklariert und kämpften innerhalb der parlamentarischen Systeme der Wirtsvölker um ihre Rechte. Er erinnert an den Versailler Vertrag und den seiner Meinung nach zweifelhaften Fortschritt, die jüdische Nationalität und ihre Rechte innerhalb europäischer

24 25

Theodor Herzl wurde zwar in Budapest geboren, war aber ein österreichisch akkulturierter Jude. Vgl. Bronsen, Joseph Roth (wie Anm. 2), S. 82.

Joseph Roth zum Nationalismus und zum nationalen Gedanken

297

Staaten anzuerkennen. Denn selbst, wenn sie alle diese Rechte einer Minorität erlangen würden, erhebe sich die Frage, […] ob sie nicht mehr sind als eine »Nation«, wie man sie in Europa versteht; und ob sie nicht einen Anspruch auf viel Wichtigeres aufgeben, wenn sie den auf »nationale Rechte« erheben. Welch ein Glück, eine »Nation« zu sein, nachdem man schon vor dreitausend Jahren eine »Nation« gewesen ist und »heilige Kriege« geführt und »große Zeiten« erlebt hat. (J, 835)

Er meint, dass die Juden etwas mehr als eine Nation seien, in dem Sinne, in dem er etwa im Roman Die Kapuzinergruft die österreichischen Staatsbürger der Habsburgermonarchie eine »Übernation« nennt.26 Jede der Ethnien der Habsburgermonarchie hätte sich auf die »Erde«, die sog. »Scholle« berufen. Nur die Juden vermochten es nicht und waren bei den nationalen Zwistigkeiten des Staates der Sündenbock, der Dritte, der nicht gewinnt, sondern verliert, wenn zwei miteinander kämpfen. Das von Roth in diesem Zusammenhang nicht genannte Paradebeispiel ist der Lemberger Pogrom anlässlich des polnisch-ukrainischen Krieges um die Stadt.27 Die Juden seien immer »Menschen im Exil« gewesen, in der Bedeutung von ›Diaspora‹, jetzt seien sie »eine Nation im Exil« (J, 835), was der Erzähler offensichtlich bedauert. Denn es ist gewiß nicht der Sinn der Welt, aus »Nationen« zu bestehen und aus Vaterländern, die selbst wenn sie wirklich nur ihre kulturelle Eigenart bewahren wollen, noch nicht das Recht hätten, auch nur ein einziges Menschenleben zu opfern (J, 837).

Einige Jahre vor den Verfolgungen der Nazizeit und dem damit verbundenen massenhaften Exodus aus Europa stellt der Schriftsteller traurig fest: »Der Jude hat ein Recht auf Palästina, nicht weil er aus diesem Lande kommt, sondern weil ihn kein anderes Land will«. (J, 836). Roth hatte die traurige Gelegenheit, in der »Vorrede zur geplanten Neuauflage« im Jahre 1937 diesen Gedanken von dem Sich-Verschließen der Staaten jüdischen Flüchtlingen gegenüber zu entwickeln. In der Auflage aus dem Jahre 1927 nennt er zuerst die Vorzüge der eigenen Heimat in Palästina, die nun endlich den Juden Leben, Gesundheit, persönliche Freiheit usw. zusichern würde. Anerkennend spricht er von den landwirtschaftlichen Fortschritten der Chaluzim, mit Bedauern wiederum davon, dass sie nicht nur das Land bebauen, sondern auch mit den Arabern kämpfen müssen. Mit sehr viel Sensibilität sieht er, dass die Juden sich mit den Arabern vertragen müssten, die ihrerseits ein Anrecht auf alle 26 27

Vgl. Joseph Roth: Die Kapuzinergruft. In: Roth, Werke (wie Anm. 1), 6, S. 337. Vgl. z. B. (Red.): Najnowsze dzieje ĩydów w Polsce w zarysie (do 1950 roku) (Jüngste Geschichte der Juden in Polen im Abriss, bis zum Jahre 1950), Kap. Niepodlegáa Rzeczpospolita. Hg. von Jerzy Tomaszewski. Warszawa: Wydawn. Naukowe PWN 1993, S. 146.

298

Maria KáaĔska

diese Menschenrechte, ihren Boden eingerechnet, haben. Er sieht den Kern des Konflikts nicht oder auf jeden Fall nicht nur in dem national-ökonomischen Antagonismus zwischen den Eingesessenen und den Neuankömmlingen, sondern vor allem darin, dass der europäische Jude in Palästina als »Kulturträger« (J, 836) wie jeder Europäer fungiere. Er spricht sogar vom »europäischen Kainszeichen« (J, 837), worunter offensichtlich das Aufdrängen der fremden Kultur, vor allem aber der Technik und Zivilisation verstanden wird, aber auch die Vollstreckung fremder politischer und ökonomischer Interessen durch die neuen Ansiedler. Offensichtlich meinte er damit die europäische Kolonialpolitik den sog. unterentwickelten Ländern gegenüber. Das sind überraschend nüchterne und moderne Gedanken anno 1927, die durch die Darstellung der Projizierung des europäischen Nationalismus auf die Araber ebenfalls den Keim des endlosen Nahostkrieges prospektiv erklären. Im Falle der Juden bildet nach der Ansicht Roths, der darin mit den meisten Vertretern dieser »Abstammungsgemeinschaft«28 übereinstimmt, nicht der Boden, sondern die Idee, und zwar Religion und Tradition den geistigen Zusammenhalt, das unsichtbare, doch sehr starke Band, das sie verbindet. Er sieht die jüdische, insbesondere ostjüdische Gemeinschaft in dieser Hinsicht als vorbildlich an, wie er es auch in der rückwärtsgewandten Utopie der Habsburgermonarchie sieht. Somit bedauert er die Notwendigkeit des Zionismus als einen Rückfall in eine frühere Phase der Geschichte, so wie er der Habsburgermonarchie nachtrauert, obwohl er diese Entwicklung im Judentum eben als Notwendigkeit respektiert. Selbst in seiner Vorrede zur geplanten Neuauflage der Juden auf Wanderschaft aus dem Jahre 1937, als das Dritte Reich bereits in seinem 5. Lebensjahr war, und die Lage der Juden in Deutschland immer unerträglicher wurde, nennt Roth den Zionismus »nur eine Teillösung der Judenfrage« (J, 902). Ich habe mit meinem Text gemäß dem Anliegen unserer Tagung implizite zu überprüfen versucht, ob der Gedanke Joseph Roths für uns hic et nunc eine Bedeutung behalten hat, oder ob er nur eine »rückwärts gewandte Utopie« vertreten hat. Zweifellos sind manche seiner Gedanken, wie sein Kult der autarken landwirtschaftlichen Gesellschaft oder seine Abneigung gegen technischen Fortschritt konservativ und vergangenheitsnostalgisch. Vieles ist aber an seinen national-politischen Überlegungen überraschend zutreffend und aktuell. Das zukunftweisende Fazit kann also lauten, dass Roth nationale Staaten als einen Anachronismus betrachtete und nicht nur den Schutz der Minderheiten postulierte, sondern auch in übernationalen bzw. multinationalen Organismen die Zukunft Europas sah. Die Frage, ob es in der Zukunft Nationen geben wird, ist zwar noch nicht entschieden, heute werden eher Auswüchse 28

Ein Terminus von Wolfdieter Bihl, verwendet in: Die Juden. In: Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Hg. von Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch. Bd 3: Die Völker des Reiches. Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1980, S. 880.

Joseph Roth zum Nationalismus und zum nationalen Gedanken

299

des Nationalismus und nicht das Nationalgefühl selbst verurteilt, aber die Tendenz zur Vereinigung zu größeren übernationalen Gebilden, so deutlich in der Europäischen Union, obwohl diese (zu) viel Aufmerksamkeit der Ökonomie und zu wenig der Kultur zuwendet, ist offensichtlich vorhanden, und man sollte auch die bisher vorgeschlagenen Lösungen erwägen, darunter auch die Rothsche Idee einer Rekonstruktion des Modells einer modernen »Habsburgermonarchie«, die aber die Bedürfnisse aller Bürger erfüllen würde.

Zur Rezeption und Forschung

Christoph Parry

Joseph Roth in den Augen der Nachwelt Migration, Mythos, Melancholie

I

Einleitung

Joseph Roth gehört zu den Schriftstellern, deren Namen mit sehr festen Vorstellungen verbunden sind. Im Folgenden sollen einige dieser Vorstellungen anhand ausgewählter Lesarten aus verschiedenen Jahrzehnten genauer unter die Lupe genommen werden. Dabei soll weniger Roths Werk als das nachhaltige Image dieses Werks im Mittelpunkt stehen, und die theoretische Grundlage dazu liefert paradoxer Weise die zum Bonmot avancierte Erkenntnis Roland Barthes vom Tod des Autors. Erst die in der poststrukturalistischen Diskussion von Barthes und Foucault vorgenommene Umkehr des Verhältnisses von Werk und Autor liefert eine angemessene theoretische Grundlage für die Beschreibung des Phänomens ›Joseph Roth‹, wie es in den Augen der Nachwelt erscheint. Demnach wird in Umkehr der scheinbaren Kausalität, aber in kluger Anerkennung der Reihenfolge, in der öffentliche Wirkung erzeugt wird, der Autor erst Autor, wenn ein gewisses Opus vorliegt. Auch Foucault sieht Autorschaft als Funktion, bezogen auf das Werk, eine Funktion, die speziell vom Namen des Autors ausgeübt wird. Denn mit dem Autornamen wird eine bestimmte Diskursmasse – die Werke eines Schriftstellers – zu einer besonderen Einheit zusammengebunden, nämlich zu einem »Werk«.1 Im Falle Joseph Roths steht der Autorname auch für etwas anderes. Er steht, wie man verschiedensten Würdigungen des Autors entnehmen kann, auch für ein bestimmtes Bild von Europa, in das reale Vergangenheit und die utopische Vision einer möglichen Welt auf vielleicht einmalige Weise zusammenfließen. Bei Roth speist sich das Wissen, wenn man von den anekdotischen Klischees über sein Trinken und seine Unsesshaftigkeit einmal absieht, aus dem Inhalt und vor allem aus dem Kolorit und den Milieus seiner Werke. Und diese sind bei ihm durchaus exotisch. Roths Werk führt seine Leser mal in die Weiten Russlands, mal in das Shtetl und das Leben des osteuropäischen Judentums, und mal ins Offizierskasino des k. und k. österreichischen Heeres. Diese im Werk angelegten kulturgeographischen Fixpunkte gehören zu den Konnotationen, die der Name Joseph Roths hervorruft. Vielleicht ist auch das Anekdotische, dem ja eine 1

Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. München: Nymphenburger 1974, S. 7–31, hier S. 15.

304

Christoph Parry

Selbstinszenierung im Sinne einer Steigerung der Schriftstellerrolle zugrunde liegt, wie die Romane eine Projektion, die den Blick auf den wirklichen Autor, den man theoretisch ohnehin nicht in den Blick bekommen kann, absichtsvoll verschleiern soll. Zeugen berichten von Roth als einem Erzähler, der im Kaffeehaus ebenso wenig vor Fiktionen zurückscheute wie auf den Seiten seiner Romane. Stellvertretend für viele sei hier der Freund und spätere Herausgeber von Roths Werken Hermann Kesten zitiert: … Kaffeehausfreunden und auch Intimeren erzählte Roth aus seinem Leben, Dichtung und Wahrheit, und machte daraus eine hundertfache Legende. Spottend der Polizeiseelenpedanterie und Menschenzählungsgrundlagen und amtlichen Fragebogen, mischte er seine Fabeln so willkürlich und vergnügt, daß jeder seiner Freunde andere Details und Anekdoten aus Roths Leben zu berichten weiß.2

Nicht umsonst ist Roth von David Bronsen als Mythomane bezeichnet worden. Doch hier soll es nicht um die Legende des »heiligen« Trinkers Roth gehen, sondern um Konnotationen, die mit seinem Namen als Autornamen verbunden sind.

II

Zur dreifachen Identitätsbestimmung von Joseph Roth

Beginnen möchte ich im ganz buchstäblichen Sinne mit dem Tod des Autors, d. h. mit dem Tod des Menschen Joseph Roth, der als Autor unsterblich blieb. Genauer geht es um die Trauerfeier in Paris und die berühmte Rede, die von seinem Freund Stefan Zweig gehalten wurde. Nun mag es vielleicht ungehörig erscheinen, als ersten Repräsentanten der Nachwelt gerade einen Zeitgenossen und Freund Roths zu wählen, einen zudem, der diesen nur um drei Jahre überlebte und dessen Freitod noch eindeutiger als der Tod Roths, als Resignation vor den Umständen der Zeit gedeutet werden muss. Zweigs Rede liefert jedoch bereits die zentralen Parameter der weiteren Roth-Rezeption. Der Kontext der Rede ist der den Verfasser wie seine Zuhörer gleichermaßen bedrückende Zustand Europas in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts und die Verzweiflung über den »Selbstmord« des Erdteils. Zweig hebt in der Trauerrede das Kosmopolitische an Joseph Roth hervor. Diese Eigenschaft steht für Zweig nicht erst am Ende eines Lebens, das Roth schrittweise immer weiter von seinen galizischen Wurzeln und schließlich in die westeuropäische Metropole Paris führte, sondern er führt sie gleich auf den Beginn zurück, auf die Herkunft Roths aus der Grenzregion zwischen Österreich und Russland zurück. Durch diese Herkunft ist für Zweig Roths Identität gleich dreifach bestimmt:

2

Hermann Kesten: Joseph Roth. Auf der Flucht vor dem Nichts. In: Der Monat 5 (1953), H. 59, S. 473–492, hier S. 473.

Joseph Roth in den Augen der Nachwelt

305

Es war in Joseph Roth ein russischer Mensch – ich möchte fast sagen ein Karamasow’scher Mensch –, ein Mann der großen Leidenschaften, ein Mann, der in allem das Äußerste versuchte: eine russische Inbrunst des Gefühls erfüllte ihn, eine tiefe Frömmigkeit, aber verhängnisvollerweise auch jener russische Trieb zur Selbstzerstörung. Und es war in Roth noch ein zweiter Mensch, der jüdische Mensch mit einer hellen, unheimlich wachen, kritischen Klugheit, ein Mensch der gerechten und darum milden Weisheit, der erschreckt und zugleich mit heimlicher Liebe dem wilden, dem russischen, dem dämonischen Menschen in sich zublickte. Und noch ein drittes Element war von jenem Ursprung in ihm wirksam: der österreichische Mensch, nobel und ritterlich in jeder Geste, ebenso verbindlich und bezaubernd im täglichen Wesen wie musisch und musikalisch in seiner Kunst. Nur diese einmalige und nicht wiederholbare Mischung erklärt mir die Einmaligkeit seines Wesens, seines Werkes.3

Zweig unternimmt hier eine dreiteilige Standortsbestimmung. Von den drei Punkten scheinen mir für die weitere Roth-Rezeption zumindest die zwei letztgenannten paradigmatisch: die kulturellen Wurzeln im Ost-Judentum und das Österreichische. In beiden Fällen geht es um Kulturzusammenhänge, die 1939 unwiederbringlich untergegangen sind, denen Roth jedoch mit seinem Werk jeweils Denkmäler gesetzt hat. Mit dem Hinweis auf das Russische, das Zweig an erster Stelle nennt, geht es nicht allein um die Herkunft. Trotz der Grenznähe von Roths Geburtsort Brody scheint es Zweig hier weniger um Geographie zu gehen als um einen bestimmten Habitus, den er bei Roth sieht. Dieser könnte geradezu einem russischen Roman entstammen. Und mit dem expliziten Hinweis auf die Romanwelt Dostojewskijs finden wir bereits in Zweigs Trauerrede die Idee des Mythomanen vorgeprägt. Roth ist nicht nur einer, der Bücher schrieb, sondern auch einer, der auf den Seiten eines Romans eher zuhause hätte sein können als in der Realität.4 Und tatsächlich verdanken wir manche Vorstellung, die wir vom Menschen Roth haben, seinem Auftritt als Romanfigur, als Vater in Irmgard Keuns Kind aller Länder. Einen ähnlichen Gedanken findet man später bei Claudio Magris, der in seiner großangelegten Studie Der Habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur den Einfluss des Russischen auf Roth in einem Atemzug mit dessen Judentum nennt und beide in einen Zusammenhang mit dem habsburgischen Mythos bringt: Der Einfluß des nahen Rußland, vor allem aber das jüdische Element, geben diesen Werken eine tief religiöse Note, die nie zum leeren Mystizismus wird, sondern das konkrete Geschehen durchdringt. Joseph Roths Habsburgischer Mythos ist jüdisch3

4

Stefan Zweig: Joseph Roth. In: Stefan Zweig: Europäisches Erbe. Hg. von Richard Friedenthal. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 267–280, hier S. 268. Wie Bronsen mitteilt, hat Roth nach seiner großen Russlandreise von 1926 angefangen, sich selber eine russische Abstammung zuzudichten. David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 301.

306

Christoph Parry

slawisch: in der Tat ist die leidgeprüfte, ruhelose und sehende Menschheit seiner geglücktesten Gestalten semitisch und semitisch ist auch ihr Erleben des Bösen.5

Es fällt auf, dass Magris in diesem Zitat genau dieselben drei Koordinaten nennt wie Zweig. Wie Magris die Elemente des Russischen und des Jüdischen mit dem Österreichischen verbindet, soll weiter unten genauer aufgeführt werden. Zunächst soll jedoch ein Blick auf die zweite von Zweig genannte Komponente von Roths Identität geworfen werden. Die zweite Identitätsbestimmung gibt das Jüdische ab. Als jüdische Eigenschaften nennt Zweig vor allem die Weisheit und eine gewisse Rationalität, die, ihm zufolge, Roths russisches Ich im Zaum hält. Zweig geht an anderer Stelle in seiner Rede ausführlich auf Roths Roman Hiob ein, in welchem, so Zweig »ein Teil von dem Wesen Joseph Roths […] für alle Zeit von Vergänglichkeit bewahrt« wurde. Damit meinte Zweig, wie er weiter ausführt, »den jüdischen Menschen […], den Menschen der ewigen Gottesfrage, den Menschen, der Gerechtigkeit fordert für diese unsere Welt und alle künftigen Welten«.6 Zweigs Rede folgt in etwa der Chronologie von Roths Leben, und nach diesen Bemerkungen über Hiob kommt er kaum noch auf das Jüdische zurück, denn zur Chronologie von Roths Leben gehört auch dessen späte demonstrative Zuwendung zum Katholizismus. Dieser Tatbestand war wohl Roths Freunden in den letzten Jahren seines Lebens viel deutlicher bewusst als seinen späteren Lesern, bei denen das Jüdische oft im Vordergrund der Überlegungen steht. Heinrich Böll, zum Beispiel, betont in einer Würdigung der ersten Werkausgabe Roths dessen Verbundenheit mit der jüdischen Tradition auf eindringlichste Weise und verbindet sie dann, ähnlich wie Zweig, fast im selben Atemzug mit dem Österreichischen: »Roth war älter: er war fünftausend Jahre alt: alle Weisheit des Judentums war in ihm, dessen Humor, dessen bitterer Realismus; alle Trauer Galiziens, alle Grazie und Melancholie Austrias, und Roth war ein Bohemien und ein Kavalier«.7 Der Aspekt des Jüdischen ist natürlich für Böll bereits in einem noch stärkeren Maße als bei Zweig mit dem Wissen um die Unwiederbringlichkeit der jüdischen Kultur Galiziens und des europäischen Ostens verbunden. Ganz explizit heißt es bei Böll weiter: [Roths Romane] führen in Welten, die es nicht mehr gibt: die Welt des Ostjudentums, so wie Roth sie im Hiob (1930) beschrieb, existierte noch bis 1940, in diesem Jahr drangen die Mörder ein, und der Korallenhändler Piczenik, Mendel Singer, sei5 6 7

Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg: Otto Müller 1966, S. 261. Zweig, Joseph Roth (wie Anm. 3), S. 273. Heinrich Böll: »Ein Denkmal für Joseph Roth. Über Joseph Roth, ›Werke in 3 Bänden‹«. In: Heinrich Böll Werke. Essayistische Schriften und Reden 1 1952–1963. Hg. von Bernd Balzer. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1978, S. 197–199, hier S. 197.

Joseph Roth in den Augen der Nachwelt

307

ne Frau Deborah – alle die zahllosen jüdischen Kinder, Männer und Frauen, sie sind in Auschwitz und Majdanek ermordet worden.8

Zwischen Zweigs Rede und Bölls kleiner Würdigung liegt die Realität des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust, eine Realität, von der sowohl Roth als auch Zweig eine gewisse Vorahnung besaßen, aber deren Ausmaß beide nicht ahnen konnten. So ist Joseph Roth für Böll, wie für die meisten Leser der Nachkriegszeit, als Repräsentant einer verschwundenen Welt mit dem Schicksal der Juden und folglich auch mit dem Judentum selbst zwangsläufig eindeutiger verbunden, als er es bei Zweig ist. Dieselbe Tendenz zeigt sich bereits in vielen Aufsatztiteln von Arbeiten zu Roth. Claudio Magris spricht vom ostjüdischen Odysseus;9 Hackert und Sebald führen beide den Begriff ›Kaddisch‹, das jüdische Totengebet, im Titel ihrer Aufsätze an.10 Was Roth im Bewusstsein der Nachwelt vor allem mit dem Schicksal des Judentums verbindet, ist die Erfahrung von Diaspora, Wanderschaft und Exil in allen Variationen. Diese prägt seinen Lebenslauf wie auch sein Werk, die Romane Die Flucht ohne Ende, Hotel Savoy und Hiob ebenso wie das essayistische Werk, und wird in Juden auf Wanderschaft direkt thematisiert. Dieser Aspekt wird denn auch in den Arbeiten über Roth immer wieder aufgegriffen, was sich ebenfalls in Überschriften wie »Wanderer zwischen drei Welten« (Otto Forst de Battaglia )11 widerspiegelt. Das dritte Element, das Zweig nennt, ist das Österreichische, das er, mit so positiven Eigenschaften wie Ritterlichkeit, Verbindlichkeit und Musikalität verbindet. Ähnliche Konnotationen erweckt auch Böll, wenn er Roth als »Kavalier« bezeichnet. Das Österreich, das sie meinen, gehört jedoch bereits zum Zeitpunkt von Zweigs Rede der »Welt von Gestern« an. Es existierte schon nicht mehr, als Roth von der Provinz in die Metropole Wien zog, und es ist ja auch eine Tatsache, dass Roth nach 1920 nicht mehr in Österreich lebte, sondern zunächst in Berlin, und dass er für die Frankfurter Zeitung schrieb. Zu einem Zeitpunkt, als ein großer Teil der Bevölkerung des auf seinen westlichen, deutschsprachigen Rumpf reduzierten Österreichs den Anschluss an Deutschland wünschte, lebt Roth selbstbewusst als Ausländer in Deutschland. 8 9 10

11

Ebd., S. 197f. Claudio Magris: Der ostjüdische Odysseus. In: Joseph Roth und die Tradition. Hg. von David Bronsen. Darmstadt: Agora 1975, S. 181–226. Fritz Hackert: Kaddisch und Misere. Untergangsweise eines jüdischen Katholiken. Joseph Roth im Exil. In: Joseph Roth. Werk und Wirkung. Hg. von Bernd M. Kaske. Bonn: Bouvier Verlag 1988. [Ursprünglich in: Die deutsche Exilliteratur 1933– 1945. Hg. von Manfred Durzak. Stuttgart: Reclam Verlag 1973, S.220–231] W. G. Sebald: Ein Kaddisch für Österreich. Über Joseph Roth. In: ders.: Unheimliche Heimat Essays zur österreichischen Literatur. 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 2003, S. 104–117. Otto Forst de Battaglia: »Wanderer zwischen drei Welten«. In: Bronsen (Hg.), Joseph Roth und die Tradition (wie Anm. 9), S. 77–86. [Ursprünglich in: Frankfurter Hefte 7 (1952), H. 6, S. 441–445.]

308

Christoph Parry

Was ihn von der Anpassung an die deutschen Verhältnisse abhielt, war der rabiate Antisemitismus.12 Doch den gab es auch im damaligen Österreich. Das real existierende Österreich der 20er und 30er Jahre ist offensichtlich auch nicht jenes Österreich, das Zweig in seiner Rede meint. Was Zweig meint, ist ein Österreich, das sein Gesicht in Romanen wie Roths Radetzkymarsch erhält. Es ist ein nur als Möglichkeit vorhandenes Österreich, in dem die drei von Zweig eingangs genannten Elemente eine fruchtbare Synthese hätten bilden können, wenn das wahre Potential der kulturellen Vielfalt der alten Donaumonarchie von ihren Herrschern erkannt und genutzt worden wären. Nach Zweig brachte Roth eine an der Peripherie erworbene Vorstellung von diesem Potential mit nach Wien: Er kam aus einem kleinen Städtchen, ich sagte es, und aus einer jüdischen Gemeinde am äußersten Rande Österreichs. Aber geheimnisvollerweise waren in unserem sonderbaren Österreich die eigentlichen Bekenner und Verteidiger Österreichs niemals in Wien zu finden, in der deutschsprechenden Hauptstadt, sondern immer nur an der äußersten Peripherie des Reiches, wo die Menschen die mild-nachlässige Herrschaft der Habsburger täglich vergleichen konnten mit der strafferen und minder humanen der Nachbarländer. In dem kleinen Städtchen, dem Joseph Roth entstammte, blickten die Juden dankbar hinüber nach Wien; dort wohnte, unerreichbar wie ein Gott in den Wolken, der alte, der uralte Kaiser Franz Joseph, und sie lobten und liebten in Ehrfurcht diesen fernen Kaiser wie eine Legende […]. Die Ehrfurcht vor dem Kaiser und seiner Armee hat sich Roth also schon als den Mythos seiner Kindheit aus seiner östlichen Heimat nach Wien mitgenommen.13

Nicht von Ungefähr taucht hier schon bei Zweig das Wort Mythos auf, denn es handelt sich wirklich um ein mythisches Bild, um den habsburgischen Mythos, wie es Claudio Magris in den 60er Jahren analysieren wird. Streng genommen bilden alle drei kulturellen Wurzeln, die Stephan Zweig seinem Freund zuschreibt, letztendlich eher idealisiertes Potential für Romane, als gelebte Wirklichkeit. Das Russische, das Jüdische und das HabsburgischÖsterreichische werden in Roths Werk jeweils zum eigenen Leben erweckt, aber es ist ein märchenhaftes Leben, das mit der historischen Realität der besungenen Völker nicht unbedingt genau übereinstimmt. Das scheint jedoch nicht den Eindruck zu beeinträchtigen, den das Werk auf seine Leser gemacht hat.

III

Joseph Roth und der habsburgische Mythos

Eine mehrfache Identitätsbestimmung, ähnlich der in Zweigs Trauerrede vorgenommenen, erfährt Roth auch beim österreichischen Kulturhistoriker Otto Forst de Battaglia in seinem Beitrag von 1952. Die Dreiteilung erscheint be12 13

Vgl. Hackert, Kaddisch (wie Anm. 10), S. 71f. Zweig, Joseph Roth (wie Anm. 3), S. 268f.

Joseph Roth in den Augen der Nachwelt

309

reits im Titel des Beitrags, Wanderer zwischen drei Welten, doch auch wenn diese Dreiteilung dieselbe rhetorische Geste wie bei Zweig darstellt, ist sie inhaltlich nicht ganz dieselbe, denn sie rückt die seelisch-geographischen Koordinaten ein Stück nach Westen. Roths drei Welten folgen bei Forst de Battaglia dem Lebenslauf. Nach einer kurzen, aber für die weitere Argumentation wichtigen Darstellung des Geburtsortes Brody, fasst Forst de Battaglia die Koordinaten von Roths Leben wie folgt zusammen: Und hier [in Brody] ist der österreichische Dichter, der große deutsche Schriftsteller, der liebende dankbare Gast im französischen Raum, der ewig wandernde, nie eingewurzelte, stets nach einer Heimat begehrende Jude Joseph Roth geboren, der im bald darauf untergehenden Habsburgerreich und dann im Schoße der Katholischen Kirche sich geborgen glaubte.14

Streng genommen werden hier Roth fünf divergierende identitätsbestimmende Aspekte zugesprochen. Er war demnach Österreicher, deutscher Schriftsteller, zufriedener Emigrant in Frankreich, ewig wandernder Jude und Katholik. Es fällt auf, dass sich nicht alle diese Rollen miteinander vereinbaren lassen. Interessant ist insbesondere die Aufteilung in den österreichischen Dichter und den deutschen Schriftsteller. Soll das heißen, dass Roth als Dichter eher seinen Kulturkreis vertritt und als Schriftsteller seine Sprache? Die einführende Darstellung des Geburtsortes Roths, Brody, macht deutlich, dass auch Forst de Battaglia in seinem Bild des alten Österreichs das einmalige kulturelle Potential betont, wo die deutschsprachige Kultur und Literatur in einem multikulturellen Umfeld besonders gepflegt werden: Was dagegen die Rolle der wolhynischen Handelsmetropole als Feste des Deutschtums betrifft, so sind einige Anmerkungen dringend nötig. Der Gast aus dem Reich hätte sich in den »aufgeklärten« Israeliten, die da am Gymnasium für Lessing und Schiller begeistert wurden, kaum wiedererkannt. […] Es war weniger das deutsche Wesen, an dem die sich Weltleute Dünkenden hier zu genesen suchten, denn das österreichische schwarzgelbe, kaiserliche, habsburgische, für das die deutsche Sprache ein verbindendes Glied zwischen einem Dutzend Nationen bedeutete, und dem die deutsche Kultur ein Kleid sein mochte, in das gehüllt man Einlaß in den vornehmen Kreis der europäischen Völkerfamilie fand.15

Dass bei dieser Kulturpflege der jüdische Bevölkerungsteil in besonderem Maße beteiligt war, gilt nicht nur für Brody, sondern überhaupt für die ehemalige österreichische Peripherie.16 Darauf macht auch Zweig in seiner Trauerrede aufmerksam:

14 15 16

Forst de Battaglia, Wanderer (wie Anm. 11), S. 77f. Ebd. S. 77. Dasselbe gilt zum Beispiel für das kulturelle Leben in der Bukowina bis in die Jahre von Paul Celans Jugend hinein. Vgl. z. B. Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983.

310

Christoph Parry

Aber von all ihren [der Nazis] Lügen ist vielleicht keine verlogener, gemeiner und wahrheitswidriger als die, dass die Juden in Deutschland jemals Haß oder Feindseligkeit geäußert hätten wider die deutsche Kultur. Im Gegenteil, gerade in Österreich konnte man unwidersprechlich gewahren, dass in all jenen Randgebieten, wo der Bestand der deutschen Sprache bedroht war, die Pflege der deutschen Kultur einzig und allein von Juden aufrechterhalten wurde.17

Die Symbiose von deutschsprachiger Kultur und ethnischer Vielfalt bildet den Kern dessen, was Claudio Magris als den »Habsburgischen Mythos« bezeichnet. Dass das kulturelle Leben vieler Provinzen des weiten Habsburgerreiches eine solche Symbiose kannte, entspricht der historischen Realität. Dass sich daraus der Kern einer sich gegen die Ansprüche der einzelnen Nationalitäten stemmenden gemeinsamen österreichischen Identität ergeben hätte, ist eher Mythos und, wie Magris argumentiert, das Produkt nachträglicher literarischer Rekonstruktion. Im Habsburgischen Mythos macht Magris Roth zum Kronzeugen seiner These. Roth wird dort die Verantwortung für die nachträgliche Aufwertung der Monarchie und des Kaisers als über dem Politischen stehender Hüter seiner Völker zugesprochen. Magris widmet Roth nicht nur einen längeren Abschnitt, sondern lässt ihn gleich im Vorwort mit mehreren Zitaten aus dem Radetzkymarsch zu Wort kommen, wodurch er ihn quasi zum Urheber des Mythos macht. Roths Darstellung und Meinungen zur untergegangenen Habsburger Monarchie eignen sich ja auch besser zur Beschreibung eines Mythos als zur Darstellung historischer Realität, denn sie weichen von dieser in ihrer Grundtendenz ab und vertreten mit Nachdruck eine Idee von dem, was Österreich hätte sein können, wenn es eine andere Politik betrieben hätte. Die Diskrepanz zwischen dieser Idee und der politischen Realität zeigt sich schon darin, dass Roths Blick auf den Habsburgerstaat von seinem Rand her bestimmt ist. Nach Magris ist die »Dimension des Kaiserreichs, die Roth vermittelt, […] typisch slawisch-föderalistischer, peripherer Art«.18 Zu Roths Wunschbild gehört es, dass der Kaiser im Ernst an »seine Völker« gedacht hätte, wie es in der Deklaration zu Beginn des I. Weltkrieges hieß, statt im Bündnis mit Deutschland eine anachronistische Großmachtpolitik zu betreiben. Die Hofburg sah diese Völker in Wirklichkeit zunehmend als Problem. Für Roth waren jedoch nicht die Nationalitäten, sondern der Nationalismus das Problem und daran hat seine späte, von vielen als reaktionär gesehene Wendung zum habsburgischen Legitimismus nichts geändert. Das Donaureich hätte, wenn es bewusster geführt worden wäre, eine Alternative zum Nationalismus darstellen können. In Juden auf Wanderschaft führt Roth diesen Gedanken aus, wobei er sich keine Illusionen über die politische Realität macht:

17 18

Zweig, Joseph Roth (wie Anm. 3), S. 269. Magris, Der habsburgische Mythos (wie Anm. 5), S. 260.

Joseph Roth in den Augen der Nachwelt

311

Den Begriff »Nation« haben westeuropäische Gelehrte erfunden und zu erklären versucht. Die alte österreichisch-ungarische Monarchie lieferte den scheinbar praktischen Beweis für die Nationalitäten-Theorie. Das heißt, sie hätte den Beweis für das Gegenteil dieser Theorie liefern können, wenn sie gut regiert worden wäre. Die Unfähigkeit ihrer Regierungen lieferte den praktischen Beweis für eine Theorie, die also durch einen Irrtum erhärtet wurde und sich durchgesetzt hat, dank den Irrtümern.19

Eine Folge dieses Irrtums, so gibt Roth gleich im Anschluss zu verstehen, ist der Zionismus, der in Wien entstanden ist, und diesen lehnte Roth bekanntlich vehement ab. In einem Brief an Stefan Zweig stellte Roth den Zionismus in die unmittelbare Nachbarschaft des Nationalsozialismus.20 Nach nahezu zwei Jahrtausenden Diaspora steht das Bestreben nach einer bestimmten geographischen Heimat im Widerspruch zur existenziellen Heimat der Juden. Roths Ablehnung des Zionismus ist aus der Sicht des Kosmopoliten und Europäers Teil seiner Abneigung gegen jeden Nationalismus. Für Roth hätte die Verwandlung der Juden in ein beliebiges Staatsvolk einen endgültigen Identitätsverlust bedeutet. Aus dem Eintritt der Juden in die Geschichte der Nationen versprach sich Roth nichts Gutes. Das erkennt auch Claudio Magris in seinem größeren Aufsatz über Roth »Der ostjüdische Odysseus«, wenn er schreibt: »Für Roth bedeutet Geschichte Zerstreuung, Exil: und im Exil kann jede neue Veränderung nur eine neue Flucht aus Ägypten sein, eine neue Zerstreuung oder ein neuer Pogrom«.21 Zuflucht suchte Roth als Europäer und Jude in einem Österreich-Ungarn, das es inzwischen nicht mehr gab, und so wie er und andere es sich nachträglich vorstellten, nie gegeben hatte. An den Tischen Pariser Cafés und anderswo schreibend, so die von Zeugen und Kommentatoren verbreitete romantisierte Vorstellung vom Autor Roth, ließ sich diese unmögliche Heimat als Mythos konstruieren.

IV

Joseph Roth als barocker Melancholiker

Um unmögliche oder auch unheimliche Heimat geht es durchgehend im Werk von W. G. Sebald, sowohl in seiner literarischen Produktion als auch in seinen literaturkritischen Arbeiten. Mit Joseph Roth hat sich Sebald zwei Jahrzehnte nach Magris beschäftigt. Auch Sebalds Aufsatz führt die Grundthemen der Roth-Rezeption, die Welt des galizischen Judentums, das alte Österreich und den Untergang beider zu19 20 21

Joseph Roth: Werke. Erweiterte Ausgabe in 4 Bdn. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1976, Bd 3, S. 301. Brief vom 14.8.1935 in: Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. von Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 421. Magris, Der ostjüdische Odysseus (wie Anm. 9), S. 182f.

312

Christoph Parry

sammen. Er führt sie sogar auf dichteste Weise zusammen, und zwar bereits im Titel, »Ein Kaddisch für Österreich«. Die Betonung liegt aber bei Sebald, stärker noch als bei den anderen hier genannten Kommentatoren, auf die Tatsache des Untergangs der beiden Welten, die für Roth, wie Sebald mit einem wichtigen Zitat gleich zu Beginn seines Aufsatzes belegt, mit dem Verlust der Kindheit zusammenfällt. Roths Satz von 1929, wonach das Habsburgerreich »so vollkommen, so für immer [versank], wie die armselige, mit dem Imperium nicht zu vergleichenden Kindheit eines Untertanen« kommentiert Sebald wie folgt: »Offenkundig wird in dieser Gleichsetzung eines verlorenen Reichs mit der verlorenen Kindheit die für den Melancholiker Roth charakteristische affektive Bindung an die erlittenen Niederlagen und Einbußen«.22 Mit dieser psychologisierenden Interpretation rekrutiert Sebald den Mythomanen Joseph Roth in die Reihe der Melancholiker, die seine ganze literarische Produktion bevölkern, und lenkt zugleich vom politischen Motiv für Roths mit den Jahren immer stärker werdenden Sehnsucht nach dem untergegangenen Donaureich, dem Widerstand gegen die Idiotie des Nationalismus und dessen Ausartung im Faschismus, ab. Die Akzentverschiebung, die Sebalds Rezeption von früheren Darstellungen abhebt, lässt sich an der Behandlung des Romans Radetzkymarsch ablesen. Der kommende Untergang des Habsburgerreichs ist natürlich der Subtext, vor dessen Hintergrund der Roman gelesen werden muss. Das sieht auch Sebald so. Dass dieser Staat an seinen nationalen Unverträglichkeiten zugrunde ging, wird mehrfach explizit in Roths Text deutlich. Das zeigt sich zum Beispiel an der inneren Zerrissenheit des Offizierskorps, wenn die Offiziere bei der Nachricht vom Attentat von Sarajevo anfangen, in ihren jeweiligen Muttersprachen zu schimpfen, und am deutlichsten in den politisch analytischen Reden Graf Chojnickis. Sebald bemerkt zwar zurecht, dass Roth im Radetzkymarsch das alte Österreich nicht idealisiert. Im Gegenteil, der Roman ist nach Sebald »als die Geschichte eines irreversiblen Debakels eindeutig ein Roman der Desillusionierung«.23 In seiner Lektüre dominiert jedoch eine andere Ebene. Wörtlich zitiert Sebald nur einen Satz Chojnickis, welcher lautet: »Wir alle leben nicht mehr«.24 Doch genau dieser eine Satz zeigt, worum es Sebald bei seiner Interpretation des Romans geht, denn im Anschluss an das Zitat geht Sebald ausführlich auf die Szene im Roman ein, wo Carl Joseph von Trotta der Fronleichnamsprozession in Wien beiwohnt. In einer Passage, die Sebalds eigene literarische Verfahrensweise verrät, bietet er eine Nacherzählung der Szene und unterstreicht zugleich die ganze Todessymbolik im Roman. Wenig später geht Sebald noch weiter, wenn er Roths Darstellung des greisen Kaisers behandelt. Während Roth schon den Zustand des alten Kaisers als 22 23 24

Sebald, Kaddisch (wie Anm. 10), S. 104. Ebd., S. 107. Ebd., S. 108.

Joseph Roth in den Augen der Nachwelt

313

Art Entropie darstellt, in der die Zeit und das Zeitliche bereits aufgehoben sind, macht Sebald den Kaiser explizit zur lebendigen Leiche und schlägt eine Brücke zu Benjamins Ansichten über die emblematische Funktion der Leiche als Allegorisierung der Physis im barocken Trauerspiel.25 Über den Kaiser, der sich selber überlebt hat, und dessen Verhältnis zum Staatswesen, dem er vorsteht, schreibt Sebald: Eine ebensolche emblematische Allegorisierung haben wir in der Verwandlung Franz Josephs in einen der Zeit enthobenen, nur eine Art Nachleben noch feiernden Körper vor uns. Im Verhältnis zu dem großen vielgliedrigen und vielfarbigen politischen Leib der Monarchie kommt diesem fast auf seine anorganische Substanz reduzierten Corpus der Status einer Reliquie zu, an der das Eingedenken sich übt.26

Diese Interpretation mag einerseits noch durchaus im Sinne Roths sein, aber sie leitet zugleich direkt in Sebalds eigene Poetik über. Man denke an die prominente Rolle von Thomas Brownes Urn Burial, und Rembrandts Darstellung der Anatomievorlesung des Doktor Tulp in den Ringen des Saturn. Mit dem ins Morbide gesteigerte Bild des alten Kaisers und dem Verweis auf die barocke Todesemblematik wird Roths Roman in Sebalds Lesart der Weltgeschichte enthoben und Sebalds eigenem, Walter Benjamin entlehntem Begriff der »Naturgeschichte« untergeordnet. So macht Sebald Roth zum Mitstreiter seiner eigenen Poetik. Das Werk Roths bietet zusammen mit der Bewegtheit seines Lebens und den Legenden um seine Person genügend Leerstellen, um von späteren Lesern im jeweils eigenen Sinne interpretiert werden zu können. Für die einen ist er letztendlich doch ein jüdischer Schriftsteller, für andere ein barocker Melancholiker. Worin sich die Bilder zu treffen scheinen ist jedoch Roths Schlüsselstellung in der Entfaltung des habsburgischen Mythos als Gegenentwurf zum Gang der Geschichte im 20. Jahrhundert.

25 26

Ebd., S. 110. Ebd., S. 110f.

Tanja Žigon

Zur Rezeption Joseph Roths in Slowenien »Ein bei uns bisher unbekannter Autor, ein österreichischer Schriftsteller aus halbvergangener Zeit […]«1

Dem Vorabdruck seines 1932 erschienenen Romans Radetzkymarsch stellte Joseph Roth u. a. den folgenden Satz voran: »Ein grausamer Wille der Geschichte hat mein altes Vaterland, die österreichisch-ungarische Monarchie, zertrümmert«.2 In diesem Sinne ist Roths Prosa einerseits ein wehmütiger Abschied von einer vergangenen Epoche, andererseits aber eine utopische Wiedererweckung des alten Vaterlands, das er liebte. Er war ein hervorragender Meister der Beobachtung, dessen Texte auch heute noch, in einer anderen, globalisierten Zeit, dank ihrer Ausdruckskraft, deutlicher Beschreibung und Genauigkeit der Darstellung verblüffen. So wie Franz Werfel (1890–1945) oder Robert Musil (1880–1942), der zwar sarkastischer, jedoch nicht weniger nostalgisch als Roth und Werfel war, porträtiert auch Roth in seinen Werken das »sehnsuchtsvoll-verführerische Antlitz der Austria felix«.3 Roths sozialkritische und sozial engagierte Texte aus den früheren Jahren, in denen er sich ausgesprochen monarchiekritisch zeigte, wurden Mitte der Zwanzigerjahre zu einer nostalgischen Idealisierung der Habsburger Monarchie. Die Wandlung vom Sozialisten zum Monarchisten erfolgte als Antwort auf die drohende Gefahr des Nationalsozialismus, die Roth, aber auch viele seiner Zeitgenossen, fast hellseherisch ahnte. In seiner anachronistischen Gedankenwelt blieb er bis zu seinem Tod der monarchischen Idee treu und wurde mit seiner Verherrlichung des kaiserlichen Hauses und der Monarchie immer mehr zum Relikt vergangener Zeiten. Doch muss man in diesem Kontext hervorheben, dass gerade diese versunkene, verlorene Welt nach ihrem Zusammenbruch bei vielen Nationen, auch bei Slowenen, Nostalgien weckte. »Kakanien« war – obwohl das nicht der Realität entsprach – ein Symbol der idealistisch gerechten Welt – eines Staatsgebildes, in dem mehrere Sprachen und 1

2 3

Slowenisch: »Pri nas doslej še neznani avtor, avstrijski pisatelj iz polpretekle dobe […]« So lautet wortwörtlich der einleitende Satz über Joseph Roth auf dem hinteren Buchdeckel des ersten übersetzten Werkes von Roth ins Slowenische Flucht ohne Ende im Jahr 1966 (Joseph Roth: Beg brez konca. Ljubljana: Mladinska knjiga 1966). Joseph Roth: Werke. Bd 4. Hg. von Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1976, S. 405. Vgl. Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien: Paul Zsolnay 2000, S. 11.

316

Tanja Žigon

mehrere Nationen neben- und miteinander leben und gedeihen konnten. Die Sehnsucht nach einem multinationalen Österreich-Ungarn ist aus der Sicht der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus und Faschismus, die das Dominieren einer Nation befürworteten, erklärbar. Die »slowenische Sehnsucht« nach den glorifizierten Zeiten, als die gesalbte Majestät noch in der Wiener Hofburg saß,4 um Joseph Roth zu paraphrasieren, ist damit unmittelbar mit dem politischen System der Nachkriegszeit verbunden, mit der neuen titoistischen Herrschaft mit einer omnipräsenten Geheimpolizei (UDBA) als verlängertem Arm des alles bestimmenden und über alles entscheidenden Bundes der Kommunisten Jugoslawiens. In diesem Regime war es beinahe sündhaft, sich mit einem Dichter zu beschäftigen, der sowohl Sozialist als auch Anarchist, sowohl ein Jude als auch ein Katholik, ein habsburgischer Legitimist und Monarchist war, schlicht gesagt ein Intellektueller, mit dem sich die herrschende politische Elite nicht identifizieren konnte. Trotzdem setzte das Interesse für Roths Werke im jugoslawischen Raum relativ früh ein.5 Nachdem der Autor nach 1945 im Allgemeinen in Vergessenheit geriet und erst 1956 mit der dreibändigen Roth-Ausgabe von Hermann Kesten wieder entdeckt wurde, erschien die erste serbokroatische Übersetzung bereits 1959 (Die Rebellion),6 ein Jahr danach folgte die Übersetzung des Romans Radetzkymarsch, 1962 des Romans Das falsche Gewicht und mit einigem Abstand als letztes noch die Übersetzung des Werkes Die Beichte eines Mörders erzählt in einer Nacht (1969). Weitere Ausgaben Roths auf Serbokroatisch erschienen erst in den Neunzigerjahren. Die erste slowenische RothÜbersetzung stammt aus dem Jahr 1966.

I Der Rezeptionsprozess Joseph Roths im slowenischen Raum gehört zu dem breiteren Rahmen der österreichisch-slowenischen literarischen Beziehungen. Sollte man Arthur Schnitzler (1862–1931) und Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) als die Vertreter der modernen österreichischen Literatur sehen, dann ist festzustellen, dass die Rezeption dieser Dichter in Slowenien sehr früh 4 5 6

Zit. nach Helmuth Nürnberger: Joseph Roth mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1981, S. 95. Vgl. zu diesem Thema Tomislav Bekiü: Zur Rezeption Joseph Roths im jugoslawischen Raum. In: Literatur und Kritik 25 (1990), Nr 243/244, S. 143–150. In Kroatien beispielsweise stößt man auf die erste Erwähnung Roths bereits im Jahr 1934, als in der Kulturzeitschrift Hrvatska prosjeta eine Selbstdarstellung Roths abgedruckt wurde, eigentlich die Übersetzung der Auszüge aus einem Interview mit Roth, veröffentlicht in der angesehenen Pariser Zeitschrift Les Nouvelles Littéraires – vgl. Dragutin Horvat: Österreichische Literatur in Kroatien (III). In: Zagreber Germanistische Beiträge 7 (1998), S. 51–71, hier S. 68.

Zur Rezeption Joseph Roths in Slowenien

317

einsetzte. Arthur Schnitzler wurde bereits in den Zwanzigerjahren übersetzt, als seine Groteske Der grüne Kakadu von dem Publizisten und Theatermann Osip Šest (1893–1962) ins Slowenische übertragen wurde. In den Achtzigerund Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts folgten noch weitere SchnitzlerÜbersetzungen, unter anderem die Novellen Leutnant Gustl und Fräulein Else, übersetzt von Mira Miladinoviü Zalaznik. Im Jahr 1934 konnte sich das slowenische Publikum Hofmannsthals Drama Jedermann in der Übersetzung des Lyrikers Oton Županþiþ (1878–1949) erfreuen. In den Neunzigerjahren folgten noch weitere Übersetzungen Hofmannsthals, aber auch diverse Inszenierungen (Ariadne auf Naxos im Jahre 1994 in der slowenischen Oper, Der Jedermann in den Achtzigerjahren im Slowenischen Theater in Triest). Neben anderen namhaften österreichischen Autoren wurden bereits in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts Werke von Stefan Zweig (1881–1942) ins Slowenische übersetzt, was zweifelsohne mit der Thematik, dem Pazifismus und der kompletten Trennung von Geist und Politik zusammenhängt. Als erste wurden seine romanhaften Biographien Joseph Fouché (1932) und Marie Antoinette (1933) bei uns rezipiert, beide von dem slowenischen Dichter und Theaterkritiker Fran Albrecht (1889–1963) übersetzt, der in den folgenden Jahren noch weitere Werke Zweigs ins Slowenische übertrug. Bis heute wurden ungefähr dreißig Werke übersetzt, was eine rege Aufnahme Zweigs bezeugt.7 In den Dreißigerjahren wurden außerdem auch noch zwei Werke von Franz Werfel ins Slowenische übersetzt, nämlich sein 1928 herausgegebener Roman Der Abituriententag. Die Geschichte einer Jugendschuld (slow. Mladostna krivda, 1932) und der 1924 erschienene Künstlerroman Verdi. Roman der Oper (slow. Verdi. Roman opere, 1940).8 Der rege Rezeptionsprozess bedeutender Autoren der österreichischen Literatur wie Franz Kafka (1883– 1924), Hermann Broch (1886–1951),9 Robert Musil so wie auch Joseph Roth setzte jedoch erst Anfang der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts in Slowenien ein.

7

8

9

Vgl. zu Rezeption Zweigs in Slowenien den Beitrag von Vesna Kondriþ Horvat: Stefan-Zweig-Rezeption in Slowenien. In: Znanstvena revija 5 (1993), Nr 1, S. 19–27. Vgl. zur Werfel-Rezeption in Slowenien die Abhandlung von Mira Miladinoviü Zalaznik: Die Rezeption Werfels in Slowenien. In: Zagreber Germanistische Beiträge 5 (1996), S. 29–53. Vgl. Mira Miladinoviü Zalaznik: Die Rezeption Hermann Brochs in Slowenien. In: Hermann Broch. Hg. von Árpád Bernáth, Michael Kessler und Endre Kiss. Tübingen: Stauffenburg 1998, S. 285–294. Vgl. auch dies.: Die Rezeption eines Dichters vor dem Hintergrund des slowenischen Alltags. Dargelegt am Beispiel Hermann Brochs. In: Hermann Broch – ein Engagierter zwischen Literatur und Politik. Hg. von der Österreichischen Liga für Menschenrechte. Innsbruck [etc.]: Studien Verlag 2004, S. 12–139.

318

Tanja Žigon

II Bis heute sind auf Slowenisch sechs Werke Joseph Roths erschienen, aber auch einige seiner feuilletonistischen Texte übersetzt, die in diversen Literaturzeitschriften veröffentlicht wurden. Außerdem ist ein reges wissenschaftliches Interesse am Autor und seinem Werk festzustellen: Ab den Neunzigerjahren setzten sich slowenische Germanisten, vor allem Mira Miladinoviü Zalaznik und Matjaž Birk, mit dem Dichter auseinander und es erschienen dazu mehrere längere Aufsätze. Abgesehen davon muss hier aber auch konstatiert werden, dass Filme nach Roths Roman-Vorlagen im slowenischen Nationalfernsehen – dasselbe gilt selbstverständlich auch für die kommerziellen Sender –, nie ausgestrahlt wurden.10 So blieb der Autor von dem modernen Medium der beweglichen Bilder in Slowenien ganz und gar unbeachtet. Während es in den Achtziger- und Neunzigerjahren kaum vorstellbar war, Filme über die Verherrlichung einer vergangenen kaiserlich-habsburgischen Zeit auszustrahlen, mangelte es in den darauf folgenden Jahren sowohl an Geld als auch an Interesse der »richtigen« Persönlichkeiten und so ließen und lassen noch heute Roths Verfilmungen in Slowenien zu Wünschen übrig. Wie bereits erwähnt, stammt die erste Roth Übersetzung aus dem Jahr 1966, als die Slawistin und Germanistin Maila Golob (1907–1993)11 das bedeutungsvollste Werk aus Roths früher Schaffensperiode Die Flucht ohne Ende ins Slowenische übersetzte. In diesem Werk ist Roths Bindung an die habsburgische Monarchie zwar indirekt präsent, jedoch steht im Vordergrund das sozialistisch-postrevolutionäre Russland, wo »der apathische, willenlose Franz Tunda«12 vergeblich versucht, Wurzeln zu schlagen. Das dünne Büchlein ist in dem 1945 gegründeten Verlag Mladinska knjiga erschienen, in der Bücherreihe »Zenit«, die von der bekannten Autorin und Übersetzerin Mira Miheliþ (1912–1985) redigiert wurde. Während der Druckvorbereitungen ist der Verantwortlichen etwas Peinliches unterlaufen. Auf dem vorderen Buchdeckel wie auch auf der hinteren Seite des Buches liest man, der Autor sei nicht Joseph sondern Fritz Roth. Es ist kaum zu glauben, dass so ein gravierender Lapsus, der übrigens auf der inneren Titelseite nicht vorkommt, der Übersetzerin oder der Redakteurin unterlaufen ist. Vielmehr könnte man diesen Vorfall eher der Eile oder der Unaufmerksamkeit der Setzer in der Druckerei zuschreiben. Im Weiteren wird man in den äußerst knapp bemessenen ungefähr zwanzig Zeilen auf dem hinteren Buchdeckel darüber informiert, dass Roth »ein bisher bei uns unbekannter Autor, ein österreichischer Schriftsteller aus halbvergangener Zeit«13 sei, der zu den wichtigsten Namen der modernen 10 11 12 13

Für die Information bedanke ich mich bei Herrn Matjaž Zajc, dem Redakteur in der Redaktion der ausländischen Spielprogramme. Ihr Vater war der Slawist, einstiger k. u. k. Hofbibliothekar, später Mitbegründer der ersten slowenischen Universität Ivan Prijatelj (1875–1937). Magris, Der habsburgische Mythos (wie Anm. 3), S. 305. Vgl. Roth, Beg brez konca (wie Anm. 1), hinterer Buchdeckel.

Zur Rezeption Joseph Roths in Slowenien

319

österreichischen Literatur aus dem Anfang des Jahrhunderts gehöre und zu den berühmten österreichischen Autoren wie Kafka und Musil zähle. Der/die anonyme Verfasser/in des aufklärenden Textes, mit großer Wahrscheinlichkeit die Übersetzerin selbst, erklärt im Folgenden, dass Roth in seinen Werken oft die Zustände in der Donaumonarchie vor ihrem endgültigen Zusammenbruch schildere und mehrmals auch slowenische Städte und Leute erwähne und beschreibe. Das gelte, so der/die Autor/in, vor allem für seinen Roman Radetzkymarsch. Außerdem werden die Leser darüber in Kenntnis gesetzt, dass Radetzkymarsch vor kurzem verfilmt wurde.14 Es folgt eine kurze Inhaltsangabe des Werkes Flucht ohne Ende, worin dreimal »die große Revolution in Russland« hervorgehoben wird – wahrscheinlich um die Herausgabe zu rechtfertigen und damit zu beweisen, dass der Text für das bestehende politische System korrekt und damit »völlig ungefährlich« ist. Es wird im Folgenden pointiert, der Roman spiele nach dem Ersten Weltkrieg und schildere die Revolution in Russland, wie sie Franz Tunda, ein junger österreichischer Flüchtling – die sibirische Gefangenschaft wird nicht ausdrücklich erwähnt – erlebt. Der Protagonist, so liest man, wird zu einem Revolutionär aus Liebe zu einer bolschewistischen Anführerin. Diese Liebesgeschichte sei nach Überzeugung des/der Verfassers/in des Textes, das Besondere an Roths Erzählung. Tundas Liebe, die Flucht über Sibirien und sein Umherwandern durch Europa erlebe der Leser in einer durchaus spannenden und geistreichen Geschichte, die eigentlich – so heißt es – »eine Geschichte ist, die kein Ende nehmen will«.15 Zum Schluss wird festgestellt, dass sich Roths Revolutionär am Rande der großen Geschehnisse, vor denen er flüchtete,16 letztendlich genauso verloren fühlt wie auch mancher slowenische und österreichische Intellektuelle in der Verwirrung der Nachkriegs- bzw. Zwischenkriegszeit. Eine ausführliche wissenschaftliche Abhandlung über diesen zeitkritischen Roman Roths lieferte zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der slowenischen Übersetzung Matjaž Birk. In seinen Überlegungen zum Roman konstatiert er, dass sich Roths Zeitkritik »in einer konsequenten Auseinandersetzung mit spießbürgerlichen Symptomen sowohl in der westeuropäischen Nachkriegs- als auch in der sowjetisch postrevolutionären ›Revolutionsgesellschaft‹«17 artikuliert.

14 15 16

17

Der Film unter Regieführung von Michael Kehlmann wurde 1965 gedreht. Roth, Beg brez konca (wie Anm. 1), hinterer Buchdeckel. Falls eine Buchbesprechung des Werkes erschienen ist, konnte sie heute in den damaligen Zeitungen nicht mehr gefunden werden. Leider konnte mir auch der Verlag Mladinska knjiga keine Pressestimmen vermitteln, weil diese zu Roths Buchausgaben nicht vorliegen. Es war im Allgemeinen in unserem Raum unüblich, Pressestimmen aufzuheben, da Verlage in der Vergangenheit keine große Konkurrenz befürchten mussten. Matjaž Birk: Zeitkritische Aspekte im Roman Die Flucht ohne Ende (1927) – einem Bericht von Joseph Roth. In: Neophilologus 80 (Januar 1996), Nr 1, S. 111–125, hier S. 121.

320

Tanja Žigon

So wie im restlichen jugoslawischen Raum war auch in Slowenien die Roth-Rezeption in den darauf folgenden Jahren nicht nur dürftig, sondern es gab sie einfach nicht. Erst Anfang der Achtzigerjahre, genau 1982, zwei Jahre nach Titos Tod, erscheint die zweite Roth-Übersetzung ins Slowenische, der Radetzkymarsch, eine »Saga des Kaiserreichs«18 und dessen unaufhaltsamen Niedergangs, in dem auch die aus dem »slowenischen« Sipolje19 stammende Familie Trotta untergeht. Doch sind die Vorbereitungen auf die Herausgabe des Werkes nicht ganz unkompliziert verlaufen und die eigentliche Geburt war lang und mühsam. Der Verlag musste vor Beginn der Übersetzungsarbeiten von der zuständigen Stelle, hier ist zweifelsohne von den einflussreichen Mitgliedern der slowenischen kommunistischen Partei die Rede – die sich nicht unbedingt in Literatur auskannten! – eine Erlaubnis erlangen, das Roth-Buch überhaupt übersetzen zu dürfen. Meiner Quelle20 zufolge hat man den Roman bereits Ende der Siebzigerjahre einige Male dem Verlag Cankarjeva založba, benannt nach dem größten slowenischen Prosaisten Ivan Cankar (1876–1918), angeboten, doch wurde das Werk von dem damaligen Redakteur, dem Literaturhistoriker, Kritiker und Essayisten Anton Ocvirk (1907–1980)21 ohne jegliche Erklärung immer wieder zurückgewiesen und wurde nie ins Verlagprogramm aufgenommen. Also schlug Miladinoviü dem Verlag Mladinska knjiga bzw. seinem damaligen Redakteur, dem Lyriker und Übersetzer Severin Šali (1911–1992) vor, Roths Roman zu übersetzen. Šali zögerte nicht lange und informierte sich über die literarische Qualität des Werkes bei Janez Gradišnik (1917–2009), einem angesehenen slowenischen Autor, Essayisten und Übersetzer. Sowohl Gradišnik als auch seine Frau Katarina Bogataj Gradišnik, ebenfalls eine namhafte Übersetzerin, äußerten sich lobend über den Roman und schlugen vor, nicht nur den Radetzkymarsch, sondern gleich auch die Kapuzinergruft ins Slowenische zu übersetzen. Šali war begeistert, es war ihm aber bewusst, dass der Roman nur mit Bewilligung einflussreicher Parteimitglieder möglich sei. Miladinoviü gegenüber meinte Šali, man solle zuerst »AFŽ«22 fragen. Es dauerte eineinhalb Jahre, bis die Übersetzung seitens der 18 19

20

21 22

Magris, Der habsburgische Mythos (wie Anm. 3), S. 313. Vgl. zum Thema Roth und seine Beziehung zu den Südslawen den eingehenden Beitrag von Zoran Konstantinoviü: Joseph Roth und die Südslawen. Blickpunkte und Rezeptionsmerkmale. In: Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des internationalen Symposions 1989, Akademie der Diözese RottenburgStuttgart. 2. Aufl. Hg. von Michael Kessler und Fritz Hackert. Tübingen: Stauffenburg 1989, S. 181–189. Mira Miladinoviü Zalaznik hat über die mit dem Radetzkymarsch verbundenen Vorfälle von dem Lyriker, Essayisten und Übersetzer, dem damaligen Cheflektor des Verlags Cankarjeva založba, Tone Pavþek (1928) erfahren. Vgl. zu Ocvirk: Tone Smolej, Majda Stanovnik: Anton Ocvirk. Ljubljana: Nova revija 2007. AFŽ (Antifašistiþna fronta žensk) bedeutet eigentlich Antifaschistische Frauenfront und wurde 1942 gegründet. Sie hat – indoktriniert von der kommunistischen Partei –

Zur Rezeption Joseph Roths in Slowenien

321

Befugten bewilligt wurde und eines schönen Tages, als Šali im Flur des Verlages der künftigen Übersetzerin begegnete, schrie er vor lauter Freude: »AFŽ hat JA gesagt«! Daraufhin musste mit der Übersetzerin des Werkes Mira Miladinoviü, erstmal geklärt werden, welche Strategie beim Übersetzen der Eigennamen in Frage kommt. Nach einigen längeren Debatten mit dem Redakteur, fiel diesbezüglich die Entscheidung, alle Namen, mit Ausnahme der Kaisernamen wie Franz Josef, Maria Theresia (slow. Franc Jožef, Marija Terezija), in der Originalform zu erhalten; so heißt beispielsweise der Protagonist des Romans auch in der slowenischen Fassung Carl Joseph und nicht etwa Karel Jožef. Vermutlich, so die Übersetzerin, sei man zu diesem Kompromiss gekommen, um wenigstens dadurch eine gewisse Distanz zum Werk zu schaffen. Doch hat es sich auch aus ganz pragmatischen kommerziellen Gründen gelohnt, den Radetzkymarsch herauszugeben. Das Buch war nämlich ein reiner Erfolg. Es erschien in der Bücherreihe »Levstikov hram«, benannt nach dem slowenischen Schriftsteller Fran Levstik (1831–1881), und wurde in einer Auflage von 4.500 Exemplaren gedruckt, was nicht nur für den damaligen, sondern auch für den heutigen slowenischen Büchermarkt eine beneidenswerte Zahl darstellt. Das Werk war so populär, dass es auch in den renommierten Bücherclub, genannt Welt der Bücher (»Svet knjige«), aufgenommen wurde und schnell ausverkauft war.23 Es ist selbstverständlich, dass diesmal die Neuerscheinung auch von der Literaturkritik nicht unbeachtet blieb. Eine ausführliche Buchbesprechung aus der Feder eines der bedeutendsten slowenischen zeitgenössischen Autoren, Drago Janþar (1948), erschien am 11. September 1982 in der Samstagbeilage Sobotna priloga der Tageszeitung Dnevnik.24 Janþar verzichtet in seiner Rezension mit Absicht auf einen Exkurs über das Leben und Wirken des Autors, denn im Anhang des Romans wird die eingehende Studie, ein »glänzendes Essay«, um Tomislav Bekiü zu zitieren,25 Joseph Roth und seine Flucht in die Vergangenheit veröffentlicht, die der slowenische Historiker Peter Vodopivec

23

24 25

die slowenische politische Landschaft in der Nachkriegszeit mit gestaltet. In diesem Kontext sind eindeutig die Zuständigen der KPS (Kommunistische Partei Sloweniens) gemeint. Die Übersetzerin des Werkes hat noch in Erinnerung, dass vor ungefähr zehn Jahren ein slowenischer Politiker Roths Radetzkymarsch als Sommerlektüre allen, die nach Europa reisen und sich über die eigene Geschichte und Vergangenheit informieren und aufklären wollen, empfohlen hatte. Es darf an dieser Stelle auch nicht vergessen werden, dass Radetzkymarsch, so wie auch Zweigs Welt von gestern zur obligatorischen Lektüre beim Geschichtsstudium an den slowenischen Fakultäten gehören. Drago Janþar: Koraþnica pred nedeljskim kosilom. In: Dnevnik, Sobotna priloga, Nr 31, 11. September 1982, S. 12. Vgl. Bekiü, Zur Rezeption (wie Anm. 5), S. 149.

322

Tanja Žigon

verfasste.26 Es handelt sich dabei um eine längere, gründliche Studie über Joseph Roth, seine Texte und die »historische Literatur« im Allgemeinen, wie Janþar feststellt. Tatsächlich geht es dabei um kein Nachwort im engeren Sinne, sondern um eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem literarischen Opus Joseph Roths unter Berücksichtigung der historischen Begebenheiten wie auch Roths eigener Lebensgeschichte. Ferner stellt Drago Janþar fest, dass die Geschichte des Romans mit Absicht am geographischen Rande der Monarchie, in Galizien, spiele, um gerade hier und nicht etwa in Wien oder in Prag, die wichtigsten Elemente eines wahren Österreichs – im Unterschied zu einem Österreich, wie es in der nostalgischen und politischen Erinnerung existierte – zu erkennen. Das Gleiche gelte auch, so Janþar, für die »geistige Geographie« des Romans, der durch das Beschreiben der sozialen Peripherie und des familiären Mikrokosmos mit einfachen, jedoch sehr wirkungsvollen literarischen Mitteln, den Geist der behandelten Zeitperiode schildere. Janþar bezeichnet den Roman als »gute Literatur« nicht nur wegen des Stils und der Romanstruktur, sondern er hebt ausdrücklich hervor, dass sich im Roman die Vorliebe Joseph Roths für Kleines und Marginales dieser Welt widerspiegele; so gebe es im Radetzkymarsch unzählige einfache, doch originelle Elemente, die mit ihrer Unmittelbarkeit jegliche Faktographie wie auch historische und soziale Dimensionen der Zeit und des Raumes überwinden. In Roths traditionell formulierten Sätzen und im erzählerischen Gedankenstrom verberge sich ein äußerst modernes Bekenntnis, das mit seinen vielen Einzelheiten auch den Menschen des modernen Zeitalters wirkungsvoll anspreche. Abschließend stellt Janþar fest, dass dieses Buch auch Dank der ausgezeichneten Übersetzung ins Slowenische das Wesen des RothStils vermittelt und wiedergibt. Zwei Jahre danach, 1984, erschien im gleichen Verlag unter der Redaktion des Literaturhistorikers und Übersetzers Aleš Berger der nächste Roman Joseph Roths Die Kapuzinergruft, der auch von Mira Miladinoviü übersetzt wurde. Außer beim Protagonisten Franz Ferdinand, dessen Name in der Übersetzung slowenisiert wurde (Franc Ferdinand), blieben auch hier alle weiteren Namen auf Deutsch erhalten. In diesem, nach Magris Feststellung »weniger geglückten«27 Werk endet Trottas Sage: Der letzte Trotta erlebt das Ende der österreichischen Republik durch Hitlers Besetzung. Die einzige Buchbesprechung dieses Romans erschien in der Literaturbeilage der Zeitung Delo Ende März 1985 und wurde vom Germanisten Anton Janko verfasst.28 In seiner Rezension mit dem viel sagenden Titel Die Gruft von Österreich-Ungarn erörtert der Autor eingangs die Roth-Biographie, informiert in groben Umrissen 26 27 28

Peter Vodopivec: Joseph Roth in njegov beg v preteklost. In: Joseph Roth: Radetzkyjeva koraþnica. Ljubljana: Mladinska knjiga 1982, S. 362–374. Magris, Der habsburgische Mythos (wie Anm. 3), S. 313. Anton Janko: Grobnica Avstro-Ogrske. In: Delo. Književni listi, 28. März 1985, S. 10.

Zur Rezeption Joseph Roths in Slowenien

323

über das Roth-Schaffen und bespricht danach den 1938 im Original erschienenen Roman Die Kapuzinergruft. Janko konstatiert, dass auch in diesem Roman Roths analytische Geistesschärfe zum Ausdruck kommt; durch die gewählte Erzählperspektive (Ich-Erzählung), wird, so Janko, Roths eigene Weltanschauung dargelegt, die durch die Unfähigkeit, sich der neuen Zeit anzupassen, gekennzeichnet ist. Seine These untermauert Janko mit einer kurzen Passage aus dem ersten Kapitel des Romans: Ich bin nicht ein Kind dieser Zeit, ja, es fällt mir schwer mich nicht geradezu ihren Feind zu nennen. Nicht, dass ich sie nicht verstünde, wie ich es oft behaupte. Dies ist nur eine fromme Ausrede. Ich will einfach aus Bequemlichkeit, nicht ausfällig oder gehässig werden, und also sage ich, dass ich das nicht verstehe, von dem ich sagen müsste, dass ich es hasse oder verachte. Ich bin feinhörig, aber ich spiele einen Schwerhörigen. Ich halte es für nobler, ein Gebrechen vorzutäuschen, als zuzugeben, dass ich vulgäre Geräusche vernommen habe.29

Im Weiteren stellt Janko fest, dass man in Trotta (und so auch in Roth) nicht einen Menschen vermuten könne, der fähig wäre, einen Weg aus der prekären gesellschaftlichen (aber auch individuellen) Krise in eine neue, bessere Gesellschaft vorauszusehen und noch weniger aufzuzeigen. Die einzige Möglichkeit sieht Roth im Modell Österreich-Ungarn, das man zwar vervollkommnen sollte, das aber im Wesentlichen keine Mängel aufweist. In diesem Zusammenhang teilt Janko Roths Meinung, dass im Vergleich mit dem Nationalsozialismus, mit dem der Leser am Ende des Romans konfrontiert wird, die Donaumonarchie jedenfalls eine bessere Lösung wäre. Janko bewertet schließlich den Roman etwas leger als eine »geschickt und sogar spannend geschriebene Geschichte, die jeder, der den Radetzkymarsch kennt, mit Freude lesen wird«.30 In den letzten zwei Abschnitten bespricht er auch die Übersetzung, die seiner Meinung nach eine gelungene sei, doch führt er trotzdem einige Entscheidungen der Übersetzerin an, mit denen er nicht einverstanden ist und nennt eigene Vorschläge; allerdings ist festzustellen, dass es sich dabei um eine subjektive Betrachtungsweise handelt und dass die Strategien der Übersetzerin durchdacht und erklärbar sind.31 Nach dem Erscheinen der Kapuzinergruft scheint das Interesse an Roths Werken in Slowenien für die nächsten zehn Jahre ganz und gar nachgelassen zu haben. Erst als sich der hundertste Geburtstag des Dichters im Jahre 1994 näherte, wurde Roth in Slowenien wiederentdeckt. Bereits 1991 erscheint in 29 30 31

Joseph Roth: Die Kapuzinergruft. 3. Aufl. München: DTV 1976, S. 5. Janko, Grobnica Avstro-Ogrske (wie Anm. 28). Unter anderem stört es den Kritiker, dass die Übersetzerin sich bei dem Wiener Dialekt nicht für die hochslowenische Sprache, sondern für die dialektale Variante des Slowenischen, die in Ljubljana gesprochen wird, entschieden hat. Trotzdem ist zu betonen, dass ihre Wahl durchaus legitim und zulässig ist, darüber hinaus klingt die Übersetzung dadurch nicht fremd oder unverständlich – ganz im Gegenteil: dadurch bleibt der Originalton erhalten.

324

Tanja Žigon

der wissenschaftlichen Zeitschrift Znanstvena revija eine Abhandlung aus der Feder von Mira Miladinoviü über die Realität und Fiktion in zwei Romanen von Joseph Roth (Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft),32 ferner werden im gleichen Jahr auch noch zwei Texte veröffentlicht, in denen die AutorInnen, Neva Šlibar und Armin A. Wallas, das Bild der Slowenen in Werken von Joseph Roth, Ingeborg Bachmann und Peter Handke besprechen.33 Als Anfang der Neunzigerjahre es wieder einmal in der Geschichte zu einem gravierenden Balkan-Konflikt kommt,34 der sich immer ernster verschärft, dann letztendlich eskaliert und zum Krieg in Jugoslawien führt, werden Roths Balkan-Texte über Nacht wieder aktuell. Für die Literaturbeilage der Zeitung Delo stellte im November 1992 der slowenische Germanist Matjaž Birk nicht nur Joseph Roth, den »österreichischen Autor jüdischer Abstammung«,35 sondern auch seine Arbeit als Berichterstatter der Frankfurter Zeitung vor. Er bespricht Roths feuilletonistische Texte, in denen er über Jugoslawien berichtet, hier vornehmlich über Sarajewo, wo der Erste Weltkrieg seinen Anfang nahm.36 Ein Jahr danach, 1993, veröffentlicht Matjaž Birk, der sich während32 33

34

35 36

Mira Miladinoviü: »Wenn die Welt untergeht muss man nach Sipolje«. Sind die Trottas vielleicht Slowenen? In: Znanstvena revija 3 (1991), Nr 1, S. 175–181. Neva Šlibar: »… wie etwas vertraut Fernes und verloren Heimisches …« Zu Funktion und Verfahren der Mythisierung eines kleinen Nachbarlandes in der neueren österreichischen Literatur. In: Komparatistik als Dialog. Hg. von Johann Strutz und Peter V. Zima. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1991, S. 73–84; Arnim A. Walland: Das Bild Sloweniens in der österreichischen Literatur. Anmerkungen zum Werk von Joseph Roth, Ingeborg Bachmann und Peter Handke. In: Acta neophilologica 24 (1991), S. 55–76. Am 22. Januar 1990 verließen die Delegierten der slowenischen und kroatischen Kommunisten den außerordentlichen Parteikongress des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, weil ihre Reformvorschläge abgelehnt wurden. Diese Entwicklungen führten zum Auseinanderfallen der Kommunistischen Partei Jugoslawiens. Im Juni 1991 wurde der unabhängige Staat Slowenien proklamiert, die Jugoslawische Volksarmee (JNA) griff in Slowenien ein, um die Unabhängigkeit zu verhindern und es kam zum sog. 10-Tage-Krieg. Doch das war erst der Beginn eines unsinnigen militärischen Konfliktes in Ex-Jugoslawien, der mit dem Friedensvertrag von Dayton (November 1995) unter Vermittlung von Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und den USA auch in Bosnien und Herzegowina und in Kroatien langsam sein Ende nahm. Matjaž Birk: »V Jugoslaviji se bojim vojne, to je barbarska dežela…« In: Delo. Književni listi, 12. November 1992, S. 15. Die genannten Zeitungsartikel des Dichters wurden in der Zeitspanne von 29. Mai bis zum 30. Juli 1927 in der Frankfurter Zeitung abgedruckt. Roths journalistische Texte aus der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre gab 1990 Klaus Westermann neu heraus. Die Texte, die in seinem Zeitungsbericht auch Birk berücksichtigt (vgl. Joseph Roth: Südslawien und Albanien – innere Probleme. In: Joseph Roth: Werke. Bd 2. Das Journalistische Werk 1924–1928. Hg. von Klaus Westermann. Köln, Amsterdam: Kiepenheuer & Witsch und Allert de Lange 1990, S. 714–719; ders.: Blick nach Südslawien. In: ebd., S. 746–749; ders.: Wo der Krieg begann. In: ebd.,

Zur Rezeption Joseph Roths in Slowenien

325

dessen auch intensiv mit dem Briefwechsel zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth beschäftigt,37 in der Klagenfurter Kultur- und Literaturzeitschrift Celovški zvon die Übersetzung von Roths Artikel Seine k. k. Apostolische Majestät, der zum ersten Mal am 6. März 1928 in der Frankfurter Zeitung erschienen war.38 In diesem Jahr wird in Berlin auch noch ein Beitrag über Roth publiziert, in dem Mira Miladinoviü untersucht, wie Slowenen in den Texten von Roth, Handke und Janþar dargestellt werden,39 es wird aber auch Roths viertes Werk Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde in slowenischer Übersetzung herausgegeben. Der Roman Tarabas erschien im heute nicht mehr bestehenden Verlag Mihelaþ, in der Bücherreihe »Weltklassiker«, und wurde von Stanka Rendla übersetzt. Das informierende Nachwort zum Autor und Werk steuerte Mira Miladinoviü bei. Sie hält zum Schluss fest, dass man in Slowenien in der Vergangenheit Roth wegen seiner monarchistischen Sympathien gemieden und dabei völlig übersehen habe, wie brillant Roth sein Metier beherrscht habe und wie seine in klassischer Form verfassten Werke die Leser ansprechen und fesseln.40 Nach dem Erscheinen des Romans wurden verhältnismäßig schnell die ersten Buchbesprechungen in slowenischen Zeitungen veröffentlicht, ob-

37

38 39

40

S. 731–733), übersetzte 1996 Mira Miladinoviü Zalaznik ins Slowenische (vgl. Nova revija, Beilage »Ampak« [1996], Nr 172/173, S. 32–38). Matjaž Birk: Der Briefwechsel zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth. In: Znanstvena revija 5 (1993), Nr 1, S. 85–95. Seine ausführliche Monographie zum Briefwechsel zwischen zwei Dichtern erschien 1997 (vgl. Matjaž Birk: »Vielleicht führen wir zwei verschiedene Sprachen …« Zum Briefwechsel zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig. Mit 21 bisher unveröffentlichten Briefen. Münster: LIT 1997). Matjaž Birk: Njegovo c.-kr. apostolsko veliþanstvo. In: Celovški zvon, Nr 39, Juni 1993, S. 24–28. Mira Miladinoviü: Wenn die Welt untergeht muss man nach Sipolje. Slowenen, wie sie in den Texten von Joseph Roth, Peter Handke und Drago Janþar dargestellt werden. In: Tanzende Sterne. Festschrift für Philipp Wambolt zum 75. Geburtstag. Hg. von Detlev Lindau-Bank. Berlin: Karin Kramer 1993, S. 91–110. Die überarbeitete Fassung des Textes erschien auf Slowenisch zuerst 1994 (vgl. dies.: Ko propade svet, je treba v Sipolje. Slovenci, kot se pojavljajo v besedilih Josepha Rotha, Petra Handkeja in Draga Janþarja. In: Nova revija (1994), Nr 147/148, S. 170–178) und dann auch noch im Jahr 2002 (vgl. dies.: »V teh sanjah mi pripovedujejo, da ne smem sanjati …« Kako stopajo Slovenci v besedila Josepha Rotha, Petra Handkeja in Draga Janþarja. In: Podoba tujega v slovenski književnosti. Podoba Slovenije in Slovencev v tuji književnosti. Imagološko berilo. Hg. von Tone Smolej. Ljubljana: Oddelek za primerjalno književnost in literarno teorijo Filozofske fakultete Univerze v Ljubljani 2002, S. 152–164). Mira Miladinoviü: Nemirna pot pisatelja in novinarja Josepha Rotha. In: Joseph Roth: Tarabas. Gost na tem svetu. Ljubljana: Mihelaþ 1993, S. 127–131. Ferner hielt die Autorin von 1990 bis 2009 diverse Vorträge über Joseph Roth und sein Werk in Kroatien (Zadar, Zagreb), Belgien (Antwerpen), Polen (Wrocáaw), Deutschland (Düsseldorf) wie auch in den Vereinigten Staaten (University of Kentucky).

326

Tanja Žigon

wohl der Widerhall bei der Literaturkritik eher dürftig gewesen ist; es konnte z. B. keine Rezension in den meist gelesenen Zeitungen wie Delo und Dnevnik gefunden werden. Ein anonymer Autor lieferte für die Leser der religiösen Monatschrift Ognjišþe lediglich einige Sätze über Roth und fasste den Inhalt des Romans zusammen. Allerdings beklagte er, dass der Verlag mit einem viel zu klein gedruckten Texte zu sparen versuchte; gleichwohl, so heißt es, sei der Buchpreis trotzdem zu hoch.41 Milan Markelj berichtete für die Lokalzeitung aus Novo mesto in Unterkrain Dolenjski list über die Herausgabe von Roths Tarabas so wie von einer anderen Neuerscheinung im Verlag Mihelaþ, nämlich einer Neuheit auf dem slowenischen Büchermarkt, Raschomon, verfasst vom japanischen Klassiker Ryunosuke Akutagawa. Bei Tarabas gibt Markelj den Inhalt wieder und hebt hervor, dass der Autor dem slowenischen Leser durch seine bereits übersetzten Romane gut bekannt sei.42 Die einzige etwas eingehendere, jedoch sehr kurze und neutrale Kritik, die in der Monatszeitschrift Literatura erschien, verfasste die Komparatistin Vanesa Matajc. Sie wiederholt bereits Bekanntes über den Autor, betont seine Nostalgie in Bezug auf die verlorene Welt und kommt zur Schlussfolgerung, dass die traditionelle Erzählweise den Wert des vorliegenden Werkes nicht mindert, sondern noch zusätzlich die nostalgische Sensibilität Roths stärkt.43 Zum hundertsten Jahrestag von Roths Geburt, 1994, wird an den Dichter in der Tageszeitung Delo bzw. deren Literaturbeilage erinnert. Der Publizist Miro Kocjan schrieb anlässlich des Jubiläums einen längeren Essay über den »Schöpfer des mitteleuropäischen Mythos«.44 Kocjan gibt die wichtigsten biound bibliographischen Daten wieder, bespricht Roths Werke und weist auf die Vorbereitungen auf eine italienische Übersetzung von Roths Werken hin, jedoch erwähnt er nicht einmal die bereits vorhandenen slowenischen Übersetzungen. In diesem Zusammenhang führt er sogar falsche slowenische Titel an, z. B. Kripta kapucinov statt Kapucinska grobnica etc.45 Eine viel detailliertere und literaturbezogene Darstellung von Roths Leben und Schaffen, verfasst von Matjaž Birk, wurde im gleichen Jahr in der monatlich herausgegebenen Kulturzeitschrift Razgledi veröffentlicht wie auch in der Klagenfurter Literaturzeitung Celovški zvon.46 Danach musste Roths Werk wieder einige Jahre auf die nächste slowenische Übersetzung warten. 41 42 43 44 45

46

Anonym: Joseph Roth, Tarabas. In: Ognjišþe 29 (1993), Nr 10, S. 15. Milan Markelj: Rašomon in Tarabas. In: Dolenjski list, Nr 22, 3. Juni 1993, S. 14. Vanesa Matajc: Joseph Roth, Tarabas. In: Literatura 5 (1993), Nr 24–25, S. 158. Miro Kocjan: »Pivec cesarstva« in tvorec srednjeevropskega mita. In: Delo Književni listi, Nr 220, 22. September 1994, S. 15. Ebd. Ähnlich wird auch in der Internet-Ausgabe der Zeitung Delo am 2. September 2008 völlig außer Acht gelassen, dass einige Romane Roths, vor allem der Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft, wo die Protagonisten »Slowenen« sind, bereits übersetzt wurden (vgl. http://delo.si/clanek/66489, Zugriff: 10. Mai 2009). Matjaž Birk: Obujeni mrtveci. In: Razgledi, Nr 17, 16. September 1994, S. 36–37. Birk publizierte im gleichen Jahr in Klagenfurt auch noch eine längere wissenschaft-

Zur Rezeption Joseph Roths in Slowenien

327

Der Roman Hotel Savoy erschien 1998 in jenem Verlag, der in den Siebzigerjahren Roths Radetzkymarsch nicht verlegen wollte, im Cankarjeva založba (Bücherreihe XX. Jahrhundert). Auch dieses Werk wurde von Stanka Rendla ins Slowenische übertragen, die diesmal auf vierzehn Seiten auch einen aufschlussreichen biographisch-historischen Essay über den Autor und den vorliegenden Roman schrieb. Sie nahm Bezug sowohl auf den Inhalt als auch auf Roths persönliche Lebensgeschichte und betitelte ihren Aufsatz Wohnort: Das Hotel.47 Die Rezensentin des Werkes, die Komparatistin, Anglistin und selbst eine bekannte Übersetzerin Miriam Drev fand diese Abhandlung so gut, dass sie in ihrer Besprechung die Leser des Romans dazu ermunterte, die begleitende Studie zu lesen, um sich dadurch eine breitere Einsicht in die Thematik zu verschaffen.48 Im Weiteren werden in der Buchbesprechung die historischen Hintergründe ausführlich erörtert und der Protagonist des Romans Gabriel Dan dargestellt, der nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft in Sibirien heimkehrt und sich im Hotel Savoy einquartiert. In seiner Gestalt sind, wie Drev feststellt, auch gewisse Charakterzüge von Joseph Roth zu erkennen. Der Roman ist ihrer Meinung nach eine Widerspiegelung der gesellschaftlichen und psychologischen Umbrüche in der Zwischenkriegszeit mit kafkaesken Elementen oder, wie Stanka Rendla feststellt, eine Abbildung der Strukturen der modernen kapitalistischen Gesellschaft.49 Sowohl die Übersetzerin in der Begleitstudie als auch die Rezensentin empfehlen dem Publikum den Roman zu lesen und steuern auch eine äußerst positive Kritik bei. Dass man den Roman auch anders rezipieren und verstehen kann, bezeugt die kritische, provokante Besprechung der slowenischen Dramaturgin, Erzählerin, Publizistin und Übersetzerin Jana Pavliþ in der Zeitschrift Razgledi. Das Hotel Savoy sei kein großes Werk, der Roman habe keine epische Breite und sei eher ein Versuch, einen verlorenen Moment einer verlorenen Existenz zu skizzieren, konstatiert sie.50 Hotel Savoy sei ihrer Ansicht nach ein ziemlich kantiger, weitschweifiger, sozial und moralisch engagierter Roman, dem die kafkaeske Eleganz fehle. Roths Hotel sei kein luxuriöser Palast der dekadenten Monarchie, den man sich vielleicht vorstellt, wenn man den charmanten Titel des Romans gelesen hat. Vor so einem Hotel, das übrigens auch den gleichen

47 48 49 50

liche Abhandlung über Joseph Roth, deren Untertitel lautet: Die Heimat als Sehnsucht nach Utopie (vgl. ders.: Moses Joseph Roth [1894–1938]. Domovina kot hrepenenje po utopiji. In: Celovški zvon, Nr 44, September 1994, S. 45–55. Im Jahr 1995 schrieb der Autor auch das Nachwort zur Roths-Bibliographie (Joseph RothBibliographie. Hg. von Rainer Joachim Siegel. Leipzig: Cicero Presse 1995). Stanka Rendla: Bivališþe Hotel. In: Joseph Roth: Hotel Savoy. Ljubljana: Cankarjeva založba 1998, S. 137–151. Miriam Drev: Razmere, skrite za imenitnim proþeljem hotela Savoy. In: Delo. Književni listi, Nr 63, 18. März 1999, S. 21. Vgl. Rendla, Bivališþe Hotel (wie Anm. 47), S. 150. Jana Pavliþ: Domaþnost Maribora. Joseph Roth: Hotel Savoy. In: Razgledi, Nr 24, 23. Dezember 1998, S. 30.

328

Tanja Žigon

Namen trug, wurde die Kaiserin Elisabeth in Genf ermordet, als Roth vier Jahre alt war, erörtert die Rezensentin und hebt nochmals hervor, dass Roths Hotel der Vorstellung eines dekadenten Gebäudes nicht entspreche. Hotel Savoy sei nämlich nur ein undefinierter Haufen von Zimmern und dem Treppenhaus mit Fluren, eine Metapher der Ausweglosigkeit, die Joseph Roth, so Jana Pavliþ, ganz und gar nicht gentlemanlike aus Kafkas Amerika in das eigene literarische Opus übertragen habe. Die verlorene Subjektivität, so heißt es im Folgenden, sei aber in unzähligen Romanen der mitteleuropäischen Dichter zu finden. Das Hotel Savoy wirke, so Pavliþ, sehr slowenisch verloren, so dass sie sich beim Lesen nicht von dem Gedanken befreien konnte, die undefinierte Industriestadt im Osten, könnte eigentlich auch das slowenische Maribor sein, so heimisch sei alles. Abschließend nennt sie den Roman »eine winzige Kuriosität des Autors, dessen Schicksal tatsächlich von Hotelzimmern bestimmt war und dessen Leben und Tod viel spektakulärer sind als die kurze Zwischenstation im Hotel Savoy«.51 Als Letztes erschien 2009 im Klagenfurter Hermagoras Verlag/Mohorjeva družba in slowenischer Übersetzung auch noch das letzte Meisterwerk, das Roth veröffentlichte, Die Legende vom heiligen Trinker, die mit den bekannten, zarten Worten endet, die auch in Roths Trinkerleben Helles bringen: »Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und schönen Tod.«52 Die Novelle mit der christlichen Idee im Hintergrund erschien in der Bücherreihe »Austriaca – Moderne österreichische Literatur« und wurde von Stanislav M. Maršiþ übersetzt, der auch ein kurzes informatives Nachwort zum Buch schrieb.53

III Zusammenfassend lässt sich hier wohl feststellen, dass die Romane Joseph Roths in Slowenien nicht besonders früh rezipiert wurden. Bis heute sind sechs Werke Roths übersetzt. Der Grundton in den meisten Buchbesprechungen und Texten über Roth ist, dass er der Vergangenheit zugewandt ist und die geistige Leere nach dem habsburgischen Zusammenbruch beschreibt, ein Leben ohne feste Grundlagen, Frieden und Ruhe. Es wird hervorgehoben, dass Roth nie ein Wort zu viel gebraucht, dass seine Romane durch trockene Objektivität gekennzeichnet sind und dass der Autor, obwohl traditioneller Erzählweise treu, ein glänzender Erzähler ist. Es liegen im Slowenischen im Vergleich mit 51 52

53

Ebd. Joseph Roth: Die Legende vom heiligen Trinker. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999, S. 53; slowenische Übersetzung: Legenda o svetem pivcu. Celovec: Mohorjeva 2009. Vgl. Stanislav M. Maršiþ: Joseph Roth – njegovo življenje in delo. In: ebd., S. 47– 51, hier S. 51.

Zur Rezeption Joseph Roths in Slowenien

329

Zweig und Kafka zwar weniger Roth-Übersetzungen vor, jedoch wurden und werden die Romane Joseph Roths gelesen und von der Literaturkritik beachtet. In der letzten Zeit wurden auch diverse slowenistische, germanistische wie auch historische Diplomarbeiten zum Thema Joseph Roth verfasst, was von einem regen wissenschaftlichen Interesse an diesem Autor zeugt.

Vesna Kondriþ Horvat

Übersetzung als transkulturelle Begegnung – Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft in slowenischer Sprache I Die Übersetzung literarischer Werke definiert die gegenwärtige Übersetzungswissenschaft als »interkulturelle Vermittlung der Kunstwerke zwischen verschiedenen literarischen Systemen«1 und in diesem Sinne soll auch die Übersetzung von Joseph Roths Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft ins Slowenische verstanden werden. Befasst man sich mit den Romanen Joseph Roths, muss man, wie oft betont wird, wissen, dass diese nicht nur autonome künstlerische Werke sind, sondern auch Zeitzeugen und ihre Erzähler vornehmlich Chronisten der untergehenden Habsburger Monarchie, deren Teil sehr lange auch Slowenen waren. Vor allem in Radetzkymarsch und in Die Kapuzinergruft spielen sie eine wichtige Rolle, deswegen beschränkt sich der vorliegende Beitrag auf diese beiden Romane, in denen ich viele Elemente der Transkulturalität zu finden glaube, sind doch in ihrem kleinen Universum viele Kulturen versammelt, die nicht vereinzelt da stehen, sondern sich verbinden, obwohl anders als in der heutigen Zeit. Nach Wolfgang Welsch ist die Transkulturalität ein Begriff, der von der klassischen Auffassung der Monokultur abweicht, aber ebenso von den Begriffen Interkulturalität und Multikulturalität.2 Nach ihm ist die Beschreibung von Kulturen als Inseln deskriptiv falsch. Die heutigen Kulturen seien innerlich durch Pluralisierung der Identitäten gekennzeichnet und äußerlich durch die Überschreitung der eigenen Grenzen. Die traditionelle Kulturauffassung sei weiterhin normativ gefährlich, weil sie struktural die Unterschiede unterdrücke sowie Separatismus und Gewaltkonflikte fördere. Der Hauptmangel der beiden Ausdrücke Interkulturalität und Multikulturalität liege in der Annahme, dass die Kulturen homogene Inseln oder begrenzte Sphären seien. Transkulturalität verstehe dagegen die Kultur als Verflechtung, die man auch auf der individuellen Ebene finden könne. Transkulturalität ziele also auf Kulturen mit der Fähigkeit der Verknüpfung und des Übergangs bei gleichzeitiger Gefahr der 1 2

Meta Grosman: Književnost v medkulturnem položaju. Ljubljana: Znanstveni inštitut Filozofske fakultete 2004, S. 25. Vgl. Wolfgang Welsch: Transculturality: The Puzzling Form of Culture Today. In: Mike Featherstone/Scott Lash: Spaces of Culture. City – Nation – World. London/Thousand Oaks, New Delhi: Sage 1999, S. 194–213.

332

Vesna Kondriþ Horvat

Homogenisierung und Uniformierung der Kultur. Kulturvielfalt tritt in einem neuen Gewand auf, und zwar viel mehr als kulturelle Mischung denn als Aufstellung von klar abgrenzbaren Kulturen. Und diese Vielfalt spiegeln auch Werke von Joseph Roth, in denen er gerade wegen der kulturellen Mischung die Idee Österreich vertritt. Denn obwohl er die einzelnen Völker und Kulturen typisiert, geht es ihm doch darum, diese zusammen zu sehen und er setzt sich für ihre Autonomie ein, vor allem auch für die in der Monarchie unterprivilegierten slawischen Völker. Besonders deutlich wird das in Die Kapuzinergruft, wo die Trottas – anders als in Radetzkymarsch – ihre slowenische Sprache nicht vergessen und ihre Identität nicht aufgegeben haben. Paradigmatisch spiegeln die Ansicht Joseph Roths zwei Zitate. An einer Stelle in Radetzkymarsch sagt Chojnicki, »Günstling der Regierung und Verächter der parlamentarischen Körperschaft, der er angehörte«:3 Ungläubig, spöttisch, furchtlos und ohne Bedenken pflegte Chojnicki zu sagen, der Kaiser sei ein gedankeloser Greis, die Regierung eine Bande von Trotteln, der Reichsrat eine Versammlung gutgläubiger und pathetischer Idioten, die staatlichen Behörden bestechlich, feige und faul. Die deutschen Österreicher waren Walzertänzer und Heurigensänger, die Ungarn stanken, die Tschechen waren geborene Stiefelputzer, die Ruthenen verkappte und verräterische Russen, die Kroaten und Slowenen, die er Krowoten und Schlawiner nannte, Bürstenbinder und Maronibrater, […]4

Und in Die Kapuzinergruft heißt es über einen der Protagonisten, Joseph Branco: »Dies ist nur ein Maronibrater«, sagte Chojnicki, »aber sehen Sie her: es ist ein geradezu symbolischer Beruf. Symbolisch für die alte Monarchie. Dieser Herr hat seine Kastanien überall verkauft, in der halben europäischen Welt, kann man sagen. Überall, wo immer man seine gebratenen Maroni gegessen hat, war Österreich, regierte Franz Joseph. Jetzt gibt’s keine Maroni mehr ohne Visum. Welch eine Welt!«5

Es scheint mir vor allem vom Blickpunkt der Verbindung von Kulturen wichtig, dass diese beiden Romane auch in der slowenischen Sprache gelesen werden können, obwohl das aus historischen und politischen Gründen lange nicht selbstverständlich oder erwünscht war. Radetzkymarsch aus dem Jahre 1932 erschien auf Slowenisch erst 50 Jahre später, 1982 und Die Kapuzinergruft 1984. Und wie auf der »Internationalen Konferenz zur Aktualität Joseph Roths« im Mai 2009 die Übersetzerin der beiden Werke, Mira Miladinoviü Zalaznik beteuerte, mussten sich auch damals zwei namhafte Übersetzer dafür einsetzen: der leider vor kurzem verstorbene Janez Gradišnik und die auf der Konferenz anwesende Katarina Bogataj Gradišnik. 3 4 5

Joseph Roth: Radetzkymarsch. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 132. Ebd. Joseph Roth: Die Kapuzinergruft. München: dtv 1967, S. 123–124.

Übersetzung als transkulturelle Begegnung

333

Dabei sind die Übersetzungen der in der Zeit der Habsburgermonarchie im Donauraum entstandenen Texte auch für das Gedächtnis der Slowenen noch besonders wichtig, bringen sie doch eine untergegangene Welt nahe, deren Teil Slowenen waren und sind. Sprechen wir einmal von der Translatologie als Kommunikationsbrücke, dann gilt es hervorzuheben, dass die Sprache mehr ist als nur Übertragung der Bedeutung und der Botschaft, dass wir die Sprache, die isoliert nicht funktionieren kann, sondern allein in einer Kultur und als Teil dieser Kultur, als das wichtigste Instrument der Sozialisation in allen Gesellschaften und Kulturen verstehen müssen, also die Sprache einer Gemeinschaft im weitesten Sinne als Vermittlerin deren Kultur, deren Mythen, Gesetze, Bräuche, Überzeugungen und so weiter. Und das Übersetzen der literarischen Werke müssen wir, wie oben bereits erwähnt, als interkulturelle Vermittlung der Kunstwerke zwischen verschiedenen literarischen Systemen verstehen. Aus politischen und kulturellen Gründen wurde jedoch die deutschsprachige Literatur sehr behutsam ins Slowenische übersetzt. Trotzdem kann bereits für das 19. Jahrhundert im slowenischen Raum die größte Zahl der Übersetzungen aus dem Deutschen festgestellt werden. Auch wenn man sich das Slowenische Lexikon der neueren Übersetzungen aus dem Jahre 1985 ansieht,6 überwiegen neben denen aus dem englischen, Texte aus dem deutschsprachigen Raum. Joseph Roth wurde jedoch relativ spät, und zwar 1966 (Die Flucht ohne Ende) übersetzt. Seine zwei Hauptwerke Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft erschienen in slowenischer Sprache erst 1982 und 1984. Bislang gibt es in slowenischer Sprache sechs Roth-Übersetzungen: Die Flucht ohne Ende übersetzte 1966 Maila Golob. Stanka Rendla übersetzte 1993 Tarabas mit einem Nachwort von Mira Miladinoviü Zalaznik (Verlag Mihelaþ), 1998 übersetzte Stanka Rendla Hotel Savoy und steuerte ein Nachwort bei (Verlag Cankarjeva založba) und Stanislav Maršiþ übersetzte 2009 Die Legende vom heiligen Trinker (Verlag Mohorjeva založba). Im Weiteren möchte ich mich auf die Übersetzungen der Romane Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft beschränken und ihre Bedeutung für den slowenischen Raum hervorheben, geht es uns ja darum, ein möglichst vielfaches Bild einer Zeit zu bekommen und das anhand ästhetisch anspruchsvoller literarischer Werke, die mehrdeutig sind und viele Interpretationen zulassen. Dabei behaupte ich, dass diese beiden Werke paradigmatisch für das Verbindende der Kulturen stehen, denn ich gehe davon aus, dass gerade diese Idee für Joseph Roth am wichtigsten war. Nicht unbegründet »vermischt« oder gar »verwechselt« Roth absichtlich verschiedene Kulturen. Alfred Polgar stellte in seinem Nachruf an den Dichter zu Recht fest: »Das Heimweh des inkarnierten Österreichers, der er war, galt weniger dem Stück Erde, das diesen Namen trug, als der Idee Österreich und seinem geistig-seelischen Klima «.7 6 7

Janko Moder: Slovenski leksikon novejšega prevajanja. Koper: Lipa 1985. Christa Sauer: Geleitwort im Namen der Österreichischen Botschaft. In: Thomas Eicher: Grenzüberschreitungen. Oberhausen: Athena 1999, S. 20.

334

Vesna Kondriþ Horvat

II Die slowenischen Übersetzungen der beiden Romane stammen von Mira Miladinoviü Zalaznik, einer renommierter Übersetzerin aus dem Deutschen. Wenn hier behauptet wird, dass vor allem Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft wichtig für das Gedächtnis der Slowenen sind, dann behaupte ich das nicht aus sentimentalen Gründen, weil Radetzkymarsch mit nachfolgenden Sätzen, einen Slowenen in den Auftakt rückend, beginnt: »Die Trottas waren ein junges Geschlecht. Ihr Ahnherr hatte nach der Schlacht bei Solferino den Adel bekommen. Er war Slowene. Sipolje – der Name des Dorfes, aus dem er stammte – wurde sein Adelsprädikat«,8 während Die Kapuzinergruft folgendermaßen angeht: »Wir heißen Trotta. Unser Geschlecht stammt aus Sipolje, in Slowenien«,9 sondern, weil ich, ähnlich wie vor mir schon Mira Miladinoviü Zalaznik in ihrem Artikel »Einmal in der Woche, am Sonntag, war Österreich«,10 behaupte, dass Joseph Roth das Slawische und Slowenische nur als Material benutzt, um seine eigene Welt aufzubauen und mit ihr vor allem dem großen kulturellen Verlust nachzutrauern. Ich behaupte das trotz Roths Beteuerung im Vorwort seines Buches Die Flucht ohne Ende, er habe nichts erfunden, nichts komponiert, denn er sagte bald danach der Neuen Sachlichkeit ab. Das Slowenische bzw. das Slawische stehen eigentlich nicht für sich, sondern ihnen kommt eine paradigmatische Rolle zu und die beiden Begriffe erfüllen eine Funktion im Rahmen des Romans. Sie stehen zwar einerseits für den Multinationalismus der Habsburgermonarchie, andererseits für Joseph Roths Behauptung, die Monarchie lebe nicht von ihrem Zentrum, sondern von der Peripherie oder wie Graf Chojnicki in Die Kapuzinergruft behauptet: »Die österreichische Substanz wird genährt und immer wieder aufgefüllt von den Kronländern«.11 Und die Menschen in diesen Ländern sind auch die treuesten Diener der Monarchie, wie es wiederum Chojnicki treffend formuliert: Ich will zugleich damit auch sagen, daß nur diesem verrückten Europa der Nationalstaaten und der Nationalismen das Selbstverständliche sonderbar erscheint. Freilich sind es die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Galizianer, die Kaftanjuden aus Boryslaw, die Pferdehändler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajewo, die Maronibrater aus Mostar, die ›Gott erhalte‹ singen. Aber die deutschen Studenten aus Brünn und Eger, die Zahnärzte, Apotheker, Friseurgehilfen, KunstPhotographen aus Linz, Graz, Knittelfeld, die Kropfe aus den Alpentälern, sie alle singen die ›Wacht am Rhein‹. Österreich wird an dieser Nibelungentreue zugrunde gehen, meine Herren! Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie.

8 9 10

11

Roth, Radetzkymarsch (wie Anm. 3), S. 7. Roth, Die Kapuzinergruft (wie Anm. 5), S. 5. Vgl. Mira Miladinoviü Zalaznik: »Einmal in der Woche, am Sonntag, war Österreich«. Joseph Roth (1894–1939), österreichischer Dichter und Journalist. In: Acta neophilologica 33 (2000), Nr 1–2, S. 13–34. Roth, Die Kapuzinergruft (wie Anm. 5), S. 15.

Übersetzung als transkulturelle Begegnung

335

Österreich ist nicht in den Alpen zu finden, Gemsen gibt es dort und Edelweiß und Enzian, aber kaum eine Ahnung von einem Doppeladler.12

Roth konnte also als überzeugter Monarchist seine Hoffnungen allein auf das Südslawische setzen, denn von den Deutschen war er längst enttäuscht, wie das obige Zitat beweist. Er kritisiert Wien, weil dort der Nationalismus herrschte. Der Vater des Erzählers in Die Kapuzinergruft war ein Rebell und er träumte von einer Monarchie der Österreicher, Ungarn und Slawen – der Slawen, von denen Joseph Roth in einem Bericht aus Belgrad behauptet: Indessen ist gerade das südslawische Volk intelligent, aufgeweckt, diszipliniert, politisch selbständig, kritisch, mit einem hellen, gesunden, ländlichen Verstand begabt, human, heiter, kultiviert, von einer guten, südlichen Sonne gesegnet, ohne nationalistische Vorurteile, ohne jeden religiösen Fanatismus, loyal gegen andere Nationen, Stämme und Rassen. Nirgends sah ich einen solchen Gegensatz zwischen dem Geist der Verordnungen und Gesetze und dem Charakter des Volkes. Die Verwaltung ist reaktionär, die Bevölkerung ist fortschrittlich.13

So verwundert es nicht, dass gerade ein solcher klare Kopf in der Schlacht von Solferino dem Kaiser das Leben rettet und sich als ein überlegener Stratege erweist. Es wird zwar in allen Kritiken erwähnt, dass Trotta dem Kaiser das Leben gerettet hat, aber nirgends wird der Hergang hervorgehoben: Da erschien zwischen dem Leutnant und den Rücken der Soldaten der Kaiser mit zwei Offizieren des Generalstabs. Er wollte gerade seinen Feldstecher, den ihm einer seiner Begleiter reichte, an die Augen führen. Trotta wusste, was das bedeutete: selbst wenn man annahm, dass der Feind auf dem Rückzug begriffen war, so stand seine Nachhut gewiß gegen die Österreicher gewendet und wer einen Feldstecher hob, gab ihr zu erkennen, daß er ein Ziel war, würdig getroffen zu werden.14

Tone Smolej spricht in seinem Aufsatz »Stereotypen in der slowenischen Sprache, Literatur und Kultur« über Trotta als über einen »entslowenisierten österreichischen Leutnant«, nennt den Roman Radetzkymarsch »die Entfernung von slowenischen Wurzeln« und Die Kapuzinergruft »die Wiederentdeckung dieser«.15 Er meint, dass Joseph Branco eher als ein Kroate denn als ein Slowene beschrieben werde. Im Bezug auf Sipolje behauptet Smolej: »Es handelt sich um eine der interessantesten Beschreibungen eines slowenischen Ortes in der europäischen Literatur, denn mit Slowenien hat sie nichts gemein-

12 13

14 15

Ebd., S. 14–15. Joseph Roth: Die weißen Städte. In: Joseph Roth: Werke. Bd 2. Das journalistische Werk 1924–1928. Hg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 747–749. Roth, Radetzkymarsch (wie Anm. 3), S. 7–8. Tone Smolej: Podoba Slovenije v svetovni prozi. In: I. Novak-Popow (Hg.): Stereotipi v slovenskem jeziku, literaturi in kulturi: zbornik predavanj. Ljubljana: Center za slovenšþino kot drugi/tuji jezik pri Oddelku za slovenistiko Filozofske fakultete 2007, S. 94–101, hier S. 98. (Übersetzung v. K. H.).

336

Vesna Kondriþ Horvat

sam«.16 Somit fasst er das zusammen was bereits vor ihm Alfred Doppler, Zoran Konstantinoviü, Armin Wallas, Mira Miladinoviü Zalaznik und Irena Samide in ihren Artikeln behaupteten.17 Es ist allgemein bekannt, dass Roth sehr viel in Europa herumreiste und viele historische Tatsachen getreu in sein Werk einbaute. Doch viele historische Unstimmigkeiten, die sich auf Slowenien beziehen, und auf die in ihren soeben erwähnten Artikeln auch Mira Miladinoviü Zalaznik oder auch Tone Smolej verweisen und die einem slowenischen Leser sofort auffallen – z. B. dass man bei uns keine »rakija« trinkt, sondern »šnops«, dass es bei uns keine Moschee und keine auf dem Boden liegenden Moslems gab, kein historisch nachweisbares Sipolje usw. –, überzeugen einen davon, dass es Roth gar nicht auf eine 1:1 Abbildung ankam, sondern auf die Herstellung einer Atmosphäre, Aufstellung einer möglichen Welt, der er nachtrauerte. Das wird durch verschiedene Figuren manifest. Das fixe Figurenrepertoire in den beiden Romanen Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft, wie es bereits Alfred Doppler konstatierte, zeugt allein schon davon, denn den festen Freundeskreis bilden: »der lebenswache Enkel, der kraftvolle galizische Jude und der lebenstüchtige slowenische Bauer«.18 Wie allseits bekannt, und wie man aus allen Biografien erfährt, befasste sich Joseph Roth als Journalist mit den »Gründen, die das Ende Österreichs herbeigeführt haben« und was er journalistisch bearbeitete, ließ er auch in sein litera16 17

18

Ebd. Vgl. dazu Alfred Doppler: »Die Kapuzinergruft« von Joseph Roth. Österreich im Bewußtsein von Franz Ferdinand Trotta. In: Michael Kessler/Fritz Hackert (Hg.): Joseph Roth. Tübingen: Stauffenburg 1990, S. 91–98; Zoran Konstantinoviü: Joseph Roth und die Südslawen. Blickpunkt und Rezeptionsmerkmale. In: ebd., S. 181– 189; Armin A. Wallas: Das Bild Sloweniens in der österreichischen Literatur. Anmerkungen zum Werk von Joseph Roth, Ingeborg Bachmann und Peter Handke. In: Acta neophilologica 24 (1991), S. 55–76; Mira Miladinoviü Zalaznik. Joseph Roth: »Wenn die Welt untergeht muss man nach Sipolje«: Sind die Trottas vielleicht Slowenen? In: Znanstvena revija, 3 (1991), Nr 1, S. 175–181; dies.: Vom Schicksal, ein literaturfähiger Slowene zu sein. In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 44 (1995), Nr 1, S. 48–52; dies.: »Einmal in der Woche, am Sonntag, war Österreich«. Joseph Roth (1894–1939), österreichischer Dichter und Journalist. In: Acta neophilologica 33 (2000), Nr 1–2, S. 13–34; dies.: »V teh sanjah mi pripovedujejo, da ne smem sanjati … « Kako stopajo Slovenci v besedila Josepha Rotha, Petra Handkeja in Draga Janþarja. In: Tone Smolej: Podoba tujega v slovenski književnosti – podoba Slovenije in Slovencev v tuji književnosti. Ljubljana: Oddelek za primerjalno književnost in literarno teorijo Filozofske fakultete Univerze v Ljubljani 2002, S. 152–164; Irena Samide: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wo liegt das holde neunte Land«? Der habsburgische Mythos aus slowenischer Sicht. In: Kakanien revisited: das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Hg. von Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener und Clemens Rutner. Tübingen, Basel: A. Francke cop. 2002 (Kultur – Herrschaft – Differenz; 1), S. 201–210. Doppler, »Die Kapuzinergruft« von Joseph Roth (wie Anm. 17), S. 92.

Übersetzung als transkulturelle Begegnung

337

risches Werk einfließen, dabei geht es, wie Alfred Doppler feststellt, nicht um die »nostalgische Verherrlichung« sondern um »eine moralische Abrechnung«.19 Dabei stellt Roth fest, man habe durch eine konstitutionelle Bedingtheit, die sich »aus den Irrtümern der alten Monarchie noch herleitet […] innerhalb eines großen Reiches von sechzehn Nationen die deutschsprachigen Österreicher als eine Art dominierendes ›Staatsvolk‹« gelten lassen.20 Was Doppler als »Enttäuschung und Vergeblichkeit« im Roman Die Kapuzinergruft nennt, bezieht sich auf die »enttäuschte Hoffnung« für die Slawen. Der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand, der in Sarajewo ermordet wurde, bemühte sich nämlich um die Umwandlung des Dualismus in den Trialismus, durch den »die Slawen vor allem auf Kosten Ungarns eine weitgehende Selbständigkeit erhalten sollten«.21 Die Rolle der Slowenen in den beiden hier besprochenen Romanen wurde schon mehrmals diskutiert und oft wurde überzeugend dargestellt, dass Slowenien als Projektionsfläche der Wünsche, als ein Märchenland erscheint, ein Muster, das später auch Peter Handke und Ingeborg Bachmann wiederholen, wie Armin Wallas in seinem Beitrag zum ersten Mal ausführlich belegte.22 Anhand des Romans Radetzkymarsch fasste er präzise zusammen: Der Großvater hat selbst mit der Tradition gebrochen und musste mit ansehen, wie seine Heldentat zu Propagandazwecken verfälscht wurde. Was natürlich seine Gründe in historischen Verhältnissen hatte. Die vorindustrielle Utopie des bäuerlichen Lebens entlarvte sich angesichts der Anforderung des moderneren Industriezeitalters als intellektueller Eskapismus. Die slowenischen Bauern, die im Einklang mit der Natur leben, stehen in einem antithetischen Verhältnis zu den Entfremdungen in der modernen Großstadt. Die Wunschprojektion des Eskapisten gibt jedoch nicht die Realität einer bäuerlichen Gesellschaft, die sich gerade in Auflösung befand, wieder, sondern sie erweist sich als Versuch einer Selbsttherapie. Die Welt der slawischen Bauern symbolisiert das archetypische Ensemble der Einheit von Ich und Welt. Der Wunsch, in diese UrsprungsLandschaft zurückzukehren, bleibt jedoch unerfüllt. Der von Ich-Dissoziation und Depersonalisation bedrohte, der Entfremdung in einer kapitalisierten Industriegesellschaft ausgesetzte moderne Mensch imaginiert das SehnsuchtsLand als Kehrbild seines Mangels. Das Sehnsuchts-Land erweist sich als ein intellektuelles Konstrukt. So wird die Heimatsuche des Protagonisten als Prozess der Mythisierung gestaltet. Die Heimat ist allgemein Vergangenheit, betrachtet aus der Entfernung, wird sie bewusst idealisiert und zum Mythos kreiert. Das, was im Erzählvorgang hergestellt wird, sind rückgewandte Utopien, 19 20

21 22

Ebd., S. 91. Joseph Roth: Die Hinrichtung Österreichs. In: Joseph Roth: Werke. Hg. und eingeleitet von Hermann Kesten. Bd 4. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1975–76, S. 765– 766), hier S. 765. Ebd. Wallas, Das Bild Sloweniens in der österreichischen Literatur (wie Anm. 17).

338

Vesna Kondriþ Horvat

die als Realitäten vorgetäuscht und wirksam gemacht werden, vor allem aus Sehnsucht und existentieller Not.23 So verknüpft sich in der Vorstellung Carl Josephs der Großvater-Mythos mit dem Mythos von Sipolje.24 Ich möchte im Zusammenhang mit der Diskussion des Slawischen noch auf einen Aufsatz verweisen. Der berühmte Zoran Konstantinoviü befasste sich in seinem Artikel Joseph Roth und die Südslawen 1990 mit der Rolle des Slawischen. Er geht darin der Sache genau nach und stellt fest, es sei für den Kenner österreichischer Militärgeschichte und österreichischer Militärtradition nicht schwer, daraus und auch noch aus einigen anderen Angaben zur Schlussfolgerung zu gelangen, dass in diesem Zusammenhang eigentlich an das Gebiet der Militärgrenze und an ihren spezifischen Menschenschlag gedacht ist, an die Bedeutung, die dieser Raum für die Geschichte des Habsburgerreichs besaß, und dass Roth eine solche Familie stellvertretend für die Rolle wählt, die das Südslawentum insgesamt in der Geschichte des Habsburgerreiches spielte. Die Militärgrenze war auch wirklich in vieler Hinsicht im österreichischen Bewusstsein mit einer typischen Vorstellung von den Südslawen verbunden und dürfte dies auch bis zum heutigen Augenblick geblieben sein. Konstantinoviü sagt: »So möchte ich hier ganz dezidiert die Behauptung aufstellen, dass es sich bei der Interpretation der fiktiven Erzählwelt nicht eng begrenzt um Slowenien handeln sollte, und anstelle von ›slowenisch‹ jedes Mal ›südslawisch‹ oder ›slawisch‹ zu setzen wäre«.25 Das tut in der Folge Konstantinoviü auch, indem er einige Stellen modifiziert zitiert: Wenn es bei Roth heißt: »vor fünf Jahren noch hatte er zu seinem Sohn slowenisch gesprochen«,26 heißt es bei Konstantinoviü nun »noch slawisch gesprochen«27 und Roths Stelle »während der Hauptmann auf die Lippen des Vaters achtete, um den ersten slowenischen Laut zu begrüßen«,28 lautet bei Konstantinoviü das Zitat »um den ersten slawischen Laut zu begrüßen«.29 Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Roth an dieser Stelle genauso wie der Hauptmann Trotta reagieren würde, als jener im Lesebuch die gefälschte Geschichte seiner Heldentat fand. Einer solchen Vorgehensweise muss man sich allein schon deswegen widersetzen, weil in einem künstlerischen Werk alle Begriffe und Mittel mit einem bestimmten Zweck eingesetzt werden. Und zweitens, weil Roth selbst an mehreren Stellen den Ausdruck »slawisch« verwendet und daher an den erwähnten Stellen bestimmt mit Absicht »slowenisch« und nicht »slawisch« steht. Außerdem kennen wir, wie ich oben schon erwähnte, auch aus der neueren Geschichte Beispiele, wo man Slowenien sehr gern als ein Märchenland 23 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 58. Ebd., S. 57. Konstantinoviü, Joseph Roth und die Südslawen (wie Anm. 17), S. 182. Roth, Radetzkymarsch (wie Anm. 3), S. 11. Konstantinoviü, Joseph Roth und die Südslawen (wie Anm. 17), S. 183. Roth, Radetzkymarsch (wie Anm. 3), S. 11. Konstantinoviü, Joseph Roth und die Südslawen (wie Anm. 17), S. 183.

Übersetzung als transkulturelle Begegnung

339

betrachtet, wie z. B. Peter Handke, und man gar nicht wahrhaben möchte, dass die Situation von einer anderen Perspektive diametral entgegengesetzt ist.30 Davon zeugen auch einige Werke der slowenischen Moderne, was Irena Samide in ihrem hier bereits erwähnten Beitrag »Spieglein, Spieglein an der Wand: wo liegt das holde neunte Land« am Beispiel des in Wien lebenden slowenischen Modernisten Ivan Cankar ausführte oder auch Mira Miladinoviü Zalaznik im ebenso bereits erwähnten Artikel »In diesen Träumen erzählt man mir, ich darf nicht träumen: Wie treten die Slowenen in die Texte von Joseph Roth, Peter Handke und Drago Janþar ein«.31

III Der slowenischen Version des Romans Radetzkymarsch wurde ein eingehendes Nachwort des Historikers Peter Vodopivec mit dem Titel Joseph Roth und seine Flucht in die Vergangenheit angehängt, in dem der Schriftsteller Joseph Roth vorgestellt wird als einer der größten Erzähler der modernen österreichischen Literatur. Vodopivec hebt Roths Beobachtungsgabe hervor und die konkrete Lebenserfahrung sowie seine persönliche Beziehung zur Welt und zum Leben, die er in seine Werke eingeflochten habe und stellt fest: »Im Zentrum von Roths schriftstellerischer Aufmerksamkeit steht der Einzelne, vereinsamt und verloren, ein winziger und anonymer Teilchen im großen Mechanismus der zerfallenden Welt«.32 Vodopivec verweist auf den Essay von Claudio Magris Ostjuden auf Wanderschaft und auf dessen Feststellung, dass Roth gemäß dem hebräischen Antihistorismus angeblich »jeder Umwandlung der Werte auf der horizontalen historischen Ebene« abgeneigt gewesen sein sollte.33 Er habe eine Zuflucht nicht nur im Ostjudentum, sondern auch in der von »Ehrwürdigkeit, Macht und Tradition gezeichneten Vergangenheit des multinationalen Staates, dessen Herrscher in der Kapuzinergruft ruhten«, gesucht.34 Im weiteren geht Vodopivec auf den Roman ein und stellt mit Lukács fest, dass sich »hinter dem unverdeckten Bedauern des Schriftstellers eine sozialpolitische Demistifikation versteckt und detailliertes Bild des Verfalls und der Dekadenz«.35 Vodopivec streicht auch Roths Ironie heraus und betont im Weiteren, »die Monarchie habe in Roths Horizont einen Schutz dargestellt gegen 30 31 32

33 34 35

Vgl. dazu z. B. die Polemik zwischen Peter Handke und Drago Janþar mit Bezug auf den Zerfall Jugoslawiens. Vgl. Zalaznik, »V teh sanjah« (wie Anm. 17), S. 152–164. Peter Vodopivec: Jospeh Roth in njegov beg v preteklost. In: Joseph Roth: Radetzkyjeva koraþnica (Übersetzung Mira Miladinoviü). Ljubljana: Mladinska knjiga 1982, S. 362–374, hier S. 364. (Übersetzung der Zitate von Peter Vodopivec v. K. H.). Ebd., S. 366. Ebd. Ebd., S. 369.

340

Vesna Kondriþ Horvat

den siegreichen Zug der bürgerlichen Industriegesellschaft mit derer vorsichtigen Freiheit, deren Totalitarismen und ihrer Gewalt auf die Individualität des Einzelnen«.36 Selbstverständlich geht Vodopivec auch auf die Frage ein, warum Roth für seine Protagonisten die Slowenen wählte, eine Frage, die Roths Kritiker nicht besonders beschäftigt habe. Er geht auf die bereits erwähnten Unstimmigkeiten ein und kommt zum Schluss: Roth geht es nicht um konkrete Slowenen und konkrete geographische und nationale Distanzen und er hat die Orte und Nationen offensichtlich bewusst vermischt. Die Slowenen dienen ihm als ein Bildnis der größeren südslawischen Gemeinschaft und ihrer Zugehörigkeit zur Dynastie und zugleich als ein Bildnis des Volkes, das mit seiner mehrheitlichen bäuerlichen Struktur die Kontinuität personifiziert, das Verharren im Glauben und Wahren der Tradition.37

Roth sei sich der Tatsache bewusst gewesen, dass die Monarchie durch die Völker mit dem entwickelten Bürgertum zerstört wurde, durch die »Herrennationen« Deutsche und Ungarn; und ihre grundlegenden Werte werden am längsten in den passiven Gebieten mit der bäuerlichen Bevölkerung erhalten, den ihr Lebensrhythmus wird bestimmt durch die »Dauer« und Traditionstreue. Das romantische Bild von Sipolje ist ein Bild der Oase, die noch nicht von dem raschen und technischen Fortschritt ergriffen wurde. Doch wenn die alte Welt zusammenbricht, verschwindet auch Sipolje.38

Um mit Roth zu sprechen: Der Vater des Großvaters noch war ein Bauer gewesen. Sipolje war der Name des Dorfes, aus dem sie stammen. Sipolje, das Wort hatte eine alte Bedeutung. Auch den heutigen Slowenen war es kaum mehr bekannt. Carl Joseph aber glaubte, es zu kennen, das Dorf. Er sah es, wenn er an das Porträt seines Großvaters dachte. das verdämmernd unter dem Suffit des Herrenzimmers hing.39

Eine Rezension des übersetzten Werkes erschien aus der Feder Drago Janþars, der darin behauptet, Roth spreche zwar von den historischen und Wertfragen der Zeit, doch: Trotz allem, was zu denken gäbe, dass es sich um einen nostalgischen oder sozialkritischen Roman handelt, muss man sagen, dass vor uns Literatur liegt, gute Literatur. […] In traditionell gebildeten Sätzen und im fabulativen Fluss steckt eine äußerst moderne Aussage, die mit ihren zahlreichen Einzelheiten wirkungsvoll den Menschen der heutigen Zeit anspricht.40

36 37 38 39 40

Ebd., S. 370. Ebd., S. 372. Ebd., S. 373. Roth, Radetzkymarsch (wie Anm. 3), S. 61. Drago Janþar: Koraþnica pred nedeljskim kosilom. In: Dnevnik, 11.9.1982, S. 12.

Übersetzung als transkulturelle Begegnung

341

Janþar lobt auch die Übersetzerin, denn in der Übersetzung könne man leicht die Elemente von Roths Stil erkennt. Die Übersetzung des Romans Die Kapuzinergruft besprach Anton Janko, der Roths Bedeutung herausstrich und auf einige Mängel in der Übersetzung hinwies.41

IV Aristoteles schreibt in seiner Poetik: »Alle Dichtung ist zudem Darstellung von Handlungen«; allerdings nicht von tatsächlich Geschehenem, sondern von dem, »was geschehen könnte, das heißt das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche« (Poet. 9, 1451a37f.). Dargestellt werden Handlungen, die etwas über den Menschen im Allgemeinen aussagen, nicht über zufällige und beliebige Verhältnisse. Ziel ist nicht die Nachahmung von Menschen; nicht auf Figuren oder Charaktere, sondern auf Handlungen kommt es an; erstere sind nur Mittel (Poet. 6, 1450a26–23). Genauso muss auch das Bild der Slowenen und Sloweniens in Roths Romanen gesehen werden. Wichtig ist, dass diese Werke als inter- oder transkulturelle Vermittler auch auf Slowenisch vorliegen und auch die des Deutschen nicht kundige Slowenen lesen und sich ihre eigene Meinung darüber bilden können, was Armin Wallas in seinem weiter oben bereits erwähnten Artikel betonte: »Roth erkannte die Schwächen und Mängel der Habsburgermonarchie, zugleich jedoch erkennt er in der supranationalen Struktur des Reiches ein Modell kulturell-ethnischer Vielfalt sowie die Chance zur Wahrung der Rechte von Minderheiten«.42

41 42

Anton Janko: Grobnica Avstro-Ogrske. In: Delo, 28.3.1985. Wallas, Das Bild Sloweniens in der österreichischen Literatur (wie Anm. 17), S. 58.

Heinz Lunzer

Quellen zu Leben und Werk von Joseph Roth Interviews und andere Aussagen von Zeitzeugen

Wissen wir genug über Joseph Roths Leben? Die Neugier, über Leben und Arbeit von Künstlern möglichst viel zu erfahren, ist grenzenlos, ganz besonders dann, wenn einer aussagekräftige Positionen zur Zeit getätigt hat. Roth hat keine Autobiographie geschrieben; aber viele Briefe, die eine Fülle von Aussagen zur Befindlichkeit, zur Arbeit und zu den zeitgeschichtlichen Entwicklungen sowie zu den Positionen anderer Personen enthalten. Für den Forscher mit einer Mischung von Interesse an Literatur wie an Geschichte sind sie ein äußerst wichtiges und detailreiches Material zu den Jahren der jungen Demokratien und deren Übergang in den Faschismus, vor allem in Deutschland und Österreich, später auch in Frankreich. Dazu liegen Aussagen in Korrespondenzen von Zeitzeugen mit Dritten und in Lebens- und Zeitdarstellungen vor, gedruckten wie ungedruckten. Wie stets ist bei der »wissenschaftlichen« Einschätzung »privater« Aussagen eines Autors selbst große Vorsicht geboten. Roth neigte zu groben, launischen, überspitzten Formulierungen vor allem bei Missfallen oder Ungeduld Kollegen und Politikern gegenüber. Auskunft im Sinn objektiver Mitteilungen sind Stellen aus diesen Briefen nur in einem eingeschränkten Ausmaß. Wer sie zitiert und als faktische Aussage oder quasi konstante Meinung Roths zum Thema darstellen will, muss kritisch sein und die Konsistenz prüfen und absichern. Nur allzu rasch kann etwa eine momentane scharfe Aussage mit einer permanenten Grundhaltung verwechselt werden. (Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt – Roth hat freundliche Einschätzungen veröffentlicht, die seiner privaten kritischeren oder distanzierteren Meinung eines Werks oder einer Person gegenüber nicht entsprachen.) Ähnliche Vorsicht ist beim Bewerten, Verwenden, Zitieren der Aussagen von Zeitzeugen geboten. David Bronsen und Senta Zeidler-Lughofer haben das große Glück gehabt, in den 1950er und 1960er Jahren von Zeitzeugen substanzielle Aussagen über Roth zu erhalten – in Interviews und Briefen. Zweifellos war es sehr verdienstvoll, Personen, die Roth erlebt haben, zum Erzählen oder Aufschreiben ihrer Erinnerungen zu bewegen. Allerdings treten selbst hier die Ebenen der subjektiven Sicht und auch die des Fragens oder Nachfragens gewichtig auf den Plan – und dazu die der Einschätzung durch die auswertenden Wissenschaftler. An der umfangreichen Biographie Bronsens, die er nach etwa 15jähriger Recherche und etwa 150 Interviews 1974 publizierte, fällt auf, dass

344

Heinz Lunzer

er mit den Inhalten seiner Quellen der »oral history« sehr selektiv umgegangen ist. Viele Aussagen dienten ihm als Absicherung seiner eigenen Schlüsse, nur wenige zitierte er wörtlich1 oder ausführlich; viele anderen Aussagen und Aspekte, viele Details blieben unerwähnt. Das mag mit der Absicht zusammenhängen, eine möglichst kohärente, in sich geschlossene und nicht allzu widerspruchsvolle Darstellung bieten zu wollen; auch mit dem Umfang – Bronsens Werk ist zwar über 700 Seiten stark, doch für ein detaillierteres Ausbreiten von Aussagen oder für die Diskussion von unterschiedlichen, manchmal gegensätzlichen Eindrücken, welche die Zeitzeugen berichtet haben, hätte er noch viel mehr Platz benötigt. Heute ist, zumindest im Hinblick auf Detailuntersuchungen, der Reichtum an Quellenmaterial ein Vorteil und keine Last mehr. Es ist, da dem Wunsch nach Gesamtdarstellung mehrfach Genüge getan wurde,2 möglich, sich mit den Aussagen der Zeitgenossen erneut zu beschäftigen: kritisch abwägend, oder auch unentschieden offen lassend, wo keine endgültige Beurteilung unterschiedlicher Darstellungen möglich erscheint; Fragestellungen und Hinweisen nachzugehen und vielleicht noch das eine oder das andere an Quellenmaterial aufzuspüren bzw. zu nützen. Lohnend wäre zum Beispiel die Suche nach der Handschrift des Romans Radetzkymarsch;3 nach verschollenen Korrespondenzen wie jener zwischen Roth und dem Autor Wilhelm Herzog aufzunehmen. Vor allem aber sind kritische Evaluationen der Aussagen der Zeitgenossen Roths sinnvoll, da sie das Bild des Autors durchaus noch bereichern können. Die Interviews von David Bronsen und zahlreiche weitere Unterlagen, die er zur Arbeit an seiner Roth-Biographie herstellte, befinden sich heute in der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur in Wien und können dort eingesehen werden.

1

2

3

Oder annähernd wörtlich – man vergleiche z. B. den aufgezeichneten Text von Bronsens Interview mit Germaine Alazard, der Wirtin des Café Le Tournon (in: Heinz Lunzer: Joseph Roth im Exil in Paris 1933 bis 1939. Wien: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur 2008, S. 92–94) mit dem redigierten Version in: David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 536–539. Bronsen ließ das Interview in eine Sprache (Französisch) bringen und fasste es zusammen; es verlor dabei viel vom Charakter der Unmittelbarkeit des Gesprächs und manche Details. Erst recht viel ging bei einer Kürzung um ca. 300 Seiten verloren: David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Bearb.: Katharina Ochse. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993. Neben Bronsens Biographie sei zumindest auf drei andere hingewiesen: Helmut Nürnberger: Joseph Roth in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981 u. ö.; Heinz Lunzer/Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994 und 2009; Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009. Im Leo Baeck Institute in New York, der größten Sammlung von und zu Roth, liegen nur wenige zugehörige handschriftliche Seiten.

Die Autorinnen und Autoren

MATJAŽ BIRK studierte Germanistik und Romanistik an der Universität Ljubljana, außerordentlicher Professor für deutsche Literatur an der Abteilung für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Universität Maribor, wissenschaftlicher Betreuer der Österreich-Bibliothek Maribor. Hauptarbeitsgebiete: Literatur des 19. Jhs und des Exils, insb. aus Österreich; interkulturelle Literaturgeschichte – Erforschung von literarischen Transferprozessen, deutschsprachiger Literatur und Kultur (Periodika, Theaterwesen) im slowenischen ethnischen Territorium bis 1945. Veröffentlichungen: »Vielleicht führen wir zwei verschiedene Sprachen…«. Zum Briefwechsel zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig (Münster/London 1997); »Vaterländisches Interesse, Wissenschaft, Unterhaltung und Belehrung…«. Illyrisches Blatt (Ljubljana 1819–1849), nemški literarni þasopis v slovenski provinci predmarþne Avstrije. Illyrisches Blatt (Ljubljana 1819–1849) (Maribor 2000); (Hg. mit Th. Eicher): Stefan Zweig und das Dämonische (Würzburg 2008) und zahlreiche Aufsätze. Projektkoordination: Kulturelle Transfers in deutschsprachigen Periodika des Habsburgerreichs 1850–1918; Forschungsprojekt im Rahmen der ÖsterreichBibliotheken im Ausland (2008–2010). Gastvorträge und -aufenthalte an Universitäten in Österreich, Deutschland, Bulgarien, Frankreich, Kroatien usw. HELEN CHAMBERS ist Professor of German an der University of St Andrews (Schottland). Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem über Theodor Fontane, Joseph Roth und deutschsprachige Literatur von Frauen. Neuere Buchpublikationen: Theodor Fontane im Spiegel der Kritik (2003), Humor and Irony in Nineteenth-Century German Women’s Writing (2007); (Hg.): Violence, Culture and Identity: Essays on German and Austrian Literature, Politics and Society (2006); zu Roth u. a.: (Hg.): Co-existent Contradictions: Joseph Roth in Retrospect (1991), ›Signs of the Times: Joseph Roth’s Weimar Journalism‹ in K. Leydecker (Hg.): German Novelists and the Weimar Republic (2006). ISABEL DOS SANTOS, Dr., aufgewachsen in Renningen, Baden-Württemberg. Studienbeginn in Coimbra, Portugal (Moderne Fremdsprachen), dann Umzug nach Südafrika und Studium an der University of South Africa/Unisa. Master 1999 mit einer Arbeit zu ETA Hoffmann. Seit 2002 Dozentin für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Stellenbosch. Wissenschaftliche Inte-

346

Die Autorinnen und Autoren

ressen gelten hauptsächlich Joseph Roth (Promotion) und Fremdsprachenmethodik. Arbeitsschwerpunkte: Deutsch als Fremdsprache, Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts. Mitherausgeberin der Zeitschrift eDUSA (Deutschunterricht im Südlichen Afrika). Stellenbosch: Germanistenverband im Südlichen Afrika SAGV. DAVID HORROCKS (1943–2011). Studium der Germanistik und Romanistik in Oxford. Langjährige Tätigkeit als Dozent für Germanistik an der Universität Keele, anschließend Lehrauftrag an der Universität Exeter, wo er zuletzt Honorary Fellow war. Publikationen: Aufsätze zu Hermann Brochs Schlafwandler und seinem Bergroman; über Joseph Roths frühen Journalismus und seine Juden auf Wanderschaft; zu Goethe, Karl Gutzkow, Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse, Alfred Andersch, Günter Grass, und zur deutsch-türkischen Literatur der Gegenwart. Übersetzungen ins Englische von Werken Thomas Bernhards und Hermann Hesses. JON HUGHES, Dr., ist Senior Lecturer in German am Royal Holloway College, University of London und Autor des 2006 erschienenen Facing Modernitity: Fragmentation, Culture and Identity in Joseph Roth’s Writing in the 1920s (Maney Publishing/MHRA) sowie mehrerer Artikel zu Joseph Roth und zur literarischen Moderne und zur Kultur der Zwischenkriegszeit. DRAGO JANýAR, geb. 1948 in Maribor, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen slowenischen Schriftsteller. 1974 wurde er wegen »feindlicher Propaganda« und »publizistischen Ungehorsams« inhaftiert. Janþar wurde unter anderem 1993 mit dem France-Prešeren-Preis, dem wichtigsten Literaturpreis Sloweniens, ausgezeichnet, 1994 mit dem Europäischen Preis für Kurzprosa, 2007 mit dem Jean Améry-Preis für Essayistik. 1998 wurde Rauschen im Kopf als bester slowenischer Roman des Jahres mit dem hochdotierten Kresnik-Preis ausgezeichnet. SUSANNE KALINA-MCMAHON, Mag. Dr., Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien, Lektorin für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Ulster in Nordirland und an der Franz-LisztMusikakademie in Budapest, Lehramtsstudium Deutsch (PGCE) an der Queen’s University in Belfast, Dokoratstudium an der Universität Ulster zum Thema »Joseph Roth, Stefan Zweig und das neue Österreich (1918–1938)« MARIA KàAēSKA, seit 1973 Arbeit am Germanistischen Institut der Jagellonen-Universität Krakau, 1978 Promotion, 1985 Habilitation, 1986/87 und 1991 Humboldt-Stipendiatin, 1993–1999 Direktorin des Germanistischen Instituts an der Jagellonen-Universität und wieder ab 2008, seit 1993 Professorin der Germanistik an der Jagellonen-Universität Krakau, seit 1994 Leiterin der Insti-

Die Autorinnen und Autoren

347

tutsabteilung Deutsche Literatur, seit 2001 ordentliche Professorin, 2001 der Herder-Preis, 2006 Titel ›Meister‹ und Förderung durch die Stiftung für die Polnische Wissenschaft (FNP) eines Buchprojektes zusammen mit dem Team junger Mitarbeiter, seit 2007 Mitglied des Komitees für Literaturwissenschaftliche Forschungen (KNoL) der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) und Vorsitzende der Kommission für die jüdische Geschichte und Kultur der PAU. Zahlreiche Publikationen. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Galizien und Bukowina in deutschsprachiger Literatur; Ostjudentum; Nachleben der Antike und der Bibel in der modernen Literatur; norwegische Literatur. VESNA KONDRIý HORVAT (1961), Professorin für deutsche Literatur (Philosophische Fakultät der Universität Maribor, Slowenien). 1979–1985 Germanistik und Anglistik, 1987–1992 Magisterstudium (Arbeit über Max Frisch), 1997 Dissertation (Prosa der deutschsprachigen Autorinnen in der Schweiz nach 1945). Forschungsschwerpunkte: Literatur des 20. Jahrhunderts, deutschsprachige Schweizer Literatur, Literatur von Frauen, Literaturdidaktik, Jugendliteratur, Germanistik als Kulturwissenschaft, interkulturelle Germanistik. Teilnahme an Symposien im In- und Ausland, wissenschaftliche Organisatorin von Symposien (Stefan Zweig 1992, Franz Kafka 1994, Franz Kafka und Robert Walser 2008). Zahlreiche Veröffentlichungen, Herausgeberin: Slowenischösterreichische Kafka-Studien (1998), Nekoþ se bodo vendarle morale sesuti okostenele pregrade med ljudstvi (2007), Autorin der wissenschaftlichen Monographie Der eigenen Utopie nachspüren (2002). PRIMUS-HEINZ KUCHER lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt; im WS 2008/2009 Max Kade Professor an der UIC/Chicago. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Österr. und Deutsche Literatur im 19. und 20. Jh.; im bes. Emigrations-, Exil- und Immigrationsaspekte, kulturkontrastive Kontexte und Aspekte der literar.-kulturellen Öffentlichkeit. Literaturbeziehungen und literarisches Übersetzen, Ko-Koordinator von www.literatur epochen.at/exil. Neuere Buchpublikationen (Auswahl): (Mithg.): I. Bachmann: »in die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort…«. Interpretation zum lyrischen Werk (Wien/Köln 2000), Ungleichzeitige/verspätete Moderne. Prosaformen in der österr. Literatur 1820–1880 (Tübingen 2002); (Hg.): Ch. Sealsfield: Sämtliche Werke, Bd 32, Supplementreihe Bd 7 (Hildesheim/New York 2002), (Hg./Übers.): Kenka Lekovich: I speak Gulasch und andere Texte (Klagenfurt 2006), A. v. Tschabuschnigg: Literatur und Politik zwischen Vormärz und Neoabsolutismus (Wien/Köln 2006), (Hg.): Literatur und Kultur im Österreich der Zwanziger Jahre (Bielefeld 2007), (Mithg.): Germanistik und Literaturkritik. Zwischenbericht zu einer wunderbaren Freundschaft (Wien 2007).

348

Die Autorinnen und Autoren

JOHANN GEORG LUGHOFER, Doz. MMag. Dr. MA (Exeter), arbeitet als Dozent an der Deutschabteilung der Filozofska Fakulteta, Ljubljana. Nach seinen Studien der Deutschen Philologie, Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaften in Wien, Granada, Nizza und Exeter unterrichtete er an den Deutschabteilungen der Peking-Universität, China (1999) sowie der University of Exeter, England (2002–2005). Dazwischen engagierte er sich auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit für den Aufbau von Internet, Radio- und Zeitungskommunikation in indigenen Gemeinden in Mexiko (2000–2002). Forschungsschwerpunkte: Exilliteratur, Fremdbegegnung und interkulturelle Kommunikation, insbesondere österreichisch-deutsch-mexikanische Beziehungen. HEINZ LUNZER, geboren 1948, leitete die Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, insbesondere Ausstellungen und Monografien über Joseph Roth, Karl Kraus, Peter Altenberg, Jugendstil und Biedermeier. VICTORIA LUNZER-TALOS, geboren 1944, leitete die Fachbibliothek für Kunstgeschichte an der Universität Wien. Arbeiten mit besonderem Schwerpunkt österreichisch-jüdischer Kulturgeschichte, insbesondere Ausstellungen und Monografien über Joseph Roth, Karl Kraus, Peter Altenberg, Jugendstil und Biedermeier. FERNANDO MAGALLANES, Studium der Germanistik; in den Jahren 1983– 1985: DAAD-Stipendiat an der Universität Freiburg; 1987: Doktor (Deutsche Philologie); 1985–1988: Dozent an der Universität Complutense Madrid; 1988 bis heute: Professor für Deutsche Literatur an der Universität Sevilla; Leiter der Forschungsgruppe »Deutsche Philologie« der Universität Sevilla, die seit 2002 einen internationaler Germanisten-Kongress im Dezember jedes Jahres organisiert. Zahlreiche Publikationen, darunter: Unidad y pluralidad de la persona en la literatura alemana actual. Madrid 1988. Manual de literatura alemana. La literatura alemana en sus inicios. Sevilla 1997. El amor cortés en la lírica medieval alemana (Minnesang). Sevilla 2001. Leiter und Herausgeber der Fachzeitschrift Estudios Filológicos Alemanes (seit 2002 sind 16 Bände erschienen). MIRA MILADINOVIû ZALAZNIK, Prof. Dr., Studium der Germanistik und Romanistik an der Philosophischen Fakultät Ljubljana. Bis 1985 freiberuflich tätig, seitdem an der Philosophischen Fakultät Ljubljana. Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, deutsches Zeitungswesen im slowenischen ethnischen Gebiet, deutsch-slowenische literarische Wechselbeziehungen.

Die Autorinnen und Autoren

349

KLAUS-DETLEF MÜLLER, geboren 1938, Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Köln, Tübingen, Clermont-Ferrand. DAAD-Lektor in Besançon, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft 1975–1987 in Kiel, 1987–2003 in Tübingen. Visiting professor an der Washington University, St. Louis (USA). 2003–2007 Mitglied des Vorstands der GoetheGesellschaft Weimar. Mitherausgeber der Goethe-Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags und der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Brechts sowie der Reihe HERMAEA. Wichtigste Publikationen: Die Funktion der Geschichte im Werk Bertolt Brechts (Tübingen 1967 ²1972), Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit (Tübingen 1976), Bertolt Brecht. Kommentar zur erzählenden Prosa (München 1980), Bürgerlicher Realismus (Königstein 1981), Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung (München 1985, Neubearbeitung vorbereitet für 2009), Franz Kafka, Romane (Berlin 2007). Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts der Goethezeit, Realismus, Literatur des 20. Jahrhunderts, Brecht, Film- und Medienphilologie. WOLFGANG MÜLLER-FUNK, Prof. Dr. phil. habil, Germanist und Kulturphilosoph, Univ. Wien und Diplomatische Akademie Wien, derzeit Senior Research Fellow an Exzellenz-Zentrum GCSC der Univ. Gießen. Publikationen u. a. zur österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, zu Romantik und Avantgarde, zu Kultur- und Medientheorie: Die Kultur und ihre Narrative (2002/2008), Kulturtheorie (2006/2009), (Mithg.): Paradoxien der Romantik (2006). SONJA OSTERWALDER, Studium der Germanistik, Komparatistik und Religionswissenschaft in Wien und Zürich, seit 2005 wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich. 2008 Promotion über die Detektivliteratur. Letzte Veröffentlichung: Vita post mortem. Der Mythos »Gerichtsmedizin« in der Populärkultur. In: Figurationen. Gender, Literatur, Kultur. 2008, Jg 9, Nr 1, S. 91–108. CHRISTOPH PARRY, Prof. Dr. phil., Studium der Germanistik und Russistik in Edinburgh, M.A: 1973, und Marburg/Lahn. Promotion in Marburg/Lahn 1978 über Paul Celan und Osip Mandelstam. 1977–1996 Lehrtätigkeit an Universitäten Turku und Jyväskylä, Finnland. Seit 1996 Professor für deutschsprachige Literatur in Vaasa, Finnland. Seit 2006 auch Leiter des internationalen Magisterprogamms »Intercultural Studies in Communication and Administration« an der Universität Vaasa. Gastprofessuren New Mexico 1995 und Graz 1996. Publikationen: Lehrbuch zur deutschen Kulturgeschichte Menschen Werke Epochen 1993. Monographie: Peter Handke’s Landscapes of Discourse 2003. Zahlreiche Artikel zur deutschen und österreichischen Gegenwartsliteratur sowie zu Fragen der interkulturellen Literaturtransfers. Gegenwärtig: For-

350

Die Autorinnen und Autoren

schungsprojekt zu europäischen Identitätskonstruktionen in der deutschsprachigen Literatur seit dem II. Weltkrieg. ALEXANDER RITTER, Studium der Germanistik, Geographie und Philosophie. Dr. phil. habil. Privatdozent am Institut für Germanistik II (Universität Hamburg). Vorträge an deutschen wie ausländischen Universitäten und Publikationen zur Literatur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts über Erzähltheorie, Literaturbewertung, Regionalliteratur, Literaturgeschichtsschreibung, Lesegesellschaften, Reiseberichte, Germanistik und NS-Zeit, deutsch-amerikanische Literaturbeziehungen, niederdeutsche Literatur, literarische Medialkritik, interkulturelle Funktion von Literatur, deutschsprachige Literatur des Auslands. Letzte Publikationen: (Hg.): Charles Sealsfield. Lehrjahre eines Romanciers 1808–1829. Vom spätjosefinischen Prag ins demokratische Amerika (Wien 2007). (Hg.): Charles Sealsfield im Schweizer Exil 1831–1864. Republikanisches Refugium und internationale Literatenkarriere (Wien 2008). IRENA SAMIDE, Studium der Komparatistik und Germanistik an der Philosophischen Fakultät in Ljubljana (Diplom 1994); Lehrerin, freiberufliche Übersetzerin und Publizistin, Lektorin für deutsche Sprache, seit 2002 Assistentin für neuere deutsche Literatur an der Philosophischen Fakultät in Ljubljana. Magisterarbeit »Die Stimme der Musen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts«. Schwerpunkte: Literatur der Romantik, weibliches Schreiben, Literaturdidaktik, Deutsch-slowenische Wechselbeziehungen, Geschichte des Literaturunterrichts in Slowenien. HARTMUT SCHEIBLE ist Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Promotion 1969 mit einer Dissertation über Joseph Roth. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u. a. zu Carlo Goldoni, zur Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter, zur österreichischen Literatur der Jahrhundertwende, zum literarischen Jugendstil in Wien, zu Arthur Schnitzler sowie zu Theodor W. Adorno. Im Herbst 2009 erschien: Giacomo Casanovo. Ein Venezianer in Europa (Würzburg). SIGURD PAUL SCHEICHL (geboren 1942), in Kufstein aufgewachsen. Studium der Germanistik und Anglistik in Innsbruck und Wien sowie als FulbrightStipendiat an der University of Kansas (USA). 1967 bis 1971 Lektor an der Universität Bordeaux; seit 1971 wieder am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck, seit 1992 ordentlicher Professor für Österreichische Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Literatur in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, besonders Karl Kraus; Grillparzer und Nestroy; Zeitschriftenforschung; sprachliche Analyse literarischer Texte; Judentum und Antisemitismus in der Literatur.

Die Autorinnen und Autoren

351

ZOLTÁN SZENDI, Prof. Dr., geboren 1950 in Paloznak (Komitat Veszprém, Ungarn); Studium der Germanistik und der ungarischen Sprache und Literatur an der József-Attila-Universität Szeged (1970–1975), Promotion (1980), seit 1978 Lehrtätigkeit an der Pädagogischen Hochschule, seit 1980 an der Universität Pécs, Verteidigung der zweiten Dissertation (»Kandidaturarbeit«) 1990, Habilitation (2000), ordentlicher Professor und Institutsdirektor des Germanistischen Instituts an der Universität Pécs. Zahlreiche Forschungsaufenthalte, Gastdozenturen und Gastvorträge an deutschsprachigen Universitäten. NEVA ŠLIBAR, geboren 1949 in Triest; Schule und Studium in Wien, Ljubljana und Zagreb; seit 2000 O. Prof. für moderne deutsche Literatur an der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana und von 2004–2010 Vorstand der Abteilung für Germanistik; 2002–2003 Dekanin der Philosophischen Fakultät. Sprach- und wissenschaftspolitisch bisher in sieben EU-Projekten zur Mehrsprachigkeit tätig. Veröffentlichungen zur Gegenwartsliteratur (Aichinger, Bachmann, Veza Canetti, Handke, Lavant, Späth usw.), Literaturtheorie (lebensgeschichtliches Erzählen, Literaturmodelle, multilinguale Ästhetik), DaFLiteraturdidaktik (siebenfache Fremdheit der Literatur und Kompetenzmodell) und feministischen Literaturwissenschaft. VÉRONIQUE UBERALL, Dr., (geboren 1956), Germanistin. Sie studierte Religionsgeschichte, französische Literatur, Linguistik, und Germanistik. Ihr Forschungsgebiet ist die österreichische Geschichte. Ihre Doktorarbeit unter der Leitung von Frau Univ. Prof. Dr. Geneviève Humbert-Knitel an der Ecole doctorale des Humanités der Universität von Strasbourg (Frankreich) handelt von Joseph Roth. KARL WAGNER, geboren 1950 in Steyr; Studium der Anglistik und Germanistik in Wien; seit 1976 Assistent, Dozent und (ab 1997) ao. Professor in Wien, seit 2003 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Promovierte 1978 mit einer Arbeit über Robert Walsers Der Gehülfe; Habilitation 1989 mit einer Arbeit über Peter Rosegger und die Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Zahlreiche Publikationen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; zuletzt u. a. (Mithg.:) von Moderne Erzähltheorie (2002), Schaulust (2005), Peter Handke. Poesie der Ränder (2006), Robert Walsers ›Ferne Nähe‹ (2. Aufl. 2008). KLAUS ZELEWITZ, geboren 1944 in Freistadt (Oberösterreich); aufgewachsen in Linz; Studium Germanistik/Anglistik in Wien und Salzburg als Werkstudent; Dozentur für Neuere deutsche Literatur 1984, ao. Prof 1994, Ruhestand Oktober 2008. Gastprofessuren: an den Universitäten Groningen (NL) 1992, L’viv (Lemberg, UA) 1994, Zagreb (HR) 1996, 2002, Bratislava (SK) 1998, Veliko Tarnovo (BG) 2000, Maribor (SLO) 2000, und Prishtina (KOS) 2002.

352

Die Autorinnen und Autoren

Lehrtätigkeit und Publikationen: zur deutschsprachigen (vor allem auch »österreichischen«) Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere zu Adalbert Stifter, Stefan Zweig (Habilitation), Joseph Roth, Heimito von Doderer, Thomas Bernhard; Barockdrama; Einführung ins wissenschaftliche Arbeiten, ELearning. ULRIKE ZITZLSPERGER, Dr., studierte in Regensburg und Berlin Religionswissenschaft und Germanistik. Sie arbeitete für das Stadtforum Berlin, den Verlag Dirk Nishen und als DAAD-Lektorin, bevor sie 1996 Lecturer und ab 2003 Senior Lecturer an der Exeter University (England) im Fachbereich Deutsch wurde. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört das Thema ›Berlin im 20. Jahrhundert‹. Veröffentlichungen der jüngeren Zeit: ZeitGeschichten. Die Berliner Übergangsjahre (2007), mit Godela Weiss-Sussex Berlin: Kultur und Metropole in den zwanziger und seit den neunziger Jahren (2007), mit John Warren Vienna meets Berlin: Culture in the Metropolis 1918–1938 (2005, 2. Aufl. 2008). TANJA ŽIGON, Univ.-Doz. Dr., geboren 1974, Germanistin und Historikerin. 2002 bis 2004 längere Studien- und Forschungsaufenthalte in München und Wien; promovierte 2008 in Literaturwissenschaften an der Universität in Ljubljana. Forschungsschwerpunkte: deutsches Zeitungswesen im slowenischen Sprachraum; deutsch-slowenische Wechselbeziehungen, kulturorientierte Translationswissenschaft.

Personenregister

Albrecht, Fran 317 Alexis, Willibald 194 Allen, Mary 173–174 Anders, Günther 234 Anderson, Benedict 288, 291, 295 Andreas-Salome, Lou 148 Aristoteles 341 Ausserhofer, Hansotto 40, 43 Bachmann, Ingeborg 324, 337 Bachtin, Michail Michajlowitsch 102 Bacon, Francis 75 Bahr, Hermann 249 Barba, Wilhelm 24 Barthes, Roland 303 Bauer, Felice 148 Baum, Oskar 24 Baum, Vicki 66 Baumgart, Reinhard 223 Becher, Johannes R. 204 Benjamin, Walter 106, 108, 222, 225, 234, 313 Benn, Gottfried 149 Berger, Aleš 322 Bermann, Richard A. 231 Bhabha, Homi 101–102 Bienert, Michael 121 Birk, Matjaž 318–319, 324, 326 Blanckenburg, Friedrich von 193 Blankenstein, Ilse 29 Bloch, Ernst 225 Blume, Bernhard 183 Blume, Gesche 163 Bogataj Gradišnik, Katarina 320, 332

Boivin, Jacques 219 Böll, Heinrich 306–307 Botsch, Gideon 44 Bouhler, Philipp 185 Brecht, Bertolt 148 Broch, Hermann 317 Bronnen, Arnolt 241 Bronsen, David 40–43, 76, 146, 158, 266, 268, 304, 343–344 Browne, Thomas 313 Bruno, Giordano 75 Buber, Martin 36 Canetti, Veza 162 Cankar, Ivan 320 Chaucer, Geoffrey 164 Chesterton, Gilbert Keith 217 Christie, Agatha 164 Cicero, Marcus Tullius 186 Clemenceau, Georges Benjamin 99 Coupland, Douglas 262 Croce, Arlene 145 Cziffra, Géza von 153 Dante Alighieri 152 Dehmel, Richard 74 Descartes, René 75 Döblin, Alfred 234 Doppler, Alfred 336–337 Dostojewski, Fjodor 113, 116, 305 Drescher, Barbara 163 Drev, Miriam 327 Droysen, Johann Gustav 195, 197

354 Ebert, Friedrich 247 Ehrenfels, Christian von 24 Erasmus von Rotterdam 74–75 Erzberger, Matthias 211 Feuchtwanger, Lion 27, 156, 166 Fichte, Johann Gottlieb 144 Fingal, Stefan 146 Flaubert, Gustave 268 Flusser, Gustav 24 Fontana, Oskar Maurus 147 Fontane, Theodor 266 Forst de Battaglia, Otto 307–309 Foucault, Michel 102, 115, 303 Fragonard, Jean-Honoré 112 Frank, Leonhard 166 Franz Ferdinand von ÖsterreichEste 337 Franz Joseph I. 3, 43, 252, 286, 308, 313, 321 Franz von Assisi 106 Franzos, Karl Emil 291 Freud, Sigmund 130, 188 Frevert, Ute 132 Friedrich II. 185 Gaudy, Franz von 184 Gelber, Mark H. 39 Gelber, Nachum M. 41 Gellner, Ernest 291–292, 295 Genette, Gérard 269 George, Stefan 189 Gerhard, Ute 79 Gidon, Blanche 69, 192 Goethe, Johann Wolfgang 15, 33, 72–73, 106, 185, 187–190 Goetz, Wolfgang 183 Golob, Maila 318, 333 Gordimer, Nadine 4 Gorki, Maxim 96, 107, 111, 113 Gottfarstein, Joseph 151 Gradišnik, Janez 320, 332 Grillparzer, Franz 44, 246, 267

Personenregister

Grosz, George 235 Grübel, Fritz 23 Gubler, Friedrich Traugott 204 Guthrie, Woody 238 Gutzkow, Karl 194

Hackert, Fritz 131, 307 Handke, Peter 324–325, 337, 339 Harden, Maximilian 237, 239 Haris, Benjamin 219 Hartman, Geoffrey 233 Hartmann, Telse 79–80 Hasenclever, Walter 24, 184 Hauff, Wilhelm 194 Havryliv, Tymofiy 215 Hearst, William Randolph 219 Heer, Friedrich 249 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 89, 189 Hegemann, Werner 185–187, 191 Heine, Heinrich 184, 207 Heist, Walter 241 Henze, Volker 129 Herder, Johann Gottfried 33, 72–73 Herzog, Wilhelm 344 Hesse, Hermann 74 Heym, Stefan 24 Hindenburg, Paul von 204 Hirschfeld, Magnus 24 Hitler, Adolf 23, 31–32, 38, 43, 132, 159, 213 Hobsbawn, Eric 291 Hofmann, Michael 4 Hofmannsthal, Hugo von 316–317 Hölderlin, Friedrich 149 Holitscher, Arthur 106 Höllriegel, Arnold Siehe Bermann, Richard A. Homer 152 Horkheimer, Max 187 Horváth, Ödön von 165 Hughes, Jon 130

355

Personenregister

Jahn, Friedrich Ludwig 132 Janþar, Drago 321–322, 325, 339– 341 Janko, Anton 322–323, 341 Jünger, Ernst 240 Kafka, Franz 49, 148, 317, 319, 328–329 Kalina, Günter 243 Kant, Immanuel 200, 206, 226 Karpeles, Benno 208 Kästner, Erich 66, 262 Kesten, Hermann 39, 55–56, 166, 192, 304, 316 Keun, Irmgard 147–168 Keyserling, Hermann Graf 103 Kisch, Egon Erwin 11, 106, 153, 209 Klapdor, Heike 157 Klaus, Hans 24 Klemm, Alfred 95 Kliche, Dieter 203, 206 Köbler, Renate 148 Kocjan, Miro 326 Koestler, Arthur 153 Konstantinoviü, Zoran 336, 338 Kracauer, Siegfried 188, 190, 234– 235 Kranz, Matityahu 40, 43 Kraus, Karl 138 KĜenek, Ernst 42 Kurz, Hermann 194 Laube, Heinrich 194 Leibniz, Gottfried Wilhelm 75 Lenin, Wladimir Iljitsch 112 Lenz, Max 184–186 Lessing, Gotthold Ephraim 33, 72– 73 Lessing, Theodor 24, 240 Levstik, Fran 321 Lorenz, Otto 122 Ludwig, Emil 185, 188–192

Lughofer, Johann Georg 47 Lukács, Georg 187–188, 339 Lustig, Andreas 24 Magris, Claudio 265, 267–268, 305–308, 310–311, 322, 339 Manga Bell, Andrea 76, 146–148, 150–151, 154–155 Mann, Erika 156 Mann, Heinrich 24, 166, 192, 227, 238 Mann, Thomas 49, 166, 233, 272 Mannheimer, Georg 24 Marcus, Valeriu 234 Marcuse, Ludwig 146 Maria Theresia von Österreich 321 Markelj, Milan 326 Maršiþ, Stanislav M. 328, 333 Matajc, Vanesa 326 Mehrens, Dietmar 129 Mehring, Walter 27 Miheliþ, Mira 318 Miklošiþ, Fran vitez pl. (Franz Ritter Edler von Miklosich) 3 Miladinoviü Zalaznik, Mira 4, 7, 317–318, 320–322, 324–325, 332–334, 336, 339 Misch, Georg 123 Morgenstern, Karl 193 Morgenstern, Soma 231, 236 Morstin, Ludwik Hieronim 294 Mühsam, Erich 228 Müller, Johannes von 185 Müller-Funk, Wolfgang 86 Musil, Robert 208, 233, 241–242, 267, 272, 315, 317, 319 Mussolini, Benito 184 Napoleon Bonaparte 183–188, 190–192, 195, 197–203 Nietzsche, Friedrich 71, 148, 185, 188

356 Novalis 149, 152 Nürnberger, Helmut 18, 289 Ochse, Katharina 12 Ocvirk, Anton 320 Ossietzky, Carl von 206 Ouckama Knoop, Wera 152 Pageaux, Henri 109 Pankhurst, Emmeline 131 Pauli, Klaus 139 Pavliþ, Jana 327–328 Petrarca, Francesco 152 Pfabigan, Alfred 268 Pick, Otto 24 Pinker, Susan 140–141 Polgar, Alfred 207, 209, 241–242, 333 Prešeren, France 3 Prutz, Robert 194–195 Pulitzer, John 219 Radek, Karl 239 Radetzky von Radetz, Johann Josef Wenzel 3 Radiguet, Raymond 49 Rádl, Emanuel 24 Ranke, Leopold von 184–185 Rares, Sybil 145 Rathenau, Walther 211, 236–240, 242 Reichert, Friedl 146, 151 Reifenberg, Benno 69, 75, 107, 204, 252 Rembrandt 313 Rendla, Stanka 325, 327, 333 Renner, Karl 246, 250 Rév, Béla 24 Riehl, Wilhelm Heinrich 194 Rilke, Rainer Maria 49, 53, 149, 152 Roethe, Gustav 226, 236 Rohlf, Sabine 167

Personenregister

Rolland, Romain 69, 74, 106, 111 Roloff, Gert 167 Roloff, Gustav 184 Rossbach, Gerhard 241 Roth, Friedl 41 Rousseau, Jean-Jacques 144 Rowohlt, Ernst 241–242 Sacco, Ferdinando Nicola 238 Šali, Severin 320–321 Salomon, Ernst von 239–242 Samide, Irena 336, 339 Santos, Isabel dos 144 Scheible, Hartmut 80, 268 Scheidemann, Philipp 247 Schelling, Friedrich Wilhelm 206 Scherer, Wilhelm 236 Scherlag, Marek 70 Schickele, René 192 Schiller, Friedrich 15 Schlögel, Karl 56 Schnitzler, Arthur 316–317 Scott, Walter 193 Sebald, W. G. 265, 307, 311–313 Seghers, Anna 156, 162, 165 Šest, Osip 317 Sienkiewicz, Henryk 91 Simmel, Georg 195–196 Šlibar, Neva 324 Smolej, Tone 335–336 Spengler, Oswald 86, 185, 190 Spies, Bernhard 164–165 Spinoza, Baruch de 18, 75 Srbik, Heinrich Ritter von 191 Steffin, Margarethe 148 Steierwald, Ulrike 256 Stein, Gertrude 61 Steinfeld, Justin 24 Stern, William 234 Sternburg, Wilhelm von 130, 138 Stifter, Adalbert 267 Strauss, Arnold 149–151, 155, 158, 163

Personenregister

Stresemann, Gustav 184, 186 Szajnocha-Schenk, Helene 139 Tergit, Gabriele 66 Therese von Lisieux 166 Theweleit, Klaus 132, 148 Thomas, Chantal 183, 196–197 Tito, Josip Broz 320 Todorow, Almut 225–226 Toller, Ernst 106, 154, 223, 228 Tolstoi, Leo 106–108, 111, 113 Tralow, Johannes 163 Treitschke, Heinrich von 184 Troeltsch, Ernst 236 Trotta, Franz von 41 Tucholsky, Kurt 232–233, 236 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch 116 Unruh, Fritz von 183 Urzidil, Johannes 24 Vallentin, Berthold 185 Vanzetti, Bartolomeo 238 Vodopivec, Peter 321, 339–340

357 Wallas, Armin A. 324, 336–337, 341 Weigel, Sigrid 143–144 Weininger, Otto 138 Weißkopf, Franz Karl 106 Weizmann, Chaim 36, 43 Welsch, Wolfgang 331 Werfel, Franz 315, 317 Werner, Alfred 39 Wilde, Oscar 241 Wilhelm II. 205 Willerich-Tocha, Margarete 129 Wilson, Woodrow 244, 249, 253 Wirtz, Ingeborg 160 Zeidler-Lughofer, Senta 343 Zetkin, Clara 106 Zola, Emile 216, 238 Županþiþ, Oton 317 Zweig, Arnold 162 Zweig, Friderike 69, 71, 75, 106 Zweig, Stefan 32, 36, 39, 41–44, 69–77, 101–115, 123, 166, 304– 309, 311, 317, 325, 329